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ZEITSCHRIFT
FÜR
VERGLEICHENDE RECHTSWISSENSCHAFT
EINSCHLIESSLICH DER ETHNOLOGISCHEN RECHTS-
UND DER GESELLSCHAFTSFORSCHUNG
BEGRÜNDET VON
Dr. FRANZ BERNHÖFT, Dr. GEORG COM
Dr. JOSEF KOHLER
HERAUSGEGEBEN VON
Dr. LEONHARD ADAM
IN BERLIN
NEUNUNDDREISSIGSTER BAND
STUTTGART
VERLAG VON FERDINAND ENKE
1921
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Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart.
Inhalt.
Seite
I. Das altspanische Obligationenrecht in seinen Grundzügen. Von
Prof. Dr. Ernst Mayer in Würzburg (Fortsetzung und Schluß) 1
IL Die Gemeinde der Bänaro. Ein Beitrag zur Entstehungs-
geschichte von Familie und Staat. Von Dr. R. Thumioald,
Halle a. S. (Fortsetzung und Schluß) 68
III. Neue juristische Papyrusurkunden und Literatur. Von Prof.
Dr. jur. et phil. Paul M. Meyer 220
Besprechungen von Prof. Dr. Mariano San Nicolö in Prag,
Dr. Adolf Berger in Wien, Prof. Dr. Georg Kampffmeyer in
Berlin-Dahlem und Geh. Justizrat Heinrich Dove in Berlin . 283
IV. Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem
Recht unter Vergleichung mit den Bestimmungen des deut-
schen B.G.B. Von Dr. jur. Edgar Tatarin (Marburg a. L.),
ehem. vereidigtem Rechtsanwalt des Petersburger Appellhof-
bezirks (Fortsetzung und Schluß) 321
Besprechungen von Dr. Edgar Tatarm in Marburg a. L., Assessor
Dr. Ludwig Berliner, Dr. Martin Domke und Prof. Dr. A. Nuß-
baum in Berlin 467
Preisaufgabe der juristischen Fakultät zu Leiden 480
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in 2011 with funding from
University of Toronto
http://www.archive.org/details/zeitschriftfrver39akad
I.
Das altspanische Obligationenrecht in seinen
Grundzügen.
Von
Ernst Mayer in Würzburg.
(Fortsetzung.)
§ 5. Form der Wadiation.
I. Das Symbol. 1. Katatonische Nachrichten sprechen
von einem stachamentum, das ein öffentliches mit der Rechts-
pflege zusammenhängendes Gefäll ist, und etwa gewissen
Beamten vorbehalten wird1). Zweimal aber geht — in das
nordpyrenäische Recht hinübergreifend — estacare ganz deut-
lich auf das mit Bürgen gedeckte Prozeßgelöbnis, das hier
*) Bofarull col. de doc. ined. de la corona de Aragon IV, S. 88,
1143: conquestus est Guilelmus, quod Poncius et castlani sui auferebunt
sibi — estachamenta nrilitum; S. 116, 1146: conquestus est predictus
Guillelmus R., quia dominus comes estacamentum iisdem militibus seu
peditibus, quorum in Dertosa tenebat, non concedebat et sie senioraticum,
quod eis donaverat, auferebat; S. 189, 1151: bayulus vester seu vicarius
vel 8uccessorum vestrorum aeeipiat omnes estachamentos ipsius civitatis
totius territorii et judicet placita; S. 223, 1154: suppradictum castrum
cum omnibus sibi pertinentibus et cum Omnibus estachamentis et placitis
et usaticis tibi . . . dono ad fevum; S. 349: iudieavit igitur predieta curia,
quod, si familia comitis inter se litem aut aliquam contentionem haberet,
estacamentum de hoc Guillelmo Raimundo vel ejus vicarium non habere
sed eum tan tum, qui vicem comitis inter eos tenet. — Usatici 115 (cort.
de Cataluna I, S. 39) in baiulia vel guarda, unde quis habuerit homi-
naticum vel censum, si hoc seeundum posse bene custodierit et deffendere,
habere ibi debet staccamentum. — Constitutions y altres drets de Cathalunya
S. 355 f., c. 14 (Pere Albert) el eenyor se haura retengut en la carta con-
ventional algunas domenjeduras, plets, staccaments, fermaments.
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. XXXIX. Band. 1
2 Mayer.
eine Partei dem Gegner ablegt 2); da für den Anteil des Staates
an der Strafe dasselbe gleichzeitig dem Gericht gilt 3), so be-
deutet dann eben estachamentum für das Gericht nichts an-
deres als die öffentliche Strafe, ganz entsprechend dem , was
gleicherweise sich in der Bedeutungsgeschichte von wadia
nachweisen läßt.
Es ist also kein Zweifel, daß bei dem Prozeßgelöbnis ein
Stecken (staccus) gegeben wird und der Name stachamentum
daher kommt. — Auf das gleiche Symbol geht es, wenn im
Recht von Teruel und was davon abstammt, dann aber auch
in Formen des Rechts von Usagre-Caceres der Kläger eine
palea oder einen staccus diesmal sich nicht geben läßt, sondern
einseitig nimmt 4).
Vielleicht zeugt auch noch eine spätere portugiesische Nach-
richt dafür, daß beim Kampfgelübde Ruten übergeben werden5).
Das gotische Gebiet nördlich der Pyrenäen ergibt für
das stachamentum eine andere Gleichung. Hier geschieht das
Prozeßgelöbnis festuca iactante 6). Von dem iactare wird
noch nachher die Rede sein, wenn die Parteihandlungen ge-
schildert werden. Dagegen kommt hier die festuca in Be-
tracht. Da ist von Bedeutung, daß nach einer anderen Nach-
2) Bofarull IV, S. 281, 1160: domnus Raimundus comes barchi-
nonensis requisivit testamentum de directo a Berengario vicario suo . . .
et Berengarius estachavit ei directum per 500 morabetinos et dedit ei
fidancias, quorum nomina hie scripta leguntur, Raimundus Renardi per
100 morabitinos (und so noch vier andere für je 100 morab.). Marca
col. 1136, 1067: aut habuerit aliquod placitum, unde batalia sit estachada.
3) § 2, N. 24.
4) § 2, N. 99; dasselbe auch nach dem Recht von Alba de Tormes
§ 33 (Fueros Leoneses I, 1916), das mir erst nachträglich zukommt.
5) Darauf geht das bei Schäfer, Geschichte Portugals II, S. 235
Erzählte; ich vermag aber nicht die Quelle der Erzählung zu finden.
6) Germer-Durand cartulaire du chapitre de l'eglise cathedrale
Notre-Dame de Nimes 1, 876: similiter ipse Bernardus sua festuca iactante
ad praedictum placitum se afframivit; Vaissete II, 201, 878: Ardulphus
nomine illorum . . . fidem talem fecit sua fistuca iactante in contra
Fulcradane, ut ipsam noticiam suam manibus firmare fratri suo faciat.
Das altspanische Obligationenrecht in seinen Grundzügen. 3
rieht die festuca ein Stab ist (de vite), also wirklich ein
staecus, und so der Beweis sich schließt. Diese festuca aber
wird als wadium betrachtet7). So gewinnt man unmittelbar den
Beweis, daß das Prozeßgelöbnis ein wadiiertes Versprechen ist;
ob man dabei den Ausdruck als altgotisch oder als fränkischen
Import anzusehen hat, was sich nicht entscheiden läßt, das ist
für die rechtliche Beurteilung gleichgültig.
2. Früheres hat gezeigt, daß bei dem Sühnevertrag ein
Schwert zum Zeichen des Vertragsabschlusses gegeben wird,
und da der Vertrag ein verbürgter ist, so kann es sich um
ein Zeichen einer Wadiation handeln8). Was aber hier lediglich
eine ganz unsichere Möglichkeit ist, das erscheint ein ander-
mal vollständig sicher.
Nach einer katatonischen Urkunde von 1128 9) gibt einer,
7) Vaissete V, 121, 972 : ut tali ratione, que ille proclamavit per
guadium suum, id est per festucam de vite, ipsas res superscriptas in
manu Amelii episcopi reddidisset.
8) § 4, N. 203.
9) Esp. sagr. 43, S. 458 f. (= Villanueva XIII, S. 280 = Marca
col. 1264) 1128: et mittat comiti (Raymundo) Pontius iamdictus pro
10000 solidis ensem cum tota suo guarnimento et comes comendet ipsam
espadam cum isto guarnimento P. (ebenso Marca; Villanueva liest falsch
T.) Raymundi de villac de Man, qui eam teneat ab hoc pascha usque ad
aliud. Et si interim praedictus Pontius vel quandocumque ad praefatum
terminum redimere eam voluerit, si dat comiti 10000 solidos in caballos
et in mulos ad pretium de praefatis militibus, reddat eam P. de villa
de Man praedicto Pontio comiti. Si de caballis et mulis non se con-
venerit, donet jam dictus Pontius comiti 8000 solidos Malguriensis
reetae monetae reeipientes et predictus P. reddat praedicto Pontio prae-
scriptam espadam. Et si ad prefatum terminum Pontius eam non
redemerit, P. iam dictus de villa de Man reddat espadam cum toto suo
guarnimento comiti Barcheonensi; et comes convenit praedicto Pontio
comiti Ilgonis, ut quando ipse Pontius potuerit redimere ipse vel homo
per eum, comes Barcheonensis reeipiat praedictos 8000 solidos et reddat
espadam praedicto Pontio. Et si praedictus Pontius mortuus fuerit,
reddat comiti Barcheonensi 8000 solidos ille, cui Pontius dimiserit
espadam verbis vel testamento ; et debito hoc persoluto comes Barcheo-
nensis reddat ei praedietam espadam.
4 Mayer.
der 10 000 (8000) sol. schuldet, eine espada, die nach den da-
maligen Geldanschlägen etwa 100 sol. wert ist10), also nicht
entfernt als Pfand dienen kann, zunächst an den Gläubiger.
Dieser gibt das Schwert für ein Jahr an eine Zwischenperson
weiter. Wird innerhalb des Jahres nicht gezahlt, so empfängt
der Gläubiger das Schwert zurück, aber natürlich ist nach wie
vor der geschuldete Betrag zu zahlen. Stirbt der Schuldner,
so hat der zu zahlen, dem er das Schwert vermachte. Wird
die Schuld gezahlt, so erhält der Schuldner das Schwert
zurück. Hier ist es klar, daß das Schwert ein Symbol ist,
welches zur Erfüllung des debitum nötigt; es wird, da nach
gotischem Recht der Satz „Hand wahre Hand" nicht gilt,
dabei doch noch als Eigentum des Schuldners betrachtet, der
darüber — weil das ja ein Bestandteil des Heergewäte ist —
letztwillig verfügen kann.
Genau die gleiche Obligierung durch Hinreichung des
Schwerts oder eines anderen Teils der Heergewäte vollzieht
sich nach dem Recht von Usagre-Caceres da, wo ein Prozeß-
10) Schon in einer früheren Ausführung über diese grundlegende
Urkunde habe ich angenommen, daß das Schwert nur 7>o bis xjioo der ge-
schuldeten Summe von 10000 (8000) sol. ausmacht (ZSav.St. GA. XXXVI,
S. 440). Ich kann das jetzt unmittelbar beweisen. Denn solidi der Urkunde
sind solidi Melgorienses. Nun sind die solidi Melgorienses wie die solidi
Barcelonenses im 12. Jahrhundert = */' morabetinus (Brutails etude sur la
condition des populations rurales de Roussillon au moyenäge S. 55) ; im
selben Verhältnis stehen anfangs des 12. Jahrhunderts die navarresischen
solidi, nämlich die sueldos Sanchetes zum morabetino (Yanguas II,
S. 388, 1117); die aragonesische solidi (die Jaccenses) halten den Ansatz
bis in den Anfang des 14. Jahrhunderts fest (Esp. XXXXVIII app. 9,
1312). So ergibt sich, daß die solidi des nordöstlichen Gebiets (Jacenses,
Sanchetes, Barcinonenses, Melgorienses) im wesentlichen gleich sind ; Ge-
naueres in meiner Abhandlung „Das ältere spanische Münzwesen" in
Festgabe für Josef Kohler (Goltdammers Archiv für Strafrecht 67, S. lff.).
— Nun wird in zwei zeitlich und örtlich unserer Urkunde nahekommen-
den Angaben das Schwert auf 100 solidi geschätzt (Yanguas L, S. 456
oben; Boletin XXXVII, S. 384, § 127), die nur jacenses oder sanchetes
sein können. Dann ergibt sich das im Text Gesagte.
Das altspanische Obligationenrecht in seinen Grundzügen. 5
gelübde zu leisten ist. Freilich reicht die Hingabe dieses
Symbols (der bestia mortua) auf die Dauer nicht aus und der
Gläubiger muß entweder durch ein Tierpfand (bestia viva) oder
Bürgen Stellung gesichert werden. Aber die Obligierung selber
geschieht durch Waffenreichung 1J).
Damit aber erklärt sich vielleicht auch eine sehr alte
Nachricht: danach gibt der Schuldner dem Gläubiger ein
Schwert, eine nobella und 4 modii Getreide in die Hand und
für die ganze Obligation ist außerdem noch ein Bürge auf-
gestellt. Hier wird möglicherweise die Obligation durch Schwert-
reichung begründet, außerdem durch Pfandgabe und Gestellung
eines Bürgen gesichert. Es ist ferner nicht undenkbar, aber
freilich auch nicht beweisbar, daß die nobella ein Reis, ein
Stab ist und die Nachricht so auch in den Zusammenhang der
festuca und des stachamentum gehört12).
Ein andermal wird ein besonders feierliches Versprechen
dadurch bestärkt, daß der Schuldner einen Hut überreicht13).
11) § 2, N. 35.
12) Revue hispanique VII, S. 347 n. 37, 962. Ego Vermudo sie
roboravi ipsa, ipsa nobella et ipsa espata et ipsa cebaria 4 modios in manus
de Albaro abba Didacura iudicem . . . Albaro abba sie prendidit fidia-
torem Nunu Bip ... (in der Lücke wohl noch ein Name) pro ipsa no-
bella et spata et ipsa cebaria et roboraverunt . . . Ego Vermudo si . . .
novella et cebaria et espa [ta] ... sie modo. Der Herausgeber denkt
unter nobella eine terre en jachere, wiewohl Brachland eigentlich kein
Neuland ist, meint aber wohl Rottland. Aber die Sache wird dem
Gläubiger in die Hand gegeben, muß also beweglich sein. Im Spanischen
heißt novella das junge Tier, und diese Deutung müßte zugrunde gelegt
werden, wenn in der Urkunde n. 40 (S. 350) das et nobella nicht ledig-
lich eine Konjektur des Heransgebers wäre. So bleibt doch noch die
andere Lösung, daß novello und novellero im Portugiesischen (Viterbo
elueidario II, S. 173) das junge Reis, die Sommerlatte bedeutet; so könnte
die novella schon auf eine festuca gehen.
13) Esp. sapr. XX, S. 588, 1137 promissione autem facta capellum
cuiusdam comitis aeeipiens manuque patrini sui deosculata, capite flexo,
illud in confirmationi8 Signum archiepiscopo humiliter praebuit; der Ver-
sprechende, der König, gibt hier — natürlich genug — nicht seinen eigenen
Hut, sondern wählt statt dessen den eines Gefolgsmanns.
6 Mayer.
3. Eine dritte Reihe ergibt sich daraus, daß im spanischen
Norden der Schuldner, dem notwendig ein Bürge gegenüber-
steht, als marchero bezeichnet wird. Der Bürge und nicht
der Gläubiger setzt dem marchero gegenüber die Forderung
durch, und zwar wird das so gedacht, daß der fiador die marca
geltend macht; also muß die marca im Besitz des Bürgen
sein 14). Da marca nur das Abzeichen sein kann, so kommt man
wieder dazu, daß bei einem verbürgten Geschäft der Bürge
14) Boletin XXXVII, S. 399, § 236: todo ome, que fuere fiador a
otro por clamo que haya dalguno, que faga cumplir fuero et tomare
peynnos de marquero e los diere al querelloso et el (nämlich der quere-
lo8o) despues sin el fiador por si vendiere el peynno, el (statt al des
unglaublich schlechten Drucks; sonst fehlt das Subjekt) marquero despues
non respondra al fiador a la marca, S. 400, § 242 : todo ome, que a su vecino
tiene por fiador por omme estraynno (seinen Nachbarn zum Bürgen für
einen auswärtigen Schuldner hat) et mostrare (der Bürge) su marquero (die
Schulden) una vez o dos en la vezindat e por por su neglegencia nol
(nicht ihn den marchuero) fiziere al querelloso complir su marca, no avra
(der Bürge) termino por el demandador, mas fasta termino de 30 dias
ha (habe der Bürge) deudor por su marca; sino, fuere fiador por complir
fuero. In derselben Frist muß nach Navarra III, 17, 1, 2 der Bürge
den auswärtigen Schuldner gestellen, der ebenfalls im Verhältnis zum
Bürgen als marquero vorkommt; in III, 15, 2 sieht man nicht mehr,
als daß der marchero ein Schuldner ist. Boletin XXXVII, S. 400, § 245:
Et si alguno fuere fiador e viere su marquero, que agena sus cosas, bien
puede le darli, que no agene en toda la valor de la marca; § 247: todo
ome , que fuere fiador a otro por alguna cosa et tomare peynno del
marquero et el demandador dixiere al fiador, que desempare, non puede
mas tenerlo por la voz ; § 248 : otrosi, si algunos fueren fiadores et sub
marqueros fueron muertos o no los pudieren fallar, pueden a sus herede-
ros pendrar, que quiten los fiadores de las fianzas. — Yanguas II, S. 308
s. v. marquero (aus dem Fuero de Sobrarbe de Tudela 40) e si nuil
home (Schuldner) dotro logar mete a otro fianza, que sea de la vita
contra su vecino, e si aquesta fianza muestra el deudor su marquero e
dice „cata aqueste, que me puso fianza, te quiere te complir de dreito,
luego, pie a pie, como fuero es", e lo otro non lo y quiere seguir nin
prender dreito e est otro ent ficiere testimonias et despues el marquero
sen va de la vila, non respondra hasta que otra vez lo i muestre en
la villa.
Das altspanische Obligationenrecht in seinen Grundzügen. 7
das Vertragssymbol in die Hand bekommt. — Vielleicht läßt
sich der Ausdruck unmittelbar in der Bedeutung „Stück des
Heergewätes" nachweisen, das ja als Vertragssymbol gegeben
wird; aber das ist mehr als unsicher15).
II. Die Parteihandlungen. 1. Faßt man das Bis-
herige zusammen, so gehen vom Schuldner an den Gläubiger
Abzeichen (marca) wie Stab oder Schwert oder Hut, also Teile
der Heergewäte; sie gehören zu denselben Symbolen, welche bei
der Uebertragung eines Anwesens, bei der Eheschließung, der
Adoption gegeben werden und allemal Ausrüstungsgegenstände
der Handelnden darstellen. So wird also auch hier mit einer
Einkleidung gearbeitet. Aber das Zeichen bleibt nicht beim
Gläubiger, sondern der Gläubiger gibt es dem Bürgen und
dieser behält es, um gegen den Schuldner die Rechte des
Gläubigers geltend zu machen. Damit ist gegen v. Amira
mindestens für das gotische Recht das festgelegt, was nach
meiner Meinung für alle germanischen Rechte gilt, nämlich,
daß das Symbol der Wadiation keinesfalls vom Bürgen an den
ls) Im Spanischen kommt sehr häufig [z. B. Esp. sagr. XXXV, S. 416,
1109) : cavalleiro si in sua corte aut in suo lecto morierit aut in sua
terra, si habuerit caballum, ut det cum in nuntio, et si non habuerit
caballum et habuerit lorigam, det eam in nuncio; M. Port. leg. I, S. 370-'
et totus homo de Nomam, qui arma tenuerit de suo seniore et mors illi
venerit, alius senior, qui postea fuerit, non demandat illa arma, nisi re-
maneat ad filios] , wenn ein miles stirbt, eine Totfallsabgabe (nuncius)
in der Form einer Einsendung eines Waffenstücks vor ; es ist nicht ohne
Bedeutung, daß ein gesendetes Waffenstück „nuncius" ist. Nun heißt
es Llorente IV, S. 264 f. in Palencia nullus miles armatus de senioribus
det solidum pro marcio vel aliquid nee eo mortuo uxor eius usque
nubat . . . similiter filius militis non det marcium usque quo perveniat ad
tempus idoneum miliae : . offenbar handelt es sich auch hier um eine
solche Abgabe, die zwar nicht, wie sonst oft, beseitigt, wohl aber in
eine nicht sehr große Geldleistung verwandelt ist. Ist nun wirklich
marcium zu leisten, so würde das wohl eine latinisierte Form von Marke
sein und dann hieße das wiederum so viel wie Symbol, Zeichen. Aber
ich fürchte, daß Llorente sich, wie es diesem großen Forscher manchmal
begegnet ist, verlesen hat und nuncium, nicht marcium im Text stand.
8 Mayer.
Gläubiger sofort zurückgegeben wird16). — Nur von da aus
erklärt sich ferner, wie das gotische Recht dazu kommt, auch
den Testamentsvollstrecker als fideiussor, fidiator zu bezeichnen.
Denn das, was für den gotischen Bürgen, so sehr seine Stellung
von dem römisch-modernen Schema abweicht, gleichfalls be-
zeichnend ist, nämlich daß er irgendwie die Leistung des
Schuldners an den Gläubiger bewirkt und dafür einsteht,
dieses im folgenden genau zu erörternde Merkmal fehlt beim
Testamentsvollstrecker. Aber auch ihm ist das Abzeichen des
Testators, das cabo, das vadium, gegeben, das ihn zum Eingriff
in fremdes Vermögen berechtigt, ebenso, wie den Bürgen der
Besitz der marca; das macht auch den Testamentsvollstrecker
zum „Bürgen".
Wie aber die Rechtshandlungen der beim Geschäfte Be-
teiligten im einzelnen ablaufen, bedarf noch einer eingehenden
Erörterung.
2. Die erste Handlung, die in Betracht kommt, nimmt
der Schuldner vor. Bereits zu Ausgang der fränkischen Zeit
wird in den gotischen Gebieten nördlich der Pyrenäen von
einem iactare festucam , wenn sich der Schuldner obligiert,
gesprochen17). Das spanische Recht aber bezeichnet beim ver-
bürgten Vertrag die Tätigkeit des Schuldners überall als ein
echar oder itar fiador oder ferme18). Natürlich kann das nicht
16) Genaueres in meiner Einkleidung S. 9, N. 9.
17) Oben N. 6.
18) Navarra III, 1, 4: ad aqueyll malfeytor, quel yto fianza; III,
15, 10: qui lo ytö fiador: III, 17, 18: et est fiador (der gezahlt hat)
torne a este, que fiador lo avra echado. Boletin XXXVII, S. 378, § 84:
de seiior, que yta fiador a su mesquino ; dafür nachher et si el seynnor
de la villa metiere su mesquino fiador. Vigil ayuntamiento de Oviedo
S. 17, 1145: et aduga el auctor, que gete fiador (= iuero de Aviles § 41 ed.
A. Fernandez = Guerra y Orbe S. 133). Die von Fernandez in seiner
Ausgabe aufgestellte Behauptung, daß der fuero von Aviles eine Fälschung
aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts sei, ist meines Erachtens
unbegründet; ich kann aber darauf nicht weiter eingehen. Mufioz S. 548,
Perlata 1143: et si nullus homo de villa aut foras de villa acceperit
ganato aut aliquid habere et domino jactare fidem et non collegerit
Das altspanische Obligationenrecht in seinen Grundzügen. 9
wörtlich genommen werden, man kann nicht den Bürgen
werfen ; sondern es muß bei der Bestellung des Bürgen der
Schuldner das Symbol, womit er sich bindet, von sich werfen;
das wird dann in einer späteren abgezogenen Ausdrucksweise
als iactare fiadorem gefaßt. Es führt deshalb schon viel mehr
an die ursprüngliche Gestaltung heran, wenn anderemal von
einem echar peno die Rede ist; denn das Vertragssymbol, das
ja leicht einen selbständigen Wert hat, geht in den Begriff
einer arra oder eines pignus über, wie später noch ausführ-
licher zu erörtern ist; deshalb ist das Werfen des Symbols
so viel als iactare pignus, ein Ausdruck, der dann freilich für
jedes Pfand, selbst für ein solches, das seiner Natur nach nicht
geworfen werden kann, gebraucht wird; auch hier ist eben
die ursprüngliche sinnliche Vorstellung verblaßt19).
Indem bei der Obligierung das Symbol geworfen wird,
wie das auch außerhalb des spanischen Recbtskreises vor-
kommt, wird die Form einer besonders sinnenfälligen Ent-
äußerung angewandt, welche die Germanen besonders bei der
Inimobiliarveräußerung sehr häufig gebraucht haben20).
2. Dieser Handlung des Schuldners entspricht die Hand-
lung des Gläubigers. Daß zunächst letzterer das Symbol ent-
gegennimmt, hat sich in einer Anwendung schon ganz deutlich
ergeben 21). Aber wenn wirklich das Symbol vom Schuldner weg-
geworfen ist, so muß es vom Gläubiger aufgenommen werden und
das kommt unmittelbar darin zum Ausdruck, daß die Handlung
des Gläubigers als ein colligere (auflesen) bezeichnet wird 22).
3. Im weiteren Verlauf übergibt der Gläubiger das Symbol
eum fides (meine Einkleidung S. 104, Nr. 68). Navarra III, 1, 3 : porque
no ha ytado ferme del cuerpo; IV, 1, 1 : que non faga ytar fermes
destas fiadurias.
19) Fuero viejo III, 5, 1 : si el cavallero o escudero o duena vesti*
turas, armas, bestias o outros penos qualesquier echare; III, 5, 2: todo
ome o muger, que echan panos o otra ropa o paiios a vestir a peuos.
*°) Meine Einkleidung S. 61, S. 104.
21) N. 9.
22) Munoz S. 548 (N. 18).
10 Mayer.
dem Bürgen. Auch das ist an einem Einzelfall schon dar-
gestellt23). Irgend welche weitere Ausgestaltung der Handlung
ist nicht erkennbar.
4. Dagegen erscheint das fernere Verhalten des Bürgen
häufig in sehr eigenartiger Ausprägung.
Sehr verbreitet wird der Bürge als sobre levador, seine
Tätigkeit aber als ein levar sobre cabo (des Bürgen), also als
das Heben des Symbols über sein, des Bürgen Haupt hinaus
bezeichnet24). Der Name des Gläubigers steht dabei im dativus
cominodi25). Der Sprachgebrauch ist sehr alt26). Wiederum
wird freilich gewöhnlich als Objekt des Hebens der Schuldner
gedacht, so daß abermals die Person in unsinnlicher Rede-
weise an Stelle des Symbols tritt27). Anderemal sieht man,
in der gleichen Uebertragung noch fortschreitend, das Ver-
sprechen, das der Bürge leistet, als Objekt des levar28). Ja
diese abgezogene Art des Ausdrucks führt sogar dazu , den
Bürgen als eine Person zu bezeichnen, über der die Bewirkung
einer Leistung sich befindet (super quem sit, que usw.)29). —
23) N. 9.
24) M. Port. leg. I, S. 380, 1152, S. 603, 1223: non habeo nomine,
qui me leve super cabo; Salamanca 111: qui ome levar sobre su cabo.
Ineditos de hist. port. ; V, S. 407, V : quem ome levar sobre cabo ; S. 413,
VI : quem aos alcades omem emparar (wer vor den Richtern einen Menschen
schützt), que quisiere prender (den diese fangen wollen), se o non levar
sobre cabo. peyte 20 mar.
25) Daß der Gläubiger im Dativ steht; darüber vgl. Teruel 174 (N.27).
26) Der älteste mir bekannte Beleg ist Colec. de privilegios de
la corona de Castilla VI (1833), S. 6, 894: et est fidiassore Velasco
Gomiz ... sie levabit super se Velasco Gomiz.
27) Alle vorigen Stellen ; dann Teruel 167 : si quis debitorem mani-
festum superlevare voluerit; Teruel 174: quicumque latronem usw. iudici
superlevaverit. Usagre 30: qui levet eum super se; 31: qui hominem
levaverit super se por pignos de 1 moraveti o per bestia, que non metio.
Soria, S. 152 a. : tambien al sobrelevador coma al sobrelevado (Haupt-
schuldner).
28) Usagre 45: Schuldner == home, que salva fe diere; Bürgen
= los, que salva fe levaron ; 55: los fiadores, que levaren el salvo.
2*) Usagre 29 : dent hominem, super quem sit, que non se alce.
Das altspanische Obligationenrecht in seinen Grundzügen. H
Aber einmal ist doch deutlich, daß der Bürge über sich das
cabo , also das Persönlichkeitssymbol des Beklagten erhebt,
wie das cabo ja gerade so bei Eigentumsübertragung und
Eigentumsbehauptung gebraucht wird30).
Neutral ist der weitverbreitete Ausdruck sobrecabare. Das
steckt natürlich wiederum in ihm, daß der Bürge etwas in die
Höhe hebt. Ob er aber das Symbol über sein caput hebt, oder
ob er das capud des Schuldners in die Höhe hebt, das besagt
wiederum das Wort für sich nicht31). — Dagegen kann sprach-
lich cabo lediglich das Objekt der levare sein, muß also als
Symbol gedacht werden, wenn der Bürge caplevador32) oder
30) M. Port. leg. I, S. 837 : ein angeblicher Bürge, der leugnet, als
Bürge eingetreten zu sein ; iuret, quia no lo levö super se per suo capud.
Das per suo capud kann nun unmöglich über seinem capud heißen,
sondern mit seinem capud; also ist das capud hier das Mittel, wodurch
der Bürge den Schuldner über sich (den Gläubiger) gehoben hat.
31) Llorente IV, S. 263, 1181, Palencia: quicumque sobre cabaverit
vel fideiusserit latronem. — Usagre 30 : et por esta sobrecabadura non
pignoraverit. — Salamanca 142 : ome sobrecabado ; 150 : quem . . . fuer
sobrecabado ; 151 : por ome levar sobrecabado ; 182 : sobrecabar esto ome.
32) Mufioz S. 535, Daroca 1142: si voluerit dare caplevatorem ille
(der Totschläger) vel dominus domus, pro illo non disrumpatur domus . . .
si vero fidancias dare noluerit, malefactor sine calumnia capiatur; S. 542:
si quis fuerit caplebator alicuius rei et reus fugerit dato caplevatore,
caplevator quaerat illum , et det illum ad directum. In den späteren
aragonesischen Rechtsquellen gewinnt die Bezeichnung caplevator eine
besondere Anwendung auf eine bestimmte Art von Bürgen : in Observ. IV
de fideiuss, § 9 (Fueros de Aragon II, S. 29) heißt es de quocumque
crimine quis accusatur — habet locum iuris fidantia vel caplevator; nach
I, S. 18 b, II— IV, 1325 begnügen sich bei Kriminalklagen die Richter
nicht mehr mit der gewöhnlichen fianca de dreyto simplement, sondern
verlangen caplevadores oder fianca de dreyto y del homicidio ; nach
Observ. VI, interpretationes, § 9 (Fueros de Aragon II, S. 49) ist für
die caplevatores bezeichnend, daß sie obligent se sub poena certa ad
arbitrium iudicis et habent promittere, si iudex cognoverit et voluerit,
quod pro illa poena dabunt bona desembargata; et tali promissione
facta, nisi dent bona desobligata, capientur personae et retinebuntur,
d. h. es handelt sich um Bürgen, die nicht nur ihr Vermögen, sondern
auch ihre Person für die Erfüllung einsetzen. Vielleicht liegt dieser
12 Mayer.
captenedor 33) heißt. Die letztere Wortforrn bringt also zum
Ausdruck, daß der Bürge das cabo nicht nur in die Höhe hebt,
Gegensatz schon zugrunde bei Berceo vida de Santo Domingo de Silos 745-
(Bibl. de autores espaüol. LVH, S. 63) : metieron en recabdo a los caval-
gadores, toraaron los cablievas e bonos fiadores ; Fueros de Aragon II,
S. 96 b, II, 1247 : si forte pignoratus dixerit pigneratori, antequam intret
iudicium nee levet iudicium „ecce hie offero sufficientem fidantiain de
directo aut bonum caplevatorem super pignus raeum" et pignorator
levaverit iudicium cum pignore in corte, est calonia pignora toris 60 soi.
Noch ein anderes Merkmal ergibt Obs. IV, de fideiuss., § 18 (Fueros de
Aragon II, S. 30) : wenn aus einem debitum manifestum, hier einer urkund-
lichen Schuld ohne weitere Klage gepfändet, die Echtheit der Urkunde aber
bestritten wird, so iudex dabit pignora capta ad caplevandum durante
adveratione et facta adveratione cessabit capleuta et restituentur pignora
curiae iudicis pignorantis, d. h. die pignora waren zunächst im Besitz
des Gerichts; wenn eine Fälschung behauptet wird, kommen sie, bis
diese Frage entschieden ist, an caplevatores ; das können dann natürlich
nicht vom Gericht aufgestellte Personen sein — das Gericht hätte hier
doch gar keinen Anlaß, die Sachen an andere zu übertragen — , müssen
dann vom Beklagten gegebene sein, d. h. wenn der Beklagte behauptet,
es liege kein exekutiver Titel vor (§ 6, N. 24 ff.), dann stellt er einen
Prozeßbürgen, einen caplevator, und an diesen wird nach der allgemeinen
Regel das genommene Pfand einstweilen gegeben. Daß nur die Hingabe
an den caplevator als capleuta im engeren Sinn angesehen wird, weist
eben wieder darauf, daß das bei der Obligierung gegebene Symbol, das
ja zugleich ein pignus ist. in die Hand des Bürgen kommt. Dadurch
gewinnt das Wort caplevator auch die Bedeutung Sequester.
33) Kavarra V, 2, 5 : et si clamos oviere de trayeion, aqueill a
quien encargan, deve dar fianza por si et si non puede aver fianza. devel
sacar el seynor fianza] et captenedor. E otrossi parient prosmano o
otro, que non sea soldado o vasayllo de carnero, deve dar fianza por
si et si non puede aver fianza, devel sacar el seynor fianza et captener
lo a fuero (also das Eintreten als fianza = captener) et cumplir dreyto
por si. A estos parientes prosmanos et vasayllos, que non son soldados,
el seynor no es tenido de defender nin de captener. Anderemal im
ganzen Gebiet südlich und nördlich der Pyrenäen wird captener oder
statt dessen cautener farbloser auf das Verhalten eines Schützers, Ver-
treters, Verteidigers bezogen: Navarra V, 2, 4, qui cautera o lo defendra;
V, 3, 3: dar cantenedor et vozero: Boletin XXXVII, S. 393, § 181 : a dar
le advogado e captenedor. Le libre dels Feyts d*. En Jacme (Bib-
lioteca Catalana 37. 38) c. 367 pus eis aixi seren captenguts de nos; so
Das altspanische Obligationenrecht in seinen Grundzügen. 13
sondern nun auch in der Hand hält. Damit führt dieses Wort
zu manlevador hinüber, das wie es überhaupt jedes Empfangen,
weil jedes Aufheben mit der Hand bedeutet, so auch auf das
Aufnehmen des Symbols (Pfands) seitens des Bürgen geht34).
Abgeschlossen wird das alles dadurch, daß die Pfänder, die
im Prozeß der Beklagte zu geben hat oder die ihm abgenommen
sind, einmal als penos cabales bezeichnet werden35), und
daß ein andermal das Versprechen mit Bürgschaft dar recabdo
heißt36); was im Prozeß als Pfand vorkommt und, wie ge-
auch im ganzen Provenzelischen bis an die Grenze des Französischen,
z. B. Girard de Rossilho (ed. Hot'mann) v. 5686 ac de F. lo comte eaptiehn.
Wenn Bofarull col. de docc. ined. de la corona de Aragon III, S. 300 ff.,
1160, S. 305 f., 1161, Personen, die für andere eintreten als ostatici,
manlevatores, tenedores bezeichnet werden, so geht das auf captenedores
und wohl auf Bürgen, die sich zugleich vergeiselt haben. — In den
gleichen Zusammenhang gehört der thianser (von tener) des Rechts von
Bearn, der deutlich mit der firma oder dem Bürgen gleich ist (Morlaas
197, 199, 216 — 231), wobei der thianser ein strenger gebundener Bürge als
die fidance ist (Beara 22). Mit Pfand, wie Francken, Das französische
Pfandrecht, S. 33 behauptet, hat die Bezeichnung nichts zu tun ; unsicher
Egger, Vermögenshaftung und Hypothek nach fränkischem Recht, S. 55.
34) Manlevar bedeutet überall im Spanischen jegliches Empfangen
einer Sache, z. B. also das Nehmen eines Darlehens, das Nehmen in Ver-
wahrung, in Sequester. Beweise sind in diesem Zusammenhang nicht
nötig. Aber manchmal ist manlevator doch auch deutlich der Bürge :
so Muiioz, S. 453, Lugo 1177: et de quocumque fuerit appellatus, respon-
deat per fideiussorium 5 solidorum, si habuerit haereditatem in ipsa villa;
et si non habuerit haereditatem det manulevatorem ; S. 243, Jacca 1187:
et si emerint aliquid vel fuerint fideiussores vel manulebatores en die
compromissa mercatoribus persolvant; quod si non fecerint, hereditates
eorura impignorentur vel vendantur et illorum corpora tradantur merca-
toribus et ideo nullus sit fideiussor vel manulevator. Auch Bofarull IV,
S. 300 (§ 3, N. 2).
35) § 2, N. 38.
36) Usagre 32 (und die abgeleiteten Texte) fordert, daß der Neu-
ansiedler de recabdo de todos los derectos de conceio, während Sepul-
vega 18 (unten § 6, N. 50) ein dar penos con casa, d. h. eine Wadiation
fordert; Fuero de Zamora § 65 (Fueros Leoneses I, 1916, S. 49), omnes
sobrevenientes vayan con recabdo ante los suyzes.
14 Mayer.
zeigt, zunächst das vom Beklagten gegebene Symbol ist, stellt
eben das cabo dar.
5. So ergibt das Bisherige, daß der Bürge über sein eigenes
Haupt ein Symbol hebt, welches das cabo des Hauptschuldners,
dessen Person darstellt. Zunächst der Gläubiger wird mit
Symbolen ausgestattet, die genau so bei der Eigentumsüber-
tragung vorkommen, und aus Teilen der Ausstattung des
Schuldners bestehen; hier wie dort wird der Gläubiger in die
Ausrüstungsstücke des Schuldners eingekleidet. Der Gläubiger
aber gibt das Symbol an den Bürgen weiter , geradeso wie
der Testator das Symbol an den Testamentsvollstrecker gibt,
und diesen dann auch zum cabezalero macht.
6. Die geschilderten Vorgänge haben nur die Beziehungen
des Gläubigers und des Bürgen zum Schuldner zum Ausdruck
gebracht. Die letzte Frage ist, ob auch noch in bestimmten
Handlungen das obligatorische Verhältnis zwischen Gläubiger
und Bürge sich spiegelt.
Sehr früh und häufig wird nun die Tätigkeit des Bürgen
gegenüber dem Gläubiger als fiar, fidem dare, fidem portare
bezeichnet37) und daher rührt der Name fidiator, fidanza. Ob
und wie weit darin eine Verpflichtung steckt, ist vollständig
erst später (§ 6, III. 2 a) zu erörtern. Aber schon jetzt muß
auf die Frage insoweit eingegangen werden , als damit ein
Schluß auf die Form gewonnen werden kann, in der der Bürge
mit dem Gläubiger abschließt. — Da kommt nun einmal in
Betracht, daß gemäß einer aragonischen Angabe der Bürge,
der ableugnet Bürge zu sein, pro redemptione manus suae
61/- sol. zu zahlen hat38). Das kann nach früherem nichts
-") M. Port. eh. I, 167, 993: fidiaduria, que vobis (Gläubiger) fidiavi
ipse (Bürge) Querino (dem Schuldner); Brihuega, S. 133, I: der Bürge
connombre a quien fio et contra a quien ; Sepulveda 47 : los fiadores,
quel fiaron, trayanlo ante los iurados ; später si el fiador dixier, quel
non fio. Fuero viejo III, 6, 2 : e si enfiare alguno (Bürge) a labrador
(Schuldner). — Portar fidem in Usatici 129 (unten § 6, N. 1).
38) Fueros de Aragon II, S. 108 b, I: quicumque fideiussor negaverit
Das altspanische Obligationenrecht in seinen Grundzügen. 15
anderes heißen, als daß sich dieser Bürge lediglich durch
Handschlag verpflichtet hat und deshalb nach der allgemeinen
Regel39) gegen eine kleine Geldstrafe von der Verpflichtung
zurücktreten kann.
Eine andere Quelle aber bestimmt, daß der Bürge seinen
Körper verhaftet, und zwar mit einem Eid, sich also durch die-
jenige Rechtsform vergeiselt, die zu der Zeit dafür überhaupt
gebräuchlich war 40).
Eine dritte Nachricht redet davon, daß ein Bürge, der
sein Vermögen verhaftet, das vor dem Gericht tut41).
So gehen jedenfalls ursprünglich verschiedene Formen, in
denen sich der Bürge dem Gläubiger verpflichtet, nebeneinander
her. Es hängt das mit dem verschiedenen Maß der Verhaftung
zusammen, das der Bürge übernimmt und das erst später genau
geschildert werden kann , wie denn gelegentlich fiador und
sobre levador nach der Funktion unterschieden wird41a).
III. Oeffentlichk eit der Wadiation. Ist die Obli-
gierung mit Einschiebung eines Bürgen wirklich eine Ein-
kleidung, so ist zu vermuten, daß auch im spanischen Recht
se esse fideiussorem, cum legitime probatum fuerit contra ipsum, soivat
pro redemptione manus suae 6 sol, et 4 denarios.
39) § 1, I, 1 b.
40) Boletin XXXVII, S. 374, § 44 (oben § 3, N. 4). Ueberschrieben
ist die Stelle: de fianza de heredat. Der Text aber lautet: otrosi todo
hombre, que entrare fiador por pan o por vino o por buey o por mueble
alguno, meta su pie con su jura e no ha nada. Nach der Ueberschrift
kann nicht allenfalls eine auf pan, vino, buey, mueble alguno bezügliche
Obligation eingegangen sein, sondern es handelt sich um einen Gewähr-
bürgen in bezug auf Immobilien. Dann ist die bewegliche Sache, das
Tier, oder der Sack Korn, das Faß Wein vom Schuldner (Veräußerer)
als Zeichen der Obligierung gegeben und vom Bürgen entgegengenommen;
aber no ha nada, d. h. er darf diese Sache nicht verbrauchen. — Ueber
den Eid als Form der Vergeiselung § 3, N. 2, 4, 14.
41) Soria S. 151 a, b : si el obligare los bienes, que oviere de su
patrimonio, en iuicio de los alcalldes.
41a) Hinojosa documentos para la historia de los instituciones de
Leon et de Castilla (1919) n. 46 § 29 vicinus dare potuerit sobre levador
et fiador de mandamiento.
16 Mayer.
dieser Vorgang in einer öffentlichen Versammlung erfolgen
muß42). In der Tat lassen sich Spuren dafür nachweisen.
Freilich gehört es nicht hierher, wenn da und dort aus be-
sonderer Veranlassung die Obligierung z. B. vor dem conci-
lium gefordert wird 43).
Aber das ist bedeutungsvoll, wenn einigemal bestimmt
wird, daß der Schuldner einen fideiussor manifestus stellt, und,
wie später noch zu erörtern ist, auch der Schuldner, für den
ein fideiussor eintritt, als debitor manifestus bezeichnet wird 44).
Vor allem gehört es hierher, wenn im ganzen gotischen
Nordosten das verbürgte Gelöbnis als firmare, firmancia, dar
fermes bezeichnet wird45). Denn nach dem, was die Schilde-
rung der Immobilienübertragung ergeben hat, können die fermes
zunächst nur die Mitglieder des Geschlechtsverbands sein, in
den jemand aufgenommen wird. Nachträglich wird dann der
Begriff ferme mit dem des Bürgen kontaminiert und befaßt
alle zu der Immobiliarveräußerung zugezogenen Personen. Aber
daß so weit verbreitet auch die als Bürge zum Gelöbnis zu-
gezogenen Person ferme, das Gelöbnis firmare heißen kann, ist
doch nur verständlich, wenn ursprünglich beim Gelöbnis fermes
im Sinn von Mitgliedern des Geschlechtsverbands beteiligt waren.
Das gleiche wird durch eine andere Beobachtung ge-
sichert. Wenn nämlich das Bisherige richtig ist, daß die Ob-
ligierung mit wadia eine Einkleidung des Gläubigers bedeutet,
der dieses Einkleidungssymbol auf den Bürgen überträgt, so
muß sich umgekehrt die Zahlung oder was der Zahlung gleich-
steht, in der Weise vollziehen , daß der liberierte Schuldner
vom Gläubiger wieder eingekleidet wird46). Nun kommt in
42) Meine Einkleidung S. 51 f.
43) Z. B. Teruel 50.
44) Llorente IV, S. 262, Palencia 1181 : nee qui dedit fideiussorem
manifestum, si pignus abstulit, vel corpus suum defenderit, vel hereditatem
suam vel aliquid suum, non pectet calumniam. S. 268: si manifestos
dederit fideiussores. Navarra III, 15, 12 : et los prendedores den fianza
de manifiesto. — Das letztere § 6, N. 16.
45) § 4, N. 20 ff. 46) Meine Einkleidung S. 101 f.
Das altspanische Obligationenrecht in seinen Grundzügen. 17
der Tat im spanischen Recht überall da, wo entweder der
Gläubiger vom Bürgen oder der Bürge vom Schuldner die
Forderung einhebt oder wo der Schuldner zahlt, ein aboni-
miento durch den Gläubiger vor. Nach den meisten Nach-
richten besteht es darin, daß der befriedigte Gläubiger fidanzas
stellt47). Anderemal aber ist statt dessen von fermes die
Rede48). Ein Beleg aber zeigt, daß genauer zugesehen sowohl
fermes wie fiadores angewendet werden49). Es gibt also der
Gläubiger in der Tat eigentliche Bürgen, welche, wie beim
Klaggelöbnis, dafür haften, daß der bisherige Gläubiger keine
weiteren Ansprüche mehr geltend macht. Aber daneben
stehen die fermes. Also hier — bei der „Akzeptilation" des
gotischen Rechts — treten die besonderen fermes noch un-
mittelbar auf.
Nicht die Vornahme in einer allgemeinen Versammlung,
wie anderwärts, wohl aber vor der Versammlung eines Ver-
bands, der letzlich der Geschlechtsverband sein muß, ist
also für die Wadiation auch des gotisch-spanischen Rechts
wesentlich. Wenn dagegen bei der Ernennung des Testaments-
vollstreckers die Zuziehung eines solchen weiteren Kreises nicht
gefordert wird, so heißt das dann eben nichts anderes, als daß
eine Einkleidung mit der Wirkung, daß der Eingekleidete in
den Geschlechtsverband aufgenommen wird, hier nicht vor-
liegt. — In den späteren Nachrichten ist die einzige Form
eines öffentlichen Geschäfts das Handeln vor dem Notar. In
47) Navarra III, 17, 10 (= Yanguas I, S. 449 f.): quando la fianza
rendra o li fara render su aver [et el, qui prende, dara fianza a su fianza,
que peyndrö, que li abonezca et quel sera manifiesto de todo, quoanto
peyndrö; III, 17, 18: el el otro, qui priso el aver, deli fiador de aboni-
emento; III, 17, 6: prendiendo fianza, que asi lo abonezca el creedor.
48) Navarra IN, 12, 11: deli fermes con precio ; hier ist die Form
allerdings auf einen nicht wadierten Anspruch übertragen ; IV, 1, 1 :
non faga ytar fermes destas fiadurias — prenga(n) a eylla fermes de
lures fiadurias; IV, 1, 2: el esposo prenga ferme de sus fiadurias.
49) Navarra II, 2, 8 (§ 4, N. 22).
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. XXXIX. Band. 2
18 Mayer.
der Tat wird sich in einzelnen Anwendungen wiederholt
zeigen50), daß das notarielle Geschäft vollständig die Rolle
der Wadiation übernimmt. Der Notar, der nach römischem
Recht zu den öffentlichen Akten zugezogen wird, schiebt alle
übrigen Formelemente hinter die Beurkundung zurück.
IV. Allgemeine Zusammenhänge. 1. Damit daß
die spanische Obligation, wenn sie verbürgt ist, unter das allge-
meine Schema der Einkleidung fällt, entspricht sie ihrer Form
nach dem, was nach meiner Meinung für die Wadiation im
germanischen Recht überhaupt gilt; ich habe versucht, das in
meiner Einkleidung zu beweisen: heute soll nur angefügt
werden, daß vielleicht auch das Wort arramire. das arramitio,
man gewöhnlich germanisch zu deuten versucht, gar nichts
anderes als eine sinnliche romanische Bezeichnung für die Ver-
wendung des Stabs51) und so für die Hauptform der Wa-
diation ist52).
50) § 6. N. 24 ff.
51) Gewöhnlich faßt man ja arramire als hybrides im Grundstock
germanisches Wort. Aber im Romanischen begegnet die Zusammen-
setzung arrama von ramus für den Ast (Munoz S. 549 ! et si (taliaret)
arbor, qui dat fructus, fuerit per unaquaque arrama 5 sol.) ; der Ueber-
setzung von arramire mit stabon'^Brun n e r IL S. 367. N. 6) würde es
sehr wohl entsprechen.
52) Ist auch die der Glosse entstammende Vorstellung von den
pacta vestita hierher zu ziehen? Freilich könnte der Ausdruck in seinen
frühesten Belegen auch bloß auf den Gegensatz zu dem bereits römischen
Ausdruck nudum pactum gehen (gl. igitur zu 1. 7, § 4, D 2. 14: his enirn
casibus ex nudo pacto nascitur actio, sed potest dici vestitum legis
auxilio . . . Sed dicitur ab aliis vestimentis, que habent pacta, ut iam
dicam sie. Et dici potest venditio nudum pactum ab aliis vestimentis
praeterquam a consensu). Aber es kommt doch in Betracht, daß im
französischen Recht wiederholt die promesse (convenant) vestue das ge-
rade mit Symbolen geschlossene Versprechen ist : cout. d e Bretagne (ed.
Planiol) c. 250 nulle requeste ne contrat ne nulle promesse n"est respon-
sable, si eile n'est faicte par court ou vestue ou juree ou fiancie; livre
des droiz § 131, § 132, wo dem bloßen convenant die Obligation oder
die traditicion du pris als convenant vestue entgegengesetzt wird: dazu
Das altspanische Obligationenrecht in seinen Grundzügen. 19
Aber gehört nicht auch die römische Stipulation in den
gleichen Zusammenhang? Daß das römische Recht genau so
wie das germanische den Stab zur Eigentumsbehauptung ver-
wendet, schafft zunächst mindestens eine Möglichkeit des Zu-
sammenhangs53). Daß die Stipulation sich vielleicht zu-
nächst auf Prozeßbürgschaft bezieht 54), rückt germanische
Wadiation und römische Stipulation sachlich näher. Ent-
scheidend erscheint mir die Bezeichnung stipulatio. Natürlich
kommt die naive Ableitung des Wortes von stipula, wie sie
Isidor55) versucht, nicht in Betracht, wenn auch umgekehrt
die Nachricht vielleicht an die Verwendung einer stipula bei der
westgotischen Wadiation erinnert. Nicht besser ist aber schon
die ebenso naiv-rationalistische Deutung des Paulus, wonach
stipulus = firmus ist, und die andere des Varro, wonach der
Ausdruck von stips Geld kommt56). Stips (stipes) heißt der
Pfahl, der Stab. Soll da nicht die stipulatio sachlich genau
das gleiche sein, wie etwa das gotische estachamentum ? Daß
in historischer Zeit dann diese sinnliche Bedeutung mit dem
Symbol verloren ging, ist bei der geringen Ursprünglichkeit des
gesamten uns überlieferten römischen Rechts ebensowenig zu
verwundern, wie ja auch in den meisten germanischen Nach-
richten das Symbol bei den ehemals wadiierten und verbürgten
Versprechen weggefallen und vergessen ist. — Auch auf ein
anderes römisches Element könnte die bisherige Entwicklung ein
Licht werfen. Es scheint eben doch so, daß sponsio auf irgend
Es mein, etudes sur les contrats dans le tres-ancien droit frangais
S. 40, N. 31. So könnte eben doch in der romanischen Welt des 11. und
12. Jahrhunderts noch allgemein die Vorstellung bestanden haben, daß
ein unmittelbarer Erfüllungszwang nur bei der wadierten Obligation
vorkommt, und man hätte dann Wadiation und die römischen Verträge,
die nicht pacta nuda sind, zusammengeworfen.
53) Ueber den Stab: Girard- v. Mayr, Römische Rechtsgeschichte,
S. 131, N. 4, S. 1080, N. 5. A. M. v. Amira Stab, S. 164.
54) Mitteis, Römisches Privatrecht I, S. 267.
55) Etym. V, 24, 30.
56) Girard- v. Mayr S. 527.
20 Mayer.
einen religiösen Akt geht57). Dann bietet sich zur Erklärung
die Tatsache, daß das germanische wadiierte Versprechen wie
jede Einkleidung ein firmare durch die Geschlechtsgenossen,
also einen Aufnahmeakt des Geschlechtsverbands voraussetzt,
der ursprünglich notwendig ein kultischer gewesen sein muß.
Ebenso löst sich die griechische Terminologie iffoäv,
s7YD<*<3#ai meines Erachtens am einfachsten, wenn man von
einem ursprünglichen Symbol ausgeht, das der Schuldner ein-
händigt (ifT^), der Bürge sich einhändigen läßt (eYYoärat)58).
2. Was dann noch weiter verfolgt werden muß, ist die
Beziehung der Wadiation zum Pfandrecht. Bekanntlich ist in
einem großen Teil des germanischen Rechts wadium die Be-
zeichnung für das Pfand und diese Bedeutung ist so allgemein
geworden, daß man daraus sogar wadiare im Sinn von Pfän-
den ableitet. Wie verträgt sich das nun damit, daß die gene-
relle Obligierung durch Einkleidung geschieht? Zwei Mög-
lichkeiten kommen an sich in Betracht. Entweder man sieht
im wadium zunächst das bei der Einkleidung gegebene Symbol,
das ja Ausrüstungsstück und soweit Kleid (wadium) ist und
das dem Gläubiger pfandlich neben dem haftet, daß derselbe
damit die rechtliche Herrschaft über das ganze übrige Vermögen
des Schuldners erlangt; von diesem Fall des Pfands ist dann der
Ausdruck auf alle Pfänder übergegangen. Oder man sieht im
wadium zunächst nur die durch Einkleidung begründete
Herrschaft des Gläubigers über das ganze Vermögen des
Schuldners; durch eine primitive Jurisprudenz wäre dann aber
der Ausdruck nachträglich auch auf die Herrschaft des Pfand-
gläubigers über einzelne Sachen erstreckt worden. Trotz man-
cher Bedenken habe ich mich früher59) für die zweite Lösung
entschieden. Das spanische Recht zeigt aber, daß das erste
richtig ist. Denn es werden die Einkleidungssymbole zu-
57) Girard- v. Mayr S. 528.
58) Ueber die Etymologie Partsch, Griechisches Bürgschaftsrecht,
S. 46 f., der freilich zu anderer Deutung kommt.
59) Einkleidung S. 98, unten S. 35.
Das altspanische Obligationenrecht in seinen Grundzügen. 21
sammen mit Tieren unter den technischen Begriff der bestia,
die man bei dem Vertragsschlnß einsetzt, zusammengefaßt60)
und pignus ist sehr häufig einesteils die Bezeichnung für Pfand,
hinwiederum aber auch für Tier und sonstige Fahrhabe61).
Umgekehrt paßt das echar penos zunächst nur auf Einklei-
dungssyrabole, wird dann aber auf alle Mobiliarpfande ange-
wendet62). So weist beides darauf hin, daß die Einkleidungs-
symbole als Grundformen des Pfands überhaupt gedacht sind.
Aber natürlich ergibt sich von selber eine Unterscheidung.
Nur da entwickelt sich ein neben der allgemeinen Verhaftung
und Verbürgung einhergehendes eigentliches Faustpfandrecht,
wo das hingegebene Einkleidungssymbol selbständigen ökono-
mischen Wert hat. Gerade daraus erklärt sich dann die Sonder-
stellung und Bevorzugung des Stabs als Einkleidungssymbol.
Wo die Partei eben nur die allgemeinen geschäftlichen Wir-
kungen der Einkleidung des Gläubigers bezweckt, von denen
im Schlußabschnitt die Rede sein wird, da wird sie den wert-
losen Stab nehmen. Wo eine sofortige tatsächliche Siche-
rung des Gläubigers in Frage steht, da werden ökonomisch
wertvolle Einkieidungssymbole und allmählich, nachdem das
Vieh Einzeleigen geworden ist, Vieh, und nachdem die Grund-
stücke Privateigentum geworden sind, auch ein Grundstück
eingesetzt; das erklärt dann, warum schließlich jedes Pfand
wadium heißt.
Deshalb setzt das spanische Recht neben der Verpfän-
dung einzelner Sachen noch eine allgemeine durch Bürgschaft
gedeckte Obligation voraus63) und soweit ist das Pfandrecht
genau so akzessorisch, wie im römischen Recht. Aber freilich
80) § 2, N. 31 f.
61) So in dar casa con peynos : § 6, N. 50 f.
62) Dieser Paragraph, N. 19.
63) So z. B. Fueros de Aragon I, S. 281 b, IV (§ 6, N. 1) und be-
sonders Boletin XXXVII, S. 381, § 102, wo ganz deutlich die Haftung
des Mobiliarvermögens, vermittelt durch den Bürgen, der Haftung des
eingesetzten Grundstücks vorausgeht.
22 Mayer.
ist das, wie früher gezeigt, nicht das einzige Pfandrecht: wo
für ein unwadiertes Versprechen ein Pfand oder was dem gleich
ist, eine arra gegeben wird, da bleibt es bei der bloßen
alleinigen und nicht nur subsidiären Sachhaftucg 64).
§ 6. Die Wirkungen der Wadiation.
I. Zugriff auf Bürgen, nicht auf Schuldner.
1. Für die wadierte Obligation ist, wie das schon aus der
Schilderung der Form sich ergeben hat, entscheidend, daß
zwischen Gläubiger und Schuldner allemal eine Mittelsperson
eingeschoben ist, die man am bequemsten — aber freilich auf
die Gefahr einer gewissen Undeutlichkeit hin — mit dem
Namen Bürge bezeichnet. Was im modernen Recht und auch
im römischen Recht, wenigstens so wie es uns vorliegt, doch
nur etwas rein Zufälliges und Gelegentliches ist, nämlich daß
neben der Obligation des Hauptschuldners noch die einer
solchen Nebenperson steht, das bildet im spanischen, wie über-
haupt im germanischen Recht, einen notwendigen Zusammen-
hang. Der Grund für diese Erscheinung, über den man ernst-
lich nie nachgedacht hat, wird erst am Schluß hervorgehoben
werden können. Vorläufig soll die Tatsache als eine unerklärte
hingenommen und nach ihren einzelnen Formen geschildert
werden.
2. Hier ist nun zunächst entscheidend, daß gegenüber der
spätrömischen und modernen Auffassung das Verhältnis der
drei Vertragspersonen gerade umgekehrt ist. Der Gläubiger
hält sich nicht an den Hauptschuldner, sondern an den Bürgen
und der Bürge greift auf den Hauptschuldner *). Daß der
6i) Ein solcher Fall in der sehr alten fazana der Fueros de Aragon II,
S. 110 a/b (= Navarra VI, 9. 2): darüber ich in Z. Sav. St. f. Rechtsgesch.
Germ. Abt. XL, S. 255.
*) Navarra III, 15, 10: eine außergerichtliche Pfändung des Schuldners
nur in der Form gedacht, daß el fiador si viniere pendrar a la heredat
daqueyll, qui lo ytö fiador; III, 17, 6: todo fianza es tenido a demostrar
Das altspanische Obligationenrecht in seinen Grundzügen. 23
Bürge eine Zwischenperson zwischen Gläubiger und Bürge
ist — das, was die langobardische Jurisprudenz einen mediator
nennt — , kommt damit zum klarsten Ausdruck2).
a su creedor peynos . . . et el fiador . . . va7 al deudor, que saque los
peynos ; V, 8, 1 : es ist die Frage behandelt, wie der logrador, also der-
jenige, der ein zinsbares Darlehen gibt, sich zu den ihm gewährten
Pfändern verhält, und zuerst ist von der Benutzung derselben, dann von
ihrer Zerstörung die Rede. Hier heißt es nun : et si el logrador rompe
los peynos , que tiene del fiador del cabdal , emendarä de los peynos
et demas deve perder el logro. Yanguas I, S. 445 : ex quo aliquis pigno-
raverit suam fidanciam non reddantur pignora nisi per ipsam fidanciam;
et, si debitor reddiderit pignora ad fidanciam, erit libera. Fueros de
Aragon I, S. 279 a/b, 1247 : si is, qui misit in pignore ipsam heredidatem,
noluerit aut non potuerit solvere creditori pecuniam mutuatam termino
constituto, qui tenet ipsam hereditatem in pignus, pignoret ipsam fidantiam
aut suum debitorem, si forte non habuerit inde fidantiam; also hier
wird als selbstverständlich angenommen, daß vom Gläubiger zuerst die
fidantia, wenn sie da ist, und nicht allenfalls der Schuldner anzugehen
ist. S. 278 b, II, 1247: multotiens accidit, quod aliquis homo accipit
pecuniam ab aliquo homine, pro quo solvenda dat ei fidantiam, ut paccet
ei pecuniam termino inter eos constituto; et quia debitor non vult
persolvere pecuniam debitam termino constituto, fidantia coactus et
districtus ab ipso creditore pignorat debitorem et vult reddere pignora
creditori, scilicet causam pignoratam ; sed creditor nullo modo vult reci-
pere illa pignora, sed dicat contra fidantiam „non teneris mihi dare
pignus, quod pignorasti debitori" ; super quod dicit forus, quod ipsa
fidantia non debet ei dare pignus, quod debitori pignoravit; sed quo-
cumque modo potuerit, debet dare operam, ut faciat paccare creditorem
(d. h. der Gläubiger kann Barzahlung verlangen, braucht sich nicht mit
den Pfändern und so mit einer Art datio in solutum zu begnügen; aber
all das kann nicht er, sondern nur der Bürge dem Schuldner gegenüber
durchsetzen); I, S. 281 b, IV, 1247: cum aliquis miserit in pignus ad
alium casas, campos aut aliam hereditatem cum carta, fidantias et testibus
secundum, quod est forus, postquam terminus fuerit transactus, in quo
debet recuperare suam pecuniam creditor, qui eam emprestavit, si forte
debitor noluerit succurrere suis fideiussoribus, quos missit in illo debito,
unde creditor pignorat suas fidantias, ut faciant ei paccare suam pecuniam,
quam emprestavit, ipsae fidantiae debent illud demonstrare ante justiciäm
et ante bonos homines, quomodo non vult eis sucurrere ille, qui posuit
eos fidantias, ut trahat eos de illa fidanceria, in qua eos misit et etiam
24 Mayer.
Daraus erklärt sich dann, wenn in einzelnen Anwen-
dungen den Bürgen da eine Art Schonfrist dem Gläubiger
gegenüber gegeben wird, wo in der Person des Schuldners
eine Hinderung eintritt und deshalb der Bürge bei diesem die
Schuld nicht sofort einfordern kann 3). Besonders bezeichnend
ist es, daß sich einmal der Gläubiger solange nicht an den
Bürgen halten darf, als der Hauptschuldner exiliert ist4).
quomodo sunt pro illo pignorati ; et hoc facto, ipsae fidantiae secundum
forum possunt mittere ipsam hereditatem in manu cursoris publici ad
30 dies et postea vendere illam; I, S. 284 a, I, 1247: fideiussor, qui a
creditore pignoratus fuerit, transacto termino, quo pecunia debuit solvi
eum, qui fideiussorem illum posuit, similiter pignorabit et creditore
reddente fidantiae suum pignus ad preces et iustantiam debitoris se-
cundum forum fideiussor debet reddere similiter debitori suum pignus;
nee potest nee debet illud aliquatenus retinere. — Boletin XXXVII,
S. 381, § 102: cuttodo ome, que tobiere heredat en peinnos fasta ter-
mino seynnalado e si el termino pasado nol quisiere pagar su haber,
el creedor puede, si quisiere pendrar su fiador, quel faga pagar. E si
no oviere ren (der Schuldner), que venda y la heredat fasta termino
de 300 dias ; et si nol quisieren, el, quel puso por fiador o sus herederos
e demas puede prender a su dendor por su haber; S. 399, § 236: todo
ome, que fuere fiador a otro por clamo, que haya dalguno, que faga
complir fuero e tomare peynnos de marquero e los diere al querelloso
et el despues sin el fiador por si vendiere el peynno, el (statt al) mar-
quero despues non responda al fiador a la marca. — Usatici 129 (cortes
de Cataluiia I, S. 42) : si ille, qui plivium fecerit, fidem, quam convenerit,
portare contempserit, liceat illi, eui mentitus fuerit, eum distringere et
obpignorare in treuga et pace per omnes dies, ita ut moderatum faciat
districtum aut competens faciat pignus . . . Si vero ille, qui plivium
fecerit, fidem portaverit et de suo debitum persolverit, illi, qui eum in
plivium miserit, eicere noluerit, in.duplo ei solvere cogitur totum damnum,
quod ei per ipsum plivium evenerit. 2) Meine Einkleidung S. 22.
3) Wenn der Schuldner krank ist, kann der Bürge vom Gläubiger
Aufschub verlangen: Navarra III, 15, 23. Ebenso, wenn der Schuldner
abwesend ist : Teruel 167, 168 ; Navarra III, 17, 1 ; Yanguas I, S. 447 ;
III, S. 313; beiläufig mag darauf hingewiesen werden, daß an dieser
Stelle, wie auch sonst gelegentlich der Schuldner im Verhältnis zum
Bürgen als dessen auetor — der Urheber seiner Haftung — bezeichnet wird.
4) Navarra III, 17, 15 : si yfanzon o villano itare el rey de tierra, deven
aver plazo lures fiadores ata que la amor del rey ayan et tornen a tierra.
Das altspanische Obligationenrecht in seinen Grundzügen. 25
Abhängig ist, wie früher gezeigt, der Zugriff des Bürgen auf
den Schuldner davon, daß der Bürge die marca hat. Nun hat sich
aber ebenfalls schon ergeben, daß der Bürge nach Ablauf von Jahr
und Tag das Zeichen an den Gläubiger zurückgibt; vor allem aber
ist noch später davon zu reden, daß bei der Prozeßbürgschaft
der Bürge nach einem Jahr ausscheidet : dann muß freilich da-
nach der Gläubiger unmittelbar gegen den Schuldner vorgehen 5).
Dem Bisherigen gegenüber steht es dann, wenn nach
anderen Angaben der Gläubiger sich nach Belieben an den
Hauptschuldner oder an den Bürgen halten kann 6).
Die justinianische Form, so daß dem Bürgen ein Privilegium
excussionis zusteht, haben naturgemäß die partidas 7). Aber auch
5) Zugriff an marca gebunden : § 5, N. 14. — Rückgabe des Sym-
bols von Bürge an Gläubiger und Geltendmachung durch Gläubiger nach
Jahresfrist : § 5, N. 9. — Ausscheiden der Prozeßbürgen binnen eines
Jahres: dieser Paragraph N. 110.
6) Villanueva XVI, S. 172, Lerida 1228 : consuetum est, quod qui-
libet convenire cum effectu primo fideiussorem vel si vult reum princi-
palem. — Fuero real III, 18, 3: si aquel, que tomö üador por alguna
cosa, quisiere demandar al deudor, puedalo facer y el deudor no se
pueda amparar por decir que fiador tiene del (hier ist also noch ein
früherer Rechtszustand deutlich, wo der Hauptschuldner die direkte Er-
füllung an den Gläubiger ablehnen kann). Otrosi, si quisiere demandar
al fiador, puedalo facer; ca pue9 que ambos le son tenudos e obligados,
en su poder es, que demande, a quäl dellos quisiere, fuera si fiadura
fa fecha por alguna postura en otra manera (= Soria, S. 150 b, III). —
Dann das spätere Recht von Aragon , während das ältere (N. 1) die
Vorausklage gegen den Bürgen fordert : Obs. IV, de fideiuss. § 3 (Fueros de
Aragon II, S. 28) : item in manu creditoris est agere contra fidantiam vel
contra principalem; VI: de gener. priv. § 15 (S. 46): et scias, quod est in
optione creditoris, quod distringat primo fideiussorem vel principalem; in
Aragonia enim non est Privilegium vel beneficium tale, quod prius con-
veniatur principalis quam fideiussor. — Hierher wohl auch M. Port. leg. I,
S. 60 a, Sortelha 1228 : et numquam vendantur bona de fideiussore, antequam
vendantur bona debitoris. — Coutumes de Toulouse 76 : creditor ille —
potest principalem debitorem — vel fideiussorem . . . convenire.
7) V, 12, 9 : en el logar seyendo aquel, que fuese principal debdor,
primeramiente deben demandar a el que pague lo que debe, que non
a los, que entraron fiadores por el.
26 Mayer.
sonst begegnet dieselbe uns dann etwa so, daß zwei Arten der
Bürgschaft geschieden werden — eine, bei der der Gläubiger
zunächst den Bürgen angehen muß und eine andere, bei der
er sich zunächst an den Hauptschuldner hält: im zweiten Fall
wird von einem abonir des Hauptschuldners durch den Bürgen
geredet, und so eine Bezeichnung verwendet, die auch in ande-
rem Sinn vorkommt8).
Geht man aber auf die zuerst geschilderte Regel zurück,
so teilt das spanische Recht ursprünglich den allgemeinen
Standpunkt des germanischen Rechts über Verhältnis von
Bürge und Hauptschuldner9). Daß von demselben auch im
griechischen10) Spuren sich finden, beweist für urarisches
Recht.
IL Der Zugriff außergerichtlich.
1. Der Zugriff des Gläubigers gegen den Bürgen und des
Bürgen gegen den Hauptschuldner vollzieht sich nicht auf dem
sonst grundsätzlich allein zulässigen Weg der Klage11), son-
dern beidemal wird mit Eigenmacht vorgegangen; natürlich
heißt das nicht, daß eine Klage ausgeschlossen, sondern nur,
daß sie nicht nötig ist. Das gilt, um es zu wiederholen, für
den Gläubiger dem Bürgen gegenüber12) und für den Bürgen
8) Estilo 229 : si alguno fia a otro, que este a derecho y se va el
enfiado, este que lo fiö, es tenido de lo traher a derecho o de tomar
el pleyto por el, si quisiere, y cumplir, quanto fuere juzgado. Mas si
alguno facen abonado el demandado, entonce la sentencia, que fuere
dada contra el, debese entregar en sus bienes del demandado: e si al-
guna cosa mengua, que no se puede entregar en sus bienes, debenle
entregar en los bienes deste, que le fizo abonado : mas primeramente
se debe comenzar a facer entrega, segund dicho es en bienes de a quel,
a quien fizo abonado. — Andere Bedeutungen von abonir: § 5, N. 47.
9) Meine Einkleidung S. 12 f.
10) Part seh, a. a. 0. S. 27 f., S. 158 f.
n) § 2.
12) Yanguas I, S. 445 ; Fueros de Aragon I, S. 279 a/b ; I, S. 281 b, IV ;
Boletin XXXVII, S. 381, § 102. Usatici 129 (alles N. 1). Dazu Yan-
guas I, S. 433. Estella (= III, S. 305, St. Sebastian): et si aliquis in
Das altspanisclie Obligationenrecht in seinen Grundzügen. 27
im Verhältnis zum Hauptschuldner 13). Es ist dann eine be-
sonders deutlich gezeichnete Anwendung, wenn auch der Mann,
der Bürge des Herrn ist, gegen diesen vorgehen kann, während
domo vicini sui intrasset vel pignora traxisset per vim, pariet 25
solidos domino domus ; et si fidanza fuerit, bene debet pignorare sicut
est foro ; S. 458 : nullus debet pignorare vicinum suura , si fidiator
non est. Et si pignoraverit vicinum suum, qui non est fidiator, debet
calumniam 25 solidis et reddet pignora (es ist freilich nicht ganz sicher,
ob diese beiden letzten Stellen auf die Pfändung des Bärgen durch
den Gläubiger, oder des Hauptschuldners durch den Bürgen gehen);
S. 446: si quis pignoraverit aliquam fidanciam fructuum vinearum aut
agrorum aut locherum de domo aut de honore, totum emendabit suus
auctor (im Druck fehlerhaft ductor ; über auctor oben N. 3) ; S. 447 : si
aliquis horao habet fidanziam, intrare debet in sua domo pro pignore ;
et si ille potest monstrare suam bestiam vivam de foris non debet intus
intrare ; S. 448 : et si ad suam portam supradictas bestias non monstra-
verit, domum intrare bene poterit per pignorare; III, S. 312, S. Sebastian:
quicumque fidantiam tenet pro suo avere, querat pignus ad suam fidan-
tiam; et si fidantia(m) mostraverit sibi pignus mortuum, quod valeat
minus tertiam partem, accipiat illud pignus et hoc de tertio in tertium
diem ; sed si bestiam vivam dederit, accipiat illum vel antea vel postea ;
sed si debita plus valuerint 100 solidos, mostret Uli caballum vel mulum vel
mulam vel equam vivam; et si suum habere (die Forderung des Gläubigers)
valet 100 solidos, mostret illi bestiam, que valet 20 solidos; et si 50,
mostret bestiam de 10 solidos. Fueros de Aragon II, S. 97 b, I, 1247 :
si equus, equa, mulus, mula aut asinus emissarius alicuius fideiussoris
fuerit ab aliquo, cui fideiusserat, pignoratus, et qui eum posuit, sibi
noluerit subvenire, iurante fideiussore, qui cum posuit, solvat de anti-
gariis (entstellt für engueris) pro quolibet noctium 5 arrobas ordei.
Boletin XXXVII, S. 450, § 7 : todo ome, qui pendrare fuera de las heras (?)
a 5 solidos, de calonia si non fuere a su fianza. Ined. de hist. port. V,
S. 385, III: se algun hörnern . . . demandar vezino de fiadura e disser
esse demandado „non sey, se soo fiador, se non" devem no apegnorar;
also gibt einer zu, daß er Bürge ist, so darf man ihn pfänden.
13) Navarra III, 15, 10, III, 17, 6; Fueros de Navarra I, S. 278 b,
II, 1247, S. 284 a, I, 1247; Boletin XXXVII, S. 390, § 236 (alles N. 1). Dazu
Boletin XXXVII, S. 383, § 124 : die Erben des fiador haften an sich
nicht; aber wenn der fiador bereits den Schuldner gepfändet hat, haften
sie doch dem Gläubiger auf Herausgabe (otrosi si alguno fuere fiador
por heredat o por otra cosa, nonjleven los herederos responder; porque
28 Mayer.
er sich sonst durch eine Vergewaltigung des Herrn strafbar
machen würde14). Natürlich kann der der Pfändung Ausge-
setzte die Pfändung dadurch vermeiden, daß er das Pfand aus
freien Stücken gibt; so wird davon gesprochen, daß toda fianza
es tenido a demostrar al su creedor peynos15).
Anderemal wird die außergerichtliche Pfändung gegen-
über dem fideiussor und dem debitor manifestus zugelassen,
wie auch vorausgesetzt wird, daß der debitor, der einen super-
levator hat, ein debitor manifestus ist. Das führt auf die schon
früher gemachte Beobachtung zurück, daß die wadierte Schuld
irgendwie kundlich gemacht werden muß 16).
Immer ist zu betonen, daß in dieser Form namentlich
auch der Anspruch aus dem Prozeßgelöbnis eingetrieben wurde,
also die Vollstreckung des Judikats erfolgt sein muß; sie wird
entweder durch den Bürgen oder wenn dieser Bürge durch
Ablauf von Jahr und Tag ausgeschieden ist, unmittelbar durch
den Gläubiger geschehen.
se muera el fiador teniendo el peino . . . sus herederos pechen el peynno
de su deudor; S. 400, § 247: todo ome, que fuere fiador a otro por
alguna cosa, e tomare peynno de marquero et el demandar dixiere al
fiador, quel desempara, non puede mas tenerlo por la voz. Fuero viejo III,
6, 5: der Bürge, der dem Gläubiger gezahlt hat, deve luego entrarle
de los bienes del otro de quanto por el pechö con los daiios, que por
el resciviö. E si negare la fiaduria e el otro gelo probare, devegelo todo
pagar dobrado, quanto el pechö ; e de tal entrega, conio esta, devele
valer al merino la meitat, quanto en lo del dobro e la otra meitat al
querelloso ; e si mueble non ovier, deve prendarle el cuerpo por ella.
Die Pfändung des Hauptschuldners durch den Bürgen äußert sich auch
darin, daß nach Teruel 47 (§ 4, N. 206) die fideiussores den Gläubiger
aus dem Vermögen des hingerichteten Schuldners befriedigen.
14) Boletin XXXVII, S. 378, § 84: et si el seynnor de la vila metiere
su mesquino fiador e nol quisiere facer derecho e viniere a varaja sobre
la pendra, el mesquino tornare a su seynnor sobre la pendra, non ha
calonia.
15) Navarra III, 17, 6.
16) Das erste Teruel 409 : nemo ipsum pignoret nisi fideiussor fuerit
sive debitor manifestus; das zweite Teruel 201: si forte debitor mani-
festus aut eius superlevator se fugerit; dazu § 5, N. 44.
Das altspanische Obligationenrecht in seinen Grundzügen. 29
2. a) Für den Umfang dieser Pfändung kommt auf der
einen Seite in Betracht, daß diese Eigenmacht nicht vor dem
Haus des Schuldners Halt zu machen braucht17), wie dies bei
der obrigkeitlichen Pfändung der Fall ist, solange das encerra-
miento nicht seinen Abschluß gefunden hat18). '
Auf der anderen Seite sind aber nur die Mobilien einer
solchen außergerichtlichen Pfändung unterworfen, die Immo-
bilien davon ausgeschlossen; auf diese kann der Gläubiger nur
greifen, wenn sie verpfändet sind und muß dabei dann den
Klageweg einschlagen19). Freilich wird sich später zeigen,
daß in anderer Richtung allmählich die Wadiation auch auf
die Immobilien übergreift.
b) Nach einer Anzahl von Angaben geht der Zugriff des
17) Yanguas I, S. 433 (= III, S. 305); I, S. 447 (beides N. 12).
Teruel 165: recepto fideiussore, ut forum precipit, querelosus pignoret
in domo sui contempsoris cotidie, quousque ei satis faciat, ut est forum.
18) § 2, N. 78 f.
19) Fuero viejo III, 6, 5: wenn keine Mobilien da sind, wird sofort
auf den Leib des Schuldners gegriffen (X. 13). Fueros de Aragon I,
S. 96 a, I, 1247 : cum aliquis infantio . . . posuerit illi fidantiam et noluerit
ei dare debitum aut trauere ipsum de ipsa fidanciaria, in qua eum posnit,
dicit forus, quod si non habet, in quo possit pignorare eum, qui
conqueritur, dominus, qui habet dominium in villa . . . potest mittere
clamantem in haereditate ipsius infanzionis, donec solvat conquerenti
pecuniam; I, S. 281 b, IV, 1247. Yanguas I, S. 441 f. : si quis miserit
fidanciam et dixerit fidancie sue „si dampnum inde vobis veniat de ista
fidancia, super istam domum aut super istam haereditatem vos teneatis"
et si fidancia habuerit inde testes, non poterit illam domum aut hereditatem
mittere ad alium in pignore; das heißt doch, daß eine ausdrückliche
Verpfändung an den fideiussor nötig ist, wenn er sich — dann mit Aus-
schluß anderer — an ein Grundstück soll halten können. — Yanguas I,
S. 447, 448: hier wird davon ausgegangen, daß ein fideiussor auf Mobilien
eigenmächtig gepfändet werden darf; die Beschlagnahme von Immobilien
aber setzt das gewöhnliche encerramiento voraus. Eine solche gericht-
liche Pfändung wird gemeint sein, wenn nach Navarra III, 15, 10 el
fiador si viniere pendrar a la heredat daqueyll, qui lo yto fiador, und
nach Teruel 49 fideiussores de salvo debeant pectare homicidium, in-
trando primitus totam radicem dapnati et mobile.
30 Mayer.
Bürgen auch auf die Person des Schuldners, seiner Frau und
der Kinder und das ist gelegentlich derart gesteigert, daß der
Bürge sogar noch den Leichnam des Hauptschuldners fest-
halten kann20).
Freilich steht dem gegenüber, daß nach einer anderen
Nachricht der fiador bei Immobiliarübertragung, also der fiador,
der für die Eviktion einsteht, den Schuldner nicht in die Hand
des Gläubigers geben kann21). Daraus ergibt sich, daß der
Zugriff des Bürgen auf die Person des Schuldners nichts Selbst-
verständliches ist. In welchem Umfang er eintritt, wird später
genauer begrenzt werden22). Soweit er aber vorkommt, ist
er allerdings genau so ein außergerichtlicher Zugriff, wie der
auf das Vermögen23).
20) Fuero viejo III, 6, 5 (N. 13); Teruel 168: tarnen si superlevator
illum debitorem, quem superlevaverat, manifestum habere potuerit, re-
cipiatur in locum superlevatoris et superlevator exeät a captione. Teruel
171 : si vero superlevatorem, antequam pectet debitum debitorem, ut
dictum est, invenire vel adducere non potuerit et uxore debitoris et filios
manifestos facere potuerit, ut forum precipit, querelosus in loco sui
debitoris illos recipiat et in captione teneat. Yanguas I, S. 446, Estella :
sed si fidancia mittit suum auctorem (den Hauptschuldner) (sc. in per-
sone, d. h. in das Gefängnis), non dabit illi panem. M. Port. leg. I, S. 379,
Fresno 1152: si (der Bürge) contentorem (den Hauptschuldner) habuerit,
mittat illum in manus et sine calumnia et in cepo et exeat sine calumnia.
Ueber das Festhalten des Leichnams Navarra III, 17, 7 : fianza, que ha
a peytir por omme muerto, deve empararlo del muerte por la dobla,
si peyto; et si non lo ha, puede prender el cuerpo fuera de casa o de
glesia e tener el cuerpo peyndrado, que non entre de ius tierra. Daß
der Leichnam für die Schuld zurückgehalten werden kann, findet sich
aber im ganzen Kreis des Mittelmeerrechts und beschränkt sich nicht
nur auf den Schuldner im Verhältnis zum Bürgen : so die ausgezeichnete
Untersuchung von E. de Hinojosa in estudios sobre la historia del
derecho espanol S. 145 ff.
21) Usagre 98: et si el otor non oviere, onde pechar, el fiador lo
pectet, sus bestias iaziendo. Et por esto el fiador non meta el depdor
en manos al quereloso.
22) Unten N. 72 ff.
23) Fuero viejo III, 6, 5; Yanguas I, S. 446, M. Port. leg. I, S. 379
(N. 20) scheinen alle ein eigenmächtiges Vorgehen der fiador ohne Klage
Das altspanische Obligationenrecht in seinen Grundzügen. 31
3. a) Die Pfändung bei der Wadiation ist nicht nur da-
durch von der Pfändung aus gewöhnlichen Forderungen ver-
schieden, daß letztere behördliches Vorgehen — Ladung mit
obrigkeitlichem Zeichen — fordert, sondern auch noch nach
einer anderen Seite hin. Gewöhnlich kann ja die Beschlag-
nahme, welche auf Grund des beigebrachten sigillum regis
Platz greift, jederzeit dadurch hinfällig gemacht werden, daß
der Angegangene Bürgschaft stellt. Dagegen kann die Pfän-
dung aus verbürgter Obligation durch abermalige Stellung
eines Bürgen nicht gehemmt werden. Es wird das allgemein
durch das Rechtssprichwort 24) „fiador sobre fiador non manda
recebir el fuero" ausgedrückt und tritt in verschiedenen An-
wendungen, meistens in bezug gerade auf das Prozeßgelöbnis
vorauszusetzen, ebenso wie das, was Navarra III, 17, 7 über das Fest-
halten des Leichnams gesagt ist. Ganz klar ist Usagre 98 (N. 21). —
In Teruel 168, 171 könnte man das manifestum habere oder manifestos
facere auf ein Ueberführen beziehen, und dann wäre ein Prozeß voraus-
gesetzt; aber sprachlich ebensogut möglich ist es hier unter manifestum
habere, facere einfach das Auffinden, Nachweisen des flüchtigen Schuld-
ners, bzw. seiner Familie, zu verstehen, und das ist das richtige; denn
Teruel 171 ist wirklich von einem convincat eos (uxorem et filios) durch
den superlevator die Rede, wenn dieser die Schuld leugnet; das steht
aber getrennt davon manifestos facere potuerit,
24) Navarra III, 15, 5, a. E. : maguera si el peyndramiento fuere
fecho, que peyndre ombre a su fiador, porque non reciba fiador, quoanto
el alcalde mandare, non deve aver calonia ; que fiador sobre fiador non
manda recebir el fuero ; Fueros de Aragon I, S. 285 a, 1247 : creditor,
qui us que ad certum terminum pecuniam super pignora mutuavit, con-
fecto inde cum fidantia et testibus instrumento, si transacto solutionis
termino fidantiam pignoraverit, ut faciat pecuniam sibi solvi, non potest
debitor offerre super fideiussorem fidantiam iuris; sed quod solvat sibi
pecuniam mutuatam. Navarra III, 16, 2 hat im wesentlichen den
gleichen Tatbestand, wie die zweite Stelle. Hier kann aber der Gläu-
biger die angebotene Bürgschaft deshalb ablehnen, que manifesta cosa
era. Aber es hat sich ja gezeigt (§ 5, N. 44), daß eben die Wadiation
selber als ein manifestum bezeichnet wird : so läuft auch die dritte
Stelle im anderen Ausdruck auf den Grundgedanken der übrigen Stellen
hinaus.
32 Mayer.
hervor. Es wird z. B. ein Prozeßgelöbnis des als Bürgen in
Anspruch Genommenen nur zugelassen, wenn er überhaupt
leugnet Bürge zu sein25).
b) Der Grundsatz, daß eine Pfändung nicht mehr durch
die Gestellung eines Prozeßgelöbnisses aufgehalten werden
kann, tritt nun aber nach meist späteren Nachrichten auch in
umgebildeter Form auf.
Eine Reihe derselben schließt die fidanzia iuris bei debitum
manifestum aus, ohne daß genau erklärt wird, was darunter
zu verstehen ist26); dabei ist das pignorare bei debitum mani-
festum die Wegnahme der Sache zur Befriedigung, nicht bloße
25) Fueros de Aragon I, S. 283/84, 1247 : quicumque alii fidei-
ussorem se obligaverit, ut usque ad certum tempus solvat ei pecuniam
vel aliquam haereditatem restituat aut aliam rem quamcumque et postea
offert ei, cui est obligatus, fideiussorem iuris nolens pecuniam solvere
aut haereditatem restituere, ut promisit, secundum forum non est talis
fidantia iuris admittenda, nisi offerendo ipsam negaverit dictam pecuniam
se debere, ut ab adversario postulatur. Et si dixerit, se fideiussorem de
solvenda pecunia aut haereditate restituenda, modo quo ab actore as-
seritur, minime posuisse, tunc ei admittitur ; I, S. 285 a, I, 1247: cre-
ditor, qui usque certum terminum pecuniam super pignore alicui mutua-
vit, si transacto solutionis termino fidantiam pignoraverit, ut faciat
pecuniam sibi solvi, non potest debitor offerre super fideiussorem
fidantiam iuris, sed quod solvat pecuniam mutuatum. Boletin XXXVII,
S. 383, § 117: otrosi todo ome, que fuere fiador, puedel pendrar su deudor
et si el prometiere fiador sobre el peynno, no es tenido el fiador de
rescibirlo. E si trasnochare en su poder, no ha calonia ninguna, fueras
si diere fiador sobre el peynno de niego e devel rescebir el fiador e
non deve trasnochar el peynno en su poder.
26) Fueros de Aragon I, S. 14 a, VI, 1283 : item demandan, assi
en criminal como en civil, que valga fianca de dreyto contra seynor e
contra officiales e contra todo hombre esceptado el caso manifiesto,
segund fuero requiere; II, S. 30, §21: de consuetudine regni super
ratione alfardae (eine Art Wasserzins : S. 227 a, I) pignorare non habet
fidantia iuris sicut nee in debito manifesto ; II, S. 49, § 8 : item qui ibi
dicitur, quod in omni petitione criminali et civili valet fidantia iuris . . .
excepto debito manifesto ; II, S. 8 a, § 1 : et sie testatio vel empara facta
pro debito manifesto non solvitur cum fidantia de directo. Sed si non
est debitum manifestum absolvitur cum fidantia de directo.
Das altspanische Obligationenrecht in seinen Grundzügen, 33
Beschlagnahme27). Es ist von großer Bedeutung, daß einmal der
gleiche Satz bereits in einer auch sonst hier oft verwendeten
Quelle des 12. Jahrhunderts begegnet28). — Eine ebenso frühe
Stelle kennt bei deudo manifiesto keine Beschränkung der so-
fortigen Mobiliarpfändung, während sonst bei der gewöhnlichen
Zwangsvollstreckung der Gläubiger zunächst nur die Kleintiere
beschlagnahmen kann ; in dieser sofortigen Unbeschränktheit
der Mobiliarpfändung trifft die Pfändung aus debitum mani-
festum mit der Pfändung aus der Wadiation zusammen 29).
Andere Stellen besagen, daß ein fidiator da nicht an-
genommen werden muß — natürlich angenommen werden
kann30) — wo aus einer carta Pfändung nachgesucht wird31);
die urkundlich eingegangene Schuld wird zu den debita mani-
festa gerechnet32).
27) Fueros de Aragon II, S. 8, § 8: differentia est tarnen inter pig-
nora, que facit curia vel testationem vel emparam ; nam non pignorat
curia nisi propter debita manifesta. Sed empara vel testatio fit etiam
pro debitis non manifestis.
->s) Vigil ayuntamiento de Oviedo S. 10 f.. 1145 (Aviles § 12): de
rancura (Llorente IV, S. 98 hat das zu dem ganz unverständlichen de
radanierta verlesen), que haya vecino de altro , que debdo cognoscido
non sea, vaya con mayorino et demande 11 i fiador, et si non dier prenda
illo; S. 10 (Aviles § 11): por el debdo connoscido, que aya a dar vezino
prenda pignos illo sagione et dialos al querelloso et non le dia plazo
si non quesierit (§ 2, N. 21).
29) Boletin XXXV [I. 8. 382, § 114 (§ 2, N. 78); dazu vorher N. 17.
30) So Teruel 167: quis debitorem manifestum superlevare voluerit.
31) Fueros de Aragon II, S. 7, [§ 19: pro demanda, debito vel
iniuria vel alia quacumque re potest quilibet pignorari, si obligatio
sit cum carta; et tunc non obstante fidantia de directo remanebit pig-
nus . . . quia in debito manifesto non recipitur fidantia de directo in
Aragonia; II, S. 9. §23: item nota quod testatio vel emparamentum,
a quocumque fuerit petitum, cum carta vel sine carta debet fieri. Et
sine carta habet locum fidantia, sed cum carta non; S.SO, § 18: non
habet locum fidancia iuris de debito manifesto. utpote de carta.
32) Fueros de Aragon II, S. 9, § 19 : item in debito manifesto, ut
cum carta vel confessione partis, non admittitur fidantia iuris; S. 30,
§ 18 (N. 31), S. 7, § 19 (N. 31).
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. XXXIX. Band.
34 Mayer.
Wiederum kann — zum Teil in frühen Nachrichten —
dem Gläubiger kein Bürge da aufgenötigt werden, wo der
Schuldner die Schuld vor Gericht bekannt hat33); auch das
fällt unter den Begriff des debitum manifestum34).
Endlich wird — sehr früh — die Verbürgung bei einem
judicatum ausgeschlossen35) und das judicatum fällt unter die
bekannte Schuld36), weil eben auch im westgotischen Gebiet,
wie sonst, der Beklagte für den Fall seines Unterliegens ge-
nötigt ist, durch wadiertes Versprechen seine Schuld anzuer-
kennen37), sei es, daß das Versprechen der Beweisführung
vorausgeht und so bedingt ist, sei es, daß es dem Mißlingen
des Beweises folgt.
Nimmt man nun das alles zusammen, so gehören unter
die debita manifesta, bei denen eine Verbürgung ausgeschlossen
ist, auf der einen Seite die im Gericht bekannten oder durch
Urteil festgestellten, dann die durch carta eingegangenen
Schulden. Der Begriff und die Sonderstellung dieser debita
manifesta reicht in einzelnen Anwendungen so weit zurück,
daß sie mit den Schulden aus Wadiation zusammengeworfen
werden müssen; wie sonst die Verbürgung bei bereits ver-
bürgten Obligationen ausgeschlossen ist, so wird sie nach dem
frühen Rechte von Oviedo-Aviles bei debido cognoscido nicht
zugelassen; und wie sonst die Vollstreckung aus der Wadiation
33) Fueros de Aragon II, S. 9, § 19 (N. 32) : darauf schon Navarra III.
16, 2: Bestellung eines fiador ausgeschlossen, weil cosa maniliesta e nol
podia esto negar el deudor et de cognoscido li venia de la deuda.
Zi) Fueros de Aragon II. S. 9, § 19 (N. 33); II, S. 49, § 9: quod
dicitur de debito manifesto intelligitur, si est debitum cum carta vel
partis confessione; schon Usagre492: antes que niegue o manifeste (der
Beklagte), diga quereloso, que pide.
35) M. Port. leg. I, S. 168, 1213: se aquel, sobre que faz a eyxacu-
com for ia iulgado em nossa corte, sobre esto nom rreceba nenhuma
caucom.
36) Morlaas 334: de todes las conegudes, que hom es benent en
cort mayor ha hom a pagar, en la cort deu caver lo medixs.
S7)~ § 2. N. 26.
Das altspanische Obligationenrecht in seinen Grundzügen. 35
Tor keiner beweglichen Sache Halt macht, so nach dem Recht
yon Vignera-Funes nicht vor den Großtieren38).
Nun ist es ohne weiteres klar, daß die gerichtlich be-
kannte Schuld und das Judikat wadierte Schuld ist. Denn da,
wo der Beklagte vor Gericht gesteht, tut er das infolge des
prozeßeinleitenden Gelöbnisses, das er geleistet hat, und das
Urteil wird ja, wie eben gesagt, ebenfalls häufig durch ein
weiteres Prozeßgelöbnis gedeckt.
Die urkundlichen Schulden aber sind ebenfalls an Stelle
der wadierten getreten. Zweierlei kommt dabei in Betracht. —
Auf der einen Seite hängt der Aussteller einer Urkunde an diese
sein Siegel und damit entweder sein Abbild oder einen Miniatur-
schild, also ein Einkleidungssymbol; es kann auch das in der
Urkunde stehende signum ein Stück derHeergewäte enthalten59).
— Das genügt aber noch nicht ; denn nach dem Bisherigen ist
die Wadiation ein Geschäft in einer Versammlung. Nun haben
nach späterem spanischen Recht im allgemeinen lediglich die
öffentlichen Schuldurkunden Beweiskraft und nur ausnahmsweis
kommt dieselbe auch den privaten Urkunden zwischen den
Großkaufleuten und zwischen ihnen und Detailhändlern unter-
einander zu40). Vorher aber hat sich ja gezeigt, daß die Wadia-
tion öffentlich vorgenommen wird. Da ist es fast notwendig,
3S) N. 28, 29.
39) Part. III, 18, 114: si alguno face carta . . . o pone en illa su
sello; III, 20. — Für das zweite nur vorläufig die überaus interessante
Beobachtung, daß in der rueda des spanischen Königs, d. h. demjenigen
Signum, das er in den höchstpersönlichen Urkunden anbringen läßt, ge-
rade nach den ältesten Abzeichen einer Fahne, also ein Waffenstück oder
ein Körperteil sich findet : so historia general de Espana (III. 3) : reyes
christianos desde Alonso V. hasta Alonso XI. por Don M. Colmeiro S. 56,
S. 24 ; ich werde auf diese für den Begriff Handgemal wichtige Erschei-
nung anderwärts genauer eingehen.
40) Fueros de Aragon II, S. 22, § 10: item licet secundum forum
itera privata non faciat fidem in iudicio exceptis casibus ibi contentis,
inter quos est iste; exceptis etiam societatibus mercatorum, quas etiam
de regni consuetudine cum libris et scriptara privata facta inter merca-
tores et apothecarios (nun fehlt das Verbum).
36 Mayei.
daß hiezu die von den concilia aufgestellten notarii zugezogen
werden und sieh allmählich das wadierte Geschäft in ein yor
dem Notar aufgenommenes verwandelt. Dafür gibt es unmittel-
bar einen Beleg: entsprechend dem, daß ausnahmsweise die
Privaturkunden zwischen Groß- und Detailhändlern den öffent-
lichen gleichgestellt sind, bezeugt eine längst behandelte, aber
unrichtig gedeutete Nachricht aus dem Ende des 14. Jahr-
hunderts . daß aus solchen Urkunden auch sofort exequiert
werden kann41), während sonst im späteren spanischen Recht
die private Exekution wie überall an die öffentliche Urkunde
anknüpft42). Die Urkunde selber wird nun als recaudo be-
zeichnet, was auch sonst für Urkunden vorkommt, d. h. mit
dem Ausdruck, der ursprünglich auf das Symbol der Wadiation
geht43). Dann sind eben allmählich die öffentlichen Wadiationen
in die Obligationen, die vor dem Notar abgeschlossen werden,
übergegangen. — Nicht anders wird der Prozeß in Italien sich
abgespielt haben, wo eben auch das notarielle Instrument an
Stelle der Wadiation trat und der Exekutivprozeß der Post-
41) So die Urkunde von 1396 für Sevilla bei Briegleb. Ge-
schichte des Exekutivprozesses I, S. 157 f.: die Stelle „fazen sus con-
tratos a Christianos y Moros y Iudios por ciertas quantias de maravedis,
que se obligavan de les dar y pagar par ellas a plazos ciertos y so
ciertas penas, de lo quäl les (den alcaldes von Sevilla; otorgan cartas
y recaudos ante vos, les alcaldes de la dicha ciudad, para que fagades
execucion por ellas" wird von Briegleb I. S. 163 so gefaßt, daß
der Schuldner vor den alcaldes eine Urkunde ausstellt. Aber otorgar
carta heißt nicht (so fälschlich Briegleb I, S. 163, N. 8) eine Urkunde
ausstellen, sondern sich auf eine Urkunde berufen ; so ist nicht von
einer Tätigkeit des Schuldners, sondern von der des Gläubigers die
Rede, der die Urkunde den alcaldes zur sofortigen Exekution vorlegt;
die Obligierung aber (obligavan) hat schon längst stattgefunden ; damit
entfällt dann jeder behauptete genuesische Einfluß; denn italienisches
Recht würde eine öffentliche Urkunde auch zwischen Kaufleuten fordern.
42) Briegleb a. a. 0. I. S. 175.
43) Briegleb I, S. 157: otorgan cartas y recaudos; Ined. de bist,
port. V, S. 438: II: que possa dar ende recabedo certaao, quando mester
for pello tabellion. — Ueber recaudo oben § 4. N» 30 ff., N. 123.
Das altspanische Obligationenrecht in seinen Grundzügen. 37
glossatoren keine Umbildung auf Grund römischen Rechts41),
sondern, wie so oft, nur eine römisch -rechtliche Konstruktion des
germanischen Rechts sein wird. Daß in Spanien der Exekutiv-
prozeß vor jedem möglichen Einfluß der italienischen Theorie
in vollem Umfange da war, nötigt zu dieser Annahme.
Freilich zeigt eine alte Nachricht, daß ursprünglich auch
bei debdo cognoscido die Behörde nicht mehr tut, als täglich
für die Ungehorsamsstrafe zu pfänden, während eine direkte
Pfändung für die Forderung selber zunächst nicht stattfindet: es
ist das eben Sache des Bürgen oder Gläubigers. Erst nach-
träglich hat die Behörde auch diese Pfändung übernommen45);
das ist der Einfluß der jetzt zu erörternden Friedensbewegung.
4. Wie die Friedensbewegung sich gegen jede Eigen-
macht richtet, und dadurch überall die Grundlage eines selb-
ständigen mittelalterlichen Besitzschutzes wird, so tritt sie
auch gegen die Privatpfändung aus wadierter Schuld auf.
Freilich sind die Bemühungen nicht immer durchgedrungen.
So verbietet ein katalonischer Landfrieden von 1048 die Privat-
pfändung in jeglicher Anwendung, während sie ein Land-
frieden von 1173 zuläßt46). In Kastilien wird vom 12. Jahr-
hundert ab in Gesetzen, die aber eben doch nicht überall zur
Geltung kamen , wiederum die eigenmächtige Pfändung all-
gemein verworfen und Eigenmacht etwa nur da erlaubt, wo
sie vertragsmäßig gestattet ist47). Deshalb kann jetzt aus
44) Das der Grundgedanken Brieglebs I, S. 62 ff.
4"0 So das Recht von Oviedo : § 2, N. 21 ; dieser Paragraph N. 28.
4G) Marca eol. 1140 b, I : item constitutum est, ut nullus homo
pignoret res alterius pro plivio vel pro alio quolibet negotio, quod alicui
vel cum aliquo lecerit, quamvis ille solverit (auch wenn der Bürge ge-
zahlt hat). Cortes de Cataluna I, S. 59, c. 8 : si quis autem fideiussor
extiterit, si lidem non portaverit, de suo proprio pignoretur. — In
Lerida wird auch bei der Bürgschaft eine gerichtliche Pfändung voraus-
gesetzt : Villanueva XVI, S. 182 : si autem res debitoris vel fideiussoris hie
inveniantur, me de debitore illo conquerente, debet iudex eas emparare
et tempus competens assignare.
47) Cortes de los antiquos reinos de Leon y de Castilla I (1861),
38 Mayer.
debitum manifestum, d. h. also aus der Wadiation, insbesondere
auch aus dem Urteilserfüllungsgelöbnis nur mehr das Gericht
vollstrecken, das ursprünglich allein zur Vollstreckung der
öffentlichen Strafen erforderlich war48).
Wo aber die eigenmächtige Pfändung aus Wadiation
verboten bleibt, führt das in die Geltendmachung noch lange
nicht zur Gleichstellung der Wadiation und dessen, was daraus
geworden ist, mit der gewöhnlichen Obligation und dem Delikt.
Denn während sonst der Vollstreckung die Klage und Verurtei-
lung (oder Kontumazierung) vorausgehen muß, genügt hier
einseitiges Angehen der Obrigkeit ohne Ladung des Gegners,
um sofort die Vollstreckung in Gang zu setzen49); wenn es be-
reits zum Urteil gekommen ist und so ein Prozeßgelöbnis ge-
leistet ist, braucht darum nicht von neuem geklagt, sondern
kann sofort vollstreckt werden. Die Eigenmacht aus der Wa-
diation temperiert durch das Landfriedensrecht ergibt die parata
executio des gemeinen Rechts.
III. Die eingesetzten Objekte.
1. Auf Seite des Hauptschuldners ergeben sich hier fol-
gende Merkmale :
a) Zunächst erscheint Vermögen eingesetzt.
a. Weithin wird das Verhalten des Schuldners dahin be-
schrieben, daß er auf der einen Seite einen Bürgen gibt, auf
S. 40, § 7 (1188) statui, quod aliquis non pignoret, nisi per iustitias vel
alcaides, quos positi sunt ex parte mea S. 515, c. 31 (Alcala 1348) mandamos
que ninguno omme non sea osado de prendar a otro . . . salvo svlo podiese
fazer, por quela otra parte se obligö e le dio poder, quelo podiese prendar.
4?~) Daß bei debitum manifestum jetzt das Gericht vollstrecken
muß, sagt § 2, N. 43 ; daß ursprünglich das Gericht auch bei debdo
cognoscido nur die calumnia eintrieb, darüber dieser Paragraph N. 45.
49) Ganz deutlich Fueros de Aragon II, S. 7, § 21 : item differentia
assignatur cum carta et sine carta ; quia sine carta quis non pignoratur
secundum usum regni per iustitias locorum, nisi probato debito ; sei
cum carta pignoratur incontinenti et sine citatione, per iustitias lo-
corum. In den Stellen von N. 26 ab — soweit sie jünger sind — ist
durchweg ein Angehen der Behörde vorausgesetzt.
Das altspanische Obligationenrecht in seinen Grundzügen. 39
der anderen Seite aber casa con peiios 50). Penno (pignus)
bedeutet in der ganzen spanischen Terminologie nichts anderes
als den Mobiliarbesitz51). Es ist deshalb damit gleichbedeu-
tend, rückt aber die Sache in besonders scharfe Beleuchtung,
wenn einmal der Schuldner, der einen Bürgen aufstellt, damit
auch sein ganado gibt52). — Ganz dem entsprechend, daß der
Zugriff des Bürgen sich nur auf das Mobiliarvermögen de3
Schuldners bezieht, nicht auf die Grundstücke53), setzt der
50) Usagre 30 : tod omrae, a quien demanden casa con pennos,
cognominet 3 vicinos, qui levet eum super se ; 33 : et quando vinier
(der geladene Beklagte) a la villa, de casa con penos suo debitori (hier
wie oft = Gläubiger) . . . E sil demandar casa con penos, ni gela de ;
34: et dele casa con pennos, que le este a derecho (also das Prozeß-
gelübde). Et si non veniere o casa con peiios non le diere, pectet
moraveti a so contentor. Teruel 50 : quicumque alcaidus esse voluerit . . .
det domum cum pignoribus in concilio, ut compleat in Omnibus istum
forum et iudex pro concilio ipsam accipiat, ut est forum : 68 : et ipse
iudex superlevatores ambulatorum (der Beamten, um deren Verpachtung
es sich handelt) et domos cum pignoribus accipiat . . . Sepulveda 18 :
einer, der in Sepulveda will aver sus derechos, de casa con peiios . . .
e dele en conceio et recibala el juez; 248 (im Druck 268): tot orame,
que querella oviere d'otro, demande 1 fiadores, qu'el cumpla fuero o 1
de casa con penos, si raigado non fuere. Brihuega S. 152: si no, de
fiador e casa con penos, que responda a la vezindad. Soria S. 102 b :
montaneros . . . den cada una casa con pennos. — Daß auch von
dem Bürgen verlangt wird, daß er mindestens sei habens casam con
penos d. h. vermögend, gehört nicht hierher: Teruel 165: si . . . in via
alium habentem domum in villa cum pignoribus invenerit, qui illum
superlevare voluerit; 166: in superlevatura vero nullus recipiatur alius,
nisi ille, qui domum cum pignoribus in villa habuerit; vgl. Fueros de
Aragon II, S. 102 b, II, 1247: fidantia debet esse habitator et haeres
emsdem loci ... et debet habere pignora.
51) Z. B. Fueros de Aragon I, S. 280 b, III: forte ille, quem vult
pignorare non habet ullam pignoram, sed tantum molendium.
52) So Boletin XXXVII, S. 377, § 71 : der Tatbestand ist, daß einer
leugnet, Bürge zu sein, und es deshalb zum Prozeß kommt, und nun
der Angeforderte nach dem oben N. 24 a. E. Gesagten einen Prozeß-
bürgen stellt; das wird .ausgedrückt mit: firmara al quereylloso de niego
(leistet das Prozeßgelübde) dandol fianza e darle a su ganado.
53) Oben N. 19.
40 Mayer.
Schuldner auch nur sein Mobiliarvermögen ein. Dem wider-
spricht gar nicht, daß er nicht nur pennos oder ganados, sondern
auch casa gibt. Denn die casa steht in Gegensatz zu dem
eigentlichen Grundbesitz, der raiz 54). Die Wadiation ist eben
vom spanischen Recht voll ausgebildet aus der Zeit herüber-
genommen worden, wo die Goten mit den übrigen Germanen
zusammenlebten; damals aber gehörte das Haus — wie noch
lange in den deutschen Rechtsquellen des Mittelalters — zu
den Mobilien und das ist dann auch in einem Land fest-
gehalten worden, wo von der Römerzeit her der Steinbau statt
des Holzbaues herrschte.
Entscheidend für das Ganze aber ist, daß die Obligierung
einfach als ein Geben des ganzen Mobiliarvermögens , also
als ein sachenrechtliches Geschäft gefaßt wird. — Freilich hat
sich allmählich das Gläubigerrecht aus der Wadiation auch auf
die Grundstücke des Schuldners erstreckt; das was zunächst einen
besonderen Einsatz der einzelnen Grundstücke erfordert, ver-
steht sich allmählich von selber. Es wird sich das im folgenden
aus einzelnen Anwendungen des Gedankens alsbald ergeben.
ß. Ist die Wadiation eine fiduziarische L ebertragung des
Mobiliarvermögens, d. h. des ursprünglichen Vermögens über-
haupt, auf den Gläubiger, so muß damit auch dem Schuldner
die Veräußerungsmacht genommen sein. Denn, wie früher
gezeigt, gilt mindestens wie im Nordgermanischen, so auch
im Ostgermanischen nicht der vermutlich überhaupt jüngere
und nur partikulär zur Geltung gekommene Grundsatz „Hand
muß Hand wahren" 55) und so kann der Gläubiger sein Eigen-
tum geltend machen, wiewohl so die Sache in der Hand des
Schuldners liegt.
In der Tat ist nun ein solcher Satz wiederholt auch un-
mittelbar bezeugt. Zunächst begegnet er für das ganze Ver-
mögen, also gerade auch für das Mobiliarvermögen, freilich
öfters bereits mit der künstlichen Einschränkung, daß das
M) Sepulveda 248 (N. 50).
M) § 1- X. 77 ff.
Das altspanische Obligationenrecht in seinen Grundzügen. 41
Veräußerungsverbot nur bis zur Höhe der Schuld geht56). —
Wie schon damit der Satz auch auf das Immobiliarvermögen
erstreckt ist, so begegnet eine Anzahl von Nachrichten, die
ihn gerade in Anwendung auf Grundstücke darstellen57).
56) Fueros de Aragon I, S. 283 b, IV : cum quis fideiusserit pro
alio et ante terminum debiti videt eura velle vendere bona sua, potest
testare per curiam et iustitiam illius loci, ubi bona sunt, quod non
alienentur; ita quod non possit testare nisi tantum, quantura sufficeret
ad 6olutionem debiti, pro quo lideiussit. Boletin XXXVII, S. 400, § 245 :
et si alguno fuere iiador et viere su marquero, que agena sus cosas.
bien puede le darli, que no agene en tode la valor de la marca. —
Estilo 243 : otrosi en las preguntas, que licieron los alcaldes de Burgos
al rey, dice, que mandö el rey, que el, que lj eiere deuda o liaduria sobre
lo, que ha, que no puede vender ninguna cosa dello, fasta qae aquel,
que hobiere la deuda sobre ello, sea pagado. E si alguna cosa vendiere
el dello, mandara el rey, que se pueda tornar a ello y que sea entre-
gado en ello; y vendida que ficiere, non vala (bis hierher = Novelle 29,
III, Alfons X. in opuscolos legales del rey Don Alfonso el Sabio 1836, II,
S. 197, II). Pero asi se juzga, que si este deudor es raygado y valiado
en los otros bienes, que iincan, que puede vender de los otros bienes,
que vala la vendida, salvo si los bienes, que vendiese, fliesen senalada-
mente obligado a estes deudas.
57) Navarra III, 17, 3 : de ommes, que entram iianzas a otros oranies
en muytes guisas et aqueillos, qui los nie tan tianzas, venden o enpeynan
lures heredades por amor, que metan lures tianzas en mal logar, bien
pueden vedar las Iianzas ad aqueill deudor de no empeynar nin de vender
entro a que los trayan de iianzeria o que las den otras tianzas aylli, o
son entrados. Boletin XXXVII, S. 384, § 126 : otrosi todo ome, que
pusiere a otro por fiador et diere su heredat, a que se tenga por liaduria
por ninguna manera, non puede agenarla fasta que saque esta liaduria
sobredicha. Fueros de Aragon I, S. 283 a, III: ita tarnen, quod ex quo
fnerit data talis lidantia in tali causa, illa haereditas aliquo modo non
possit alienari, quo usque illa causa sit determinata per iudicium. Et
si alienatur, non valet alienatio. Dagegen ist nach Fueros de Aragon I,
S. 175 a, II ein Zugriff der Gläubiger des parens auf die vom parens
mit Grundstücken ausgestatteten Söhne oder Töchter ausgeschlossen.
Yanguas I, S. 441 f., Estella: et si quis miserit fidanciam et dixerit
iidancie sue „si dampnum inde vobis venerit de ista fidancia, super
istem domum aut super istam heredidatem vos teneatis" et si fidancia
habuerit inde testes, non poterit illam domum aut hereditatem mittere
ad alium in pignore. donec illam lidanciam traat. Et si alter illam
42 Mayer.
Ein paarmal sieht man aber, daß diese Erstreckung auf die
Grundstücke nur dann Platz greift, wenn sie der Schuldner
neben dem Mobiliarvermögen ausdrücklich einsetzt58). Ge-
wöhnlich gilt die Bindung als etwas Selbstverständliches. Das
bedeutet dann, daß allmählich der Wadiationsnexus ohne be-
sondere Uebertragung auch auf die Grundstücke des Schuldners
erstreckt ist, aber damit dann auch das Veräußerungsverbot,
das aus der Wadiation sich ergibt.
Das Veräußerungs verbot hat dingliche Wirkung und des-
halb können die Sachen des Schuldners beim Erwerber heraus-
gefordert werden59); auch der Ablauf von Jahr und Tag
ändert an dieser dinglichen Bindung des Erwerbers nichts60).
Wie aber nach verschiedenen Rechten die Veräußerungs-
beschränkung für den Schuldner nur mehr bis zur Höhe seiner
Schuld gilt, so wird die Unfähigkeit des Dritten, vom Schuldner
Eigentum zu erwerben, dahin umgebogen, daß der Erwerber
dem Gläubiger bis zum Betrag seiner Forderung haftet61).
hereditatem in pignore accepir, illi non valet. Novelle 24, Alfons X (opus-
colos legales usw. II, S. 192) : otrosi ha omes, que an comprado hereda-
miento de christianos o de iudios e tienen cartos de compra e a cabo
de tiempo salen otros omes e muestram cartas de debdos, que dizen,
que los deben aquelos, que vendieron los heredades, e que aquestos eran
hadores e debdores con todo quanto, que avien mueble e rayz, dicen,
que eloi devien aver aquela herencia, porque elos eran fiadores, con
todo quanto que avien. Et dizen los, que an comprado la herencia de3te
heredamiento, que vos demandades e somos tenedores ano e dia; manda
el rey, que despues que la obligacion es fecho de todo, en poder sea
daquel que demanda, de demandar aquelo, que es despues vendido o
enpeiiado o lo, que fincö ; mas si demandare lo vendido o lo enpennado,
aquel qui lo enpenno o lo vendiö. tornese a aquel, que gelo vendiö o
gelo enpenno.
5S) Boletin XXXVII, S. 384, § 126; Yanguas I, S. 441 f. (N. 57).
5») Estilo 243 ; Fueros de Aragon I, S. 283 a, III ; Yanguas I, S. 441 f.,
Novelle, 24 Alfons X (N. 56, 57'.
60) Novelle 24 Alfons X (N. 57).
61) Estilo 3: si alguno ha demanda contra las bienes de alguno
por deuda, que el debe o que pago su denda e no falla a este deudor
e falla a sus bienes en poder de otro, en tal caso, como este, aquel que
Das altspanische Obligationenrecht in seinen Grundzügen. 43
Diese dingliche Wirkung derWadiation ergibt den schärfsten
Gegensatz zur Obligation des römischen und modernen Rechts.
Während dort der Gläubiger sich nur an den Schuldner halten
kann und der Schuldner durch die Schuld nicht an einer Ver-
fügung über sein Vermögen gehindert wird, gehört hier dem
Gläubiger das Vermögen des Schuldners.
Wenn dann in den späteren observantiae regnis Ara-
gonum62) da, wo eine Obligation sämtlicher Güter statt-
gefunden hat, dennoch die Veräußerung durch den Schuldner
für gültig erklärt wird, so ist das eben nichts anderes als die
Aufgabe des germanischen Rechts und die Aufnahme der
römischen Anschauung.
Y. Eine allerdings abgeblaßte Folge dieser Sätze betrifft
das Verhältnis mehrerer Gläubiger.
Hier steht auf der einen Seite der Satz, daß wenn mehrere
Gläubiger aus einem Delikt konkurieren, derjenige vorgeht,
der zuerst klagt63). Dagegen bei Obligationen aus mehreren
Rechtsgeschäften geht derjenige vor, der zuerst das Rechts-
geschäft abgeschlossen hat64); andere Male wird ganz allge-
tiene los bienes del deudor, es tenido de responder a la demanda ;
4: maguer es derecho, que ha poder de tomar los bienes de su deudor,
aquel ha de haber el deudo por el obligamiento, a que se obligö, maguer
pasen los bienes a otro eu su poder.
62) t de rerum testatione (Fueros de Aragon II, S. 9), § 24 : nota,
quod licet omnia bona fuerint obligata in genere, hoc non obstante,
qui obligarit, potest de ipsis distrahere et alienare, sed si in speciali,
non potest. Bemerkenswert ist, daß hier, wie Estilo 243, die spezielle
Verpfändung noch immer ein Veräußerungsverbot bewirkt.
63) Fuero real III, 20, 5 (— Soria S. 156 a) : et si es debdor a dos
o mas por omecillo o por furto o per alguna calonna, el, que primera-
miente demandidiere, aquel sea primero entregado, maguer sea tenudo
a alguno de los otros.
64) Fuero real III, 20, 5 (= Soria S. 156 a): quando alguno e3
debdor por emprestero o por vendida o por otra cosa semeiante a dos
o a mas, el primero sea primeramiente entregado, maguer ellotro de-
mande ante [Zusatz von Soria] (e dende en adelante los otros o elluno,
segund que fuere primero en los debdos). In der Ausgabe de3 Fuero
44 Mayer.
mein davon gesprochen, daß der frühere Gläubiger dem spä-
teren vorgeht, aber etwa doch so, daß das auf die Gläubiger
aus carta bezogen wird*55). Es ist nun klar, daß jene Angabe,
welche zwischen Obligation aus Delikt und aus Geschäft unter-
scheidet, die genauere ist: jene allgemeineren Nachrichten,
welche lediglich vom Vorrang des älteren Gläubigers sprechen,
können alle sehr wohl auf Geschäftsgläubiger bezogen werden.
Ist das richtig, dann kann sich der Vorrang des alten Gläu-
bigers nur auf die wadierte Obligation beziehen. Denn der
Vertrag mit Handschlag führt ja nur zu einem deliktischen
Anspruch; der Vertrag mit arra und die übrigen Fälle des
Realvertrags aber geben dem Gläubiger ein dingliches Recht
an der Sache und hier ist für das Recht eines anderen kein
Raum. In der Tat wird einmal der Schuldgrund, auf den der
erste Gläubiger, wo er den anderen vorgeht, sich stützt,
real wird behauptet, daß diese Bestimmung mit part. V. 13 (12 ist ver-
druckt). 27 zusammentreffe : das ist falsch : die ganz romanistisch denkende
partida bezieht sich nur auf das Vorrecht des früheren Pfandgläubigers.
Fuero real III, 20, 12 i= Soria S. 15 a, I) ist das gleiche auch da an-
gewendet, wo ein Schuldner festgenommen wird. Dann gehört der
Körper des Schuldners dem ersten Kläger, sein Vermögen aber dem ersten
Gläubiger; nur die Sachen, die der Schuldner mit sich führt, fallen
allerdings auch an den ersten Kläger.
85) Fueros de Aragon II, S. 102 b. IL a. E. 1247 : et si plures fuerint
creditores, priori creditori solvat primitus et extunc per ordinem. Das
wird sogar noch in den viel späteren observantiae — aber abgeschwächt —
festgehalten : fueros de Aragon II, S. 7. § 16 : item si plures creditores
concurrunt contra eumdem habentes personales actiones, creditori priori
tempore prius debet salvi. nisi aliquis eorum habuerit specialem Obli-
gationen! vel emparamentum : ebenso S. 66 b, § 1. Also wenn es zur
empara kommt, geht allerdings der spätere Gläubiger vor. — Ebenso hat
das sonst doch so romanistische Recht von Tortosa das Vorrecht des
früheren Chirographargläubigers vor den späteren: I, 3, 16: qui primer
e myllor sera eis bens, que sia primer pagat; I, 3, 18: si no basta (der
Wert des schuldnerischen Vermögens) deven pagar los primers creedors
que son ab carta. — Dagegen ist hier das Recht von Lerida römisch.
VillaDueva XVI, S. 191, IV : in executione autem rei judicatae primo
satis fit es. qui prius est curiae conquestus inter eirographarios creditores.
Das altspanische Obligationenrecht in seinen Grundzügen. 45
rccabdo genannt GG). — Wiederum führt also auch diese Nach-
richtenreihe darauf, daß das öffentliche Geschäft der Wadiation
in die Obligierung durch notarielle Urkunde übergegangen ist.
d. Die gewöhnliche Obligation, die ja eigentlich nur delik-
tisch ist, bindet, wie früher gezeigt, den Erben nicht; lediglich
die Sachen des Gläubigers , die in die Hand der Erben des
Schuldners gekommen sind, müssen auch diese zurückgeben,
und wenn die Naturalrückgabe unmöglich geworden ist, deren
Wert ersetzen 6 7). Ist aber die Wadiation wirklich die Ueber-
tragung des Mobiliarvermögens , so müssen die Erben des
Schuldners genau so haften, wie dieser selber. In der Tat
ist nun dieser Satz bezeugt. Auf der einen Seite wird an-
gegeben, daß der Bürge die Erben des marchero zur Erfüllung
anhalten kann68). Hinwiederum bezeugt eine späte aber alter-
tümliche Quelle, daß der Erbe eben nur gerade für eine debda
manifiesta haftet 69) ; debitum manifestum aber hat sich vorher
als gleichbedeutend mit wadierter Schuld erwiesen70). Endlich
sagt eine ursprüngliche Quelle, daß die Erben für deudas ver-
daderas del padre einstehen71); jedenfalls kann damit gesagt sein,
daß nicht alle Haftungen des Vaters auch „wahre debita" sind.
b) Im früheren hat sich gezeigt, daß der Bürge nach
einer Reihe von Angaben auch auf die Person des Schuldners
greift, da wo das Vermögen nicht ausreicht 72), anderseits das aber
66) Brihuega S. 148, III: tod omme de Brivega et toda muger, que
debda demandare a otro en Brivega, el, que diere recabdo, que primero
ine, su debda se entregue primero et segund deste entreguense los otros.
67) § 1, N. 86.
68) Boletin XXXVII, S. 400, § 248: otrosi si algunos fueron muertos
o no los pudieron fallar, pueden a sus herederos pendrar, que quiten
los fiadores de las fianzas e son tenidos de quitar los.
69) Fuero viejo V, 2, 3 : todo ome o mugier, que muer e dejan
fijos que ereden lo suo de 5 sueldos en arriba e deve el muerto debda
manifiesta a otro ome, aquill a quien deve la debda, puede prendar
qualquier de los fijos e cojer la debda, si fallare en que.
70) Ueber debtum manifestum dieser Paragraph N. 26 f.
71) Navarra III, 18, 2.
72) Dieser Paragraph N. 20 ff.
46 Mayer.
keine selbstverständliche Folge der Bürgschaft ist, sondern in
einer sehr wichtigen Anwendung (bei Gewährbürgen) der Zu-
griff auf die Person ausgeschlossen wird73).
Nun hat anderes, auf das noch einmal zurückzukommen
ist, gezeigt, daß der Bürge selber mit seiner Person, und zwar
mit dieser subsidiär nur haftet, wenn er Vermögen und Person
einsetzt 74). Ferner wird einigemal in alten Nachrichten er-
wähnt, daß ein fiador nicht nur in bezug auf die bona, sondern
auch in bezug auf den pes gegeben wird75).
Wiederum schon früher aber ist besprochen, daß bei der
Schuldknechtschaft zwischen Gläubiger und Schuldner eine
Person stehen kann, welche den Schuldknecht tatsächlich oder
formell gefangen hält76), und daß sich zwischen ostatici und
die Gläubiger manulevatores schieben77); das Wort manule-
vator aber befaßt ja auch denjenigen, der als Bürge die Ge-
schäftssymbole entgegennimmt78).
Nimmt man das alles zusammen, so kommt man zum
Schluß, daß häufig mit der Wadiation sich auch eine Ver-
fechtung der Person des Hauptschuldners verbunden hat; sie
führt dazu, daß auf die Person des Schuldners gegriffen wer-
den kann, wenn das Vermögen nicht ausreicht. Wie nun aber
bei der Wadiation eine Zwischenperson eingreift, so begegnet
dann die gleiche Zwischenperson auch bei der Schuldknecht-
schaft. Eine selbstverständliche Folge der Verbürgung ist also
der Zugriff der Bürgen auf die Person des Schuldners nicht
und jene Stelle, die so etwas bei den Gewährbürgen ausschließt,
hält das noch fest. Vielmehr muß der Einsatz der Person (des
73) Dieser Paragraph N. 21.
7<) §3,N.3;N. 18.
75) Munoz S. 237, 1064: et quod nullus ex robis sedeat captus
dando fidanzas de vestro pede Llorente IV, S. 262, Palencia 1187: omnis
homo de Palencia, qui fideiussore dedit pro suo pede et sua bona, non
sit preeo corpus säum nee sua bona.
7«) § 3, N. 8.
77) § 3, N. 2.
78) § 5. M. 34.
Das altspanische Obligationenrecht in seinen Grundzügen. 47
pes) ausdrücklich erfolgen. Aber es ist verständlich, daß all-
mählich in vielen Rechten dem Bürgen ohne weiteres das Recht
eingeräumt wird, auf die Person des Schuldners zu greifen,
wie seine Rechtsmacht sich allmählich auch über die Immobilien
des Schuldners ausdehnt.
2. Ganz anders gestaltet sich die Verhaftung aus der
Person des Bürgen.
a) Wiederholt ist freilich davon die Rede, daß das Ver-
mögen 79) des Bürgen oder auch sein Körper80) für die Er-
füllung eingesetzt ist.
Allein sieht man genauer zu, so ist eine solche Haftung
des Bürgen mit seinem Vermögen oder mit seinem Körper
nichts Selbstverständliches, sondern bedarf eines besonderen
darauf gerichteten Rechtsgeschäfts81). Ganz deutlich ist das
79) Teruel 49 (fehlt in Cuenca XV, 6): et fideiussores de salvo
debeant pectare homicidium, intrando primitus totam radicem damniti
et mobile et similiter totam radicem fideiussorum et mobile.
80) Teruel 49: qua si forte ille homicida affugerit et iustitiam in
corpore non sustinuerit et fideiussores de salvo cum tota eorum radice
et mobile, ut scriptum est, homicidium complere non potuerint in captione
iaceant, donec fame et siti pereant. Teruel 168 : si forte ille superlevator
debitum, vel unde pectet, habere non potuerit, iudex ipsum capiat et
mittat illum in capcione querelosi. Yanguas I, S. 446, Estella: et si
aliquis fecerit fidancia alicui et erit inde missus in persone regis pro
illa fidancia. Später scheint beim fideiussor iuris die Schuldhaft als etwas
Selbstverständliches: Observ. regni Arag. IV de fideiuss. §19 (Fueros de
Aragon II, S. 30) : item nota, quod fideiussor contractus simpliciter obli-
gatus non potest capi in persona, si non habet bona; nee etiam tenetur
läcere cessionem bonorum, sed capiuntur bona eius, si ea creditor osten-
derit, nisi forte se constituerit principalem debitorem in instrumento vel
nisi se obligasset habere bona expedita; tunc enim capitur persona in
defectum bonorum ; fideiussor autem curiae, qui alias vocatur fideiussor
iuris, non capitur in persona in defectu bonorum, sed tenetur cedere bonis
suis et praeconizabitur; et si cedere noluerit, tarnen capietur in persona.
81) Fuero viejo III, 6, 2: esto es Fuero de Castilla, que si un ome
(gemeint ist nach dem Zusammenhang ein Bürge) fia a otro pie por
mano o mano por pie; III, 6, 4: que ningund labrador solariego non
puede facer fiaduria sobre si nin sobre sus bienes contra ningund ome . . .
48 Mayer.
für die körperliche Haftung. Aber auch die Haftung des Ver-
mögens ist jedenfalls nicht in jeder Anwendung etwas Selbst-
verständliches. Die späteren Nachrichten unterscheiden nämlich
zwischen fideiussor simplex, simpiiciter obligatus und dem
mehr gebundenen fideiussor. Der fideiussor simplex ist nament-
lich der Prozeßbürge, der fideiussor iuris. — Nur im Fall des
starken gebundenen fideiussor tritt die Verhaftung der Person
ein und nur dann ergibt sich eine Verhaftung des Vermögens,
kraft deren der Bürge zur Bezahlung der Schuld angehalten wird.
Ein fideiussor simplex (fideiussor iuris) kann nur durch
Pfändung dazu gezwungen werden, daß er — wenn er nicht
selber zahlen will — den Hauptschuldner zur Zahlung veranlaßt :
also lediglich die Ausnützung seiner Rechtsmacht gegen den
Schuldner, kraft dessen er bei diesem die Forderung durch
außergerichtlichen Zwang einheben kann, steht in Frage82).
Auf der anderen Seite wird nach den alten Gesetzen von
Aragon der gewöhnliche Bürge so gedacht, daß er sich durch
sacando debdo enfiado. Estilo 134 : es a saber. que el fiador no sera
dado por preso por la deuda, que fizo. maguer los sus bienes no cum-
plan a pagar el deudo. salvo si no se Obligo diciendo. que obligata a
si e a todos sus bienes. Boletin XXXVII, S. 374, § 44 (oben § 5, N. 40):
todo hombre. que entrare fiador por pan o por vino o por buey o por
mueble alguno, meta su pie con su jura. — Dann die Stelle aus der
observantiae in der vorigen Note: ferner VI de gener. privil. § 15 (Fueros
de Aragon II. S. 46) : sed fideiussor simplex, qui non se constituit debi-
torem. non compellitur ad solvendum, sed pignorabitur. donec solvat vel
l'aciat solvi.
82) Entscheidend ist Fueros de Aragon II, S. 46, § 15 (N. 81): wenn
liier bei der lideiussio simplex die Alternative zwischen solvat und faciat
solvi gestellt wird, so kann hier nicht der Gläubiger die Wahl haben;
denn dann würde dieser natürlich immer unmittelbar das solvere durch
den Bürgen wählen, und dann hätte es keinen Sinn, von der lideiussio
simplex eine anderen lideiussio zu unterscheiden, bei der der fideiussor
zahlen muß. Sondern die Wahl ist beim Bürgen : er kann allerdings
selber zahlen und darf dann nicht vom Gläubiger genötigt werden, mit
Zwang gegen den Hauptschuldner vorzugehen. Aber wenn er will, kann
er sich darauf beschränken, gegen den Hauptschuldner vorzugehen,
dazu wird er mit pignorare angehalten.
Das altspanische Obligationenrecht in seinen Grundzügen. 49
Handschlag verpflichtet hat und damit im Falle der Nicht-
erfüllung lediglich der allgemeinen Buße wegen Bruchs des
mit Handschlag gegebenen Versprechens verfällt; es ist das
schon früher ausgeführt83). Beides gehört offenbar zusammen:
der gewöhnliche Bürge verpflichtet sich durch Handschlag,
beim Schuldner die Forderung einzutreiben und verfällt der
durch pignoratio einzuhebenden Geldstrafe wegen Bruchs dieses
Handgelübdes.
Dem simplex fideiussor steht der Bürge entgegen, der
unmittelbar leisten muß 84) oder der sich als principalis debitor
oder als einer der se obligasset habere bona expedita ver-
pflichtet85); auch schon in viel früheren Quellen wird davon
geredet, daß sich der Bürge zum debitor macht und das heißt
dann, daß er dem Gläubiger im selben Umfang, wie ihm der
Hauptschuldner, haftet86). Wiederum leitet das hinüber zu
der anderen Erscheinung, wo es als etwas Besonderes hervor-
gehoben wird, daß ein Bürge seine bona obligiert 87). Die
Form aber, in der das geschieht, ist wie bei der Wadiatiou
Handeln vor einer Versammlung88).
83) § 5, N. 38.
84) So Fueros de Aragon II, S. 46, § 15 (N. 81).
85) Fueros de Aragon II, S. 30, § 19 (N. 80).
86) Yanguas I, S. 445 : si quis ex fidanciis non habuerit suum
auctorem (der Hauptschuldner) ad terminum et vult intrare in placitum
et f'acit se debitor, quod si non paccat illud avere, sit dupplatum illud
avere. Teruel 175: de debitore, qui pro pecunia superlevaverit : qui-
cumque aliquem pro peccunia superlevaverit aut (et ?) fideiussor vel debitor
pecuniae fuerit aut dixerit ante alcaldes iuratos vel facticios „ego per-
solvam hanc peccuniam seu debitum" tunc illi alcaldes dent ei pro
sententia vel iudicio, ut illam pecuniam usque ad 9 dies persolvat. quod
si non fecerit, pectet illam dupplatam.
87) Fueros de Aragon II, S. 30, § 19 (N. 76) wirft das se consti-
tuere principalem debitorem und das se obligare habere bona expedita
lusammen. — Das obligare bona erscheint als etwas Besonderes in Fuero
viejo III, 6, 4; Estilo 134 (beides N. 81).
88) Soria S. 151 a/b (§ 5, N. 41); Teruel 175 (N. 86); Tortosa VIII,
6, 2: la fermanca no tan solament es obligat, si los seus bens ha obli-
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. XXXIX. Band. 4
50 Mayer.
All das heißt nichts anderes, als daß der Bürge durch
Wadiation als eigentlicher Schuldner eintreten kann und dann
mit dem ganzen eingesetzten Vermögen unmittelbar für Erfüllung
haftet; mindestens später ist es selbstverständlich, daß ein
solcher Bürge zugleich auch zum persönlichen Schuldknecht sich
macht89). Dem steht dann der Bürge gegenüber, der mit
Handschlag sich nur für die Eintreibung der Forderung als
„fideiussor iuris" einsetzt, was namentlich für den Prozeß-
bürgen gilt; dessen Vermögen wird aber nur durch die kleine-
ren Exekutivstrafen berührt, die anfallen, wenn er das Ge-
lübde, die Forderung, einzutreiben bricht90).
b) Ist so zwischen der gewöhnlichen Bürgschaft zu schei-
den, bei der der Bürge sich lediglich zu einer Mittlerschaft ver-
pflichtet und nur durch die Verwirkung einer Geldstrafe wegen
Verlöbnisbruch, wenn er versagt, auf sein Vermögen einwirkt,
und zwischen einer Verstärkung der Bindung mit Schuld-
knechtschaft und Wadiation, so wird das auch in der Erb-
anhaftung sich äußern. Ist das richtig, was früher über deren
Gestaltung angeführt wurde, so kann im ersten Fall die Haf-
tung auf die Erben des Bürgen nicht übergehen ; wohl aber
müssen die Erben einstehen, wenn der Bürge sich (durch
Wadiation) zum eigentlichen debitor gemacht hat. In der Tat
ist das in den Quellen unmittelbar belegt91).
gats per aquela ferrnanga, que fa, aut son hereu e tots los seus bens
es obligat e roman ; e si non obliga los seus bens, los seus bens ne son
hereu ne eis bens no romanen obligats.
8») Fueros de Aragon II, S. 30, § 19 (N. 80).
90) Nach Fuero viejo III, 6, 4 (N. 81) kann der labrador als Bürge nicht
durch Wadiation seine Güter verhaften und sich auch nicht in Schuld-
knechtschaft begeben; aber das ist ihm möglich, daß er debdo enfia:
ich deute das auf die Bürgschaft mit bloßem Handgelöbnis.
91) Muüoz S. 550, Paralta 1144: et [nomine, qui intraverit fiador
de iudicio de anno in suso non faciat directum ; et si fuerit pater fidiator,
et transierit, filius non facit directum pro illa fide. M. Port. leg. I, S. 797 :
homo qui obierit, non respondeant sui filii neque parentes ipsius pro nulla
fiaduria, quam facit, quando vivus erat; et per sua debita respondeant,
qui sua bona hereditate (natürlich hereditent). Navarra III, 17, 5: qui
Das altspanische Obligationenrecht in seinen Grundzügen. 51
IV. Zuletzt muß untersucht werden, zu welcher Leistung
(Schuld) bei Wadiation der Schuldner und der Bürge ver-
bunden ist.
1. Die Schuld des Hauptschuldners, die unmittelbar nicht
dem Gläubiger, sondern dem Bürgen gegenüber zu erfüllen
ist, bestimmen folgende Erwägungen.
a) Allemal ist die Schuld aus Vertrag entstanden. Der
gewöhnliche Vertrag mit Handschlag oder mit arra führt nur
zu einer mittelbaren und begrenzten Bindung; man riskiert
eben eine Geldstrafe oder die arra, wenn man das Versprechen
nicht leistet92). Irgend ein Rechtszwang auf Erfüllung des
Versprochenen selber ist nicht gegeben. Demgegenüber be-
deutet das Pfändungsrecht des Bürgen gegen den Schuldner,
daß dieser Vermögensstücke mindestens in der Höhe des ver-
sprochenen Betrags wegnehmen kann; gleich nachher wird
sich zeigen, daß der Bürge regelmäßig das Doppelte des Ver-
sprochenen einheben darf. Daraus folgt, daß das vadierte
Versprechen unmittelbar einen Rechtszwang auf Erfüllung der
versprochenen Leistung gewährt; derselbe kann entweder in
dem außergewöhnlichen Zugriff des Bürgen oder — da ja die
wadierte Obligation ein debitum manifestum begründet — in
einer obrigkeitlichen Pfändung bestehen, welche durch das
Angebot einer Prozeßbürgschaft nicht weiter aufgehalten wer-
den kann 93). Daß bei der Wadiation die versprochene Lei-
que sea fianza de dreito, de quoando el alcade mandare sobre demanda
de heredad o de mueble, entre tanto antes, que el pleyto sea iurgado
por iuyzio, muere aquellarfianza, por fuero sua muyllier nin sus crea-
turas sobre aquella fiaduria non son tenidos de responder: ähnlich Fueros
de Aragon I, S. 283 a, III, 1247. — Demgegenüber Boletin XXXVII,
S. 399, § 239 : todo ome, que fuere fiador por alguna heredat de salva
e de redra o que faga complir a otro algun pariente (wohl Friedens-
bürgschaft), despues de la muerte del fiador los herederos non son tenidos
de responder a ninguno, si deudor non fuere; dementsprechend läßt
Tortosa VIII, 6, 2 (N. 88) die Erben des Bürgen nur haften, wenn der
Bürge seine Güter obligiert hat.
92) § 1.
93) Dieser Paragraph II, 3.
52 Mayer.
stung unmittelbar erzwungen wird und der Schuldner von
derselben nicht durch Bezahlung einer gesetzlichen oder kon-
ventionellen Strafe frei kommt, das ist die eine wesentliche
Funktion jener Geschäftsform.
In der Erzwingbarkeit des geschuldeten Betrags steht die
wadierte Forderung auf gleicher Linie mit den Forderungen
aus Delikten. Aber in einer anderen Beziehung gehen die
beiden Formen doch auseinander. Das Frühere hat gezeigt,
daß die Erfüllung der gewöhnlichen Forderung aus Delikt
nur mit einem Vollstreckungsapparat erreicht wird, der dem
Gläubiger keine Befriedigung verschafft, sondern dem Be-
klagten lediglich die freilich sehr schweren Nachteile einer
ursprünglichen Friedlosigkeit zufügt. Das Compelle auf Er-
füllung ist also sehr stark, aber roh und für die Gläubiger
ohne unmittelbaren Wert. Auch hier setzt die Wadiation mit
einer kultivierteren Form ein : es wird dem Schuldner durch
den Bürgen oder Gläubiger außergerichtlich oder später im
Exekutivprozeß Vermögen weggenommen und das Weg-
genommene zur Befriedigung des Gläubigers verwendet. Es
wird nachher da, wo von der Stellung des Bürgen die Rede
ist, die Technik dieser Befriedigung des Gläubigers noch genauer
geschildert werden94). Für jetzt genügt der Gesichtspunkt, daß
bei Wadiation der Gläubiger aus dem Vermögen des Schuld-
ners Zahlung erhält.
Nun kommt aber gelegentlich eine solche Exekution für
die geschuldete Leistung da vor, wo keine wadierte Schuld
gegeben ist. Nach dem Recht von Teruel nämlich pfändet
der Gläubiger beim Schuldner täglich nicht nur pro calumnia,
also für die Ungehorsamsbuße, sondern auch pro petitione, d. h.
für die Forderung selber 9 5) : d. h. es wird das Verhältnis so
94) Unter Nr. 104 ff.
95) Teruel 133 (die Stelle fehlt in Cuenca XVII, 2): sed si forte
ille applacitatus ad placitum non venerit, pignorator in domo illius super-
levatoris pignoret cotidie in voce sui contemptoris pro petitione et
columnia.
Das altspanische Obligationenrecht in seinen Grundzügen. 53
behandelt, wie wenn Schuldner sich wadiert hätte. Da greift
jedoch eine andere Beobachtung ein. — Es gehört eben dieses
Recht zu der Gruppe, in der der Gläubiger zunächst mit einer
Wegnahme eines Halms oder eines Stabes beginnt, also die-
jenigen Symbole sich einseitig nimmt, die er sonst bei dem
Prozeßgelöbnis vom Beklagten übertragen erhält96). Jetzt wird
der Sinn dieser Form, deren Deutung früher noch nicht ge-
geben werden konnte, klar. Das was sonst nur die Wirkung
einer gegebenen Wadia ist, nämlich daß der Gläubiger Befriedi-
gung für seine Forderung erhält, wird jetzt an die einseitige
Wegnahme eines solchen Zeichens geknüpft, wie ja auch in
den übrigen germanischen Rechten das „kleine Pfand" 97), das
zum Eingang der Vollstreckung genommen wird, oft die Form
der Wadiationssymbole teilt. Man weiß auf dieser Stufe bloß
noch, daß die Befriedigung des Gläubigers für die Forderung
mit der Anwendung des Stabs zusammenhängt und versteht
nicht mehr, wann der gerade zu geben ist. Es ist das also
ein Weg zu unmittelbarer Befriedigung des Gläubigers, der aber
durchaus nicht in allen Rechten betreten wird. Denn sonst
hätte es keinen Sinn, wenn noch spätere Rechte die Befriedi-
gung des Gläubigers mit dem indirekten Mittel der Festnahme
des Schuldners erzwingen98).
b) Der Betrag, für den \ der Schuldner dem Bürgen haftet,
geht auf das Doppelte, wenn der Bürge bereits gezahlt hat; es
hat also der Schuldner alles Interesse daran, den Bürgen nicht
zahlen zu lassen, damit die Verdoppelung vermieden wird99).
96) § 2, N. 99, § 5, N. 4.
97) Franken, Das französische Pfandrecht, S. 233, N. 3; Egger,
Vermögenshaftung und Hypothek nach französischem Recht, S. 475 ; be-
sonders P 1 a n i t z , die Vermögensvollstreckung im deutschen mittel-
alterlichen Recht, S. 598 ff.
98) § 2, N. 151.
••) Teruel 170 (Cuenca XIX, 12): si vero^superlevator aliquid pro
debitore peccaverit, pectet ille debitor, qui in superlevatura illum miserit,
quidquid datum fuerit, dupplatum et hoc totum accipiat superlevator.
Boletin XXXVII, S. 377, § 72 : si los, que deben algo, negaren a su fiador
54 Mayer.
Es ist von Bedeutung und soll gleich hier erwähnt werden,
daß gelegentlich auch dem Bürgen, der die Bürgschaft ab-
leugnet, eine solche Haftung für den doppelten Schuldbetrag
auferlegt100) wird; nach einer sehr ursprünglichen Nachricht
hängt aber das letzte davon ab, daß sich der Bürge selber
zum debitor macht101), also sein Vermögen einsetzt, gilt also
nicht bei der schlichten, lediglich durch Handschlag begrün-
deten Bürgschaft. Daß der zahlende Bürge sich am Schuldner
auf das Doppelte erholen kann, gilt dagegen allgemein, also
auch hier. So bewirkt die Wadiation, daß der Schuldner,
wenn er nicht erfüllt, das Doppelte zu leisten hat. Wurde
früher gezeigt, daß nach westgotischem Recht überall da das
Doppelte zu leisten ist, wo jemand eine fremde Sache ohne
Rechtsgrund zurückhält102), so bedeutet die Verdoppelung in
unserem Fall nichts anderes, als daß das Vermögen des
Schuldners (später bis zur Höhe der Forderung) dem Gläu-
biger gehört, weist wiederum auf die dingliche Position des
la deuda o si el fiador paguare por el deudor, ne queriendo acerter e
friere provado, doblara la pagua al fiador. M. Port. leg. I, S. 878, § 69
(richtig § 79): tod ome, que por fiadoria pagar, düble la aquel por qui
la peytar.
10°) Teruel 173 : tarnen si superlevator superlevaturam negaverit,
firmet ei querelosus cum iudice vel cum alcaldibus vel cum duobus
vicinis, ante quos intrarit superlevator, ut forum precipit et firmando
taliter superlevator dupplet petitionem; 177: et si superlevator ad pre-
fixum diem et iudicatum non paccaverit, pectet petitionem dupplatam
sive debitum. Boletin XXXYII, S. 377, § 71 : otrosi si alguno fuere fiador
o (e zu lesen) lo negare, que no fue fiador, firmara al quereylloso de
niego ... Et su fuere provado, doblar la fiaduria. Vigil ayuntamiento
de Oviedo S. 11. 1145 (Aviles § 12): y si vezino a vezino fiaduria negar,
colla del fiador a doble a cabo, que si podier arrancar por iudicio de
la villa, que el pecte el dubio.
101) Yanguas I, S. 445: si quis ex fidanciis non habuerit suum
auctorem ad terminum et vult intrare in placitum et facit se debitor,
quod si non paccat illud avere, sit dupplatum illud avere; si dat inde
fidancia (d. h. im Augenblick, wo der die Bürgschaft leugnende Bürge
das Prozeßgelübde leistet) dupplavit totum.
102) § 1, N. 46 f.
Das altspanische Obligationenrecht in seinen Grundzügen. 55
Gläubigers. Es ist natürlich keine Rede davon, daß die ge-
schilderte Haftung des Schuldners für das Doppelte mit der
actio depensi auf das Doppelte zusammenhängt, wie sie nach
römischem Recht den sponsores zusteht103); denn wenn auch
vielleicht das in Spanien geltende theodosianische Recht für
die Römer diesen Satz noch bewahrt haben könnte , so ist
doch der Zusammenhang jener Haftung des Hauptschuldners
oder Bürgen, der sich zum debitor gemacht hat, mit den
übrigen reingermanischen Fällen der Verdoppelung klar; nir-
gends ist sonst an der spanischen Bürgschaft irgend eine
Einwirkung des römischen Rechts zu erkennen.
2. Viel komplizierter ist die Haftung der Bürgen. Zwei
Formen kommen in Betracht; nach der einen ist der Bürge
nicht mehr als der Vermittler zwischen dem Gläubiger und
Schuldner; nach der anderen setzt er seine Person oder sein
Vermögen unmittelbar für die Erfüllung ein.
a) Schon das Bisherige hat ergeben, daß noch nach spä-
terem aragonesischem Recht der fiador simplex weder mit
seiner Person noch mit seinem Vermögen für die Schuld haftet,
welche der Hauptschuldner übernommen hat und daß der
Prozeßbürge ein solcher simplex fiador ist104). Was dann
hier der Bürge zu leisten hat, ist nur, daß er beim Schuldner
die Forderung eintreibt, und diese Funktion tritt denn auch
wiederholt hervor. Da, wo mit der Wadiation auch die
Schuldknechtschaft verbunden ist, hat deshalb der Bürge
alle seine Verpflichtungen erledigt, wenn er den Schuld-
ner in die Gewalt des Gläubigers bringt105); es schließt
103) Gaius III, 127.
104) Dieser ParagraphlN. 80 ff.
105) So in der aragonesischen Nachricht N. 82; dann schon Boletin
XXXVII, S. 381, § 102 : el creedor puede si quisiere pendrar su fiador,
quel faga pagar. Ebenso erschöpft sich Navarra III, 17, 2 die Ver-
pflichtung des Bürgen damit, daß er entweder aus dem Vermögen des
Schuldners den Gläubiger befriedigt oder, wenn es am Vermögen fehlt,
den Schuldner gefangen nimmt. M. Port. leg. I, S. 878: tod ome, que
56 Mayer.
der Zusammenhang, wenn der Bürge durch Gestellung des
Schuldners gerade da aus der Haftung austreten kann, wo eine
Prozeßbürgschaft vorliegt106).
Freilich ist es möglich, daß der Bürge über die Rolle des
bloßen Vollstreckers hinausgeht und die Erfüllung freiwillig über-
nimmt, wie das — als in seiner Wahl liegend — wiederholt
in den Nachrichten angedeutet wird107); denn da er ja das
Doppelte von dem, was er ausgelegt hat, vom Schuldner er-
setzt erhält, so macht er — Solvenz des Schuldners voraus-
gesetzt — ein gutes Geschäft und wird von ähnlichen Er-
wägungen bestimmt, wie etwa der Ehrenzahler des modernen
Wechselrechts ; es ergibt das dann selber leicht einen Ueber-
gang zu der Bürgschaft, die unmittelbar den Bürgen zur
Zahlung verpflichtet. Aber jedenfalls ohne seinen Willen ist
der Bürge in den bisherigen Fällen mehr nicht schuldig, als
das Recht des Gläubigers an Vermögen und Person des
Schuldners zu vollstrecken. Es ist natürlich, daß eine solche
Bürgschaft nicht vererbt108).
Weiter aber ergibt sich noch eine andere — zeitliche —
Begrenzung. Schon früher ist erwähnt worden, daß der fiador
de saneamiento bei der Immobiliarveräußerung vielfach nur
Jahr und Tag (oder die daraus abgekürzte Frist) einzustehen
habe: es hat sich gezeigt, daß diese Begrenzung zunächst
fiar a outro e lo pode aver e meter en medio,[non responda. Teruel 170:
cum superlevator a superlevatura exire voluerit, ut forum precipit, sta-
tim capiatur debitor et a capcione non exeat, donec pectet; 172: item
sciendum est, quod quicumque a superlevatura data ad forum Turolii
exire voluerit, presentet contempsorem quem superlevaverat ante quere-
losum et iudicem, dicendo „de ista superlevatura exeo" et sit solutus;
aliter non solvatur. Estilo 134 (§ 3, N. 3, N. 19) 229 (dieser Paragraph
N. 8) : auch hier braucht der Bürge, wenn er will, nicht mehr zu leisten,
als den Beklagten zu stellen ; wenn er will, kann er freilich auch für
den Beklagten eintreten und muß dann im Unterliegungsfall erfüllen.
106) Teruel 172, Estilo 229 (N. 105).
107) So Estilo 134, 229; Fueros de Aragon II, S. 46, § 15 (N. 81).
108) Oben N. 91.
Das altspanische Obligationenrecht in seinen Grundzügen. 57
nur für ferme gilt, während der eigentliche Eviktionsbürge
dauernd haftet: allmählich ist dann die Begrenzung auf 1 Jahr
(halbes Jahr) ebenso allgemein geworden, als sich fermes und
Gewährbürgen vermischt haben; ursprünglich aber hat diese
zeitliche Begrenzung, wie gesagt, nichts mit der Bürgschaft,
sondern alles mit dem davon vollständig verschiedenen ferme
zu tun109), und scheidet deshalb hier aus. Dagegen ist es eine
ausgezeichnete Bestätigung all dessen, was bisher dargelegt ist,
wenn wiederum auch der Prozeßbürge lediglich auf ein Jahr ge-
bunden ist 110). Es ist das nicht allenfalls als die Wirkung einer
allgemeinen Klagsverjährung oder Prozeßverjährung zu fassen,
die mit dem Ablauf von Jahr und Tag eingetreten wäre. Es
mag vielleicht zufällig sein und darauf zurückgehen , daß ich
hier nicht genügend gesammelt habe, wenn ich für einen
Untergang des Deliktsansprüche durch Ablauf eines Jahres aus
dem Spanischen keine eigentlichen Belege beibringen kann.
Aber jedenfalls die sachenrechtlichen Ansprüche unterliegen
einer viel längeren — der 30jährigen — Verjährung111) und
anderes weist darauf hin, daß — entsprechend dem sachen-
rechtlichen Ausgangspunkt des Instituts — bei wadierter
Schuld das Recht des Gläubigers ursprünglich länger als
20 Jahre, also wohl wiederum 30 Jahre währte112). Die Obli-
109) § 4, N. 52 ff.
uo) Muiioz S. 392, Caparroso 1102: nomine de Caparroso, si
intraret fidanza de judicio ad nomine de alio loco aut a suo vicino e
non pignoraret usque ad uno anno ... de anno a suso non respondat.
Fueros de Aragon I, S. 283 a, III, 1247 6agt von Prozeßbürgen (arg. : si
causa incepta quis fideiubeat de alio de parendo iuri) tarnen talis de-
mandator, si steterit per annum et diem, quod non prosequatur causam,
postea non teneatur respondere ipsa fidantia,
1U) § 4, N. 47.
112) Fueros de Aragon I, S. 285 a/b nimmt bei debitum in scriptis
vel sine scriptis contractum als ursprünglich eine Verjährung von über
20 Jahren an; jedenfalls sind die wadierten Obligationen unter diese
Norm miteinbezogen. Alcala IX, 2 aber nimmt bei debdas, für die der
Erbe des Schuldners haftet,cdie also ursprünglich wadierte sein müssen,
eine Haftung von ursprünglich länger als 10 Jahren an.
58 Mayer.
gation des Beklagten aber, der den Prozeßvertrag geschlossen
hat, beruht auf der Wadiation. Dann fällt nicht allenfalls mit
Ablauf von Jahr und Tag bereits die Forderung weg, sondern
lediglich die mittelbare Eintreibung durch den Bürgen hört
schon damit auf. — Das alles erhält dann seine entscheidende
Bestätigung durch die katalonische Urkunde von 1129 113): hier
wo eine ganz klare Wadiation gegeben ist, behält der Bürge das
Einkleidungssymbol ein Jahr lang und vollstreckt; nach Ablauf
eines Jahres aber wird das Symbol an den Gläubiger zurück-
gegeben und nun hebt dieser ein. — Nimmt man das alles
zusammen, so kann die Einschiebung des gewöhnlichen Bürgen
keinen Vorteil für den Gläubiger, sondern nur einen solchen
für den Schuldner bedeuten ; ein Jahr lang kann die zwangs-
weise Befriedigung auf Grund der Vermögensübertragung
nicht durch den Gläubiger unmittelbar geschehen, sondern er
muß sich einer Mittelsperson bedienen, die der Schuldner,
natürlich gemäß seines eigenen Vertrauens, gewählt hat; wenn
dann freilich diese Zwischenperson binnen eines Jahres durch
ihr oder des Schuldners Verhalten nicht zum Ziele kommt,
dann tritt der unmittelbare, durch kein persönliches Vertrauens-
verhältnis abgeschwächte Zugriff des Gläubigers ein.
Pflicht des Bürgen ist es, dem Gläubiger Befriedigung zu
verschaffen. Jedenfalls im 13. Jahrhundert und wohl schon
viel früher kann er sich bei einem Summenversprechen der
Aufgabe nicht dadurch erledigen, daß er lediglich Vermögens-
stücke im Wert des Forderungsbetrags wegnimmt, sondern er
muß auch dafür sorgen, daß der Gläubiger gerade die Geld-
summe erhält114), d. h. er muß für die Versilberung von Ver-
mögensstücken des Schuldners sorgen. — Nicht anders ge-
staltet sich aber das Verhältnis da, wo der Gläubiger selber
zugreift, weil der Bürge durch Zeitablauf ausgefallen ist; denn
das hat das Bisherige durchweg ergeben, daß in historischer
Zeit nicht das ganze Vermögen, das der Schuldner eingesetzt
113) § 5, N. 9 f.
114) Fueros de Aragon I, S. 278 b, II (dieser Paragraph N, 1).
Das altspanische Obligationenrecht in seinen Grundzügen. 59
hat, dem Gläubiger verfällt, sondern eben nur das Doppelte
von dem debitum des Schuldners weggenommen werden kann;
das ist unmittelbar da deutlich, wo sich der Bürge zum
Schuldner macht, dem Gläubiger ohne dazwischen geschobenen
zweiten Bürgen haftet und nun in der Tat das Doppelte des
debitum leisten muß115). So ergibt sich hier wie dort die
Notwendigkeit einer objektiven Versilberung, also eine Ver-
steigerung durch einen Versteigerungsbeamten. Erscheint
dann die Versteigerung durch Cursor publicus als eine Voll-
streckungsform , welche auf die gewöhnliche nicht wadierte
Obligation nicht paßt und deren Anwendung hier lediglich auf
einem Umweg erzwungen wird116), so wird eben diese Ver-
steigerung zunächst von der Wadiation herrühren.
Damit ist das Bild des Bürgen, der Zwischenmann ist,
vollständig gezeichnet. Er ist ein Vertrauensmann beider
Teile da, wo der Schuldner sein Vermögen durch Wadiation
oder seine Person durch ursprüngliche Fesselung einsetzt. —
Den Schuldner schützt er dagegen, daß ihm der Gläubiger
mehr wegnimmt, als die Forderung beträgt und diese Be-
grenzung ist dann in historischer Zeit auch auf den Fall über-
gegangen, daß der Gläubiger selber zugreifen muß, weil der
Bürge ein Jahr lang zu keinem Ergebnis kam. Daraus ist die
uns jetzt selbstverständliche Art der Forderungsvollstreckung,
bei der der Gläubiger nicht mehr als seine Forderung erhält,
entstanden; sie befindet sich im Gegensatz einmal zu jener
rohen Friedloslegung des säumigen Schuldners, bei der dem
Schuldner ein unverhältnismäßiges Uebel widerfährt, ohne daß
der Gläubiger anders als in seinem Rachebedürfnis befriedigt
wird; aber sie ist darüber hinaus auch noch eine Zivilisierung
des Vermögenseinsatzes im ganzen und der Schuldknechtschaft,
bewirkt im ersten Fall, daß der Gläubiger nicht mehr als die
Forderung erhält. — Dem Gläubiger gegenüber aber ist der
Bürge ein „bastonarius" 117), d. h. Träger eines der Symbole, mit
115) Dieser Paragraph N. 101.
116) § 2, N. 166 f. m) § 2, N. 83.
60 Mayer.
dem der Gläubiger durch die Wadiation selber eingekleidet
wird. Daß der Gläubiger dem Bürgen das Wadiationssymbol,
die marca, gibt, bedeutet nichts anderes, als daß er ihn zum
Boten macht, der statt seiner eintreibt, geradeso wie der Fürst
sein Recht durch seinen bastonarius einhebt. Daraus erklärt sich
dann auch, warum nicht nur der Bürge gegen den Schuldner,
sondern auch der Gläubiger gegen den Bürgen das Recht des
außergerichtlichen Zugriffes hat118); denn auch im spanischen
Recht kann der Herr dem Diener das ohne Klage wegnehmen,
was dieser in Ausrichtung seines Auftrags in der Hand
hat119). Freilich wird das zunächst nur darauf führen, daß
der Gläubiger eigenmächtig vorgehen kann, wo der Bürge
schon eingehoben hat; hat aber der Bürge sein Vermögen
verhaftet, d. h. sich wadiert, so muß der Gläubiger daraus den
unmittelbaren Zugriff auf dies Vermögen haben, der hier ja
nicht durch Dazwischenschieben eines zweiten Bürgen abge-
schwächt wird. Entwickelt dann allmählich aus dem Recht
des einfachen Bürgen in Vorschuß zu gehen eine Pflicht, so wird
auch der eigenmächtige Zugriff des Gläubigers, auch ohne be-
sonderen Vermögenseinsatz des Bürgen, auch darauf bezogen
werden. — Faßt man den Bürgen zunächst nur als solche Mittels-
person, so ist es sehr verständlich, wie auch der Testaments-
vollstrecker als Bürge, der für gar nichts haftet, aber statt des
Eigentümers die Herrschaft ausübt (fiador), betrachtet werden
kann; daß der Gedanke eines solchen Bürgen sachlich und sprach-
lich etwas Gemeingermanisches ist, ergeben Bezeichnungen wie
rachinburgo und die Verwendung von byrgea im Angelsächsi-
schen 120). — Es ist ferner jetzt erst verständlich, warum im
spanischen Recht wie in allen germanischen Rechten Bürgschaft
und Wadiation notwendig zusammentreffen. Denkt man sich
den Bürgen als jemanden, der im modernen Sinn stets mit
seinem Vermögen oder auch seinem Körper für die Erfüllung
118) Dieser Paragraph II, 1.
119) § 2, N. 126.
120) Illothaere 6 verwendet byrgea für den Vormund.
Das altspanische Obligationenrecht in seinen Grundzügen. Q\
einsteht, so begreift man die Regelmäßigkeit des Zusammen-
hangs nicht; denn was in der Gegenwart gilt, daß man nur
schwer solche Bürgen beibringen wird, weil das Risiko für den
Bürgen groß ist, hat in der alten Zeit mindestens nicht weniger
gewirkt. Aber wenn der Bürge zunächst nicht mehr als ein
„mediator" ist, der sich verpflichtet, als Bote des Gläubigers
zu vollstrecken und der mit dem Doppelten belohnt wird, wenn
er sich statt des Schuldners freiwillig zu einer Vorleistung
entschließt, dann ist der allgemeine Antrieb, bei der Wadiation
einen Bürgen zu verwenden, vollkommen klar: nur durch Ein-
schiebung eines Bürgen wird eben der Schuldner dagegen ge-
sichert, daß der Gläubiger aus der Vermögensübertragung
rücksichtslos die Folgerungen zieht und das ganze Vermögen
an sich nimmt, statt des Betrages, der genügt seine Forde-
rung zu decken; der Bürge aber riskiert nichts. Erst durch
diese Bürgschaft ist in dem Obligationenrecht der Grundsatz vom
Gleichmaß der Forderung und Vollstreckung durchgesetzt worden,
b) Der bisher geschilderten Form der Bürgschaft steht
die andere gegenüber, bei der entweder das Vermögen oder
die Person des Bürgen eingesetzt wird. Es ist klar, daß in
einem solchen Fall die Haftung auf Erfüllung gehen muß121).
Hat einer sich als obses eingesetzt, so wird er eben wie jeder
obses122) in der Gefangenschaft bleiben, bis der Gläubiger
bezahlt ist. Hat jemand sein Vermögen eingesetzt123), so
m) N. 81.
122^ Teruel 194/
I2S) So z. B. Teruel 177 : wenn der Gläubiger unsicher ist, ob der
Schuldner nicht flieht, kann er vom Schuldner die Stellung eines solchen
superlevator fordern, quod si ad placitum non solvent vel non venerit,
quod superlevator pectet loco debitoris ad placitum 9 dierum omne
debitum et etiam cautum alcaldorum. Es ist wohl das gleiche, wenn
Fueros de Aragon II, S. 49, § 9, der incartatus, der auf freiem Fuß vor
Gericht erscheint, einen caplevator stellen kann (firma iuris), aber dann
einen solchen stellen muß, der sub poena certa seine Güter einsetzt. — Ich
vermute, daß die Bezeichnung abonir (Estilo 229 ; dieser Paragraph N. 8)
ursprünglich nichts anderes als Wadiation, die formelle Uebertragung
der bona auf die Gläubiger bedeutet.
62 Mayer.
kann der Gläubiger auf das Vermögen dieses Bürgen durch
Zwangsversteigerung greifen und ist nicht darauf beschränkt,
durch eine Pfändung den Bürgen zur Eintreibung der Forde-
rung beim Schuldner zu nötigen. — Es ist natürlich weit-
hin Frage des einzelnen Falles, ob diese weitergehende Bürg-
schaft vorliegt und man wird sie eben daran ursprünglich
erkannt haben, daß auch für den Eintritt des Bürgen die Form
der Wadiation oder der Vergeiselung gewählt wurde. Aber
für gewisse Anwendung haben sich doch feste Regeln gebildet.
Wie der gewöhnliche Prozeßbürge nicht mit seiner Person und
als Wadiator mit seinem Vermögen haftet, so wird umgekehrt
der Eviktionsbürge, der ein fiador de coto de bueyes ist und
so auch der fiador de coto de bueyes bei der Eheschließung
sowie bei der Bürgschaft des Klägers124) mit dem eigenen Ver-
mögen für die Erfüllung einstehen; damit stimmt dann auch,
daß diese fiadores als dauernd haftend gedacht werden125).
Ebenso müssen die Bürgen bei den Friedensverträgen allgemein
entweder Person oder Vermögen eingesetzt haben126).
Eine spätere Ausgleichung, die zum Teil weit hinaufgeht,
ist dann der verbreitete Satz, daß die Bürgen ganz allgemein
für die Erfüllung haften127).
124) § 4, N. 51, 52. — N. 131—134. — N. 9. 125) § 4, N. 53.
12fi) § 4, N. 207, N. 209: hierher (§ 5, N. 32) die Haftung von caple-
vadores, deren Körper eingesetzt ist.
12T) Das gilt in all den Fällen, in denen der Bürge nicht vor dem
Schuldner haftet, sondern neben ihm oder hinter ihm (oben N. 5 bis N. 8) :
hier kann der Bürge unmöglich noch Vermittler sein. — Deshalb wird
vom Recht von Soria, das dieser Gruppe angehört, ganz generell gesagt
(S. 152 b, I) a todas las cosas, que es tenudo el debdor, es tenudo el
fiador ; et aquel, que diö alguno por fiador a otro por redrar o por facer
sana la heredat o por complir otra cosa alguna a todas es tenido el
fiador; es ist freilich auffällig, daß unter den Beispielen der Prozeßbürge
nicht genannt ist. — Aber auf dasselbe geht wohl schon M. Port. leg. I,
S. 401, Tomar 1174: quamcumque fiaduriam quisquis fecerit, si eam non
compleverit, secundum directam (= directum; so auch die portugiesische
Uebersetzung) eandem petet.
Das altspanische Obligationenrecht in seinen Grundzügen. 63
Es ist dabei vor allem in Anschlag zu bringen, daß das
römische Recht, welches für die nicht germanische Bevölkerung
des Gotenreichs weithin in Geltung bleibt, nur eine Bürgschaft
kennt, bei der der Bürge für die Schuld haftet; es ist hier
gleichgültig, ob man von der Theodosianischen Form der gleich-
mäßigen Haftung des Hauptschuldners und des Bürgen oder
von der Justinianischen einer zurückgeschobenen Haftung des
Bürgen ausgeht, was beides das spanisch-römische Recht be-
stimmt haben könnte. — Allein auch noch ein anderer Weg,
der vom germanischen Recht her führt, steht offen; daß der
Bürge, der zahlt, vom Schuldner das Doppelte einheben kann,
wird, wie schon gesagt, bewirken, daß er gern in Vorschuß
geht. Von da aus ist aber eine Praxis nicht zu fern abliegend,
die ihn zwingt, in Vorschuß zu gehen, zumal ja der Bürge
durch Pfändung angehalten werden kann, auf den Schuldner
zu greifen. In der Tat glaube ich eine Spur eines solchen
Uebergangs gefunden zu haben; nicht alles, aber ein Teil der
Schuld wird nämlich einmal beim Bürgen vorweggenommen128).
Die Rolle des Bürgen als Vermittlers ist eine Form des
unbehilflichen Urrechts und entspringt Zeiten ohne geordnete
staatliche Vollstreckung. Je mehr dann eine solche allmählich
sich durchsetzt, umso mehr muß jene Vermittelung zurück-
treten, und was an Bürgschaft übrig bleibt, unterscheidet sich
dann nicht mehr von der des griechischen, römischen und
modernen Rechts.
V. Nunmehr kann man den Sinn der Wadiation zusammen-
fassen. — Sie zielt darauf ab, an Stelle der primitiven, obli-
gatorischen Haftung eine verfeinerte zu setzen. Während ur-
188) Yanguas III, S. 312 f., S. Sebastian : quicumque fidantiam tenet
pro suo habere, querat pignus ad suam fidantiam; et si fidantia(m) mostra-
verit pignus mortuum, quod valeat minus tertiam partem, accipiat illud
pignus et hoc de tertio in tertium diem; sed si bestiam vivam dederit,
accipiat illam vel antea vel postea; sed si debita plus valuerint 100 solidos,
mostret illi caballum vel mulum vel mulam vel equam vivam; et si suum
habere valet 100 solidos, mostret illi bestiam, que valeat 20 solidos.
64 Mayer.
sprünglich kein anderer Rechtszwang als der der Vernichtung
des säumigen Schuldners hinter der Obligation steht, schafft
die Wadiation jetzt eine ökonomische Befriedigung des Gläu-
bigers. Weiter aber steigert sie die Bedeutung des Vertrags;
während derselbe, sobald er sich vor die Friedlosigkeit des Kom-
pasitionensystems schiebt, nicht mehr als den Tatbestand eines
leichten Delikts für den Fall, daß das Gelübde gebrochen
wird, darstellt, daneben nur noch ein etwa gemachter Einsatz
von demjenigen, der sein Versprechen nicht hält, verwirkt
werden kann, führt die Wadiation zu einer Befriedigung des
Gläubigers in der Höhe dessen, was ihm versprochen ist.
Das Mittel aber, womit der Schuldner diese Wirkung herbei-
führt, ist das Universalgeschäft des ältesten Rechts, die Ein-
kleidung. Wie dasselbe später bei der Uebertragung von Grund-
stücken, ursprünglich aber nicht bei Uebertragung von Grund-
stücken als solcher, sondern eines Anwesens mit den damit
verbundenen Mobiliarrechten und Immobiliarnutzungen, ferner
bei der Eheschließung und bei der Adoption zur Anwendung
kommt, so auch zur Gläubigersicherung. Und diesmal kann man
in der Beschränkung der Wirkung auf das Mobiliarvermögen noch
deutlich erkennen, daß das Geschäft aus einer Zeit stammt, die
von Privateigentum an Immobilien nichts wußte — ein Ge-
sichtspunkt, der für die Rekonstruktion auch anderer Teile des
ursprünglichen Rechts, z. B. des ehelichen Güterrechts, von
entscheidender Bedeutung ist; hier darf das ja nicht weiter
verfolgt werden. — Sachenrechtliches Mittel zu obligatorischem
Zweck, das ist das Wesen der Wadiation. — Weil der Gläubiger
zum Eigentümer des Vermögens, wie es dem Schuldner gehört,
wird, so kann er mit Eigenmacht das Vermögen wegnehmen.
Aber regelmäßig besorgt zunächst der Gläubiger nicht diesen
Eingriff selber , sondern eine Zwischenperson ; der Bürge ist
deshalb eingeschoben. Der Bürge sorgt dafür, daß gerade nur
soviel weggenommen wird, als der Gläubiger zu fordern hat:
handelt es sich um ein Summenversprechen, so versilbert ersterer
dementsprechend Vermögensstücke des Schuldners. Er ist aber
Das altspanische Obligationenrecht in seinen Grundzügen. 65
auf der andern Seite auch Bote des Gläubigers, der ihm zeit-
weilig das Wadiationssymbol übergibt. Deshalb hat der Gläubiger
das Recht der Eigenmacht gegen den Bürgen, das allmählich sich
erweitert, wenn der Bürge verpflichtet wird, für den Schuldner
in Vorschuß zu gehen; ursprünglich versteht sich aber so etwas
nicht von selber und der Bürge unterliegt nur soweit der
Eigenmacht des Gläubigers, als er einkassiert hat. Es ist etwas
Zufälliges, was eines besonderen Geschäfts bedarf, aber freilich
später immer mehr in Vordergrund tritt, wenn der Bürge nicht
bloß vermittelt, vielmehr dann, wenn die Vermittelung mißlingt,
nicht nur mit der kleinen Geldstrafe wegen Bruch des Gelübdes
haftet, sondern auch mit seiner eigenen Person oder seinem
eigenen Vermögen für die Schuld sich einsetzt. — Die ursprüng-
liche Form erhält sich im Prozeßgelübde des Beklagten. Dieses
wird erst in diesem allgemeinen Zusammenhang vollkommen
verständlich. Dadurch, daß der Beklagte gutwillig den Kläger
sichert, biegt er die etwaige Zwangsvollstreckung aus der rohen,
alles zerstörenden Form der Friedlosigkeit in einen ökonomischen
Eingriff um, der nicht weiter als die Forderung reicht. Der
Gläubiger umgekehrt sichert sich dadurch eine wahre ökono-
mische Befriedigung; wird, wie häufig, an Gläubiger und Gericht
zusammen wadiert, so heißt das nichts anderes, als daß der
Gläubiger das dingliche Recht am Vermögen des Schuldners nicht
ausschließlich haben und etwa damit den öffentlichen Beamten
für seinen Bußanspruch zurückdrängen soll, wie das anderemale
geschieht. Die Vollstreckung durch den Bürgen oder, wo dessen
Zeit abgelaufen ist, weil er seine Befugnis nicht gebrauchte,
durch den Gläubiger selber macht zuletzt unter dem Einfluß
der Landfrieden der gerichtlichen Vollstreckung Platz, die ja
schon bisher für die calumnia zur Anwendung gekommen war.
Das Bild, wie ich es gezeichnet habe, entspricht voll-
kommen dem129), wie ich in meiner Untersuchung über Ein-
129) Dazu dann noch meine Ausführungen über die norwegische
krafa in meinem Geschworenengericht und Inquisitionsgrozeß S. 324 ff.
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. XXXIX. Band. 5
6(5 Mayer.
kleidung den Sinn der germanischen Wadiation überhaupt zu
deuten versucht habe130) und bestätigt damit deren Resultate.
Aber wie in allen bisher geschilderten Beziehungen das
gotisch-spanische Recht die primitivste Form des germanischen
Rechts darstellt, von der aus man am leichtesten die Verbin-
dung zu den andern arischen Rechten gewinnt, so auch hier.
Zunächst bietet das römische Recht manches, was —
freilich zertrümmert und entstellt — mit dem Typus der
Wadiation zusammenhängen wird. Daß dem Namen nach die
Stipulation auf eine Wadiation weist, ist schon ausgeführt;
und auch in der Funktion entspricht sich römische Stipulation
und Wadiation; denn wenn man sich in jene Zeit versetzt, in
der der zivile Kauf noch die mancipatio, also ein Barkauf
war und die Consensualverträge sich noch nicht durchgesetzt
hatten, dann ist die Stipulation die einzige Form, in der die
Erfüllung eines Versprechens unmittelbar erzwungen werden
konnte; sie wird daher z. B. zur vertragsmäßigen Begründung
einer Eviktionshaft verwendet, wie im Germanischen die Wa-
diation. Die verschiedenen Arten der Bürgschaft aber, die das
altrömische Recht in sich schließt, gehen vielleicht auf den
Gegensatz eines bloßen Mittelmanns und eines für Erfüllung
haftenden Bürgen zurück; daß die älteste Form der sponsores
eine ähnliche zeitliche Beschränkung der Funktion kennt131),
wie die spanische siraplex fideiussio, könnte auf einen Zusammen-
hang des Sponsor mit dem germanischen mediator führen. So
wie uns die Kachrichten vorliegen, hat freilich der Typus des
selbsthaftenden Bürgen alle anderen Formen verdrängt.
Im Griechischen132) aber kommt hier der Gegensatz zwi-
13°) Ich will noch kurz andeuten, daß das früher allgemein ver-
breitete, in Frankreich noch jetzt geltende Konkursvorrecht der Wechsel-
gläubiger vor den gewöhnlichen Gläubigern darauf beruht, daß die
Wechselgläubiger durchweg — besonders in bezug executio pareta —
den Gläubigern aus Wadiation gleichgestellt werden, diese aber ein ding-
liches Recht am Vermögen des Schuldners haben.
131) Gaius III, 12, 1.
138) Parts ch a. a. 0. S. 27 f., S. 341 f.
Das altspanische Obligationenrecht in seinen Grundzügen. (37
scheu ßeßauoiTJc und l^v>rff\<; in Betracht. Denn der ßsßmcoTTJ«;
entspricht soweit dem Bürgen des germanischen Rechts, als
der Gläubiger allein auf ihn, nicht auf den Schuldner den Zu-
griff hat. Ebenso hält sich der Gläubiger ursprünglich allein
an den syyotjttjc. Während nun der ßeßföuotnjc zur Sicherung
einer Eviktionshaft verwendet wird, also in den Fällen, wo
der Bürge notwendig eigenes Vermögen einsetzen muß, erscheint
der sY'pTrj'njs ursprünglich gerade als der Prozeßbürge und sein
Name weist darauf, daß er ein Symbol entgegengenommen
hat133). So könnte der Iyyoyjttjs von Haus aus der bloße
Mittelmann sein, der freilich dann, ähnlich wie im römischen
Recht, allmählich mit dem selbsthaftenden Bürgen vermengt
wurde 134).
133) § 5, N. 64.
134) Ich habe mich im vorausgehenden nicht über das geäußert,
was das spanische Obligationenrecht zur augenblicklichen Modelehre der
Germanisten, nämlich zu der über Schuld und Haltung austrägt. Das
hat sich ja gezeigt, daß auch im Spanischen, wie in allen germanisch be-
einflußten Gebieten des Lateinischen, das Wort debitor den Gläubiger so
gut wie den Schuldner bedeuten kann (§ 6, N. 50). Und klarer als irgendwo
anders ist hier das System der indirekten Pressionen, welches den großen
Brinz zu seinem Begriff der Haftung als dem Gegensatz von Verbind-
lichkeit und Schuld geführt hat. Was aber die Nachfolger daraus ge-
macht haben nnd was man jetzt als einen Triumph rechtsgeschichtlicher
Forschung (Hübners Grundzüge des deutschen Privatrechts S. 408 f.)
bezeichnet, trifft in Wahrheit nicht zu und ist nichts anderes als die
stets wiederkehrende Verwechslung von Bildern mit der juristischen
Wirklichkeit. Eine scharfsinnigere Zeit wird die gegenwärtige Vor-
stellung von der Schuld zusammen mit der von der Genossenschaft als
Musterbeispiele einer leeren Phraseologie anführen.
II.
Die Gemeinde der Bänaro.
Ehe, Verwandtschaft und Gesellschaftsbau eines Stammes im Innern
von Neu-Guinea.
Aus den Ergebnissen einer Forschungsreise 1913 — 15.
Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte von Familie und Staat.
Von
Dr. R. Thurnwald, Halle a. S.
(Schluß.)
Inhalt. Seite
5. Gevatterschaft in der gleichen Generation ..... 69
6. Gevatterschaft in verschiedenen Generationen ... 71
7. Sippe und Klan (mit Tafel) 76
8. Nacheheliche Beziehungen 84
9. Reziproke, komplementäre und diminutive Bezeich-
nungen 87
10. Die Arten von Verwandtschaftsnamen 92
11. Altersklasse . 94
12. Blut und Heirat 101
13. Geradlinige und Seitenverwandte 105
14. Geschlecht des angeredeten Verwandten . . . , . 106
15. Geschlecht des Sprechers 107
16. Geschlecht des vermittelnden Verwandten 108
17. Unterschied des Lebensalters in der Generationsschicht 108
18. Zusammenfassung 110
III. Teil. Deutungen und Zusammenhänge 111
A. Allgemeine Bedeutung der Verwandtschafts-
namen 111
1. Die soziale Seite 111
2. Sprachliche Beziehungen 117
3. Psychologische Gesichtspunkte für ein klassifikatorisches
Verwandtschaftssystem 121
4. Einrichtungen' und Ausdrücke 127
5. Der sozialgeschichtliche Vorgang 129
6. Das Problem der Uebertragung 131
Die Gemeinde der Banaro. 69
Seite
B. Das Verwandtschaftssystem und der Gesell-
schaftsbau der Banaro. 135
1. In ihrer Wechselbeziehung heute 135
2. Sozialgeschichtliche Ableitung aus den Verwandtschafts-
namen der Banaro 138
3. Ursprung und Schicksal der Klanhalbierung .... 147
C. Aehnliche Einrichtungen und Verwandtschafts-
Systeme bei anderen Völkern und ihre
Stellung zum Bdnaro-Sy st em 155
1. Frauentausch und nebeneheliche Einrichtungen . . . 155
2. Verwandtschaftsnamen 177
3. Theorien 180
D. Der Verband der Banaro als politisch es Gebilde 189
1. Der Begriff „Staat" 189
2. Der primitive Staat , 194
E. Biologische Gesichtspunkte 204
F. Ethische Erwägungen 210
Schluß 218
Die im Text vorkommenden Hinweise auf S. 363 — 472 beziehen
sich auf das 3. Heft des 38. Bandes dieser Zeitschrift.
5. Gevatterschaft in der gleichen Generation.
Für die Unterscheidung der Seitenverwandten kommt vor
allem der gegenseitige Altersunterschied in Betracht. Das
gilt nicht nur unter Brüdern und Schwestern, sondern auch
zwischen Vettern und Basen. Es wird für diese Verwandten
als wichtigeres Unterscheidungsmerkmal angesehen denn die Zu-
gehörigkeit zur Sippe des Klan. Die Vetterschaft wird nicht
nach der Anzahl der zwischen den Verwandten liegenden Ge-
burten unterschieden und nach Graden abgestuft. Die Ab-
stammung von bestimmten Eltern ist nur wichtig für den ver-
hältnismäßigen Zeitpunkt der Geburt, nämlich für die Fest-
stellung, welches Elternpaar älter und welches jünger ist.
Dieser Unterschied zwischen den Eltern ist für den Alters-
rang der Schwäger und Vettern entscheidend.
70 Thurnwald.
Einige Besonderheiten sind auf die Heiratseinrichtungen
zurückzuführen, nämlich auf die Stellung des Geistkindes, das
natürlich seinen Halbgeschwistern gegenüber mit einem be-
sonderen Namen ausgezeichnet wird.
Die Halbgeschwister nennen das männliche Geistkind
rügemnin, ohne daß dabei unterschieden wird, welchem Ge-
schlecht der Sprechende angehört. Das Wort hängt selbst-
verständlich mit rü = " der Mutter Vater" zusammen. Die wesent-
liche Bedeutung von rü scheint in der Beziehung von Kindern
zu einer für die Kinder älteren männlichen Person auf Seiten der
Mutter zu liegen. In einem Fall ist es der Vater der Mutter,
im anderen ihr Kind, das Geistkind. Der Ausdruck rügemuin
scheint soviel zu bedeuten wie „der jüngere rüu . Der Geist-
sohn würde somit als eine Art „jüngerer Vater der Mutter"
gelten.
Ist das Geistkind eine Tochter, so wird sie von ihren
Stiefgeschwistern unterschiedslos manamah genannt. Diese
Bezeichnung ist von mu-mäna abzuleiten, dem Namen für die
verheiratete Schwester oder Stiefschwester des Vaters, d. i. des
Mutterbruders Gattin. Dadurch wird die Geisttochter in die
Altersklasse ihres Stiefvaters eingereiht. Den Ausdruck wird
man als „die kleine (Stief-)Schwester des Vaters" übersetzen
können. So dürfte wohl von den Kindern das Verhältnis des
Vaters zur Geisttochter seiner Gattin aufgefaßt werden (vgl.
auch oben S. 459 und unten S. 78). Die übrigen Halbgeschwister
werden als m'ean und iuk bezeichnet, also in das Kindverhältnis
gerückt 1).
Die übrigen Kinder benennen einander je nach ihrem
1) Eine Unterscheidung nach älteren und jüngeren Brüdern kommt
außer in den südslawischen Sprachen auch in Sizilien vor, in verschie-
denen Gegenden Italiens, Spaniens und Portugals. Vielfach ist dabei
die Anlehnung der Bezeichnung für den älteren Bruder oder die ältere
Schwester an die Benennungen für „Vater" und „Mutter" charakte-
ristisch, wie Ernst Tappole t, „Die romanischen Verwandtschafts-
namen", Diss. Zürich, 1895, S. 59 ausführt.
Die Gemeinde der Bänaro. 71
gegenseitigen Alters- und Geschlechtsverhältnis. Das Deter-
minativ der Weiblichkeit wird weiter noch nach dem Geschlecht
des Sprechers differenziert : in wenigen, wenn ein Knabe, menägi,
wenn ein Mädchen spricht. Auffällig ist hierbei, daß nicht,
wie sonst in Melanesien, besondere Ausdrücke nur für die
Brüder, andere nur für die Schwestern und wieder andere nur
zwischen Brüdern und Schwestern üblich sind *). Zwar findet
eine solche Unterscheidung mit Hilfe der Determinative statt.
Die Determinative werden aber noch zu verschiedenen anderen
Zusammensetzungen gebraucht und stellen sich daher als späte
beschreibende Ausdrücke dar. Da aia und nein nur „älter"
und „jünger" bedeutet, so fehlen völlig besondere Ausdrücke
für die eigentliche geschwisterliche Verwandtschaft. Die ganze
Kindergeneration faßt sich untereinander für beide Klanhälften
als Einheit auf und unterscheidet sich dann nur nach dem
relativen Alter. Das Gefühl der Zugehörigkeit zu etwas wie
einer elterlichen Familie ist darin nicht enthalten. Es fehlen
namentlich auch die sonst so strengen Meidungsvorschriften
unter den Geschwistern verschiedenen Geschlechts2), mit denen die
Trennung der verschiedenen Benennungen unter ihnen zweifel-
los zusammenhängt. Den Vettern aus dem anderen Klan
gegenüber wendet man nur, wenn man von ihnen als Gesamt-
heit spricht, besondere Ausdrücke an, die aber konform den
Unterscheidungen unter den Geschwistern aus den Bezeichnungen
des relativen Altersverhältnisses abgeleitet sind. Dieser ver-
hältnismäßige Altersunterschied wird aber nicht an den Vettern
selbst, sondern nach den Eltern beider in Betracht kommenden
und ineinander heiratenden Klans gemessen.
6. Gevatterschaft in verschiedenen Generationen.
Das Tauschsystem bringt mit sich, daß gewisse Abgren-
zungen verwischt werden. Es können die mütterlichen Ver-
1) Vgl. Rivers, History II, S. 14.
2) Vgl. Rivers, History II, S. 152.
72 Thurnwald.
wandten auch über den Vater gerechnet werden und umge-
kehrt. Da die Schwester des Vaters die Gattin des Bruders
der Mutter wird, ist somit der Bruder der Mutter auch der
Gatte der Schwester des Vaters. Daher ist es begreiflich, daß
für gewisse, durch diese doppelte Verschwägerung verbundene
Verwandte besondere Namen eingeführt sind. Im übrigen wird
aber für die untereinander nicht in dem besonderen Tausch-
verhältnis stehenden Personen unterschieden , ob sie durch
den Vater mit dem eigenen Klan zusammenhängen oder durch
die Mutter verwandt sind.
Was die Verwandten auf väterlicher Seite anbelangt, so
bezeichnet ein Junge den Bruder seines Vaters auch als „Vater",
dessen Gattin als „Mutter". Die männlichen Mitglieder der
Altersklasse des Vaters werden zu „Vätern", deren Frauen zu
„Müttern". Der Junge nennt den Stiefbruder seines Vaters oder
den Bruder seines Stiefvaters mun-ata, nämlich seinen „Stief-
vater", für dessen Gattin gebraucht er das Wort mu-mäna,
den Ausdruck für „Stiefmutter". Die Verwandtschaftsbande,
die durch des Vaters Bruder oder Halbbruder herbeigeführt
werden, unterliegen der gleichen Behandlung, wie wenn sie
durch den Vater selbst bestünden. Das ist der Fall sowohl,
wenn die in Frage kommende Persönlichkeit männlichen, wie
wenn sie weiblichen Geschlechts ist. Umgekehrt sind die Neffen
und Nichten bekannt unter der Benennung „Sohn" und
„Tochter". Die Kinder des Stiefbruders werden von des Va-
ters Kindern als „älter" oder „jünger" angeredet, je nach dem
verhältnismäßigen Altersunterschied zwischen Vater und dessen
Stiefbruder.
Des Vaters Schwester wird auf zweierlei Weise benannt,
je nachdem sie gegen des Kindes Mutter ausgetauscht worden
ist oder nicht. War das nicht der Fall, so wird auch sie als
„Mutter" und ihr Gatte als „Vater" angeredet, während diese
ihre Neffen und Nichten als „Söhne" und „Töchter" bezeichnen,
genau so, wie dies von Seite des väterlichen Bruders und seiner
Gattin geschieht. Dabei darf man nicht außer acht lassen,
Die Gemeinde der Bänaro. 73
daß die Schwester des Vaters ja durch ihre Verheiratung in
einen anderen Klan eintritt, und ihr Gatte diesem fremden
Klan angehört. Trotzdem werden diese Angehörigen eines
fremden Klans „Vater" und „Mutter" benannt.
Die Beteiligung der Geschwister der Eltern und deren
Gatten an den Vater- und Mutterbezeichnungen können zweifel-
los zur Stützung der Theorie einer früheren „ Gruppenehe u bei
dem in Rede stehenden Stamm verwendet werden. Namentlich
im Zusammenhang mit der Leviratsehe (vgl. S. 163 ff.), die hier
und bei benachbarten Stämmen gefunden wird. Daß auch die
aus dem Klan geschiedene (nicht ausgetauschte) Schwester des
Vaters an denselben elterlichen Beziehungen teilnimmt, könnte
man als Hinweisung auf einen Zustand ohne Klanexogamie
interpretieren.
Ist die Schwester des Vaters aber gegen die Mutter aus-
getauscht worden, so kommen ganz andere Benennungen zur
Anwendung. Die Beziehungen werden in verfeinerter Weise
noch weiterhin im Zusammenhang mit der Geistkindschaft unter-
schieden. Ein Geistkind nennt nämlich die (ausgetauschte)
Schwester seines Stiefvaters mägendon (= Brudersgattin), wäh-
rend ein gewöhnliches Kind die (ausgetauschte) Schwester seines
Vaters (mu)mäna (der ältere Ausdruck für die zur Gattin des
Mutterbruders gewordene Vaterschwester) heißt. Auch in dem
umgekehrten Verhältnis treten ganz andere Bezeichnungen ein.
Die Schwester des Stiefvaters nennt ihres Bruder Stieftochter,
d. h. also die erste Geisttochter der Schwester ihres Gatten
ebenfalls mixgenäoh (= Brudersgattin), ist dieses Geistkind männ-
lich, so redet sie es als küdi (= des Gatten Bruder) an. Man
sieht daraus, daß die hier in Beziehung tretenden Personen
gleichwie zur gleichen Altersklasse gehörig einander gegen-
übertreten. Und zwar auf Grund des Schwägerverhältnisses.
Das hängt wohl damit zusammen, daß der Gatte erst nach der
Geburt des Geistkindes in seine ehelichen Rechte tritt und,
von väterlicher Seite gerechnet, das Geistkind tatsächlich der-
selben Generation angehört wie seine eigene Mutter und sein
74 Thurnwald.
Stiefvater. Jedenfalls spricht die Anwendung des Ausdrucks
mägendon, der sonst von einem Mann für seine im Austausch
gegen seine Frau gegebene Schwester angewendet wird dafür,
daß die Berechnung nach dem Geistvater ausschlaggebend ist
für die Einordnung in die Generation.
Daß das gewöhnliche Kind seines Vaters ausgetauschte
Schwester als (mu-)mäha (= Mutterbrudersgattin) bezeichnet
und nicht wie die nichtausgetauschte Schwester „Mutter" nennt,
weist darauf hin, daß diese Vaterschwester nicht in ihrer Eigen-
schaft als väterliche Blutsverwandte wichtig erscheint, sondern
vielmehr als die Gattin des in dem System hervortretenden
Mutterbruders. Die Blutsverwandtschaft tritt gegenüber der
durch die Heirat erworbenen Schwägerschaftsbeziehung zurück.
Umgekehrt aber nennt sie, wie alle gewöhnlichen Tanten und
Onkel, das Kind (das kein Geistkind ist) „Sohn" oder „Tochter".
Der Mutterbruder, der auch bei den Zeremonien eine
wichtige Rolle spielt (vgl. S. 386 ff.), ist der wichtigste mütter-
liche Verwandte. Bei der Bezeichnung wird nach dem Ge-
schlecht des Sprechers unterschieden: ein Neffe nennt ihn
api, eine Nichte Jcüdi. Das Wort api ist auf diese einzige
Verwandtschaftsbeziehung des Neffen zu einem Mutterbruder
beschränkt. Diese Tatsache allein beweist die Bedeutung, die
diesem Verwandten als Beschützer der Mutter und Vertreter
ihres Klans eingeräumt ist.
Dem Sohn der Schwester bleiben immer gewisse Rechte,
auch in höheren sozialen Gestaltungen, namentlich in Verbin-
dung mit dem Häuptlingstum und dem Totenkult, vorbehalten 1).
Daß ihm nicht die gleiche Rolle und Bedeutung der
Nichte gegenüber zufällt, geht schon aus der andersartigen
Bezeichnung hervor, die mit dem Ausdruck für des Gatten
Bruder einer Frau übereinstimmt. Rudi ist ein Wort, das nur
von einer Frau angewendet wird. Sie bezeichnet damit noch,
*) Vgl. Hocart, Chief tainship and the sisters son in the Pacific.
Am. Anthr. 17, 1915, S. 631 ff., bes. S. 645, und Ha hl, Globus 91, 1907,
S 313, bezüglich des mittleren Neumecklenburg.
Die Gemeinde der Bänaro. 75
wie oben erwähnt, den Stiefsohn des Bruders, d. h. also das
Geistkind der (gegen die sprechende Frau selbst ausgetauschten)
Schwester ihres Gatten, ferner auch den Vater der jüngeren
Mitgattin ihrer Mutter. Der Ausdruck wird von den Frauen
also zur Bezeichnung eines verschwägerten erwachsenen Mannes
in einem anderen Klan, aber ohne genaue Unterscheidung der
Generation angewendet. Auch für den nicht innerhalb einer
Tauschgruppe stehenden Bruder der Mutter wird der Ausdruck
Jeudi gebraucht. Sowohl api wie ludi bezeichnen seinen Neffen
und seine Nichte als „seinen Sohn" und „seine Tochter".
Auch der Schwester der Mutter (wie der des Vaters) wird
die Bezeichnung „Mutter", ihrem Gatten die Benennung „Vater"
zuteil. Wenn dieses Paar seine Neffen und Nichten ebenfalls
Sohn und Tochter heißt, fügt es, um die Verknüpfung über
den Weiberstamm anzudeuten, die Determinative rimenigenu
oder „menägiu den Worten Sohn oder Tochter hinzu. So er-
scheinen diese als „Weiber-Sohn" oder „Weiber-Tochter".
Fast in allen primitiven Verwandtschaftssy steinen ist die
Stellung des Mutterbruders eine privilegierte. So auch bei
den alten Indogermanen1).
J) Vgl, 0. Schrader, Die Indogermanen, 1916 (Quelle & Meyer),
S. 100 ff. — Es ist überraschend, daß auch hier die Bezeichnung für den
Mutterbruder mit der des Vater vaters (*avo-s = lat.: avusj ursprüng-
lich zusammenfällt, eine Übereinstimmung, die nicht ohne Bedeutung ist,
wie weiter unten, im III. Teil dieser Arbeit ausgeführt wird (vgl. S. 86, 142).
Bezüglich der Stellung des Mutterbruders bei den Germanen sei
folgende Stelle aus Tacitus, Germania, Kap. 20 angeführt: „Die Söhne
der Schwestern genießen bei dem mütterlichen Oheim dieselbe Ehre wie
bei ihrem Vater. Einige halten diese Blutsverwandtschaft sogar für noch
heiliger und enger (als die Verwandtschaft des Sohnes mit dem Vater)
und fordern bei der Empfangnahme von Geiseln lieber Schwestersöhne,
als ob diese die Gesinnung der Familie fester und in weiterer Ausdeh-
nung bänden." Dennoch herrscht, wie Tacitus hinzufügt, Vaterfolge. —
Bezüglich der Griechen sei daran erinnert, daß bei Homer der Mutter-
bruder den Namen für das Kind der Schwester gibt (Odyssee XIX, 403).
— Beachtenswert ist ferner der Zusammenhang, auf den Hocart auf-
merksam macht: Der Mutterbruder des Königs wird aufFiji als Herold
76
Thurnwald.
7. Sippe und Klan.
Auf der folgenden Tafel erscheinen die Verwandtschafts-
namen nach ihren Beziehungen zu Sippe und Klan gruppiert.
Tafel.
I. Innerhalb des Klans.
a) F a milienbeziehungen ohne Rücksicht auf die Spaltung in zwei
me-mean Sohn
mi-hiö Vater
mu-möna Gatte
mu-mdia Mutter — Gattin
ma-ii'ik Tochter
Klanhälften :
mi-tjöin Vaters Vater
ma-dia älterer Geschwister
me-nein jüngerer Geschwister
m-enünumuin jüngst geborenes
b) Beziehungen unter den Klanhälften = S i p p e n :
mu-ndu Sippenfreund
mu-ndma Sippenfreundin
m-mabo Weihefreund
m-dma Weihefreundin
m-dmi jüngere Mitgattin
m-ämo der Mutter Mutter
IL Zwischen
mu-näiepui Schwiegereltern
mu-do erstgeborener Schwager
(Geistkind)
ma-täini jüngerer Schwager
ma-änaro älterer Schwager
ma-rä Vater der Mutter
mu-tdta Vater der Gattin
mu-müeka Gatte der Tochter
(Schwiegersohn)
mu-äpi Bruder der Mutter (in be-
zug auf einen Knaben)
mu-küdi Bruder des Gatten (ihr
verheirateter Bruder)
mo-umoh Kind der Tochter
m-öro Geistgatte
mun-dtä Stiefvater
mu-mänamah erstgeborene Schwe-
ster
mu-r'ügemuin erstgeborener Bruder
den Klans.
mu-mäih Mutter des Vaters
m-eiämah ihre Schwägerin
mu-mäha Schwester des Vaters
mc-niginik Mutter der Gattin
mu-ngöm Schwiegertochter
mu-mägendoh die Gattin seines
Bruders (seine verheiratete
Schwester)
maäitji älterer Vetter oder Base
me-tiana jüngerer Vetter oder
Base.
und Gesandter bei fremden Stämmen verwendet, nämlich bei den Ver-
wandten seiner Sippe („Fijian Heraids and Envoys", Journ. R. Anthr.
Inst. 43, 1913, S. 109 ff., 115).
Die Gemeinde der Bänaro. 77
So reichlich von dem Ausdruck „Mutter" Gebrauch gemacht
wird, er findet keine Anwendung auf Frauen eines anderen
Klans mit Ausnahme der Schwester der Mutter. Diese ist aber
nach orthodoxer Eheschließung mit des Vaters Bruder ver-
bunden, gehört also „rite" dem gleichen Klan an. Der Aus-
druck für Vater, hiö, ist zunächst auf die Verwandten in der
eigenen Sippe beschränkt, wenn er auch in der Zusammen-
setzung moro-mihio, für den „Geistvater", noch auf Angehörige
der anderen Klanhälfte Anwendung findet. Schließlich wird er
aber auch für den Gatten der Schwester des Vaters gebraucht,
der jedenfalls einem anderen Klan angehört. Nio ist der Gatte
und Beschützer der Mutter.
Anders die Bezeichnungen der Nachkommenschaft, für die
die Schranken der Sippenzugehörigkeit hinwegfallen und nur
noch die des Klans bestehen bleiben, indem die Kinder des
verschwägerten Klans als „Vettern" bezeichnet werden. Erst
mit dem Heranwachsen der Nachkommenschaft werden die
Gleichaltrigen im Klan ausgesondert und die Geschlechtsreifen
der Weihe zugeführt. Schon mit Hinsicht darauf ersieht man
die Bedeutung, welche dem relativen persönlichen Alter unter den
Kindern zukommt, denn es entscheidet über die frühere oder
spätere Aufnahme zu den Weihezeremonien, um die sich die
Aufmerksamkeit und der Ehrgeiz der Klankinder konzentriert.
Die Enkelbezeichnung uma ist die von Seite der Eltern
der Mutter gebrauchte und hängt wohl mit nam oder man,
der Fremde, der Andere, zusammen. Das Wort bezeichnet also
die Kinder in anderem fremden Klan, in dem die Tochter ein-
getreten ist.
Die Beziehungen unter den beiden Klanhälften, die wir
Sippen nennen, werden durch das Verhältnis der mundü (Sippen-
freund) (vgl. oben S. 383 ff.) gekennzeichnet. Sie gehören der
gleichen Alters- und Initiationsklasse an. Ihre Frauen nennen
einander mu-nama. Ein mundü nennt die Frau seines „Sippen-
freundes" mundü- mumäia (Sippenfreund- Gattin-Mutter) oder
mundü-miniak (Sippenfreund-Frau), während diese den be-
78 Thurnwald.
treffenden Mann als mundü-mumöna (Sippenfreund-Gatte) oder
mamänu-minnöna (Sippenfreundin-Gatte) bezeichnet.
Hieraus folgt, daß Sippenfreund und Sippenfreundin, wie
aus den zeremoniellen Vorgängen zu erwarten ist, sich als
Gatte und Gattin bezeichnen. Werden diese Bezeichnungen
angewendet, wird wohl auch sonst auf bestehende oder bestan-
dene sexuelle Beziehungen unter den betreffenden Personen zu
schließen sein.
Das Verhältnis des Geistvaters wurde schon im Absatz
erörtert, der die Vaterschaft behandelt. Hier muß nur noch
darauf aufmerksam gemacht werden, daß die sexual-rituellen
Beziehungen zur anderen Sippe immer nur mit einer Person
und einer bestimmten Altersklasse bestehen. Erst wenn die
eine Beziehung erloschen ist, tritt die andere an
ihre Stelle (vgl. S. 397).
So ist das zunächst unter den gemeinsam der Jünglings-
weihe zugeführten Knaben beider Klanhälften der Fall, die
sich m-'ambo nennen und ebenso unter den Mädchen, die m-äma
zueinander sind. Aus ihnen werden mundü und munama. Wenn
der Gatte den Einweiher seiner Frau als mo-g.ro, Geist, Kobold,
bezeichnet und der Einweiher den Gatten einfach als mundü
me-meahy Sippenfreundsohn, behandelt, so zeigt dieser Umstand,
daß zwischen diesen Personen kein besonderes Verhältnis besteht.
Im übrigen benennen sich die Angehörigen der beiden
Klanhälften (Sippen) nach ihrer Stellung, die sie zu dem Sippen-
freund in ihrer eigenen Hälfte haben und setzen das Deter-
minativ mundü, wenn zur Unterscheidung nötig, hinzu. Im
gewöhnlichen Gespräch wird es fortgelassen. Die Klassifizierung
als älter oder jünger hängt von dem Verhältnis der beiden
Sippenfreunde zueinander ab. Dabei kommen nur die mundü
in Betracht, nicht etwa die Geistväter, nachdem letztere ihre
mundü- schuft an ihre Söhne abgegeben haben. Auf diese
Weise werden die Beziehungen unter den Angehörigen der
beiden Sippen auf Grund der Verwandtschaft zum mundü der
eigenen Hälfte geregelt.
Die Gemeinde der Banaro. 79
Mu-ndma werden wir zweifellos richtig mit „die andere"
übersetzen können. Ob man mti-ndü mit dop = Dorf zu-
sammenbringen darf, und ndü etwa als „Siedlungsgenosse
wiedergeben, möchte ich vorläufig dahingestellt sein lassen.
Noch zweierlei wechselseitige Beziehungen unter den An-
gehörigen der Klanhälften erfordern Beachtung. Die eine be-
trifft die des Knaben zu seiner „Sippentante8, nämlich zu der
Gattin des Sippenfreundes seines Vaters oder Stiefvaters,
(m1)1 oder 3 — W2. Wie (S. 395) erwähnt, liegt dem Jungen
nach Versterben des „Sippenonkels" , nämlich des Sippen-
freundes seines Vaters oder Stiefvaters, die Sorge für dessen
Witwe, die erwähnte „Sippentante", ob. Er tauscht mit ihr
die Bezeichnungen für eheliche Beziehungen aus, so wie seine
Schwester mit dem Sippenfreund ihres Vaters oder Stief-
vaters — eventuell ihres Geistvaters — (vgl. oben S. 464). Der
andere Fall bezieht sich auf den Austausch der Benennungen
zwischen der Geisttochter und der Gattin des Geistvaters dieses
erstgeborenen Mädchens, also (w2)1 — <pv Sie bezeichnen einander
als mamohab, d. h. kleine Sippenfreundin. Die Diminutivform
wird hier unter den extremen Altersklassen gebraucht. Die
gebrauchten Benennungen lassen sexuelle Beziehungen unter
den ungleichen Geschlechtern derselben Verwandtschaft ver-
muten. In der Tat haben wir festgestellt, daß der Geist-
vater (JLt seine eigene Geisttochter (w2)1 maiohab, „Frauchen",
„kleine Gattin" nennt, sie ihn mömohab, „Männchen", „kleiner
Gatte". Ob hier ernstlich sexuelle Beziehungen in Frage
kommen, konnte ich nicht feststellen. Den Gebrauch der
Diminutiva möchte ich vielmehr dahin deuten, daß solche
sexuellen Beziehungen in diesem Falle „potentiell" innerhalb des
Systems liegen, aber praktisch nicht verwirklicht werden.
Auch der Bruder des Mädchens tauscht mit der Gattin des
Geistvaters ebenfalls die Benennungen „kleine Gattin" und
„kleiner Gatte". Die Bezeichnung ,,manhohabu , „kleine Sippen-
freundin", wird im allgemeinen unter weiblichen Angehörigen
der äußersten Altersklassen gewechselt, wie unter den Ver-
80 Thurnwald.
tretern ungleichen Geschlechts die Bezeichnung für (kleiner)
Gatte oder (kleine) Gattin. Somit betrachten sich alle An-
gehörigen der einen Klanhälfte, soweit ungleichen Geschlechts,
als die (wenigstens „potentiellen") Gatten der Angehörigen
der anderen Hälfte, während die Vertreter des gleichen Ge-
schlechts sich als „Sippenfreunde" ansehen. Heute ist diese
„potentielle" Gattenschaft auf rituelle Funktionen und auf be-
stimmte Personen beschränkt. Aber es scheint doch nach allem
höchst wahrscheinlich, daß diese Individualisierung der
sexuellen Beziehungen unter den beiden Klan-
hälften verhältnismäßig jungen Datums ist, so daß wir hier
die Spuren noch nicht lange verblaßter nebenehelicher Zustände
unter den Gruppen der beiden Klanhälften vermuten dürfen.
Wenden wir uns nun den unter den Klans gebräuchlichen
Verwandtschaftsnamen zu, so fällt eine bemerkenswerte Ver-
schiedenheit gegenüber den unter den Sippen verwendeten Be-
zeichnungen auf. Die Beziehungen unter den Klans werden
durch Individuen getragen und zwar durch die ausgetauschten
Frauen. Dieser Austausch wird von Fall zu Fall vereinbart.
Anders verhielt es sich bei den Sippen. Bei diesen fanden
wir die Beziehungen traditionell: sie werden vom Vater auf
den Sohn oder richtiger auf den Sohn seiner Frau vererbt, und
als vermittelnde Träger der gegenseitigen Beziehungen erscheint
die Sippenfreundschaft unter den Männern.
Die Bedeutung der Ausdrücke für die Beziehungen ver-
schiedener Klanangehörigen ist gewöhnlich scharf umschrieben.
Die Worte beziehen sich nicht auf allgemeine Gruppen, son-
dern sind auf ganz bestimmte individuelle Beziehungen gemünzt.
Die Beziehungen unter den Klans gehen von den die Ver-
einbarung schließenden Schwiegereltern aus, die sich gegen-
seitig näiepui nennen. Das Wort ist wohl von mala oder
haia, Mutter, Gattin, herzuleiten. Es würde etwa den Mutter-
schoß bedeuten. Das wird deshalb hervorgehoben , weil für
den die Frau eintauschenden Klan die „Schwiegereltern" eben
immer die Eltern der Frau sind. Das in den Klan neuauf-
Die Gemeinde der Bänaro. 81
genommene Mädchen wird hier von der älteren Generation,
sowohl vom Schwiegervater wie von der Schwiegermutter als
mu-ngöm bezeichnet. Die Aehnlichkeit mit mu~mona, voc. :
mo = Gatte, ist auffallend, n und ng wechselt mit m, wie
z. B. naia und mala. Wir erinnern uns (S. 384), gehört zu
haben, daß „eigentlich" der Schwiegervater berufen ist, die
Schwiegertochter in das Eheleben einzuführen *), und daß er
nur seine Rechte an den Sippenfreund zediert.
Als Schwiegertochter, mu-ngöm, wird auch die Gattin des
Stiefsohns eines Mannes, ebenfalls die Frau aus einem anderen
Klan bezeichnet.
Ngöm ist wohl aus nige (Weib) und nom (fremd) zu-
sammengezogen, die Schwiegertochter würde also, was der
Klanexogamie vollständig entspricht, als „fremdes Weib" be-
zeichnet werden 2).
Die Schwester, die gegen seine Gattin ausgetauscht und
nun in den anderen Klan aufgenommen worden ist, nennt der
Bruder hinfort magendoh oder mandoh. Es ist ein Wort, das
vermutlich mit der Bezeichnung „weiblich" zusammenhängt.
Dieser Ausdruck ist ausschließlich auf Beziehungen unter ver-
schiedenen Klans beschränkt. Unter magendoh wird überhaupt
eine in einem anderen Klan verheiratete Frau verstanden, wie
z. B. auch „die Gattin des Stiefbruders der Mutter" eines
Mannes oder einer Frau, und seine oder ihre Schwester des
Stiefvaters, sowie sonst eine Schwägerin, wie die Gattin des
*) Bekannt ist das Liebesverhältnis zwischen Schwiegervater
und Schwiegertochter bei den Russen, das mit dem Namen snocha-
cestvo belegt wird (Schrader, West. Monatshefte 96, 128). Diese Sitte
wird auch von den Osseten berichtet und findet sich in Spuren auch
bei den Germanen (Eduard He rm an n , Beiträge zu den idg. Hochzeits-
gebräuchen, in den „Idg. Forschungen" 17. Bd., 1905, S. 383). Heiraten
der Stiefmutter bei den Angelsachsen werden noch in späteren Zeiten er-
wähnt (vgl. auch Schrader, Die Indogermanen, 1916, S. 90 und 106).
2) Die Bezeichnung der Schwägerschaft als der „Fremden" z. B.
auch in den russischen Volksliedern; vgl, 0. Schrader, Die Indo-
germanen, 1916, S. 96 und 103.
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. XXXIX. Band. 6
82 Thumwald.
Bruders eines Mannes oder die Geisttochter der Schwester des
Gatten einer Frau. Die ausgetauschte Frau benennt ihren
Bruder nun hidi, mit einem schon S. 73 erörterten Ausdruck,
der auch nur unter Individuen verschiedener Klans gebraucht wird.
Der Bruder nennt seine anderweitig verheiratete Schwester,
die nicht gegen seine Gattin ausgetauscht wurde, iukröin,
zweifellos ein von hik, Tochter, abgeleitetes Wort. Die neu
aufgenommene Schwägerin wechselt mit der Schwester ihres
Gatten die Bezeichnung m-eiama(h), ob sie gegen sie ausge-
tauscht wurde oder nicht. Sie gehört ja, wenn verheiratet, jetzt
jedenfalls einer anderen Sippe an als der, in welche die neue
Frau eingetreten ist. In dem Worte dürfte wohl ama „Weih-
genossin", stecken. Näma heißt die Sippenfreundin, eiäma die
Klan- Schwägerin.
Das Wort mäha, das mit Tante übersetzt werden kann,
wird im Falle einer Tauschheirat, von einem Kind für des Va-
ters Schwester, die zur Gattin des Mutterbruders geworden
ist, gebraucht. Aber auch auf ähnliche Beziehungen der
Frauen derselben Sippe, sei es derselben oder einer älteren
Generation, die aber in einem anderen Klan verheiratet ist,
findet dieser Ausdruck Anwendung.
Die Mutter der Mutter eines Mannes oder einer Frau ist
ma-ämo. Sie stammt natürlich aus einem anderen Klan als
die Mutter. Aber es kann vorkommen, daß sie demselben Klan
angehört wie der Enkel (vgl. Diagramm S. 398). Bei ortho-
doxen Eheschließungen, bei denen die Frau aus anderem Klan
als die Mütter genommen werden müssen, wird es indessen
nicht der Fall sein. Mit demselben Wort ma-ämo wird auch
die Mutter der älteren Mitgattin der Mutter eines Kindes be-
zeichnet. Diese wird „rite" ebenfalls aus einem anderen Klan
stammen, so wie die jüngeren Mitgatten der Mutter, m-ämi.
Die Mutter des Vaters einer Frau (^x)2 — ^ wird als
mu-mäin bezeichnet, ein Ausdruck, der auch für die Mutter
ihres Einweihers angewendet wird, sowie auch auf die Mutter
ihres Gatten. Diese Mütter stammen stets aus anderen Klansr
Die Gemeinde der Bänaro. g3
wenn auch die ersten zwei im eigenen Klan durch ihre Ver-
heiratung aufgenommen werden. Daß hier die Mütter von
Vater, Einweiher, und Gatte einander gleichgesetzt werden, ist
auffallend. Man könnte annehmen, daß es deshalb geschieht,
weil der Einweiher derselben Generation angehört wie der
Vater, der Gatte aber nachher dem Einweiher angeglichen
wurde. Der Verdacht indessen, daß der Vater ursprünglich
als Einweiher galt, ist nicht ganz von der Hand zu weisen.
Ein Wort, das auch ausschließlich unter Individuen ver-
schiedener Klans verwendet wird, ist der Ausdruck für die
Schwiegermutter eines Mannes, meniginik.
Für die andere Klanhälfte ist die Schwiegertochter mimdü-
mungöm. Sonst werden ihr von der anderen Klanhälfte die
analogen Verwandtschaftsbezeichnungen, die ihrer Altersklasse
und sexuellen Stellung entsprechen, zugedacht.
Die Schwiegersöhne erhalten von den Eltern der Frau
den Namen mu-müeka, der mit vuek, männlich, Bezeichnung der
männlichen Geschlechtsorgane, zusammenhängt. Untereinander
unterscheiden sich die Schwäger nach ihrem verhältnismäßigen
Alter, unter besonderer Berücksichtigung des Erstgeborenen
(Geistsohns), in ähnlicher Weise wie die Geschwister und Vet-
tern. Und dementsprechend werden auch ihre Gattinnen nach
dem Altersrang ihrer Männer unterschieden und zwar in allen
Beziehungen. Die Brüder eines verheirateten Mannes befinden
sich natürlich niemals in derselben Tauschgruppe wie der
Bruder, denn sie gehören einem anderen Weihejahrgang an *).
*) Es mag darauf hiugewiesen werden, „daß in der indogermani-
schen Grundsprache ein spezieller Name für Schwiegersohn nicht vor-
handen war, nnd daß selbst, wenn zwei oder mehrere der in obigem er-
örterten Namen desselben auf eine gemeinsame historische Grundform
zurückgehen, ihre Bedeutung noch eine allgemeine, Schwiegersohn oder
Schwager, gewöhnlich auch den Schwiegervater (Vater der Frau) um-
fassende gewesen ist" (S. 20). Das Wort mhd. Swäger erklärt Schrader
aus dem Slawischen als „Heirat6verwandter" (S. 26). 0. Schrader,
Ueber Bezeichnungen der Heiratsverwandtschaft bei den idg. Völkern,
.Indogermanische Forschungen" Bd. 17, 1905.
84 Thurnwald.
Die Nachkommenschaft der in den anderen Klan einge-
heirateten Tochter wird von deren Eltern nicht besonders be-
zeichnet. Sie heißen sie umah, Enkel, gerade so, als wenn
sie zum eigenen Klan gehörten. Es wäre möglich, daß die
zweite Silbe vmahu mit man oder nam, der andere, ihre, zu-
sammenzubringen wäre, so daß man Enkel mit „die ihrigen",
vielleicht n abgekürzt für iuk, also „der Tochter ihreu zu über-
setzen hätte. Umah dürfte in erster Linie als Tochterkind
zu bezeichnen sein. Denn für die Enkel im eigenen Klan
herrschen andere Bezeichnungen vor (vgl. oben S. 466), nament-
lich in den Fällen, in denen eine Verschiedenheit der Ge-
schlechter in Betracht kommt. Diese ist ohne Bedeutung
zwischen Angehörigen verschiedener Klans. Das Geschlecht
wird nur nach Bedarf durch die Determinative der Weiblichkeit
wenigen oder men'agi näher bestimmt.
8. Nacheheliche Beziehungen.
Die oben (S. 396) erwähnte Tatsache, daß ein Junge für
seine Sippentante zu sorgen hat, wurde mir ausdrücklich an-
gegeben, als ich nach einer Erklärung für den Austausch der
Benennungen für Gatte und Gattin unter diesen Personen fragte.
Es schien mir sonderbar, daß Jungen, mitunter beinahe Kinder,
mit der Sorge für eine verwitwete ältere Frau betraut werden
sollten. Sehen wir genauer zu, so ist diese Frau bei einem
Geistsohn die Gattin seines Geistvaters, die ihn bei der Jüng-
lingsweihe in das Geschlechtsleben einführte. Demgemäß er-
scheint die Beziehung zu ihr schon vorher begründet. Aber
andernfalls ist es die Sippenfreundin des Vaters, so daß der
Sohn wie ein jüngerer Bruder des verstorbenen Sippenfreundes
seines Vaters die Sorge für die Witwe zu übernehmen scheint.
Diese Beziehung ist übrigens unabhängig von der übrigen
Regelung des Sexuallebens und den sonstigen sozialen Rechten
und Pflichten.
Daß die Witwe den Jungen mit den Erträgnissen ihrer
Die Gemeinde der Banaro.
85
Pflanzung an Stelle ihres verstorbenen Gatten versorgt, der
möglicherweise Vater des Jungen war, und sie anderseits dem
wahrscheinlich unbeweibten jungen Mann überlassen wird,
würde vom rationalistischen Standpunkt aus die Sache erklären
können. Wir dürfen auch nicht vergessen, daß Knaben sehr
früh selbständig sind.
Wenn wir aber die Beziehungen unter den beiden Sippen
als älter denn die unter den Klans betrachten, und Gruppen-
Sippe, 1
Sippe, 2
beziehungen unter den
beiden Klanhälften an-
nehmen — worüber
noch zu reden sein wird
(vgl. S.152) — , so würde
die eingangs dieses
Kapitels erwähnte Sip-
pentante die Gattin des
Bruders der Mutter
sein (vgl. Diagramm).
Der Junge würde die
Nachfolge in die Stel-
lung des Bruders seiner
Mutter übernehmen,
d. h. der berufene Nach-
folger in die Rechte des
Verstorbenen ist der Sohn der Schwester, diesem wird seine Frau
überantwortet. Als nach Einführung des Frauentauschs unter
den Klans die Schwester durch eine Frau aus einem anderen
Klan ersetzt wurde, ist die alte Sitte samt den alten Bezeich-
nungen beibehalten worden.
Uns sind aber auch die Bezeichnungen der Enkelkinder
zu den Großeltern entgegengesetzten Geschlechts als „Gatte
Gattin "-Benennungen bekannt geworden. Angaben über ihre
Beziehungen kann ich in den Aufzeichnungen, soweit sie mir
augenblicklich zur Verfügung sind, nicht finden. Es scheint
mir indes unwahrscheinlich, daß diese Andeutungen über sexuelle
rrv^ «f rrt -«>
Die Beziehungen unter den beiden Klanhälften auf
Grand der Bezeichnungen .,Gatte" und „Gattin".
Die volle gerade Linie bezeichnet den Gebrauch
der vollen Formen, die gestrichelte Linie den Ge-
brauch der Diminutivformen, die Wellenlinie zeigt
die Abstammung an. Der Uebersichtlichkeit halber
sind die Beziehungen nur für die erste Sippe ganz
durchgeführt. Zugleich soll dieses Diagramm einen
Eindruck geben von dem Halbierungssystem mit
Mutterfolge, wie es für die Zeit vor Einführung
der Klanexogamie anzunehmen ist.
86 Thurnwald.
Beziehungen zwischen Großeltern und Enkel für den Fall der
Witwenschaft noch in Betracht kommen.
Man würde nicht einsehen, wie die Benennungen begründet
werden können, und die sexuellen Beziehungen wären mit dem
gegenwärtig herrschenden System der Bdnaro nicht vereinbar.
Wohl aber, wenn wir ein älteres, wie oben angedeutetes System
bloßer Sippenbeziehungen ihm zugrunde legen. In einem solchen
würde der Sohnessohn es sein, der die Schwester seines Groß-
vaters übernehmen würde. Nach Einführung des Frauentauschs
ist diese Sitte offenbar von selbst weggefallen, und zwischen
der eingetauschten Frau und dem Enkel wurde dann nur die
Diminutivform der Gattenbezeichnung gewechselt. Jetzt fand
innerhalb der Sippe, der Klanhälfte, mit der von auswärts ein-
geführten klanfremden Frau sexueller Verkehr in der gleichen
Altersstufe statt, was früher nicht möglich war.
Die sexuellen Beziehungen der Enkelgeneration mit der
anderen Klanhälfte erfuhren keine Aenderungen, nur eine Ab-
schwächung, sie wurden auf die Festzeremonien beschränkt,
aber an sich lebendig erhalten.
Im Bänaro-Sjstem herrscht völlige Gleichheit der Rechte
zwischen Frauen und Männern. Die Theorie von Rivers1),
daß die Alten die jungen Frauen später den jungen Männern,
ihren Sohnessöhnen und Schwestersöhnen überlassen, scheint
durch das JBdnaro- System gestützt zu werden. Und zwar ist
für das wechselseitige Verhältnis unter den Sippen die als älter
anzusehende Form der Ueberlassung an die Sohnessöhne bzw.
an die Söhne der Gattin des Sohns der Gattin maßgebend. Es
ist hier noch nicht die von Rivers für die Ueberlassung an
den Schwestersohn geforderte stärkere Betonung der männ-
lichen Herrschaft eingetreten. Vielmehr wird bei der Gleich-
stellung der Geschlechter die Ueberlassung der jungen Mädchen
an die alten Männer mit der Ueberlassung der Jünglinge an
die alten Frauen vergolten 2).
2) History II, S. 59, 60.
2) Diese Einrichtung scheint sich hie und da bis in höher ent-
Die Gemeinde der Bänaro. 87
Was aber Rivers bei seinen Auseinandersetzungen nicht
genug zu betonen scheint, ist die Möglichkeit gleichzeitiger
nebenehelicher und aufeinanderfolgender nebenehelicher und
ehelicher Beziehungen.
9. Reziproke, komplementäre und diminutive
Bezeichnungen.
Gewisse Verwandtschaftsnamen werden wechselseitig zwi-
schen zwei Personen angewendet. Das setzt eine gewisse Gleich-
heit ihrer Beziehungen voraus.
Eine solche finden wir bei den Beziehungen unter den.
Sippenfreunden, die sich gegenseitig als mundü, ihre Gattinnen
als (ma)nama bezeichnen. Hier ist für jedes Geschlecht eine
besondere Benennung üblich. Ebenso unter den ausgetauschten
Frauen, die einander ciäma nennen, unter den gemeinsam dem
Weihefest zugeführten Knaben (ambo) und Mädchen (ama).
Unter den Schwiegereltern ist das nicht der Fall, sie heißen
einander haiepui ohne Rücksicht, ob Mann oder Frau gemeint
ist und welches Geschlecht spricht. In allen diesen Fällen
rührt die Reziprozität von der Gleichheit der wechselseitigen
Beziehungen her und bleibt daher auf dieselbe Generation be-
schränkt.
wickelte Verhältnisse hinein als Tradition fortgepflanzt haben. So wird
von der Insel Nauru durch Sen f f t (Mitt. a. d. deutschen Schutzgebieten, 9,
1896, S. 106) und Hambruch (Nauru, 1914, I, S. 253) berichtet, daß
der Altersunterschied bei Heiraten oft bedeutend ist, und daß häufig ein
Jüngling von 18 Jahren sich eine 40jährige oder noch ältere Frau nimmt.
Senfft meint: „Der junge Ehemann geht dabei von der Ansicht aus,
daß eine ältere Frau besser für ihn sorgt, als eine jüngere*. Ferner
wird auf die häufige Auflösung der Ehe, bald von männlicher, bald von
weiblicher Seite hingewiesen , der zu einem sukzessiven Wechsel der
Paare führt. P. AI. Kayser (Die Eingeborenen von Nauru, „Anthropos*
12 u. 13, 1917 u. 1918, S. 328) bemerkt übrigens noch, daß den Erst-
geborenen ein Vorrang zukommt. Vgl. auch noch die ganz ähnlich
lautenden Angaben von den Steinens (Unter den Naturvölkern Zentral-
brasiliens, 1897, S. 186) vom Paranatinga. Vgl. unten S. 144.
88 Thurnwald.
Der Ausdruck mägendoh wird wechselseitig gebraucht
zwischen Tante und Nichte. Er bezeichnet für eine Frau die
(erste) Tochter der Schwester ihres Gatten, d. h. die Stief-
tochter ihres Bruders und von der umgekehrten Seite die
Schwester ihres Stiefvaters, d. h. die Gattin ihres Mutterbruders.
Hier handelt es sich um zwei verschiedene Generationen.
Die Reziprozität erscheint als eine Folge der Stellung der
Geisttochter, die der Generation der Mutter zugerechnet wird.
Mägendoh wird auch sonst in reziproker Weise ohne Berück-
sichtigung der Altersklasse angewendet, wo die Beziehungen
der Geistkinder in Betracht kommen.
Am auffallendsten ist der Gebrauch reziproker Ausdrücke
unter Enkel und Großeltern wie mundüohab und mu-namohab,
kleiner Sippenfreund und kleine Sippenfreundin. Darin wird
die ganze Auffassung von den Beziehungen unter den beiden
Klanhälften gespiegelt: sie betrachten sich und sind ..Sippen-
freunde" ohne Ansehen des Alters1).
:) Ein Beispiel dafür, wie gewisse, als bedeutsam geltende Vor-
gänge im Leben dazu dienen können, um darauf die Bezeichnungen
für die Verwandtschaftsbeziehungen aufzubauen, liefern die Massai (vgl.
A. C. H Ollis, A Kote on the Massai System of Relationship and other
Matters connected therewith, Journ. R. Anthr. Inst. 40, 1910, besonders
ß. 477 ff.). Gibt ein Mann der Frau seines Bruders oder einer anderen
Verwandten als Hochzeitsgeschenk eine Kuh, ein Kalb oder ein Lamm,
so benennen sich Geber und Beschenkte wechselseitig: „Kuh".
„Kalb" oder „Lamm", wobei die Silbe „pa-~ der betreffenden Bezeich-
nung noch vorangestellt wird. Aber auch Geschenke bei anderen Ge-
legenheiten bilden die Grundlage für solche wechselseitige Benennungen.
Wenn der Sohn acht oder neun Jahre alt wird, schenkt der Vater dem
Sohn einen Stier, und darauf heißen sich Vater und Sohn gegenseitig
„Stier", nicht mehr „Vater" und „Sohn". Nur eine Ausnahme bestellt,
und dies betrifft das Verhältnis zwischen Bruder und Schwester. Die
Schweeter verlaßt nämlich die Familie, wenn sie heiratet. Auch zwischen
Mutterbruder und Neffe und zwischen Vettern mütterlicherseits sind
solche reziproke Benennungen ausgeschaltet. Nur der heiratende Mann
beschenkt Schwiegervater und Schwiegermutter, und der Name des Ge-
schenktiers gilt als gegenseitige Anrede unter diesen Verwandten. —
Die Gemeinde der Bänaro. 89
Von den reziproken Ausdrücken lieben sich die komple-
mentären dadurch ab , daß die letzteren ein Verhältnis be-
zeichnen, das durch zwei Ausdrücke ergänzend zusammen-
gesetzt wird, die sich ausschließlich oder vorwiegend auf dieses
Verhältnis beziehen. Solche Ausdrücke können sich auf Be-
ziehungen in derselben Generation erstrecken, wie unsere Na-
men für Bruder und Schwester, Gatte und Gattin. Im Ver-
wandtschaftssystem der Bänaro entsprechen die Ausdrücke
mumoha und mumaia einander nicht vollständig, sie sind nicht
völlig komplementär, weil mumaia auch noch Mutter bedeutet.
Magendon und kadi werden auch nur teilweise komple-
mentär zwischen dem Bruder und der für seine Frau ausge-
tauschten Schwester gebraucht. In der Bedeutung „seines
Bruders Gattin" ergänzt magendon den Begriff kudi = „ihres
Gatten Bruder", am schärfsten jedoch in der Anwendung zwi-
schen verheiratetem Bruder und verheirateter Schwester des-
selben Tauschpaares.
Die Abstammung formt sich für die Bänaro nicht zu der
Auffassung von einer festen Beziehung, der für zwei komplementäre
Ausdrücke wie, unser Vater und Sohn, entsprochen wird. Die
Sorge für die Nachkommenschaft wird durch Sippe und Klan
geregelt. Das Fehlen einer Familie in unserem Sinne
hängt mit der Abwensenheit der diesen Begriffen entsprechen-
den Ausdrücke zusammen.
Es ist beachtenswert, daß der wichtigste Verwandtschafts-
name für den Jungen, der eine einzige bestimmte Person, den
Mutterbruder allein bezeichnet, api, von diesem nicht mit
einem komplementären Ausdruck beantwortet wird. Er ver-
In welcher Weise das Geschenktier ein Band unter den Verwandten
begründet, tritt darin zutage, daß ein Mann sich von dem Vorwurf der
unbeabsichtigten Blutschande (z. B. dadurch begangen, daß er sich mit
einer Base 4. oder 5. Grades, die in einem anderen Distrikt wohnt, aber
der eigenen „Sippe" angehört, eingelassen hat) dadurch reinigen kann,
daß er den Verwandten des Mädchens eine Kuh schenkt und diese
Schenkung zur Entsühnung genannt wird: „die Verwandtschaft töten"
(S. 480).
90 Thurnwald.
gilt ihn mit dem allgemeinen Ausdruck niean, Sohn, vielleicht
deshalb, weil diese Kinder für ihn als Schützer der Schwester
früher wichtiger als die eigenen waren, der Ausdruck meah
also gerade von da aus verallgemeinert wurde. Das Wort
api entspricht auch seinem Bau nach der Art, wie Worte für
Vater sonst gebildet sind, ein kurzes Wort, in dem die Kon-
sonanten t oder p vertreten sind 1).
Wenn wir die oben (S. 85) geforderte ursprüngliche Hal-
bierung der Klans in zwei in „individualisierter Gesellschafts-
ehe" lebende Gruppen betrachten (vgl. Diagramm), so würde
m1 der Neffe von W2 sein. Mx wäre der Bruder seiner
Mutter. Die oben (S. 396 u. 85) geschilderte Sitte, daß ein
Junge für die Sippenfreundin seines Vaters nach dem Tode
von deren Gatten zu sorgen hat, wäre darauf zurückzuführen,
daß ursprünglich diese Person W2, die Frau seines Mutter-
bruders war, die ihm nach dem Tode des Mutterbruders zufiel
(s. Diagramm S. 398). Das würde im Zusammenhang mit
den Leichenzeremonien auch begreiflich machen, wie der
Schwestersohn dazu kommt, bei anderen Völkern die Opfer-
gaben für die verstorbenen Angehörigen der Mutter sich an-
zueignen usw. 2).
Auf die Diminutiva wurde gelegentlich der Besprechung
der verschiedenen Verwandtschaftsverhältnisse hingewiesen. Wir
finden sie in Anwendung auf die extremen Altersklassen der
Kinder und der Alten. Die Anwendung der Diminutiva für
Kinder bedarf keiner weiteren Erklärung. Viele Diminutiva
für die Generation der Großeltern wird man als übernommene
Kinderworte ansehen dürfen. Dabei wird es darauf ankommen,
von welchem Ausdruck das Diminutiv gebildet worden ist.
Nicht nur nach dem Geschlecht, sondern auch nach der Zu-
*) Vgl. C. und W. Stern, Die Kindersprache, 1907, S. 304 ff., 312 ff.
2) Vgl. H. M. Hocart, Chieftainship and the sisters son in the
Pacific, Am. Anthrop. 17, 1915, S. 645. — Das Recht, Besitz sich von
Verwandten anzueignen, ist bei den Massai reziprok zwischen Mutter-
bruder und Schwestersohn; Hollis a. a. 0. S. 479.
Die Gemeinde der Banaro. 91
gehörigkeit zu Klan oder Sippe wird unterschieden. Würde
die Kindersprache allein den Ausschlag geben, so wäre eine
solche Unterscheidung indessen kaum vorhanden. Sie greift
nur modifizierend auf den von den Erwachsenen gebrauchten
Verwandtschaftsbegriff ein und ebenso knüpft sie an herrschende
Sitten an. Mit dem bloßen Hinweis auf Koseworte der Kinder-
sprache kann man daher die gebrauchten Diminutiva nicht ab-
tun *). Es ist kein Zufall, daß diese und nicht andere Worte
verwendet werden, um daraus Diminutiva zu gestalten. Ueber-
dies scheint eine Schattierung mit den Diminutiven verbunden
zu sein, die entweder auf ehemalige, nicht mehr bestehende
Sitten deutet, oder nur in spielerischer Form den Ansprüchen
eines Systems gerecht wird, während die noch in Uebung be-
findlichen Gebräuche ihren Niederschlag in der Anwendung der
vollen Formen finden.
Diese Annahme dürfte um so berechtigter sein, als bei
sozial höher gelangten Völkern Neckereien unter bestimmten
Verwandten eine eigenartige Rolle spielen 2).
Diese im Neckverhältnis stehenden Personen dürfen bei
gewissen Stämmen in sexuellen Verkehr treten 3).
*) Reziproke Benennungen mit Diminutivendungen zur Bezeichnung
der Verwandtschaft mit jüngeren Generationen werden z. B. von süd-
westlichen nordamerikanischen Stämmen, den Tewa und Shoshonean von
Sapir im Am. Anthrop. 15, 1913, S. 135 ff. berichtet. Vgl. auch Har-
rington, Am. Anthrop. 14, 1912, S. 472. Außerdem von den Lutani
in Oregon nach unplubiziertem Material von E. W. Gifford.
2) Vgl. A. M. Hocart, Anthropos 9, 1914, S. 738. — Vgl. auch die
Poroporo-Sitte auf den Banksinseln, Rivers, History I, S. 46, und von
den Reefs, S. 230. In Nordamerika sind sie von den Crow, Hidatsa und
Dakota-Indianern bekannt.
3) Derartige Neckbeziehungen bestehen z. B. bei den Menomini-
Indianern von einer Person gegenüber deren Onkel, Tanten, Neffen und
Nichten und unter den Schwägern und Schwägerinnen wechselseitig. Sie
bringen die Berechtigung zum Geschlechtsverkehr mit sich, so daß Ver-
hältnisse sich daraus ergeben, die an die der Banaro gemahnen. Vgl.
Alanson Sk inner, Social Life and Ceremonial Bundles of the Menomini
Indian, Anthrop. Papers of the Am. Mus. of Natural History 13, I, 1913.
92 Thurnwald.
10. Die Arten von Verwandtschaf tsnanien.
Das hier vorgelegte System zeichnet sich aus durch eine
große Mannigfaltigkeit von Ausdrücken zur Benennung der
Verwandtschaftsbeziehungen. Die soziale Ordnung ist trotz der
Spaltung des Klans in zwei Hälften für den Menschen, der in
dem System aufgewachsen ist und dessen Leben es erfüllt,
ganz einfach, so verschlungen auch die Beziehungen auf den
ersten Blick dem erscheinen, der ihnen fremd gegenübertritt.
Wenn wir die Bezeichnungen näher betrachten, so drängt
sich uns der Unterschied von allgemeinen und besonderen Be-
nennungen auf. Es gibt nämlich Ausdrücke von sehr weitem
Umfang, wie die Worte für Mutterschaft, für das Kindver-
hältnis (Sohn und Tochter) und die Beziehungen unter den
Geschwistern, Vettern und Basen. Die weite Ausdehnung des
Mutterschaftsbegriffes dürfte wohl mit der Beteiligung gewisser
anderer Frauen an der Stillung der Kinder zusammenhängen.
Der reiche Gebrauch, der von den Ausdrücken Sohn und Tochter
gemacht wird, ist schon eine Folge des allgemeinen Charakters
der Mutterschaft und bezeichnet die Nachkommenschaft des
Klans, die nur in bezug auf das Geschlecht unterschieden wird,
nicht aber nach ihrer Abkunft von einem bestimmten Eltern-
paar. Das kommt auch in der gegenseitigen Benennung der
Nachkommenschaft untereinander und der eines anderen ver-
schwägerten Klans gegenüber zum Ausdruck. In den ange-
führten Bezeichnungen werden die ursprünglichsten biologischen
Beziehungen unter den Klanmitgliedern in Worte gefaßt. Da-
bei handelt es sich offenbar um ein sehr altes System von
Benennungen.
Diese Ausdrücke waren ursprünglich für beide Sippen ge-
meinschaftlich. Denn daß heute zusammengesetzte Bezeich-
nungen von der einen Klanhälfte für die andere gebraucht
werden, ist offenbar eine ganz späte Sitte, die ja auch im täg-
lichen Gespräch, namentlich in der Anrede, noch nicht durch-
gedrungen ist. Die mundü-Institution ist erst durch das Auf-
Die Gemeinde der Bänaio. 93
kommen der Heirat in fremde Klans bedingt und stellt die
Bewahrung einer früheren endogamen Sitte des Klans, mit Mutter-
folge in den beiden Klanhälften dar *), die wir aus einer ur-
sprünglichen Spaltung einer „Horde" in zwei Teile oder aus einer
Verbindung zweier „Horden" zu einem Klan ableiten mögen.
Die Worte für die Vaterschaft werden unter diesem Ge-
sichtswinkel verständlich. Genau genommen gibt es nur einen
Ausdruck zur Bezeichnung der Vaterschaft und dieser ist hio
oder mio. Denn die anderen Ausdrücke beabsichtigen gar
nicht die Vaterschaft als solche in biologischem Sinne erkennt-
lich zu machen : der Geistvater wird, wenn nicht wörtlich als
solcher, als „Ahnchen" bezeichnet und für den Stiefvater
(munata) hat man ein besonderes Wort, das an den Namen
des Schwiegervaters (mutata) anklingt. Ein Wort von beson-
derer Bedeutung ist das öfters erwähnte api, die Benennung
für den Mutterbruder eines Knaben. Wenn wir uns die Rolle
des Mutterbruders geschichtlich vorstellen, so ist es verständ-
lich, daß das Wort zur Klasse der Vaterworte gehört. Die
Funktion des Mutterbruders als Beschützer der Schwester ist
später auf den Gatten in der anderen Sippe übergegangen.
Daß die Nichte den Mutterbruder als hudi (Schwager) be-
zeichnet, dürfte wohl daher rühren, daß er zu ihr nicht in dem
Verhältnis eines Erziehers steht, wie der ältere Mann zum
jüngeren. Kudi ist der Ausdruck für den männlichen Ver-
wandten einer Frau in einem anderen Klan.
Eine weitere Art von Ausdrücken faßt ganz bestimmte
Beziehungen ins Auge, bei denen es sich nicht nur um bio-
logische Verhältnisse, sondern um solche, die durch die eigen-
artige soziale Ordnung herbeigeführt sind, handelt. Und zwar
ist es hier die Klanexogamie und der damit verbundene Frauen-
tausch. Wie sehr der Vaterbegriff hio mit der politischen Zu-
gehörigkeit zum Klan verknüpft ist, zeigt der Umstand, daß
die aus dem Klan ausscheidende Tochter aufhört, ihren Vater
!) Vgl. dazu Rivers, History II, S. 185, 186.
94 Thurnwald.
als nio zu bezeichnen, sondern die Benennung ihrer Kinder
für ihn sich zu eigen macht. Und ebenso wird aus Bruder
und Schwester: Jcudi (Schwager) und magenäoh (Schwägerin),
wenn sie sich (durch Tauschehe) verheiraten. —
Es dürfte nun angezeigt sein, die Verwandtschaftsbezeich-
nungen der Banaro unter den Gesichtspunkten zu untersuchen,
die bei der systematischen Analyse von Verwandtschaftsverhält-
nissen in Betracht kommen. Dies wird uns zum Bewußtsein
bringen, welche Auffassungen für die Bänaro-Leute maßgebend
sind, und welche nicht. Dabei folge ich im allgemeinen der
von A. L. Kroeber vorgeschlagenen Methode1)-
11. Altersklasse.
Als wesentlich für das klassifikatorische Verwandtschafts-
system wird von H. Cunow (einem der wenigen, der in
Deutschland außer Kohl er2) die Bedeutung der Verwandt-
schaftsnamen für die Geschichte der sozialen Einrichtungen seit
langem gewürdigt hat) 3) die Zusammenordnung der Angehöri-
gen derselben Generation unter Ausschluß der Mitglieder einer
anderen Altersschicht bezeichnet. Auch Schurtz4) betrachtet
diese Gruppierung in Altersklassen als entscheidend für den
*) Vgl. „Classificatory Systems of Relationship", in J.R.A. Inst. 1909,
S. 78, 79. Kroebers Methode ist besonders von E. VV. Gif f o rd bei
seinen Untersuchungen in Kalifornien angewendet und durchgearbeitet
worden: „Miwok Moieties", Univ. California Publications in Am. Arch.
and Eth. Vol. 12, 4, und „Tübatulabal and Kawaiisu Kinship Terms",
ebenda Vol. 12, 6.
2) Zur Urgeschichte der Ehe, Totemismus, Gruppenehe, Mutterrecht,
Stuttgart 1897.
3) H. Cunow, Zur Urgeschichte der Ehe und Familie, Stuttgart 1912,
bes. S. 61 ff. und sein älteres Werk Die Verwandtschaftsorganisation der
Australneger 1894. — Der Fehler, den H. Cunow aber begeht, ist derselbe,
der auch L.Morgan (Systems of Consanguinity and Affinity of the Human
Family, 1871) verführt hat: nämlich der, das Einfachere ohne weiteres
für das historisch Aeltere zu halten. Darüber ausführlich S. 180 ff.
4) Altersklassen und Männerbünde 1902, S. 68, 69, 83 ff.
Die Gemeinde der Bänaro. 95
sozialen Aufbau der Gesellschaft. Sie ist von größter Wichtig-
keit, wie auch Rivers anerkennt1). Dieses biologische Unter-
scheidungsmerkmal der zusammenlebenden Gesellschaft ist für
ihre Gliederung zweifellos von großer Bedeutung. Aber es ist
nicht immer allein ausschlaggebend 2).
Die Verwandtschaftsnamen der Bänaro beobachten keines-
wegs streng die Unterschiede der Altersklassen. Eine Schwierig-
keit betreffs dieser Einordnung ergibt sich gleich für das „Geist-
kind". Der Vater gehört einer älteren, die Mutter einer jün-
geren Generation an. Würde man bei der Einrichtung der
Geistkohabitation „mutterrechtlich" gedacht haben, so hätte man
das Geistkind der Generation der anderen Kinder der Mutter
beigesellt. Nach den Verwandtschaftsbezeichnungen der Bänaro
wird es aber in die Generation der eigenen Mutter eingereiht,
also entsprechend der Altersklasse des Vaters bestimmt. Es
ist das um so bemerkenswerter, als die Zugehörigkeit der Kin-
der sich sonst durchaus nach der Mutter richtet. Doch ist
wohl der Umstand maßgebend, daß die Mutter zwischen 16
und 18 Jahre alt ist, wenn sie das Kind bekommt. Immerhin
kann man versucht sein anzunehmen, daß die Einreihung des
Geistkindes gemäß dem Vater erst durch das Aufkommen des
Frauentauschs unter den Klans und den daraus erwachsenen
Sitten entstanden sei und die ältere Mutterfolge, die in dem
ursprünglichen Zweisippenklan herrschte, überlagerte.
Die Halbgeschwister nennen den „Geistbruder" rügemuin.
Dieses Wort hängt selbstverständlich mit rü = „Vater der
Mutter" zusammen. Man fragt sich, wieso der Halbbruder
als eine Art „ Mutterväterchen" bezeichnet werden kann. Aber
auch die Mutter bezeichnet ihren Vater als rü. Wenn man
rü mit dem „fremden Vater" oder dem „fremden Alten von
Weiberseite" wiedergibt, würde es verständlich werden, daß
die Ableitungsform von diesem Begriff auf den einer älteren
*) Kinship and Social Organisation 1914, S. 29 — 31.
2) Vgl. R. A. Lowie, Exogamy and the classificatory Systems of
relationship, Am. Anthrop. 17, 1915, S. 225, 226.
96 Thurnwald.
Altersklasse zugerechneten Geistbruder Anwendung findet. Die
Geistschwester wird mana-ma'n genannt, ein Ausdruck, der natür-
lich mit mana = „Vaterschwester" oder „Mutterbruders Gattin",
in Verbindung zu bringen ist. Bei dieser hängt die Bezeich-
nung nicht mit der Altersklasse, sondern mit den sexuellen
Beziehungen zusammen, die für die Bezeichnung der weiblichen
Verwandten die übrigen Einteilungsprinzipien in den Schatten
drängen. Die maha-mah ist nämlich dazu bestimmt, vom
Sippenfreund des Bruders der Mutter „ eingeweiht " zu werden.
In Anbetracht dessen wird sie von ihren Halbgeschwistern als
die „Mutterbrudergattin'' bezeichnet. Die Reduplikation soll
wohl mit ironischem Nachdruck ihre Rolle hervorheben.
Die Stellung des Geistkinds bringt aber noch eine weitere
Verschiebung in der Beziehung zu den Altersgruppen mit sich.
Ein erstgeborener Mann bezeichnet den Schwiegervater seines
Halbbruders als seinen mutäta (= Vater der Gattin). Bei
einer orthodoxen Verheiratung wird der Schwiegervater seines
Halbbruders ja sein eigener Schwiegervater sein. Umgekehrt
bedenkt aber dieser Schwiegervater seinen Schwiegersohn, der
ein „Geistkind" ist, gleichfalls mit der Bezeichnung mutäta.
Der Schwiegervater, sagen wir [xB2, nimmt die Einweihung der
W(A,-^)B1 vor. Diese ist die Tochter von ^(ß1-^)A1. Da der
Geistsohn der letzteren auf dieselbe Generationsstufe wie seine
Mutter gestellt wird, betrachtet er seine später geborene Halb-
schwester als eine Altersstufe tiefer stehend, nennt er sie doch
auch iaJc (Tochter) und sie ihn rügemuih = „mütterlichen Alten".
Diese seine Halbschwester, die der Geistsohn als seine Tochter
betrachtet, weiht nun der Sippenfreund seines Sehwiegervaters
ein. Dieser wird dadurch zu einer Art Schwiegersohn des
Halbbruders der Eingeweihten. Da die Verwandtschafts-
beziehungen der Sippenfreunde immer als gleich gelten, gelangt
dieser andere Sippenfreund in die Lage, von seinem Schwieger-
sohn oder dem Bruder seines Schwiegersohnes als „Schwieger-
sohn" betrachtet zu werden. Die sexuellen Beziehungen sind
also ausschlaggebend für die Einordnung dieser Verwandten. Sie
Die Gemeinde der Banaro. 97
erscheinen als wichtiger als die Angehörigkeit zu einer be-
stimmten Altersklasse.
Auch die erstgeborene Tochter wird von der Schwieger-
mutter ihres Halbbruders, wie zur eigenen Generation gehörig
betrachtet. Sie wird mumain (Mutter des Gatten) benannt und
die andere entgegnet mit demselben Ausdruck. Die Gründe
dafür sind die oben auseinandergesetzten. Daraus ersehen wir,
wie bei den Geistkindern die Zugehörigkeit zur Altersklasse
entschieden wird. Während aber in dem Fall der Geistkinder
von vornherein die Altersklasse unsicher ist, finden wir eine
Vernachlässigung der Generation auch aus anderer Ursache.
Es wurde darauf hingewiesen, daß unter Großeltern und Enkeln
gleichen Geschlechts reziproke Ausdrücke wie für Sippen-
freunde getauscht werden und bei ungleichem Geschlecht die
wechselseitigen Benennungen von Gatte und Gattin Anwendung
finden. Dieser Gebrauch enthält ebenfalls eine Ignorierung
der Generationsschranken. Auch er wird durch sexuelle Be-
ziehungen herbeigeführt.
Wenn die Tochter, gleich ihren Kindern, ihren im andern
Klan befindlichen Vater rü benennt, so liegt im Gebrauch des-
selben Wortes von Seiten der Angehörigen zweier verschiedener
Generationen eine Vernachlässigung der Zugehörigkeit zur
Altersklasse. Da rü „der Alte von Weiberseite" bedeuten
dürfte, scheint das Moment der Angehörigkeit zum anderen
Klan ausschlaggebend zu sein, das über das Unterscheidungs-
prinzip der Generation triumphiert.
Eine Vernachlässigung des Unterschieds der Altersschichten
muß überhaupt darin erblickt werden, daß eine Bezeichnung
mehrere Beziehungen umfaßt, von denen nicht eine jede das
gleiche Verhältnis von Generationen zueinander zum Ausdruck
bringt. Das Bänaro-Sjstem mit seinen vielen besonderen Ver-
wandtschaftsbezeichnungen hat dank der komplizierten sozialen
Struktur zahlreiche Beziehungen erkenntlich zu machen. Oft
verfährt es nun derart , daß minder wichtige Verwandt-
schaft gewissen hervortretenden Beziehungen „angeglichen",
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. XXXIX. Band. 7
98 Thurnwald.
mit ihnen in Analogie gesetzt und dementsprechend bezeichnet
werden. Das ist ein Verfahren, das primitives Denken über-
haupt gerne einschlägt. Auf diese Weise geschieht es aber,
daß die Abgrenzung zwischen den Generationen in den ver-
schiedenen individuellen Verwandtschaftsbeziehungen verwischt
werden ; denn wir dürfen nicht vergessen, daß es zunächst darauf
ankommt, die ganzen Gruppen von in ähnlicher Lebensbeziehung
stehenden Personen mit einem Wort zu umgrenzen. Beispiels-
weise sei an die Grundbedeutung von eiäma(n) erinnert.
Diese dürfte man mit „ihre (ausgetauschte) Schwägerin"
W(A-*)B — W(B-+)A am treffendsten wiedergeben. Dasselbe Wort
wird von einer Frau für die Gattin ihres Bruders, aber auch
für die Stieftochter ihres Sohnes (pA1 — (wA2\, nämlich für das
Geistkind von ihres Sohnes Gatten gebraucht. Ausschlaggebend
ist hier auch eine gewisse Aehnlichkeit sexueller Nebenvor-
gänge. Es nennt (cüA^ den Gatten von <pA2 „kleinen Gemahl",
was wenigstens potentielle Geschlechtsbeziehungen andeutet.
Eingeschaltet muß übrigens werden, daß zwischen diesen beiden
scheinbar im Enkel- Groß eitern -Verhältnis stehenden Personen
keine direkten Blutsbande vorhanden sind. Der Halbbruder
von (coA2)i, nämlich (mA2)2, nennt umgekehrt seine Großmutter
„kleine Gattin" 1). Diese beiden eigenartigen Benennungen
tragen Schuld, daß die Großmutter und ihre — wie gesagt
nicht in direkter Blutsverwandtschaft stehende — Enkelin sich
gegenseitig als Schwägerinnen benennen. Derselbe Ausdruck
wird also einmal innerhalb einer und derselben Generation an-
gewendet, das andere Mal zwischen Vertretern der äußersten
Altersklassen. Der Grund liegt auch hier in den sozialen
Lebensbeziehungen, die stärker sind als abstrakte Einteilungs-
grundsätze.
Aehnlich liegt die Sache auch bei dem Ausdruck magendoh,
der die Beziehung eines Mannes oder einer Frau durch Ver-
heiratung mit einer anderen Frau betrifft, sich also auf die
») Vgl. dazu Rivers History I, S. 182 und 223, II, S. 35 und 179 ff.
Die Gemeinde der Banaro. 99
Frau eines anderen Klans bezieht. Das Wort wird vor allem
von einem Mann auf die Schwester seiner Frau oder auf seine
eigene in einem anderen Klan verheiratete (gegen die eigene
Gattin ausgetauschte) Schwester angewendet. Soweit werden
Personen derselben Altersschicht damit gekennzeichnet. Aber
auch auf die Schwester des Vaters oder Stiefvaters, also auf
die Gattin des Mutterbruders erstreckt sich die Bedeutung des
Worts. Hierdurch wird schon die Grenze der Altersklasse
übersprungen. Es wäre möglich, daß nämlich, wie auch bei rw,
hier von den Kindern der Ausdruck, den die Eltern gebrauchen,
verwendet wird, zur Bezeichnung einer verhältnismäßig fremden
Person in einem anderen Klan. Weiterhin nennt eine Frau
die erstgeborene Tochter der Schwester ihres Gatten, also die
erstgeborene Stieftochter ihres Bruders auch mägendon. Ferner
wird das Wort angewendet für Tanten und Nichten l) im
selben Klan. Schließlich begreift man darunter noch Ver-
wandte, die entfernter, aber in einem ähnlichen Verwandtschafts-
system stehen. Die Grenzlinie der Zugehörigkeit zu einer be-
stimmten Generation wird übersehen: es handelt sich um
entfernt verwandte Frauen, zu denen man in einem freund-
schaftlichen Verhältnis steht, ohne Wert auf ihre Zugehörigkeit
zu einer genau bestimmten Altersschicht zu legen.
Ein ähnlicher Ausdruck, aber für Männer , ist das Wort
küdi. Er wird von Frauen gebraucht, die mit einem Mann
auf dem Wege der Heirat Beziehungen gewonnen haben. Vor
allem wird der Bruder des Gatten damit bezeichnet, und von
einer Frau der eigene Bruder, gegen dessen Gattin sie einge-
tauscht wurde. Schon wird aber die Generation mißachtet,
wenn eine Frau diese Bezeichnung für einen Knaben (ihren
Neffen) in dem Klan, aus dem sie stammt, verwendet. Ebenso
wenn ein Mädchen mit demselben Wort den Bruder ihrer
Mutter meint, den ihre Mutter auch Mal nennt. Wir haben
*) Die Bedeutung unseres Wortes Base schwankt zwischen Tante
und Cousine. Kluge, Etym. Wb.
100 Thurnwald.
hier dieselbe Erscheinung wie in den Fällen rü und mägendoh:
die Anwendung des gleichen Wortes von Eltern und Kind auf
denselben Verwandten im anderen Klan. Die Bedeutung der
Zugehörigkeit zu einer bestimmten Altersschicht tritt zurück
gegenüber der Tatsache, daß es Leute aus einem anderen
Klan sind. Dieses Moment ist älteren erwachsenen
Personen gegenüber von Bedeutung. Kindern gegen-
über verhält es sich umgekehrt. Denn diese werden unter-
schiedslos als „Sohn" und „Tochter" angeredet. In den an-
geführten Fällen überwiegt also das sog. „exogame Prinzip"
gegenüber der Altersklasse.
Die drei Ausdrücke eiama(h) unter Frauen, mägendoh haupt-
sächlich von Männern zu Frauen, und Mdi von Frauen gegen
Männer, bezeichnen Beziehungen unter Angehörigen verschie-
dener Klans, die durch Heirat, also durch Frauen miteinander
verwandt geworden sind. Die Schwäger haben besondere Aus-
drücke für einander und sie unterscheiden sich in ihrer Genera-
tion wieder, so wie Geschwister untereinander, nach ihrem rela-
tiven Lebensalter. Für das Verhalten der Frauen aber ist die
Heirat, der Uebertritt von einem Klan in den anderen und
die dadurch entstehenden Beziehungen wichtiger als Lebensalter
und Altersschicht. Alle die angeführten Fälle, in denen die
Klanangehörigkeit wichtiger als die Generation wird, betreffen
Verwandtschaftsbeziehungen unter, zu und von Frauen.
Ein ähnliches Ueberschreiten der Generationsschranke
liegt auch in der reziproken Benennung von ändu zwischen
dem Vater des Stiefvaters eines Geistkinds und dem erst-
geborenen Stiefsohn des Sohnes eines alten Mannes. Da
diese Beziehung auch mit mundüonab wiedergegeben werden
kann, so ersieht man daraus, daß das ändu- Verhältnis wie eine
Art wtmcZw-Beziehung aufgefaßt wird, gleichsam als gehörten
die Vertreter verschiedener Altersstufen verschiedenen Sippen
an. Die sexuelle Beziehung, auf die dabei angespielt wird,
liegt darin, daß der Junge durch die Sippenfreundin des Alten
in das sexuelle Leben eingeführt wird. Diese Beziehungen
Die Gemeinde der Bänaro. 101
stellt die beiden Männer, den jungen und den alten, auf eine
Gleichheitsstufe, von der aus die Verschiedenheit der Genera-
tionen, denen sie angehören, in den Hintergrund tritt.
12. Blut und Heirat.
Daß der Begriff der Verwandtschaft bei Naturvölkern
nicht Blutsverwandtschaft durch Abstammung bedeutet *), zeigt
das Bänaro-Sjstem, bei dem z. B. die Personen, die wir als
„ Enkel" bezeichnen würden, keineswegs durch Blutsbande von
ihren Großeltern abstammen müssen. Wenn also — wie viel-
fach im Anschluß an Morgan — angenommen wird, daß bei
Naturvölkern mit einem klassifikatorischen System von Ver-
wandtschaftsnamen die Beziehungen nur auf Banden des Bluts
beruhen, so ist das unzutreffend. Vielmehr liegen die Dinge
so, daß die Blutsverwandtschaft als Grundlage gebraucht wird,
wonach man andere ähnliche Beziehungen konstruiert. Ein
Verfahren nach Analogie der Abstammung, wie es auch sonst
geübt wird 2). Wenn in den Klanverbänden alle Mitglieder
untereinander „verwandt" sind, so muß man den Begriff der
Verwandtschaft hier anders auffassen, als es bei uns geschieht.
Wir heben die Verwandtschaft aus anderen Beziehungen heraus
als Bande des Bluts. Bei den Naturvölkern werden alle freund-
schaftlichen Beziehungen unter den Menschen nach dem Muster
von Blutbeziehungen aufgefaßt. „Verwandt" heißt also das Ge-
fühl, in sozialer Beziehung zueinander zu stehen. Diese soziale
Beziehung wird aber oft vermittelt durch Dritte, mit denen
nur der eine oder der andere durch Blutsbande verbunden ist.
So wie der Begriff der Verwandtschaft also eine von der
bei uns landläufigen Färbung verschiedene Auffassung erfordert,
*) Vgl. die Erörterung von B. Malinowski zu dieser Frage in
„The Family among the Australian Aborigines", London 1913, S. 168 ff.,
bes. S. 171.
2) Z. B. beim Totemismus, vgl. meinen gleichzeitig im „Anthro-
pos" erscheinenden Aufsatz „Psychologie des Totemismus".
102 Thurnwald.
so ist es auch mit der Ehe. Das Hereintragen unserer Be-
griffe liegt an der Wurzel der oft so widersprechenden Be-
richte verschiedener Reisender von denselben Einrichtungen *).
Gerade die Einrichtungen der Banaro geben Anlaß zur Ueber-
legung, wie unser Begriff entsprechend erweitert werden muß.
Eine durch die Heirat begründete individuelle Familie, eine
Gemeinschaft zweier Personen verschiedenen Geschlechts mit
ihren Nachkommen, ist vorhanden. Die Basis dieser Familie
bildet die physiologische Tatsache der Mutterschaft und die
Ausübung des Schutzes eines Mannes über die Mutter und
deren Kinder, verbunden mit einer gewissen wirtschaftlichen
Selbständigkeit innerhalb der Gemeinwirtschaft der Sippe.
Die Teilnahme der einen Klanhälfte an den sexuellen Er-
lebnissen der anderen Hälfte stört die scharfe Abgrenzung von
Verwandtschaft und Heirat. Indessen werden in den Verwandt-
schaftsnamen die Beziehungen unter den Klans im allgemeinen
scharf von denen zwischen den Sippen geschieden. Man sieht also,
daß für die Bänaro-Leute die Beziehungen zwischen den Sippen
etwas ganz anderes bedeuten als die unter den Klans, daß also
auch der Verheiratung ihre Bedeutung zukommt.
Nur vereinzelt sind Abweichungen von dieser Unterschei-
dung bemerkbar. So wird der Ausdruck eiaman, der zunächst
von den gegeneinander getauschten Frauen zweier Klans von
einer gegen die andere gebraucht wird, auch von einer alten
Frau, <pA2 — (wAj),, gegen die Stieftochter ihres Sohnes gebraucht,
wovon S. 82 u. 98 die Rede war. Diese letztere Benennung
bezieht sich auf die Tochter einer Frau aus einem anderen
Klan und eines Mannes aus einer anderen Sippe. Was ist nun
ausschlaggebend? Die Abstammung von einem sippenfremden
Vater oder sind es die eigentümlichen Beziehungen, die unter
der Gruppe der Großeltern und Enkel in Betracht kommen?
Es scheint das letztere.
Die Bezeichnung für den Vater des Vaters, itjöih, der also
l) Vgl. Malin ow ski, S. 175 ff., bes. auch S. 187.
Die Gemeinde der Bänaro. 103
dem eigenen Klan angehört, wird auch für den Vater der
Mutter gebraucht, wenn das erstgeborene Kind männlich ist.
Sie wird dann also für das Mitglied eines fremden Klans ver-
wendet. Was kann der Sinn davon sein? Vielleicht soll dem
Fremden der Titel eines Vaters damit verliehen werden, indem
man den neugeborenen Jungen als einen künftigen Vater im
Klan betrachtet. Daß der Fremde eigentlich Vater der Mutter
des Jungen ist, nicht des Jungen selbst, wäre außer acht ge-
lassen. Denn der wirkliche Vater ist der Einweiher, der der-
selben Altersklasse wie der fremde Vater angehört. Es ist
charakteristisch, daß auch der Einweiher der anderen Klan-
hälfte vom Kinde itjöih genannt wird. Diese Bezeichnung wird
nun auf den Vater der Frau übertragen, wenn das erste Kind
ein Knabe ist. Der Vater ihres Gatten ist für eine Frau gleich-
falls itjöih, also handelt es sich bei diesem Ausdruck um den
Vater einer männlichen Person ohne Rücksicht auf Sippe oder
Klan. Gerade bei dem Namen itjöih könnte man annehmen,
daß die Unterscheidung des Bluts, der Abstammung, zutage
tritt. Denn während ein Knabe seines Vaters Vater itjöih be-
nennt, heißt der Geistsohn den Vater seines Stiefvaters ändu
(vgl. S. 100). Indessen wird ja der Geistsohn zur Generation
seines Stiefvaters gerechnet, also schon aus diesem Grunde ist
eine andere Bezeichnung von seiner Seite zu erwarten.
Aehnlich ist es mit ata bestellt. Auch dabei wird die
Grenze von Sippe und Klan mißachtet, ohne aber daß dabei
die Abstammung eine Rolle spielte. Denn mit ata wird von
den Kindern der Sippenfreund des Elternpaars bezeichnet, der
unter Umständen der natürliche Vater dieser Kinder ist. Doch
wird auf dieses mögliche Blutsband keinerlei Gewicht gelegt.
Das Geistkind bezeichnet mit dem Ausdruck ata seinen Stief-
vater. Für den Gatten ist aber der Einweiher seiner Frau der
ata. Die Frau belegt den Stiefvater des Gatten mit diesem
Wort. Ferner wird diese Bezeichnung auf den Stiefbruder des
Vaters angewendet, oder auf den Bruder des Stiefvaters eines
Mannes oder einer Frau, endlich wird noch der Gatte der Stief-
104 Thurnwald.
Schwester und der Gatte der Schwester des Stiefvaters darunter
verstanden. Wir sehen hier einen eigenartigen Vaterbegriff,
der gar nichts mit Abstammung zu tun hat und sich über die
Schranken der Sippe, ja auch des Klans hinwegsetzt. Es han-
delt sich bei diesem Begriff um eine Art „entfernter Vater".
Man erinnert sich dabei, wie in der Sprache des Bitchin-Eng-
lisch von den Eingeborenen alle diese Ausdrücke, wenn man
ihnen nicht genau nachgeht, mit „papa" wiedergegeben wer-
den. Aus diesen sondert man den Blutsvater oder noch dessen
Bruder als „papa true" aus, während andere in weitläufigerem
Vaterverhältnis stehende Personen als „all the same papa"
(Art Vater) bezeichnet werden.
Es drängt sich hier uns auf, daß die wirklichen Blutsbande
gegenüber den sexuellen Beziehungen in den Hintergrund treten,
und gegenüber der Angehörigkeit zu einer gewissen Gruppe.
Das Bestehen von Abstammung hindert nicht sexuelle Be-
ziehungen, wie sie z. B. bei der Einführungszeremonie durch
die Frauen ersichtlich sind. Es soll nicht geleugnet werden,
daß den Eingeborenen bei der Aufstellung ihres Systems der
Gedanke vorgeschwebt haben mag, Vermischungen unter zu
nahen Blutsangehörigen zu vermeiden. Wenigstens ist das auch
mein Eindruck beim Ausfragen gewesen. Etwas anderes ist,
ob sie ihr System so glücklich aufgebaut haben, daß dieser
Zweck, der ihnen dunkel vorgeschwebt haben kann, erreicht
worden ist. Gesetze sind bekanntlich oft unzureichend und er-
füllen ihren Zweck nicht. Ob man die Verletzung der ver-
schiedenen Meidungsvorschriften und Heiratsgesetze mit „Blut-
schande" richtig wiedergibt, erscheint mir daher zweifelhaft.
Nichtum „Blutschande", sondern um „Gesellschaftsschande"
handelt es sich dabei, um Verstöße gegen die Ordnung des
Zusammenlebens, bei denen die eigentlichen Gedanken der
Blutschande nur latent, noch nicht bewußt geworden sind.
Es fehlen in den Verwandtschaftsbezeichnungen klar ab-
gegrenzte Worte für die Eheleute, Ausdrücke nämlich, die nicht
auch noch auf andere Beziehungen Anwendung fänden. Das
Die Gemeinde der Banaro. 105
Wort für Gattin bedeutet eigentlich Mutter. Die Bezeichnung
mu-mbna für Gatte wird auch noch auf andere eheähnliche
Verhältnisse angewendet. Was die Etymologie dieses Wortes
anbelangt, so dürfte man wohl nicht fehlgreifen, wenn man
das Wort, das in der Anrede mom heißt, mit man oder nam
zusammenbringt = „der Andere", „der Fremde", d. h. der Mann
des anderen, fremden Klans (vgl. S. 81).
13. Geradlinige und Seitenverwandte.
Der Mangel an Unterscheidung zwischen geradliniger und
Seitenverwandtschaft ist als ein Hauptmerkmal des klassifika-
torischen Verwandtschaftssystems bezeichnet worden. Es ist
sicher ein nicht zu unterschätzendes Merkmal. Für die Cha-
rakteristik des einzelnen Systems und der Systemgruppen kommt
es aber vielmehr darauf an, in welcher Weise die Vermischung
der geradlinigen und der Seitenverwandten durchgeführt ist.
Auch im Bänaro-Sy stein finden wir im allgemeinen keine
scharfe Grenze zwischen geradlinigen und Seitenverwandten.
Zweifellos ist diese Verwischung der Unterscheidung bedingt
durch die Auffassung aller Gesellschaftsbande, nicht nach
individuellen Beziehungen, sondern nach Komplexen von
Individuen, nach Gruppen und Teilgruppen. Nicht das
exogame Prinzip an sich bedingte das, sondern die Auffassung
von der Gesellschaft. Doch nicht in jenem Sinne, als wäre
das Individuum dabei ganz ausgeschaltet. Die zusammen-
gehörigen Individuen, die in bestimmte Beziehung zu einander
stehen, werden mit gleichen Ausdrücken bedacht. Und auf
ähnliche Verwandtschaftsverhältnisse werden Ausdrücke an-
gewendet, die von analogen Lebensbeziehungen hergenom-
men sind.
So ist es naheliegend, daß z. B. der Ausdruck für Mutter
auch auf die Schwester der Mutter, des Vaters Schwester und
des Vatersbruders Gattin sowie auf die ältere Mitgattin an-
gewendet wird, die sich alle am Stillen des Kindes beteiligen.
106 Thurnwald.
Die ähnlichen Lebensbeziehungen sind stärker als seine abstrakte
Berechnung nach Abstammung und Verwandtschaftsgraden. Die
Naturvölker sind nicht Theoretiker, sondern Praktiker. Als
Vater wird außer dem Beschützer der Mutter auch noch deren
subsidiärer Beschützer, der Bruder des Vaters, betrachtet, so
wie die Gruppe von Männern, die mit dem Vater nahe ver-
schwägert sind. Auch der Schwagerbegriff wird auf die Brüder
des Schwagers ausgedehnt. Aehnlich ist es mit dem oben er-
örterten tdta, Schwiegervater. Dasselbe sahen wir auch bei
der Gruppe von Verwandten, die unter den Begriff Stiefvater,
ata, fielen. Als müeJca werden nicht allein nur die richtigen
Schwiegersöhne selbst, sondern auch deren Brüder bezeichnet.
Küdi ist nicht nur der im Frauentausch verheiratete Bruder,
sondern auch der Bruder des Gatten und der Mutterbruder.
Die Mutter der Mutter ist amo , aber so wird auch die
ältere Gattin der Mutter benannt. Mägendoh ist die ausge-
tauschte Schwester und die Gattin des Bruders eines Mannes,
wie auch die Gattin des Bruders der Mutter, endlich auch die
Geisttochter der Schwester des Gatten.
Alle diese Beispiele zeigen, daß die Verwandtschaftsnamen
gewisse durch die Verhaltungs weise namentlich in sexueller und
zeremonieller Hinsicht bedingte Beziehungen im Auge haben.
Alle Personen, die unter gleiche Verhaltungsweise fallen, wer-
den unter einem Namen zusammengefaßt. Das ist ganz be-
sonders bei Seitenverwandten der Hauptpersonen, zu denen die
wichtigsten Beziehungen bestehen, der Fall. Es kommt dabei
nicht in erster Linie auf die Blutsbande und die Nähe der
Verwandtschaft, sondern auf ähnliche gesellschaftliche
Stellung an. Den Einrichtungen selbst liegen allerdings
theoretisch Blutsbande zugrunde, ohne aber im System durch-
aus erfolgreich zur Geltung gebracht zu werden.
14. Geschlecht des angeredeten Verwandten.
Bei der Bedeutung, die den sexuellen Beziehungen zu-
kommt, ist das Geschlecht der Verwandten wichtig. Trotzdem
Die Gemeinde der Banaro. 107
finden wir keine einheitliche Linie. Bei einigen Namen wie
Jcudi wird ein Mann von Frauen, bei mdgendon eine Frau von
Männern, angeredet. Andere Ausdrücke werden innerhalb des-
selben Geschlechts ausgetauscht, wie mundü, ändn unter Männern,
munäma, mdma unter Frauen. Wir begegneten aber Bezeich-
nungen, die keinen Unterschied des Geschlechts machten, wie
mäiepui = Schwiegereltern und! mo-ünia, Tochterkinder. Aehn-
lich ist es bei der Anrede unter Geschwistern, die nur die
Unterschiede des Lebensalters kennen. Wenn zur Bestimmung
die Ausdrücke „männlich" und „weiblich" in solchen Fällen
beigefügt werden, so sind das späte Zusätze, die darauf hin-
weisen, daß man in diesen Fällen dem Geschlecht ursprünglich
keine Bedeutung beigemessen hat. Es handelt sich dann immer
um solche Personen, die in dem ganzen System sexuell keine
Rolle spielen, um alte Leute fremder Klans oder unreife Kinder.
15. Geschlecht des Sprechers.
Da ich leider nicht in der Lage war, Verwandtschafts-
bezeichnungen auch von weiblicher Seite unmittelbar aufzu-
nehmen, ist es nicht ausgeschlossen, daß nach dieser Richtung
hin Lücken bestehen.
Aus den im letzten Kapitel angeführten Beispielen war zu
ersehen, daß nicht allein das Geschlecht der angeredeten, son-
dern auch der sprechenden Person für den Begriff der Ver-
wandtschaftsbezeichnung von Bedeutung ist. Ein Mann nennt
seinen Schwiegervater tata, eine Frau itj'oin. Die Schwieger-
mutter wird von Seite eines Mannes niginik, von Seiten einer
Fran main angeredet. Ein Knabe heißt seinen Mutterbruder
api, ein Mädchen kudi. Die Mutter des Vaters wird von einem
Mädchen mit main, von einem Knaben mit mäiohab bezeichnet.
Auch an die Ausdrücke, mit denen sich Großeltern und Enkel
benennen, ist zu erinnern. Der Geistvater wird von seinem
männlichen Kind mit itj'oin, von der Geisttochter aber mömonab
angeredet. Für die Geschlechtsbeziehungen, die zur Bestim-
108 Thurnwald.
mung des weiblichen Geschlechts den Verwandtschaftsnamen
hinzugefügt werden, kommt es auch auf das Geschlecht des
Sprechenden an. Ein Mann nennt „seine weibliche Verwandte"
wenigen, eine Frau „ihre weibliche Verwandte" menägi.
16. Geschlecht des vermittelnden Verwandten.
Auch das Geschlecht eines Dritten, der die Brücke der
Verwandtschaft zwischen zwei Personen darstellt, ist nicht ohne
Bedeutung für die Prägung der Verwandtschaftsnamen.
Mu-täta bezeichnet die Beziehung eines Mannes zu einem
anderen durch eine Frau. Im Falle des Ausdrucks küdi wird
die Verwandtschaft einer Frau zu einem Mann durch eine Frau
übertragen. Auch für die Schwiegermutter eines Mannes,
meniginik, vermittelt eine Frau die Beziehungen eines Mannes
zu einer Frau. Bei anderen Ausdrücken stellt der Mann das
Bindeglied dar. Mu-main bezeichnet die Beziehung einer
älteren Frau zu einer anderen Frau durch einen Mann. So
ist es auch bei meiama, aber beschränkt innerhalb derselben
Altersklasse. Auch im Falle von mumaha tritt ein Mann als
Vermittler unter Frauen auf, doch unter besonderen Umständen.
Für mungbnt, Schwiegertochter, stellt ein Mann ebenfalls die
Beziehungen her, gleicherweise bei mägendon>
Einen besonderen Fall bietet die Unterscheidung zwischen
rü und itjbin. Eigentlich handelt es sich um das Geschlecht
des Sprechers. Da aber auch von anderen im Ausdruck unter-
schieden wird, bildet das Geschlecht des Kindes den entschei-
denden Faktor, ohne daß man sagen könnte, daß es die Ver-
wandtschaft seiner Mutter zu deren Vater vermittelte.
17. Unterschied des Lebensalters in der Cenerations-
schicht.
Die Beachtung, die dem verhältnismäßigen Lebensalter bei-
gemessen wird, gilt als charakteristisch für klassifikatorische
Verwandtschaftssysteme. Wir finden diese Unterscheidung sehr
Die Gemeinde der Bänaro. 109
verbreitet bei Naturvölkern, aber auch noch bei Kulturvölkern1).
Den Anlaß, nach dem Lebensalter, namentlich unter Brüdern
und Vettern, zu unterscheiden, bietet einerseits wohl das Fest-
halten der Reihenfolge, in der die Kinder zu den Jünglings-
weihen zugelassen werden, andererseits auch eine gewisse
Erziehungsgewalt, die die älteren Kinder gegenüber den
jüngeren ausüben.
Ein geringer Altersunterschied wird auch unter Kindern
viel stärker empfunden als unter Erwachsenen. Er tritt als
allgemeine größere geistige und körperliche Reife im gegen-
seitigen Verhalten der Kinder zueinander in Erscheinung.
Das relative Lebensalter bildet im Bänaro- System unter
*) Außer in südslavischen Sprachen, wie im Bulgarischen, gibt es
auch noch Reste in den romanischen Sprachen, so in sizilischen Dia-
lekten. In letzteren wird die Bezeichnung für den älteren Bruder und
die ältere Schwester in Anlehnung an die Ausdrücke für Vater und Mutter
gebildet: pap'cidu = fratello maggiore, manfcida = sorella maggiore (Ernst
Tappolet, Die romanischen Verwandtschaftsnamen, Diss. Zürich 1895,
S. 58, 59). Auch in deutschen Dialekten finden sich Spuren, so in der
hohenloheschen Mundart (Graußer, Graußi) und in Zug {der Groß, die
Große), — vgl. Schoof a. a. 0., S. 222, Anm. 1; Bas bedeutet die ältere
weibliche Verwandte, außer Kusine daher auch Tante, Muhme die jüngere
weibliche Verwandte, in den verschiedenen Dialekten, — Schoof, S. 251.
Bemerkenswert ist übrigens auch der Hinweis, daß „man wohl schließen
darf, daß Vettern und Kusinen in der (germanischen) Urzeit sich als
Brüder und Schwestern bezeichnet haben", Schoof, S. 251 und Del-
brück, Die Indogermanischen Verwandtschaftsnamen, Abh. d. phil.-hist.
kl. sächs. Ges. d. Wiss. 11, Nr. 5, S. 251, Leipzig 1889.
Im Serbischen entspricht der Ausdruck lelja für „ältere Schwester*
dem Wort für Tante, ähnlich wie in bas (Delbrück, S. 465); der bul-
garische Ausdruck für „ältere Schwester" ist dedja (neben kaka) und
hängt mit der Bezeichnung für „alte Frau" zusammen. Das albanische
motre = Schwester leitet Delbrück von einem Wort für „ältere Schwester"
ab, das mit dem Ausdruck für Mutter zusammenhängt.
Erwähnenswert ist der Vorrang des älteren Bruders in den alt-
indischen Sitten (Delbrück, S. 578). Die Bezeichnung „Bruder" wird
übrigens im Sanskrit auch für „den Befreundeten und Wesensähnlichen"
angewendet (Delbrück, S. 562).
HO Thurnwald.
Brüdern und Schwestern, unter Vettern und Basen und unter
den Schwägern ein Unterscheidungsmerkmal. Hier tritt es aus-
gedehnter als in anderen Verwandtschaftssystemen hervor. Der
Grund mag in der besonderen Bedeutung liegen, die dem
Lebensalter in bezug auf das Einrücken in die verschiedenen
sexuellen Rechte zufällt.
Der Ausdruck äitji für den älteren Bruder kann mit
itjoin = „väterlicher Vater", älterer männlicher Verwandter in
Verbindung gebracht werden. Beide Worte hängen wohl mit
aia = „alt" zusammen.
Von der Klassifizierung nach dem relativen Lebensalter
sind die Geistkinder ausgeschlossen. Bezeichnend ist die Stel-
lung des Geistkindes als Schwager. Es wird mu-op genannt,
während der sonst ältere Schwager ma-aharo, der jüngere
Schwager ma-taini heißt.
Die Gattinnen der Schwäger werden entsprechend z. B. als
ma-äharo-menigen = „sein weiblicher älterer (nicht erstge-
borener) Schwager" oder matäini-menägi = „ihr weiblicher
jüngerer Schwager" bezeichnet x). Gehören sie aber derselben
Weihestufe an, so nennen die Schwägerinnen einander eiama.
18. Zusammenfassung.
Die Analyse der vorliegenden Verwandtschaftsnamen nach
einer Systematik der Merkmale hat gezeigt, daß die Ausdrücke
in mannigfaltiger Weise beeinflußt werden. Aber kein einzelnes
Merkmal greift bestimmend durch. Hervorgetreten sind indessen
die sozialen Beziehungen, in denen eine Person zu einer anderen
steht. Diese zeigten sich im Bänaro- System von überwiegen-
der Bedeutung. Nach ihnen werden die in verschiedenen
*) Im allgemeinen werden die Unterscheidungen nach dem Alters-
rang ja selten so weit getrieben. Ein Beispiel, bei denen ältere und
jüngere Schwestern der Mutter unterschieden werden, bieten die Fanti
an der Westküste Afrikas. Arthur Ffoulkes, The Fanti Family-System.
Journ. Afric. Soc. 7, 1907—08, S. 405.
Die Gemeinde der Bänaro. Hl
Bluts- und Altersverhältnissen zueinander stehenden Personen
gruppiert.
Im folgenden soll die Deutung des Verwandtschafts-
systems und der gesellschaftlichen Einrichtungen der Bänaro
erörtert werden.
III. Teil.
Deutungen und Zusammenhänge.
A. Allgemeine Bedeutung der Verwandtschaftsnamen.
1. Die soziale Seite.
Den Verwandtschaftsnamen kommt bei primitiven Völkern
eine ganz andere Bedeutung zu als bei uns. Man könnte sie
vielleicht mit den Titeln vergleichen, mit denen die Ange-
hörigen eines Hofstaats ausgezeichnet sind, oder mit denen die
Bewohner einer kleinen Beamtenstadt sich erfreuen. Wer nicht
tituliert ist, gehört nicht zur „Gesellschaft", er ist ein Aus-
wärtiger, ein Fremder, ein Feind. Die Kenntnis der ver-
wandtschaftlichen Beziehungen bildet bei den Primitiven den
Paß, mit dem sich einer dem anderen, wo er ihm begegnet,
sei es im Urwald oder auf dem Fluß, legitimiert. Da wird
festgestellt, ob alte Schulden zu rächen sind oder freundschaft-
liche Bande durch gemeinsame Ahnen oder durch Frauentausch
bestehen. Einen Kompaß für die soziale und politische Orien-
tierung gibt die Verwandtschaft an die Hand. Aber nicht
nur nach Freund und Feind scheidet sie die Menschen, auch
untereinander legt sie das Verhalten der durch verwandtschaft-
lich soziale Bande verknüpften Personen fest. Das trifft so-
wohl für den täglichen Verkehr wie für bestimmte Gelegen-
heiten zu, insbesondere für die Exekution der Blutrache, aber
auch für das zeremonielle Verhalten bei Festen. Das Ver-
wandtschaftssystem enthüllt uns die innere soziale Struktur
112 Thurnwald.
einer Gruppe. Diese innere Struktur hat man bisher vielfach
übersehen und primitive Gruppen als amorph betrachtet. Man
vergaß , daß das zeremonielle Verhalten bei Festen , bei den
Initiationsfeiern, die verschiedenen Riten, das Bestehen einer
Wirtschaftsordnung usw., dahin weisen, daß solche Gruppen
nicht unorganisierte Horden sein können, sondern eine gewisse
innere Ordnung besitzen müssen.
Man hat in Deutschland während der letzten Jahrzehnte
die soziale Seite des Lebens der Naturvölker gegenüber der
materiellen vernachlässigt. Das hängt damit zusammen, daß
die Völkerforschung — wie auch heute noch — von den über-
dies oft durch Verwaltungsbeamte, aber nicht durch Ethnologen
überwachten Museen abhängig war, auf den Universitäten aber
keine selbständige, von den Museen unbeeinflußte Vertretung
besaß. Nur der Jurist Kohl er1) und der Sozialist Cunow*)
konnten andere Wege einschlagen. Von den älteren wären
Große3) und Schurtz4) zu nennen. Noch weiter zurück
Post5) und Peschel6). Vierkandt7) aber, der vom philo-
sophisch-psychologischen Standpunkt die sozialen Prozesse und
x) Josef Kohler, Zur Urgeschichte der Ehe etc. 1897 und in der
Zeitschr. f. vergl. Rechtsw. in vielen Aufsätzen seitdem.
2) Heinr. Cunow, Zur Urgeschichte der Ehe und Familie, Er-
gänzungshefte zur „Neuen Zeit" Nr. 14, 1912.
3) Ernst Große, Die Formen der Familie und die Formen der
Wirtschaft, 1896.
4) Heinrich Schurtz, Altersklassen und Männerbünde. Eine
Darstellung der Grundformen der Gesellschaft, 1902.
5) A.H.Post, Die Geschlechtsgenossenschaft der Urzeit und die
Entstehung der Ehe 1875.
6J Oskar Peschel, Völkerkunde, 6. Aufl., bearb. von A. Kirch-
hoff 1885, S. 233 ff.
7) Sowohl in „Naturvölker und Kulturvölker" 1896 wie in „Die
Stetigkeit im Kulturwandel" 1908. Vgl. auch „Das Problem der Fami-
lien- und Stammesorganisation der Kulturvölker" in der Zeitschr. f.
Sozialwissenschaft 11, 1908, S. 73 und den „ Literatur bericht zur Kultur-
und Gesellschaftslehre für die Jahre 1907 und 1908" im Archiv für die
ges. Psychologie, 17, 1910, S. 57 ff.
Die Gemeinde der Bänaro. 113
Erscheinungen betrachtet, hat sich gerade mit der morpho-
logischen Seite der sozialen Gebilde und ihrer Lebensprozesse
weniger beschäftigt. Müller-Lyer1), Simmel2) und andere
Soziologen haben sich aber von der ethnographischen Fach-
literatur etwas fern gehalten und nur nach der einen oder
anderen Erscheinung einmal gegriffen. Mit gründlichen völker-
kundlichen Kenntnissen trat dagegen der Holländer S.R. Stein-
metz3) an die sozialen Probleme heran. Von ethnographi-
scher Seite her haben F. Gräbner4) und P. W.Schmidt5)
den Verwandtschaftsordnungen wohl Aufmerksamkeit zuge-
wendet, aber wesentlich unter dem Gesichtspunkte der Zu-
sammenhänge und Klassifizierung von Kulturen. In der englisch-
amerikanischen Literatur ist eine viel glücklichere Verbindung
der ethnologischen mit der soziologischen Forschung zustande
gekommen. Das hängt teils mit der stärkeren Vertretung der
Völkerforschung an den Universitäten Amerikas, teils mit dem
größeren Verständnis für die soziale Forschung von seiten der
Museen zusammen.
Der erste Entdecker der Bedeutung von Verwandtschafts-
namen für die Erforschung primitiver sozialer Zustände war
der Amerikaner L. Morgan6) und fast gleichzeitig J. F. Mac
Lennan7). Die Beschäftigung mit der soziologischen Be-
deutung der Verwandtschaftsnamen hat in Amerika und Eng-
*) Phasen der Kultur und Richtungslinien des Fortschritts 1908.
2) Soziologie 1908.
3) Zeitschr. f. Sozialwissenschaft 11, 1899: Die neueren Forschungen
zur Geschichte der menschlichen Familie.
4) Wanderung und Entstehung sozialer Systeme in Australien,
Globus, 90, 1906, S. 181, 207, 220, 237 ff., und Die sozialen Systeme der
Südsee, Zeitschr. f. Sozial Wissenschaft 11, 1908, S. 663, 748 ff.
5) Die soziologische und religiös-ethische Gruppierung der austra-
lischen Stämme, Zeitschr. f. Ethnologie 41, 1909, S. 328 ff.
6) Systems of Consanguinity and Affinty of the Human Family,
Smithsonian Institution, Contributions to Knowledge, Bd. 17, 1871.
7) Primitive Marriage 1865, erweitert zu Studies in Ancient Hi-
story 1876.
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. XXXIX. Band. 8
114 Thurnwald.
land seitdem nicht aufgehört, die Aufmerksamkeit der Fach-
kreise zu fesseln. Dadurch ist eine umfangreiche, mit viel
Daten ausgestattete Literatur entstanden, die in Deutschland,
außer von Seiten ^der zwei oben genannten Persönlichkeiten
(Kohler und Cunow), kaum Beachtung fand. Neben vielen
Arbeiten, namentlich von Frazer, tritt das Buch vonN. W.Tho-
mas „Kinship Organization and Group Marriage", 1906, und
ein Vortrag von Andrew Lang „The Origin of Terms of
Human Relationship * *) hervor. Als derjenige, der in letzter
Zeit das Studium der Verwandtschaftsnamen in exakter Weise
auszubauen bemüht war, ist W. H. R. Rivers2) zu nennen.
Rivers sieht in den Verwandtschaftsnamen den genauen Nieder-
schlag der sozialen Gestaltung einer primitiven Gesellschaft.
Einen kritischen Standpunkt so weitgehenden Ableitungen
gegenüber hat, ziemlich im Sinne von A. Lang, der Amerikaner
A. L. Kroeber (San Franzisko) in seinem Aufsatz „Classi-
ficatory Systems of Relationship"3) eingenommen und die
sprachlichen und psychologischen Komplikationen betont, die
bei der Bildung von Verwandtschaftsnamen noch in Betracht
zu ziehen sind. R. H. Lowie4) macht ferner noch das Mo-
ment der Uebertragung von Verwandtschaftsnamen von einem
Volk zu einem anderen geltend.
Wir wollen nun der Bedeutung der Verwandtschaftsnamen
zunächst von der sozialen Seite aus nähertreten. Aus der Be-
trachtung der Verwandtschaftsnamen , wie wir sie oben an-
gestellt hatten, ist hervorgegangen, daß bei den Banaro die
heranwachsende Jugend hauptsächlich nach ihrem relativen
Lebensalter unterschieden wird, dann erst nach ihrem Ge-
a) Proceedings of the Brit. Academy, vol. 3, 1907, 1908.
2) Kinship and Social Organization 1914, sowie seine Aufsätze
über Kinship in Hastings Encyclopaedia, vor allem aber sein großes
Werk : History of Melanesian Society, Cambridge 1914.
3) Journal R. Anthrop. Inst. 39, 1909, S. 77 ff.
4) Exogamy and the Classificatory Systems of Relationship, im
American Anthropologist 17, 1915, S. 223 ff.
Die Gemeinde der Bänaro. 115
schlecht. Bei den Erwachsenen hat sich aber herausgestellt,
daß es anders ist. Hier tritt die Geschlechtlichkeit entscheidend
hervor, und zwar ist das Verhalten in sexuellen Dingen für
die Festlegung der Beziehung zwischen zwei Personen aus-
schlaggebend. Sei es, daß es sich um die Zulassung oder das
Verbot sexuellen Verkehrs unter ihnen oder mit einer be-
stimmten dritten Person handelt. Dementsprechend findet die
Einordnung unter eine mit einem bestimmten Namen belegte
Verwandtschaftsgruppe statt. Dieses Verhalten ist weiter noch
verbunden mit gewissen Zeremonien und Riten.
Innerhalb der ganzen Sippe bleiben aber stets Sonder-
gruppen bestehen, die durch die biologischen Faktoren des
Alters und Geschlechts gegeben sind. Wenn wir von Kom-
plikationen, die durch die Beziehungen mit fremden Klans oder
einer Halbierung des Klans in zwei Sippenhälften absehen, so
werden wir uns doch nie eine völlig „homogene" Menschen-
gruppe vorstellen können, die nicht von selbst den drei Alters -
schichten und zwei Geschlechtshälften zerfiele. Dadurch allein
sind schon 6 Abteilungen innerhalb einer homogenen Gesell-
schaft gegeben.
Solche Abteilungen stehen notwendigerweise in verschiede-
nen Beziehungen des gesellschaftlichen Verhaltens zueinander.
Die eigenartige persönliche Beziehung der Angehörigen einer
Gruppe zur anderen wird in den Verwandtschaftsnamen nieder-
gelegt. Vgl. oben S. 409 ff.
Die sozialen Sondergruppen, aus denen sich eine Sippe
zusamensetzt, bilden die Zellen dieses Organismus. Die Struk-
tur der Sondergruppen ist nach dem sexuell Erlaubten und
Verbotenen abgestimmt. Wer in dieses Gewebe von Be-
ziehungen verkettet ist, die teils durch Abstammung, teils
durch Schwägerschaft oder sexuelle Freundschaft gesponnen
werden, gilt als verwandt. Nach der Art der Verwandtschaft
regelt man das Verhalten seinen Mitmenschen gegenüber. Zur
Bezeugung der Freundschaft wird ja auch der Fremde, z. B.
der Weiße und seine eingeborenen Begleiter, mit Verwandt-
llß Thumwald.
schaftsnamen je nach dem ungefähren Alter bedacht, z. B.
als Vater, Bruder, Sohn u. dgl. angeredet, wie ich es oft
erlebt habe. Wer nicht verwandt ist oder als verwandt an-
geredet, gewissermaßen adoptiert wird, gilt als Feind 1).
Die gemeinsame Abstammung einer Sondergruppe inner-
halb der Sippe hat ihre große Bedeutung. Gewisse Alters-
und Geschlechtsgruppen sind miteinander herangewachsen, sind
gemeinsam durch gewisse religiöse Feste gegangen und auf
einmal in das sexuelle Leben eingetreten. Mit den übrigen
Angehörigen ihrer Sippe verbindet sie die gleiche Ernährung,
der gemeinsame Schutz und die Abwehr der Feinde usw.
(vgl. S. 419). Wer sich außerhalb des sozialen Verbandes stellen
würde, wäre vogelfrei und könnte auf keinen Schutz und Ver-
geltung einer Uebeltat an ihm rechnen. Er liefe Gefahr, als
„böser Kobold* von seinen eigenen Leuten erschlagen zu
werden.
Auf gemeinsame Ahnen sich zurückzuführen, bedeutet
eine Gemeinschaft des Lebens und des Schicksals, in Erfahrung,
Klima, Freund und Feind. Verwandtschaft hat gemeinsames
Erbgut an Blut und Kenntnis, an Recht und Religion der
Nachkommenschaft überliefert, die dadurch gestaltet und in
ihrer Existenz bedingt wird. In den Verwandtschaftsbeziehungen
werden die geselligen Zusammenhänge den einzelnen Sonder-
gruppen bewußt.
In den einfachen Gesellschaften dienen die biologischen
und sexuellen Grundlagen des Lebens zur Unterscheidung und
sozialen Individualisierung. In Gesellschaften, in denen Besitz
und Herrschaft soziale Stufen besonderer Art geschaffen haben,
wie z. B. auf Hawai, Samoa, tritt die Bedeutung der Ver-
wandtschaft als Faktor sozialer Abhebung zurück. Die Ver-
wandtschaftsbande werden in den Dienst dieser neuen sozialen
Mächte gestellt und werden nun zur Uebertragung von Besitz
') Dasselbe berichtet auch A.R.Brown von den Stämmen West-
australiens, J. R. Anthr. Inst. 43, 1913, S. 157.
Die Gemeinde der Bänaro. 117
und Herrschaft herangezogen 1). Das Erbrecht und der Mit-
genuß von Vorteilen daraus wird auf Grund dieser alten Be-
ziehungen orientiert. So ergeben sich neue Gesichtspunkte
für die Regelung der verwandtschaftlichen Verhältnisse, und
die Blutsverwandtschaft tritt erst später gegenüber den älteren
sozialen Banden stärker in den Vordergrund. Eine Entwick-
lung tritt zutage, deren Ausläufer wir z. B. in der Gestaltung
des römischen Familienrechts während des Jahrtausends, das
wir überblicken können, wahrnehmen 2).
2. Sprachliche Beziehungen.
Wenn man die Verwandtschaftsnamen sprachlich klassi-
fizieren will, so muß man ihnen eine Stelle zwischen dem
Eigennamen und dem Pronomen zuweisen. Sie stellen in der
Tat induvidualisierte Pronomina vor, denn die Verwandt-
schaftsbezeichnungen vertreten die Eigennamen, die in ge-
wissen Fällen zu gebrauchen sogar verboten ist. Sie sind
aber viel spezieller als die Pronomina, da sie gewisse Be-
ziehungen unter zwei Personen voraussetzen und nur in einem
solchen Fall vertretungsweise für den Eigennamen gebraucht
werden können. Sie isolieren die Beziehungen zwischen zwei
Personen und sind daher weniger allgemein als das Pronomen.
In primitiven Sprachen treten besondere sozialgruppierende
(rechnerische) Faktoren beim Gebrauch der Pronomina hervor.
Die Inklusiv- und Exklusivformen des Melanesischen sind
z. B. durch solche Faktoren bedingt: „wir" gleich: „du und
ich", wobei der Redende und Angeredete in die Gemeinschaft
eingeschlossen werden, im Gegensatz zu einem anderen „wir",
bei dem der Angeredete nicht in die Gemeinschaft einbezogen wird.
') Vgl. Hocart, Fijian Heraids and Envoys, J. R. A. I. 43, 1913,
S. 109 ff.; 115: Vezier oder major domus pflegt der jüngere Bruder des
„Königs" zu sein, Herold und Gesandter der Mutterbruder (Verwandter
aus der Sippe der Frau).
2) Vgl. F. Bernhöft, Das römische Geschlechterrecht (ius gen-
tilicium), Zeitschr. f. vergl. Rechtsw. 36, 1919, S. 99 ff.
118 Thurnwald.
Anderseits kann man die Verwandtschaftsbezeichnungen
als Eigennamen auffassen, die nur für einen bestimmten Kreis
von Personen gelten. Die Eigennamen wechseln bei den
Primitiven entsprechend der Veränderung des Alters oder der
sozialen Stellung einer Person, wie das namentlich nach den
Initiationszeremonien oder nach der Verheiratung, selbst nach
dem Tode, ja beim Wechsel der Jahreszeit der Fall ist *). Bei
den JBänaro z. B. bekommt ein Kind seinen Namen, nachdem
man es zum erstenmal lächeln gesehen hat. Es ist bemerkens-
wert, daß gerade dieser Umstand als Unterscheidungsmerkmal
für den Eintritt der Seele in das menschliche Wesen auf-
gefaßt wird. Denn man nimmt an, daß dann der Geist des
Ahnen, dessen Namen man auf das Kind überträgt, in dieses
einzieht. Bei den Jünglingsweihen der Bänaro erwirbt der
junge Mann einen neuen Namen, der Kindername gerät dann
außer Gebrauch.
Solche Einrichtungen finden wir sehr häufig auch bei
anderen Naturvölkern. In Buin auf Bougainville (nordwestliche
Salomoinseln) wird auch der Verstorbene mit einem neuen
Namen benannt. Der Eigenname ist die Bezeichnung für ein
bestimmtes Persönlichkeitsbild, für die konkrete Erscheinungs-
form eines Menschen. Dem tritt die Bezeichnung der Ver-
wandtschaft gegenüber, durch die ein Mensch in seinen ver-
schiedenen sozialen und sexuellen Beziehungen bestimmt wird.
Wenn auch die Eigennamen individuelle Bezeichnungen
darstellen, die im allgemeinen ohne Rücksicht auf die Ver-
wandtschaft gebraucht werden, so spielen solche verwandt-
schaftlichen Beziehungen doch in jene besonderen Fälle herein,
l) Vgl. Frazer, Totemism. and Exogamy 1910, I, 44. III, 510,
555 und Boas, The Tribes of the North Pacific Coast, Annual Ar-
ckaeological Report, Toronto, 1905, S. 333 ff. (nach III, 517) — Sommer-
und Winternamen ; bezüglich Buin: Thurnwald, Zeitschr. f. vergl.
Rechtswissensch. 23, 1910, S. 343: bezüglich Australiens: Howitt, The
Native Tribes of South-Australia 1904, S. 736—740; bezüglich Afrikas:
O. Dempwolff, Beiträge zur Volksbeschreibung der Hehe (Baessler
Archiv 4, 1914, S. 98, 99) und H. Rehse, Kiziba 1910, S. 123, 124.
Die Gemeinde der Bänaro. 119
in denen es einzelnen Personen auf Grund ihrer Verwandt-
schaft verboten ist, die Eigennamen gewisser Verwandter aus-
zusprechen x). Auch unter den Bänaro sind wir (oben S. 456)
einigen solcher Verbote begegnet.
Unter den Verwandtschaftsnamen selbst findet man wieder
große Verschiedenheiten in der Zahl von Beziehungen, die ein
Ausdruck umschließt. So wird bei den Bänaro das Wort äpi
auf den Mutterbruder eines Knaben allein beschränkt, während
die Benennungen für Sohn und Tochter ganz allgemein für
die Kindergeneration Verwendung finden2). Die Bezeichnungen,
welche die Kinder untereinander gemäß ihrem relativen Lebens-
alter anwenden, fallen aber fast mit den allgemein vertretbar
gedachten Adjektiven für „alt" und „jung" zusammen, ebenso
die Zusätze für „männlich" und „weiblich", die unter Um-
ständen als Determinative für Sprecher und Angesprochene in
Gebrauch sind.
Was nun die Ableitung und den Zusammenhang von Ver-
wandtschaftsnamen der Bänaro anbelangt, so mögen hier im
Anschluß an die Fragen der elementaren Wortschöpfung einige
Ausdrücke erörtert werden3). Worte für Mutter und andere
weibliche Verwandte werden mit dem Konsonanten „m" oder
dem damit abwechselnden „w" gebildet. So in erster Linie
*) Solche Fälle vgl.Jz. B. bei Rivers, History I, S. 40, 41, 43 usw.
2) Vgl. dazu auch S. A. LafoneQuevedo: Guarani Kinship Terms,
im Am. Anthrop. 21, 1919, S. 420 über Bedeutung von „Onkel" und
„Tante" und die Benennung der „ Neffen" ; insbes. (S. 428) Vaters Schwester
= „wahrer Ursprung", Mutter Schwester = „kleine Mutter".
3) Vgl. dazu C. u. W. Stern, Die Kindersprache 1907, S. 304 ff .
und W. Oehl, Elementare Wortschöpfung, Anthropos 12— 13, 1917/18,
S. 576 ff. Doch müssen die allgemeinen psycho-physiologischen gleich-
artig bedingten sog. „Lallwörter" von den eigentlichen intellektuell
sprachgeschichtlichen Bildungen unterschieden werden (P. K r e t s c h m e r,
Mythische Namen, in Glotta 10, 1919, S. 38 ff.). Diese Lallwortbildung
ist nach Oehl abermals ein stets auch auf die historische Gestaltung
der Sprache einwirkender Faktor. Er sollte besonders bei der Behandlung
primitiver Verwandtschaftsbezeichnungen nicht außer acht gelassen werden.
120 Thurnwald.
mäia = Mutter, Gattin. Damit hängt zweifellos auch voc.
mäiepui, die Bezeichnung für die Schwiegereltern des Sohns,
zusammen. Ferner die Ausdrücke ama (Weihefreundin), ämi
(toc. für Mutter und jüngere Mitgattin), ämo (Mutter der
Mutter) und eiäma (ausgetauschte Schwägerin). Vor allem
auch m'ana = Mutterbrudersgattin. Ferner magendoh (Schwä-
gerin) und ngom (mom) (Schwiegertochter). Das r)mu steckt
auch in nama (Sippenfreundin), in mai'n (Mutter des Vaters)
sowie in den allgemeinen Ausdrücken zur Bezeichnung einer
Verwandtschaftsbeziehung zu Frauen: menägi (ihre weibliche
Verwandte) und wenigen (seine weibliche Verwandte). Von
letzterem Ausdruck ist augenscheinlich meniginik (= die
Schwiegermutter des Mannes) abgeleitet.
Was die männlichen Verwandten anbelangt, so finden wir
die Bezeichnung für den Vater auch an das „zentripetale"
„m" anknüpfen: voc. mio = hio und voc. auch ämi. Dazu
die Benennung des Gatten im voc. mom, sonst mbna. Auch
ämbo für die Weihegenossen (eine Parallele zu ama) gehört
hierhin. Das Wort aharo für den älteren Schwager ist viel-
leicht mit m'ana, Mutterbrudersgattin, in Verbindung zu bringen.
Die „zentrifugalen" Dentalen werden in Verbindung mit Be-
zeichnungen von vaterähnlichen Beziehungen gebracht, nämlich
täta (Vater der Gattin), ata (Stiefvater), itj'oih (Vater des Vaters).
Auch äitji für die älteren Vetter würde hierher zu rechnen sein.
Für die Bezeichnung des Vaterbruders dpi wird ein Labial
gebraucht, der oft an Stelle eines Dentals tritt. Für die
Bezeichnung der Sippenfreundschaft wird das hinweisende
(deiktische) Symbol d (t) verwendet, das als mit Emotionen
assoziiert gilt. Der Sippenfreund wird mit ndü, die Sippen-
freundin mit nama tituliert.
Wenn der erstgeborene Schwager, das Geistkind oo, von
seinen jüngeren Schwägern angeredet wird, und der Geistgatte
der eigenen Frau bro, so ist in diesen Ausdrücken vielleicht
ein Bestandteil von m'oro = Kobold, Geist zu vermuten, wie er
in mbro memeah = Geistsohn, noch erkenntlich zutage tritt.
Die Gemeinde der Banaro. 121
Bezüglich der Ausmünzung der Verwandtschaftsnamen für
historische Zwecke wird die Frage aufzuwerfen sein, inwie-
weit sich die Verwandtschaftsnamen mit den Einrichtungen in
paralleler Weise ändern. Zweifellos wird der Rhythmus dieser
Aenderungen ein anderer sein und die neuen Ausdrücke den
veränderten Instituten nachhinken , so daß also bis zu einem
gewissen Grade Worte vorhanden sind , die mehr alten als
neuen Einrichtungen entsprechen. Anderseits aber passen sich
primitive Sprachen ohne Lautschrift und mit oft nur karger,
in keine festgefügte Form gebannter, Ueberlieferung von Mund
zu Mund mehr den augenblicklichen Bedürfnissen an und sind
stärkeren Wandlungen unterworfen als solche, die schulmäßig
gelehrt, in Grammatiken systematisch gepflegt und durch eine
Lautschrift konserviert werden. Aus dieser mangelhaften Ueber-
lieferung heraus sind die Verschiedenheiten zwischen der Aus-
drucksweise der ältesten und jüngsten Generation und weit
auseinandergehende Varianten, wie z. B. unter den papua-
nischen Sprachen und Dialekten, begreiflich. Aber diese Varia-
bilität macht die Wortbildung auch schmiegsamer, als es in mehr
oder weniger durch die Macht der Ueberlieferung erstarrten
Sprachen der Fall ist. Die Begriffe passen sich mehr den An-
forderungen des Augenblicks an und enthalten weniger histo-
rischen Ballast. Dieses Moment wirkt einer sozialhistorischen
Interpretation der Verwandtschaftsnamen entgegen und muß
bei einer Verwertung der Verwandtschaftsnamen für historische
Zwecke korrigierend in Rechnung gestellt werden.
3. Psychologische Gesichtspunkte für ein klassifikatori-
sches Verwandtschaftssystem.
Um ein klassifikatorisches Verwandtschaftssystem wie das
der Bänaro zu verstehen, müssen wir versuchen, uns auf den
Standpunkt der Eingeborenen zu versetzen, und sehen, wie
der Einzelne seiner Verwandtschaft gegenübersteht. Wenn
auch das soziale Verhalten für die Zusammenfassung ver-
122 Thurnwald.
schiedener Verwandtschaftsgrade unter eine Benennung aus-
schlaggebend ist, so wäre es doch verfehlt, auf der anderen
Seite anzunehmen, daß die Gradnähe bei den verschiedenen
Verwandtschaftsbeziehungen völlig der Beachtung der Leute
entginge. Meine Gewährsmänner pflegten, wenn sie mir eine
Abstammung klar machen wollten, das in der Weise zu tun,
daß sie erst eine wiederholte Kohabitation zwischen dem in
Betracht kommenden Elternpaar beschrieben, dem sie dann die
Geburt des Kindes folgen ließen, um dann für jeden weiteren
Grad die Vorgänge, die zur Geburt eines Kindes führten, in
der gleichen Weise anzudeuten und wieder die darauf folgende
Geburt zu erwähnen. Das geschah nun nicht so, daß etwa
die Gesamtzahl der in Betracht kommenden Geburten zu-
sammengezählt, addiert worden wäre, sondern man begnügte
sich damit, die Ereignisse, die für die fraglichen Verwandt-
schaftsbeziehungen konkret in Betracht kommen, als solche zu
erzählen , sie bildhaft zu schildern und aneinanderzufügen.
Es muß also im Auge behalten werden, daß die Gruppierung
verschiedener Verwandter unter einem Begriff nicht daher
kommt, daß man ihre wirklichen Blutsbande nicht kennte oder
sie nicht zu unterscheiden vermöchte, sondern nur daher, daß
man sie für weniger wichtig hält als die sozialen Beziehungen.
Dazu kommt noch eines: Man interessiert sich nicht dafür
und ist nicht gewohnt, in abstrakten Zahlen die Summe der
Geburten loszulösen und rechnerisch zu isolieren, die zwischen
zwei Personen vorgefallen sind, wohl aber ist es von Bedeutung
zu wissen , ob man nach den herrschenden Sitten zu einer
Person in sexuelle Beziehung treten darf oder nicht, ob man
dadurch zu anderen in weitere Beziehung gelangt, ob Schutz-
verpflichtungen bestehen, zeremonielles Handeln gefordert wird,
mit welchen Leuten ein Mann zusammen der Weihe zugeführt
wird, die Männer zu^ kennen, die in erster Linie zur Voll-
ziehung der Blutrache bestimmt sind, die Frauen, die den
Mann mit Feldfrüchten versorgen und dergleichen mehr. Diese
Wirklichkeiten sind höchst bedeutsam für die Existenz des
Die Gemeinde der Bänaro. 123
Menschen, und dementsprechend klassifiziert der Einzelne seine
Verwandten. Die abstrakte Anzahl von Geburten, die Grad-
abstufungen der Blutsbeziehungen, zu kennen, ist eine theo-
retische Angelegenheit ohne Bedeutung für das praktische
Leben der Gemeinschaft.
Der Mutterbruder äpi ist nicht darum mit einem be-
sonderen Namen ausgezeichnet, weil er in diesem oder jenem
Grade durch Blutsbande verbunden ist, sondern weil er es ist,
dem seinem Neffen gegenüber eine besondere Rolle im Leben
überhaupt und bei gewissen Feiern im besonderen zufällt.
Diese Art der Gruppierung ist eng verwachsen mit der
ganzen Denkart primitiver Völker, sie tritt überhaupt in der
Art des Zählens zutage. Dabei kommt es nicht auf Verwen-
dung von allgemeinen Zahlenbegriffen an, wie etwa wenn wir
die Verwandten nach dem allgemein anwendbaren Schema des
Abstandes in Gradabstufnngen nach genau rechnerisch fest-
gestellten Zahlen von Geburten, durch die einer von einem
anderen dem Blute nach entfernt ist, messen und unter-
scheiden wollten. Die primitiven Zahlbegriffe sind Gedächtnis-
hilfen. Oder sie sind Haufengebilde (wie z. B. „ein Korb
voll", „eine Traglast", „ein Rudel Wölfe", „eine Horde
Menschen"), die nach dem bildhaften Eindruck der äußeren Er-
scheinung zusammengeordnet werden, ebenso wie die Ver-
wandten nach dem Verhalten der einen Gruppe unter ihnen
bezeichnet werden. Die klassifikatorischen Verwandtschafts-
systeme spiegeln das unmittelbar an das Konkrete anknüpfende,
von jeder theoretisierenden Abstraktion sich fernhaltende pri-
mitive Denken in Fragen der Zusammenordnung und Grup-
pierung der Angehörigen wider x).
Darum sind auch nicht alle Verwandtschaftsgrade so wie
für uns von gleicher Bedeutung. Viele entfernter liegende
Beziehungen werden dem Gewährsmann erst durch den Aus-
frager ins Bewußtsein gerufen und dann der einen oder anderen
l) Ausführliches darüber in meiner „Psychologie des primitiven Men-
schen" in dem „Handbuch für vergleichende Psychologie" (im Erscheinen).
124 Thurnwald.
Verwandtschaftsgruppe zugesellt. Die Aufmerksamkeit des
Eingeborenen konzentriert sich auf die Verwandten, die vor
allem wichtige Beziehungen untereinander unterhalten. So ist
es z. ß. mit dem Bruder des Schwagers, der dem Schwager
gleichgesetzt wird, oder dem Vetter des Vaters, der so wie
der Bruder des Vaters behandelt wird. Die Verwandtschaft
wird gruppiert nicht berechnet.
Daher kann natürlich ein Verwandtschaftssystem wie das
klassifikatorische nicht nach irgendeinem abstrakten Gesichts-
punkt, sei es Gechlecht, Altersklasse, Blut, Klan (Exogamie),
Sippe oder dergleichen streng aufgebaut sein, sondern nur auf
realen Verhältnissen und Beziehungen des Zusammenlebens
fußen. Das Verhalten, die Sitten, Gewohnheiten und Einrichtungen
sind ausschlaggebend für die Gruppierung der Verwandt-
schaft. Die Verschiedenartigkeit dieser Lebensgestaltung führt
auch zu der Mannigfaltigkeit von klassifikatorischen Verwandt-
schaftssystemen. Vergangene Zeiten können fortwirken und
entschwundene Sitten noch ihren Abglanz in Bezeichnungen
finden.
Welche Personen bei einem Stamm unter eine gemein-
same Benennung gebracht werden, hängt von der eigenartigen
Entwicklung der Verhältnisse ab. Aber außerdem noch von
den daraus zutage geförderten Systematisierungen. Weil sich
z. B. bei den Nootka und Kwakiutl die Mitglieder einer Dorf-
gemeinde von einem gemeinsamen Ahnen abstammend be-
trachten, müssen sie wenigstens theoretisch sich als gegen-
seitig verwandt ansehen. Die Verwandtschaft wird aber nach
dem Verhältnis bestimmt, in dem die von den gemeinsamen
Ahnen abgeleiteten Stammväter zweier Personen zueinander
stehen. So kann es kommen, daß ein erwachsener Mann ein
kleines Kind seinen älteren Bruder nennt1). Das Schema be-
dingt auch im Bänaro-System , daß die Verwandten zweier
Sippen sich nach dem relativen Alter der Sippenfreunde als
J) Sapir, Social Organization of the West Coast Tribes, in den
Transactions R. Society Canada, sect. II, ser. II, vol. IX, 1915, S. 365.
Die Gemeinde der Bänaro. 125
älter oder jünger bezeichnen. In diesem Zug äußert sich die
Tendenz, „ Haufengebilde " von Verwandten zu gruppieren, be-
sonders deutlich.
Anderseits läßt man namentlich in der Anrede die bei
den Bänaro durch die Zusammensetzung geschaffenen Unter-
abteilungen der Verwandtschaftsgruppierungen fort, vor allem
im mundü- Verhältnis. Sie werden als überflüssig empfunden.
Die schon S. 115 erwähnte Anrede fremder Personen mit
Verwandtschaftsnamen zum Ausdruck der Freundschaft bei
den JBänaro, stellt eine in unserem Sinn metaphorische Aus-
drucksweise dar, wie sie auch von anderen Orten berichtet
wird 3). Jünglinge, die ich am Augustastrom und seinen Neben-
flüssen anwarb, pflegten mich als „Vater", die erwachsenen
Männer als „Bruder" zu bezeichnen. Die Expedition wurde
wie ein wandernder Klan angesehen und meine schwarzen
Jungen als meine „Kinder". Die verschiedene Hautfarbe
bildete keinen Hinderungsgrund. Warum auch? Gelten doch
Menschen auch als Abkömmlinge vom Krokodil, vom Nashorn-
vogel oder vom Kakadu und anderen Tieren 2).
Ein Fortschritt von einem klassifikatorischen Verwandt-
schaftssystem zum Rechnen nach Graden der Blutsverwandt-
schaft stellt sich also als eine Ausdruckserscheinung der sich
verändernden Denkart dar. Die erste Ordnung wird in die
Dinge durch Bildung von Agglomerationen gebracht, wie wir
sie in den Verwandtengruppen sehen , oder in den Haufen-
gebilden als Grundlage des Zählens, in den Ereignisbildern
als niedergelegte Gedächtnisaufzeichnungen am Anfang der
Schrift. Erst später wird Vervielfältigung der Erfahrung und
Erweiterung der Kenntnisse Anstoß zu weiteren und allge-
*) Harrington macht z. B. darauf in seiner Arbeit über die Ver-
wandtschaft bei den Tewa ebenfalls aufmerksam. Am. Anthrop. 14,
1912, S. 492.
2) Ausführliches hierüber in meinem Aufsatz „ Psychologie des Tote-
raismus" im gleichzeitig erscheinenden „Anthropos", XII, XIII, S. 1098,
und in der „Psychologie des primitiven Menschen".
126 Thurnwald.
meiner anwendbaren Zerlegungen geben, die bei den Ver-
wandtschaftsbezeichnungen zu einer Berechnung führen, welche
später nicht mehr durch den Zustand der besonderen Gesell-
schaftsordnung bedingt wird. Dies hat aber vor allem erst
die Auflösung der alten Klan- und Sippenverfassung und der
damit verknüpften Rechte zur Voraussetzung, sowie das Auf-
kommen ganz neuer Grundlagen für die Beziehungen der
Menschen untereinander. Die Herrschaftsorganisationen und
die Rolle, die der Besitz darin zu spielen beginnt, schaffen solche
neuen Voraussetzungen für die Beziehungen der Menschen.
Wenn diese Dinge und Werte in den Vordergrund treten, zer-
fallen die alten ausgebauten Verwandtschaftssysteme. Schon
bei primitiven räuberischen Stämmen, wie z. B. auf Simbo
(oder Mandegusu — Salomoiüseln) :), ist das der Fall. Be-
sonders macht es sich in den verhältnismäßig einfachen Ver-
wandtschaftssystemen der polynesischen und mikronesischen
Stämme geltend 2), wo wir Rangklassen nach Adel und Besitz
abgestuft finden. Hier hat sich die Familie zu einem selbstän-
digen wirtschaftlichen Faktor ausgebildet. Das Rangklassen-
system hält den Besitz noch gebunden. Erst wenn dieses infolge
neuer Ereignisse zusammenbricht, kann das Eigentum und der
Besitz allgemein unter dem ganzen Volke frei vererbt und über-
tragen werden, wie wir das etwa im klassischen Altertum be-
obachten. Dann bildet sich eine Berechnung nach dem allge-
meinen Maßstab einer Gradabstufung der Bluts wege aus. So
zeigen sich die psychischen Prozesse einer fortschreitenden Ab-
straktion und Verallgemeinerung abhängig von sozialen Schick-
salen eines Volkes 3).
Aber wir dürfen eines nicht vergessen, daß nämlich unsere
J) Vgl. Rivers, History I, S. 253.
2) Vgl. Rivers, History I, S. 342, 343 (Tikopia), 366 (Tonga),
370 (Samoa). 379 (Hawaii).
3) Vgl. dazu meinen Vortrag „Entstehung von Staat und Familie"
vom 29. Mai 1920, in den Blättern der Int. Ver. f. vgl. Rechtswiss. u.
Volkswirtsch.
Die Gemeinde der Bänaro. 127
heute gebrauchten Verwandtschaftsnamen keineswegs mit der
Berechnung nach Verwandtschaftsgraden übereinstimmen. Diese
Berechnung, an die sich unser rechtliches Leben seit den
ältesten bekannten Zeiten anlehnt, hat keinen exakten Nieder-
schlag mehr in den Worten unserer Sprache finden können.
Die Ausdrücke in den indogermanischen Sprachen weisen
vielmehr dahin, daß auch in diesen vormals klassifikatorische
Systeme existiert haben dürften, die aber unter den schon früh,
dank der Macht der Ereignisse — Bildung von Schichten und
Entwicklung des Eigentums — eingetretenen Umwälzungen
zerstört worden sind. Aus den Ruinen, die wir in alten Wörtern
und in den Dialekten finden, lassen sich manche Vermutungen
in dieser Richtung herleiten, die in Fußnoten hier gelegentlich
nur angedeutet werden konnten.
4. Einrichtungen und Ausdrücke.
Die Verwandtschaftsbezeichnungen bilden die Grundlage
für die innere Organisation und Gestaltung des Stammes. Alle
Einrichtungen, die den Gesellschaftsbau des Stammes ausmachen,
hängen untereinander zusammen, so vor allem die Heiratsord-
nung und die Erbfolge, aber auch alle Zeremonien, die mit
dem Aufrücken der jüngeren Generation in die höheren Alters-
schichten verbunden sind. Während also die Verwandtschafts-
beziehungen die soziale Organisation eines primitiven Stammes
beherrschen, ist die Frage, wie weit die Bezeichnungen den
Beziehungen der Verwandtschaft entsprechen.
Wir haben gesehen, daß die Verwandtschaftsnamen wohl
den sozialen Einrichtungen eines Stammes sprachlichen Aus-
druck geben, aber doch nicht in völlig adäquater Weise, denn
ein Teil der Verwandtschaftsnamen mag jünger, ein Teil älter,
in einer weiter zurückliegenden Epoche unter dem Einfluß
anderer Sitten und Einrichtungen geprägt worden sein. Ein
Teil ist vielleicht auch mit gewissen Gebräuchen von auswärts
übernommen worden.
128 Thurnwald.
Die Einrichtungen haben ihre Geschichte für sich, und
auch die sprachlichen Ausdrücke ihrerseits. Nicht immer
müssen für neue Einrichtungen und Beziehungen gleich ent-
sprechende Worte geprägt werden. Anderseits verlieren die
Worte mit einer Aenderung der Einrichtungen oft ihre ur-
sprüngliche Bedeutung und Tragweite. Gerade die Verwandt-
schaftsnamen, die ..ursprünglich" einen sozialbiologischen Rang
bezeichnen, werden später zu Ausdrücken, die nur gewisse
Zusammenhänge von Blutsverbindungen kennzeichnen.
Sind sie zu letzterer Funktion gelangt, nämlich dazu, bloß die
Blutsverwandtschaft zu bezeichnen, so gewinnen sie ein Eigen-
leben, sie werden unabhängig von den sozialen Einrichtungen
und versteinern. So ist es bei den modernen Kulturvölkern.
Daher erscheint uns der Gedanke zunächst so fremdartig,
daß die Verwandtschaftsnamen etwas mit sozialen Einrichtungen
zu tun haben sollen. Denn wir sehen soziale und politische
Umwälzungen bei uns vor sich gehen, ohne daß davon die
Verwandtschaftsnamen auch nur im leisesten berührt werden.
Machen wir uns aber klar, daß innerhalb der niedrigen Gesell-
schaftsordnung den Verwandtschaftsnamen die Rolle zukommt,
die in höheren Organisationen Titel und Würden spielen, so
werden wir uns nicht verhehlen können, daß diese Titel und
Würden Exponenten der politischen und sozialen Eigenart einer
gewissen Organisation bilden und dementsprechend der Aende-
rung unterworfen sind. Wenn wir das Wort „Verwandtschaft"
für Beziehungen unter Angehörigen primitiver Völker anwenden,
so müssen wir dem Wort eine erweiterte Bedeutung zugestehen,
ähnlich wie wenn wir die Ausdrücke Staat, Religion, Geld.
Zahl u. dgl. gebrauchen.
Wir müssen annehmen, daß die Verwandtschaftsnamen dort,
wo sie soziale Beziehungen umschreiben und nicht auf den
Ausdruck bloßer blutsverwandtschaftlicher Verhältnisse einge-
schränkt sind *), von einer Aenderung sozialer Einrichtungen
!) Bezüglich der Unterscheidung in soziale und Blutsverwandtschaft
(„parente sociale" und „parente physique" nach Yan Gennep) vgl.
Die Gemeinde der Bänaro. 129
ganz wesentlich in Mitleidenschaft gezogen werden. , Nur wird
eine Abänderung der Bezeichnungen nicht gleichen Schritt mit
sozialen Umwälzungen halten. Außerdem vermögen sprachliche
Momente die Faktoren psychologischer Art, wie oben dar-
gelegt, störend und ablenkend zu beeinflussen.
Die Verwandtschaftsnamen können somit nur als ein an-
nähernder Ausdruck für die augenblickliche soziale Verfassung
eines Stammes betrachtet werden. Die Höhe ihres „Annäherungs-
wertes" aber wird in jedem einzelnen Fall verschieden und
besonders zu bestimmen sein1).
Daher glaube ich nicht, daß wir so weit gehen können
wie Rivers2), der hofft, in den Verwandtschaftsnamen einen
absolut verläßlichen Führer zur Rekonstruktion einer sozialen
Organisation gefunden zu haben, sondern möchte meinen, in
ihnen nur einen wohl verläßlichen, aber immerhin mit Vor-
sicht zu gebrauchenden Wegweiser zu besitzen.
5. Der sozialgeschichtliche Vorgang.
Das gegenwärtige Verwandtschaftssystem eines Stammes
haben wir uns als das historische Ergebnis aus inneren Vor-
gängen und von außen her zur Wirksamkeit gelangten Er-
eignissen vorzustellen. Die inneren Vorgänge bestehen in den
wechselseitigen psychischen Wirkungen unter den Individuen.
Die von außen wirkenden Einflüsse sind minder konstanter
B. Malinowski, The Family among the Australian Aborigines, Lon-
don 1913, S. 200 ff., und seine Verweise auf E. S. Hartlan d, W. H. R.
Rivers, Wesfcermarck, Durkheim und Van Gennep.
*) Eine Zusammenstellung der lateinischen , griechischen und
deutschen Verwandtschaftsnamen bringt W.D.Wallis: „Indo-germanic
Relationship Terms as Historical Evidence", im Am. Anthrop. 20, 1918,
S. 419 ff. — Vgl. insbes. 0. Schrader, Ueber Bezeichnungen der Heirats-
verwandtschaft bei den indogermanischen Völkern, in Indogermanischen
Forschungen 17, 1905, S. 11 ff.
2) Kinship and Social Organization 1914, Schluß, besonders S. 93.
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. XXXIX. Band. 9
130 Thurnwald.
Natur, sondern treten häufig in katastrophaler Form auf und
bewirken dann, wenn ich ein naturwissenschaftlich biologisches
Bild gebrauchen darf, eine „ Mutation" der Gesellschaft.
Wenn man von einem „Stamm" spricht, so denkt man
oft an eine homogene Gruppe (s. oben S. 115). Als eine solche
wird man eine Gesellschaft verstehen, in der fremde Elemente
seit Generationen durch Heirat assimiliert und in der die
Ueberlieferungen so einheitlich geworden sind, daß man die
zusammensetzenden Elemente nicht mehr erkennen kann.
In einer solchen Gruppe findet erstens eine beständige
Anpassung aller Mitglieder an die Naturumgebung, an die
äußeren Lebensbedingungen statt, zweitens eine wechselseitige
Anpassung der Mitglieder der Gruppe aneinander, also an die
inneren Bedingungen des Zusammenlebens.
Je mehr diese Individuen einer Gruppe die Eigenheiten
verschiedenen Ursprungs tragen, mit desto mehr Reibungen
wird ihre gegenseitige Anpassung verbunden sein. Je gleich-
artiger die Individuen sind, desto weniger Anpassung ist er-
forderlich, desto weniger innere Reibung, und um so friedlicher
werden sie ihre Ueberlieferungen bewahren und an ihre Kinder
weitergeben. Eine homogene Gruppe wird immer wesentlich
konservativ, ja stagnierend sein, solange keine äußeren Stö-
rungen eintreten.
Die ziemlich homogenen Stämme der Papua zeigen einen
außerordentlichen Grad von Anpassung an das Klima ihrer
0 ertlichkeit und ihre geographischen Lebensbedingungen. Sie
sind daher außerordentlich honservativ. Diese starke Anpas-
sung kleiner Gruppen an einen engen Lebensraum hat keinen
Anlaß gegeben zur Erweiterung von Wissen und Kenntnissen
und ermöglichte diese Art von einheitlicher Psyche, wie wir
ihr in den einzelnen Stammtypen der Papua begegnen. Jeder
Stamm hat nicht nur gewisse somatische und kulturelle, sondern
auch psychische Eigenheiten, ähnlich etwa wie die Bewohner
abgelegener Gebirgstäler oder einsamer Inseln auch bei uns
noch.
Die Gemeinde der Banaro. 131
Störungen des Lebens konnten im wesentlichen nur von
außen kommen. Sie mögen sich in Ueberschwemmungen,
Vulkanausbrüchen, Erdbeben, Epidemien, Hungersnöten äußern.
Als solche können sie auf dem Umwege über die wirtschaft-
lichen Existenzbedingungen eine erhebliche Wirkung auf die
Psyche eines Volkes ausüben. Sie können es vor allem aber
auch von seinen bisherigen Wohnsitzen vertreiben.
Bedeutsamer und tiefergreifend pflegen indes die Stö-
rungen zu sein, die aus Zusammenstößen mit fremden Menschen
entstehen. Sie werden selten freundschaftlicher Natur sein.
Sie müssen aber nicht notwendig zu Eroberung und Unter-
jochung führen. Gerade die melanesische Invasion ist ein Bei-
spiel dafür. Sie zeigt uns, wie die Melanesier sich in die
Zwischenräume zwischen den papuanischen Ansiedlungen
hineinschoben, sei es, daß die betreffenden Gegenden unbewohnt
waren oder daß sie die Bewohner erschlugen oder verjagten,
die Weiber raubten und sich niederließen, wie das z. B. auf
den Salomonsinseln noch bis vor kurzem zu beobachten war *).
Unter diesen Ansiedlern selbst herrscht aber seit jeher wohl
Feindschaft. Das hinderte keineswegs eine Vermischung durch
Weibertausch, wodurch auch kulturelle und staatliche Ueber-
tragungen stattfanden, die so die verschiedenen lokalen Typen
an somatischer Beschaffenheit, kulturellem Besitz und sprach-
lichem Charakter erklären, die wir finden.
6. Das Problem der Uebertragung.
Oben wurden politische und soziale Verschiebungen er-
wähnt, welche Anstoß zu einer Aenderung des Denkens, zu
der Ausbildung einer Denkart gegeben haben dürften (S. 126).
Dabei wurde an Ereignisse innerhalb eines Stammes selbst ge-
dacht. Wir müssen aber noch Vorgänge in Betracht ziehen,
die von seiten eines fremden sozialen Körpers her unseren
*) Vgl. meinen Reisebericht, Zeitschr. f. Ethnologie 1909, S. 515,
516 und 527, 528. Siehe auch Rivers, History II, S. 592 und 595.
132 Thurnwald.
Stamm im Laufe der Begebenheiten etwa beeinflußten und
dadurch auch seine Verwandtschaftsbezeichnungen umgestalteten,
ein Gesichtspunkt, auf den Lowie1) besonders hinwies.
Solche Uebertragungen von Verwandtschaftsnamen haben
wir ja in der deutschen Sprache: das Wort „Cousin" und
„Cousine" aus dem Französischen hatte eine Zeitlang die
Worte „Vetter" und „Base" völlig verdrängt gehabt. Bei dem
Worte „Cousin" hat die der deutschen Phonetik sich nicht
einfügende Aussprache des Wortes immer an den fremden
Ursprung erinnert und so wurde es wieder zurückverdrängt
durch das frühere „Vetter". Dagegen konnte sich das auch
seit ca. 150 Jahren eingeführte „Cousine" als „Kusine" halten,
da bei diesem Wort keine phonetischen Schwierigkeiten be-
standen. In das Englische gingen dieselben Worte aus dem
Französischen über. Dabei assimilierte das Englische sich die
Ausdrücke in der Weise — wahrscheinlich auch eine Folge
der Phonetik — , daß die Geschlechtsunterschiede verloren
gingen, und nun bezeichnet das englische „cousin" sowohl den
Vetter wie die „Kusine", die Base.
Aus diesem Beispiel, das sozusagen unter unseren Augen
vor sich gegangen ist, ersehen wir, wie es zugehen „kann",
wenn einzelne Verwandtschaftsnamen „übertragen" werden.
Bei diesem Beispiel handelt es sich aber um bloße Wortüber-
tragung, in dem Sinn nämlich, daß das frühere deutsche Wort
übersetzt durch das fremde wiedergegeben wurde, ohne daß
aber eine wesentliche Aenderung in der Bedeutung, namentlich
in der Art und in dem Umfang der bezeichneten Verwandt-
schaftsbeziehungen eingetreten wäre. Das ist möglich, wenn
es sich um Völker handelt, die sehr ähnliche Verwandtschafts-
systeme besitzen, wie es ja bei den erwähnten europäischen
Nationen der Fall ist.
Anders liegt die Sache aber unter Naturvölkern, von denen
zwei benachbarte Stämme oft sehr weit voneinander abweichende
*) Am. Anthrop 17. 1915, S. 235.
Die Gemeinde der Bänaro. 133
Systeme haben. Wir müssen uns daher hüten, -in vulgär-
psychologische Fehler zu verfallen und, ohne Berücksichtigung
der komplexen sozialen und psychischen Eigenart, von uns
aus Rückschlüsse auf die Uebertragung von Verwandtschafts-
namen unter Primitiven zu ziehen. Da sind die Voraus-
setzungen ganz anderer Art. Die Kulturgüter eines Volkes,
einschließlich die materiellen, sind nicht bloß zufällige An-
häufungen, wie die Gegenstände in einem Museumschrank,
sondern sie sind erworben durch gemeinsames Erleben, Fühlen
und Denken. In ein Volk ist kein — auch kein materielles —
Kulturgut eingegangen , ohne in seiner Art auf die Psyche
eingewirkt zu haben , wenn ein Paddelruder oder ein Pfeil
auch weniger der Veränderung ausgesetzt sein mochte als ein
Stück fremder Sprache oder fremden Denkens.
Die Uebertragung von Verwandtschaftsnamen unter Pri-
mitiven wird auch eine Beeinflussung der sozialen Einrich-
tungen, eine Annahme gewisser Verhaltungsarten, vielleicht
von Zeremonien mit sich bringen. Dabei werden nicht allein
Bezeichnungen der Verwandtschaftsbeziehungen, sondern auch
noch andere Worte und Ausdrücke mit entlehnt werden.
Es wird also immer eine weitgehende Berührung zwischen
zwei Völkern vorauszusetzen sein, wenn es sich erweisen sollte,
daß eines von dem anderen Verwandtschaftsnamen „entlehnt"
hat. Denn nur unter ganz besonderen Umständen, nicht aus
bloßer Spielerei oder sinnloser Nachäffung wird im allgemeinen
ein Volk zu einer Umgestaltung greifen, die in der Tat die
Grundlage und den Gehalt seiner sozialen Existenz ausmacht,
von Einrichtungen, die mit religiösen Anschauungen verflochten
und durch wirtschaftliche Faktoren bedingt sind. Man wird das
System der Verwandtschaftsnamen als einen höchst konser-
vativen Bestandteil seiner Kultur betrachten müssen, der sich
nur schwer Aenderungen unterwirft. Tritt eine solche ein,
so muß man auf große innere Umwälzungen schließen , die
natürlich auch durch äußere Ereignisse herbeigeführt sein
können.
134 Thurnwald.
Bezüglich der Frage der Uebertragung macht z«. B.
Eduard Hermann (Beiträge zu den indogermanischen Hoch-
zeitsgebräuchen, in den Indogermanischen Forschungen, Bd. 17,
S. 376), darauf aufmerksam, daß rechtliche Institutionen
nicht so leicht übertragbar sind wie die Sitte, und daß eine
Institution oft wieder eine andere für ihre Entstehung und
Uebertragungsmöglichkeit zur Voraussetzung hat.
Daß Bezeichnungen allein entlehnt würden , wäre erst
dann zu erwarten, wenn eine so weitgehende Berührung zwischen
zwei Völkern eingetreten ist, daß ein Volk große Bestandteile
der Kultur des anderen übernommen , die eine Kultur der
anderen sich angeglichen hat , dadurch , daß ein Volk zum
anderen etwa in ein Herrschaftsverhältnis getreten oder daß
ähnliche, in das nationale Leben einschneidende Ereignisse sich
vollzogen haben. Verwandtschaftsnamen werden sicher durch
einen ganz anderen Prozeß übertragen, wie etwa Geräte, Waffen
oder vielleicht Kulturpflanzen, obgleich es auch hier nicht
immer rein mechanisch zugeht. Der Tabak z. B. ist wahr-
scheinlich verhältnismäßig rasch bis in das Zentralgebirge von
Neuguinea vorgedrungen. Der Verbreitung der Betel- und
Kokospalme sind jedoch klimatische Schranken gezogen. Auch
die Töpferei ist durch das Vorkommen geeigneter Erden be-
dingt, sie kann ersetzt werden durch Flechtwerk, das da-
durch zu besonderer Ausbildung gelangt. Statt des Bogens und
Pfeils hat man vielleicht dort, wo man kein geeignetes Holz
fand, wie z. B. in den Mangrovesümpfen, den Wurfpfeil1) er-
funden. Das Pfahlhaus an den Ufern der jedes Jahr weithin
die Gegend überschwemmenden Flüsse wird sich rascher als
Notwendigkeit verbreitet haben wie etwa bestimmte Zieraten
oder die Form des Giebeldachs. Aber auch das, was man auf
sprachlichem Gebiet Bedeutungsverschiebung nennt, kann ein-
treten: Die Keule wird als Paddel verwendet, der Bogen als
Speer, der Tragbeutel als Perücke. Wenn also die Frage
einer Uebertragung von Verwandtschaftsnamen aufgeworfen
*) Vgl. meinen Vortrag, Zeitschr. f. Ethnologie 1917, S. 174.
Die Gemeinde der Bänaro. 135
wird, dürfte man gut tun, immer die komplexe Eigenart des
Falls besonders zu untersuchen.
Zur Frage der Kulturübertragung hat Günter Tess-
mann in seinem Vortrag „Die Urkulturen der Menschheit
und ihre Entwicklung" in der Zeitschr. f. Ethnologie, Bd. 51,
1919, wertvolle Untersuchungen angestellt. Darin weist er
darauf hin, daß nicht nur Ideen und Einrichtungen durch
die Uebertragung sich verändern, sondern daß auch
Gegenstände der materiellen Kultur, selbst wenn sie ihre For-
men noch durchaus bewahren, von ganz verschiedener Bedeu-
tung erfüllt werden können. Es zeigt z. B., wie das Wurf-
messer der Sudanstämme, das dort als Waffe gedacht war,
bei den Bantu zu einem Kultgegenstand wird, während noch
andere Stämme das gleiche Werkzeug als friedliches Hau-
messer verwenden (S. 134).
B. Das Yerwandtschaftssystem und der Gesellschaftsbau
der Bänaro.
1. In ihrer Wechselbeziehung heute.
Die allgemeinen Bedingtheiten der Verwandtschaftsnamen
und ihrer Beziehungen zu den sozialen Einrichtungen wurden
erörtert. Wir haben uns die Frage vorzulegen, wie weit im
Falle der Bänaro die Verwandtschaftsnamen einen Ausdruck
des Gesellschaftsbaues oder anderer Faktoren darstellen.
Die Ausführungen des zweiten Teils dieser Arbeit waren
diesem Zweck gewidmet. Wir konnten drei Gruppen von
Namen unterscheiden: 1. solche, die sich auf die Beziehungen
innerhalb der Sippe bezogen, 2. Ausdrücke, welche die Ver-
hältnisse unter den Mitgliedern der beiden Sippen andeuteten,
endlich 3. Bezeichnungen unter den Mitgliedern verschwägerter
Klans. Auffallend ist die schwache Entwicklung der Familie.
Es fehlen Ausdrücke , die nur auf die familialen Bande be-
schränkt wären. Indessen finden sich Bezeichnungen, die
scharf andere Beziehungen ins Auge fassen, wie die der Sippen-
136 Thurnwald.
freundschaft, der Schwägerschaft, des Mutterbruders usw. Die
veränderten Ausdrücke, mit denen sich der verheiratete Bruder
und die verheiratete ausgetauschte Schwester benennen, die
Bezeichnung, die die Tochter nach ihrer Verheiratung für ihren
Vater gebraucht, sind Zeugnisse einer solchen Unterscheidung.
Aber wo bleiben die unterscheidenden Ausdrücke für die An-
gehörigen der Familie gegenüber denen, die für Sippe und
Klan angewendet werden? Man kann sagen, daß die auf dem
Prinzip der Vergeltung aufgebauten Sexualeinrichtungen, so-
wohl die Verschwägerung wie die Sippenfreundschaft in den
Ausdrücken sorgfältige Beachtung finden, während die An-
gelegenheiten der Abstammung in nachlässiger Weise behandelt
werden. Darum wird auch die Kindergeneration von den Alten
nicht weiter unterschieden. Nur die Geistkinder nehmen eine
besondere Stellung ein. Im übrigen überläßt man es den
Kindern, sich untereinander nach ihrem verhältnismäßigen
Lebensalter zu unterscheiden.
Damit ist auch ein allgemeiner Zug derartiger Systeme
getroffen. Die sexuellen Rechte interessieren , viel weniger
aber die Folgen daraus, die besonderen Abstammungsbeziehungen,
die Blutsverwandtschaft. Denn letztere wird nur auf Grund
der Sexualrechte konstruiert. Man rechnet nämlich folgender-
maßen : wenn zwei Personen, der M und die W Umgang mit-
einander pflegen , dann darf der M mit der Wa und die W
mit dem Ma nicht Umgang haben, wohl aber etwa M mit Wx
oder W mit M1 usw. Diese Vorschriften selbst aber gründen
sich auf die Auffassungen von gewissen Freundschaften und
sozialen Zusammengehörigkeiten.
Es ist ganz unzutreffend, wenn man Blutsbande als be-
wußt gesetzte Gründe für derartige Vorschriften annimmt.
Unbewußterweise mögen sie mitsprechen, und die Freund-
schaften und sozialen Zusammengehörigkeiten bauen sich viel-
fach tatsächlich auf gemeinsamer Abstammung auf. Vielfach
wird sie aber fingiert, wo sie nicht besteht. Alle freundschaft-
lichen Beziehungen werden insbesonders in die Formen einer
Die Gemeinde der Bänaro. 137
gemeinsamen Abstammung gekleidet. Ja, die kausalen Ab-
hängigkeiten und Bedingtheiten in der Natur werden mytho-
logisch in Bildern der Abstammung wiedergegeben 1).
Alles, was man über den Sinn der Exogamie phantasiert
hat, sie sei der Ausdruck einer Abscheu vor Inzucht, oder
gar sie verfolge rassehygienische Zwecke, ist ganz unhaltbar,
und nach allem, was man positiv von den Naturvölkern weiß,
unvereinbar mit ihrem Wissen und ihrem Verständnis von Natur-
zusammenhängen. Nicht soll dabei natürlich in Abrede gestellt
werden, daß gewisse gefühlsmäßige Faktoren bei der Aufstellung
derartiger Normen intuitiv im Spiele gewesen sein mögen.
Wenn der Sippe oder dem Klan eine große Bedeutung
für die Gruppierung der Heiratsfähigen und der zum Sexual-
verkehr Zugelassenen zufällt, so rührt das daher, daß Sippe
und Klan politische und soziale Freundschaftsverbände dar-
stellen. Für die Abstammung dagegen tritt die Zugehörigkeit
zu einer Altersklasse als wichtiges Unterscheidungsmerkmai
hervor. Daher haben wir auseinander zu halten, ob durch einen
Verwandtschaftsnamen etwas über die Sexualbeziehungen oder
über die Abstammung angedeutet wird. Dementsprechend müssen
wir auch unsere Folgerungen aus den Namen gestalten.
Wenn A. Lang2) gegen die Verwertung der Verwandt-
schaftsnamen für Rückschlüsse auf soziale Zustände einwendet,
daß man, weil z. B. das französische Wort „femme" ebenso
wie das griechische „fovY]" sowohl Gattin wie Weib, Frau
und „fille" Tochter wie Mädchen überhaupt bedeutet, daraus
eigentlich folgern müßte, daß bei diesen Völkern Gruppenehe
herrsche, so vergißt er, daß die einzelnen Verwandtschafts-
namen nur innerhalb des gesamten Systems von Verwandt-
schaftsbezeichnungen ausgewertet werden dürfen und ent-
sprechend der Bedeutung, welche der Verwandtschaft im
politischen Gefüge zukommt (vgl. S. 111).
*) Vgl. meine „Psychologie des primitiven Menschen".
2) „The origin of Terms of Human Relationship" in den Proceedings
of the British Academy, Vol. 3, 1907—08, S. 144.
138 Thurnwald.
2. Sozialgeschichtliche Ableitung aus den Verwandt-
schaftsnamen der Bänaro.
Nachdem die notwendigen Erwägungen über die Gewin-
nung einer sozialgeschichtlichen Perspektive angestellt wurden,
kann darangegangen werden , wirklich Ableitungen aus den
Verwandtschaftsnamen zu versuchen. Dabei müssen auch die
sozialen Rechte und Pflichten in Rücksicht gezogen werden,
wie wir sie im ersten Teile kennen gelernt haben.
Wir haben gesehen, daß Ausdrücke fehlen, welche Familien-
beziehungen in unserem Sinn umschreiben würden. Es be-
steht wohl eine Ehe, aber das Eheband wird wiederholt offi-
ziell durchbrochen , um vorübergehend andere Verbindungen
einzugehen. In wirtschaftlicher Beziehung ist das Paar der-
art in das Leben der Sippe verflochten, daß nur wenig selb-
ständiges Wirtschaften übrigbleibt. Setzen wir die Verwandt-
schaftsbezeichnungen mit den tatsächlich herrschenden Zu-
ständen in Beziehung, so sehen wir, daß sie bei den Bänaro
in der Tat die sozialen Verhältnisse spiegeln.
Als letzte soziale wirtschaftliche Einheit, wie gesagt, ist
die Sippe anzusehen. Die Mitglieder einer Sippe sind unter-
einander verwandt, ohne aber notwendigerweise voneinander
abzustammen. Die Verwandtschaft wird dadurch hergestellt,
daß im allgemeinen die jüngere Generation von den Müttern
der älteren Generation der gleichen Sippe abstammt. Diese
Mütter selbst sind verschiedenen anderen Klans entsprossen.
Die Gatten dieser Mütter sind indessen Angehörige der gleichen
Sippe desselben Klans. Väter der Kinder ihrer Gattinnen sind
diese Gatten der Mütter nicht regelmäßig. Abgesehen vom
Fall des Geistkindes kann ja auch der Verkehr mit dem Sippen-
freund fremde Vaterschaft herbeiführen. Es ist also nicht
ganz exakt, von „Vaterfolge" hier zu reden, obwohl der Gatte
der Mutter (außer vom Geistkind) als „ Vater u bezeichnet wird.
Die Männer der verschiedenen Generationen in einer Sippe
sind formell wohl: Vater, Vatersvater, Sohn und Sohnessohn,
Die Gemeinde der Bänaro. 139
oder bei des Vaters Bruder dieselben Verwandten in aufsteigen-
der und absteigender Linie. Aber genau genommen handelt
es sich immer nur um die Nachkommenschaft der Gattinnen
von Männern, die von solchen Müttern abstammen, deren Be-
schützer, d. h. Gatte, derselben Sippe angehört. Richtiger als
von Vaterfolge würde man von „Folge nach dem Gatten oder
Beschützer der Mutter" reden.
Die Kinder werden nach der Zugehörigkeit zu einer Mutter
bestimmt. Insofern besteht eigentlich Mutterfolge. Aber die
Mutter ist einem bestimmten Mann zugeteilt; denn Sippe und
Klan sind Vergesellschaftungen von Männern. Damit fallen
dem Manne auch die Kinder der Gattinnen zu. Sie werden
seinem Klan und seiner Sippe zugerechnet. Gerade dieses
Verfahren können wir als Ausgangsform für die eigentliche
Vaterfolge betrachten. Aber auch der Zusammenhang von
der reinen Mutterfolge her tritt darin zutage.
Wenn wir nun die sexuellen Beziehungen betrachten, so
finden wir, daß die nebenehelichen Beziehungen unter den Sippen
rituellen Charakter tragen. Das Bestehen solcher Riten weist
auf alte Ueberlieferungen, sie sind Reste früherer Einrich-
tungen, die von neuen Gewohnheiten überschichtet worden sind.
Das zeigen auch die Verwandtschaftsnamen an. Der Klan
erscheint sonach in zwei homogene Hälften geteilt, die durch
die gleichaltrigen Sippenfreunde zusammengeschmiedet sind.
Von diesem aus werden die Verwandten der einen Sippe, wie
wir sahen, ebenso bezeichnet wie die der anderen. Das ist
unter den Klans nicht der Fall. Hier gibt es eine Reihe
besonderer Benennungen. Wir werden also berechtigt sein, die
Beziehungen unter den beiden Klanhälften als älter denn die
Beziehungen unter verschiedenen Klans anzusehen (vgl. S. 85).
Unter diesen Umständen wird man bei den Bänaro somit
die Spaltung des Klans in zwei Hälften als etwas sehr Altes
ansehen dürfen. Die als rituelle Akte unter den beiden Sippen
üblichen Sexualbeziehungen werden wir daher den früher
bestehenden Sippen zugrunde zu legen haben.
140 Thurnwald.
Sieht man also von der Beziehung zu anderen Klans ab,
so wird man einen Zustand historisch zurückkonstruieren dürfen,
in dem die sexuellen Vorgänge sich innerhalb des Klans, aber
zwischen seinen beiden Hälften, den Sippen, abspielten.
Das wesentliche dabei wäre, daß die Mädchen nicht, wie
später, einem anderen Klan entnommen werden. Mundü (Sippen-
freund) und munama (Sippenfreundin) wären ursprünglich Gatte
und Gattin, d. h. ein Mann der einen Sippe (Klanhälfte) hatte
eine Frau der anderen Sippe (Klanhälfte) zur Gattin, die
Sippen selbst waren exogam.
Erinnern wir nun an die Einweihungszeremonie, so finden
wir, daß der alte Mann der anderen Sippe die Defloration an
den jungen Mädchen ausübt. Wer ist dieser alte Mann ? Es
ist der Gatte der Mutter dieses Mädchens, unter Umständen
ihr Vater. Nun haben wir gehört, daß heute erzählt wird,
bei der Einweihezeremonie der neu in den Klan aufgenommenen
jungen Mädchen werde erst der Vater des Bräutigams auf-
gefordert, die Defloration vorzunehmen. Doch er kratzt sich
auf dem Kopf, erklärt, er schäme sich und fordert zu dem
Akt seinen Sippenfreund auf, der seinerseits ihm die eigenen
Rechte zu der gleichen Handlung an der Braut seines Sohnes
überträgt (S. 388). Folglich werden wir in dieser Ablehnung
eine Neuerung vermuten und das Anerbieten selbst als den
Bestandteil einer alten Sitte betrachten dürfen. Danach hätte
also der Vater die Braut des Sohnes defloriert, eine Sitte, die
teils voll in Hebung anderwärts vorkommt, häufiger noch in
abgeschwächter Form als Wohnen beim Schwiegervater während
gewisser Tobiasnächte l). Vgl. S. 385.
!) Siehe Crawley, The Mystic Rose, S. 314, bes. 347 ff. Bezüg-
lich der Rolle der alten Männer den jungen Mädchen gegenüber vgl.
außer Rivers, History IT, S. 59 und 64 noch die von B. Malinowski
S. 260 — 262 und 309 aufgeführten Stellen für Australien, sowie A. Knaben-
hans, Die politische Organisation bei den australischen Eingeborenen
(Studien zur Ethnologie und Soziologie, herausgegeben von A. Vier-
kandt), 1919, S. 59 ff.
Die Gemeinde der Bänaro. 141
Betrachten wir aber das Diagramm, S. 85, so finden wir,
daß der Nachfolger in die Rechte des Alten nicht sein Sohn,
sondern seiner Schwester Sohn ist, sein Sohn gehört nämlich
der anderen Sippe an. Denn wenn wir an derselben Kinder-
folge festhalten, wie wir sie im heutigen Bänaro-Sjstem
finden, so werden wir plötzlich gewahr, daß die Kinder in der
Sippe der Mutter bleiben, und wir mögen annehmen, daß die
Männer, wie es heute noch üblich ist, den Beischlaf außer-
halb des Hauses vollzogen und gar nicht mit den ihnen zuge-
sprochenen Gattinnen zusammenwohnten. Sie wohnten vielmehr
mit ihren Brüdern und Schwestern zusammen.
Dabei braucht man nicht notwendigerweise Geschlechts-
verkehr unter Brüdern und Schwestern anzunehmen, obgleich
er keineswegs als unbedingt ausgeschlossen zu betrachten ist.
Daß er der Fruchtbarkeit und der Artung der Rasse ohne weiteres
abträglich wäre , kann nach den Erfahrungen in Westafrika
und China nicht ohne weiteres angenommen werden x).
Aus dem Zusammenwohnen leitet sich auch die besondere
Aufmerksamkeit des Schwesterbruders für die Kinder der
Schwester ab, und die bevorzugte soziale Rolle, die er den
Neffen und Nichten gegenüber spielt. Daß die Kinder bei
der Mutter bleiben, ist schon biologisch natürlich, aber auch
wirtschaftlich begründet, da der Gartenbau der Frauen ständige
Ernährung sichert.
Als Sippenangehöriger ist also der Schwestersohn Nach-
folger in die Rechte des Alten. Wir haben aber gesehen, daß
die jungen Mädchen der einen Sippe und die alten Männer
der anderen Sippe sich wechselseitig als Gatte und Gattin an-
reden. Es wird wohl der Mutterbruder des Mutterbruders des
eigentlichen Gatten das Deflorationsrecht ausgeübt haben, wenn
er am Leben war. Der Alte, der in früherer prähistorischer
Zeit die Defloration vornahm und sein erstes Recht auf die
!) Vgl. G. Duncan Whyte^The Incest Tabu (Die Hoklo-Leute von
Amoy und Swatau, China), „Man" 10, 1910, 54, und N. W. Thomas, The
Incest Tabu (Südnigeria, besonders Agbede, Westafrika), „Man" 1910, 72.
142 Thurnwald.
jungen Mädchen der einen Klanhälfte ausübte, mußte also der
anderen Klanhälfte angehören. Nun begreifen wir das Be-
denken des Bräutigamvaters heute. Die Braut aus dem anderen
Klan ist nämlich von der gleichen Sippe. Nach Einführen
der Neuerung, der Klanexogamie, hatten die Alten Bedenken,
mit einem Mädchen aus derselben Sippe Umgang zu pflegen.
Die Braut aus dem anderen Klan gehört ja derselben Klan-
hälfte, Sippe, an. Sie fühlten sich in einem Dilemma und
fanden den Ausweg daraus auf die Weise, daß sie mit dem
Sippenfreund die ihnen zufallenden Bräute tauschten. Das
Gefühl dieses Dilemmas wurde in der erwähnten traditionellen
Zeremonie des Anerbietens, Nachdenkens und der Ablehnung
bewahrt.
Nach dem, was wir vom Zusammenleben der Sippe ge-
hört haben, ist es selbstverständlich, daß der Alte seine Rechte
immer an den Schwestersohn oder den Schwestersohn des
Schwestersohns zedierte. Letzterer ist aber sein direkter Enkel,
sein Sohnessohn. Auf diesem Wege gelangen wir für die JBänaro
zu der Rekonstruktion einer älteren sozialen Verfassung, die
mit Rekonstruktionen übereinstimmt, die Rivers (History II,
S. 57 ff.) von anderen Erwägungen ausgehend und bei anderen
Völkern gewonnen hat.
Das unterstützt die Annahme, daß die der heutigen Sozial-
verfassung bei den JBanaro vorausgegangene Lebensform die
war, in der die alten Männer der einen Klanhälfte Anspruch
auf die jungen Mädchen der anderen Klanhälfte erhoben. Diese
Ansprüche werden wir uns aber durchaus individualisiert vor-
zustellen haben. Darauf deutet das ganze .Bcmaro- System mit
seiner streng durchgeführten Methode der Geschlechtsverteilung
(Mord des unerwünschten Geschlechts). Wir werden also an-
zunehmen haben, daß ein Alter der einen Sippe sein Recht
zuerst gelegentlich der Mannbarkeitfeier eines jungen Mäd-
chens der anderen Sippe ausübt. Dieses Mädchen wird seiner
Tochter Tochter gewesen sein. Nach seinem Ableben rückte
sein Schwestersohn in die Rechte des Alten und nach diesem
Die Gemeinde der Bänaro. 143
des letzteren Schwestersohn, das ist der Sohnessohn des ersten
Alten. Die Gattin des Mannes ist aber seine „Bölkenbase",
„cross cousin" (vgl. S. 469). Diese ist gleichzeitig die Tochter
von des Vaters Schwester. Die wichtige Rolle, die diese Ver-
wandten bei anderen Völkerschaften spielen *), wird durch die
Rekonstruktion, die das JBänaro-System an die Hand gibt, ver-
ständlich. Was weiterhin das JBänaro-Sj stem lehrt, ist, daß
wir nicht immer an dauernde Verbindungen zu denken haben,
wie Rivers (History II, S. 62) zu meinen scheint, sondern
oft an mehr oder weniger vorübergehende Paarung. Es
zeigt sich eine Art von Nachfolgeberechtigung der jüngeren
Männer2), die offenbar schon früh, wohl unter dem Druck der
wirtschaftlich durch ihre Gartenbestellung wichtiger gewordenen
älteren Frauen, zugestanden wird, die für die jungen Mädchen
jüngere Männer zu besorgen trachten, um ihre alten Gatten
und Beschützer nicht zu verlieren. Daher auch die Rolle von
des Vaters Schwester, die hier und da den Geschlechtsverkehr
des Neffen überwacht und seine Verheiratung besorgt2). Auch
die vorübergehenden Verbindungen geben Anlaß zu Benen-
nungen der dadurch entstandenen Beziehungen verwandtschaft-
licher Natur; sie enthalten ja sexuelle Berechtigungen.
Was im Bänaro-System noch besonders auffällt , ist die
Einrichtung, daß symmetrisch zu den Ansprüchen der alten
Männer solche der alten Frauen den Jünglingen gegenüber
anerkannt werden. Auch dabei kommen indes nur individuell
bestimmte Verwandtschaftsgruppen in Betracht. Daraus er-
sehen wir übrigens, wie sehr gerade bei niedrigen Primitiven
der Frau ihre Forderung nach gleichen Rechten eingeräumt ist4).
Verbindungen unter stark Ungleichaltrigen werden nicht
selten von Naturvölkern berichtet. Solche fielen besonders
*) Vgl. Rivers, The father's sister in Oceania, Folk-Lore 21, 1910,
S. 24 und History II, S. 61.
2) Diese betont auch Rivers, History II, S. 60, 61.
3) Rivers, History II, S. 160 ff.
4) Vgl. dazu Kn abenhan s a. a. 0. S. 57 und Malinowski, S. 79 ff.
144 Thurnwald.
von den Steinen bei den Paranatinga auf (Unter den
Naturvölkern Zentralbrasiliens 1897, S. 186).
Namentlich in älterer Zeit scheint in Südamerika diese
Sitte bestanden zu haben: von den Tapi in Brasilien er-
fahren wir aus einem Reisebericht des 16. Jahrhunderts, daß
bei ihnen die alten Männer junge Frauen und die jüngeren
Männer alte Frauen haben. Als Begründung wird für diese
Sitte angeführt, daß die Tupi sagen, das ältere Geschlecht
habe immer mehr Erfahrung, und so sei es angebracht, daß
gewissermaßen zur Erziehung und des Unterrichts wegen, eine
ältere Person sich mit einer jüngeren zu einer Gemeinschaft
zusammenschließe1). Zweifellos ist diese rationalistische Er-
klärung nicht für den Ursprung der Sitte verantwortlich zu
machen, allein solche Erwägungen mögen sich nachher wohl
eingestellt haben, als die Sitte in Uebung war, und zu ihrer
Festigung beigetragen haben.
Die ungleichaltrige Heirat wird auch von einigen
alten Stämmen in Europa berichtet, so namentlich die Ver-
heiratung kleiner Knaben mit erwachsenen Mädchen, bei den
alten Preußen, in Litauen, bei den Russen und ferner in Trans-
kaukasien (Eduard Hermann, Beiträge zu den indogerma-
nischen Hochzeitsgebräuchen, in den Indogermanischen For-
schungen, 17. Bd., 1905, S. 382). Vgl. oben S. 87. Anm.
Da also einerseits durch die Wünsche der alten Männer,
anderseits durch die wirtschaftliche Bedeutung der Frau2) der
Geschlechtsverkehr in bestimmt geregelte Bahnen gelenkt
wurde, ergab sich das Verbot für andere Beziehungen, als die
besonders erlaubten. Das Interesse der Alten an dem Ge-
schlechtsverkehr mit den in die Mannbarkeit eintretenden Mäd-
*) Vgl. S. A. LafoneQuevedo, Guarani Kinship Terms, im Am.
Anthrop. 21, 1919, S. 422. — Für andere Fälle vgl. noch N. W. Thomas,
Kinship Organisation and Group Marriage in Australia, S. 117.
2) Auch die „Wertschätzung" der Frau bei den Indogermanen wird
mit ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit, besonders bei der Viehzucht, in
Zusammenhang gebracht (vgl. Schrader, S. 73).
Die Gemeinde der Bänaro. 145
chen und Jünglingen brachte wohl in erster Linie das strengt
Verbot des Verkehrs unter näheren und ferneren Altersgenossen
verschiedenen Geschlechts innerhalb derselben Sippe, also das
Verbot der „Geschwisterehe", mit sich.
Wenn bei Einführung der Klanexogamie das eingetauschte
Mädchen in den fremden Klan aufgenommen wird und zu-
nächst bei der Schwiegermutter wohnt, so tritt sie an die
Stelle der Schwester des Gatten, nicht etwa an die der Frau
aus der anderen Sippe. Denn letztere pflegte ihre Sippe nicht
zu verlassen. Die Alte nimmt die Fremde an Stelle ihrer
Tochter auf. „Schwiegertochter" = ngom ist ja vielleicht aus
nigenom = „fremdes Weib" abzuleiten. Die Kinder bleiben
nach wie vor bei der Mutter. Nur ist die Mutter jetzt in
einem anderen Klan. Die Frau ist ihrer Sippe treu geblieben,
so wie die Frauen früher ihre Sippe nicht verließen. Darin
hätten wir den Grund zu suchen, warum die Frauen, die in
einen anderen Klan übertreten, doch innerhalb derselben Sippe
bleiben, innerhalb der Klanhälfte nämlich, der sie angehören.
Stellen wir uns den Gang der Ereignisse aus den oben
konstruierten prähistorischen Einrichtungen vor, und nehmen
wir nun an, daß zum erstenmal Mädchen unter zwei Klans
ausgetauscht werden, so gehörte beim ersten aus einem fremden
Klan aufgenommenen Mädchen der Gatte der Mutter ihres
Bräutigams noch der anderen Sippe an. Er übte die Deflo-
ration aus. Erst als in der folgenden Generation wieder ein
Mädchen aus fremdem Klan die Stelle der Tochter einnahm,
lag die Sache anders. Denn nun gehörten Mutter und Vater
derselben Sippe an. Jetzt erst entstand für den künftigen
Schwiegervater das oben geschilderte Dilemma, für das der
Ausweg in der beschriebenen Form des Tausches unter den
Sippenalten gefunden wurde.
Der Gatte als Beschützer des neuaufgenommenen fremden
Weibes aus anderem Klan rückt an Stelle des Mutterbruders
der Kinder seiner Schwester. So ist es auch verständlich,
warum Mutterbruder und Vater vielfach gemeinsame und ähn-
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. XXXIX. Band. 10
146 Thurnwald.
liehe Zeremonien, zum Beispiel bei der Schweinejagd für die
Jünglingsweihe (S. 386), vollziehen.
Wenn der Gatte als „Schützer" der Frau bezeichnet
wird, so wäre die Frage berechtigt, gegen wen er die Frau
zu schützen hat. Zweifellos kommen in erster Linie hierbei
die eigenen Klangenossen in Betracht, denen gegenüber der
Gatte ein Vorrecht auf die Frau ausübt. Weiterhin ist er zur
Blutrache neben den Klanangehörigen der Frau verpflichtet.
Ebenso fällt ihm auch die Blutrache für die Kinder der Frau zu.
Der Uebergang von der Mutterfolge zur Vaterfolge leitet
sich daher ab, daß in den Klan fremde Frauen aufgenommen
werden und der Beschützer der fremden Frau der Hüter ihrer
Kinder wird, wie er früher der Hüter von seiner Schwester
Kindern war.
Die Frage spitzt sich dahin zu, was denn zu diesem Um-
sturz der prähistorischen alten Sitten geführt haben kann, wie
wir sie in der einfachen Halbierung des Klans in zwei mit-
einander in connubium stehenden mutterrechtlichen Sippen
kennen lernten.
Das Wesentliche der neuen Sitte bestand darin, daß die
Alten des einen Klans mit den Alten eines anderen Klans
die Verabredung trafen, ein Mädchen ihnen zu geben, wenn
sie von den anderen dafür eines empfingen. Und das Banaro-
System stellt einen systematischen Ausbau dieses Gedankens
gegenseitiger Vergeltungen dar.
Den Anstoß werden wir vermutlich in dem Hereinbrechen
fremder Stämme zu suchen haben. Die Banaro und ihre
weiter unten am Töpferfluß siedelnden Nachbarn von Bamunga
und Bünaram, welche dasselbe soziale System besitzen, sind
zweifellos den Wellen melanesischer Invasionen ausgesetzt ge-
wesen , die sowohl am Augustastrom wie am benachbarten
Bamu sich geltend gemacht haben. Diese einbrechenden
Melanesier hatten natürlich Interesse, Frauen zu bekommen,
da alle Wanderstämme arm an Frauen sind. Den Vorgang
"wird man sich nach dem Muster vorstellen müssen, wie er
Die Gemeinde der Banaro. 147
auf der Insel PöpoJco an der Küste von Bougainville zwischen
den Alu-Mono-Leuien, welche die Insel bezogen hatten, und
den Bewohnern der Küstenberge in dem letzten Jahrzehnt vor
sich ging1). Erst gab es einige Kämpfe, weil Weiber ge-
raubt worden waren, dann fand man sich damit ab, gegen
eigene Frauen oder gegen Waren Mädchen zum Tausch zu
geben. So mag es auch hier zugegangen sein, bis sich nach
Eintritt von Beruhigung und in wiedereingekehrten Friedens-
~ zeiten das ganze System von umständlichen Tausch- und
Paralleltauschakten herausbildete. Daneben haben sich noch
die traditionellen Geschlechtsbeziehungen unter den ursprüng-
lichen, in zwei Hälften gespaltenen, in bezug auf connubium
selbständigen Klans bewahrt.
Dieser in zwei Hälften gespaltene Klan, den wir als eine
sehr alte Einrichtung betrachten müssen, besteht z. B. als
selbständige Gemeinschaft unter den Papua am oberen Augusta-
strom.
3. Ursprung und Schicksal der Klanhalbierung.
Die Spaltung des Klans in zwei miteinander heiratende
Hälften ist eine auch sonst außerordentlich verbreitete Er-
scheinung in der Gesellschaft vieler Naturvölker. Sie kann
natürlich nicht als Anfang oder Ausgangsform menschlicher
Gesellschaft überhaupt aufgefaßt werden, sondern nur als eine
Gestaltung, die wir auf Grund unserer Beobachtungen sozial-
historisch noch zurückkonstruieren können, wie das im vorigen
Absatz versucht wurde. Der Zweck dieser Zweiteilung des
Klans ist Ordnung des Geschlechtsverkehrs. Der Gesichts-
punkt für diese Ordnung scheint nun darin zu bestehen, daß
die Reihe der voneinander abstammenden Frauen von den
männlichen Angehörigen, die in ihrer Sippe geboren werden,
geschlechtlich nicht gebraucht werden sollen. In diesem Ge-
') Vgl. meinen „Reisebericht" in der Zeitschr. f. Ethnologie 1909,
S. 514 sowie die Beispiele bei E. Crawley, The Mystic Rose 1902,
ß. 248, 249.
148 Thurnwald.
danken liegt Sippenexogainie und Mutterfolge enthalten. Die
Berechnung, unter welchen Personen Geschlechtsverkehr statt-
finden darf, unter welchen nicht, ist auf diese Art sehr ein-
fach: man weiß, von welcher Mutter ein Mann geboren ist,
und die voneinander abstammenden Frauen können leicht er-
innert werden. Das Festhalten einer Abstammungslinie als
solcher hat für eine Gesellschaft seine Bedeutung wegen
des Landes, das man zur Nutzung beansprucht. So wer-
den die Rechte auf Ausbeutung eines Nahrungsgebiets der fol-
genden Generation übertragen.
Daß diese Berechtigung an der weiblichen Fortpflanzungs-
linie gemessen wird, mag außer mit der leichten biologischen
Bestimmbarkeit damit insbesonders zusammenhängen, daß die
Frauen wegen ihrer Bearbeitung der Gärten an gewissen
Landstreifen Interesse nahmen und die von ihnen bestellten Land-
stücke mit den Frauen gewissermaßen verbunden erschienen.
Gleichzeitig werden nun diejenigen Männer der anderen
Klanhälfte zum Geschlechtsverkehr zugelassen, die ihre Frauen
den eigenen Männern im Austausch überlassen. Zu einem Aus-
tausch muß aber gegriffen werden, weil die Alten den Verkehr
innerhalb der Sippe verboten haben (vgl. S. 144). Daraus er-
gibt sich eine „individualisierte Gruppenehe ■ unter den beiden
Sippen, die weiterhin nach dem Altersgrad der Mitglieder ab-
gestuft ist, so daß die älteren sexuelle Rechte auf die jüngeren
des anderen Geschlechts erheben.
Als Erinnerung an die Entstehung aus einer sexuellen
Teilung ist z. B. die Tradition der Omahaindianer zu betrachten,
welche in, im Laufe der Zeit mythologisch umsponnenem Ge-
wände die zwei Phratrien ihres Stammes als Verkörperung des
männlichen und weiblichen Prinzips betrachten 1). Bei den Loritja
in Australien wird die eine Hälfte als männlich (ta), die andere
als weiblich (na) gekennzeichnet. Diese Auffassung hängt
l) A. C. Fletsch er and F. La Fl es che, The Omaha Tribe, 27.
Ann. Rep. Bureau of Ethn. Smiths. Inst. 1905—1906, Washington 1911,
S. 135 ff.
Die Gemeinde der Banaro. 149
weiterhin mit gewissen Ueberlieferungen und einer Systeraati-
sierung der Natur zusammen (Strehlow IV, 1, S. 78 — 79).
Man könnte nun die Frage aufwerfen, ob anzunehmen sei,
daß eine solche Zweiteilung aus der Spaltung einer Horde oder
einem Ineinanderfließen zweier Horden entstanden sein mag.
Konkrete Anzeichen für die Entscheidung dieser Frage sind
nicht zu finden. Wenn ein Ineinanderfließen verschiedener
Horden zugrunde läge, so hätten nicht notwendig immer nur
zwei, sondern manchmal auch mehrere Horden sich zu einem
Frauentausch zusammengefunden.
Die Spaltung bildet jedenfalls die Voraussetzung dafür,
daß in einer größeren Gruppe mehrere Alte friedlich
nebeneinander leben kennten. Sie stellt also eine kom-
pliziertere gesellschaftliche Organisation dar, als etwa die mit
einem Alten an der Spitze.
Wie haben wir uns aber die Entstehung der Klanhalbierung
mit exogamen Einrichtungen vorzustellen? Unter den alten
Männern der Horde muß es dazu gekommen sein, die jungen
Mädchen und Frauen wohl untereinander zu tauschen, sie aber
nicht selbst zu gebrauchen. Was konnte eine solche Sitte
herbeigeführt haben?
Wir sahen, daß die Bedeutung der Frau durch Anlage
von Gärten gehoben wurde, durch die sie dauernde Ernährung
sichern konnte. Sie war so imstande, für das Aufbringen
der Kinder zu sorgen, unabhängig von der Verproviantierung
durch den Mann. Die Frauen bestellten die Landstücke ihrer
Gruppe. Bei Jägervölkern wandten sich die Frauen vielleicht
der Aufzucht von der Jagd mitgebrachter junger Tiere zu.
Sie unterwiesen ihre Töchter darin, und diese halfen ihnen.
Nehmen wir an, daß bisher die Frage der Abstammung
bei der Regelung des Geschlechtsverkehrs nicht aufgeworfen
worden war, sondern Paarung frei nach Gutdünken erfolgte, —
wobei man keineswegs an das zu denken braucht, was man
sonst unter Promiskuität versteht. War also bisher die Paarung
ungeregelt, so wurde jetzt eine Ordnung eingeführt, bedingt
150 Thurnwald.
durch die wirtschaftliche Bedeutung der Frauentätigkeit. Da
diese Ordnung im Interesse der Frauen gelegen haben dürfte,
so können wir uns vorstellen, daß sie um so mehr von ihnen
begünstigt wurde, als sie zur Dauerhaftigkeit der Beziehungen
unter den Geschlechtern beitrug. Die im allgemeinen von
Jagd und Fang lebenden Männer hatten ein ganz besonderes
Interesse, im Falle der Not aushilfsweise von den Frauen
aus dem Ertrag ihrer Gärten versorgt zu werden. Die alten
Männer mögen die gedachten positiven Regelungen ein-
geführt haben. Ausgangspunkt mag das Gefühl der Fremd-
heit gewesen sein, mit dem das eine Geschlecht dem anderen
begegnet (vgl. I. Teil, S. 409 ff.). Daher so häufig die Be-
zeichnung der Hälften als männlich und weiblich. Auch den
sogenannten „Geschlechtstotemismus" wird man damit in Zu-
sammenhang zu bringen haben 1).
Menschen wie Tiere leben nach Gewohnheiten, und in
bezug auf das Sexualleben sehen wir überall, auch bei den
Tieren bestimmte Gewohnheiten regieren. Stellen wir uns
eine Horde niedriger Jäger vor, so müssen wir auch in dieser
eine Ordnung nach Unterschieden des Alters und Geschlechts
voraussetzen, denn danach richtet sich die Leistungsfähigkeit
und Brauchbarkeit des Einzelnen, ebenso wie seine Funktion
im sexuellen Leben. Der Anspruch auf Lager und Heim-
stätte sowie auf ein Territorium als Nutzungsgebiet, aber
auch eine wechselseitige Respektierung der elementaren An-
sprüche des Lebens beim Einzelnen, sanktioniert durch Aus-
stoßung aus der Gemeinschaft, reicht zweifellos bis in das
Vormenschentum zurück.
Schon infolge der Erwägung, daß eine auf monogamer
Paarung beruhende Ordnung mögliche Streitigkeiten ver-
ringert, da sie ungefähr alle in Betracht kommenden Männer
bei Annahme einer annähernd gleichen Anzahl weiblicher
Wesen mit Frauen versorgt und somit ein günstiger Faktor
*) Vgl. meine „Psychologie des Totemismus" im gleichzeitig er-
scheinenden „Anthropos* XII— XIII, S. 1105.
Die Gemeinde der Bänaro. 151
für die Kraft der Horde ist, wird man „anfängliche" Promis-
kuität als höchst unwahrscheinlich zu betrachten haben 1).
Zweifellos hat sich sehr früh aber im Interesse der inneren
Ordnung eine Feststellung und Benennung der Beziehungen
unter den Individuen der Horde ausgebildet: die Verwandt-
schaftsnamen.
Bei vielen der heute lebenden niedrigen Naturvölkern
(Buschmännern, Feuerländern, den afrikanischen Zwergen und
den Bewohnern der Berge derSundainseln undNeu-Guineas usw.)
finden wir auch nichts weiter als die Feststellung gewisser ver-
wandtschaftlicher Beziehungen und anknüpfend daran sexuelle
oder Paarungsverbote.
Aber schon in Verbindung mit gewissen Gebräuchen er-
geben sich da Gruppierungen von Verwandten innerhalb der
Gemeinde 2). Eine besondere, vielleicht an verschiedenen Or-
ten in Erscheinung getretene Ordnung bestand darin, daß
eine Person von ihrem egozentrischen Standpunkt aus die
Verwandten der Gemeinde einerseits nach den eigenen An-
gehörigen, andererseits nach den Angehörigen seines Weibes,
seines Geschlechtspartners, unterschied. So gabelte sich für
jeden Erwachsenen die Gemeinde in eine Mannseite und eine
Weibseite. Diese Halbierung wurde dann zur Basis für eine
Regelung des Geschlechtsverkehrs unter den Kindern eines
Paares gemacht. Aus diesem Grunde werden weiterhin auch
die Schwesterkinder von den Bruderkindern unterschieden3).
Durch den Gesichtspunkt der Halbierung wurde die Orien-
tierung für die Bestimmung des Geschlechtsverkehrs wesent-
lich vereinfacht und übersichtlich gemacht. Die Veranlassung
zu einer solchen Unterscheidung werden wir darin zu suchen
haben, daß eine Gemeinde anwuchs und mit einem größeren
*) Vgl. Carveth Read, The Origin ot" Man and of his Super-
stitions, Cambridge 1920, S. 56—58.
*) Vgl. dazu A. A, Brown, J. R. Anthr. Inst. 43, 1913, S. 157 ff.
und R. Lowie, Famvjy and.Sib, im Am. Anthrop. 21, 1919, S. 28 ff.
'*) Vgl. Lowie, Am. Anthrop. 21, 1919, S. 39.
152 Ttjnrnwald.
Bestände von Menschen sich in ihrem Falle besser wehren
und ernähren konnte. Wo die Naturverhältnisse bei den un-
zureichenden Mitteln der Technik, bei der traditionellen Lebens-
weise oder angesichts der sonstigen Schicksale die Gesellung
größerer Menschenmengen nicht gestattete, wie bei den Busch-
männern, den Eskimos, den Weddas usw., kam es nicht zu
der Gabelung der Gemeinde, und die soziale Entwicklung
schlug andere Wegvarianten ein.
Eine größere Gemeinde konnte sich aber nur dann halten,
wenn innere Reibungen, die vornehmlich aus Streitigkeiten
sexueller Art (in solchen Gemeinwesen ohne soziale Schichtung)
entspringen, durch eine leicht faßliche Ordnung vermieden
wurden. Dazu bot sich die „Gabelung" dar. Daran mögen
sich vielleicht erst später gruppeneheliche Nebenbeziehungen
und Lizenzen geknüpft haben, während ursprünglich nur eine
Anteilnahme von Brüdern und Schwestern an den sexuellen
Banden bestanden haben mochte. — Ueber die Bedeutung dieser
Anteilnahme wird noch weiter unten, S. 160 ff. zu reden sein.
River 8 nimmt für die Entstehung der Halbierungen in
der Südsee das Zusammentreffen zweier verschiedener Rasse-
gruppen an, von Melanesen und Papuanern 1). Wir hätten so-
mit wenigstens mit zwei Völkerwellen zu rechnen , der ersten,
welche die Halbierung gebracht hat, und der zweiten, die
später in Verbindung mit vaterrechtlichen Klans eine Er-
schütterung des alten mutterrechtlichen Halbierungssystems
herbeiführte.
Daß jede der Wanderbewegungen eine andere soziale
Form mit sich brachte, erklärt Rivers (History II, S. 570 — 571)
daraus, daß sie nach verschiedenen Methoden vor sich gingen.
Die erstere langsam und mit Frauen, die zweite rascher und
ohne Frauen. Als Folge dieser Wanderung betrachtet Rivers
einen gewissen Kommunismus des Eigentums und die Gemein-
schaftlichkeit an dem Besitz der Frauen. Diese Erscheinung
') History II, Chapter 88, besondere S. 566 ff.
Die Gemeinde $er Banaro. J§3
fjihrt er auf einen Mangel an Frauen bei den ersten Ein-
wanderern zurück. Er macht diesen Mangel an Frauen auch
verantwortlich für die Verfügung der Alten über die jungen
Mädchen. Die Alten hätten ihre Töchter austauschen müssen,
weil, wenn die neuen Einwanderer, wenn älter geworden,
andere Frauen nicht mehr in Tausch zu geben hatten. Die
mitgebrachten Frauen mußte die Gruppe gleich für die Be-
weibung der unverheirateten Männer auswechseln. Die weit-
gehende Gemeinschaft an den Frauen bedingte auch die Mutter-
folge (History II, S. 570).
Der Vorteil dieser Hypothesen liegt in der individuell
historischen Auffassung, in der Zurückführung der Erschei-
nungen auf bestimmte soziale Vorgänge. Wenn wir wo anders,
etwa in Amerika1) oder Australien2), ähnliche Einrichtungen
$er Halbierung finden, so hätten wir solchen Erscheinungen
auch ähnliche parallele Vorgänge zugrunde zu legen : das Zu-
sammentreffen von mit Frauen wandernden Stämmen, die zu
frauentausch bereit sind.
Indes sollte eine Unterscheidung bei der Betrachtung der
Halbierungen uns nicht entgehen. Bei den Banaro, wie auch
noch bei manchen anderen Stämmen, wird nämlich der ein-
zelne Klan in zwei Hälften zerlegt, anderswo, etwa bei dem
Gazelle-Küstenvolk oder den Sulka oder in einigen Gebieten
Neumecklenburgs oder Australiens, aber der ganze Stamm.
Die erstere Form, die Zerlegung des Klans in zwei Hälften
(„Sippen", wie ich sie nenne), möchte ich aber als etwas Aelteres
betrachten, schon aus dem Grund, weil es Stammesgemeinschaften
im politischen Sinne da noch nicht gibt. Wie wir uns diese
ursprüngliche Spaltung einer Gruppe in zwei reziproke Hälften
vorzustellen haben, versuchte ich oben auseinanderzusetzen.
Die Halbierung des Stammes dagegen kann man sich entstan-
den denken durch ein unmittelbares Anwachsen des Klans, oder
dadurch, daß die Klanschranken gegenüber dem Halbierungs-
*) Vgl. R. IJ. Lq wie, Primitive Society, 1920, S. 125.
2) Vgl. A.A.Brown, J.R, A. I. 43, 1913, S. 159.
154 Thurnwald.
prinzip zurücktreten. Bei den Bänaro ist anscheinend das
Umgekehrte zu konstatieren. Es tritt die Halbierung gegen-
über der Klanumgrenzung in den Hintergrund. Was die Klan-
halbierung von der Stammeshalbierung (deren Teile man am
besten wohl als „Phratrien" bezeichnet) wesentlich unterscheidet,
ist die Form der Familie. Die Familie ist bei der Stammes-
halbierung voll ausgebildet, bei der Klanhalbierung verhältnis-
mäßig rudimentär entwickelt. Das hängt wieder mit der
reicheren Kultur und weiter ausgebauten Wirtschaft (Geld,
Handel, Sklaven) zusammen , die wir bei den Völkern mit
Stammeshalbierung treffen.
Bei der Stammeshalbierung, die eine Verdoppelung
zweier in „connubiuniu getretenen Völker darstellt1), treten
unverkennbare Zeichen hervor, die auf eine Verschmelzung
aus heterogenen Bestandteilen hinweisen, wie etwa bei den
durch Wechselheirat verbundenen Koita und Mote (Selig-
mann, S. 78). Es findet sich vor allem bald ein Gefühl
des Hasses 2), bald der Ueberlegenheit s). Diese Gefühle bilden
die Unterlage, auf der sich die Kastenschichtungen in den
rnikronesischen und polynesischen Gebieten aufbauen, aber die
Reste der alten Halbierung werden auch noch in die Kasten-
systeme der Mikronesier und Polynesier gerettet, wie z. B.
unter anderem die Beobachtungen von W. Müller -Wismar
auf der Karolineninsel Yap zeigen (I, S. 217).
Auch die Reste der Verdoppelungen vermischen sich
weiterhin, wenn die soziale Organisation durch Schichten-
bildung kompliziert wird. In der Erinnerung leben noch immer
die Vorstellungen von der Gabelung der Gemeinde. So sehen
wir verschiedene Gedankenruinen aus verflossenen sozialen Ge-
J) Vgl. Quevedo, Am. Anthrop. 21, 1919, S. 434.
. 2) Man vergleiche die von Rivers, History II, 8. 500, angeführten
Stellen und S. 558.
s) Rivers, History II, S. 593, 594, 559; Hocart, Man 1914, 2
(Fiji Vanua Levu); ferner Reports Cambridge Expedition V, S. 64 ff.,
174, 378 ff.
.
Die Gemeinde der Banaro. 155
bilden in die höheren Formen hereinragen. Selbst bei den
Hehe in Ostafrika glaubt z. B. Otto Dempwolff1) Reste
eines Halbierungssystems gefunden zu haben. Webster
sieht in den geheimen Gesellschaften Reste von Einschichtungen
fremder Völker2).
Charakteristisch ist die Systembildung, die mit einer be-
stimmten sozialen Organisation verknüpft wird. Es werden
nämlich Vorstellungen über die Natur mit den Gruppen asso-
ziiert und die Natur dementsprechend klassifiziert, wie z. B.
in Neumecklenburg3), Australien4) oder Amerika5).
C. Aehuliche Einrichtungen und Yerwandtschaftssysteme
bei anderen Völkern und ihre Stellung zum Banaro-
System.
1. Frauentausch und nebeneheliche Einrichtungen.
Die erörterte gesellschaftliche Gestaltung bei den Banaro
ist keine isolierte Erscheinung. Wenn wir irgendeine Lebens-
form „verstehen" wollen, müssen wir sie in Verbindung mit
ähnlichen Erscheinungen zu bringen suchen. Das ist ebenso
der Fall auf physiologischem Gebiet wie bei psychischen Vor-
gängen. Es gilt auch für die sozialen Gestaltungen, die ja
das psychische Leben nur von dem besonderen Gesichtspunkt
seiner Wechselwirkung unter Gruppen von Individuen vor
Augen führen.
Es sollen nun einige Formen aus anderen Gegenden hier
erörtert werden, die in gewissen Zügen Aehnlichkeit mit
*) Beiträge zur Volksbeschreibung der Hehe, Bäßler Archiv, 4,
1914, S. 104.
2) Totem Clans and Secret Association in Australia and Melanesia,
I. R. Anthr. Inst. 41, 1911, S. 482 ff., vgl. auch Man 1911, 98 u. 87, S. 143.
8) Rivers, History II, S. 500 ff., 561.
*) Reporte Cambridge Expedition V, S. 185 f., 248 ff., 173 f., 208 ff.
5) Vgl. z. B. La Fl es che im A.m. Anthrop. 18, 1916, S. 145 (Right
and Left in Osage Rite9).
156 Thurnwald.
dem BänaroSj&tem aufweisen. Solche Aehnlichkeiten können
sich auf verschiedene Seiten des Banaro- Systems erstrecken.
Ich erwähne zuerst die Art der Verheiratung. Sie be-
steht in einem Austausch der Frauen. Wie schon oben (I. Teil,
S. 406) bemerkt, findet sich diese Form der Eheschließung an
manchen Orten, z. B. auf der Südspitze von Bougainville, in
Buin, wo sie als orthodoxe Form der Eheschließung innerhalb
und neben der Kaufehe lebendig ist 1). Daß sie als orthodox
gilt, weist darauf hin, daß wir die betreffenden Gebräuche als
Bestandteil alter Einrichtungen zu betrachten haben. Daß ein
„Naturaltausch" einem ^Kaufu in der Zeitfolge vorangeht, sollte
für jeden, der sich mit primitivem Leben befaßt hat, selbst-
verständlich sein. Sowohl die einfache Ueberlegung wie auch
Schlüsse, die aus den Einrichtungen gezogen werden können,
weisen darauf hin *).
Eine Heiratsordnung, wenn auch loser und laxer als die
der Banaro, berichtet C. G. Seligmann (The Melanesians
of British New Guinea, 1910, S. 363) von den Mekeo: Zwei
Dorfklans (ufuapie) stehen in Wechselheirat miteinander. Jedes
ufuapie ist in zwei Sippen (pangua) geteilt. Geschlechtsverkehr,
aber nicht Heirat ist unter den panguas, ja selbst innerhalb
des pangua erlaubt. Von Frauentausch ist nicht mehr die Rede.
Dagegen muß für das Mädchen ein nicht geringer Kaufpreis
gezahlt werden. Da viele junge Männer diesen Preis nicht
zahlen können, ist das Entlaufen üblich geworden.
Bemerkenswert ist bei den Mekeo ein Tanz, den
R. W. Williamson (Journ. K. Anthrop. Inst. 43, 1913,
S. 281 ff.) beschreibt, und der in manchen Zügen an den im
ersten Teil geschilderten Tanz der Bdnaro bei den Weihe-
zeremonien erinnert.
J) Vgl. meine »Forschungen auf den Salomoinseln und dem Bis-
marckarchipel« 1912, Bd. III, S. 18.
a) Das ist ganz besondere gegen Malinowski. 8. 51, 52, einzu-
wenden, wie auch schon Kopperg bemerkt hat. Authropos 9. 1914,
S. 1083.
Die Gemeinde der Banaro. 1_^7
Nach dem, was wir von der Spaltung des Klans in zwei
Hälften gehört haben, müssen wir, wie gesagt* aueh dieses
System als eine alte Einrichtung betrachten, bei welcher der
Frauentausch unter den beiden Klanhälften gepflogen wurde.
Die Frauen, welche dabei getauscht wurden, waren aber nicht
Schwestern von Brüdern, denn Brüder konnten nicht ihre
Schwestern vergeben, sondern es waren die älteren Männer,
die über die jüngeren Mädchen ihrer Sippe schon vermöge
der gerontokratischen Einrichtungen verfügten. Daher finden
wir häufig den Tausch von Nichten, aus dem die sogenannte
Bölken vetterheirat (cro3s-cousin, vgl. S. 469) hervorging *).
Für diese Art der Eheschließung hat nicht nur Rivers (Hi-
story, II, S. 24, 43, 54, bes. 61, 85, bes. 121 ff., und bes. 326 ff.)
reichliches Material für die Südsee beigebracht (vgl. auch oben
S. 143), sondern auch unabhäugig von ihm A. R. Brown (in Journ.
R. Anthrop. Inst. 43, 1913, S. 190 ff.) für Australien. Letzterer
führt die australischen Heiratsordnungen auf zwei Typen zurück*
bei deren erstem die Heirat zwischen Kindern von Bruder und
Schwester stattfindet, während man beim weiterverbreiteten
und noch untergestaffelten zweiten Typ die Heirat unter Enkeln
von Bruder und Schwester veranstaltet.
Rivers will nun die Bölken-Ehe in der Südsee darauf
zurückführen (History, II, S. 327), daß ein Mann seine Tochter
seinem Schwestersohn zur Ehe gibt an Stelle von seiner Frau.
Das setzt nicht nur individuelle Heirat, sondern auch eine
Verfügung des Vaters über seine Tochter voraus, also An-
erkennung einer festen Beziehung zwischen Vater und Kind.
Kann man sich nicht vorstellen, daß es der Einfluß der Frauen
war, der einer konsekutiven Ehe entgegengewirkt hat, um
eine Dauerehe herbeizuführen, die eine Heirat unter relativ
Gleichaltrigen voraussetzt? (Vgl. oben S. 150.)
Daher möchte ich gerade den Uebergang von der kon-
sekutiven zur Dauerehe für die Entstehung der Bölken-
*) Rivers, History II, S. 23 ff. und 123, ferner „Kinship and Social
Organization ", S. 43—45.
158 Thurnwald.
Vetterheirat verantwortlich machen. Rivers (History, II,
S. 328) führt die Entstehung dieser Ehe auf den Einfluß der
melanesischen Einwanderer zurück, die diese Institution mit-
gebracht haben.
Ich weiß nicht, ob wir unbedingt zu dieser Konstruktion
greifen müssen. Das Mißtrauen gegen Fremde hat den
Verkehr in primitiven Gesellschaften allenthalben eingeschränkt,
während andererseits die Tendenz bestand, Ordnung in den
Verkehr unter den Verwandten zu bringen. Wenn Bruder
und Schwester von sexuellen Beziehungen ausgeschaltet wer-
den (vgl. S. 149), so sind die nächsten Verwandten deren
Kinder oder Enkel, die Bölken- Vetter.
Werden diese unter den Umständen eines erweiterten
sozialen Zusammenschlusses als weit genug unter-
einander empfunden, so beherrscht ihre Verbindung die Heirats-
formen. In paralleler Weise kann derselbe Gedanke —
da hier eine sehr beschränkte Zahl von Möglichkeiten
und Varianten vorliegt — sich in den Sitten und Einrichtungen
verschiedener Völker unabhängig niedergeschlagen haben.
So wird z. B. die Bölken-Ehe nach eigenen Informationen
auf den Marshallinseln für die orthodoxe Form der Ehe-
schließung angesehen. Aus Yap (Karolineninsel) berichtet
W. Müll er- Wismar (Yap, S. 223), daß Heiraten zwischen
Kindern zweier Brüder oder zweier Schwestern verboten sind,
dagegen solche zwischen Bölken-Vettern bevorzugt werden.
Diese Tendenz, innerhalb gewisser Grenzen, nahe
zu heiraten, war es, die zur Bildung von ausgeprägten
Rassevarianten geführt hat. Wir finden diese Tendenz nament-
lich bei den alten Völkern auch ausgebildet, so z. B. bei den
alten Persern1). Auch hier scheint es sich ursprünglich um
Heirat zwischen Schwestertochter und Brudersohn gehandelt
zu haben. Diese wird als die Hauptverwandtenehe be-
zeichnet. Als mittlere Verwandtenehe gilt die zwischen
0 Vgl. E. W. West, Pahlavi Texts, Sacred Books of the East,
vol. V, 1880, S. 389, Anm. 3 und bes. Anm. 4.
Die Gemeinde der Bänaro. 159
Brudersohn und der Tochter des jüngeren Bruders, als min-
dere endlich die zwischen Schwestersohn und der Tochter
eines jüngeren Bruders. Diese Vorschriften wurden erst
später ethisch durchsetzt. In den Zeiten des Kampfes gegen
den Islam hat man die Idee der Verwandtenehe augenschein-
lich übertrieben, vor allem um Heiraten mit Fremden und da-
durch dem Werben von Abtrünnigen zuvorzukommen. Unter
den Parsis lebt der Begriff der Verwandtenehe („next of kin
marriage") fort.
Es ist bezeichnend, daß bei einem Volk, wie die Hefte *)
in Ostafrika, bei dem alle Heiratsgesetze durch die Kriegs-
politik schon zerstört sind, die Vielweiberei im großen Maß-
stabe eingerissen ist und die wirtschaftliche Arbeitslast auf
den Schultern der Frauen ruht, noch als besonderes Heirats-
verbot übriggeblieben ist, daß die Heirat zwischen Kindern
von zwei Brüdern oder zwei Schwestern nicht erlaubt
ist, während die Heirat von Kindern von Bruder und
Schwester empfohlen wird.
Die Farailienbildung muß fortgeschritten sein, wenn der
Tausch von Brüdern und Schwestern vorgenommen werden soll.
Rivers kann von Geschwistertausch nur eine beschränkte Zahl
von Beispielen anführen. Ein Beispiel bezieht sich auf die Torres
Straits im Süden von Neuguinea2). P. P. Vor mann3) be-
richtet von einer ähnlichen Sitte bei den Monumbo an der
Nordküste von Neuguinea östlich der Ramumündung.
Es ist zweifellos, daß der Frauenkauf mit dem Auf-
hören des Einflusses rein verwandtschaftlicher Gesichtspunkte
und der wachsenden Bedeutung wirtschaftlicher Faktoren im
Zusammenleben der Kulturgemeinschaften bedingt ist. Auch
Rivers (History, II, S. 329) vertritt diese Auffassung.
Damit hängt auch zusammen, daß mit dem Entstehen
wirtschaftlicher Werte vor allem die Arbeitskraft der Frau es
0 Ni gm an ii, Die Wahehe, Berlin 1908, S. 60.
2) Reports Cambridge Expedition V, S. 125.
3) Anthropos 1909, S. 660, und 1910, S. 407 ff.
160 Thurntfald.
ist, die von Bedeutung wird. Die Geschenkleistungen, die ur-
sprünglich den Frauentaüsch begleiten, werden bei höheren
Primitiven von zunehmender Wichtigkeit.
Das hindert natürlich nicht, daß Autorität und wirtschaft-
liches Recht ineinander fließen. Denn von vielen Primitiven, ein-
schließlich von den alten indogermanischen Völkern (S chrader,
Die Indogermanen, 1916, S. 89) hören wir, daß die Verletzung
der Keuschheit von seiten der Frau als eine Verletzung des
Eigentumsrechts des Mannes an ihr aufgefaßt wird.
Der zweite Charakterzug des Bänaro- Systems betrifft die
Durchführung und Art der Ehe. Er erstreckt sich auf die
nebenehelichen Einrichtungen. Es scheint nun, daß diese keine
zufällige Sitte, sondern historisch bedingte Beziehungen sind.
Diese nebenehelichen Verhältnisse können als Rest früherer
Einrichtungen betrachtet werden, die sich in ritueller Gestalt
weiter erhalten haben. Sie hängen mit einer Art sukzessiver
Ehe unter den Mitgliedern der beiden Klanhälften zusammen.
Die Personen, welche füreinander in Betracht kommen, sind
aber streng bestimmt.
Den Begriff der „Ehe" werden wir dementsprechend er-
weitern müssen, ähnlich, wie wenn wir andere unserer Begriffe,
etwa den von Staat, Geld, Religion, auf primitive Zustände
anwenden. Als „Ehe" muß unter diesen Voraussetzungen jedes
öffentlich sanktionierte, dauernde Zusammenleben eines Paares
betrachtet werden, das auf Familienbildung gerichtet ist, also
zur Aufzucht von Kindern und zu gegenseitiger Hilfe dient.
Unterstützung durch Herbeischaffen von Nahrung, besonders der
Austausch der durch die Frauen gezogenen Pflanzenspeisen gegen
die Fleischkost , welche der Mann beibringt *), ferner Sorge
für Behausung und sonstige Hilfeleistung gehört dazu. Die
Ununterbrochenheit sowie die Ausschließlichkeit der sexuellen
Beziehungen wird man aber ausschalten und auf die moderne
Monogamie als Forderung beschränken müssen.
!) Strehlow IV, 1, S. 90.
Die Gemeinde der Bänaro. 161
Am nächsten den Einrichtungen der Bänaro dürften ge-
wisse australische Sitten stehen. Das Heiratssystem ist bei
den meisten australischen Volksstämmen ganz überwiegend auf
zwei ineinander heiratende Hälften aufgebaut. Wenn wir
den in zwei Hälften gespaltenen Klan, wie den der Bänaro,
als Ausgangspunkt nehmen und einen Zusammenschluß ver-
schiedener solcher Klans zu einem Connubhtm annehmen, so
wären die australischen Heiratsorduungen in ein besonderes
Licht gerückt. Bald überwiegt die Einteilung nach den Hälften,
bald die nach den Klans, oder beide greifen ineinander über.
Letzteres ist z. B. bei den Aranda und Loritja (Strehlow IV,
S. 62 ff. und 78 ff.) und den Dierl (Strehlow IV, S. 88)
der Fall.
Bemerkenswert ist, daß es auch da zur Bildung eines
festen Systems kommt. Derart sogar, daß der ideelle Bau
wichtiger zu sein scheint als die konkrete Durchführung des
Systems. Wird nämlich das System in praxi nicht eingehalten,
so wird es doch theoretisch durchgeführt, als wenn es befolgt
worden wäre (Strehlow IV, S. 71; vgl. auch S. 64, Anm. 1).
Diese Systeme führen notwendig zu einer gewissen In-
zucht, worüber noch S. 204 ff. geredet wird. Bezeichnend ist
darum, wie mit jeder Gruppe ein gewisser physischer Typus
verbunden gedacht wird, was an die physischen Charakteristika
erinnert, wie sie mit den Totemgruppen verknüpft gedacht
werden *).
Brown teilt die australischen Stämme in solche, in denen,
wie bei den Aranda und Loritja, Enkel von Bruder und
Schwester (ob letztere wirkliche Brüder und Schwestern sind
oder nur der Klasse nach als Geschwister angesehen werden,
kommt dabei nicht in Betracht, Strehlow IV, 1, S. 70) und
in solche, in denen Kinder von Bruder und Schwester ein-
ander heiraten 2).
1) Vgl. meine „Psychologie des Totemismus", im gleichzeitig er-
scheinenden Heft des Anthropos XII— XIII, S. 1107, Anm. 7.
2) Brown, J. R. Anthr. Inst. 43, 1813, S. 190 ff.
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. XXXIX. Band. 11
162 Tburnwald.
Innerhalb des vorgeschriebenen Kreises von Personen findet
die Auswahl für gewöhnlich nach Gutdünken der Eltern statt
(Strehlow, S. 89).
Bei den Aranda und Loritja treten auch nebeneheliche
Beziehungen in Erscheinung, und zwar zunächst mit den
Schwestern der Frau (Strehlow, S. 92). Ehebruch wird
aber, so wie in der Südsee, dem Diebstahl gleich geachtet.
Der Verkehr unter den Verwandten ersten und zweiten Grades
ist verboten. Auch hier gilt, wie so häufig unter Naturvölkern,
das Anbieten von Essen als Aufforderung zum Geschlechts-
verkehr.
Das WuljanJcura-F est der Aranda und Loritja wird von
Strehlow (S. 94) als eine vom Osten her eingeführte Sitte
betrachtet; damit ist Auswechslung der Frauen verknüpft
(Strehlow, S. 97). Dabei ergreifen die Frauen die Initiative,
doch handeln sie nicht ohne Einwilligung des Ehemannes.
Von einer gewissen Ordnung, etwa wie sie die mundü-l&iten
der Bänaro mit sich bringen, weiß Strehlow nichts zu be-
richten.
Daß die Erinnerung an frühere Eheordnungen bei den
Loritja maßgebend wären, ist nicht ausgeschlossen (Strehlow,
S. 100).
Eine andere Form nebenehelicher Beziehungen hat schon
früher die Aufmerksamkeit auf sich gezogen und Anlaß zu
der Annahme einer ursprünglichen Gruppenehe geboten. Das
ist die Pirraitru- Sitte der Dieri1).
Diese Pi/rawru-Nebenehe stellt gewissermaßen ein Mit-
genußrecht der Geschwister dar. Dieses Mitgenußrecht ist
davon abhängig, ob einer verheiratet ist oder nicht, aber auch
*) Vgl. dazu N. W. Thomas, Kinship Organization and Group
Marriage in Australia, Cambridge 1906, S. 127 ff. — B. Malinowski,
The Family among the Australian Aborigines , London 1913. —
A. Knaben h ans, Die politische Organisation bei den australischen
Eingeborenen 1919. — A. W. Howitt. The native Tribes of South-East
Australia, London 1904.
Die Gemeinde der Bänaro. 163
hier wird die Zustimmung des Gatten von Seiten der Frau
eingeholt. Umgekehrt scheint die Billigung der Gattin nicht
besonders erforderlich zu sein. Das Pirraurii-Y erhältnis wird
besonders legalisiert durch eine Zeremonie, die die Alten-
schaft und das Totemhaupt vornehmen.
Der Unterschied gegen die Bänaro-Sitte besteht darin,
daß der pirrauru - Nebengatte derselben Gruppe angehört,
während der mundü- Nebengatte aus der anderen Klanhälfte
stammt. Bei dem pirrauru- Verhältnis hat man den Eindruck,
daß es etwas wie eine Vorstufe zu der Leviratsehe bildet.
Denn die Idee, welche das Levirat durchzieht, ist die
Auffassung von der Solidarität der Brüder. Das tritt ver-
schiedentlich deutlich in Erscheinung. Bei den Juden ergibt
sich z. B. diese Stufenfolge1):
1. Die Witwe des älteren Bruders wird von dem jüngeren
Bruder geheiratet. Die Kinder aus dieser Verbindung gehören
nach Gen. 38, 9 dem Verstorbenen.
2. Später wird nur der erste Sohn aus dieser Verbin-
dung dem verstorbenen Bruder zugerechnet. Wenn kein Bru-
der vorhanden ist, hat der Vater des Verstorbenen einzutreten
und seine Schwiegertochter zur Frau zu nehmen.
3. Im Verlauf der Zeit wird die Schwagerehe einge-
schränkt, weil in Ermanglung von Söhnen das Erbe der Tochter
zufiel. Wirtschaftliche Momente machen ihren Einfluß auf
diese Sitte geltend.
4. Schließlich wird die Schwagerehe verboten. (Man er-
innert sich, daß die Bölken-Vetterehe, cross cousin marriage,
welche als Haupteheform für primitive Verhältnisse ausschlag-
gebend ist, zu Anfang des Mittelalters durch die Kirche ver-
boten wurde.) Vgl. S. 143.
Dem Zustande der hier als erste Stufe bezeichneten
israelitischen Sitten entsprechen in gewisser Weise Einrich-
a) Vgl. Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche,
von A. Hauk, 5. Bd., 1898, „Familie", S. 745 und Die Religion in Ge-
schichte und Gegenwart 1910, 2. u. 3. Bd., „Familie" und „Leviratsehe".
164 Thurnwald.
tungen bei den alten Persern, wie sie in den JRivdyats an-
geführt werden l). Von den fünf Arten der Ehe, die man da
unterscheidet, ist eine die nSatarU' (Adoptiv-) Ehe. Sie besteht
darin, daß in dem Falle ein Mann von über 15 Jahren kinder-
los oder unverheiratet verstorben ist, von seinen Verwandten
ein Mädchen mit einer Mitgift ausgestattet und an einen an-
deren Mann verheiratet wird. Von den Kindern, die sie ge-
biert, wird die eine Hälfte der Kinderzahl dem Verstorbenen
angerechnet, die andere Hälfte gehört dem lebenden Mann.
Das Mädchen gilt als die Gattin des Verstorbenen im Jenseits.
Der dieser Einrichtung zugrunde liegende Gedanke wird
durch die verschiedenen Arten von Ehescheidungen beleuchtet:
Wird nämlich die Frau vom Manne aus seiner Gewalt (manus)
entlassen, so kann sie wohl wieder heiraten, aber nur in der
Art einer Witwenheirat als Nebenfrau, und die Hälfte der
Kinder gehört dem ersten Mann. Entläßt er sie aber nicht
aus seiner Gewalt, so kann sie zwar wieder heiraten, aber
alle Kinder fallen ihm zu. Nur wenn der Ehemann seine
Frau aus seiner Gewalt in die Gewalt eines anderen
übergibt, gehören alle Kinder dem neuen Gatten. Die erst-
geborenen Kinder werden bei der Vermögensverteilung immer
bevorzugt.
Eine parallele Sitte wird von den Dinka2) am oberen
Nil berichtet. Wenn ein Mann kinderlos (ohne Sohn) stirbt,
so hat die hinterlassene Witwe die Verpflichtung, Kinder für
ihren verstorbenen Mann zu bekommen , und zwar dadurch,
daß sie sich mit dem Bruder des Verstorbenen einläßt, oder
sonst mit seinem nächsten männlichen Verwandten. Alle
Kinder einer Witwe werden, wie viel Zeit auch nach dem Tode
ihres Gatten verflossen sein mag, diesem gutgeschrieben. Ist
J) E. W. West, Pahlavi Texts, in den „Sacred Books of the East*,
vol. V, 1880, S. 142, 143, Anra. 10; vgl. auch Kohler, Zeitschr. f. vergl.
Rechtswiss. 25, 1911, S. 434, 435.
*) E. S. Hartland, in Man 12,-1912, 12, und Hugh O'Sullivan
im Journ. R. Anthrop. Inst. 40, 8. 184.
Die Gemeinde der Bänaro. 155
die Witwe über das Alter des Kinderbekornmens hinaus, oder
sind keine Witwen des Verstorbenen mehr vorhanden, oder
keine Brüder oder nächsten männlichen Verwandten, so ge-
schieht folgendes : Die Witwe stattet ihre Tochter , oder,
wenn eine solche nicht vorhanden, ein anderes verwandt-
schaftlich nahe stehendes Mädchen mit den Kühen des Ver-
storbenen aus und „heiratet" sie im Namen des Verstorbenen.
Wenn kein nächster männlicher Verwandter des Verstorbenen
da ist, wird ein solcher durch einen männlichen Verwandten
der Witwe ersetzt, der nun dem Mädchen beizuwohnen hat.
Die Nachkommenschaft aus einer solchen Verbindung wird
dem Verstorbenen zugerechnet, und das Mädchen gilt nun als
Weib und Witwe, ihre Kinder als Erben des Verstorbenen.
Den aufliegenden Grund für diese Gebräuche wird man
zunächst in religiösen Vorstellungen, in der sogenannten Ahnen-
verehrung , in dem aus der Fortpflanzung entspringenden
Zusammen hängigkeitsge fühl der historisch sich folgen-
den Abstammungsreihen erblicken, wie es auch die Priester-
lehre der Perser deutlich ausspricht (Sacred Books, S. 345) :
„Das, was ein Sohn an guten Werken vollbringt, ist, als wenn
es sein Vater getan hätte." Daher werden im Shayäst La-Shayäst
die Gläubigen ermahnt „zu sehen, Nachkommenschaft zu be-
kommen, denn so erlangen sie viel gute Werke auf einmal".
Allein die Art, wie das Problem gelöst wird, greift sicher
auf das uralte Gefühl der, auch sexuellen, Solidarität
unter den Brüdern zurück, das bei der Leviratsehe und
verwandten Einrichtungen in besonderer Variante erscheint
und sich später mit wirtschaftlichen Forderungen und ethi-
schen Gedanken verbunden hat.
Die Sitte des Levirats wird auch aus Südamerika von den
Guarani und Äba- Völkern des 16. Jahrhunderts bezeugt und
im folgenden Jahrhundert von den Tüpi und den Caraiben-
Indianern der Antillen gemeldet 1). Wenn ein Mann stirbt,
0 S. A. Lafone Quevedo, Guarani Kinship Terms, Am.
Anthrop. 21, 1919, S. 422—424.
166 Thurnwald.
so übernimmt sein Bruder die Witwe. Hat er keinen Bruder,
so übernimmt sie der nächste Verwandte des Verstorbenen.
Der Bruder der Witwe heiratet ihre Tochter. Ist ein Bruder
nicht vorhanden, so bekommt die Tochter den nächsten Bluts-
verwandten der Mutter zum Mann. Wenn dieser Verwandte
aber seine Nichte nicht heiraten will, so erlaubt er doch
keinem anderen Mann, ihr nahe zu kommen, sondern gestattet
ihr später, einen Mann nach ihrer Wahl zu nehmen. Mit
letzterer Uebung sehen wir die strenge Ordnung schon sich
lockern.
Der Bruder des Vaters des Mädchens darf seine Nichte
weder heiraten, noch darf er in Verkehr mit ihr treten. Er
wird wie der Vater selbst behandelt: sie gehorcht ihm und
seinen Verwandten, und nach seinem Tode nennt sie ihn
„Vater". Die Brüder und Vettern der Eltern bezeichnen ihre
Neffen und Nichten als „Söhne" und „Töchter". Quevedo
(S. 427) meint, daß diese Einrichtungen aus einer Zeit ent-
sprossen sind, da Brüder mit Schwestern verheiratet waren. —
Dabei scheinen die Guarani und Cariben Männerfolge, die
Aruaken Weiberfolge beobachtet zu haben.
Daß das Levirat und Sororat sich hauptsächlich dort findet,
wo keine Sippenbildung vorhanden ist, wie bei den nord-
amerikanischen Salish von Britisch- Columbia und im großen
Becken bei den Stämmen niedriger Kultur, worauf Lowie
(Am. Anthrop. 21, 1919, S. 35) aufmerksam macht, scheint
darauf hinzudeuten, daß es sich als eine besondere Variante
selbständig aus den einfachsten Sexualordnungen herausgebildet
hat, bei denen vor allem die Brüdergemeinschaft hervortrat.
Daß es mit uralten Ordnungen zusammenhängt, macht es
auch verständlich, daß es auf die Bildung der Verwandtschafts-
namen einwirkte 1).
Bei dieser Institution, die später, wie wir sahen, in die
vermögensrechtlichen Verhältnisse und in den Erbgang ein-
*) Vgl. Sapir, Term9 of Relationship and the Levirate, Am.
Anthrop. 18, 1916, S. 327—337.
Die Gemeinde der Bänaro. 167
griff, handelte es sich ursprünglich nur um den Besitz einer
Frau und darum, daß dieser bei den nächsten Verwandten
des Besitzers, des Eintauschers oder Käufers, bleibt. Ur-
sprünglich kommt auch nicht die Abstammung in Betracht1).
Wenn man das Levirat mit der Bölken-Ehe vergleicht,
wird man sich der Einsicht nicht verschließen können, daß
hier wie da die Gefühle der Solidarität unter den
nächsten Verwandten zu diesen Institutionen geführt
haben.
Damit wird später die Sorge um die Erhaltung der
Art und um die Nachkommenschaft zusammengebracht. Die
Kinder ehe dürfte auch nicht allein dadurch bedingt sein
(vgl. Eduard Hermann, Beiträge zu den indogermanischen
Hochzeitsgebräuchen, in den Indogermanischen Forschungen,
Bd. 1905, S. 381 — 82), sondern wir werden in ihr eher ein
Fortleben ehemaliger Heiratsordnungen zu erblicken haben.
Daß Brüder gemeinschaftlich Frauen besaßen, ist auch von
indogermanischen Völkern bezeugt (Sehr ad er a. a. 0. S. 73
und Indogermanische Forschungen 17, 1905, S. 20).
Bei den Koita im östlichen Teil der Südküste von Neu-
guinea (Redscar Bay) 2) besteht kein eigentliches Levirat, aber
die Heirat einer Witwe mit dem Sohne des Bruders oder der
Schwester des Vaters ihres verstorbenen Gatten, also mit dem
Sohne des Onkels oder der Tante des Vaters, gilt als ortho-
doxe Vereinigung. Zweifellos liegt dieser Einrichtung der-
selbe Gedanke der Solidarität zugrunde wie beim Levirat,
doch hat er hier in einer besonderen Variante Niederschlag
gefunden.
Aehnliche Einrichtungen wie pirraura finden wir noch bei
den Wakelbura von Zentral-Queensland und den Kurnai.
Bei den Kumandaburi scheint eine Sitte zu bestehen, die
durch das Verhältnis der einen Stammeshälfte zur anderen
*) Vgl. N. W. Thomas, Kinship Organisation and Group Marriage
in Australia, Cambridge 1906, S. 21.
2) C. Seligmann, The Melanesians of British New Guinea 1910, S.79.
168 Thurnwald.
bedingt ist. Bei Zusammenkünften des Stammes scheint sich
ein freier Verkehr unter den Angehörigen beider Hälften zu
entwickeln.
Das piraungaru-V erhältnis der Urabunna (Spencer und
Grillen, Northern Tribes, S. 137) entspricht stark dem pirrauru
der Dieri. Bei beiden entscheidet der ältere Bruder der Frau,
welcher der „ Gattenbrüder " das Vorrecht haben soll. Bei den
Urabunna beteiligen sich an dieser Entscheidung noch die
alten Männer des Stammes J).
Thomas meint von den pirrauni' Einrichtungen , daß
deshalb eine „brüderliche Mehrehe " eintritt, weil den jungen
Leuten nicht genug Frauen zur Verfügung stehen, da diese
von den alten Männern beschlagnahmt sind (S. 138 — 139).
Wenn das richtig ist, so würde also das zahlenmäßige Ver-
hältnis unter den Geschlechtern diese Sitte verursacht haben.
Wir sahen, daß bei den JBänaro eine andere Methode ein-
geschlagen wird, um mit dem zahlenmäßigen Ausgleich der
Geschlechter fertig zu werden : nämlich die Tötung des un-
erwünschten Geschlechtes beim Nachwuchs (I. Teil, S. 402). Im
übrigen sind die Einrichtungen der Dieri ebenso auf Reziprozität
begründet wie die der Bänaro.
Der Einfluß der alten Männer macht sich in Australien
in einer anderen Weise geltend als bei den Bänaro, aber er
ist auch hier ausschlaggebend. Es ist daher fraglich, ob wir
zur Begründung der Gerontokratie zu der Riversschen Er-
klärung Zuflucht nehmen müssen (oben S. 152) oder ob es nicht
genügt , den auf reicheren Erfahrungen begründeten Einfluß
der Alten auch schon bei niedrigen Primitiven anzunehmen,
was allerdings nicht ausschließt, daß dieser Einfluß bei körper-
lichem Verfall zurückgeht. Diese Autorität spiegelt sich auf ge-
schlechtlichem Gebiet: Die Großväter verfügen über ihre Enkel
und Enkelinnen (Thomas, S. 100 und 102), alte Häuptlinge
besitzen bei den Aranda und Loritja oft 3 — 10 Weiber, während
die jüngeren Männer in Monogamie leben (StrehlowIV, 1,S. 97),
*) Vgl. auch M a 1 i n o w s k i , S. 110.
Die Gemeinde der Bänaro. 159
„die jungen Männer in der guten alten Zeit mußten auf die
ihnen versprochenen Frauen warten, bis sich die ersten grauen
Haare in ihrem Barte zeigten , oder es wurden ihnen alte
Weiber zugeteilt, während die alten Männer das Privileg für
sich in Anspruch nahmen, so viel Frauen zu heiraten, als sie
Lust hatten" (Strehlow IV, 1, S. 12; vgl. S. 101). Auch
die Einweihungszeremonien bei den Aranda wurden an den
jungen Mädchen durch einen alten Mann vollzogen, der als
Gatte bezeichnet wird (Strehlow IV, 1, S. 43 und 61; vgl.
S. 91). Bei den Loritja treten gelegentlich der Heiratszere-
monien die alten Männer in den Vordergrund (Strehlow IV, 1,
S. 101). Bei den Narrinieri fällt jedenfalls den alten Männern
ein Recht auf die neu initiierten Mädchen zu (Thomas, S. 143;
vgl. auch Malinowski, S. 259 — 269). Diesen Vorrechten
steht ein strenges Zölibat der jungen Männer und eine Tobias-
zeit nach der Heirat (Strehlow IV, 1, S. 101) gegenüber.
Bei einigen Stämmen , wie bei den südlichen Loritja,
scheint allerdings ein Verfall der alten Heiratsordnungen ein-
getreten zu sein, obgleich das System der Gruppenteilung be-
steht. Es soll da nicht selten vorkommen, daß ein Mann seine
»jaku* („Mutter" oder Mutterschwester) heiratet, ja nach dem
Tode seiner Frau mit seinen eigenen Töchtern Verbindungen
eingeht (Strehlow IV, 1, S. 87 und 102).
Daß bei vielen australischen Stämmen gelegentlich der Zu-
sammenkünfte des ganzen Stammes eine Zügellosigkeit der
Sitten auftritt, wird vorwiegend psychologisch aus der ganzen
Stimmung zu erklären sein, die mit solchen Zusammenkünften
verknüpft ist. Von solchen Vorkommnissen aus sozialgeschicht-
liche Schlüsse zu ziehen, wird man kaum berechtigt sein
(Thomas, S. 42). Wir haben es da mit ganz anderen Er-
scheinungen zu tun als bei den Banaro. Bei letzteren handelte
es sich nicht um außerordentliche Stammeszusammenkünfte,
sondern um rituelle Akte in strenger Begrenzung. Auch die
mit zauberischen Zwecken verknüpfte Frauenauswechslung bei
den Wiimbaio und Kurnai sind anderer Art (Thomas, S. 43).
170 Thurnwald.
Diese australischen Sitten scheinen alle mehr oder minder
auf einen Verfall strengerer Vorschriften über nebeneheliche
Beziehungen zu deuten, die ursprünglich wohl auf gewisse
Verwandte beschränkt waren, wie heute noch bei den Banaro.
Im allgemeinen wird man sagen können, daß eine Tendenz
besteht, bei der die Verwandtschaft als sozialer Faktor für
die Gesellschaftsbildung und für die Heiratsordnung zurück-
tritt und eine Laxheit sowohl in bezug auf die Heiratsvor-
schriften selbst wie auch auf die Ordnungen der nebenehe-
lichen Beziehungen Platz greift. Die alten Gewohnheiten leben
indes noch lange fort und liefern die Grundlage für den Zere-
monialismus bei den Eheschließungen. In ähnlicher Weise ist
es auch bei den nebenehelichen Beziehungen der Fall, an die
sich mannigfache Sitten knüpfen.
Dazu gehört vielleicht auch die eigentümliche Sitte der
Eskimos der Beringstraße, von denen F. W. Nelson berichtet:
„Sehr häufig kommen zwei in verschiedenen Dörfern lebende
Männer dahin überein, Blutbrüder oder ,Adoptivbrüder' zu
werden. Besucht nach dieser Vereinbarung einer der Männer
das Dorf des anderen, so wird er dort als der Gast des Blut-
bruders aufgenommen und ihm das Bett mit der Gattin des
Freundes während seines Aufenthaltes überlassen. Wird der
Besuch von der anderen Seite erwidert, so erfreut sich der
erstere derselben Gunst. Infolgedessen weiß man in keiner
Familie genau, wer der Vater der Kinder ist l).
Außer dieser Frauenauswechslung wird auch eine Aus-
wechslung von Eigentum bei den Eskimostämmen der Ost-
küste Grönlands von Holm gemeldet (Angamagslikerne 34,
50—56, 112, 117, 162).
Prostitution an den als „Bruder" geehrten Gast und Freund
ist eine übrigens auch unter den indogermanischen Völkern
nicht seltene Sitte (Schrader, Die Iudogermanen, 1916, S. 89).
Eine Beziehung, welche an die Sippenfreundschaft unter
x) Eighteenth Annual Report, Bureau of American Ethnology, Parti,
Washington 1899, S. 292.
Die Gemeinde der Banaro. 171
den Banaro erinnert, ist das e'riam- Verhältnis von Bartle Bay
(Milne Bay) bei den Wagaivaga und Tubetube im östlichen
Neuguinea, von denen C. G. Seligmann berichtet1).
Es beruht darauf, daß zunächst die Personen gleichen
Alters innerhalb eines Spielraums von ungefähr zwei Jahren
zu einer Altersschicht (kinta) vereinigt werden. Es sind die
Knaben, die zuerst zusammen Früchte gepflanzt und geerntet
haben (S. 475 — 476). Die Angehörigen derselben Siedlung,
die in der gleichen kinta sich befinden, nennen einander e'riam,
„Altersfreunde". Die Bezeichnung wird mit „Freund" über-
setzt (S. 475).
Unter diesen enam-Männern hat der eine das Recht, bei
der Frau des anderen eheliche Rechte auszuüben. Dies ist
aber nicht wie bei den Banaro an gewisse Feste geknüpft
oder findet nur an geheiligter Stätte statt, sondern es genügt
eine einfache gelegentliche Verabredung, um sich im Walde
zu treffen. Ein solches Zusammentreffen kann so oft statt-
finden, als es gewünscht wird, ohne daß jemand daran Anstoß
nehmen würde.
Dieses Verhältnis erinnert an das pirrauru. Denn die
Altersfreunde der gleichen Siedlung sind sicher miteinander ver-
wandt. Der Unterschied gegenüber dem pirrauru- Verhältnis
besteht hauptsächlich darin, daß bei letzterem die Rechte be-
schränkter sind: nämlich auf die Zeit der Abwesenheit des
Gatten oder auf die Zusammenkünfte und Feste des Stammes.
Beim pirrauru hatte die Frau immer nur einen nebenehe-
lichen Partner, der Mann konnte wohl mehrere pirraurus haben.
Bei den e'riam ist kein Unterschied. Beide Geschlechter sind
einander gleichgestellt. Die Beziehungen sind bei den e'riam
gewissermaßen durch die Natur gegeben, vorausbestimmt, nicht
wie beim pirrauru durch Zuteilung oder Wahl erfolgt. Inner-
halb des zu den e'riam zugelassenen Personenkreises entwickeln
sich dann noch, wie ausgeführt wird, besondere Neigungen.
*) The Melanesians of British New Guinea, Cambridge 1910, S. 473.
172 Thnrnwald.
Hier kann man also von einer Nebengruppenehe reden.
Die für die Verheiratung in Betracht kommenden Frauen
müssen aber der entsprechenden Klanhälfte oder -gruppe an-
gehören. In dieser Hinsicht ähnelt das e'riam- Verhältnis stark
der mundü-Beziehxmg. Natürlich werden die Verwandtschafts-
bezeichnungen durch das eWam-Verhältnis auch beeinflußt. Von
einer Initiation der Mädchen durch alte Männer wird hier
aber keine Erwähnung getan. Die Heirat unter e'riam- Ge-
schwistern eines e'riam ist nicht zugelassen.
Für diese nebenehelichen Beziehungen wird zur Rechtferti-
gung besonders angeführt, daß dem Mann strenge Enthaltsamkeit
auferlegt ist, von der Konzeption der Frau bis zu dem Zeit-
punkt der Entwöhnung des Kindes, ein Zeitraum, der bei der
üblichen langen Stilldauer sich über Jahre erstreckt. In der
Zwischenzeit sind dem Mann diese nebenehelichen Beziehungen
gestattet, wie das besonders von den Boianai gemeldet wird.
Die mam-Beziehung ist aber nicht notwendigerweise immer
an die gleiche Altersklasse gebunden und ist außerdem erblich.
Damit nähert sie sich noch weiter dem mimdü- Verhältnis der
Banaro. Das eriam durchkreuzt die Klanbeziehungen (vgl.
S. 438 — 48), ebenso wie bei den Banaro das mtm^w-Verhältnis
es tut. Man wird berechtigt sein , das eriam als eine Er-
innerung an frühere Zustände gelten zu lassen. Das eriam
stellt gewissermaßen ein Mittelglied dar zwischen dem mundü-
Verhältnis der Banaro und dem pirrauru der Dieri. Die austra-
lischen Einrichtungen erscheinen loser und laxer gegenüber
den fester umschriebenen und in bezug auf die Personen enger
gebundenen Sitten von Neuguinea. Eine ähnliche Erscheinung
kann man auch beim Vergleich der totemistischen Vorstellungen
von Australien mit denen von Neuguinea beobachten 1).
Aehnliche Verhältnisse sind auch aus anderen Gegenden,
namentlich aus Nordamerika bekannt, z. B. von den Poda1
bei denen geschlechtliche Beziehungen der Mitglieder des einen
*) Vg]. meine „Psychologie des Totemismus", Anthropos XII — XIII,
S. 1099.
Die Gemeinde der Bänaro. 173
Klans mit fast allen möglichen Individuen des anderen ge-
stattet sind x).
Aus Südamerika berichtet man Ernte- und andere Feste
(Ghaya) mit dem Charakter von Saturnalien oder eines Karne-
val von der Calchaqui-Gegend (Guarani) 2).
In besonderer Weise sind diese nebenehelichen Bezie-
hungen in dem mikronesischen und polynesischen Gebiet aus-
gebildet. Sie treten da auch mehr als eine Laxheit der Sitten
auf, bei denen nur mit Mühe noch die älteren Traditionen
bloßgelegt werden können.
Ein Beispiel davon bietet die sogenannte ^tma/wa-Beziehung
von Hawai. Rivers weist wohl mit Recht die Theorie zu-
rück, daß die punalua als ein Beweis iür ursprünglich promiske
Geschlechtsbeziehungen aufzufassen sei, wie man früher an-
nahm. Bei der Aufnahme eines Stammbaumes ist er folgendem
Fall begegnet (History I, S. 385—386): als die Ehe eines
Paares kinderlos blieb, wurde der Gatte der Schwester der
Frau herangeholt. Daraufhin war das Ergebnis die Geburt
eines Kindes. Der andere Mann, der intervenierte, wurde von
dem ursprünglichen Gatten „punalua" genannt. Seine Funktion
erinnert in gewisser Weise an den des mundü der Bänaro,
besonders aber des eriam der Tubetube.
Der von Rivers erwähnte Fall kann nicht als ein iso-
lierter betrachtet werden, denn es existiert, wie Rivers weiter
feststellt, ein System, nach welchen Liebhabern eine anerkannte
Stellung zukommt. Rivers äußert sich folgendermaßen darüber
(History I, S. 387): „Diejenigen, welche anscheinend eine
„ deutlich umschriebene Stellung als Liebhaber einnehmen,
„sind gewisse Verwandte, nämlich die Brüder des Gatten und
„die Schwestern der Frau. Diese bildeten eine Gruppe, inner-
halb der alle Männer über alle Frauen eheliche Rechte aus-
*) Lo wie, Journ. Am. Folk-Lore 25, 1912, S. 34; G olden weis er,
ebenda, 26, 1913, S. 260; Frazer, Totemism and Exogamy III, S. 34
und 35 (Wyandot).
2) Quevedo a.a.O. S. 423.
174 Thumwald.
„üben durften, und es wird mir erzählt, daß sogar jetzt noch,
„beinahe ein Jahrhundert nach der allgemeinen Annahme des
„Christentums, diese Rechte eines ±mnalua noch mitunter an-
erkannt werden und Veranlassung geben zu Gerichts verhand-
jungen, bei denen man solche Fälle als Ehebruch betrachtet.
„Außer diesen punalua, welche eine anerkannte Stellung gegen-
über dem Ehepaare kraft ihrer Verwandtschaft einnehmen, gibt
„es oft noch freigewählte Liebhaber des Gatten oder der Gattin."
Hier treten also , wie in Australien , die Brüder oder
Schwestern als Mitteilhaber an den ehelichen Beziehungen auf 1).
Die sexuelle Lauheit, welche von den hawaischen Inseln be-
richtet wird, scheint aus einem Verfall der älteren, strengeren
Vorschriften hervorgegangen zu sein. Auch die Reste der
Herrschaft der Alten können dort noch konstatiert werden :
sie treten in der Form eines jus primae noctis oder besser
primarum noctium auf den hawaischen Inseln auf (History L
S. 386). Die Häuptlingsfamilien bildeten dort eine besondere
Kaste, wie auch anderwärts in Polynesien, und besaßen ihre
eigenen Gesetze zur Aufrechterhaltung ihres Geschlechts. Da sie
nicht zahlreich waren, ergab sich bei ihnen, ähnlich wie z. B.
bei den Königsfamilien von Siam oder des alten Aegypten,
Heirat unter den nächsten Blutsverwandten. Es zeigt sich
jedenfalls, daß diese Schicht der oberen Kasten sich verschie-
den fühlte von der übrigen Bevölkerung.
Aehnliches wird uns auch von den Marshallinseln durch
P. R. Erdland2) berichtet: die Mädchen der Häuptlingskasten
werden durch den Häuptling defloriert, selbst wenn es die
eigene Tochter sein sollte. Während die Initiationszeremonien
vor sich gehen, enthalten sich die Eltern vom geschlechtlichen
Verkehr.
*) Bei dem von Rivers erzählten Fall wird man an die „Zeugungs-
helfer" indogermanischer Stämme erinnert (Schrader, Die Indo-
germanen 1916, S. 89).
2) Die Stellung der Frauen in den Häuptlingsfamilien der Marshall-
inseln, Anthropos IV, 1909, S. 112.
Die Gemeinde der Bänaro. 175
Ich selbst habe von Marsballinsulanern erfahren, daß
früher , als die Missionare noch keinen Einfluß hatten , die
Brüder, ähnlich wie auf Hawai, ihre Eherechte teilten. Als
orthodox wurde diejenige Ehe angesehen, bei der Vetter und
Base von einem Paar Großeltern abstammten und der Vetter:
des Sohnes Sohn, die Base : die Tochtertochter der Großeltern
war. Dagegen war die Ehe unter Vettern und Kusinen, die
von einem Brüderpaar oder Schwesternpaar abstammten, streng
verboten.
Es scheint, als wenn die Teilung der Dörfer der Palauer
in Kaldebekels (Dorfgruppen), die von Kubary berichtet wird1),
in gewissem Maße der Teilung des Bänaro-St&mmes in Sippen
entsprechen würde, besonders da die Arnieng 61-Jüinrichtimg,
die eine Art unbeschränkter Gruppen-Nebenehe darstellt, innig
damit verknüpft ist.
Diese Einrichtungen der Palauer scheinen ein wenig be-
schränktes System von Gruppenbeziehungen darzustellen , das
nur durch gewisse strenge äußere Förmlichkeiten umgeben ist.
Es ist bezeichnend, daß auch hier der erste Häuptling die
Deflorierung vornimmt. Da kein Frauentausch unter den Kalde-
bekels stattfindet, ist ein besonderes System der Vergeltung
gegenüber den Mädchen eingerichtet. Daß die Mädchen so-
wohl in Palau wie auf Yap in ein anderes Dorf gehen, um
in das Jünglingshaus für einige Monate als armengol einzu-
treten (S. 52 — 91), kann als Rest eines ursprünglichen Aus-
tauschsystemes ausgelegt werden, das bloß durch Bezahlung
vereinfacht wurde. Daß die Mädchen eines besiegten Dorfes
für die Kaldebekels weggenommen werden, kann man als Hin-
weis auf den Ursprung des Frauentausches nach Friedens-
schluß ausdeuten. Auch noch andere Zeichen eines anerkannten
Frauentausches sind vorhanden (S. 141).
Aehnliche Einrichtungen werden noch von Ponape durch
Dr. A. Hahl (Ethnologisches Notizblatt II, 2, 1901, S. 11), von
0 Die sozialen Einrichtungen der Palauer, Berlin 1885, S. 63 u. 83.
176 Thurnwald.
den Marianeninseln durch G. Fritz (Ethnologisches Notiz-
blatt III, 3, 1904, S. 84—85 — Urit an -Käuser) berichtet.
Es ist bemerkenswert, daß das Hetärentum auf der
Karolineninsel Yap kulturgeschichtlich, wie W. Müll er- Wismar
(Yap, S. 232) festgestellt hat, mit der Verdoppelung der dor-
tigen Totemgruppen zusammenhängt, so daß man den Eindruck
gewinnt, daß dieses Hetärentum aus ähnlichen Einrichtungen
hervorgegangen ist, wie wir sie unter den Sippen der Bdnaro
organisiert gefunden haben, daß aber die wachsende Bedeutung
wirtschaftlicher Momente zersetzend auf die früheren Sitten ge-
wirkt haben.
Im Zusammenhang damit ist es interessant, daß auf
Yap (S. 232) ein vereheliches Kind von den Großeltern auf-
genommen und nachher der Altersklasse der Mutter zugezählt
wird. Wie erinnerlich, verfährt man bei den Bdnaro genau
ebenso mit dem Geisteskind.
Soweit diese Solidarität unter den Brüdern einerseits, wie
wir sahen, zur Einrichtung von neben ehelichen Beziehungen,
dem Frauentausch unter den Brüdern und zu nachehelichen
Einrichtungen wie dem Levirat geführt hat, so leitete sie auch
noch zu anderen Besonderheiten hin. Schrader (S. 20) erwähnt
nämlich, ein indogermanisches urzeitliches Verwandtschafts wort
sveliones = altn. svilar mit der Grundbedeutung „Männer,
die Schwestern geheiratet haben". Das Gegenstück
dazu bildet lat. janitrices, „Frauen, die Brüder geheiratet
haben". Er vermutet, „daß die genannte Gleichung ursprüng-
lich Brüder oder Vettern, d. h. Söhne von Brüdern (die also
in derselben Hausgemeinschaft wohnten), die Schwestern heim-
geführt hatten, bezeichnen mochte". Man erinnert sich, daß
Cäsar von den Bewohnern Britanniens, de hello gallico 5, 14,
berichtet: „Uxores habent deni duodenique inter se communes
et maxime fratres cum fratribus parentesque cum liberis; sed
]) Ueber Bezeichnung der Heiratsverwandtschaft bei den indo-
germanischen Völkern, in den Indogermanischen Forschungen. Bd. 17. 1905.
Die Gemeinde der Bänaro. 177
8i qui sunt ex his nati, eorum habentur liberi, quo primum virgo
quaeque deducta est." Je 10 oder 12 haben unter einander
gemeinschaftliche Frauen, besonders Brüder mit Brüdern und
Väter mit Söhnen, die Kinder werden aber dem zugerechnet,
dem ein Mädchen zuerst zugeführt wurde. Aehnliches berichtet
Herodot, IV, 104, von den Agathyrsen in Siebenbürgen.
Die Laxheit, die von vielen alten Völkern berichtet
wird, würde dahin deuten, daß bei diesen die rein verwandt-
schaftliche Orientierung für die Sexualbeziehungen erschüttert
und durch wirtschaftliche oder kriegerische Momente einer Auf-
lösung entgegengeführt worden ist. Die höhere Ausbildung
sittlicher Zustände bei den meisten indogermanischen Völker-
schaften werden wir mit der größeren Bedeutung, welche die
väterliche Gewalt in den Großfamilien als Folge von Eroberungs-
und Unterwerfungskämpfen annahm , in Zusammenhang zu
bringen haben (vgl. Sehr ad er, Dielndogermanen, 1916, S. 73).
2. Verwandtschaftsnamen.
Das System der Verwandtschaftsnamen gibt sowohl den
ehelichen wie den nebenehelichen Beziehungen Ausdruck.
Da, wo wir genau beobachtete Heiratsordnungen finden, in
denen die sozialen Rechte und Pflichten der Mitglieder ge-
ordnet sind, begegnen wir auch einer reichen und ins einzelne
gehenden Benennung der Verwandtschaftsbeziehungen. Dies
hält noch eine Weile vor, wenn etwa die alte Heiratsordnung
zu verfallen beginnt. Dort aber, wo die alte Ordnung etwa
durch Wander- oder Raubzüge seit Generationen völlig zer-
stört worden ist, da finden wir die Zahl der Verwandtschafts-
namen karg und das System vereinfacht.
Das Gemeinwesen von Pentecost oder Raga in den Neu-
hebriden, von dem Rivers (History I, S. 190) *) erzählt,
*) Vgl. auch F. Speiser in „Petermann's Mitteilungen", Bd. 57,
S. 152, und William Churchill, Polynesian Wanderings, Carnegie In-
stitution, Bd. 134, 1911, S. 45.
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. XXXIX. Band. 12
178 Thurnwald.
bietet z. B. ein kompliziertes System von Verwandtschafts-
namen dar, das bedingt ist durch Unterteilung, Heiratsverbote
und -Vorschriften sowie auch verschiedene Funktionen und
Beschränkungen für die Verwandten (History I, S. 204 — 206);
sogar ein Rangsystem wird gemeldet, das indessen nicht er-
schöpfend untersucht worden ist. Der direkte Zusammenhang
des Rangsystems mit der Schichtung der Rassen kann nicht
positiv nachgewiesen werden, doch erhellt die Zusammensetzung
des Volkes daraus, daß auf der Insel zwei Sprachen geredet
werden. Das komplizierte System ist wahrscheinlich durch
Erhaltung alter Tradition, aber Ueberschichtung mit ver-
schiedenen „nationalen" Elementen bedingt.
Aus Savo in den zentralen Salomonen besitzen wir ein reiches,
aber nicht kompliziertes System an Verwandtschaftsbezeich-
nungen. Es wird uns berichtet (Rivers, History I, S. 248), daß
dort verschiedene Sprachen gesprochen werden, und von dieser
Insel ist eine papuanische Grammatik veröffentlicht worden 1).
Als eine merkwürdige Neuigkeit bezeichnet es Rivers
(History I, S. 250), daß „hier nicht nur Präfixe statt der sonst
., üblichen Suffixe für die Pronomina des Melanesischen ver-
wendet werden, sondern die höchst überraschende Tatsache
^besteht, daß diese je nach dem Geschlecht der angeredeten
^Personenwechseln". Diese letzte Eigenschaft stimmt mit der
bei den Banaro üblichen Bezeichnung für Bruder, Schwester,
Vetter und Base überein. Rivers bemerkt weiter (History I,
S. 251): „Innerhalb des ganzen Gebietes der Mutterfolge
herrscht der Glaube, daß der Klan, zu dem ein Mann gehört,
aus den Linien seines Handtellers ersehen werden kann." Ich
habe nicht dasselbe von den Banaro in Erfahrung bringen
können, aber in Buin (Bougainville, Salomoinseln) 2) wurde ich
auf einen solchen Zusammenhang aufmerksam gemacht. Es
ist ein Gebiet einer nicht melanesischen Sprache.
1) Rev. W. G. Ivens, Grammar of the Language of Sa'a Malaita,
Anthropos 1911, S. 755 ff., 926 ff.
2) Zeitschr. f. Ethnologie 1919, S. 529.
Die Gemeinde der Bänaro. 179
Die erwähnte Tendenz zur Vereinfachung der Verwandt-
schaftsnamen findet sich z. B. bei den Simbo- Leuten (Eddy-
stone, Mandeguan), die, wie Rivers sich ausdrückt, ein Ver-
wandtschaftssystem polynesischer Art von außerordentlicher
Einfachheit besitzen. Es gibt da keine sozialen Gruppen, die
Klans entsprechen würden, und die Heirat wird einzig und
allein nach dem Gesichtspunkt der Verwandtschaft geordnet,
wobei aber ausgeschlossen ist, daß jemand eine Person heiratet,
mit der er gemeinsame Abstammung besitzt. Andere Heirats-
beschränkungen existieren hier nicht. Diese Simbo-Leute ge-
hören zu den großen Kopfjägerstämmen, welche die zentralen
Salomoinseln in früheren Jahren heimzusuchen pflegten. Ihre
Raubzüge erstreckten sich bis nach Velalavella und Choiseul,
wo sie die Männer töteten und die Weiber raubten x). Die
Existenzgrundlage des Stammes bildeten die Kriegsunter-
nehmungen gegen die mehr seßhaften und weniger aggressiven
papuanischen Stämme. Diese Gewohnheiten haben bei ihnen
bewirkt, daß das Verwandtschaftssystem für die Heiratsordnung
an Bedeutung verlor.
Man könnte einwenden, daß in Polynesien und Mikronesien
das wandernde Element eine Art Herrschaft mit verschiedenen
Schichten aufgerichtet habe, wie z. B. auf den hawaischen
Inseln, auf Samoa, Ponape, den Marshallinseln usw., während
in Melanesien eine solche Schichtung fehlt. Das Rangsystem
von Baga oder Pentekost, ebenso wie auch die Organisation
des Buin- Volks (vgl. meine „Forschungen" III, S. 48 f.) können
als Ansatz zu einer Kastenschichtung angesehen werden. Aber
das Wanderelement war offenbar nicht ausreichend an Zahl
auf den großen melanesischen Inseln und stand einer zu großen
Menge von Eingesessenen gegenüber. Aus diesem Grunde
suchten die Einwanderer abseits ihre Siedlungen anzulegen.
Auf diese Weise schoben sich die Einwanderer allenthalben,
wo sich die Möglichkeit bot, zwischen den papuanischen Sied-
*) Vgl. meinen Reisebericht in der Zeitschrift für Ethnologie 1909,
S. 528.
180 Thurnwald.
lungen ein. Wegen des Mangels oder der sehr geringen Zahl
an eigenen Frauen vermischten sie sich — muß man an-
nehmen — außerordentlich stark mit dem eingesessenen Ele-
ment, das sie indessen nicht unterjochen oder erobern konnten.
In Polynesien und Mikronesien stand wahrscheinlich eine
Reihe von unbewohnten Inseln den ersten Einwanderern zur
Verfügung. Dagegen sind die späteren Zuwanderer offenbar
in ein starkes Abhängigkeitsverhältnis von den Siedlern der
ersten Wanderwellen gefallen. Dazu tritt auf den vielen und
kleinen Inseln noch hinzu, daß das ganze Herrschaftsbereich
übersehbar und das vorhandene Gebiet eng begrenzt ist. Ge-
rade dieser Umstand, daß das bebaubare Land auf den kleinen
und vielen Inseln beschränkt ist, hat wahrscheinlich die Auf-
richtung von Kastenstaaten ermöglicht. Eine höhere Kultur
hat hier überdies Reichtümer zu schaffen verstanden. Diese
zwei Momente nun, die politischsoziale Gliederung des ganzen
Volkes einerseits, die Bedeutung der Wirtschaft und des Eigen-
tums auf der anderen Seite ließ die Bedeutung der alten Ver-
wandtschaftsordnung zurücktreten. So treffen wir auf diesen
Inseln sehr einfache Verwandtschaftssysteme, außerordentlich
lose Heiratsordnungen und ein loses System der nebenehe-
lichen Beziehungen.
3. Theorien.
Diese Charakterzüge des polynesischen und mikronesischen
Verwandtschafts- und Heiratssystems haben nun L. H. Morgan1)
verleitet, dort, wo er einfachere Ordnungen fand, diese für
die primitiveren und älteren zu halten. So entstand seine
Hypothese eines älteren „malaiischen" und späteren „tura-
nischen" Systems. Er hat vergessen, daß einfache Formen
auch das Ergebnis einer Rückbildung von komplexeren Formen
sein können. Die Entwicklung verläuft eben keineswegs immer
geradlinig.
*) Ancient Society, 3. Teil, Kap. 1, 2 und 3.
Die Gemeinde der Bäraro. 181
Was die Verwandtschaftsbezeichnung betrifft, so werden
wir mit folgenden Stufen zu rechnen haben :
1. Unterscheidung der wichtigen biologischen Unter-
schiede von Alter und Geschlecht. Diese Unterscheidung
tritt fast überall, auch in den nicht komplizierten Systemen
zutage.
2. Unterscheidung der sozialen Gruppenunterschiede (Sippe,
Klan). Diese führt zu einer Komplikation mit den bloß bio-
logischen Ordnungen, wie z. B. im Bdnaro-Sjstem.
3. Vereinfachung als Folge von Vernachlässigung der bio-
logischen Unterschiede und Heiratsordnungen. Wanderung,
erhöhte Kriegstätigkeit, Räuberleben brechen überlieferte Be-
schränkungen. Beispiele davon sind die einfachen melanesi-
schen Systeme, besonders das von Simbo, Pentecost.
4. Die Aufmerksamkeit wird von den biologischen Unter-
schieden auf den sozialen Rang und die wirtschaftlichen Besitz-
unterschiede gelenkt. Dies führt zu den sogenannten einfachen,
aber eigentlich höheren Systemen. Die Verwandtschaftsbezeich-
nungen verlieren ihre Bedeutung als Maßstäbe für den sozialen
Rang. Letzterer wird nun durch Einfügung in den Herrschafts-
organismus und durch den Reichtum im wesentlichen bestimmt.
Nur als Hilfsmittel für die Kontrolle der Abstammungsverhält-
nisse bleibt den Verwandtschaftsnamen noch eine Bedeutung
vorbehalten.
Wir haben oben gesehen, daß die Heiratsordnung im
mikronesischen und polynesischen Gebiet in vollem Verfall
begriffen ist. So ist es auch mit der Ordnung der Nebenehe.
Auch diese außerehelichen Beziehungen haben ihre ursprüng-
liche Grundlage der Einteilung nach bestimmten Klangruppen
verloren. An Stelle dieses Ordnungsprinzips ist ein anderes
getreten, das an den Besitz von Gütern anknüpft. Die außer-
ehelichen Beziehungen werden käuflich, so wie die Ehe selbst
sich in eine Kaufehe verwandelt hat. Damit gewinnt der Be-
sitz Einfluß auf die Geschlechtsbeziehungen. Trotzdem reichen
die früheren Gedanken der Klaneinteilung als Reste von Ueber-
182 Thurnwald.
lieferung noch in das Denken dieser Zeit herein und beein-
flussen die Ordnung des Lebens mit.
Wir wenden uns nun der Frage zu, ob wir pirraura und
eriam als Zeichen für eine ursprüngliche „ Promiskuität" oder
„Gruppenehe" ansehen können. Zunächst müssen wir uns über
diese Begriffe selbst klar sein, die von den meisten, die sie
gebrauchen, nicht in ausreichendem Maße abgegrenzt werden.
N. W. Thomas hat zuerst diese Begriffe einer Untersuchung
unterzogen (S. 107 — 108 und 127), ebenso hat Malinowsky
(S. 89 und 113—115) und Rivers (History II, S. 127 und 145)
klärend in dieser Beziehung gewirkt. Wichtig ist vor allem,
daß man einen Unterschied gegen die Polyandrie (die
dauernde geschlechtliche Beziehung einer Frau zu denselben
mehreren Männern) und Polygynie (die dauernde geschlecht-
liche Beziehung eines Mannes zu denselben mehreren Frauen)
sieht. Als Promiskuität hat man begrifflich die durch
keinerlei Schranken behinderte Erlaubnis zu geschlechtlichem
Verkehr zu betrachten. Die Gruppenehe dagegen schränkt
diese Promiskuität auf die Angehörigen gewisser Gruppen ein.
Die Promiskuität in dem obigen begrifflichen Sinn konnte
bisher nirgends festgestellt werden , wie schon A. A. Post1)
fand. Gruppenehe kommt der Polygamie sehr nahe, doch
unterscheidet sie sich dadurch, daß Polygamie das wirkliche
Zusammenleben von mehreren Frauen mit mehreren Männern
bezeichnet, die Gruppenehe jedoch nur die unbeschränkte Er-
laubnis zum Geschlechtsverkehr enthält, ohne daß ein dauern-
des Zusammenleben tatsächlich stattfindet.
Doch ist es charakteristisch, daß wir regelmäßig das Zu-
sammenleben eines Paares auch dann finden, wenn verschiedene
außereheliche Beziehungen noch gestattet sind. Die brüder-
liche Mehrehe („adelphic polygyny", wie Thomas sie
nennt) klingt jedenfalls stark an die Gruppenehe an. Eriam
und pirrauru sind darauf aufgebaut, doch ist bei diesen beiden
l) Vgl. Grundriß der ethnolog. Jurisprudenz 1894, I, S. 17 ff., ins-
besondere Einschränkung, S. 46.
Die Gemeinde der Bänaro. 183
Institutionen zu beachten, daß immer eine bestimmte Frau als
Gattin gilt. Soweit wir sehen, handelt es sich bei den bisher
bekannt gewordenen Formen von Gruppenehe um subsidiäre
Geschlechtsbeziehungen, die unterschieden werden müssen von
dem ehelichen Zusammenleben eines Paares.
Man wird zu dem Ergebnis kommen, daß veraltete soziale
Einrichtungen den Anlaß, wenn man will, den unbewußten
Vorwand, abgegeben haben, um diese Sitten bei festlichen Ge-
legenheiten aufleben und dabei der Geschlechtlichkeit die Zügel
schießen zu lassen. Das Moment, das zu ihrer Konservierung
beitrug, war ein psychisches: die Sexualität. Die historische
Tradition lieferte die Form dazu. Man denke etwa an unsere
sogenannten Bauernbälle, in denen ebenfalls eine gewisse Lax-
heit der Sitten einreißt. Ebenso bei „Saturnalien" und Karneval-
festen verschiedener Völker. Um den Schein zu wahren, wird eine
Form gefunden, die ein Wiederaufleben alter Sitten vortäuscht,
und zu diesem Zweck werden diese alten Sitten „idealisiert".
Dementsprechend werden wir solche Einrichtungen zu
werten haben. Sie sind also sicher von Bedeutung als Reste
früherer Ordnungen, die in ihnen enthalten sind. Aber viel-
leicht sind diese früheren Ordnungen nach Gefallen und Zweck
„frisiert".
Alles deutet auf eine frühere konsekutive Ehe. Diese
wird in den Festen zu einem besonderen Zweck umgedeutet.
Je weiter man sich von den „ursprünglichen" Zuständen ent-
fernt, um so ungeschminkter tritt dieser Zweck zutage und
führt zu jener Laszivität, die wir in den polynesischen und
mikronesischen Einrichtungen finden. Während wir in Neu-
guinea, wo wir mit „älteren" Verhältnissen als in Australien
zu tun haben (auch Rivers vertritt diese Ansicht, History II,
S. 11 und 583), noch strengere Formen finden, die ihre alten
Ordnungen rein bewahrt haben.
Die Gruppenehe werden wir somit als eine Institution
neben der Paarung betrachten müssen. Sie dürfte als ein
Ventil für die überschüssige Sexualität bestanden haben, aber —
184 Thurnwald.
soweit wir sehen — nie ganz ohne Schranken und Regelungen
gewesen sein. Später gewahren wir einen Verfall der an sie
anknüpfenden Ordnungen, und zwar um so mehr, als die Ver-
wandtschaft an Bedeutung gegenüber Reichtum und politischer
Macht zurücktritt. Diese nebenehelichen Beziehungen wahren
eine gewisse Parallelität mit der Art der Ehe selbst. Rück-
schlüsse auf die Paarung und das Zusammenleben kann man
daher nicht ohne weiteres ziehen, wie das Morgan und viele
seiner Nachfolger getan haben 1).
Als solche Parallelbildungen können wir z. B. auch die
in den verschiedenen Teilen der Erde immer wieder auf-
tretenden ähnlichen Hochzeitsgebräuche rechnen, wie sie
z. B. Eduard Hermann, Beiträge zu den indogermanischen
Hochzeitsgebräuchen, in den Indogermanischen Forschungen,
Bd. 17, 1905, S. 373 ff. zusammenstellt.
Wenn wir die ähnlichen Gestaltungen bei verschiedenen
Völkern betrachten, so müssen wir auch hier die Frage auf-
werfen, wie diese gleichartigen Erscheinungen zu begründen
sind. Daß man die Dinge einfach mit dem Zauberspruch
„Uebertragung" abtut, wird nicht immer angehen. Dagegen
werden wir uns eher damit befreunden können, derartige ähn-
liche soziale Gestaltungen als Parallelbildungen aufzufassen.
Das trifft sowohl für die Bölken- Vetter-Ehe (cross-cousin), als
auch für das Levirat und die damit zusammenhängenden Ein-
richtungen zu.
Als Ausgangspunkt für die Gestaltung solcher sozialer
Parallelbildungen müssen wir in Rechnung setzen:
1. Die Kleinheit aller primitiven Verbände. Für diese
gilt die psychische Grundeinstellung: nur mit Bekannten
in Beziehung zu treten, Unbekannte, Fremde, werden als ge-
fährlich abgelehnt.
2. Die Autorität der Alten vermöge ihrer reicheren per-
sönlichen Erfahrung und ihres suggestiven Einflusses auf die
») Vgl. dazu die Kritik von N. W. Thomas a. a. 0. S. 117.
Die Gemeinde der Bänaro. 185
Jüngeren, somit auf die Gestaltung der Verhältnisse in ihrer
kleinen Gemeinschaft.
Diese zwei Punkte sind vor allem für die Bölken- Vetter-
Ehe (cross-cousin-Ehe) maßgebend.
3. Das Gefühl der Solidarität unter den nächsten Ver-
wandten, besonders unter Brüdern gegenüber dem, was dem
einen „gehört", Solidareigentum auch an Frauen.
4. Damit verbinden sich später Auffassungen über die
Kontinuität und Solidarität der voneinander abstammen-
den Personen, sowie Vorstellungen vom Jenseits.
5. Wirtschaftliche Momente können erst dann zu
einer Bedeutung kommen, wenn die Wirtschaft selbst im Leben
der Menschen zu einem zentralen Faktor geworden ist.
Wir kommen weiterhin zu dem Ergebnis, daß die indi-
viduellen Formen eines Verbandes und dessen Einrichtungen
durch seine besonderen Schicksale bedingt sind. Wenn wir
wo anders, in entfernten Gegenden, einander ähnliche Ein-
richtungen antreffen, so müssen wir auch an ähnliche historische
Schicksale als Voraussetzungen denken (z. B. in Australien
und Nordamerika), die — vielleicht teilweise stammverwandte
— Völker getroffen haben. Solche ähnlichen Einrichtungen
können aber auch durch besondere Umstände verursacht sein,
wie sie etwa Wanderungen mit sich brachten r) (vgl. S. 131
und S. 152).
Schließlich werden wir uns die Frage vorzulegen haben,
wie weit wir allgemeine Schlüsse 1. auf die Entstehung der
menschlichen Gesellschaft, 2. auf die Menschheitsentwicklung
selbst ziehen dürfen.
Für die Entstehung der menschlichen Gesellschaft sollen
wir uns zuerst immer nur an das historisch Gegebene halten,
*) Ueber die Arten der Konvergenzerscheinungen vgl. A.A. Gol-
denweiser, The Principle of Limited Possibilities in the Development
of Culture, in The Journal of Amer. Folk-Lore 26, 1913, S. 259 ff., be-
sonders S. 270 ff. und meine „Psychologie des primitiven Menschen",
Einleitung, im „Handbuch der vergleichenden Psychologie".
186 Thurnwald.
wir dürfen höchstens von festen Tatsachen aus Konstruktionen
nach rückwärts wagen. Der Boden geht rasch verloren, wenn
wir nicht die Komplexheit der Bedingungen in Rücksicht
ziehen. Was über das historisch Ableitbare hinausgeht, ver-
liert sich leicht in dichterische Nebelgebilde, wie wir sie etwa
bei Müller-Lyer finden.
F. Müller-Lyer nimmt in einem 1912 erschienenen
Buche „Die Familie" drei Stufen primitiven Familienlebens an:
1. eine Periode unorganisierten tierähnlichen Lebens in
Horden ;
2. eine Periode eines nach Altersklassen gegliederten
Hordenlebens ;
3. eine Periode sexueller Differenzierung in der Ehe und
Familienstand.
Was seine erste Stufe anbelangt, so mangelt für diese
jeglicher Beweis. Seine Annahme baut er lediglich auf In-
stinkten auf. Er übersieht die Tatsache, daß Tiere keines-
wegs immer „promisk" leben. Viele Vögel sind z. B. streng
monogam, dasselbe wird auch vom Gorilla berichtet. „Tier-
ähnlich" besagt also nichts, denn es käme darauf an, welche
Tiere gemeint sind. Bezüglich der zweiten Periode sehe ich
nicht ein, weshalb er zunächst eine Scheidung nach dem Alter
und erst nachher (dritte Periode) nach dem Geschlecht vor-
nimmt. Beide dieser biologischen Unterschiede sind in gleicher
Weise ersten Ranges.
Betrachten wir die Gesellschaften der Säugetiere, so be-
gegnen wir sehr verschiedenartigen Gemeinschaften. Mehrere
Typen treten dabei zutage:
I. in bezug auf die familiale Gestaltung:
a) monogame Verbindungen, bei den Affen und Katzen.
Fraglich ist dabei die Anteilnahme der männlichen Individuen
an der Versorgung der Nachkommenschaft;
b) polygame Verbindungen besonders bei den Hirschen.
Nach der Brunstzeit wandern die Böcke allein ab und kümmern
sich nicht um die Jungen.
Die Gemeinde der Banaro. 187
II. Vergesellschaftungen zur Sicherung und Erleichterung
der Lebensführung:
1. Truppen ohne gegenseitige Verteidigung und ohne
Führer.
a) Ohne unmittelbaren Nutzen, nur zur Erleichterung der
Brut und Signalisieren von Gefahr (Hirsche);
b) mit selbständiger, doch tatsächlich ineinandergreifen-
der Tätigkeit, wie etwa bei der Anlage von Bauten bei den
Bibern.
2. Herden mit Führern und wechselseitiger Hilfeleistung
zur Verteidigung, aus mehreren gewöhnlich monogamen, manch-
mal auch polygamen Familien zusammengesetzt, wobei beide
Eltern für die Nachkommenschaft sorgen, wie bei den Affen.
Auch beim Rind und seinen Verwandten (Bison) kommt diese
Art der Gesellung vor.
3. Raubrudel mit Führern und wechselseitiger Hilfe-
leistung zur Verteidigung und außerdem zum Angriff, sowie
auch mit einer durch den Kampf bestimmten Ordnung. Diese
Raubrudel, die durch Wölfe und wilde Hunde repräsentiert
werden, zerfallen zur Brunstzeit in Paare. Die Anteilnahme
der männlichen Tiere an der Aufzucht der Jungen ist zweifel-
haft und kann örtlich verschieden sein. Die Größe der Rudel
hängt von den besonderen Umständen der Gegend ab, so sind
z. B. die Wolfsrudel in Kanada kleiner als in Rußland 1).
Wenn wir versuchen, aus den gemäß dem hier vorge-
brachten Material noch gerade rekonstruierbaren Gesellschafts-
formen eine Brücke zu schlagen nach bestimmten Vergesell-
schaftungsformen von höheren Säugetieren, so möchte ich der
Hypothese von Carveth Read viel Wahrscheinlichkeit bei-
messen. Er nimmt nämlich (S. 39 ff.) an, daß die Gesellung
der menschlichen Vorfahren zu Raubrudel, wie sie etwa Wölfe
bilden, als Ausgangspunkt für die soziale Gestaltung zu be-
trachten sei. Die Bildung von solchen primitiven Jägerhorden
*) Vgl. Carveth Read, The Origin of Man and of his Super-
stitions, Cambridge 1920, S. 36, 37.
188 Thurnwald.
habe den Uebergang zur Fleischkost gebracht, vor allem aber
an den physisch für die Jagd nicht ausgestatteten Vormenschen
geistige Anforderungen gestellt, die als Reiz zu neuen Lei-
stungen wirkten. Nur diejenigen Gesellschaften aber haben
bestehen und sich durchsetzen können, in denen auch die so-
ziale Hilfe und Ordnung am vollkommensten zur Ausbildung
gelangte.
Wenn wir diese Erwägungen zu den unsrigen machen, so
müssen wir die Aufrichtung von inneren Ordnungen in primi-
tiven Gemeinden weit in das Vormenschentum zurückversetzen
und alle die Gedanken von uns weisen, die mit einem ver-
hältnismäßig rezenten sogenannten primitiven Hordenstadiura
spielen, bei dem man sich eine ganz den Augenblicksimpulsen
überlassene amorphe Menschenmasse vorstellt. — Die Tat-
sachen und daran anknüpfende Erwägungen lassen ein ganz
anderes Bild zutage treten, als Gedankenspiel allein ahnen kann.
Unter den erörterten Voraussetzungen haben wir immer
Ordnungen für menschliche Gemeinden anzunehmen. Indes
auch die hier vorgebrachten und ermittelten Ordnungen des
Sexuallebens können wir nicht ohne weiteres als die äußersten
Einrichtungen an der Schwelle des Menschentums ansehen.
Vor allem müssen wir auch dem Frühmenschen schon die
Möglichkeit verschiedener Varianten von Ordnungen zu-
gestehen, die vor allem mit der Größe der Horde und ihrem
Nabrungsmittelerwerb zusammenhängen.
Allgemein sind nur gewisse Grundtriebe des Menschen.
Die Art aber, wie diese sich in Aeußerungen umsetzen
und in sozialen Einrichtungen niederschlagen , ist außer-
ordentlich mannigfaltig. Zweifellos ist die Bereicherung des
Schatzes an Wissen und ein gewisses Wachstum an Intelligenz
für die soziale Gestaltung nicht ohne Bedeutung. Auch hier
gibt es Zusammenhänge zu erkennen und Einrichtungen neuen
Erkenntnissen anzupassen, obgleich die ethische Entwicklung
des Menschen sicher nur sehr langsam fortschreitet. Jede
Zeit und jede Not schafft sich ihre Einrichtung. Die einzelnen
Die Gemeinde der Bänaro. 189
Bedingtheiten und Verknüpfungen zu erkennen, die wir durch
Analyse gewinnen, ist indessen wertvoller als die Bilder selbst
zu schauen. Der Sinn soziologischer Forschung besteht in
dieser Erkenntnis.
D. Der Yerband der Bänaro als politisches Gebilde.
1. Der Begriff Staat.
Man ist gewohnt, von „Gesellschaften" primitiver Völker
zu reden und hat die Rolle, die sie als politisches Gebilde
spielen, bisher beinahe übersehen. Vielleicht deshalb, weil
man diese Gebilde als „Staaten" nicht anerkennen wollte. Schon
1911 suchte ich die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung der
Herrschaftsform zu lenken l). Erst ein späterer Versuch 1919
hat Beachtung gefunden2), vielleicht deshalb, weil die Revolution
das Interesse der soziologischen Betrachtung zugewendet hat.
Die Verschiedenheit in den politischen Gestaltungen der Natur-
völker und der Zusammenhang, der zwischen der politischen
Organisation und der Gestaltung des Gesellschaftslebens be-
steht, sollten vor Augen gerückt, die verschiedenen Formen
des Gesellschaftslebens als Ausdruck der politischen Gestaltung
aufgefaßt werden. Die Typen, die sich dabei ergeben, er-
scheinen als Etappen auf dem Wege zur Bildung höherer
Staatsformen.
Die Frage taucht auf, ob wir die politischen Gebilde bei
Naturvölkern als „Staaten" bezeichnen sollen. In der Ver-
wendung von Begriffen wie Staat, Religion3), Geld u. dgl.
*) Stufen der Staatebildung bei den Urzeitvölkern, Zeitschr. f.
vergl. Rechtsw. 25, 1912, S. 417 ff.
2) Politische Gebilde bei den Naturvölkern. Ein systematischer
Versuch über die Anfänge des Staates, Zeitschr. f. vergl. Rechtsw. 37,
1919, S. 376 ff. Vgl. auch den Vortrag vom 29. Mai 1920, in den Bl. d.
intern. Ver. f. vergl. Rechtswiss. u. Volkswirtsch.
3) Vgl. Psychologie des Totemismus, 2. Teil, Anthropos 1921 (im
Erscheinen).
190 Thurnwald.
müssen wir yon dem dogmatischen egozentrischen Standpunkt
unserer Kultur absehen und die betreffenden Bildungen als
Erscheinungen des menschlichen Lebens überhaupt betrachten.
So werden wir diese Erscheinungen als allgemein menschliche
Züge und nicht als Eigentümlichkeiten privilegierter Völker
einschätzen.
Den beschränkten egozentrischen Standpunkt nahmen z. B.
auch die Griechen ein, welche abgeneigt waren, den Begriff
ihrer „Polis" auf die sogenannten Barbarenstaaten anzuwenden.
Den römischen Juristen war ihr Staat ebenfalls „das Gemein-
wesen", die „ res publica". Nicht zuletzt hängt es damit zu-
sammen, daß die Begriffe noch an den konkreten Einzelfall
gebunden sind, ungefähr wie auf dem Gebiete des Rechnens
die primitiven Zahlbegriffe noch an der greifbaren Erscheinung
haften und noch nicht zur allgemein gültigen Anwendbarkeit
sich durchgerungen haben.
Auch der sogenannte moderne Staat ist nur eine Er-
scheinungsform unter vielen Möglichkeiten und ist Wandlungen
unterworfen. Gerade heute, da z. B. einerseits der Gedanke
eines Völkerbundes, anderseits der einer Räteverfassung dem
bisherigen Staat der Neuzeit äußerlich die Grenzen raubt, die
Souveränität erschüttert und ihn innerlich in seinem Zusammen-
hang zu zersprengen droht, werden auch die strengsten Dog-
matiker die Ansprüche an den Begriff des Staates herab-
schrauben müssen. Dann aber weitet sich dieser Begriff so,
daß er auch für die Erfassung der Herrschaftsgebilde primi-
tiver Völker verwendbar wird, der Begriff also zu dem Rang
einer allgemeinen Gültigkeit für das menschliche Zusammen-
leben aufrückt. Wenn wir von Tierstaaten, etwa Bienenstaaten
oder Ameisenstaaten reden, so handelt es sich dabei um den
Gebrauch eines Bildes, nicht um die exakte Anwendung des
Staatsbegriffes, wie er für das Gemeinschaftsleben der Menschen
gefordert werden muß.
Das menschliche Zusammenleben spielt sich, soweit unsere
Kenntnis reicht, fast überall in politischen Verbänden ab.
Die Gemeinde der Bänaro. 191
Wenn man diesen den staatlichen Charakter absprach, so lag
es daran, daß die Kenntnis der Verhältnisse unzureichend und
die Zustände ungenügend beobachtet oder von ungeschulten
Reisenden mißverstanden worden waren. Einer mag z. B. ein
guter Geograph oder Kuriositätensammler, aber ein schlechter
Beobachter soziologischer Beziehungen sein, und ein Globetrotter
übersieht oft die wichtigsten Tatsachen.
Unter welchen Bedingungen wollen wir also von einem
„ Staat" sprechen?1) Als wesentliche Punkte werden genannt:
1. Ein Rechtsverhältnis, das die Beziehungen unter
den Angehörigen einer Gemeinschaft regelt. „Ein Rechts-
verhältnis aber ist eine durch Rechtsnormen geordnete Be-
ziehung von Menschen zu Menschen, zwischen Berechtigten
.,und Verpflichteten des Inhalts, daß der Berechtigte einen
„Anspruch daraufhat, daß der Verpflichtete ein von dem Rechte
, anerkanntes Lebensinteresse (ein Rechtsgut im weiteren Sinne),
„das nicht immer ein persönliches Interesse des Berechtigten
(zu sein braucht, durch sein Verhalten fördere oder nicht be-
einträchtige. Infolgedessen ist der Verpflichtete dadurch in
„seiner Willensbetätigung rechtlich gebunden" (S. 702). Staat
und Recht werden als Wechselbegriffe aufgefaßt, von denen
der eine den anderen voraussetzt. Das Recht nun ist „latent",
besteht unausgesprochen als Rechtsgefühl 2), es wird vor allem
aufrechterhalten durch die Vergeltung und die Blutrache (so
z. B. auch bei den Buschmännern, s. Passarge, Die Busch-
männer der Kalahari 1907, S. 125 ff.; vgl. oben S. 419). Darin
liegt auch die geforderte Sanktion des Rechts enthalten.
Loening präzisiert sehr scharf: daß der Inhaber der
Herrschergewalt ein Glied in einem Rechtsverhältnis ist. „Die
x) Vgl. Loenings Artikel „Staat", S. 692 ff. , und Stammlers
Artikel „Recht", S. 31 ff., beide im Handwörterbuch der Staatswissen-
schaften 1911.
2) Vgl. meine Ausführungen in „Das Rechtsleben der Eingeborenen
der deutschen Südseeinseln % in den Blättern f. vergl. Rechtsw. und
Volkswirtechaftsl. 6, 1910, Heft 5 und 6.
192 Thurnwald.
verpflichtende Kraft des Rechts beruht darauf, daß die Menschen
, von der ihnen innewohnenden Vorstellung beherrscht sind,
„daß sie um ihrer selbst willen in einem Zustand der Herr-
schaft leben müssen, weil sie nur unter einer Herrschaft ihre
^Lebensbedürfnisse befriedigen können und in ihren Interessen
„geschützt sind" (S. 703). Dieser Schutz ist das Entscheidende
gerade für den primitiven Zusammenschluß.
Wenn Hegel sagt, daß das Grundgefühl der Ordnung das
Haltende ist, so trifft das auch für primitive Gemeinwesen durch-
aus zu. Wie das Ordnungsbedürfnis ausgebildet ist, tritt nicht
nur in den Heiratssystemen deutlich hervor, sondern auch in
den vielen sonstigen Regelungen und Vorschriften des Ver-
haltens (vgl. oben S. 420).
Loening betont (S. 704): „Die Vorstelluug, daß Staat
„und Recht notwendig sind, verliert dadurch nicht an Stärke,
„daß sie bei den meisten Menschen eine unklare und undeut-
liche ist. Die Erfahrung lehrt, daß vielfach gerade die un-
klarsten Vorstellungen die größte Macht über das Gefühl und
„den Willen der Menschen ausüben. " Dieser Unklarheit schreibt
Loening es zu, wenn bei den meisten Völkern die Herrsch-
gewalt und die Pflicht zum Gehorsam auf göttlichen Ursprung
zurückgeführt wird, also mit religiösem Gefühl verbunden er-
scheint. In diesen Rechtsbeziehungen drückt sich die politisch-
psychische Wechselwirkung unter den Individuen aus, die für
die Zusammenfassung einer Menschenmasse zu einer unter ein-
heitlichen Gesichtspunkten handelnden und wollenden Gruppe
charakteristisch ist.
Die Verbindung der rechtlichen und politischen Ord-
nungen mit religiösen Vorstellungen zeigt sich in den primi-
tiven Erscheinungsformen, besonders durch ihre Ableitung von
einem mythischen Gesetzgeber, und in der Umrankung der
Vorgänge des rechtlichen und politischen Lebens mit religiösen
Zeremonien. Dies tritt z. B. ganz besonders in den Beziehungen
der Könige und Häuptlinge zu den Gottheiten hervor. Die
grandiosen Materialsammlungen von F r a z e r in „Golden Bough"
Die Gemeinde der Bänaro. 193
(Taboo, 1911 und The Dying God, 1911) und in „Totemism and
Exogamy", 1910, liefern dafür Belege. Durch diese Verbindung
des Religiösen mit dem Sozialen wird die für primitive Zu-
stände charakteristische Einheit von Staat und Religion ge-
schaffen, die sich noch weiterhin mit der durch die Heirats-
ordnungen bedingten Rassegemeinschaft deckt. Als ein Bei-
spiel einer aus primitiver Zeit in die Formen hohen Kultur-
lebens herübergeretteten dreifachen Einheit von Staat, Religion
und Rasseband kann das japanische Volk gelten.
2. Für die Einheit des Staates wird ein räumlich ab-
gegrenztes Gebiet gefordert. Dieses trifft man sogar bei
nomadisierenden Stämmen an, denn selbst schweifende Gesell-
schaften bewegen sich auf einem bestimmten Territorium, das
sie für ihre Zwecke beanspruchen. Davon sind aber wandernde
Gruppen zu unterscheiden, wie sie etwa während der Völker-
wanderung oder des Tartarensturmes aufgetreten sind und auch
für die melanesische Wanderbewegung angenommen werden
dürfen. Sofern solche wandernden Gruppen Frauen und Kinder
mit sich führen und so die Gewähr der Erneuerung und des
Fortbestandes aus sich selbst bieten, können wir von „wandern-
den Staaten" reden, vorausgesetzt, daß die Rechtsordnung und
das Herrschaftsverhältnis gewahrt bleibt.
Bei Verbänden, wie etwa den Bänaro, ist das Gebiet, wie
wir oben S. 374 sahen, ziemlich scharf umschrieben. Die
individuell benannten „Fluren" gelten als das Land bestimmter
Sippen oder Klans, welche ihre Ansprüche darauf erheben
und gegebenenfalls verteidigen. So ist es fast allgemein in
Neuguinea und der Südsee.
3. Loening definiert den Staat als die rechtliche
Organisation des Volkes auf einem räumlich abgegrenzten Ge-
biet unter einer Herrschergewalt. Kann nun, nach dem,
was wir z. B. von den Bänaro auf S. 419 gehört haben, von
„Herrschergewalt" geredet werden? „Das Gewaltverhältnis
„ist ein rechtliches, wenn der der Gewalt Unterworfene hierzu
„durch Rechtsnormen zur Ausübung der Gewalt berechtigt
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. XXXIX. Band. 13
194 Thurnwald.
„oder nach Rechtsnormen sie auszuüben verpflichtet ist" (S. 710).
Die Initiationsfeiern stellen eine Einführung in die Macht der
vollberechtigten Mitglieder einer Gemeinschaft dar. „In dem
„rechtlichen Gewaltverhältnis ist es nicht erforderlich wie in
„dem rein tatsächlichen, daß der Gewalthaber selbst über die
„physischen Gewaltmittel verfüge, um den Unterworfenen zum
„Gehorsam zu zwingen" (S. 710). Es würde eine Verkennung
primitiver Verhältnisse bedeuten , wenn man die Anwendung
physischer Gewalt hier in besonderem Maße erwarten wollte*.
Sie ist eigentlich im wesentlichen negativer Art, indem sie
nämlich für diejenigen, die sich den Sitten und Rechtsverhält-
nissen nicht fügen, keinen Platz in der Gemeinschaft übrig
läßt. Außerhalb der Gemeinschaft ist aber jeder der Gnade
und Ungnade der Fremden ausgeliefert, wenn die drohende
Rache der Verwandten ihn nicht beschützt.
Wenn Loening zu dem Ergebnis kommt (S. 711), daß
auch die physische Macht des Staatsoberhauptes nur auf den
Rechtsverhältnissen beruht, so ist das für den primitiven Staat
noch viel mehr der Fall. Nur sind diese Beziehungen nicht
abstrakt sondern konkret. Der primitive Staat beruht auf den
persönlichen Beziehungen der Mitglieder. Diese Beziehungen
kommen nun in der Form der Verwandtschaft zum Aus-
druck.
2. Der primitive Staat.
Vielfach geht man von der Annahme aus, daß die Ein-
herrschaft die älteste Form staatlicher Organisation ist.
Man unterliegt dem Fehler, geschichtlich Altes auch als das
in der Gesamtentwicklung Frühere zu betrachten. Erst Lam-
precht und Breysig haben der Relativität der Gestaltung
Rechnung getragen. Doch müssen auch die verschiedenen
Aeste der Veränderungsreihen unterschieden werden.
Van Calker1) beginnt z. B. mit Aegypten. Aber das
*) Die staatlichen Herrschaftsformen im Handbuch der Politik I,
1912, S. 181.
Die Gemeinde der Bänaro. 195
ägyptische Königtum steht wie das höherer Primitiver keines-
wegs an einem „Anfang". Es ist dies überdies so religiös
eigenartig gestaltet (vgl. z. B. Frazers Angaben in Taboo
•1911, S. 1 und 131 ff. und The Dying God 1911, S. 14 und
46 ff.), daß die Auffassung keineswegs zutrifft, die von ihm in
rationalistischer Weise sonst durch van Calker entworfen wird.
Die niedrigste bekannte Herrschaftsform, die wir z. B. auch
bei den Bänaro antreffen, ist nicht das Häuptlingtum, sondern
die Herrschaft aller Alten des Klans oder der Sippe x), die
Gerontokratie. Ob diese Form ohne weiteres als „die" älteste
oder primitivste Form des Zusammenlebens betrachtet werden
kann, mag dahingestellt bleiben (vgl. Rivers, History II,
S. 324 und S. 68 — 69). Die Form der Gerontokratie tritt jeden-
falls verbunden auf mit einer Halbierung der Gruppen und in-
dividuell bestimmten Geschlechtsbeziehungen, wie wir sie oben
(S. 147) kennen lernten. Die Alten, die die Herrschaft ausüben,
sind mehr Berater und Anstifter als selbst Führer im Kampfe.
Sie üben ihren Einfluß vorwiegend durch religiös -magische
Mittel (vgl. Rivers, History II, S. 564 und oben S. 421) aus.
Schichtungen und die Anfänge des Häuptlingtums er-
scheinen als spätere Bildungen, die veranlaßt sind durch Kämpfe
und Unterwerfungen einer Gruppe durch eine andere. Erst
dadurch kommen höhere staatliche Gebilde zustande2). Eine
Neuordnung in den Beziehungen wird angebahnt, die auf der
Angehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe beruht. Die sieg-
reiche Gruppe, die sich als Herr über die Unterlegenen setzt,
regelt die Beziehungen der Unterworfenen als Richter und
bahnt den Weg für eine Rechtsbildung. Dadurch, daß hetero-
gene Elemente zu einem rechtlich homogenen Ganzen zu-
0 Der Herdenzustand des Rudels (gregariousness of the pack), von
dem C. Re a d (S. 42) spricht, könnte als Ausgangspunkt für den als Männer-
gesellschaft erscheinenden Staat betrachtet werden.
2) Für die Ansätze zu höherer Staatsbildung kommen z. B. die in
der Landschaft von Buin auf Bougainville (Salomoninseln) in Betracht;
vgl. meine „ Ermittlungen über Eingeborenenrechte der Südsee" in der
Zeitschr. f. vergl. Rechtsw. 23, 1910, S. 314 ff.
196 Thurnwald.
sammengeschweißt werden, eröffnet sich die Möglichkeit zu
einer höheren staatlichen Gestaltung.
Die germanischen Verbände, die Cäsar und Tacitus schil-
dern, zeigen, daß sie durch die militärische Umbildung der Ge-
schlechterverfassung primitiven Zuständen längst entwachsen
sind, wie auch Lamprecht annimmt („Staatsform und
Politik" im Handbuch für Politik I, 1912, S. 20).
Die Herrschergewalt im Innern setzt auch eine gewisse
Unabhängigkeit nach außen voraus. Man pflegt diese freie
Selbstbestimmung Souveränität zu nennen. Die Gemein-
wesen, die wir als Klan bezeichneten, sind solche souveräne
Einheiten, nicht jedoch die Sippen. Letztere bilden Bestandteile
des primitiven Staates. Die aus zwei Hälften, Sippen, bestehen-
den Klans stellen also „zusammengesetzte Staaten4, vor (S. 724).
Die Stämme aber sind bei den niedrigen Primitiven Neuguineas
noch nicht zu einheitlichen Organisationen vereinigt.
Wie weit werden nun von den primitiven Verbänden, wie
z. B. den der Bänaro, die Funktionen des Staates erfüllt?
Als solche kommen Rechtsprechung und Rechterzeugung in
Betracht. Beides befindet sich z. B. bei den Bänaro in der
Hand der alten Männer des Klans. Als Rechtsprechung ist
vor allem die Ordnung von Streitigkeiten unter den Sippen-
und Klangenossen zu verstehen. Sie findet hier noch in form-
loser Weise statt. Bei Stämmen, bei denen sich ein Häupt-
lingtum ausgebildet hat, tritt nicht selten der Häuptling als
Schiedsrichter beim Zweikampf auf.
Da die Alten die Hüter der Ueberlieferung sind, können
sie auch mit dieser brechen und Neuordnungen aufstellen. Das
geschieht aber gewöhnlich nicht ausdrücklich, sondern in der
Weise, daß man etwas angehen läßt, wie z. B. die Nichtbeach-
tung eines Tabu hinnimmt, oder etwa nur droht, im Wieder-
holungsfalle wirklich einzugreifen, einen Uebertreter vielleicht
mit dem Speer jagt, ihn nur verwundet, ohne ihn zu töten,
und dergleichen mildernde Abstufungen.
Die Exekutive, die Ausführung z. B. der Vergeltung oder
Die Gemeinde der Bänaro. 197
Blutrache wird nicht notwendig von den Alten selbst vor-
genommen , sondern oft auch von Beauftragten , doch besteht
keine besondere Organisation der physischen Machtmittel der
Herrschgewalt; etwas wie ein Heer oder eine Polizei gibt es
nicht, da alle bewaffnet sind. Die Zwangsgewalt erscheint
als ein Handeln, das aus der allgemeinen gefühlsmäßigen
Ueberzeugung der Gesamtheit hervorgeht.
Wir haben also gesehen, daß die gesellschaftlichen Ver-
bände von Primitiven durchaus die Funktionen ausüben, welche
man in höheren Kulturen Staat zu nennen sich gewöhnt hat.
Man wird daher berechtigt sein, den Begriff auch auf die
niedrigeren politischen Verbände auszudehnen. Denn im Staat
erblickt man ja „die Gesamtheit von Einrichtungen, welche dazu
dienen, die Kollektivkraft eines Volkes zu bilden und über sie
zu verfügen" (Menzel, Begriff und Wesen des Staates im
„Handbuch der Politik'' 1912, I, S. 43). Auch die niedrigsten
menschlichen Gesellschaften, soweit wir sie kennen, sind orga-
nisiert, um die Kraft für ihre Erhaltung zusammenzufassen.
Die juristische Staatsauffassung wird also nicht umhin können,
auch den Primitiven einen „Staat" zuzubilligen.
Man sollte es als selbstverständlich ansehen, daß eine bio-
logische Auffassung primitive politische Verbände auch als
„Staat" gelten läßt. Indes behandelt R. Kj eilen („Der Staat
als Lebensform" 1917) primitive Verbände, wenn er im Vor-
übergehen von ihnen spricht, als „Gesellschaft". Die Gesell-
schaft aber faßt er als Element des Staates auf, und zwar im
Sinne einer sozialen Klasse oder Gruppe. Daher ist seine An-
sicht, die er von einer „Geschlechtergesellschaft" als primärem
Typ entwickelt (S. 175), nicht rrecht verständlich. Er kehrt
hier offenbar zu dem Gebrauch des Wortes „Gesellschaft* im
Sinne eines dem Staat übergeordneten Begriffes zurück. Er
wendet den Ausdruck Gesellschaft also im allgemeinen Sinne
einer menschlichen Gruppenbildung überhaupt an, während als
Staat der politischen Zwecken dienende Zusammenschluß einer
Gruppe zur Behauptung ihres Lebens verstanden wird.
198 Thurnwald.
Aehnliche Gesichtspunkte wie bei Kj eilen sind es, die
Franz Oppenheimer („Der Staat4, 1909) veranlaßten, den
Staat erst da beginnen lassen zu wollen, wo eine deutliche
soziale Schichtung erkennbar wird. Er fordert für den Staat
eine herrschende und dienende Schicht. Genau also das, was
man dem Staat bei seiner ethischen Bewertung vorzuwerfen
pflegt. Nun ist beim primitiven Staat allerdings auch eine
herrschende Schicht vorhanden. Sie besteht aber nicht in einer
raßlich oder beruflich verschiedenen Schicht, sondern nur in
einer biologisch, eben durch das Alter gegebenen abgesonderten
Gruppe der eigenen Gemeinschaft.
In anderer Weise sucht Yierkandt („Allgemeine Ver-
fassungs- und Verwaltungsgeschichte " 1911, in der „Kultur
der Gegenwart") die Grenze zwischen Staat und Gesellschaft
zu ziehen. Das unterscheidende Merkmal für ihn bildet das
Mittel, wodurch der Einfluß im Zusammenleben ausgeübt
wird: In der ..Gesellschaft'' sind es moralische oder geistige
Mittel, wie Tradition, Autorität, öffentliche Meinung, Macht
der Nachahmung u. dgl. Im ..Staat" ist es die physische
Macht, die in Gestalt von besonderen Zwangsvorkehrungen das
Zusammenleben lenkt. Wenn der Staat sich auf gesellschaft-
liche Kräfte stützt, so gewinnen sie doch erst durch die Zwangs-
mittel den nötigen Nachdruck, erst sie verbürgen die Sanktion
für die geistige Beeinflussung. Wenn also die Uebertretung
eines Tabuverbotes etwa durch Erschlagen gesühnt wird, so
läge darin die Aeußerung einer staatlichen Zwangsvorkehrung.
Man mag Vierkandt soweit folgen, weil bei niedrigen Primi-
tiven derartige Maßnahmen unter der Billigung der gesamten
als Staat in Betracht kommenden Gruppe, nämlich des Klans,
vorgenommen werden. Schwieriger ist es aber, seine Begriffs-
umgrenzung auf die Zustände niedriger Primitiver anzuwenden,
wenn er auch „Organe" und „Organisationen" zur Durchführung
der Zwangsvorkehrungen fordert. Immerhin könnte man als
solche leitenden Organe die Versammlungen der Alten ansehen.
Erst nach Fertigstellung dieser Arbeit ist mir das Buch
Die Gemeinde der Bänaro. 199
von A. Knabenhans, „Die politische Organisation bei den
australischen Eingeborenen", Berlin und Leipzig 1919, zu Ge-
sicht gekommen, das als Heft 2 der Vier kan dt sehen
„Studien zur Ethnologie und Soziologie" erschien. Im ersten
Kapitel „Zum Begriff des Staates", S. 7 ff. verbreitet der Ver-
fasser sich über dieselbe Frage, die hier angeschnitten worden
ist. In seiner Auffassung des Staates folgt er Vierkandt, der
gleichzeitig eine revidierte Auffassung vom Staat in der Ein-
leitung (S. VI und VII) vorbringt, nach der er den Staat als
„organisierte Gesellschaft" betrachtet und statt „Zwangsgewalt"
nun: „höchste Macht" = „Suprematie nach innen" setzt1).
Wenn wir die Ergebnisse aus dem für das primitive Staats-
leben beigebrachten Material ziehen, so werden wir die Frage
nicht vergessen dürfen, wie sich der Staat zur Wirtschaft
verhält und dadurch in seiner sozialen Funktion wirkt. Wirt-
schaftlich betreibt der Bänaro-St&at die Ausbeutung gewisser
Landgebiete, und zwar jede Sippe im Klanverband für sich
unabhängig 2).
Wir haben gesehen, daß es in dem Staat der Bänaro nur
eine biologische Gruppierung nach Alter, Geschlecht und Ver-
wandtschaft, aber nicht nach politisch-sozialen Gesichtspunkten
gibt. Es sind keine Fachleute von Beruf vorhanden, keine
*) Eine besondere Besprechung der Kn ab enh ans sehen Arbeit
aus der Feder Dr. Thurnwalds wird an späterer Stelle der Zeitschr.
f. vergl. Rechtswiss. erscheinen. Leonhard Adam.
3) Malinowski (S. 152) unterscheidet für Australien drei Arten
von Berechtigungen am Land :
1. Das Recht des Umherwanderns, Jagens, Fischens und Grabens
das der lokalen Gruppe, dem Klan, zukommt, das Hoheitsrecht.
2. Das Gewohnheitsrecht der lokalen Gruppe (Klan), die Jagdgründe
einer anderen lokalen Gruppe wechselseitig zu benutzen („tribal over-
rights"). Dabei handelt es sich um eine Art von Bündnis als Vorstufe
zu einem Stammesrecht.
3. Den Anspruch von Individuen und Familien , einen Teil des
lokalen Distrikts zu nützen. Ansatz zum Privateigentum an Grund und
Boden.
200 Thurnwald.
Hörigen und keine Herren als soziale Schiebt. In politisch-
sozialer Hinsicht ist die Gesellschaft also homogen und beruht
auf dem, was man eine „demokratische" Grundlage nennen
kann. Dieser Bänaro- Staat stellt zweifellos eine einfachere
Form dar als etwa der Buin- Staat l) oder gar die schon sehr
komplizierten politischen Gebilde der mikronesischen (Yap,
Palau, Ponape, Marshallinseln) oder polynesischen (Samoa,
Hawai, Maori usw.) Kastenstaaten 2).
Aber auch der Bänaro-StsL&t ist, wie wir sahen, noch
nicht ein ganz einfaches Gebilde wie eine ..amorphe Horde",
sondern einerseits ist der Klan aus den zwei umeinander-
kreisenden Sippen zusammengesetzt, anderseits sind die Klans
untereinander durch connubium vergesellschaftet, wenn auch
noch nicht organisiert. Charakteristisch ist aber, daß alle
Beziehungen auf voller Gleichberechtigung beruhen, die durch
das streng durchgeführte Prinzip der Gegenseitigkeit gesichert
werden.
Das ist ein grundlegender Unterschied z. B. vom Buin-
Staat. Im letzteren sind Häuptlinge vorhanden . die unter-
einander in einem politischen Rangverhältnis stehen, die Be-
völkerung selbst ist geschichtet, und es finden sich, wenn
auch in geringer Zahl, Sklaven. Aus sprachlichen und kul-
turellen Anzeichen geht es zweifellos hervor, daß die Ober-
schicht von Buin mit den Mono-AIu- Leuten verwandt ist,
während die Unterschicht der Insel selbst entstammt3).
Gewiß wird man sagen können, daß Eroberung und Unter-
jochung zu einer wirtschaftlichen Ausbeutung der Unterlegenen
*) Vgl. meine „Ermittlungen über Eingeborenenrechte der Südsee ",
Zeitschr. f. vergl. Rechtsw. 33, 1910, S. 314 ff.
2) Vgl. meine Ausführungen in den politischen Gebilden bei
Naturvölkern", Zeitschr. f. vergl. Rechtsw. 37, 1919, besonders S. 396;
ferner „Entstehung von Staat und Familie", Vortrag in der Inter. Ver.
f. vergl. Rechtswiss. u. Volkswirt, vom 29. Mai 1920, in den Blättern
dieser Vereinigung.
3) Vgl. meine „Forschungen auf den Salomo-Inseln etc." 1912,
Bd. III, S. 3 und 48 ff.
Die Gemeinde der Bänaro. 201
bald in dieser, bald in jener Form geführt hat. Wir sehen
davon die Spuren in den Organisationen der mikronesischen
und polynesischen Inseln und auch in den Staaten des alten
Orients *). Der Besitz von Grund und Boden , in den die
Häuptlingsfamilien gelangt sind, . wird zu einem Mittel, um die
anderen in Abhängigkeit zu halten, und zwar spielt dabei die
Knappheit der Nahrungsmittel im Verhältnis zur Technik
und Menschenzahl die entscheidende Rolle. Ein kompli-
ziertes Abhängigkeitsverhältnis, sanktioniert durch religiöse
Vorstellungen, entsteht und liefert den Verteilungsschlüssel für
den Ertrag der Wirtschaft 2).
Man würde aber fehlgehen, wenn man, wie das oft ge-
schieht, hierin nur den Ausfluß menschlicher Niedertracht und
Bosheit sähe. Biologische Vorgänge, als welche auch die Ge-
staltung von Staaten, die Schichtung von Menschengruppen und
das Ineinandergreifen gesellschaftlicher Faktoren zu betrachten
sind, dürfen nicht von einem egozentrischen Standpunkt mit
dem Maßstab irgendeiner Zeitstimmung gewertet werden. So
wenig, wie man irgendeinen menschlichen Instinkt etwa als „gut"
oder „böse" werten kann. Wir haben es da mit Naturerschei-
nungen sozialer Art zu tun, an denen nicht zu moralisieren ist.
Es handelt sich bei den Ueberschichtungen unter Aus-
übung der Herrschaft auch nicht, wie Adolf Wagner („Hand-
wörterbuch der Staats Wissenschaften" 7, 1911, S. 731) an-
deutet, um „Mißbräuche". Was wir von unserem Standpunkt
aus „Mißbräuche" nennen, kann von dem einer anderen
Geistesverfassung und Bewertungsart als Grundlage der Moral
angesehen werden und umgekehrt3).
*) Vgl. mein „Staat und Wirtschaft im alten Aegypten", Zeitschr.
f. Sozialwissenschaft 1901, S. 697 und 769 ff., und „Staat und Wirtschaft
in Babylonien", Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 1903,
S. 644, und 1904, S. 64 ff. und 190 ff.
2) Vgl. W. vonBülow, Das ungeschriebene Gesetz der Samoaner,
Globus 69, 1906, S. 191 ff.
3) Zum Beispiel war auf der Insel Ponape der Anlaß des Aufstandes
im Jahre 1912 die beabsichtigte Befreiung der Hörigen von dem drücken-
202 Thurnwald.
Die Bewertung vom Standpunkt unserer Zeit und unseres
Ortes allein aus kann aber nicht maßgebend sein für allgemein
menschliche Vorgänge. Entscheidend ist, wie die Dinge sich
wirklich gestalteten. Da finden wir nun, daß die Staatsbildung
wohl durch Eroberung gefördert wurde. Der Zwang, der sich
durch das Aufkommen einer politisch-sozialen Schichtung ent-
wickelte, bildete zweifellos einen mächtigen Ansporn für den
Fortschritt der Menschheit. Die entstandene Abhängigkeit aber
wirkte menschenverbindend und ermöglichte eine Zusammen-
fassung und Vergesellschaftung immer größerer Menschen-
mengen und Ländergebiete. Die Menschheit hat keine para-
diesische Vergangenheit hinter sich, ihr Weg war ein Ringen
in Schweiß und Blut, nur eine weichliche oder menschen-
hassende Auffassung kann verdammen, wo wir erkennen sollen,
denn ohne Schweiß und Blut hat es keinen Fortschritt ge-
geben und wird es nie einen geben 1).
Der Staat selbst aber in immer sich wandelnder Gestalt
hält seine Mitglieder im Zaum trotz aller Utopien, sonst zer-
fällt er. Soweit wir zurückblicken, sehen wir „staatliche" Ge-
bilde, wenn sie auch anders aufgebaut sind als die „ höheren u
politischen Organisationen 2).
Selbst die niedrigsten bekannten Formen der Staatsbildung,
zu denen auch der Bdnaro~Sta.a.t gezählt werden kann, führt
den Abgabesystem. Die wohlmeinende deutsche Verwaltung stand dabei
aber auf einem einseitigen wirtschaftlichen Standpunkt. Die wirtschaft-
lichen Dinge sind bei den Eingeborenen mit kulturellen und Gefühls-
werten verknüpft. Religiöse Anschauungen und soziale Einrichtungen
stützen sie. Diese sind ihnen so teuer, daß sie wirtschaftliche Unan-
nehmlichkeiten gern dafür in Kauf nehmen. Die eingeborenen Hörigen
betrachteten ihre Lage nicht von dem nur wirtschaftlichen Gesichtspunkt
ans allein: daher ihr Widerstand gegen die ihnen unwillkommene „Be-
freiung". Man kann eben die natürliche Entwicklung nicht beschleunigen,
wenn die Zeit, die geistige Disposition der Menschen, noch nicht «reif
ist. Jede Zeit hat aber ihre besondere Bewertungsmethode.
1) Vgl. auch C. Read, S. 59.
2) Vgl. auch Ed. Meyer, Geschichte des Altertums, 3. Aufl.,
1907 Bd. 1, Kap. 1, S. 11.
Die Gemeinde der Bänaro. 203
uns nicht unmittelbar auf die Entstehung des Staates selbst. Das
politische Leben bildet eben eine Funktion, eine Voraus-
setzung der menschlichen Existenz selbst. Es gehört zu
seinen elementaren Aeußerungen, wie etwa Religion oder Sprache.
Der Staat ist auch nicht aus der Familie „entstanden", so wenig
wie die Religion aus der Zauberei „entstanden" ist1).
Die Familie beruht auf der dauernden Paarung und ist
eine Einrichtung, die ebenfalls Aenderungen ihrer Gestaltung
unterworfen ist. Soweit wir verläßliche Ueberlieferungen oder
Nachrichten von zeitgenössischen Naturvölkern besitzen, finden
wir überall eine dauernde Paarung, die man als „Ehe" an-
sehen kann, daneben gibt es mehr oder minder erlaubte neben-
eheliche Beziehungen. Mit der Entstehung des Staates haben
aber diese Einrichtungen unmittelbar nichts zu tun. Während
die Familie die Verbindung der Angehörigen verschiedenen
Geschlechtes zum Zwecke der Kindererzeugung und der Förde-
rung der wirtschaftlichen Existenz der Einzelindividuen dar-
stellt, ist der Staat eine Männergesellschaft für den Schutz
nach außen und die Ordnung im Innern 2). Er ist eine Schick-
salsgemeinschaft. Wenn unter primitiven Verhältnissen der
Staat auch oft sehr klein ist, so besteht er doch immer aus
mehreren Paaren (Familien). Das Zusammenleben zu Paaren
verfolgt eben ganz andere Zwecke als das im Staat. Wenn
Staat und Paarung manchmal einander auch sehr nahe kommen,
so wird man doch Staat aus Paarung oder umgekehrt nicht
ableiten oder daraus entstanden sich vorstellen dürfen.
Sowohl beim Staat wie bei der dauernden Paarung (Familie
und Ehe) handelt es sich um besondere und verschiedene Seiten
der menschlichen Psyche, der menschlichen Instinkte, die zur
sozialen Betätigung gelangen. Jede bildet einen Bestandteil
des Menschentums, ebenso wie etwa der Besitz der Sprache.
*) Vgl. meine „Psychologie des Totemismus", 2. Teil, Anthropos
1921 (im Erscheinen).
2) Vgl. H. Schurtz, Altersklassen und Männerbünde, S. 17 ff.; auch
Otto Ammon in der Zeitschr. f. Sozialwiss., 4. Bd., Heft 2.
204 Thurnvvald.
Wir sind imstande, einfachere rohere Formen von Staat oder
Familie aufzuspüren, aber immer finden wir dieselbe
instinktive Betätigungssphäre für sich und deren ent-
sprechende Niederschläge in Gewohnheiten und Einrichtungen.
E. Biologische Gesichtspunkte.
Die Erörterung des Gesellschaftsbaues der Bdnaro kann
nicht abgeschlossen werden, ohne das System auch vom bio-
logischen Gesichtspunkte aus zu betrachten. Den Heirats-
ordnungen kommt in biologischer Hinsicht eine große Be-
deutung zu, welche die klassifizierende somatische Anthropo-
logie noch nicht ausgemünzt hat. Um was immer für Heirats-
ordnungen es sich handeln mag, in der einen oder anderen
Weise führen sie stets zu einer gewissen „Züchtung". Sie be-
wirken, daß Angehörige bestimmter Gruppen, die unterein-
ander verwandt sind, sich immer wieder heiraten. Der Kreis
der zur Paarung zugelassenen Personen ist sehr eng. Erst in
dem Stadium der verfallenden Heiratsordnungen spielen diese
eine mehr negative, verbietende Rolle, der Kreis der sich mit-
einander vermischenden Personen erweitert sich infolgedessen.
Offenbar eine Folge von Wanderungen und Kämpfen.
Die engbegrenzten Heiratsordnungen tragen bei zur Be-
festigung der Gewohnheiten und Traditionen, sowohl der wirt-
schaftlichen Einrichtungen wie der religiösen Ansichten. Sie
schaffen daher in ihren Instinkten einheitliche kleine „Rassen",
Gesellschaften gleicher Artung. Das muß ganz besonders für
die oben angenommene prähistorische Form der Heirat unter
den beiden Hälften eines Klans gelten.
Der später eingeführte Tausch von Frauen mit anderen
Klans brachte fremde Züchtung in die eigene kleine Rasse.
Außerdem aber auch fremde Ueberlieferungen, Sitten, Sprache,
Gegenstände , Fertigkeiten , Ansichten. Die ausgetauschten
Frauen bewirken die Vermittlung bei der sogenannten Kultur-
übertragung. Und das nicht so sehr durch ihre eigene Person
Die Gemeinde der Banaro. 205
als durch die Kinder, die sie aufziehen. Diese Kinder über-
nehmen das eine von den Müttern, das andere von den Vätern
oder mischen auch verschiedenes durcheinander. So werden
wir uns auch vorstellen können, wie es kam, daß gewisse Be-
schäftigungen, Verrichtungen, z. B. eine bestimmte Methode
der Sagobereitung, die Verfertigung gewisser Fischnetze u. dgl.,
bei den einen Stämmen Sache der Männer, bei den anderen
Stämmen eine Tätigkeit der Frauen darstellt. Es handelt sich
hier nicht nur um eine somatisch-biologische, sondern auch um
kult ur biologische Prozesse.
Bei den Banaro reicht der Frauentausch nicht über die
in nächster Nachbarschaft siedelnden Klans hinaus. Frauen
aus fremden Stämmen trifft man nur sehr wenige an. Aus
meinen Aufzeichnungen geht hervor, daß nicht über 5 v. H.
der Frauen aus fremden Stämmen stammen. Zu solchen fremden
Stämmen rechne ich auch die in Kultur, Sitte und Sprache
nahe verwandten Leute der Siedlungen Bünaram und Rämunga,
etwas weiter unten am Töpferfluß , sowie die nördlich von
Banaro gelegenen Dörfer, die ich aber nicht persönlich kennen
gelernt habe, die indessen nach allem, was ich hörte, dem
gleichen Volke beizuzählen sind. Nicht aber konnte ich bei
den Banaro konstatieren, daß Frauen mit den eine andere
Sprache und Kultur besitzenden Stämmen getauscht worden
wären, die den zahlreichen Siedlungen angehören, die sich an
dem Teil des Töpferflusses finden, der in der Nachbarschaft
des Ramu liegt. Doch soll damit nicht etwa eine Regel auf-
gestellt werden. Denn an anderen Orten, z. B. zwischen den
S. 408 erwähnten Tjimundo und Kambot, von denen jedes einem
anderen Volk angehört, finden Heiraten statt. Im letzteren
Falle sind sie durch die unglücklichen Schicksale der Tjimundo-
Leute bedingt, die nun bei den Bewohnern von Kambot Schutz
suchen. Es wird eben immer auf die individuellen historischen
Schicksale eines Stammes ankommen.
Abgabe fremder Frauen ist auch durch örtliches Ueber-
gewicht des einen oder anderen Geschlechts bedingt. Zum
206
Thurnwald.
Klan,
C
Klan
A
Klan
B
Klan
D
Sippeßippe Sippe.Sippe
Sippe-Sippe SippeStppe
Ur9™%w
eitern7^ '
Groß-
eltern
Eltern
Kinder
fLf
MW
(fLHf)
(fütfh
qv$
Mftf? &tff Pf
MV/
Beispiel ist die Zahl der Männer in dem Suinpfdorf Imuto im
Mündungsgebiet des Augustastroms sehr groß. In dem eine
andere Sprache redenden Küstendorf Mendm überwiegt das
weibliche Geschlecht. Die Imutö-hente holen sich daher gerne
Mädchen aus Mendm, und diese sind darüber nicht böse. Es
findet zunächst Raub statt. Aber die Angehörigen, die erst
sehr erregt und aufgebracht
tun, werden mit Geschenken
beruhigt. Dadurch verbreitet
sich das Blut, aber auch die
Kultur der Küstenstämme
nach dem Binnenland. Aehn-
liche Vorgänge habe ich von
einer Reihe anderer Orte
feststellen können. Diese
Vorgänge müssen wir als die
wichtigsten Faktoren zur
Uebertragung derKulturgüter
erkennen (S. 147). Daraus
allein ergibt sich schon die
Kompliziertheit des Ueber-
tragungsprozesses. Wenn auch
die Zahl der fremden Gaue
im allgemeinen nie sehr groß
ist, so genügt doch eine ge-
ringe Zahl fremder Frauen,
um gewisse Ideen und Techniken zu verbreiten.
Um nun die züchterische Gestaltung klarzumachen, wie sie
durch das Bdnaro-System bedingt wird, sind die nebenstehen-
den Diagramme S. 206, 207 und 208 entworfen worden. Das
Diagramm S. 206 stellt die orthodoxe Form der Eheschließungen
dar. Eine Mischung unter denselben Klans findet danach immer
wieder in der Urenkelgeneration statt. Wird die orthodoxe
Form aber nicht innegehalten (Diagramm S. 207), sondern finden
unter denselben zwei Klans aufeinanderfolgende Heiraten statt,
man
rnw*
ntoL*
ma*
Die Großmütter der ineinander verheiraten-
den Klans A und B stammen aus anderen
Klans : C und D. Ihre Kinder WA und WB
werden unter den Klans A und B getauscht.
Die Gemeinde der Bänaro.
207
Klan
A
Kinn
B
Urgroß
etierrL
SippeSippe Sippefiippe
(jD(f
iftilfh
Ä mf^f
Eltern,
Kinder
MHi
so haben schon die Enkel dieselben Großeltern auf väterlicher
und mütterlicher Seite. Es entsteht dann ein dreifaches Ver-
wandtschaftsband. Die Schwiegermutter einer Frau ist ihres
Vaters Schwester, die ausgetauscht wurde gegen die Mutter,
welche die Schwester des Schwiegervaters ist. Für Geistkinder
trifft das nur zu, wenn schon die Ur-
großmutter unter denselben Klans aus-
getauscht wurde. Dieses Beispiel be-
leuchtet die starke Inzucht, die mit dem
Bänaro- System im allgemeinen ver-
knüpft ist.
Da der Vater nur beim Geistkind
sicher ist, soll diesem eine besondere
Beachtung zugewendet werden. Es stellt
sich heraus, daß, wenn eine beständige
Fortpflanzung in der Geistkinderreihe
stattfindet, ein außerordentlicher „ Ahnen-
verlust" eintritt. Die Geistkinder haben
nur halb so viele väterliche Ahnen als die
anderen Kinder (vgl. Diagramm S. 208).
Die reine Fortpflanzung in der Geist-
kinderreihe ist bei der besonderen Be-
achtung, die diesen Kindern geschenkt
wird, wohl möglich. Doch sind Geist-
kinder Nachkommen auch von gewöhn-
lichen Kindern, und Geistkinder werden
Väter und Mütter gewöhnlicher Kinder.
Ist die Mutter ein Geistkind, so wird die
Zahl der Ahnen in ihrer Linie natürlich auch um die Hälfte
verringert, soweit als die Reihe der Geistkinder läuft.
Was nun die Folgen fortgesetzter naher Inzucht betrifft,
so behauptet Schallmayer1): „Es ist mir keine Art unter
den Wirbeltieren bekannt, bei welcher ohne Schaden durch
Die Tochter heiratet zurück
in den Klan, aus dem die
Mutter stammt. In diesem
Fall haben ihre Kinder die-
selben Urgroßeltern auf
väterlicher wie mütterlicher
Seite. Für die Geistkinder
trifft das aber nur zu, wenn
auch schon die Urgroßmutter
unter denselben Klans aus-
getauscht wurde.
*) Vererbung und Auslese, 3. Aufl., 1918, S. 69 und 474.
208
Thurnwald.
Klan Khan,
A B Vater Mutier
viele Generationen strenge Inzucht getrieben werden kann"
(S. 69). Er nimmt auch da, wo keine pathogenen Anlagen
vorhanden sind, eine schwächende Wirkung auf die Lebens-
kraft und Fruchtbarkeit der Nachkommenschaft an, die in einen
stationären Zustand übergeht. Dann meint er aber, daß beim
Menschen Paarungen zwi-
schen nahen Blutsverwandten
keine reine Inzucht dar-
stellen, sondern im Sinn der
neueren Biologie Kreuzungen
sind , da es reingezüchtete
Menschenrassen nicht gibt
(S. 474). Eine solche An-
nahme hatte ich auch dem
Zustandekommen der „homo-
genen" politischen Einheiten
zugrunde gelegt (vgl. oben
S. 200). Schallmayer
unternimmt obige Ausfüh-
rungen hauptsächlich gegen-
über dem Einwand, der sich
auf den Bestand der Ge-
schwisterehen unter den Inka,
Ptolemäern und den altpersi-
schen Dynastien bezieht. Die
Heiratsordnungen der Natur-
völker und andere Einrich-
tungen, wie sie hier erörtert wurden (vgl. S. 147 ff. u. S. 155 ff.),
kennt er nicht und hat sich wohl wegen des verhängnisvollen
mißleitenden Ausdrucks „Exogamie" nicht darum gekümmert.
E.M. Elderton1) vertritt die Ansicht, daß die Gefahr bei Heiraten
im ersten Grade der Vetterschaft nur in der Häufung latenter
Defekte liege, die bei den Kindern in Erscheinung treten können.
*) On the Marriage of First Cousins, Eugenics Laboratory Lectures,
Series IV, 1911, S. 38.
Der „Ahnenverlust" in der Linie der „Geist-
kinder" (rf männlich, $ weiblich). Die Gene-
rationen sind von den Kindern aufwärts
gerechnet. Die gebrochene Linie deutet die
Abstammung der männlichen Geist kinder
an, die feste die der weiblichen Geist-
kinder. — Die Ahnen in jeder Generation
sind in den nebenstehenden Kolumnen
durch X angemerkt.
Die Gemeinde der Banaro. 209
Daß man den verhältnismäßig stationären Charakter der
Kultur mancher der heute lebenden Naturvölker mit den bei
vielen von ihnen üblichen fortgesetzten Heiraten unter Ver-
wandten zusammenzubringen hat, wäre nicht ohne weiteres
von der Hand zu weisen. Die Armut ihrer Kultur selbst
hängt aber vor allem mit ihrer relativen Abgeschlossenheit
und geringen geistigen Berührung mit anderen Völkern zu-
sammen. Krankheit, Lebensschwäche, Kinderarmut kann man
indes weder im allgemeinen noch bei den Banaro im besonderen
feststellen. Sie machen gesundheitlich keinen schlechteren Ein-
druck als ihre Nachbarn. Berücksichtigt muß aber werden,
daß alle schwächlichen und für die Lebensbedingungen des
Stammes unzulänglichen (z. B. für Malariagift empfänglichen)
Konstitutionen schon in früher Jugend ausgemerzt werden, da
man so gut wie keine Medikamente oder Krankenbehandlung
kennt.
Durch die fortgesetzte „Züchtung" unter nahen Verwandten
auf der einen Seite und die scharf und unerbittlich arbeitende
Auslese auf der anderen Seite muß sich in Stämmen eine
„Rasse" herausbilden, die wohl mit ganz bestimmten Eigen-
schaften ausgestattet ist, aber auch eine hohe Anpassung an die
Lebensbedingungen ihres Wohnorts besitzt. In der Tat ist das
im außerordentlichen Maße der Fall. Jeden kleinen Stamm
finden wir mit den Bedingungen des Klimas, der Ernährung
und Wohnung verschmolzen. Diese physische und psychische
Anpassung ist indessen auf das enge Stammesgebiet beschränkt.
In eine fremde Umgebung versetzt, Leute aus dem Binnenland
nach der Küste oder Meeresanwohner ins Innere, fühlen sich
nicht nur seelisch unbehaglich, sondern fangen nach mehreren
Monaten an, auch körperlich zu leiden.
Wenn wir uns die heute einheitlichen Klans oder Stämme
nicht von vornherein als „homogenen" Ursprungs vorzustellen
brauchen, so sind sie doch im Laufe ihrer historischen Schick-
sale zu individuellen Blut- und Kultureinheiten vermöge ihrer
sozialen Einrichtungen gezüchtet worden. Das erklärt die zahl-
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. XXXIX. Band. 14
210 Thurnwald.
losen lokalen Typen und die mannigfachen Mischungen, zu
denen das melanesische und papuanische Element gelangt ist,
und deren jede nun als ^Nation" eine abgerundete somatische,
sprachliche und geistige Einheit für sich darstellt. Bei den
einen mag somatisch der papuanische Typ überwiegen, ob-
gleich eine melanesische Sprache geredet wird, bei anderen
umgekehrt. Auch Besonderheiten, wie z. B. das vielfache
Vorkommen von albinotischen Typen in einem Stamm, wie
ich es in einzelnen Gegenden (Grünfluß) fand, wird in dieser
Weise verständlich 1).
F. Ethische Erwägungen.
Wenn wir die Einrichtungen der Bdnaro von unserem
Standpunkt aus überblicken, so fallen einerseits die Menge von
Vorschriften auf, durch die das Leben geregelt wird, ander-
seits die Eigenart dieser Vorschriften selbst.
Die ethische Bedeutung der vielen Regelungen besteht
darin, daß sie durch die Menge von Zeremonien, Verpflichtungen
und Meidungen ein ganz bestimmtes Verhalten des Einzelnen
bedingen, sein Lebensschicksal bis zu einem gewissen Maß von
vornherein lenken, seinen eigenen Entschließungen und Leiden-
schaften vorgreifen und dadurch vor Irrwegen zu bewahren
suchen. Sie bilden für den Einzelnen dadurch einen Zügel
gegenüber wilden Impulsen, einen „domestizierenden" Faktor.
Ueber die ganze Gesellschaft aber breiten sie ein Netz
wechselseitiger Beziehungen, die dem Zusammenhang der Ge-
samtheit förderlich sind. Die Bande, die jeden Einzelnen mit
einer großen Zahl von Personen seiner Gruppe und befreundeter
Gruppen verknüpfen, tragen zur Hilfsbereitschaft des Einzelnen
für die anderen bei. Dadurch, daß diese Regelungen mit ge-
heimnisvollen Riten und religiösen Vorstellungen durchsetzt sindr
erhalten sie eine besondere Weihe und Festigkeit für den Klan
und den Stamm.
J) Vgl. meinen Reisebericht. Zeitschr. f. Ethnologie 1917, S. 160.
Die Gemeinde der Bänaro. 211
Wenn die Zähmung der Impulse der Einzelnen und die
erhöhte Vergesellschaftung des Lebens des Ganzen als die
Folge dieser Regelungen angesehen werden kann, so war sie
sicher nicht der bewußt und planmäßig gesetzte Grund dafür.
Worin liegt aber der Grund? Die Neigung, Handlungen zu
wiederholen oder nachzuahmen, die als nicht schädlich er-
scheinen, ist allgemein menschlich, ganz besonders aber unter
Primitiven stark hervortretend. Dadurch finden die Regelungen
allein, denen wir bei Primitiven so häufig begegnen, ihre Er-
klärung. Der Unterschied zwischen Wichtigem und Un-
wichtigem in unserem Sinne besteht indessen hier nicht, weil
die von uns durch die Anhäufungen des Wissens erkannten
Bedingtheiten für sie noch keine Geltung haben. Daher wird
mit der Miene großer Wichtigkeit von Dingen geredet, die
uns für das soziale Zusammenleben unwichtig erscheinen. Da-
hin gehört vor allem das Zeremoniell. Es besteht die starke
Tendenz, Regelungen zu schaffen, aber Regelungen von allen
möglichen Angelegenheiten ohne Rücksicht auf das, was uns
für das soziale Leben als wesentlich dünkt.
Der Begriff der „Blutschandewist unter den Umstän-
den, die wir hier kennen gelernt haben, z. B. ein ganz an-
derer. Er hängt einzig und allein von den Heirats- und
Sexualvorschriften des Klans ab. Eine Verletzung dieser Vor-
schriften wird bestraft, unabhängig davon, um welche Art von
Blutsverwandtschaft es sich handelt.
Es ist charakteristisch, daß z. B. die Aranda- und Loritja-
Stämrae Australiens keine Unterscheidung zwischen Blut-
und Klassenverwandtschaft kennen (Strehlow, IV, 1, S. 12,
Anm. 2 und S. 45, Anm. 2).
Wenn wir die Dinge historisch betrachten, so müssen wir
der Ansicht sein, daß das Bestreben nach Regelung des Ge-
schlechtsverkehrs mächtig gewesen ist. Ihm kommt eine
außerordentliche Bedeutung zu, denn die sozialen Regelungen
der primitiven Gesellschaft kreisen um dieses Thema. Es
muß von den Leuten selbst als außerordentlich wichtig emp-
212 Thurnwald.
funden worden sein, wenn sie es mit den Sicherungen des Tabu,
des Heiligen, umgaben. Dieses Streben datiert wohl von der
Schwelle der Menschheit an. Nach allem, was wir von den
Primitiven wissen, finden wir gerade bei den niedrigen unter
ihnen solche Regelungen des sexuellen Lebens. Dieser Um-
stand allein spricht außerordentlich gegen eine Promiskuität
des frühen Menschentums.
Ganz anders steht es mit dem Inhalt der einzelnen Rege-
lungen selbst. Im allgemeinen wird man finden, daß der
Kreis der für einander als heiratsfähig geltenden Personen
mit zunehmender Kultur erweitert wird (vgl. oben S. 154).
Man denke an die Heirat unter den Klanhälften, an die sich
die Klanexogamie anschließt, und weiterhin die Heirat unter
den zwei Phratrien eines Stammes. Diese Entwicklung hängt
mit der wachsenden Ausdehnung der politischen Einheiten zu-
sammen. Warum nun ursprünglich in dem einen Fall diese,
im anderen jene Personen als miteinander heiratsfähig an-
gesehen werden oder nicht, hängt in erster Linie von dem
individuellen Schicksal der Erlebnisse einer historisch ge-
wordenen Gemeinschaft ab. Oben S. 85 und S. 142 ist versucht
worden, einige Schritte weiter rückwärts das historische Schick-
sal der Bänaro nach Möglichkeit auszuzeichnen.
Wahrscheinlich sind die Grundzüge, von denen die soziale
Gestaltung bei verschiedenen Völkern ausging, einander ähn-
lich gewesen, nachher durch zunehmende Komplikation und
Bereicherung der Lebensschicksale sind Differenzierungen
eingetreten. Darum dürfte wohl auch die prähistorische
Gesellschaftsform der Bänaro eine Geltung beanspruchen, die
über den engen Rahmen der Bänaro selbst hinausreicht. Be-
sondere Schicksale haben dann die individuelle Form herbei-
geführt, die wir heute bei den Bänaro finden.
Als charakteristisch für die primitive Regelung, wie
sie vor allem aus der Klanhalbierung hervorgeht, erscheint
die Norm, daß unter den Angehörigen der am engsten ver-
gesellschafteten Gruppe, nämlich der Sippe, kein Geschlechts-
Die Gemeinde der Bänaro. 213
verkehr zugelassen werden soll. Wenn wir die Zuflucht zur
Intuition des Instinkts nehmen, um diese Forderung zu erklären,
so werden wir kaum fehlgehen. (Dieser Instinkt ist mit den
S. 409 entwickelten Annahmen durchaus vereinbar.) Gerade
bei den niedrigen Primitiven spielt der Instinkt eine außer-
ordentlich große Rolle. Bei späteren Gestaltungen wird manche
gesunde Einrichtung und Vorstellung primitiver Zeiten durch
Irrwege des Intellekts gestört. Bei der Betrachtung der ganzen
Menschheitsentwicklung können wir diesen Kampf zwischen
Instinkt und Intellekt beobachten. Die Irrwege des Intellekts
haben Anlaß gegeben zu mancher Mißdeutung und Annahme,
daß wir in der Kultur der Naturvölker Degenerationserschei-
nungen zu sehen haben. Der Intellekt, „des Menschen höchste
Kraft", führte, das sollen wir nicht vergessen, auch zu zahl-
losen Verirr ungen 1). Doch ist das Wort „Verirrung" ein Aus-
druck, der von unserem eigenen Wertstandpunkt ausgeht. Um
was es sich bei dem Irrweg handelt, ist das Verkennen dessen,
was förderlich ist, um Illusionen von Notwendigkeiten, und um
die mangelnde Einsicht in die richtige Verknüpfung und Be-
dingtheit der Erscheinungen.
Unter diesen Voraussetzungen das Bdnaro -System zu
bewerten, ist viel schwieriger, als wenn wir bloß unsere heute
gültige äußerlich zur Schau getragene Moral zugrunde legen.
Es fragt sich zunächst, wie das Bdnaro- System auf den Cha-
rakter der Männer und Frauen einwirkt. Um diese Frage
erschöpfend zu beantworten, wäre ein jahrelanger Aufenthalt
und eingehende Beschäftigung mit den Eingeborenen notwendig.
Bei meinen, wenn auch wiederholten, doch immer nur ver-
hältnismäßig kurzen Aufentbalten konnte ich kein unbedingt
verläßliches Bild gewinnen. Die Bewohner jeden Stammes
haben ja ihre besonders ausgeprägten Charaktereigenschaften,
die man natürlich erst nach langer Bekanntschaft kennen
lernt.
') Gustaf F. Steffen, Die Irrwege sozialer Erkenntnis 1913, bietet
eine Fundgrube für Beispiele.
214 Thurnwald.
Nur zwei Erlebnisse möchte ich sprechen lassen, die beide
für die Art des Gemeinschaftsgefühls bezeichnend sein dürften.
Als ich mit einem Mann aus dem Dorfe Bünaram nach mehreren
Monaten Abwesenheit zurückkehrte, war die Freude so groß,
daß sein Vater heulte und sich im Lehmschlamm des Flusses
wälzte, bis er ganz vom Lehm bedeckt war. Dann wurde der
Ankömmling von seinem Sippenfreund auf die Schulter ge-
nommen und ins Dorf getragen. Voran schritt heulend der
Vater, an einer Hand hielt ihn seine Mutter, an der anderen
der Mutterbruder.
Ganz anders war der Empfang eines anderen Mannes in
der Nähe eines Bdnaro- Dorfes. Der Ankömmling hatte einen
weißen Anzug angelegt, den ich ihm geschenkt hatte. Seine
Leute wollten ihn in dem weißen Anzug lange nicht aner-
kennen. Sie konnten offenbar die zwei Komplexe: „weißer
Anzug" — „einer der ihren" nicht in Einklang bringen.
Erst nachdem er den Anzug abgelegt hatte, respektierten sie
ihn als den Ihrigen. Dann aber wollten sie ihn nicht wieder
ziehen lassen. Eben dieser Mann, mein bester Gewährsmann
Yomba, war übrigens von überdurchschnittlicher Intelligenz,
ohne , wie sonst häufig intelligente Burschen , je frech,
lügnerisch oder betrügerisch zu werden. Er war ein Mann
von außerordentlicher Verläßlichkeit, Anstelligkeit und Genauig-
keit. Es ist möglich, daß das Bdnaro-Sjstem. mit seiner voll-
ständigen Symmetrie und dem Ausdruck einer Gleichheit an
Rechten und Pflichten für seine Mitglieder den Gerechtigkeits-
und Ordnungssinn unter diesen fördert, wie es auch als Aus-
druck davon anzusehen ist.
Das, woran unsere Moral Anstoß nimmt, ist die offizielle
Unterbrechung des Ehebandes durch nebeneheliche Beziehungen
sowohl auf männlicher wie weiblicher Seite. Es gibt bei uns
noch keine Statistik über die unoffizielle Unterbrechung des Ehe-
bandes, etwa in Deutschland, und in die Ehen eingeführten Ge-
schlechtskrankheiten. Aber die gleiche Beteiligung der Frauen
wie der Männer an diesen nebenehelichen Extravaganzen der.
Die Gemeinde der Bänaro. 215
Bänaro erscheint uns, weil offiziell, ganz unerhört. Doch finden
wir ähnliche Einrichtungen, wie wir sahen, bei vielen Primitiven,
bis es in höheren Kulturen zu einer Differenzierung der Haus-
mutter von der Hetäre kommt. Bei den Bänaro ist dieser
Unterschied noch nicht zur Geltung gelangt. — Wir dürfen
nicht vergessen, daß auch wir von den Naturvölkern moralisch
eingeschätzt werden, ohne dabei immer gut abzuschneiden.
Das Tanzen von Mann und Frau zusammen gilt in ihren Augen
regelmäßig als anstößig und die Trinkgewohnheiten der Euro-
päer als verächtlich.
Es ist ein sonderbares Zusammentreffen, daß in einem
der utopischen Reise- und Staatsromane des 17. Jahrhunderts,
die zum Ort der Verwirklichung der Gesellschaftsideale den
damals neu entdeckten, noch völlig unbekannten australischen
Kontinent wählen, nämlich in der 1677 erschienenen „Histoire
des Sevarambes" des Denis Vairasse cT Allais1) Zustände ge-
schildert werden, welche an die heute auf Grund mühsamer
ethnographischer Kleinarbeit ermittelten Einrichtungen erinnern.
Im Gemeinwesen des Vairasse herrscht nämlich Monogamie
(diese bildet in der Tat die Grundlage für die Gestaltung der
Familie in Australien). Die nicht zur Verheiratung gelangen-
den Frauen werden bei den Sevarambiern von höheren Staats-
beamten in Polygamie genommen (Polygamie der Häuptlinge
in Australien). Bei gegenseitiger Einwilligung aller Betei-
ligten ist Frauentausch erlaubt (die oben erwähnten neben -
ehelichen Einrichtungen). Vairasse behauptet, infolge seiner
Einrichtung bestehe große Sittlichkeit in seiner Gemeinde.
Ueber diese ethische Seite vgl. Malinowski, a. a. 0. S. 75,
77 ff., 82 ff., besonders 81; ferner Howitt, Natural Tribes,
S. 777, woraus hervorgeht, daß wohl eine volle Autorität der
Männer besteht, die Behandlung manchmal allerdings rauhe
Formen annimmt, übereinstimmend aber berichtet wird, daß
es keineswegs an Neigung und Zärtlichkeit fehlt, und daß
**) Andreas Voigt, Die sozialen Utopien 1906, S. 89.
216 Thurnwald.
man sich , glücklich fühlt44. Denn dieses Gefühl wird ja durch
eine Harmonie zwischen den Bedürfnissen der Individuen und
den sozialen Bedingungen, unter denen sie leben, herbei-
geführt. Die Individuen indessen schaffen ihre Gesellschaft
und deren Normen.
In diesem Zusammenhang mag auch darauf hingewiesen
werden, wie in den Utopien Gütergemeinschaft und Frauen-
gemeinschaft gewöhnlich Hand in Hand gehen. So in Piatos
„Staat44 oder in Campanellas „ Sonnenstaat44 (Voigt, a. a. 0.
S. 37 und S. 69—70).
Wenn Proudhon dem Individuum allein das Recht auf
das Produkt seiner Arbeit zugestehen will und im übrigen
das Eigentum für den Einzelnen wie für die Gesamtheit ab-
lehnt, so begegnen wir in dieser Forderung ebenfalls einer
tatsächlich bestehenden Einrichtung primitiver Stämme Neu-
guineas, wie etwa der Bdnaro. Allerdings muß man dabei
im Auge behalten, daß die Güterproduktion hier sehr gering
ist und fast ausschließlich in Verbrauchsgütern, in Nahrungs-
und Genußmitteln, besteht.
Wie verhalten sich nun die Bdnaro ihren eigenen Ein-
richtungen gegenüber? Für jeden Menschen bilden die Formen
des Gesellschaftslebens, in das er hineingeboren ist, einen Teil
seiner Existenzbedingungen. Ihre Aenderung bedeutet für den
Geist dasselbe wie für den Körper die Versetzung in ein
anderes Klima. Ein solcher „Klimawechsel44 ist aber für den
Geist sehr schwer zu ertragen. Denn die sozialen Einrich-
tungen bedeuten für den Menschen, der in sie hineingeboren
ist, eine Ersparnis an Nachdenken über das in jedem ein-
zelnen Fall einzuschlagende Verhalten seinen Mitmenschen
gegenüber. Es ermöglicht eine Automatisierung des Denkens
und Verhaltens. Gerade bei Primitiven ist dieses Verhalten
besonders reichlich mit Zeremonien und Formalismus umgeben,
um das Bedenken jedes Sonderfalles überflüssig zu machen.
Die Existenz solcher Gewohnheiten an sich ist wichtiger
für die Gesellschaft als ihr Inhalt, die besondere Art, wie sie
Die Gemeinde der Bänaro. 217
das Leben fügen. Eine Veränderung wird daher nur unter
dem Druck harter Nöte angestrebt oder durchgeführt. Woraus
sollten solche Nöte entstehen, um eine Neigung zu Aende-
rungen z. B. unter den JBdnaro zu schaffen? Wir haben es
hier nicht mit verschiedenen sozialen Klassen zu tun, wie bei
Kulturvölkern. Der Stamm besteht aus einander gleichge-
stellten Mitgliedern.
Was könnte hier also sonst Anlaß zu Unzuträglichkeiten
geben? Möglicherweise die Schwierigkeit der doppelten Ver-
doppelung der Eheschließung, der exakten Durchführung des
Systems selbst. Die orthodoxe Form läßt immer Einzelne und
Paare danebenfallen. Nimmt man an, daß z. B. der Kindes-
mord zum Ausgleich der Geschlechter aufgehoben werden würde,
so bräche das eine Bresche, von der aus innerlich das System
erschüttert werden könnte, weil die Vervielfachung der Paare
dadurch erschwert werden würde. Eine Aufhebung dieser
Einrichtung könnte heute etwa der Einfluß der europäischen
Mission mit sich bringen. Würde man nicht auch annehmen
können, daß von sich aus, durch irgendwelche religiöse oder
mystische Motive veranlaßt, eine derartige Sitte ausgelöscht
wird? Zweifellos. Denn so relativ stationär wir auch viele Ein-
richtungen betrachten dürfen — sie sind niemals ohne Umwand-
lungsmöglichkeit. Auch sie sind im Fluß, nur in sehr lang-
samer Veränderung, bei Naturvölkern. Den Anlaß zu Ver-
änderungen dürfen wir auch nie nach vulgär- psychologischem
Schema in einem bewußten Streben nach „Verbesserung" er-
blicken. Der Anlaß kann oft von ganz anderer Seite kommen
wie in dem oben angeführten Beispiel. Also etwa durch reli-
giöse Motive verändertes Verhalten und dadurch Umgestaltung
sozialer Einrichtungen.
Daß unter den JBdnaro ein Wunsch oder eine Tendenz nach
Aenderungen ihrer Gesellschaftsverfassung vorhanden sei, habe
ich nicht konstatieren können. Man betrachtet die Einrichtungen
als Tatsache, an die niemand zu rütteln denkt. Man könnte
also nicht sagen, daß ihr System im Verfall begriffen sei.
218 Thurnwald.
Schluß.
Fremde soziale Einrichtungen begegnen im allgemeinen
einer Ablehnung, weil für das in einer bestimmten gesell-
schaftlichen Umgebung herangewachsene Individuum die An-
passung an andere Lebensformen, selbst nur in der Phantasie,
das Aufgeben früh anerzogener Automatismen bedeutet und
das Hineindenken in ganz neue Lebensbedingungen. Für die
soziale Forschung aber sind sie nicht als isolierte Kuriositäten
allein von Bedeutung.
Den Einrichtungen der Bänaro dürfte als Typ ein bestimm-
ter Platz in der Entwicklungsgeschichte der Gesellschaftsformen
zukommen. Dieser Platz ist durch eine streng umschriebene,
von Zeremonien und Formalitäten durchzogene Heiratsordnung
gegeben. Sie rankt sich an dem Verwandtschaftssystem
empor. Heiratsordnung und Verwandtschaftssystem hängen mit
der politischen Gestaltung zusammen. Sobald sich bei anderen
Völkern, z. B. bei den Mikronesiern und Polynesiern, die
politischen Verbände erweitern , Schichtungen innerhalb der
Verbände zur Geltung gelangen, nehmen die Heiratsordnungen
eine andere Gestalt an. Sie lehnen sich an das Herrschafts-
system an, es treten Beschränkungen für die Heirat der Frauen
ein, die in den oberen Schichten für die Mutterschaft reser-
viert, in den unteren aber für den Geschlechtsverkehr mehr
ausgenutzt werden. Die Ungebundenheit der Männer wächst
mit deren größerer Macht, der Angehörigkeit an eine höhere
Schicht. Eine Laxheit der Sitten greift Platz. Die Arbeit der
den Männern dienstbaren Sklaven und Hörigen hat den Wert
der freien Frauenarbeit, wie sie bei niedrigen Primitiven be-
steht, und damit auch die Stellung der Frau herabgedrückt
und neue Sexualbedingungen geschaffen.
Die Verwandtschaftsnamen verlieren ihre Bedeutung als
Träger sozialer Rechte und Pflichten. Denn Rechte und Pflichten
werden nun durch die Herrschaft zuerteilt. Die Verwandt-
Die Gemeinde der Banaro. 219
Schaftsbenennungen sinken herab zur bloßen Bezeichnung von
Blutsbanden und verlieren an Interesse.
So wie nun das Eigentum sich verselbständigt und ver-
erbt wird, wie etwa im klassischen Altertum, gewinnt die Ver-
wandtschaftsbeziehung Bedeutung für den Erbgang. Da ist
aber die sprachliche Entwicklung und die Festlegung der Sprache
durch die Schrift schon gehemmt, das juristische Denken nicht
mehr Sache des ganzen Volks, sondern nur gewisser Aemter,
so daß jetzt die Sprache nicht mehr den neuen Erfordernissen
der Begriffsbildung sich anpaßt. Die erbrechtlichen Verwandt-
schaftsbeziehungen werden nach abstrakten Gesichtspunkten
der Gradabstufung festgelegt. Die Verwandtschaftsnamen werden
auf den privaten Gebrauch beschränkt, ohne daß den Bezeich-
nungen mehr eine rechtliche Verbindlichkeit innewohnt. Denn
sofern die Rechtssprache sich der Verwandtschaftsnamen nun
bedient, tut sie es nur so weit, als der Name sich mit einem
von der Rechtssprache aufgestellten Begriff deckt. Bezeich-
nungen wie „Onkel" oder „Vetter" sind z. B. zu allgemein,
um ohne weiteres, ohne Bezeichnung der Grade, in der Rechts-
sprache verwendet werden zu können.
Erst wenn wir diese Veränderungen in der Rolle der Ver-
wandtschaftsnamen der verschiedenen Gemeinwesen beachten,
sind wir im Stande ihre ganz andere Bedeutung auch für
primitive Gesellschaften richtig einzuschätzen.
Druckfehlerberichtigraiig; (Bd. 38, Heft 3).
S. 380, A.nm.: statt Wagaga, richtig Wagawaga.
S. 444, «.Zeile: statt muldu, richtig mundü.
III.
Neue juristische Papyrus -Urkunden und Literatur1).
Von
Prof. Dr. jur. et phil. Paul M. Meyer.
Die Zahl der Neuerscheinungen der letzten Jahre auf dem Gebiete
der Papyruskunde ist eine so bedeutende, daß es mir nützlich erscheint,
einen Ueberblick über die für den Juristen in Betracht kommenden
Publikationen, Bücher, Aufsätze und Berichte zu geben.
An Zeitschriften, welche die Papyrologie und Aegypten zum Gegen-
stände haben, sind neuerdings hinzugekommen: 1. Das englische Journal
ofEgyptian Archaeology, von dem bisher sechs Bände erschienen
sind und das für uns vor allem wegen der ausgezeichneten Bibliograph}'
of Graeco-Roman Egypt Bell's (s. III 1916, 129— 138 ; VI 1920. 119— 146 1
wichtig ist. 2. Die Studi della scuola papirologica(R. Accademia
scientifico-letteraria in Milano : Studi italiani), herausgegeben von
v) Dem Programm getreu, welches ich am Schlüsse meines Kohl er-
Nekrologes (Zeitschr. f. vergl. Rechtsw. Bd. 38) entwickelt habe und welche-
darauf abzielt, die Pflege der verschiedenen Teil-, Ergänzungs- und Hilfs-
gebiete der vergleichenden Rechtswissenschaft in der Zeitschrift immer
mehr auszubauen , veröffentlichen wir nachstehend die erste der als
ständige Einrichtung geplanten großen juristisch-papyrologischen Revuen
von Prof. Paul M. Meyer. Besonders die reiche Bibliographie soll vor
allem mit dazu beitragen, dem Forscher wenigstens zum Teil den Inhalt
der einschlägigen Neuerscheinungen des In- und Auslandes zu vermitteln,
was vielen schon mit Rücksicht auf die heutige materielle Schwierigkeit,
die Originalpublikationen zu beziehen, willkommen sein dürfte. Herr
Prof. Dr. Paul M. Meyer hatte die Freundlichkeit, solche systematischen
Revuen für Zeiträume von etwa je zwei Jahren in Aussicht zu stellen.
Daneben werden nach Bedarf wie bisher auch Einzelbesprechungen
papyrologischer Werke aus den Federn mehrerer in- und ausländischer
Fachmitarbeiter erscheinen, wie schon der vorliegende Band zeigen wird.
Leonhard Adam.
Juristischer Papyrusbericht. 221
Calderini, de Francisci und f Castelli, von denen bisher drei Bände
erschienen sind (I 1915, II 1917, III 1920). Sie enthalten Papiri inediti.
Memorie e Note, Repertori, Recensioni bzw. eine Bibliografia (so II
247 — 284); III 157 — 341 gibt eine" Rassegna degli studi italiani di Egitto-
logia e di Papirologia. 3. Aegyptus, Rivista italiana di Egittologia e
di Papirologia, herausgegeben von Calderini, von welcher der erste Band
vorliegt (1920) ; sein Inhalt gliedert sich in Memorie, Appunti e Notizie,
Aggiunte e Correzioni a pubblicazioni di Papirologia e di Egittologia,
Recensioni e Bibliografia, Bibliografia metodica degli studi di Egitto-
logia e di Papirologia. 4. Die französische Revue Egyptologique, in
neuer Folge (I 1919) herausgegeben von Mo r et und Pierre Jouguet; ich
kenne nur den Prospekt und einen mir von Bell freundlichst zugesandten
Aufsatz mit vier interessanten Privatbriefen aus römischer Zeit. Neben
diesen vier neuen ausländischen Zeitschriften haben aber auch die alt-
bewährten Deutschen Papyruszeitschriften trotz der Not der Zeit weitere
Bände bzw. Hefte herausgebracht. Von Wilckens Archiv für Pa-
pyrusforschung (Archiv) erschien 1920 Band VI 3, 4 mit einem
scharfsinnigen und aufschlußreichen Referat über alle von 1913 — 1919
veröffentlichten Papyrusurkunden aus der Feder Wilckens (VI 361 bis
454). Mitteis' Zeitschrift der Savignystiftung für Rechts-
geschichte (Romanistische Abteilung : SZ.) hat alljährlich einen Band
mit Aufsätzen, Kritiken und Urkunden-Referaten gebracht. Von den
in den letzten Jahren erschienenen Heften von Wesselys Studien
zur Paläographie und Papyruskunde (Stud. Pal.) interessie-
ren den Juristen Heft 17 (1917), enthaltend Literatur der Papyrus-
kunde von 1913—1917, und Heft 19 (1920: s. unten). Endlich nenne
ich die Kritiken und Referate der Kritische n Vierteljahrsschrift
für Gesetzgebung und. Rechtswissenschaft: im 18. Bande
(S. 29 — 88) gibt W eng er eine vortreffliche Uebersicht über die juri-
stisch wichtigen papyrologischen Neuerscheinungen während der Kriegs -
zeit, P. Oxy. X— XII, P. Rylands II, P. Flor. III, Pubblicazioni della So-
cietä italiana (PSI.) III. IV ; der dritte Band der P. Cairo byz. Masperos
war ihm ebensowenig zugänglich wie mir. Diese Uebersicht W engers
enthebt mich im großen und ganzen der Aufgabe, die von ihm be-
sprochenen Ausgaben auch meinerseits zu behandeln; näher eingehen
werde ich auf PSI. IV, auf die übrigen nur gelegentlich.
Erwähnen muß ich noch die zusammenfassende Darstellung der
gesamten Papyruskunde , die Schubart in seiner Einführung in
die Papyruskunde (Berlin 1918) gibt. Wenn Schubart auch die
Paläographie und die literarischen Papyri, sowie Geschichte, Religion,
Kultur und Verwaltung Aegyptens in den Vordergrund stellt, so sind
doch auch die auf Recht und Wirtschaft bezüglichen Abschnitte wert-
222 Paul M- Meyer.
voll. Sehr gute Dienste werden auch Preisigkes Fachwörter des
öffentlichen Verwaltungsdienstes Aegyptens in den grie-
chischen Papyrusurkunden der ptolemäisch -römischen
Zeit (Göttingen 1915) leisten; die privatrechtlichen Fachwörter und die
byzantinisch-arabische Periode sind zwar nur gelegentlich herangezogen.
Meiner Uebersicht lege ich nun die Disposition meiner vor kurzem
erschienenen Juristischen Papyri, Erklärung von Urkunden
z ur Einführ ung in die juristische Papyruskunde (Berlin,
Weidmannsche Buchhandlung, 1920) zugrunde1).
A. Personeiirecht.
Status libertatis: Römische Freilassung. PSI. V 452 (saec. IV)
enthält eine Eingabe wegen Aufsetzung einer Vollfreilassungsurkunde
von servi communes durch den Miteigentümer bzw. mit seiner Zu-
stimmung in fraudem des anderen Miteigentümers , seiner Schwester.
Auch auf die im römischen Recht umstrittene Frage nach der Gültigkeit
der Teilfreilassung geht die Urkunde ein, indem sie dieselbe allgemein
im Sinne des Proculus auch bei formloser Teilfreilassung ablehnt; vgl.
bes. Dosith. fr. 10; dazu Mitteis, Archiv III 253 f., Grundzüge 222
(Rotondis Abhandlung in den Rendiconti dell' Istituto Lombardo
Sez. II vol. 50, 1917: Cod. Iust. VII 7, 1 e la manumissio del servus
communis nei diritti orientali ist mir nicht zugänglich). Darauf beziehen
sich meines Erachtens die Worte Z. 16, die etwa folgendermaßen zu er-
gänzen sind : a)[o]av SovajJievoü abxob [xai] xwpU tivo? Statpeoeou? r?]s xatox^j«;
[rcept tivo? xotvoü oixetoo oder rcepi toü ircißdtXXovTos aöxü) jiepou? otxovofxelv
oder ähnlich], ohne divisio kann keiner der Eigentümer über seinen
Teil verfügen. Inbezug auf die fraudatorische Freilassung werden
nun in der Urkunde, wie ich sie auffasse, zwei verschiedene Ent-
scheidungen aufgeführt. Die Entscheidung eines nicht näher zu be-
stimmenden Beamten (s. aber etwa Z. 14 f.) geht dahin : Ein in fraudem
des Miteigentümers von dem anderen Miteigentümer oder mit seiner
Zustimmung angefertigter Vollfreilassungsbrief über einen servus com-
munis hat die Wirkung, daß der betrügerische Miteigentümer (äa-cpotepoo«;
Z. 6 bezeichnet den Ixöou? und den de|a]u.eyo£ tö YP*M-!laxe'ov ä<p®0SÜ)(» *
s. Z. 13) ausfällt (exTrsolv), sein Anteil verwirkt wird zugunsten seines
Miteigentümers. Die Lücke Z. 7 Anfang bezieht sich wohl auf die Ak-
kreszens. Dagegen hat ein Xo^ictt? in dem der Eingabe zugrunde liegen-
5) Vgl. die ausführliche Besprechung dieses Werkes durch Dr. Adolf
Berg er -Wien im vorliegenden Bande.
Leonhard Adam.
Juristischer Papyrusbericht. 223
den Fall zweimal eine andere Entscheidung getroffen; folgender Tat-
bestand liegt wohl vor: Zwei Geschwister sind zu gleichen Teilen Mit-
eigentümer mehrerer Sklaven, deren Besitz unter ihnen verteilt ist. Der
Bruder hat nun einen von drei in seinem Besitz befindlichen servi
communes 8txa Yvoujjiyjs der Schwester gefälschten Freilassungsbrief (vgl.
BGU. 388) anerkannt und zum Schaden der Schwester ausgeführt
(Z. 10 — 14). Die Entscheidung des Xo^tox-f^ wird in den Worten zu-
sammengefaßt (Z. 23 f.) : 6 XoYtotYjs . . . u>$ [xal rcpoxepov, ajxepatov T-rjv
SeorcoiEtav ajicpoxspois (d. h. den Geschwistern) <puXdx'xsi; danach soll die
Freilassung nichtig sein wie auch nach der Entscheidung Z. 5 f., ab-
weichend von dieser soll aber das Gemeineigentum beider Parteien an
den Sklaven bestehen bleiben. Trotz dieser Entscheidung verweigern
aber die Sklaven (im Einverständnis mit dem Bruder) der Schwester
jede orcrpeota. Ob ihr Gesuch auf Ausführung der Entscheidung des
XoYiox*f]c geht (Gemeineigentum) oder auf Anerkennung ihres Alleineigen-
tums, was mir wahrscheinlicher ist, geht aus dem Petitum nicht mit
Sicherheit hervor.
Erwähnungen von servi fugitivi in den Papyri habe ich Zeit-
schr. f. vgl. Rechtswissenschaft XXXV 87 A. 11 zusammengestellt,
darunter PSI. IV 329 (258/7 v. Chr.: ein Koch hat mit 80 Kupferdrach-
men das Weite gesucht), P. Oxy. XIV 1643 (298 n. Chr.): Bestellung
eines Bevollmächtigten zum Suchen eines entlaufenen Sklaven in Alexan-
dreia; die Vollmacht erstreckt sich auf Einsperren, Geißelung des Sklaven
(s. dazu Iur. Papyri Nr. 70, 189 Bern.) und Klageerhebung vor der
kompetenten Behörde gegen die, welche ihn aufgenommen haben (vgl.
dazu Iur. Papyri Nr. 50, 14; s. auch P. Oxy. XII 1422, 6 f. 1423). Hinzu
kommt PSI. VI 570, 3 f. (252/1 v. Chr.) nach Wilckens Ergänzung
(PSI. VI S. XVIII) : arco[8e8paxe S'aüxoü nalq xal e]cxt ev x-fji AipLvvjt. Ka[Xä>]$
oov TCOiifjoei<; [arcooxetXa«; xou<; ütco ae cpoXJaxixa? sl$ rp> av xco|ayjv -^ 6 naXq
. . . .; vgl. auch PSI. VI 637, 3 f. 667.
Ein Unikum bildet die Hausgeburtsurkunde einer Sklavin
(oixoYeveta) PSI. VI 6 90 (saec. I/II). Vgl. Iur. Papyri Nr. 22 b Einl.;
45, 26; 93 § 67 S. 334 f. und die dort angeführten Belege. Ich gebe
den leider am Anfang und am Ende unvollständigen Text:
. . . (<I>Xau'io<; Aovfos) ... [•] X [ &Z £]xri>v ££*rixovxa ouXyj
Yaaxpoxy[7)]jjLta rcoSö«; Se^toö ärcsfpa^axo d[$] rrjv ol[x]oY£viav axoXo60-ü)(;
t[ü)] xe ^YjcptajAaxt xal wpooxaYfi.ax[i] ^v i'cpYj yeYovevat aöx<I> <J>Xaoiü> A6vyo>
Ix vt\<; xaxaXsKpO-etOfj? a6xü> xaxa 3tatW]XY)v <&Xaota<; TixavidSo«; 8oüXyj[^]
'IoüXiavyji; ^tXfcujxepa^) SouXyjv, "ß ovojxa MooXia ixuiv knxa. ao*r)(i.o?. Kai
lxd£otx[o] xy]<; örcepiKojJt.oo £ß8o|Aaia<; *f]fj(ipa<; #e[ä]s BepvcxYj? E£>epYSXi8o<; xyjv
xaO-yjxouaay arcapxvjv. *H hk olxofevia -rjöe xopta eax<o 7tavxa)(o5 i<p' oi<; raspce^et.
Spatium. Es folgen drei unleserliche Zeilen von zweiter Hand.
224 Paul M. Meyer.
Danach hat Flavius Longua „den Bestimmungen des ^^cpiajia
(Beschluß einer städtischen Körperschaft!) und irpootaYfia entsprechend"
die ibm von der Iuliana Philotera, einer testamentarisch von der Flavia
Titanias erworbenen Sklavin, geborene olxofevY]<; 8o6Xy] Iulia beim Grund-
buchamt angemeldet (s. Iur. Papyri S. 197) und ty]^ urep&eajAO'j iß&ojxauxi;
4j|xepas -ö-eä? BspvixYj<; EuepYettSo^ rfjV xatKjxouaav öttcap^v gezahlt. Auf
Grund dessen ist ihm die vorliegende olxoyeveia, zweifellos vom Staats-
notariatsamt, ausgestellt. Die Sklavin ist 7 Jahre alt; mindestens so
lange befindet sich also ihre Mutter im Besitz des Longua. 'Arcapy^ kann
sich danach unmöglich auf den über 7 Jahre zurückliegenden Erwerb
der Iuliana Philotera beziehen und »Erbschaftssteuer" bedeuten. Viel-
leicht werden wir die für die Ausstellung der olxoYeveca zu leistenden
Gebühren darunter zu verstehen haben (vgl. die Verlautbarungsgebühren
für die Handscheine). Sie werden auch noch in römischer Zeit auf den
Namen der Berenike, der Frau des Ptolemaios III. Euergetes, gezahlt. Die
Worte xyj<; oTcspOiafioo eß5. Tjuspa^ beziehen sich meines Erachtens nicht
auf die Einhaltung eines Termins von 7 Tagen; aber auch die Auffassung
der ujtepö-eajxoi; = oKtpb-koi[i.o<; -f^kpa, dies superpositus, Fasttag, ist aus-
geschlossen.
Status civitatis: Nicht zugänglich ist mir der Aufsatz Beltramis
zur constitutio Antoniniana (s. Iur. Papyri Nr. 1) in der Rivista di
filologia classica XLV, 1917, 16 — 23. Noch nicht herausgekommen
ist die längst gedruckte und angekündigte Abhandlung von Segre,
L'editto di Caracalla dell' anno 212 sulla cittadinanza romana e il pap.
Giessen 40, 1 (Atti Soc. ital. Progr. Scienze VII, Siena 1913,
1013 ff.: s. Studi italiani III S. 304).
Die Frage nach der Bedeutung des Instituts der Epikrisis be-
handelt Lesquier in seinem umfangreichen Buche L'armee romaine
d'Egypte d'Auguste ä Diocletien (Memoires de Tlnstitut
fr. d'arch. or. du Caire XLI, 1918) S. 156—201 aufs ausführlichste.
Auf die Bemerkungen von Grenfell-Hunt in den Einleitungen zu
P. Oxy. XII 1451. 1452 nimmt er noch Bezug, er kennt dagegen nicht
meine Griech. Texte, in denen ich schon die Einheitlichkeit der
ETCixp'.oi«; festgestellt hatte (S. 59), weiter das Buch von Meautis, L'Her-
moupolis la Grande (S. 62. 75 f.) und PSI. V 447. 457. Die Sonde-
rung in militärische, finanzielle und Epheben-Epikrisis ist nicht mehr
aufrechtzuhalten. Die ercixpia'.«; ist eine allgemeine Prüfung des Personen-
standes der Angehörigen aller „privilegierten" Klassen (cives R. und
Veteranen, Alexandriner und azxoi, jxYjTpoTCoXitat, xatotxoi) und ihrer Frei-
gelassenen und Sklaven. 'Eiuxsxpijiivo'. ist aber nicht etwa , wie auch
Lesquier noch annimmt, der zusammenfassende Ausdruck für diese
„Privilegierten". Die Bezeichnungen iTC'.xexp'.jxsvo; und Xaofpacpo'jfAsvos
Juristischer Papyrusbericht. 225
sind nicht Gegensätze; auch die XaoYpacpoopievoi (s. Griech. Texte und
Meautis a. a. 0.) sind als solche der Iiuxptat<;-Prüfung unterworfen
(= XaoYp. Iiuxexptpisvoi).
Zur Bedeutung des Begriffes foxoq, otox-rj, „ Stadtbürger u, siehe meine
Iur. Papyri S. 319 f.; durch den Gnomon des Idioslogos (s. unten S. 235)
wird die Gleichung äaxot = 5AXe£av8psi<; ausgeschlossen. Damit steht aber
P. Oxy. XIV 1634, 2 (222 n. Chr.) nicht im Einklang: Zwei Töchter
eines 66^YjvtdpxY)<; von Alexandreia werden bezeichnet als 'Pwjxatat xal
äcotat , sie sind also sicher außer cives R. auch cives Alexandrinae ; in
diesem Falle ist also aaxig = civis Alexandrina.
Status familiae : Grundlegend für das Rechtsverhältnis zwischen
Vater (Eltern) und Kindern ist der schon in meinen Iur. Papyri
(S. 19 ff. Nr. 9 — 12) berücksichtigte Aufsatz von Taubenschlag (SZ.
XXXVII 177 ff.), Die patria potestas im Recht der Papyri.
Ich stelle hier noch einmal die auf die römische patria potestas (e^ouata)
bezüglichen Ausdrücke in den griechischen Papyri seit dem 3. Jahr-
hundert n. Chr. zusammen: 5ice£o6oios P. Cairo byz. I 67006, 14; P. Oxy.
I 129 (= Mitteis, Chrest, 296), 6icoxetptoS P. Gen. I 44, 17; SB. I 5692,
11 : ttjv oirapxooaav xcji> ä<pVjXtxi jaoü üuj> xal [ &Koyeip]iu> (? Gr en-
fell-Hunt) xa[xa x]ou<; vojaooc ; P. Oxy. XIV 1642 (289 n. Chr.):
Ein zur Agoranomie Bestellter, die im 3. Jahrhundert ein liturgisches
munus patrimonii geworden ist (s. 0 e r t e 1 , Liturgie 332 ff.), haftet mit
seinem Vermögen und dem seiner uTCo/eipia xexva. In. P. Oxy. X 1268
findet die xaxaYpacpv? des der Tochter gehörenden Hauses (bona materna)
durch den Vater statt l'xovxo«; a&xvjv örcö xf{ xstpl xaxa xoo<; ePü)ji.auov v6{xoo<;
(vgl. P. Oxy. IX 1208), ebenso P. Oxy. XIV 1703 : öjjloXoyw xataYeYpoKpifjxsvxi
aot ... o Io)[vy)]vxs rcapa aoö hi Ifioö p[t 6rco]xe[ipt]oi jaoo olot. Zu a&xe£ou<3to<;
sui iuris, a6xe|oüatox7j<; emancipatio s. Iur. Papyri S. 20.
Die eben angeführten Papyri des 3. und späterer Jahrhunderte er-
weisen die Existenz der patria potestas in Aegypten. Aber diese unter-
scheidet sich von der des alten Zivilrechts, das uns zwar noch in der
Emanzipationsurkunde Iur. Papyri Nr. 9 des ausgehenden dritten Jahr-
hunderts entgegentritt (s. auch de Francisci, Filangeri 1913, 230 ff.);
eine Ausgleichung mit der volksrechtlichen Vormundschaft des Vaters
hat sich vollzogen (s. W enger, Krit. Vierteljahrsschr. IX 565 f.,
P. Monac. I 1, 12 f. Bern.; Taubenschlag a. a. O. 212 ff., 223 ff.).
Während das Reichsrecht erst in byzantinischer Zeit die vermögensrecht-
liche Abhängigkeit aller Hauskinder auf die bona paterna beschränkt,
zeigen die Papyri schon des 3. Jahrhunderts ihre grundsätzliche Ver-
mögensfähigkeit unter dem Einflüsse des Volksrechtes (anders Grenfell-
Hunt zu P. Oxy. XIV 1642, 5 Bern.).
Die arcox^pufo P. Cairo byz. I 67097 Verso D (= Iur. Papyri
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. XXXIX. Band. 15
226 Paul M- Meyer.
Nr. 11) wird jetzt durch den mir nur aus den Abhandlungen Beils
(Journal Egypt. Ar eh. V, 1918, 70 f.) und Arangio-Ruiz' (Aegyp-
tus I 27 ff.) bekannten P. Cairo byz. III 67353 mit Sicherheit als eine
zum Aushang bestimmte Urkunde erwiesen; Geltung und gerichtliche
Anerkennung der volksrechtlichen äzov.r^o^iq stehen damit für die justi-
nianische Zeit fest (s. schon Iur. Papyri S. 24 f.). Mit Recht wendet sich
aber Arangio-Ruiz a. a. 0. gegen die Annahme Cuq' s — seine Ab-
handlung C. -R. Ac. In 8 er. 1917, 354 ff. ist mir nicht zugänglich, ebenso-
wenig die von Buonamici, Annali Univ. Tos cane 1915 II 1 ff. — ,
eine bisher unbekannte, vielleicht nur für die praefectura Orientis oder
Aegypti geltende Novelle Justinians, auf welche O-sToi vojiot Nr. 67 097,
88, &eto<; vojjlo? Nr. 67353, 32 hinweise, habe unter bestimmten Be-
dingungen die anoxYjP'jli^ gestattet. In beiden Urkunden beruht diese
unter Gewährung des Pflichtteils (3>aXxi8iov) auf der vorausgehenden
testamentarischen Verfügung , wie schon Koschaker festgestellt hat
(s. Iur. Papyri Nr. 11 , 71 Bern.). In Nr. 67 353 lautet der betreffende
Passus (Z. 35 ff. ; 8. Arangio-Ruiz 29) : xal toöto e£eTa|a pteta xoö
Tipoxetfiivoo 3>aXx[i?to]o xft eu/jj [SjiaO-TjX-Q xai tiq zihrptv rcdvtouv x piav
o&cav xai ßeßat[a]v [rcjavTOtyOÖ [rcpocpepouivrrv ....
In P. Cairo byz. I 67023 (= Iur. Papyri Nr. 12: 569 n. Chr.)
liegt Verpfändung der Tochter durch den Vater vor. Eine Verpfän-
dung des Sohnes durch den Vater zeigt PSI. IV 424, 12 ff. (3. Jahr-
hundert v. Chr.; s. auch P. Oxy. X 1295, 11 f. (saec. II/III). Zweifelhaft
ist dagegen die Sache im P. Iand. 62 (saec. VI.), den de Francisci
(Aegyptus I 71 — 82) ausführlich unter Aufrollen der ganzen Frage
behandelt. Es fragt sich, ob Faustpfand (MxüP°v) oder Dienstantichrese
(^oüXixvj ürc^peaia) bzw. 7tapau.ovVj (s. dazu Francisci a. a. 0. 80 A. 4)
oder locatio conduetio operarum (pusö-oüv) vorliegt; alle drei Hingaben
der Kinder durch den Schuldner an den Gläubiger hat Justinian Nov.
Iust. CXXXIV 7 verboten. De Francisci erweist, daß hier Verpfän-
dung (Verknechtung) nicht vorliegt; er läßt es unentschieden, ob es sich
um Dienstantichrese bzw. itapajiovYJ (wie P. Flor. I 44; P. Teb. II 384
und sonst: s. Iur. Papyri S. 128) oder Dienstmiete handelt. Selbstver-
knechtung einer Frau haben wir aber wohl in PSI. V 54 9, der griechi-
schen Uebersetzung einer demotischen Vertragsurkunde vom Jahre 42/41
v. Chr. anzunehmen: eine Frau gibt auf 99 Jahre = 1204 7* Monate
(s. dazu Wilcken, Archiv VI 402), d. h. für immer, sich, ihre Dienste,
ihr Vermögen und Erwerb der Kontrahentin hin; vgl. im griechischen
Recht Swoboda, SZ. XXVI 195 ff. — Nach Meklers Ergänzungen
(Wiener Studien 1902, 225 ff.) handelt das Fragment aus Nojjloi ß-vpßotpixot
P. P. I Nr. 9, 2 a Z. 7—17 von Kinderaussetzung. — Zur Schenkung von
Kindern durch die Eltern an ein Kloster (Hierodulismus) in den kopti-
Juristischer Papyrusbericht. 227
sehen Rechtsurkunden siehe Crum-Steindorff, Koptische Recht s-
urkunden des 8. J ahrhun dert s aus Djeme, Abschnitt IV; Crum,
Coptic Ostraca S. 11; Steinwenter, Stud. Pal. XIX 3f.
Vormundschaft: Sehr instruktiv für die Fachwörter auf dem Rechts-
gebiete der Vormundschaft (s. Mitteig, Grundzüge 248 ff.) ist der
Teilungsvertrag P. Oxy. XIV 163 7 vom Jahre 257/9 n.Chr. Aurelius
Ammonianus kontrahiert u,exa xoupdxopo«;, mit einem „Pfleger" (vgl. auch
P. Cairo byz. II 67151, 234: iv xd£et ysvi%ob xoopdxopoc xal xaxa vojxoo«;
xYjSejJiovo*;), er ist also minor viginti quinque annorum, zwischen 14 und
25 Jahre alt. Seine Schwester Heraclidiaena handelt dagegen jjlsx5 ercixporcoo
(nicht xopioo), also (trotz des jAeid) mit einem Altersvormund (P. Oxy. XIV
1645, 2 steht richtig 8i5 . . . iiuxporcou; s. unten), sie ist demnach noch
nicht mündig. Ihre Mitkontrahenten, die vollgeschäftsfähigen Brüder
Annianos und Pasion sind dagegen vertreten 8(ia) üaO'spjj.ooß'ioo . . .
[<ppovTiaToö (vgl. z. B. P. Oxy. XIV 1686, 2) als rechtsgeschäftlich bestellten
Vertreter. Die fünfte Kontrahentin endlich, 'Iosl?, wird bezeichnet als
Xp*f)|J.(axt£oüoa) X^P1? xopioo xexvcov Sixatü) rca[povxos xal e&8ox(oüvxo<;) xoö
ä]v$pös aöxYjs: im Besitz des ius liberorum ist sie von der Geschlechts-
vormundschaft befreit, ihr Mann fungiert aber als Beistand (s. Iur.
Papyri S. 32; zum ooveoxox; = oojjiitapcuv s. noch Castelli, Studi
italiani I 50 ff.).
Ein „Indemnitätsversprechen eines Altersvormundes an seinen Mit-
vormund" in einem Hamburger Papyrus aus der Zeit des Pius habe ich
in dieser Zeitschrift XXXVII 409 ff. veröffentlicht.
In seinem für die Kenntnis der Verwaltung und der Sozial- und
Wirtschaftsgeschichte Aegyptens unter den Ptolemäern und Römern
grundlegenden, 1917 erschienenen Buche Die Liturgi e (S tudien zur
ptolemäischen und kaiserlichen Verwaltung Aegyptens),
d. i. die dem römischen munus entsprechende, erst in römischer Zeit ge-
schaffene „ zwangsmäßig von Staat oder Kommune auferlegte Dienstleistung
für das Gemeinwesen (Zwangspacht und Zwangsunternehmen, Fronde,
Zwangsamt = Amtsliturgie) ", geht Oertel anhangsweise (S. 405 ff.) auf
den obrigkeitlich bestellten Vormund (tutor datus) ein (s. Iur. Papyri
S. 33 oben). Dieser wird dem Beamten auf Grund vorheriger Zustimmung
oder ohne eine solche präsentiert. Im letzteren Falle wird die Vormund-
schaft zum munus privatum, wie Oertel näher ausführt.
Zu den beiden schon bekannten Gesuchen an den praef. Aeg. um
Bestellung eines tutor mulieris, P. Oxy. IV 720 (= Iur. Papyri Nr. 13)
und P. Oxy. X 1466, in denen der Vormund sich zur Uebernahme bereit
erklärt, tritt jetzt ein von Grenfell (Bodleian Quarterly Record
1919, 259 ff.) herausgegebenes lateinisch-griechisches Diptychon (s. Mit-
teis, SZ. XL 358 f.; Maroi, Aegyptu s I 139 ff.). Während die beiden
228 Paul M. Meyer.
Papyri den Jahren 247 bzw. 245 n. Chr. angehören, ist das Diptychon
vom Jahre 198, also vor der const. Antoniniana, datiert; es enthält nur
die lateinische Erledigung des Präfekten mit griechischer Unterschrift
der Petentin auf der Innenschrift , das Gleiche und die Zeugennamen,
sowie Spuren ihrer Siegel auf der Außenschrift. Die zur Motivierung
der Bestellung gebrauchten Worte: quo ne ab iusto tutore tutela abeat,
bestätigen die Ergänzung Wilckens in P. Oxy. IV 720 aufs beste. Neu
ist, daß der Statthalter kompetent ist e lege Iulia et Titia et ex s(enatus)
c(onsulto); so ist entsprechend P. Oxy. IV 720 (= Iur. Papyri 13) zu er-
gänzen. Zweifelhaft bleibt noch die Auflösung der zwischen dem Kon-
text der statthalterlichen Erledigung und dem Datum stehenden Buch-
staben d e r e e b t s s ; sicher ist nur der Anfang : d(escriptum) e(t) r(e-
cognitum), ob e(x) e(xemplo) folgt, ist unsicher, ebenso ob am Schluß
aufzulösen ist t(abul . .) s(upra) s(cript . .). Jedenfalls liegt aber eine
durch Zeugen beglaubigte Abschrift der statthalterlichen Erledigung vor
(testatio privata).
Daß die Lokalbehörden seit 212 selbständige tutoris datio auch
für cives R. besitzen, bestreitet Maroi (a. a. 0. 149 f.), Solazzi (s. unten)
folgend, mit Unrecht; vgl. jetzt auch P. Oxy. XIV 1645, 2 (308 n. Chr.):
hi IjjloO toü vtaTaoxaö-evTO«; aörrj? eittTporcoo *ata xoug YeT0V°Ta? ^ " * '
ÖTCOjj.vY]u.aTOYpa<pu>v üTCOu.vY]fj.aT'.au.o6<;.
Ueber die lex Iulia et Titia handelt ein mir nicht zugänglicher
Aufsatz von Zocco-Rosa in den Ann. dell' Ist. di Storia di
diritto rom. (Catania) XIII, 1914/15, 31 ff. Unzugänglich sind mir auch
die vormundschaftsrechtlichen Aufsätze von Solazzi: 'Curatores pleni'
dei minores (Atti dell' Ist, Veneto Sez. II vol. LXXV, 1915, 1599 ff.),
L'Abdicatio tutelae e BGU. 1113 (Rendiconti dell' Ist. Lombardo
Sez. II vol. XLVI1L 1915, 985 ff.), Diritto ufficiale e diritto popolare nella
rappresentanza processuale dei pupilli (ebendort XLIX, 1916, 202 ff.),
Tutela e postliminio (ebendort XLIX), Ius liberorum e alfabetismo (eben-
dort LI, 1918, 586 ff.), und sein Buch Curator impuberis (Roma 1917).
Ich kenne nur das Referat von Debray in der Nouv. Revue hist.
de droit fr. et etranger XLI 454 ff.
Eherecht: Vom babylonischen Eherecht handelt in rechtsver-
gleichender, auch die Papyri heranziehender Darstellung Koschaker
in seinem schönen Buche Rechtsvergleichende Studien zur
Gesetzgebung Hammurapis, Königs von Babylon (1917;
vgl. das ausführliche Referat Wengers, Krit. Vierteljahrsschr. XVIII
1 ff.). Die Ehe der altbabylonischen Semiten ist Kaufehe, das sumerische
Recht, der andere der Gesetzgebung zugrunde liegende Rechtskomplex,
hat dagegen die Kaufehe schon überwunden (S. 197 f.). Interessant ist
der Nachweis (S. 143 f.), daß das Mädchen nach Zahlung des Kaufpreises,
Juristischer Papyrusbericht. 229
auch wenn diese sich nur an ein Verlöbnis anschließt, den Titel „Ehe-
frau" erhält und daß wohl allgemein im babylonischen Recht (wie im
griechischen: s. unten S. 251 f.) die Zahlung des Kaufpreises die Eigentums-
übertragung der Kaufsache bewirkt (S. 197). Die arrha ist schon längst
als semitischen Ursprungs erwiesen; die arrha sponsalicia behandelt Ko-
schaker im Anschluß an Hammurapi § 159/160 S. 136 ff.
Die für das altägyptische Eherecht einschneidende Abhandlung von
G.Möller (Abh. Berl. Akad. 1918) und die Kritik Sethes (GGA.
1918, 362 ff.) habe ich schon in den Iur. Papyri S. 40 f. verwertet.
Gegen das ägyptische „Probejahr" und die „Probeehe" (s. Iur. Papyri
S. 42 oben) wendet sich auchSethe (GG. Nachr. 1918, 288 ff., GGA.
1918, 377); anders mit Unrecht Maroi (Bull, dell' Ist. di diritto
rom. 1916, 97 ff.). Verwandlung des aypa<po<; faLto? in Vollehe liegt vor
in einem von Spiegelberg herausgegebenen demotischen Frankfurter-
Papyrus aus dem Jahre 110/109 v. Chr., den Partsch mit kurzem juristi-
schen Kommentar versehen hat (Zeitschr. Aeg. Sprache LIV, 1918',
93 ff.), und im griechischen PSI. V 450 R. I 1—24 (dazu die Einl. S. 11).
— Die Tochter gilt nach gräkoägyptischem Recht (entgegen dem gemein-
griechischen Recht) nicht prinzipiell durch die Mitgift als abgefunden
(s. Kreller, Erbrechtliche Untersuchungen 143 ff.). — Eine
sogen, fiktive Mitgift bzw. Alimentationskapital kennt das ägyptische
Recht nicht (s. unten S. 262).
Zu den Ehehindernissen des römischen Rechts siehe den Gnomon
des Idioslogos (Iur. Papyri Nr. 93) § 23, zur dos caduca ebendort
§ 24—26.
Das „Eherecht" der römischen Soldaten behandelt Les-
quier, L'Armee romaine S. 262 — 279 (s. auch die mir nicht zu-
gängliche Abhandlung Compt. rendus de l'Acad. des Inscr. 1917,
227 — 236) in ausführlichster Weise, ohne im wesentlichen über die seit
meinem Aufsatz im Archiv III (bes. S. 68 — 71) feststehenden Resultate
hinauszukommen (s. jetzt Iur. Papyri S. 53). Neu ist, daß er die Digesten-
stellen (Papinian) XXIII 2, 35. XLIX 17, 26, (Ulpian) XXIII 2, 45 im
Einklang mit Herodian III 8, 4 zu der seit dem Jahre 197 durch Severus
den milites cives R. erteilten Eheerlaubnis in Beziehung bringt. — Bis
zum Jahre 138 n. Chr. erhalten die Veteranen stets mit ihren Kindern
(nicht ihren „Frauen": s. unten S. 235 f.) die civitas R.; die Jahre 138
bis 146 (bzw. 152) bilden nach Lesquier ein Uebergangsstadium , seit
146 (bzw. 152) bekommen die Veteranen nur noch allein, nicht mehr
ihre Kinder das Bürgerrecht (s. Lesquier 293 ff, 318 f.). Neu ist auch,
was ich hier einfüge, die Erklärung der oöexpavol x^P1? Xa^XÄV durch
Lesquier (S. 293 ff.); er sieht in ihnen Veteranen, die noch kein
Diplom (SeXto? x*^]) erhalten haben, es aber erhalten werden. Im An-
230 Paul M« Meyer.
sehluß an das Holzdiptychon aus Philadelpheia (= Wilcken, Chrest.
Nr. 463) führt er aus (S. 297—312), daß auch die Legionsveteranen ein
Diplom erhalten. Daß die Veteranen der legio X Fretensis, auf die sich
das Diptychon bezieht1, währen'd ihrer Dienstzeit (ebenso wie die der
legiones I und II Adiutrices) nicht im Besitze der civitas R. waren,
steht dem nicht im Wege.
Ganz für sich allein steht das Fragment PSI. VI 730 aus dem
1. Jahrhundert n. Chr., von dem leider nur der Anfang der ersten 14 Zeilen
erhalten ist. Es enthält einen lateinischen Ehevertrag oder wohl besser
ein Verlöbnis nebst instrumentum dotale. Ich gebe das Erhaltene:
M. Antonius Marcellus [e]q[ues?? — Anto?] | niam Thaisarion filiam
s[uam — ] | ordinibus lata est libero[rum — ] | spoponditque M. Flavio Sil[ |
5 8. s. in ornamentis aureis po[n(do) — ] | catellam tet(artarum) X s(emissis),
inaures[ | anulum tet(artarum) II, cottatia (sie! 1. collaria?)[ j pon(do) un-
ciae tres[ j paenulam coccinam[ | 10 rerum trium pal[ | CCXX, item in rem[ |
mnaelll, et sart[aginem — ] | XXII, labellum po[n(do) — ] i XXX, scaphiu<m>
pon(do)[
Einige Ergänzungen hat schon Arangio-Ruiz vorgeschlagen:
Z. 2 f. filiam s[uam ex lege Iulia quae de maritandis] ordinibus lata est,
Z. 3 libero[rum ius habentem. Die letzte Ergänzung ist sicher nicht
richtig, da [Anto]oia Thaisarion, die zweifellos unverheiratet ist, aus
einem matrimonium iniustum stammt und erst nachträglich in die patria
potestas ihres Vaters (nach dessen Entlassung als Soldat?) gelangt ist,
das ius liberorum nicht besitzt. Vielleicht ist zu ergänzen: libero[rum
quaerendorum causa uxorem dedit] spoponditque M. Flavio Sil[vano, cui
dotem daturum se promisit pro filia] s(upra) s(cripta) , in ornamentis
aureis po[n(do) — catellam cet. (Z. 6 — 11), in rem [cet. (Z. 11 — 14). Zu
den Dotalstücken vgl. etwa das Verzeichnis von Silbersachen P. Freib. I
Nr. 8 (dazu Wilcken, Archiv VI 409 f.) und BGU. 781 (dazu Wilcken
a. a. 0. 302) ; ich gehe hier auf die einzelnen Stücke nicht ein.
Eine nach vollzogener Ehe vom Ehemann aufgesetzte, als ^a^xbv
GOfißöXatov bezeichnete Verpflichtung zur Leistung der donatio propter
nuptias (Yajxtxa iova 4]xot npb yaikou 8<Lpa. s. Iur. Papyri S. 43, Bell,
P. Lond. V 1708, 115: iooTtpoa-ov, vgl. Nov. lust. XCVII; 1725, 13) liegt
vor P. Lond. V 1711 (a. 566/73, Antinoupolis) ; den Zeilen 15—65 ent-
spricht P. Cairo byz. III 67 310. — Einen weiteren Ehevertrag enthält
P. Cairo byz. III 67 340.
Ehescheidung: Die mir nicht zugängliche Abhandlung von
Costa, I figli dei divorzati nei documenti greco-egizi di etä romana
(Studi Romani II 1914, 257 ff.) beschäftigt sich mit den byzantini-
schen Urkunden P. Flor. I 93 (= Mitt eis, Chrest. 297), 19 ff. und P.
Cairo byz. II 67154 Kol. II 25 ff. (s. daselbst S. 105). Der P. Flor, re-
Juristischer Papyrusbericht. 231
präsentiert eine Kopie des für den Ehemann bestimmten Exemplars, eine
Kopie des Exemplars für die Ehefrau stellt P. Lond. V 1713 dar. Vgl.
Iur. Papyri Nr. 21 Einl. Ein anderer neuer Scheidungsvertrag ist
P. Lond. V 1712. — Die koptischen Eheverträge behandelt G.Möller
im Anschluß an einen Berliner Papyrus aus dem Jahre 1208 n. Chr.
{Zeitschr. Aeg. Sprache LV, 1918, 67 ff.).
Erbrecht : Auf ganz neue Grundlagen wird das Erbrecht in Aegypten
gestellt durch das Buch von Kreller, Erbrechtliche Unter-
suchungen auf Grund der gr ä co- äg y ptischen Papyrus-
urkunden (Leipzig 1919)1). Kreller hat das gesamte Material in
mustergültiger Vollständigkeit gesammelt und bearbeitet; jede Urkunde wird
eingehend analysiert. Er folgt in der Disposition seines Buches keinem
der üblichen Systeme des Erbrechts , stellt vielmehr ein selbständiges
System für das Erbrecht der Papyri auf, innerhalb dessen national -
ägyptisches, griechisches und römisches Recht gemeinsam behandelt
werden. Im ersten Kapitel wird der Gegenstand des Erbrechts
behandelt, Aktiva und Passiva; in dem Abschnitt über die Passiva steht
die Frage nach der Haftung der Erben für die Nachlaßverbindlichkeiten
im Mittelpunkt (S. 31 ff.; s. Iur. Papyri S. 56). Das zweite Kapitel befaßt
sich mit den Personen des Erbrechts und erörtert nach der Ter-
minologie (xXvjpovofjio^ = Liegenschafts-, Gutserbe, xX-rjpovofxslv , SiaSo^o«;,
Btaxdxoyo«; u. a. : s. Iur. Papyri a. a. 0.) die Mehrzahl der Erben (Erben-
gemeinschaft, Erbteilung; zu den Erbteilungsverträgen s. Kreller S. 408;
Iur. Papyri Nr. 53 und dazu P. Oxy. XIV 1637. 1638. 1721; PSI. VI 698;
P. Lond. V 1728. — Koptische Erbteilungen s. Steinwenter, Stud.
Pal. XIX 20 ff., 54 ff.). Das dritte Kapitel ist der Darlegung der Rechts-
stellung der Erben bestimmt: im ersten Abschnitt handelt Kreller
zuerst von den Erbschafts-arcoypacpoa (s. auch S. 409) , und zwar a) den
Erbschafts-Steuerdeklarationen im hellenistischen Recht [arcapx^ hat aber
nichts mit der Erbschaftssteuer zu tun, ist vielmehr eine Identitäts-
urkunde für Freie, wie olxoYeve'.a eine Hausgeburtsurkunde für Sklaven;
s. Iur. Papyri Nr. 22b Einl., Nr. 93 §67 Einl., dazu PSI. V 464, 7.
VI 690: s. oben S. 223], b) den arcoYpacpat ererbter Grundstücke an das
Grundbuchamt (s. Iur. Papyri S. 197; Kreller S. 410). Sodann ist dem
Erbschaftsantritt nach den römischen Urkunden ein besonderer Paragraph
gewidmet (S. 121 ff.) ; sehr schön stellt Kreller die Kretionsformel in
BGU. 326 {= Iur. Papyri Nr. 25), 7 ff. und P. Oxy. VI 907 (= Mitteis,
Chrest. Nr. 317), 5 f. wieder her. Die subscriptio des Statthalters unter
*) Vgl. auch die Sonderbesprechung des Kreller sehen Werkes im
vorliegenden Bande aus der Feder von Prof. Dr. Mariano San Nicolö,
Prag. Leonhard Adam.
232 Paul M. Meyer.
der agnitio bonorum possessionis im Gießener Papyrus (= Iur. Papyri
Nr. 27) hat jetzt Wilcken (Hermes LV 28 f.) richtig erklärt; als eine
Parallele zu dieser Urkunde hat er (a. a. 0. 32 f.) P. Oxy. I 35 erkannt
und ergänzt. Der im Anhang dieses Kapitels stehende § 15 «Der erblose
Nachlaß" erhält jetzt durch den Berliner Gnomon des Idioslogos und
die Abhandlung Plaumanns (s. unten S. 235) reiche Ergänzung und
Vervollständigung. Im vierten Kapitel geht Kr eil er zur Darstellung
der gesetzlichen Erfolge über; er behandelt kurz das ägyptische
und griechische Intestaterbrecht mit seinem Parentelensystem, um darauf
fußend eine Rekonstruktion der Erbfolgeordnung, wie sie sich aus den
Papyri ergibt, zu versuchen. Wichtig ist die Feststellung (S. 143 ff.),
daß in Aegypten entgegen dem gemeingriechischen Recht die dotierte
Tochter nicht als abgefunden gilt (so Iur. Papyri S. 43) , sondern trotz
der Dotierung ab intestato erbt. Wie dies, so beruht wohl auch das
uns oft begegnende Vorzugsrecht des ältesten Sohnes vor den übrigen
Geschwistern auf ägyptischem Recht (S. 149 ff.). Seit Hadrian erhalten
auch Aegypter nach Analogie des alexandrinischen Rechtes das Intestat-
erbrecht gegenüber ihrer Großmutter (S. 158 ff.: BGU. 19). Weiter ist
der Vater nach ägyptischem Recht gesetzlicher Erbe seines Sohnes aus
afpacf o? ^a\xoc, » dieser hat keine Testierfähigkeit (S. 167 f. : CPR. I 18).
Ein gesetzliches Erbrecht des überlebenden Ehegatten besteht nach dem
Recht der Papyri nicht (S. 174 ff.). Die Kinder hatten nach einheimischem
Recht ursprünglich wohl ein gesetzliches Verfangenschaftsrecht am Ver-
mögen der Eltern. Nach den Papyri der römischen Zeit beruht aber
diese xatox^ stets auf besonderen Verträgen, sei es Eheverträgen der
Kinder selbst oder ihrer Eltern. Durch diese erhält die xatox*^ entweder
eine sofort eintretende dingliche Wirkung oder eine erst mit dem Tode
des parens praedefunctus in Kraft tretende (S. 178 ff.). Im fünften Kapitel
folgen die erb rechtlichen Verfügungen. Kreller scheidet sie
in zwei große Gattungen, solche in Testamentsform und ohne Testaments-
form. Die letzteren lassen sich zusammenfassen unter dem Begriff der
elterlichen Teilung als der dem gräkoägyptischen Recht charakte-
ristischen Gestalt; sie sondern sich nach Kreller (S. 204 ff.) in a) lukra-
tive Zuwendungen mit sofortiger Wirkung (mit und ohne Vorbehalt
lebenslänglicher Nutzung für die Eltern) [Abschichtung bzw. Gutsabtretung]
und Verfügungen von Todes wegen, die widerruflich (letztwillige) oder
unwiderrufliche (vertragsmäßige) sind, b) Zuwendungen in gegenseitigen
Verträgen, die familienrechtlichen Zwecken dienen. Was die lukrativen
Zuwendungen betrifft , so zeigt Arangio-Ruiz (Aegyptus I 30 ff. ;
s. auch Kreller 223) an einzelnen Beispielen (P. Cairo byz. III 67 340,
I 67 096, II 67 151, 67 154 Verso, P. Monac. 8; vgl. auch P. Lond. V 1729),
daß ihre verschiedenen Arten sich in justinianischer Zeit verwischen.
Juristischer Papyrusbericht. 233
Während die justinianische Gesetzgebung die Widerruflichkeit der
donationes mortis causa, die Unwiderruflichkeit der donationes inter
vivos als feste Norm aufstellt und so diese beiden Kategorien scheidet,
nimmt die Praxis hierauf keine Rücksicht ; auch die mortis causa donatio
ist nach den byzantinischen Papyri unwiderruflich (dagegen wendet sich
Nov. Iust. LXXXVII). Ehegattenerbrecht liegt vor in dem eherechtlichen
Vertrag («XXyjXoojjloXoyioc) P. Lond. V1727 vom Jahre 583|4 aus Syece:
der überlebende Ehegatte soll den ganzen Nachlaß des verstorbenen er-
halten, ohne daß die Kinder irgend einen Anspruch bei seinen Lebzeiten
haben; nach seinem Tode soll eine Teilung zu gleichen Teilen unter
sämtlichen Kindern statthaben.
Den größten Umfang nimmt naturgemäß im K r e 1 1 e r sehen Buche
die Behandlung der Testamente ein (S. 254 — 406). Sehr dankenswert
ist die Liste aller auf Papyri erhaltenen oder erwähnten Testamente
(S. 249 — 295), die folgendermaßen gegliedert ist: I. Hellenistische Testa-
mente bis 212. II. Testamente römischer Bürger vor 212. III. Testamente
nach 212. IV. Unbestimmte Stücke. V. Während des Druckes veröffent-
lichte Stücke (darunter P. Ryl. II 153 und P. Berol. 7124). Eine Anord-
nung nach lokalen Gesichtspunkten findet sich S. 316 f. Koptische Testa-
mente siehe Crum-Steindorff, Koptische Rechtsurkunden des 8. Jahr-
hunderts aus Djeme, Abschnitt III. Das allgemeine griechische Fach-
wort ist Staxid-eoO-ai , o'.aO-YJxY) (S. 296 ff.); daneben behandelt Ereil er
Siatdoostv, das in erbrechtlichen Verfügungen „vermachen" bedeutet
(S. 299 f.; s. unten S. 239), ßooXeoO-a'. , %i>xxokoö\> u. a. (S. 300 ff.). Die
eigentliche Darstellung über die Testamente wendet sich zuerst der
Testier fähigkeit, testamentifactio activa zu (S. 303 ff.) ; sie fehlt den
Unmündigen, nach attischem Recht den Frauen sicher für das Adoptions-
testament, vielleicht auch für das Legatentestament. Dafür spricht, daß
nach dem Gnomon des Idioslogos (§ 15) die äatat und ihre Frei-
gelassenen nicht testieren können (vgl. die ingenuae cives Romanae und
§ 33 des Gnomon: s. unten S. 239). Beschränkte testamentifactio activa
haben nach dem Gnomon (s. auch § 14) auch die castrati und natura
spadones (§112). Die testamentifactio p a s s i v a fehlt den Sklaven,
nicht dagegen den Fremden im hellenistischen Recht ; die religiosi haben
in christlicher Zeit aktive und passive Testierfähigkeit. Ueber die
mangelnde capacitas und die sich daraus ergebende Kaduzität auf Grund
der augustischen Ehegesetze und ihrer Ergänzungen siehe den Gnomon
des Idioslogos (unten S. 239). — Die übliche Form der hellenistischen
Testamente (S. 313 ff.) ist die notarielle, für selbständige Privat-
teßtamente fehlen uns Belege. Ob die arsinoitischen Soldatentestamente
des 3. Jahrhunderts v. Chr. notariell errichtet oder einem Notariat zur
Registrierung eingereicht sind, wodurch sie öffentliche wurden, ist zur-
234 Paul M. Meyer.
zeit nicht zu entscheiden. Schönbauer (SZ. XXXIX 237 f.) bestreitet
beides im Hinblick darauf, daß im 3. Jahrhundert v. Chr. der ayopav6|io<;
noch keine notariellen Funktionen besaß (s. aber Iur. Papyri S. 87) und
die Sechszeugenurkunden noch keiner avocYpa'f r4 bedurften ; nach ihm
stammen die vorliegenden Abschriften aus der Militärkanzlei, der a6vta|t<;.
Die sonstigen ptolemäischen Testamente, die erst mit dem 2. Jahrhundert
v. Chr. einsetzen, sind notarielle; ebenso die meisten griechischen Testa-
mente der Kaiserzeit, daneben finden wir aber auch dem Notariat zur
Beurkundung eingereichte (z. B. Iur. Papyri Nr. 24). Vgl. den Gnomon
des Idioslogos § 7: oiaö-rjxai, oaat fj/r, xata Syjjaogiou«; ^pYjfxattofioix; ysivovtou,
axopoi. eloiv. Zu den von Kr eil er (S. 328 f.) erwähnten römischen Manzi-
pationstestamenten treten das von mir in dieser Zeitschrift XXXV 81 ff.
herausgegebene Testamentsformular des 2./3. Jahrhunderts und die eben-
dort 93 ff. veröffentlichte griechische Uebersetzung eines Manzipations-
testamentes, bei der besonders das Eröffnungsprotokoll (s. Kr eil er
S. 395 ff.) interessiert. Ein nach Severus Alexander in griechischer
Sprache errichtetes fragmentiertes römisches Testament liegt vor P S I.
VI 69 6. Auch dieses enthält die Bestimmung des Erbschaftsantritts
nach abgelegter testatio (degenerierter cretio) ; s. Iur. Papyri Nr. 25 Einl.
§4 S. 68. Z. 5 f. ist danach zu ergänzen: örcotav <paivu>vta'. jxapt6]pao0,at
saota? ejjtoö xXy)p(ov6jjloü?) slvai. Mit Z. 7 beginnen die „ Hinein Vermächt-
nisse" (s. Kr eil er S. 385). Zum Manzipationstestament P. Berol. 7124
(Studi italiani II 80 ff.) siehe meine Verbesserungen a. a. 0. 83
A. 2. 85; vgl. auch Wilcken, Archiv VI 439. Ein neues byzantinisehes
Privattestament (sog. testamentum tripartitum ; s. Kr eil er S. 333 ff.)
liegt P. Caiio byz. III 67 312 vor. Vom Soldatentestament handelt jetzt
auch der Gnomon § 34 (s. Iur. Papyri S. 325 f. und unten S. 239); mir
nicht zugänglich ist der Aufsatz von Calderini, Testamenti di soldati
in Atene e Roma 1918, 259 ff. — In den folgenden Paragraphen geht
dann Kr eil er auf den Inhalt der Testamente über: Die §§ 38 — 40
handeln von den volksrechtlichen hellenistischen Testamenten, §41 von
dem römischen. Die Verfügungen des Erblassers in den hellenisti-
schen Testamenten sind 1. solche über den Nachlaß als Aktiv-
masse (S. 344 ff.): sie werden gesondert in Gesamtverfügungen zugunsten
eines oder mehrerer Bedachter, Gruppenverfügungen (Zuwendung des
Vermögens nach Nachlaßgruppen an mehrere), Einzelverfügungen (Ver-
mächtnisse, Freilassungen), Begründung von Nutzungsrechten (durch un-
mittelbare Zuwendung oder Beschwerung eines Bedachten), Nachberufungen
(s. Kreller S. 356 ff.) und Ersatzberufungen, 2. Beschwerungen Be-
dachter (S. 362 ff.). Im Anschluß daran spricht Kreller (S. 371 ff.)
von den Anfechtungs verboten und Testamentsmulten (Strafklauseln).
Treffend charakterisiert Kreller im §40 (S. 374 ff.) alle in den Testa-
Juristischer Papyrusbericht. 235
menten bestellten srctTporcoc. als „Vertrauensmänner" : in den Petrie-Testa-
menten ist es das zum Treuhänder, Testamentsvollstrecker bestellte
Königspaar und ihre Kinder (Ausnahme P. P. III 12, 11 f.), in den späteren
Testamenten der zum Altersvormund der unmündigen Kinder de« Erb-
lassers Bestellte, der zugleich Testamentsvollstrecker ist. Ein Fall der
volksrechtlichen Testamentsvollstreckung begegnet uns merkwürdiger-
weise im Kodizill zum römischen Manzipationstestament des Veteranen
Longinus Castor (Iur. Papyri Nr. 25). — Die beiden letzten Abschnitte
des Buches handeln von der Aufhebung des Testamentes (S. 389 ff.),
die im griechischen Recht nur durch ausdrücklichen Widerruf, sei es in
einem neuen Testament, sei es durch Rücknahme der hinterlegten Ur-
kunde, erfolgt, und von der Testamentseröffnung (S. 395 ff.).
Ich schließe hier Ausführungen über BGU. V 1, den großen, von
Schubart-Seckel herausgegebenen juristischen Berliner Papyrus
P. 11650 = Nr. 1210 an, da sein Hauptinhalt sich auf das Personenrecht
(Status, Ehe- und Erbrecht) bezieht. Der Papyrus ist im Anhange meiner
Juristischen Papyri als Nr. 93 abgedruckt und, soweit die damals zur
Verfügung stehende kurze Zeit es erlaubte", erläutert worden. Wie ich
höre, soll sich in Turin ein Papyrus ähnlichen Inhalts befinden. Im
Berliner Papyrus liegt ein Auszug aus dem Gnomon des Idioslogos
vor, der für das Ressort des Idioslogos, des „Sonderkontos" der ägypti-
schen Staatskasse, bestimmten Amts- bzw. Dienstanweisung (norma, forma).
Vgl. Plaumann, Der Idioslogos: Abh. Berl. Akad. 1918 Nr. 17,
Idioslogos bei Pauly-Wissowa IX 882 ff. ; Schubart, Zeitschr. Aeg.
Sprache LVI 80 ff. In Form eines Berichts enthält der Gnomon Auf-
zeichnungen über das bei Einziehung von Vermögen , Wertobjekten,
Strafsummen und Bußen angewendete und anzuwendende Recht bzw. Ge-
pflogenheiten. Ein solcher Gnomon muß schon in ptolemäischer Zeit
bestanden haben ; der Grundstock des uns vorliegenden geht auf Augustus
zurück , ist durch spätere Senatsbeschlüsse , Kaiser- , Statthalter- und
Idioslogos-Erlasse erweitert, wie das an der Spitze stehende Begleit-
schreiben (s. unten) besagt. Wie Lenel-Partsch in ihrer Abhandlung
„Zum sog. Gnomon des Idioslogos" (Sitzungsber. Heidelb. Akad.
d. W. 1920, 1. Abh.) mit Recht gegen Schubart ausführen (S. 6), war
der oft summarische und ungleiche Auszug wohl für die Unterbeamten
des Amtes bestimmt und von einer untergeordneten Stelle verfaßt, woraus
die geringe juristische Sachkenntnis und mangelnde Kritik zu erklären
wären. Die Abfassungszeit des Auszuges fällt unter Pius (s. § 36), man
darf hierfür aber nicht mit Schubart-Seckel (S. 8) unter Zustimmung
von Lenel-Partsch (S. 8) den § 54 in Anspruch nehmen und die Ab-
fassung in die Jahre 145—161 setzen, „da der § 54 nicht mehr voraus-
setze, daß die Soldaten bei der Entlassung mit Frau und Kind das
236 Paul M. Meyer.
Bürgerrecht erhielten, was bis 145 der Fall war*. Demgegenüber habe
ich schon Jur. Papyri S. 328 f. darauf hingewiesen, daß die „Frauen*
der auxiliarii auch schon vor 146 bei der Entlassung nicht die civitas
R. erhielten (e. auch oben S. 229), weiter, daß der § 54 vor 146 abgefaßt
ist, und zwar wohl auf den Statthalter des Jahres 84,85 Ursus zurückgeht.
Außer für das Privatrecht ist der Gnomon von außerordentlicher
Wichtigkeit für die Maximen der römischen Staatsverwaltung, die Natio-
nalitätenfrage, das Priesterrecht (s. § 71—97). Die privatrechtlichen Be-
stimmungen betreffen entsprechend dem Personalitätsprinzip 1. römisches
Recht, 2. alexandrinisches und sonstiges griechisches „Stadtrecht" (s. §§ 5.
6. 9—15. 38. 40. 45. 46 [?]. 47—51), 3. einheimisches Recht, beruhend
auf dem von den Ptolemäern griechisch redigierten, von den Römern
rezipierten Landrecht. Die römischrechtlichen Sätze sind von Lenel-
Partsch in der genannten Abhandlung behandelt, sie gehen auf einen
lateinischen Urtext zurück, dessen Wiederherstellung von ihnen versucht
wird. Dagegen liegt den Abschnitten über das alexandrinische und
sonstige Stadtrecht — die aotot sind nicht die alexandrinischen Stadt-
bürger, wie Lenel-Partsch (S. 7) annehmen (s. oben S. 225) — sicher
ein griechischer Urtext zugrunde. Das erweisen nach Lenel-Partsch
(S. 6 f.) reingriechische Rechtsfachwörter, wie eitt&HtdCsaö-ai (s. Iur. Papyri
S. 318 § 5, 28 Bern.), Teved (§ 6 ; P. Hai. 1, 218), weptoooia (§ 6), fiepiCeiv
(Kr eller S. 241 f.), Ta e;uxTY)Ta (Errungenschaft, §45), öveufrovo«; (§§ 46.
47). Und auch weitere auf griechische und ägyptische Verhältnisse be-
zügliche Abschnitte des Gnomon waren wohl schon im Original griechisch,
d. b. in der inneren Amtssprache des römischen Aegyptens abgefaßt;
Lenel-Partsch führen als charakteristische Beispiele die Wörter dxataX-
X^Xou^, axataXX^Xia (§§ 37. 43. 53 : „Verletzung von privat- und öffentlich-
rechtlichen Standesnormen") und xp^u/xtiCeiv („sich im geschäftlichen
und amtlichen Verkehr benennen" : s. Iur. Papyri S. 332 § 42, 117 Bern.) an.
Was die Auffassung des an der Spitze stehenden Begleitschreibens
betrifft, so stimme ich Schubart, nicht Lenel-Partsch zu: xa iv
jjicü) xscpäXata, wie der Verfasser des Auszuges den Inhalt desselben be-
zeichnet, scheint mir von ersterein ganz richtig mit „Haupt- und Kern-
stücke" übersetzt, während Lenel-Partsch (S. 4) an „die Grundsätze"
denken, „die ein leicht zugängliches Register enthielt". In den folgenden
Worten 3rcio<; r/j tYJ$ ötvaypa<p-rj<; bXiyojxepta cJjv fAVfjiirjV srciarfjoai; eü/epöx;
Tüiv «paYU-dtcuv rcepixpar/ji; kann ttvaypacpYj sich schwerlich auf eine schon
veröffentlichte Dienstanweisung beziehen, ebensowenig dürfte javy^t] hier
den vorliegenden „Auszug" bezeichnen, „der als Gedächtnishilfe dienen
soll" (so Lenel-Partsch S. 4 f.). Vielmehr besteht wohl Schubarts
Uebersetzung „damit du der Dürftigkeit der Aufzeichnung durch das
Gedächtnis aufhelfen und leicht der Geschäfte Herr werden kannst" zu
Juristischer Papyrusbericht. 237
Recht. — Im folgenden bespreche ich den von Lenel-Partsch be-
handelten römigchrechtlichen Teil, für das griechische und ägyptische
Recht gebe ich nur eine nach Abschnitten und Paragraphen geordnete
Uebersicht, verweise einstweilen auf die Bemerkungen zu Nr. 93 der
Juristischen Papyri.
IV. §§ 5—7. Erbrecht der Alexandriner. VI. §§ 9—15. Erbrecht
der äoxoi. XIV. § 37. acxataX^Xta von Beamten. XV. §§ 38. 39. 45.-42.
54. 57. Rechtsfolgen der Mischehen und Verbindungen unter staatsrecht-
lich ungleichen Gatten. XVI. §§ 40. 41. 42-44. 53. 55. 56. 107. Strafen
wegen Anmaßung nicht zukommender Nationalität und Standes. XVII.
§§ 58 — 63. Strafen wegen unterlassener oder unvollständiger Meldung
zum Provinzialzensus. XVIII. §§ 64—69. Vermögensstrafen und Bußen
wegen Ausreise zur See und Ausfuhr von Sklaven ohne Paß u. dgl.
XX. §§ 71—97. Die ägyptischen Priester. XXI. §§ 98—101. Griechisches
Urkundenwesen. XXII. Einfuhr ausländischen Oeles nach Alexandreia.
XXIII. §§ 103. 104. Darlehns- und Verkehrsbeschränkungen. XXIV. § 105.
Gesetzliches Zinsmaximum. XXV. § 106. Umwechselung von Silber in
Scheidemünze. XXVII. § 108. Vereinsverbot. XXIX. §§ 112—115. Ver-
schnittene und Impotente.
Die auf Grabmäler bezüglichen beiden ersten Paragraphen sind auch
jetzt noch teilweise unklar. Nach § 1 hat Traian die Grabmäler, nicht
die zugehörigen Grabanlagen — es ist wohl mit Lenel-Partsch besser
t<x TCsreocfjjieva rcspl afka als mit Schubart xa hh xf]itotacplrx r\ toiaöta zu
ergänzen — der Einziehung durch den Fiskus und dem Verkauf ent-
zogen. Ob diese Bestimmung nur für die ^psiüatai toü cpbxoo als In-
haber von Grabmälern gilt (Schubart), oder gerade sie von jeder Ein-
ziehung befreit sind (Lenel-Partsch), läßt sich wegen der Lücke nicht
sicher entscheiden; sachlich möchte ich eher Schubart ([Ivtetva^sjvo«;)
als Lenel-Partsch ([xapiadpie]vo<;) beipflichten. Von debitores aerarii
ist aber im folgenden sicher keine Rede (s. auch Wilcken, Archiv VI
417 A. 1). Noch unklarer ist § 2: „Nur den Römern, für die nichts
unveräußerlich ist (!), ist es erlaubt, Gräber (bzw. Grabrechte, iura
sepulchri) zu veräußern." Auch Lenel-Partsch kommen zu einem:
non liquet.
§ 3 handelt von der Anzeige wegen Anmaßung erblosen Gutes
(vgl. Plaumann, Der Idioslogos S. 45 f. §§ 66 — 68); sie hat Verfangen-
schaft des ganzen (! s. Lenel-Partsch S. 11 A. 3) Vermögens (rcopos
ist Vermögen, nicht Einkommen!) des Okkupanten zur Folge. § 4 be-
stimmt, daß der Nachlaß des ohne „sonstigen gesetzlichen Erben" testa-
mentlos Verstorbenen dem Fiskus „zugesprochen" wird. Da nach römi-
schem Recht der Fiskus nicht heres legitimus ist, vermuten hier Lenel-
Partsch (S. 12 A. 1) möglicherweise Bezugnahme nicht auf römisches
238 Paul M- Meyer.
Recht, die lex Iulia caducaria. sondern auf alexandrinisches Recht, zumal
die folgenden Paragraphen 5—7 die Materie des alexandrinischen Erb-
rechts betreffen.
Zweifelhaft ist der Sinn des § 8; im Gegensatz zu Lenel-Partsch
(S. 12) fasse ich ihn folgendermaßen auf (s. Iur. Pap. S. 319) : Griechische
Kodizille sind gültig; es darf aber in einem römischen Testament (vor
Severus Alexander) eine auf sie bezügliche Konfirmationsklausel nicht
griechisch abgefaßt werden . sie macht das ganze Testament ungültig.
Lenels Auffassung müßte griechisch so lauten: ooa xaxa TttvaxtSa^ eEX-
Xv)vixa<; Siaxaaaexat u)<; sv <P(u|i.aix"jj §iatK]xvy eYTeTPaM,M^va *üpia °&* eoxai.
Den § 16 fassen Lenel-Partsch (S. 12 f.) so auf, daß ein Fidei-
kommiß zugunsten von postumi der liberti von cives R., die zur Zeit der
Testamentserrichtung noch nicht existierten , kaduk wird , während es
nach den Rechtsquellen als pro non scripto galt. Dabei ist aber meines
Erachtens das xat (auch) et$ lyyovooc, nicht berücksichtigt ; ich möchte
daher bei meiner Auffassung verbleiben : ein liberti civium R. nur unter
der Bedingung zugewandtes Vermächtnis, daß es an ihre posteri als
Nachvermächtnisnehmer (vgl. Kreller 356 ff.) weiterfallen soll (Ver-
fügungsbeschränkung!), wird kaduk, wenn solche zur Zeit der Testaments-
errichtung nicht existierten. Dann erklärt sich auch die Kaduzität.
§ 17 handelt von Kaduzität der für Totenopfer bestimmten Ver-
mächtnisse, falls Personen zur Ausführung dieser Vermächtnisse nicht
mehr vorhanden sind. Universalfideikommisse (ai xaxa tcioxiv Yetvojj.evoct
xXfjpovojjuat) von Römern zugunsten von Griechen und umgekehrt sind nach
der einleuchtenden Erklärung des § 18 durch Lenel-Partsch schon von
Vespasian für den Fiskus eingezogen, während wir bisher die Kaduzität
solcher Fideikommisse an peregrini erst auf ein senatusconsultum unter
Hadrian (Gaius II 285) zurückführten. Die onerierten fiduciarii sollen
im Fall der Selbstanzeige die Hälfte des Nachlasses als Delatorenprämie
erhalten. Ol xa? kioxzk; ££opLoXo*pr]oa[A£v<n (= qui fidem susceptam professi
erant) ist, wie Lenel-Partsch (S. 14 f.) betonen, nur so aufzufassen;
nach ihnen liegt aber vielleicht ein Mißverständnis des griechischen Ueber-
setzers vor, der im Original ,qui de fideicommisso professi erant' (Bdie
sich selbst angebenden fideicommissarii") fand; meine Erklärung (Iur.
Papyri S. 321) war unrichtig.
Die §§ 19 — 22 handeln von letztwilligen Verfügungen an und von
. libertini nach römischem Recht auf Grund der lex Aelia Sentia und lex
Iunia ; s. dazu Iur. Papyri S. 322 f. Auffallend ist die Bestimmung
§ 22 , wonach Vermächtnisse (äiaxaocojjieva) von Latini Iuniani an den
Fiskus fallen.
§ 23. Illicitum matrimonium inter eas personas quae ex transversc
gradu cognatione iunguntur (s. Iur. Papyri S. 323).
Juristischer Papyrusbericht. 239
§§ 24—26. Dos caduca auf Grund der lex Iulia et Papia Poppaea
und späterer senatusconsulta (s. Iur. Papyri S. 323 f.).
Der Abschnitt §§ 27—33 (Caducorum vindicatio wegen Inkapazität
und Jungfrauensteuer: s. Iur. Papyri S. 324 f.) erhält durch Lenel-
Partsch mannigfache Aufklärung: § 27 beruht auf dem scltum Persi-
cianum ; das dimidium capacitatis des orbus wird (im Gegensatz zu
Gaius II 286 a) von seiner Selbstdeklaration abhängig gemacht (S. 21).
Der erste Teil des § 28, wonach jede Frau über 50 Jahre incapax ist,
ist in dieser Fassung unmöglich; es war wohl in der Vorlage dasselbe
gesagt wie im § 27 für die sexagenarii caelibes et orbi (S. 21 f.). Die
Jungfrauensteuer von 1 °/o in § 29 ist neu, auffallend ist, daß ingenuae
und libertinae denselben Satz zahlen sollen ; von einer Junggesellensteuer
hören wir nichts (S. 22). Neu ist auch, daß nach § 30 und 32 die
Kapazitätsbeschränkungen nur die wohlhabenden Frauen und Männer
mit Vermögen von mindestens 50000 bzw. 100000 Sesterzen treffen
(S. 23). Zu § 31 s. Iur. Papyri S. 324.
Umstritten ist die Bedeutung des Passus in § 33 'Piojjiata ob* i£bv
öirfcp tyjV xaXoDfjLevYjv xouy] EjjutT'.wva Statdoaetv. Lenel-Partsch (S. 23 f.)
denken, was ja sehr nahe liegt, ebenso wie Kipp und Gradenwitz,
an die coemptio fiduciaria testamenti faciendi gratia (Gaius I 115 a) und
rekonstruieren den lateinischen Urtext folgendermaßen : mulieri Romanae
praeterquam coemptione facta testari non licet (ohne coemptio kann eine
römische Frau nicht testieren), indem sie Unkenntnis und Mißverständnis
des griechischen Uebersetzers annehmen. Es müßte dann aber ein außer-
ordentlich hoher Grad von Unkenntnis und Nachlässigkeit vorliegen;
denn ihrer Auslegung steht 1. das örcep , 2. das Staxaooeiv, das im Gno-
mon nicht mit „testieren", sondern mit „vermachen" zu übersetzen ist
(vgl. Ereil er a. a. O. 300), 3. die Außerkraftsetzung des Erfordernisses
der coemptio für die testamentifactio der Frauen seit Hadrian im Wege.
Der zweite Satz des § 33 äysXYJjj.cpö'Y] Se xai X^yatov xaiaXenpö-ev urcö
Tu)jxata<; a<pf]Xcxi TcujjLatöc hat nichts mit dem ersten zu tun, bezieht sich
vielmehr nach Lenel-Partsch (S. 24 f.) auf die lex Voconia, die nach
ihnen seit der lex Iulia et Papia Poppaea nur noch auf ledige Frauen
unter 20 Jahren (ätpYJXcxe«;) Anwendung findet. Nach dem Gnomon ist
(in einem einzelnen Falle ?) nicht nur das plus captum, sondern das ganze
Legat eingezogen worden.
Im § 34 über das Soldatentestament stimme ich mit Lenel-Partsch
(S. 26 f.) in Einzelheiten (oTpateta, Ixaotov : s. Iur. Papyri S. 325 f.) nicht
überein. Der § 35 gewährt den liberi und cognati peregrini eines miles
civis R. kein Intestaterbrecht; s. dazu Iur. Papyri S. 326 (Pausan. VIII 43, 5).
Zum § 36 (bona damnatorum) s. Iur. Papyri S. 326 f. ; L e n e 1-
Partsch S. 28.
240 Paul M. Meyer.
Der aus griechischer Vorlage stammende § 70 handelt in seiner
ursprünglichen Form nur von Bußen für die in ihrem Amtsbezirk Kauf-
verträge abschließenden Beamten, das Darlehnsverbot ist nachträglich
hinzugefügt (s. Iur. Papyri S. 335 f.). Bei dem im Gegensatz zum vor-
hergehenden lav jjuev rcapa ISuuxoo öLyopasiuoiv stehenden sav Se npadivta
ist mit Lenel-Partsch (S. 30) entgegen der Auffassung von Schubart
und mir b^opasuiz: zu ergänzen: „wenn sie in öffentlicher Ankündigung
ausgebotene Gegenstände kauften." In diesem Falle besteht die Buße
in dem Betrage , den diese Gegenstände nach Treu und Glauben , d. h.
ohne die unzulässige Einmischung der Beamten, erbracht haben würden
(S. 31). Ähnliche Erwerbsbeschränkungen enthalten die §§ 109—111:
Den Soldaten ist es verboten, in der Provinz, in der sie stehen, Grund-
besitz zu erwerben (§ 111), ebenso nach § 109 den Caesariani, die hier
im engeren Sinne als Subalternbeamte der kaiserlichen Finanzverwaltung
zu fassen sind, meistbietend dem Fiskus angefallene und eingezogene
Güter zu kaufen (s. Iur. Papyri S. 343 f.). Nach § 110 dürfen servi
vicarii nichts für sich erwerben oder Freigelassene heiraten.
Im Anschluß an die Betrachtung des Rechtes der physischen Per-
sonen will ich im folgenden nicht unterlassen, auf zwei Schriften aus
dem Gebiet der Juristischen Personen (s. Mitteis, Rom. Privat-
recht I 339 ff.) hinzuweisen. Steiner behandelt in seinem Fiskus
der Ptolemäer (1914) die Spezialbeamten des ptolemäischen Fiskus,
den ptolemäischen Staat als Vermögenssubjekt, seine Tätigkeit und Res-
sorts und das Forum des ßaoiXixov und seiner Privilegierten. Der Gegen-
stand des lehr- und ergebnisreichen Buches von San Nicolö, Aegypti-
sches Vereinswesen zur Zeit der Ptolemäer und Römer, sind
die Privatkorporationen (vgl. Mitteis a. a. O. 390 ff.). San Nicolö
gliedert seinen Stoff nicht wie Pol and nach den Vereinsbezeichnungen,
er folgt auch nicht der Zweiteilung Ziebarths (nach Gierke) in
Wirtschaftsgenossenschaften und Vereine für ideale Zwecke. Er be-
trachtet vielmehr die Vereine in seinem ersten Bande (1913) nach ihrer
verschiedenen Tätigkeit, sondert dementsprechend Kultvereine, Vereine
von Altersgenossen, agonistische Vereine, Berufsvereine, „ private" und
sonstige Vereine, endlich die l'pavo<;-Vereine , die nach ihm in hellenisti-
scher Zeit unter Zurücktreten der ursprünglichen Kultgenossenschaft als
Darlehnsvereine zu fassen sind; ob sie Kreditvereine waren, die nur
ihren Mitgliedern Darlehen gewährten, ist zweifelhaft. In Band II 1
(1915) behandelt San Nicolö Vereinswesen und Vereinsrecht: Ent-
stehung der Vereine, die Vereinsorgane, das Vereinsvermögen. Der noch
ausstehende Band II 2 soll das innere Vereinsrecht, die Stellung der
Vereine im staatlichen Organismus darstellen, weiter in einem zusammen-
fassenden Kapitel den Begriff der griechischen Körperschaft, der auch
Juristischer Papyrusbericht. 241
im römischen Ägypten, wenigstens für die privaten Korporationen, keine
wesentliche Änderung erfährt, so daß auch auf diesem Gebiet ein unver-
söhnlicher Widerspruch zwischen römischer Theorie und Praxis im Osten
(und auch im Westen) des Reiches besteht. Ein Schlußkapitel wird die
Terminologie behandeln. — Zum Vereinsverbot des Gnomon des Idio»-
logos (§ 108) s. Iur. Papyri S. 343. Zur Inschrift aus Solva über das
collegium centonariorum (Feuerwehrverein) s. unten S. 282.
B. Urkundenwesen.
Demotische Urkunden (s. Iur. Papyri S. 76 ff.) : Das Verfahren
bei der Registrierung demotischer Urkunden stellt sich nach Wilcken
(Archiv VI 433 A. 1) auf Grund des vielumstrittenen P. Paris. 65 (146
v. Chr.) folgendermaßen dar (vgl. Wilcken, U(rkunden der) P(tolemäer-)
Z(eit) Nr. 126 ff. Einl.) : Der fi.ovoypdc<po<; reicht das demotische Original
und eine von ihm angefertigte demotische Kopie (elxovi£eiv == „nachmalen",
eine Kopie herstellen) , auf der die Namen der Kontrahenten und ihre
Personalien von ihm griechisch eingetragen wurden (ivxaaoeiv) , an das
Ypacpsiov ein. Hier bleibt die Kopie ; auf dem zurückgegebenen Original
wird die Registrierung bestätigt. Sollte ein demotischer Vertrag vor
einem griechischen Gericht produziert werden, wird eine griechische
Uebersetzung angefertigt. Zu den bisher bekannten Typen solcher Ueber-
setzungen (s. Iur. Papyri S. 77 f.) tritt jetzt PSI. V 549 (42/41 v. Chr.),
eine Selbstverknechtung auf 99 Jahre (s. oben S. 226).
Nach dem Papyrus Berl. P. 11706 (Schubart, Amtliche Be-
richte aus den staatl. Kunstsammlungen XXXVI 94 ff. , Ein-
führung 302) aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. hat der Vorsteher
der Tempel des Gaus die Tempelnotare (fi.ovoypa<poi) aus den fP"^"
ptatoStSaoxaXot, den Schreiblehrern, auszuwählen. Sie haben den Charakter
öffentlicher Urkundspersonen ; ihre Notariatsgebühren (ypacpeZa) sind tarif-
mäßig festgesetzt und betragen 20 Silberdrachmen für eine Kaufurkunde
mit ihrer Doppelausfertigung („Schrift für Silber" und „Schrift des Fern-
seins"), 10 Silberdrachmen für alle übrigen. Vgl. Iur. Papyri S. 76 f.
Analoga bieten die rcou&oSiSaoxaXot vo[LiY.oi, die Schreiblehrer der byzan-
tinischen Tabellionenschulen, die zugleich Notariatspraxis ausüben; von
ihnen handelt das 'Ercapxtxöv ßtßUov Leo des Weisen aus dem 10. Jahr-
hundert ; vgl. den psah n nomikos n tpolis einer koptischen Wunder-
erzählung bei Steinwenter, Stud. Pal. XIX 65 f. — Ueber demotische
Doppelurkunden s. unten S. 245.
Staatsnotariat: Der äyopavojAoi; tritt uns als Vorsteher des staat-
lichen Registeramtes schon im 3. Jahrhundert v. Chr. (s. Iur. Papyri
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. XXXIX. Band. 16
242 Paul M. Meyer.
S. 87 oben) auch in der Urkunde P. Lille II 31 entgegen, deren Be-
deutung uns erst durch Parts ch und Genossen (Archiv VI 354 f.)
erschlossen ist : er hat die ävaypaccYj der avavecuoi«; einer Hypothek
vorzunehmen (s. unten S. 270). — Daß schon in ptolemäischer Zeit
u,vv]fxovsiov gleichbedeutend mit ayopavojxelov gebraucht wird, zeigt außer
P. Teb. I 166 (107|1 v. Chr.) jetzt auch P. Oxy. XIV 1644, 16 (63/62
v. Chr.).
AtafpatpYj: Wichtig und das Verständnis auch des Bankwesens der
Papyri fördernd ist der Aufsatz Hasebroeks im Hermes LV 113 ff.:
Zum griechischen Bankwesen. Ich gebe eine Uebersicht des für
unsere Materie in Betracht kommenden Inhalts.
Im Athen der Zeit der Redner hat die Bank keine notariellen
Funktionen , man kennt auch noch nicht Maklergeschäfte der Privat-
banken. Die Bank stellt sich lediglich aus Gefälligkeit ihren ein Konto
besitzenden Kunden bei Auszahlung und Ueberweisung von Geldsummen
zur Verfügung. Die Girobank ist zu allen Zeiten die älteste Form der
Bank, die vom Wechsler zum Bankier hinüberleitet (Hasebroek
S. 115 ff. , 142). Das staatliche Bankmonopol wird sich in Athen im
Gegensatz zu Ägypten (vgl. Wilcken, Chrest. Nr. 181) auf das ein-
fache Sortengeschäft beschränkt haben (S. 163 f.). Die Banken sind
meist Privatbanken mit eigenem Reservekapital und Depositengeldern
(S. 165 f.). Es zeigen sich Anfänge zu Gesellschaftsbildungen, offene
Handelsgesellschaften (S. 168), auch stille Teilhaber begegnen uns (S. 168 f.:
l^ürfai ^js TparceCrjs). Die Girodepositen der Athenischen Privatkapita-
listen stellen im 4. Jahrhundert v. Chr. meist, ebenso wie die verzins-
lichen Depositen (S. 146 ff.), nur einen Bruchteil ihres Vermögens dar
(S. 143 ff.).
Die Giroanweisung findet (im Gegensatz zum römischen Ägypten:
b. BGU. 1063; Griech. Texte Nr. 6) in der Regel mündlich und per-
sönlich durch den Anweisenden statt. Hat der Zahlungsempfänger
ein Konto bei der Bank, so wird die Zahlung im Bankhauptbuch
(YpajJLjxateTov, Ypdtfxfiaxa TparceCiTixa) vermerkt; ist er der Bank nicht be-
kannt, muß er vom Anweisenden oder einem Identitätszeugen vorgestellt
werden, auf der Bank findet dann die Auszahlung statt, der Bankier oder
ein Identitätszeuge bzw. gerade anwesende Bankkunden fungieren als
Zeugen, Quittungen werden nicht ausgestellt (S. 119 ff.). Schriftliche
Giroanweisungen kommen nur ausnahmsweise vor, ebenso Kreditbriefe;
Schecks sind noch unbekannt. Den Wechsel kennt das antike Recht
noch nicht (S. 123 ff., 139 f.), aber auch Orderpapiere oder gar Inhaber-
papiere lassen sich im Altertum nicht nachweisen. Entsprechend existiert
ein int er lokaler bargeldloser Ueberweisungsverkehr im Athen der
klassischen Zeit nicht, von überseeischen Filialen athenischer Banken er-
Juristischer Papyrusbericht. 243
fahren wir nichts; aber auch der interlokale Bargeldsverkehr ist gering
(S. 133 ff.).
Was die Bedeutung und Ableitung des Fachwortes 3iaYpacp*fj betrifft,
so betont Hasebroek (S. 128 ff.), daß nicht auszugehen ist von dem
„Umbuchen von einem Konto auf ein anderes im Hauptbuche des Bankiers"
(s. Iur. Papyri S. 94) , sondern von dem am wenigsten entwickelten Zu-
stande des griechischen Giroverkehrs, d. h. dem „einseitigen" Giroverkehr
mit Auszahlung durch die Bank in bar an den Zahlungsempfänger, der
kein Konto bei derselben Bank hat, unter schriftlicher Eintragung ins
Hauptbuch. Vgl. Polyb. XXXII 13, 7 : Scipio Aemilianus ist anweisender
Bankkunde, Ti. Gracchus und Scipio Nasica sind Zahlungsempfänger,
denen als Nichtbankkunden das Geld bar ausgezahlt wird unter Aus-
stellung einer 8iaypa<p-q durch den Bankier. Daraus ergibt sich für
8tayp<£<petv die Bedeutung „zahlen" durch den Bankier und „zahlen" durch
den Bankkunden 8ia tyj<; TparceCvjs, endlich „zahlen" überhaupt. Aiaypacpvy
wird vor allem gebraucht für die Note, welche der Bankier dem An-
weisungsempfänger über die erfolgte Anweisung zustellt und welche die
Form eines Kontoauszuges aus dem Hauptbuche hat (s. Iur. Papyri S. 94 f.).
Das Hauptbuch entspricht dem römischen codex accepti et expensi; jeder
Kunde hat in diesem sein Konto mit der Rubrik „Soll" und „Haben"
(XYjcpöivTa und Tsftevxa). Die SiaYpacpY] enthält die folgenden Bestandteile,
aus denen sich das Schema der ägyptischen SiaYpacpat (s. Iur. Papyri
S. 95) entwickelt hat: 1. Datum. 2. Zahlungsempfänger. 3. causa der
Zahlung (el<; 5 tt; vgl. für die byzantinischen Bankiers Pringsheim,
Kauf mit fremdem Geld 28 f., 164 ff) ; hieraus ist in frührömischer Zeit
die „selbständige" SiaypacpYJ (s. Iur. Papyri S. 96) entstanden. 4. Name
des für den Zahlungsempfänger das Geld von der Bank Abhebenden.
5. Die Summe (s. S. 131 f.).
Neben dem Hauptbuch führt jeder Bankier ein Kassentagebuch
(i<pY]}xept<;, adversaria, ein Konzeptbuch; vgl. für Ägypten Preisigke,
Girowesen 101); in dieses trägt er in zeitlicher Reihenfolge täglich die
ihm überwiesenen Zahlungsaufträge und die durch ihn erfolgten Aus-
zahlungen ein (s. S. 130). — Entgegen der herrschenden Meinung (vgl.
Iur. Papyri S. 94) leugnet Hasebroek mit Philippi die urkundliche
Beweiskraft des YpajAjjiaTelov, des Hauptbankbucbes , und den rechts-
begründenden Charakter der Eintragungen in dasselbe, der für die
römische und mittelalterliche Rechtssphäre sowie für das römische
Ägypten feststeht (S. 153. 163).
Mir nur aus der Erwähnung in den Studi italiani III S. 313 bekannt
ist die Abhandlung von Maroi in den Rendiconti dell' Acc. dei
Lincei Sez. V vol. XXV, 1917, 1227 ff. (sul diritto privato greco nei
caratteri di Teofrastro).
244 Paul M. Meyer.
In der Ptolemäerzeit besteht in Aegypten ein staatliches Bank
monopol, die Banken werden vom Staate verpachtet, sind also in ge-
wissem Sinne Staatsbanken/ die aber nach dem Namen des Pächters ge-
nannt werden. In diesem Sinne wäre ihre Bezeichnung als l8iu>Ttxai
TpdrceCat zu fassen, die wir in P. Oxy. XIV 1639 finden, falls wir die
Urkunde in das 9. Jahr des Ptolemaios Auletes (73 v. Chr.) oder der
Kleopatra VI (44 v. Chr.) setzen könnten. Sonstige Erwähnungen einer
lätcüTcxY] tparceCa finden'wir in Ptolemäerurkunden nicht, vielmehr erst
im Jahre 6 v. Chr. (P. Lond. II 890 S. 168); vielleicht gehört daher auch
unsere Urkunde erst ins Jahr 9 des Augustus. Es heißt in ihr (Z. 8 f.) :
6u.oXoyoufi.sv e^eiv rcapa aoö iit! toü npbq 'Oqupüyx0^ rcoXet Eapaiuetou a xai
8taypd<psTai 8ia rr]<; 'HpaxXet&ou IScodtixyjs xparcsCv]«; ttfi^v .... Vgl. Gren-
fell-Hunt, P. Oxy. XIV S. 56 Einl.
In römischer Zeit besteht nach der neuesten Darstellung Gren-
f e 1 1 - H u n t s (P. Oxy. XIV1639, 3—5 B e m.) wahrscheinlich das staat-
liche Bankmonopol fort, die Banken werden wohl auch jetzt vom Staate
verpachtet, heißen nach den Pächtern, tragen häufig die Bezeichnung
iStcuxtxTj xparceCa. Die hr^oolai Tpdrce£at sind die Staatskassen, „Staats-
banken", wie sie Preisigke (Girowesen 19 ff.) für jede Metropole an-
nahm, gab es nicht. Die Ittitvjpodjisvy] tpdrceCa ist eine zurzeit nicht ver-
pachtete, von einem Beamten als liriTY]p*f)XY;<; xpareeC^jC („Verweser" ; s. Iur.
Papyri Nr. 68 I 3 mit Bern. II 19. 26) kommissarisch verwaltete Bank,
— Als eine „unselbständige" Sklavenkauf-ätaypacpY] aus Alexandreia, und
zwar nach seiner Scheidung eine Girobankbescheinigung (s. Iur. Papyri
S. 95), erweist Preisigke (Sit zungsb er. Heidelb. Ak. d.W. 1916, 3)
den P. Eitrem 5 aus dem Jahre 154 n. Chr., den er mit vielen Ver-
besserungen nochmals veröffentlicht und erklärt.
Bemerkenswert ist die Tpdrce£a eHpaxXsou<; [tc6X(süx;) T]d£eü><; irpioudrrji;
PSI. IV 310 aus dem Jahre 307 n. Chr.
Sechszeugennrkunde (aDYYP01^"^ e§*u,apTi>pos) : Die ooYypacpYj e£a-
jxdpTDpoi; PSI. IV 321 (der älteste ptolemäische Darlehensvertrag:
274/3 v. Chr.; s. unten S. 260) zeigt nicht sieben (wie die Herausgeber
annehmen), sondern, wie üblich, sechs Zeugen; es liegt eine Abschrift
vor. Die Originale der Zeit weisen alle Doppelschrift auf; aber schon
im 3. Jahrhundert v. Chr. finden wir Verkrüppelung der „Innenschrift",
während die „Außenschrift" zur Hauptsache wird (s. Iur. Papyri S. 102;
PSI. IV 379: 249/8 v. Chr., und sonst). Dagegen tritt uns in den beiden
parthischen Dreizeugenurkunden auf Leder aus dem 1. Jahrhundert v. Chr.
(P. Minns; s. Iur. Papyri ^Nr. 36) noch die volle „ Innenschrift " und
„ Außenschrift " entgegen. Unverkürzte Doppelschrift zeigt noch der
lateinische Pferdekauf aus dem Jahre 77 n. Chr. PSI. VI 729 (ebenso
wie der griechische Sklavenkauf BGU. 887 aus Side in Pamphylien vom
Juristischer Papyrusbericht. 245
Jahre 151 n. Chr.); in der lateinischen Sklavenkaufurkunde aus Seleukeia
in Syrien vom Jahre 166 n. Chr. Iur. Papyri Nr. 37 ist die „Innen-
schrift" verkümmert; vgl. Wilcken, Archiv VI 369 f.
Die ooyYPa<P'*] SutXyj locppaYio|xevfj (Rev. Laws 29, 9. 42, 15) erklärt
Wilcken (Archiv VI 387 f.) für einen als Doppelurkunde ausgefertigten
Vertrag mit versiegelter „Innenschrift" und offener, unversiegelten
(äacppdytoTov) „Außenschrift" (ävu-fpacpov; so schon Gerhard). Ent-
sprechend ist aupißoXov SircXoöv ea<ppaYtafjiivov PSI. IV 324, 4. 325, 4 ; P. Ed-
gar Nr. 23 (Ann. du Service XIX S. 16) aufzufassen (vgl. PSI. IV 323. 336.
338. 339. 379. 381. VI 560). Auch die oivixal aoyypacpai xai xa a6jj.ßoXa
sind solche Doppelurkunden, Abmachungen zwischen Steuerpächtern und
Winzern bzw. xdTCY]Xoi (vgl. Klio VI 426 A. 4). — Demotische Doppel-
urkunden aus ptolemäischer Zeit veröffentlicht Spiegelberg, Zeitschr.
Aeg. Sprache LIV, 1918, 111. 114. Ein Königseid in Doppelschriit
ist P. Edgar Nr. 46, der durch die Anführung der berühmten Maitresse
des Ptolemaios IL, Bilistiche, als Kanephore des 35. Jahres inter-
essant ist.
Zu den oovaXXaY|i.aTOYpd<f>oi = öffentlich konzessionierten Privat-
notaren vgl. den Gnomon des* Idioslogos § 100 und 101 (s. dazu Iur.
Papyri Nr. 93 S. 341 und S. 105 f., 108"f., 197). Ich setze ihnen die
yojxoypdt<pot und die vojjluoc P. Oxy. I 34 (= Mitteis, Chrest. 188) I 9.
III 3 gleich. Auch den vopiOYpd<po<; &y°P"S faßte ich entgegen der An-
sicht von Grenfell-Hunt und Preisigke, die in ihm einen Büro-
beamten des äpxtSixaaxvi«; sehen, als konzessionierten Urkundenschreiber,
der auf dem Markte seinen Stand hat (s. Iur. Papyri S. 151). Ob diese
Auffassung auch jetzt noch aufrechtzuerhalten ist nach Bekanntwerden
von P. Oxy. XIV 1654 (etwa 150 n. Chr.), steht dahin. In dieser Ab-
rechnung über Zahlungen an verschiedene Personen finden sich u. a.
folgende Posten : 16 Obolen vojj.oypd(<poi<;) ypdtyai Ö7to|xvY)jj.emo(}j.ou<;)ß,
10 Obolen aipetig YjYeptovwrj«; ßtßXtotK|x(*f]<;), an einen Beamten des bisher
nicht bezeugten „Statthalter-Archivs" in Alexandreia, der Aktenrollen
auszusuchen hat (vgl. daselbst Z. 7 Bern.), 4 Obolen vo\j.oyp&{yoi<;) [&yo]pa[s]
paXXotc Xeyojiivot«; C*^tY]oat 6nopLv[*r)]jj.[a]tiO}x(oü«;) ß xob Äp^iSixactoö. Ich
möchte aber jedenfalls auf den in arabischer Zeit begegnenden vofuxö($)
ayopä(<;) BaßeX<Lvo<; (P. Lond. IV 1550, 15) hinweisen, der sicher Privat-
notar ist.
Offentlichrechtliche Urkunden der Römerzeit : Alle Kategorien
der Kaiser- und StatthaltererlaBse lassen sich für das römische Ägypten
nachweisen: edicta (StaTaYjiaTa ; vgl. E.Weiß, Studien zu den römi-
schen Rechts quellen 81 ff.), decreta (ocrcocpctaei«;), rescripta (ävtiYPa(Pa^
ftiatd&tc) und mandata (IvxoXat, SmoTaXu-ata; vgl. E. Weiß a. a. O. 76 f.).
Über die Formen der Reskripte hat soeben grundlegend Wilcken
246 Paul M- Meyer.
im Hermes LV 1 ff . gehandelt, in mehreren Punkten Preisigke (Die
Inschrift von Skapt op ar ene [sie'!] in ihrer Beziehung zur
kaiserlichen Kanzlei in Rom: Schriften der Wiss. Ges. Straßburg,
1917, Heft 30) berichtigend. Jetzt erst können wir die beiden Gattungen,
die bisher stets miteinander vermengt sind, deutlich scheiden, die sub-
scriptiones (bnoypa.y exi) und epistulae (erciotoXa:.'). Die stets als Antwort
auf eine epistula, meist von Behörden, erfolgende epistula hat Brief-
form und wird durch insinuatio zugestellt. Was ihre Form betrifft, so
folgt auf den Kontext vale (sppcooo) , Datum , Ort , Untersiegelung. Die
subscriptio erfolgt nur unter libelli (ßißXiSta, uTCou.vYjfjuxTa) von Privaten,
die dem Kaiser (bzw. Magistrat) zu eigenen Händen überreicht oder auch
vom Statthalter übermittelt werden. Bis auf Hadrian wird der sub-
skribierte libellus dem Petenten oder seinem Vertreter übergeben. Seit
Hadrian werden alle Kaiser- und Statthalter-Subscriptiones durch pro-
positio bekannt gemacht (nicht nur die , welche Gegenstände von gene-
reller Bedeutung enthalten). In Ägypten werden alle an den Kaiser
adressierten libelli an den Statthalter eingereicht und durch ihn dem
Kaiser übermittelt; die reskribiert vom Kaiser zurückgesandten werden
dann vom Statthalter in Alexandreia proponiert. Und zwar wird nicht
jeder einzelne reskribierte libellus proponiert, sondern in bestimmten
Intervallen Sammelrollen, im Archiv zu Quartalsrollen zusammengestellte
und einzeln numerierte libelli (über libellorum rescriptorum et Alexan-
driae propositorum = tojjio^ c'JY^oXXT^tfxo?, ouyxoXXY4-'.u.a). Der Petent
fertigt sich aus dem Aushang dieser Sammelrollen eine beglaubigte Ab-
schrift an (descriptum et recognitum ex . . . = lYT£TPaM-fJL^vov xat &VTl~
ßsßXY]|jivov sx . .). Was die Form der kaiserlichen Subscriptio be-
trifft, so fehlt stets der Gruß (imperator illi, nicht salutem dicit = yaipscv,
kein vale nach dem Kontext). Am Schlüsse steht von der Hand des
Kaisers: scripsi bzw. rescripsi (sypai.'la, avtsYpa'}a) , von der Hand des
Kanzleichefs a libellis : recognovi (<ävsyvu>v) , die Untersiegelung erfolgt
mit dem kaiserlichen Siegel. Die Statthalter-Subscriptiones tragen
meist an der Spitze das Datum, die Unterschrift lautet: recognovi bzw.
legi (äv^fvouv). Statt dessen findet sich gelegentlich izpo^st; (proponatur)
oder &rto8o<;; beides enthält nach Wilcken (S. 29 ff.) , der einem Vor-
schlage Kipp 8 folgt, einen auf dasselbe hinauslaufenden Befehl an den
Kanzlei Vorsteher: Kpo&zq. den subskribierten libellus aushängen zu lassen,
ärcoSo? (nicht, ihn dem Petenten zurückzugeben, sondern ihn vom Aus-
hang (durch den Petenten) abschreiben zu lassen (&Tto8'.86va'. hier dem
lateinischen edere = copiain describendi facere entsprechend). Auf die
Unterschrift folgt die Aktennummer in der Sammelrolle, die Untersiege-
lung hat wohl niemals gefehlt, dagegen fehlt stets ein Rekognitions-
vermerk des Kanzleichefs. Die Abschrift vom Aushang ist wohl stets
Juristischer Papyrusbericht. 247
eine durch Zeugen und deren Siegel beglaubigte (testatio privata: s.
unten).
Urkunden wesen des römisch-byzantinischen Privatrechts : Im
römischen Privatrecht spielt die Urkunde nur eine geringe Rolle; wir
können scheiden 1. Privaturkunden: a) Dispositivurkunden (nomen trän«
scripticium, schriftliches Testament), b) Beweis- und Zeugnisurkunden,
beglaubigt durch Siegelung und Zeugen (testatio privata). S. Mit-
teis, Rom. Privatrecht 290 ff., 306; Kipp, Quellen des röm.
Rechts4 176 f. 2. Öffentliche Urkunden privatrechtlichen Inhalts lassen
sich erst seit dem 3. Jahrhundert n. Chr. nachweisen in der Institution
der sog. Gestaprotokolle, die ihre Wurzel in den den ägyptischen
Ö7tofAV7]|j.aTi<3}i.oi analogen Amtsprotokollen (commentarii) römischer Be-
hörden haben. Im spätrömischen Recht wird eine Tabellionen- (Privat-)
Urkunde (s. Iur. Papyri S. 112 f.) dadurch zu einer Öffentlichengemacht,
daß sie einer Behörde mit ius gestorum conficiendorum (rectores pro-
vinciae, Munizipal- und kirchlicher Behörde und seit Iustinian besonders
dem defensor civitatis = ex8ixo<;) vorgelegt wird und der Destinatar an
ihrer Statt eine Ausfertigung des Protokolls erhält, welches die betreffende
Behörde über diesen Vorgang aufgenommen hat. Vgl für Aegypten be-
sonders v.Druffel, Papy rologisch e Studien zum byzantini-
schen Urkundenwesen (München 1915) S. 48 ff. und Steinwenter,
Beiträge zum öffentlichen Urkundenwesen der Römer
(1915). Auf den Zusammenhang zwischen antikem und früh-
mittelalterlichem Registerwesen geht kurz ein Steinacker,
Wiener Studien 1902, 68 — 76. Steinwenter untersucht a. a. 0. aufs
sorgfältigste Begriff und Anwendung des ius gestorum conficiendorum;
nach Behandlung der verwaltungs- und prozeßrechtlichen Fälle (s. bes.
die iv.jxaptüpia = sxo<ppaYicjjLata : v.Druffel a.a.O. 39, Steinwenter
46 f.) betrachtet er die privatrechtlichen Anwendungsfälle : sie sondern
sich in Tatsachenanzeigen (Siapiaptupiat; v. D ruf fei 41 ff. , Stein-
wenter 51), rechtsgeschäftliche Anzeigen (Steinwenter 52 A. 3. 4)
und die hier allein in Betracht kommende Errichtung von Rechtsgeschäften
unter Privaten. In erster Linie insinuationspflichtig sind die Schenkungen ;
auch bei der traditio corporalis von Grundstücken, soweit sie im iusti-
nianischen Recht überhaupt noch stattfand (s. unten S. 253), war wohl
Aufnahme von Gesta erforderlich (Steinwenter 52 ff.). In den Papyri
aber lassen sich solche Urkundeninsinuationen bisher nicht nachweisen;
zu diesem Resultat kommt Steinwenter, v. D ruf fei berichtigend,
in seiner Kritik des Druffelschen Buches (GGA. 1919, 35 ff.). v.Druffel
hatte drei Papyri als Beispiele für die behördliche Beurkundungstätig-
keit in Privatrechtssachen in Anspruch genommen. Im P. Heide ib.
311 Verso, von dem er ausgeht, liegt aber eine reine Tatsachenanzeige
248 Paul M. Meyer.
(8tap.apiüpia hier = protestatio) vor (vgl. bes. PSI. I 76), die sich gegen
die eventuelle Ersitzung eines Durchgangsrechts richtet; sie soll der
Gegenpartei durch den exSixo? zugestellt werden, es wird überhaupt kein
Gesiaprotokoll aufgenommen. [Übrigens ist die Urkunde trotz der
Blanketworte (e. v. Druffel 11 ff.) weder als Entwurf (so v. Druffel)
noch als Formular anzusprechen — ein solches besitzen wir nur in dem
von mir (in dieser Zeitschr. XXXV 81 ff.) herausgegebenen Testaments-
formular P. Hamb. Inv.-Nr. 311 — , sondern als verkürzte Abschrift
(s.Preisigke, SB. 16000; Steinwenter, GGA. 1919, 33 f.; Wilcken,
Archiv VI 444)]. Im P. Cairo byz. I 67 006 Verso Z. 79 ff. handelt es
sich auch nicht um Beurkundung einer körperlichen Tradition ; es wird
der Partei vielmehr eine amtliche Bestätigung zu Beweiszwecken (Ixocppd-
YtajAa: s. oben) auf ihr Ansuchen vom exBtxo? ausgestellt. P. Cairo byz.
II 67131 Recto endlich liegt zwar ein Teil eines wirklichen Gestaproto-
kolls vor, dessen Stilisierung offenbar Ähnlichkeit mit den ravenna-
tischen Gesta aufweist, von Solennisierung einer privaten Urkunde ist
aber auch hier keine Rede. Auch in den koptischen Urkunden finden
wir keine Spur von Gestaprotokollen.
Volksrecht der iustinianischen und'nachiustinianischen Zeit im Wider-
streit zum Reichsrecht der Rechtsbücher (vgl. Arangio-Ruiz, Aegyp-
tus I 21 ff.) bieten uns zugleich mit zahlreichen Beispielen der ent-
wickelten byzantinischen (Tabellionen-) Urkunde die Sammlungen griechi-
scher Papyri der P. Monac. Wengers (s. Partsch, GGA. 1915, 427 ff.;
Maspero, Byzantinische Zeitschr. 1914, 1226 ff.), P. Lond. V (s. Wilcken,
Archiv VI 444 f.), P. Cairo byz. I — III (zu I. II s. meine Referate Berl.
phil. Wochenschr. 1912. 290 ff., 1915, 998 ff., zu dem mir nicht zugäng-
lichen III s. B e 1 1, Journal Egypt. Arch. III, 1916, 288 ff.) und z. T. P. Flor. III
(s. Wenger, Krit. Vierteljahrsschr. XVIII 73 f.; Wilcken, Archiv VI
425 ff.). Zu ihnen wird bald P. Oxy. XVI hinzutreten.
Koptisches Urkundenwesen : Eine neue Periode der Erforschung
und Verwertung der koptischen Rechtsurkunden hat jetzt begonnen mit
dem Erscheinen des Buches von Steinwenter, Studien zu den
koptischen Rechtsurkunden aus Oberägypten (Stud. Pal. XIX)1).
Seine Darstellung beruht vor allem auf den beiden neuesten und zugleich
wichtigsten zusammenhängenden Urkundengruppen, den griechisch-kopti-
schen Papyri aus Aphrodito (frühes 8. Jahrhundert) im P. L o n d. IV
(ed. Bell) und den unschätzbaren koptisohen Rechtsurkunden
des 8. Jahrhunderts aus dem Kloster des H. Phoibammon
*) Vgl. auch die Sonderbesprechung des Stein wen t ersehen Werkes
durch Dr. Adolf Berger- Wien im vorliegenden Bande.
Leonhard Adam.
Juristischer Papyrusbericht. 249
bei Djeme (= castra Memnonia, einem Vorwerk von Hermonthis),
deren erster Band 1912 von Crum-Steindorff herausgegeben ist.
Er enthält Kaufverträge, Auseinandersetzungsurkunden, Testamente,
Schenkungsurkunden und Varia. Daneben sind aber natürlich die sonstigen
koptischen Papyrus- und Ostrakasammlungen (s. Wilcken, Grundzüge
S. XII Anm.) benutzt. Steinwenter gibt S. 1 — 5 eine ausgezeichnete
kurze Einführung in die Probleme der koptischen Privatrechtsurkunde.
Das Programm ihrer Rechtsgeschichte umfaßt nach ihm drei Punkte :
1. eine Geschichte der Urkundsformeln und ihrer Klauseln. 2. Darstellung
der in den Urkunden vorliegenden Rechtsinstitute : Byzantinisches Formu-
lar und Recht sind von den koptischen Notaren (vojuxoi) als Nachfolgern
der Tabellionen und sonstigen Urkundsverfasser bewußt oder unbewußt
übernommen, das frühere byzantinische Gesetzesrecht gilt in arabischer
Zeit als Gewohnheitsrecht und Personalrecht der christlichen Kopten.
Materien, die das nach Steinwenter erweisen, sind Kauf, Testament,
Bürgschaft, Stellvertretung, Dialysis, Eid, Straf klausein. Für den Kauf
sind die Formeln und die griechisch-byzantinischen Beziehungen be-
handelt von Boulard, La vente dans les actes coptes (Etudes
Girard I). Die auf gleichen byzantinischen Ursprung (durch das Mittel-
glied von Ravenna) zurückgehenden germanischen (fränkischen) Formu-
lare bieten Analogien. 3. Sonderung des nationalägyptischen Rechtsgutes,
die am schwersten zu lösende Aufgabe.
Als Vorarbeit gibt Steinwenter eine Darstellung der Personen,
die in den genannten koptischen Urkunden der arabischen Zeit als Ver-
waltungs- bzw. richterliche Funktionäre genannt werden. Es sind
a) der dux Thebaidis als Vorgesetzter des Verwaltungsbezirkes der
Thebais mit dem Sitz in Antinoupolis, b) der Pagarch (rcaYapX0?» amrra>
sahib-el-kura), der in den griechischen Statthalterbriefen in den Aphro-
dito-Papyri P. Lond. IV fast immer StotxTjTY^ xu>|j.Y]<;5A<ppo&tTu> (als Pagarchie-
hauptstadt) heißt und dessen Amtsbezirk das dem alten vofjio«; entsprechende
territorium der itoXt? (in den Djeme-Papyri Hermonthis) ist (s. unten S. 275).
Vgl. Steinwenter §2 S. 6— 18. c) Der Dioiket der Djeme-Papyri
(= TcpovoY|T*q<;, (ppovTtoiYji;) , der nichts mit dem Pagarchen zu tun hat,
vielmehr der vornehmste unter den Dorfbeamten ist, und dessen das
Kloster des Phoibammon mitumfassende Kompetenz in erster Linie eine
verwaltungsrechtliche und polizeiliche ist (§ 5 S. 34 — 37); aus ihr ent-
wickelt sich seine Tätigkeit als Friedensrichter, Dialysisrichter (S. 34 — 37).
d) Der Lasane, Dorfschulze, dem byzantinischen tcpu)xox(üjxyjtvj^, dem
arabischen jj.eiCu)v entsprechend (§ 6 S. 38 ff., § 7 S. 52 ff.). „Protokomet"
hat in den griechischen Urkunden der byzantinischen Zeit eine doppelte
Bedeutung: 1. als Amtsbezeichnung = jAetC«>v, jxeiCoxepo«; im 8. Jahr-
hundert (arabisch mazut), koptisch lasane (= XeoAvi?, „Vorsteher") und
250 Paul M« Meyer.
ape („Haupt": so in Schmün), Dorfschulze (Nachfolger des xiufiapx?!«; »'
die früheste Erwähnung eines jj.eiC<i>y <cv\q xcojrf]; ist P. Oxy. XIV 1626, 5:
a. 325). Dieser spätbyzantinisch-arabische Dorfschulze fungiert selten in
der Einzahl, meist finden wir zwei eponyme Lasane (= Protokometen
im engeren Sinn : S. 54) ; der geschäftsführende heißt einmal abusiv
nposSpoq. Die Lasane bilden zusammen mit einem Ausschuß der unter
2. Genannten oder auch allein das Organ, die Vertretung der als xotvöv
(xotvoiYj*;) konstituierten Dorfgemeinde. „Protokomet" ist 2. Standes-
bezeichnung für die ersten Grundbesitzer.. Honoratioren des Dorfes
= jjieiCovsi; , hn nog nrome („große Männer") in den griechischen und
koptischen Urkunden der arabischen Zeit.
Ueberaus lehrreich sind endlich die Darlegungen Steinwenters
zum eigentlichen koptischen Urkundenwesen : Die koptischen Notare der
arabischen Zeit führen den Amtstitel aupLßoW.OYpa'.po<; und vojjl'.xoi;, kenn-
zeichnen sich schon dadurch als Nachfolger der byzantinischen Tabel-
lionen. Wie früher fungieren sie für einen Dorf- oder Stadtbezirk.
Ebenso wie früher finden wir auch jetzt andere beamtete Schreiber
(so den voxapioc,) und nicht konzessionierte Urkundsverfasser, Winkel-
schreiber (S. 62. 66). Noch jetzt läßt sich die Bezeichnung 8y)|a6<3cov
ötp/elov bzw. §yjjjl6ow<; xoko<; für die statio tabellionis nachweisen (S. 65 ;
vgl. Steinwenter, Urkundenwesen 73 ff. ; v. Druff el, Papyrologische
Studien 69 ff.). Der bv:oypayz6s hat, wie wir längst wissen (s. Iur. Papyri
Nr. 7, 10 Bern.), keine notariellen Funktionen, er ist vielmehr stets der
(nicht beamtete) Namensfertiger für den aypd[i.jiaTo<; (dem spätbyzantini-
schen ys'.poxpsor/ji; entsprechend; s. Steinwenter S. 67 ff.). Der vofuxo«;
schreibt in den koptischen Urkunden die g a n z e Urkunde mit Ausnahme
der eigenhändigen Zeugenunterschriften und urcoYpacpai, während in
byzantinischer Zeit nur ausnahmsweise der Vertragskörper , das aoüjxa,
von ihm selbst herrührt, der im allgemeinen nur die Kompletionsformel
(s. unten) schreibt (s. Iur. Papyri S. 112). Der Stil der byzantinischen
Tabellionenurkunde wird in den koptischen genau nachgeahmt. Die
christliche Invokation (S. 26 f.), die Stipulations- und salvatorische Klausel
werden beibehalten, ebenso die Kompletionsformel des Urkundenverfassers
(s. Iur. Papyri S. 113; Steinwenter 61. 64; Gar dt hausen, Stud.
Pal. XVII 1 ff.). Was die Absolutionsformel der Partei betrifft (s. Iur.
Papyri S. 113), so bedeutet das ankaas ebol in den koptischen Urkunden,
wie v. Druffel (Berl. phil. Wochenschr. 1915, 1065) unter Zustimmung
Steinwenters (a. a. 0. 63 f. mit A. 1) feststellt, nicht „wir haben
hinterlegt", sondern entspricht dem absolvimus (Cod. Iust. IV 21, 17),
dimisimus, ötreeXosafisv der Byzantiner.
An die Stelle des byzantinischen Protokolls tritt aber jetzt ein ara-
bisches (S. 26 ff.) : Nach der Vorschrift Iustinians (Nov. Iust. XLIV, 2)
Juristischer Papyrusbericht. 251
muß das repcutoxoXXov vor jede Urkunde treten (s. W i 1 c k e n , Grundzüge
135 A. 3; Paul M. Meyer, Berl. phil. Wochenschr. 1915, 1008; Bell,
Journ. Hell. Studies XXXVII, 1917, 56 ff.; Schubart, Einführung in
die Papyrusk. S. 45 ; Steinwentera. a. 0. 26 — 28; Wilcken, Archiv
VI 440). Es enthält nur griechische Schrift. Das deutlichst geschriebene
byzantinische Protokoll liegt P. Cairo byz. III 67 316 vor (dazu Bell
a. a. 0.). In den koptischen Urkunden aus arabischer Zeit wird das
griechische Protokoll durch ein arabisches bzw. gräkoarabisches ersetzt;
es enthält die Basmala , das islamische Glaubensbekenntnis, das Datum
nach dem Jahr der Hedschra und den Namen des Kalifen bzw. seines
Statthalters oder Finanzministers (an Stelle des comes sacrarum largitio-
num). Das große <E> (= <I>Xauio<;) am linken oberen Rand ist beibehalten.
Ebenso weichen die Aktpräskripte der koptischen Rechtsurkunden
von der byzantinischen Vorlage ab (S. 29—33) : in der Regel folgt auf
das Datum eine stets mit n nah rn (= iicc) beginnende und hier (nicht
— coram, sondern) als Eponymendatierung zu fassende Klausel. Dann
werden die hauptsächlichsten Beamten (ob als Eponyme?) aufgeführt:
der Dioiket (s. oben) und der Lasane (s. oben), in den griechischen Prä-
skripten daneben noch gelegentlich der Pagarch (s. oben) und die jj.etCove<;
(s. oben).
C. Obligationenrecht.
Kauf: Die Lehre vom Kauf im griechischen und römischen Recht
wird auf neue Grundlagen gestellt durch das Buch von Pringsheim,
Der Kauf mit fremdem Geld. Studien über die Bedeutung
der Preiszahlung für den Eigentumserwerb nach griechi-
schem und römischem Recht (Romanistische Beiträge zur Rechts -
geschichte, herausg. von Mitteis, Partsch, Rabel, I, 1916). Aus-
gangspunkt des Buches ist die von Partsch aufgebaute Dogmatik des
griechischen Kaufes. Partschs Ausführungen über die xatafpotcp^ in
P. Freib. II (Sitzungsber. Heidelb. Ak. d. W. 1916, 10) S. 8 ff. konnte
Verfasser noch nicht verwerten. [Korrekturzusatz: Die xatafpacp-^
steht im Mittelpunkte des dritten Teiles des Buches von Schwarz, Die
Öffentliche und private Urkunde im römischen Aegypten:
Abh. Sachs. Ges. d. Wiss. XXXI 3, bes. S. 227-279. 291 f. (hier nimmt
er auf Partsch a. a. 0. Bezug).] Nach römischem klassischem
Recht (Pringsheim 49 ff.) ist maßgebend für den Eigentumsüber-
gang der Übertragungsakt (mancipatio, in iure cessio, Tradition). Nach
griechischem Recht (s. bes. das Theophrast-Fragment bei Sto-
baeus, Florilegium XLIV 22) dagegen ist die Tradition für die Eigen-
tumsübertragung ohne Bedeutung , maßgebend allein die Zahlung des
252 Paul M. Meyer.
Kaufpreises; der griechische Kauf bleibt immer Barkauf (vgl. auch das
ägyptische Recht und das babylonische Recht: für dieses siehe Koschaker
bei W eng er, Krit. Vierteljahrsschr. XVIII 24 f.). Ohne Vollzahlung
tritt Haftung des Verkäufers nur ein durch Hingabe eines (immer
essentialen: vgl. P. Hai. 1, 255 f. unten S. 254) dppaßtov (als arrha
poenitentialis) an ihn , der bei Nichtzahlung verfällt. Die Kaufsache
tritt an die Stelle des Kaufpreises, ist ein Surrogat des Geldes.
Daher verschafft der Kauf „mit fremdem Geld" im Gegensatz zum klassi-
schen römischen Recht nicht dem Käufer, sondern dem ein dingliches
Recht an der Sache, aus dessen Vermögen der Preis gezahlt ist. Diesen
Surrogatsgedanken verfolgt Pringsheim, indem er stets vom Kauf
im allgemeinen ausgeht, in den Quellen des griechischen, hellenistischen,
römischen und byzantinischen Rechts. Die Papyri werden S. 40 ff. und
164 ff. behandelt. Der einzige Beleg in vorbyzantinischer Zeit ist
P. Oxy. III 507 : „Das Surrogat für die Darlehnssumme , nämlich das
vom geliehenen Kapital angeschaffte Heu, wird Pfandobjekt." Vgl. auch
etwa P.Edgar Nr. 36 (Ann. du Service XIX 33 ff.: s. unten S. 260 f.).
Die meist formelhaft gewordene Klausel in den byzantinischen Darlehns-
verträgen und speziell Bankdarlehen , daß der Schuldner das Geld et<;
ISiav xal ävafxaiav xp£^av empfangen habe (s. bes. P. Cairo byz. II 67 126,
16 aus Konstantinopel vom Jahre 541; vgl. auch PSI. VI 703, 8 f.), weist,
wie Pringsheim S. 164 ff. ausführt, auf die auch jetzt noch wie in
demosthenischer Zeit (s. oben S. 243) beibehaltene Sitte der Bankiers hin,
die Verwendung der Darlehnssumme durch den Schuldner in ihren
Büchern zu verzeichnen und dadurch ihren etwaigen dinglichen Anspruch
auf die mit dem geliehenen Kapital gekaufte Sache festzustellen, die als
Surrogat dient (vgl. P. Lond. III 870 S. 235, 4 ff.).
Beeinflussung des römischen durch das griechische Recht in den
Kaufverträgen, besonders über Sklaven, ist wohl in allen Provinzen des
Ostens schon in der frühen Kaiserzeit [erfolgt. Für Aegypten erweist
das P. Hamb. Inv.-Nr. 300 aus dem Jahre 125/6 (s. in dieser Zeitschr.
XXXV 97 ff.; vgl. daselbst S. 101 A. 28), für Kleinasien die Iur. Papyri
Nr. 37 in der Einleitung angeführten BGÜ. 887. 913. 316, für Syrien
Iur. Papyri Nr. 37 und das syrisch-römische Rechtsbuch (Prings-
heim S. 114 ff.). Reingriechische Kaufverträge aus Aegypten zwischen
Römern nach 212 enthalten P. Oxy. IX 1209, PSI. III 182. Umgekehrt
ist das Vorkommen der Tradition in griechischen Kaufformularen bei
Partsch, P. Freib. II S. 26 und BGU. 1128 zu vergleichen. Erst in
byzantinischer Zeit erhält aber die griechische Auffassung, die bis dahin
stets in den Reskripten der römischen Kaiser abgelehnt war, eine gesetz-
liche Grundlage, wenn auch nur in einzelnen besonders geeigneten Fällen
(Pringsheim S. 123 ff.) , durch Inst. Iust. II 1 §41: Iustinian behält
Juristischer Papyrusbericht. 253
die Klagbarkeit des kongensualen Kaufvertrages bei, entnimmt aber dem
griechischen Recht das Erfordernis der Preiszahlung, das in den klassi-
schen Rechtsquellen interpoliert wird, weiter die Funktion der arrha
poenitentialis und den Schriftzwang. Auch die traditio corporalis wird
formell beibehalten, in der Praxis ist sie aber fast vollständig (Aus-
nahmen s. v. D ruf fei, Papyrologische Studien 62 A. 4) ausgeschaltet
und durch das aus der hellenistischen xataypacpY] erwachsene Surrogat
der sog. traditio ficta ersetzt (s. Riccobono, SZ. XXXIII 259 ff., XXXIV
159 ff. ; Partsch, P. Freib. IIS. 25; Steinwenter, Urkundenwesen
53 f. Nicht zugänglich ist mir Brugi, Atti Ist. Veneto LXXV, 1915/6,
1089 ff.)- [Korrekturzusatz: Die Begebung der Urkunde (traditio
cartae) ist nach Schwarz a. a. 0. 279 ff. in den hellenistischen Urkunden
aller Perioden für die Übereignung des Kaufgegenstandes oder die Per-
fektion des Kaufes nicht wesentlich. Ein Prinzip der traditio per cartam
gibt es hier infolgedessen natürlich nicht.]
Das Verständnis des alexandrinischen Gesetzes über den
Kauf von Land, Haus und Hauastellen P. Hai. 1, 242 — 259
ist durch die Ergänzungen von Partsch und Genossen (Archiv VI
349 f. und P. Freib. II S. 18 f. A. 1) so gefördert worden, daß der Text
jetzt als sicher wiederhergestellt gelten kann. Ich gebe im folgenden
eine Paraphrase :
§ 1. Der Käufer und der Verkäufer sollen den städtischen Schatz-
meistern (Ta|juai) 5 °/o bzw. bei Bagatellkäufen unter 50 Drachmen 1 °/o
([ . . äpocxp^v 8s tcuv] lvzb<; (rcevTYjxovxa) : S. 349 f.) als städtische Gebühr
für den Stadtgott Alexander zahlen.
§ 2. Die Schatzmeister sollen die Käufe in den Kaufvertragsregistern
zwecks Beurkundung und Publizität der Verträge (s. P. Hai. S. 149 f.) —
die Kaufverträge waren also damals auch in Alexandreia noch nicht
notarielle : s. Iur. Papyri S. 87 — registrieren (avaypdcpeaO'at) nach Demen
und Phratrien (S. 349) ; und zwar im Demos des Verkäufers unter Angabe
seines und des Käufers Namen, Patronymikon und Demos, sowie des
Monats und Tages des Abgabeempfanges , weiter der genauen Bezeich-
nung des Kaufgegenstandes, seiner Lage und des etwaigen Beinamens
des Ortes, endlich unter Hinzufügung der Namen der icpax-rjps? (S. 339;
so auch in Tenos), der Eviktionsgaranten (— ßeßaiunat, icpoTcwXYjxat), wenn
es mehrere sind , sonst nur des Verkäufers ([xöv &rco86fAsvov]) , der dann
sein eigener Gewähre ist (vgl. Iur. Papyri Nr. 35 I 11 f. mit Bern.).
§ 3 a. Sobald der Verkäufer das Grenzgeld («fyupoopiov : s. Thurioi)
gezahlt und den Kaufpreis empfangen hat, soll er betreffs des Grund-
stückes gegen den Käufer keine Klage mehr erheben können noch außer-
gerichtlichen Gewaltakt (xal &rco[XdßYii rr]v TifA-qv, rfif\ frr]] sotü> a&T<I>c
npb<; töv TCptdcfxevov 8£xy] jj/fiBfepua (xyjS5 l^ayiuyri xf^c] y^S xxa.) : Diese Be-
254 Paul M. Meyer.
Stimmung, wie sie jetzt von Part seh und Genossen hergestellt ist
(S. 350 f.), illustriert die oben (S. 251 f.) gekennzeichnete gemeingriechische
Anschauung, wonach die Zahlung des Kaufpreises maßgebend ist für die
Eigentumsübertragung. Dem Verkäufer stehen nach Empfang des Preises
und Leistung des Grenzgeldes (gleichsam als Abstandshandlung) auch
vor Registrierung des Vertrages keine Klagen irgendwelcher Art gegen
den Käufer zu, auch kein Akt der Eigenmacht.
§ 3b. Denjenigen, die ohne Handgeld kaufen, ist der Kauf und
die Fristabrede nicht wirksam. Wenn aber der Verkäufer den Rest des
Kaufpreises nicht erhält, dann kann er auf Grund des Handgeldvertrages
entweder ein Deckungsgeschäft vornehmen, „ indem er an Stelle des
ersten Käufers in Form einer xaxaYpatprj seine Unterschrift unter die
Kaufurkunde setzt zu dem noch geschuldeten Preise", d. h. die Sache
um den ungedeckt gebliebenen Betrag an einen Dritten verkauft und
dadurch das Recht des ersten Käufers zum Erlöschen bringt. Oder er
kann sich von dem ersten Käufer einen Schuldschein, d. h. wohl ein
fiktives Sdve'.ov, ausstellen lassen, auf Grund dessen er eine vollstreckbare
Forderung erhält (irpaocexou besser als TtcoXetxco) : Toi£ 8s [avso fltppaßüivo«;
t(üvY]]fJLevoi<; |i.Y] xupia saxu) y] ü)VY] jjlyj^e yj 7tpo6"£ajj.[ia. 'Eav Sc xt<; xö Xoircov]
vrfi xtjj.'r^ ji.'f] xopuaYjtai. urcoYpa'f scO-cu rcpö [xoö TCpitfjxevou Trpo? xö] ocpeiXojievov
(ich hatte Griech. Texte S. 45 an bno*(pa.yk<zd'u> 7tpö[<; xo unö xoü rcp'.afiivoo]
b'f eiXo^evov gedacht : er soll sich von dem säumigen Käufer ein Pfand
zur Sicherung der restlichen Kaufsumme bestellen lassen) yj ouvYpa^v
cuvYpa'-fssfl'cu xa[l o5xüji; rcpaojsxoo] yj jjiyj loxco a6xü)i xoju£y4. Parts ch
hat hier in glänzender Weise den Text nach Theophrast und dem syrisch-
römischen Rechtsbuch hergestellt (P. Freib. a.a.O.). Eine Anwendung
der an zweiter Stelle stehenden Alternative der Ausstellung eines fiktiven
Sdveiov durch den säumigen Schuldner zeigen P. Lille II 34, wo
Z. 2 nach Partsch und Genossen (a. a. 0. 355) zu ergänzen ist:
cxpeiXtuv [Y<ip }jick xaxa GOYYP^fV Savetoo] xtfiY^s] xaXxoö (8paxjJ.«<;) e, und
die alexandrinische da'fdXsta der augustischen Zeit BGU. 1146.
Die einzige Sklavenkaufurkunde (covyj 7tai8toxY)<;) aus vorrömischer
Zeit auf Papyrus, P. Edgar Nr. 3 (Annales du Service XVIII, 1918,
164 ff. ; s. Wilcken, Archiv VI 449) aus dem Jahre 258 v. Chr., stammt
nicht aus Ägypten, sondern aus dem Ammoniterland (Bipxä xy;<; 'Ajj.p.a-
vixtSo<;\. das damals ptolemäisch war (vgl. auch PSI. IV 406. VI 554;
P. Edgar 4. 14). Sie hat die Form einer Sechszeugenurkunde mit Innen-
und Außenschrift. Gegenstand des Kaufes ist eine Sklavin H^pa^l^
(vgl. P. Edgar Nr. 25), 7 Jahre alt, der Kaufpreis beträgt 50 Drachmen:
dtrceSoxo 6 Sslva x&i Sslvt 7tou8tcxY]v xtva cuv:ov y(i ovopLa £ . . . . SpaxjAo&v 50.
— Über Sklavenkaufurkunden der römischen Zeit siehe oben S. 252 f.
Zum Adilenedikt in den peregrinen Kaufurkunden siehe E. Weiß,
Juristischer Papyrusbericht. 255
SZ. XXXVII 156 ff. (vgl. Iur. Papyri S. 117 und Nr. 37). Vom babyloni-
schen Sklaven- und Marktkaufsrecht handelt im Anschluß an Hammurapi
§ 280 f. Koschaker a. a. 0. 101 ff. Während das alexandrinische Recht
(s. P. Hai. 1, 219 — 222) und das römische (s. den Verkauf trans Tiberim)
die Versklavung eines Bürgers im Inlande verbieten, wird durch das
babylonische Recht sein Verkauf ins Ausland untersagt (s. Koschaker
a. a. 0. 106 A. 12; W enger, Krit. Vierteljahrsschr. XVIII 20).
Ein hochwillkommenes Gegenstück zum römischen Sklavenkauf Iur.
Papyri Nr. 37 vom Jahre 166 aus Syrien und seinen Parallelen in griechi-
scher Sprache (s. daselbst) bietet der lateinische Pferdekauf P S I. VI 729
vom Jahre 77 n. Chr. Beide zeigen noch die im Osten heimische Doppel-
schrift; die „ Innenschrift " der Kaufurkunde vom Jahre 77 war voll-
ständig, die der vom Jahre 166 dagegen verkürzt. Ebenso fehlt in diesen
beiden in Ägypten und Syrien aufgesetzten Verträgen das mancipioque
accepit nach emit (Z. 1); an die Stelle der Manzipation tritt die Tradition,
die einfache Übergabe (Z. 6; vgl. Nr. 37, 15). Ich gebe den besser er-
haltenen Text der „ Außenschrift u des Pferdekaufs mit einer von mir
vorgeschlagenen Ergänzung:
1 [C. Vale]rius Longus eq(ues) ala Apria(na) emit equom Cappa-
docem nigrum [[n]] dr(achmis) Aug(ustis) (duobus milibus septingentis)
de C. Iul[io]
2 [Ruf]o (centurione) leg(ionis) XX[I]I. Eum [e]quom esse bibere,
ita ut bestiam veterinam adsole[t], extra [quam]
3 [si recte di]etum descriptum quod palam corpore esset, et si quis
eum evicerit, tu[nc]
4 [quantum id erit, t(antam) p(ecuniam) . ^ I l[am], uti a[d]solet,
p(robam) r(ecte) d(ari) stipul(atus) est C. Va[l]erius, spop(ondit) C. Iulius
Rufus (centurio). Eas[q(ue)]
5 [dr(achmas) Aug(ustas) (duo milia septingentas) dejixit se accepisse
et habere C. Iulius Rufus (centurio) ab C. Valer[i]o Lo(ngo) [em]tore e[t]
6 [tradedisse ei s(upra) s(criptum) equom b(onis) c(ondicionibus) ?] .
7 [Actum Ort ] r[ . . ] VII Idus Iul n* las Imp(eratore) Vespasiano
fiX, Domitian[o] Caes(are?) f(ilio) [V] cp(n)s(ulibus) . . [ ]
8 [ ] : Für an[no IX] | [Imp(eratoris) Caes(aris)
Vespasiani Aug(usti) mense Payne (bzw. Epeiph) die XIII (bzw. XV)] ist
kein Platz.
Der Text gliedert sich nach derselben Disposition wie die römischen
Sklaven- und Tierkäufe auf Wachstafeln und Papyri: a) die auf den
Käufer abgestellte emptio venditio (Z. 1 f.), b) Gewährleistung des Ver-
256 Paul M. Meyer.
käufers für Gesundheit im Sinne des ädilizischen Edikts (Z. 2 f.), c) Haf-
tung für Entwehrung (Z. 3 f.) , d) Bekenntnis des Verkäufers über die
Preiszahlung und die durch ihn vollzogene Tradition des Pferdes (Z. 4 — 6),
e) Datum und Ort, der ausgefallen ist (Z. 7 f.). Ein Kaufbürge fungiert
nicht. Unterschriften fehlen, wie in den reinrömischen Manzipationg-
urkunden.
Die Lücke Z. 2/3 unseres Papyrus läßt sich nach dem Wortlaut
des edictum aedilium curulium de iumentis bei Ulpian. D. XXI 1, 38 pr.
mit Wahrscheinlichkeit, wie ich es im obigen Text getan habe, ergänzen:
extra [quam si recte dijctum descriptum quod palam corpore esset, „es
sei denn, daß von ihm rechtsgültig vor Zeugen ein körperlicher Mangel
angegeben und beschrieben ist* ; vgl. D. 1. 1. : qui iumenta vendunt, palam
recte dicunto , quod in quoque eorum morbi vitiique sit ; D. 1. 1. 1 pr.#
s. Iur. Papyri S. 117. Die Ergänzung des Herausgebers . . edijctum ist un-
richtig. — Die Worte der Gewährleistung des Verkäufers für „Gesund-
heit" des Pferdes : eum [ejquom esse bibere , ita ut bestiam veterinam
adsole[t] , die nicht von sanitas sprechen , entsprechen dem nur für die
caprae überlieferten Manilianischen Formular bei Varro (rerum rusti-
carum lib. II 3, 5): de emptione aliter dico atque fit, quod capras sane
sanas nemo promittit .... itaque stipulantur ... sie: 'illasce capras hodie
recte esse et bibere posse habereque recte licere, haec spondesne?' Aber
von den equi heißt es bei Varro (II 7, 6) ausdrücklich : emptio equina
similis fere atque boum et asinorum .... und das Stipulationsformular
der boves domiti lautet (II 5, 10) : 'illosce boves sanos esse noxisque
praestari5, in bezug auf die asini heißt es (II 6, 3): in mercando item
ut ceterae peeudes emptionibus et traditionibus dominum mutant et de
sanitate ac noxa solet caveri. Dagegen sagt Ulpian. D. XIX 1, 11, 4
allgemein in bezug auf alle iumenta : \ . qui iumenta vendidit (sie), solet
ita promittere, esse bibere ut oportet'; das sanum esse scheint also
später aus dem Formular der iumenta (= veterinae bestiae: s. Festus
369 M ed. Lindsay p. 507; Nonius ed. Lindsay I p. 19) gestrichen
und durch das für die caprae ersetzt zu sein.
Als Gegenstück zu den beiden eben besprochenen] Mobiliarkauf-
urkunden aus den römischen Provinzen Syrien und Aegypten führe ich
den lateinischen, nicht weit von der Stadt Franeker im holländischen
Friesland gefundenen Kaufvertrag über einen Ochsen an. Er ist zuerst
von Vo 11g raff (Mnemosyne XLV, 1917, 340 ff.) veröffentlicht und er-
klärt, sodann von A. G. Roos (ebendort XLVI, 1918, 201 ff) und Bois-
sevain (Revue Et. anciennes 1919, 91 ff.: mir nicht zugänglich) mit neuen
Lesungen versehen und neu erörtert, endlich von Cuq (Compt. rendus
de l'Ac. Inscr. et B.-L. 1919, 265 ff.) vor allem nach der juristischen Seite
einer Revision unterzogen worden. Vom Triptychon ist nur die Mittel-
Juristischer Papyrusbericht. 257
tafel mit der Innenschrift (A : S. 3) und den Zeugenbeischriften (B : S. 4)
erhalten. Ich gebe zunächst den Text, wie er sich nach der Revision,
besonders was die Auflösung der Abkürzungen betrifft, gestaltet:
A 1 Gargilius Secundus n(ummis)
CXV a S[t]el[o] Reperii
Beeoso vila Lopetei
r(ecte) ita uti l(iceat habere) bovem
5 emi teste Cesdio (?) c(enturion)i
l(e)g(ionis) V, Muto (?) Admeto (?)
c(enturion)i leg(ionis) I. R(edhibitio) i(us) c(ivile) a(bsunto). Emtum
C. Fuufio (sie) Cn(aeo) Min-
icio co(n)s(ulibus) V [I]d(us) S(eptembres) [t]r(adi) pr(omiserunt) Lilus,
10 Duerretus vet(erani).
B 1 T(itus) Cesdius T(iti) f(ilius) leg(ionis) V,
M(arcus) Iunnius M(arci) f(ilius),
Ti(berius) Atevus Erepus
leg(ionis) V, Nume-
5 rii f(ilius),
C. Aius Ti(berii) f(ilius) Seceduus (sie) <signaverunt>.
V(enditoris) ipsius (sc. signum).
Danach ist die Urkunde subjektiv stilisiert (Z. 5: emi), ein Chiro-
graphum , Beweisurkunde über einen abgeschlossenen Kaufkonsensual-
vertrag. Käufer ist ein civis R., Gargilius Secundus, wohl ein negotiator;
Verkäufer ein Friese, Stelus, Sohn des Reperius, heimatsberechtigt auf dem
Hofe eines Galliers, Lopeteius, im Gau der Beeosi. Als Zeit der Urkunde
ergeben sich nach den Ausführungen von R o o s die Jahre 12 v. Chr. bis
28 n. Chr. bzw. 47 — 58 n. Chr. Wahrscheinlich haben wir das letztere
anzunehmen. Die Konsulnamen Z. 8 f. führen uns nicht weiter, zumal
da der erste durchaus unsicher gelesen ist; es handelt sich um sonst un-
bekannte consules suffecti.
Sind nun aber die Worte (Z. 7 ff.) emtum ... V [I]d(us) S(eptembres)
als Datum der Urkunde anzusehen? Dagegen erklärt sich Cuq wohl
mit Recht. Es spricht dagegen erstlich das emtum, das nicht als Ersatz
für actum stehen kann, weiter daß bei entgegengesetzter Annahme das auf
die Kaufbürgen bezügliche [.] rpr Lilus, Duerretus vet(erani) dem Datum
nachhinken würde. Endlich müßte dieses nach den Gepflogenheiten des
römischen Chirographum ohne epistolare Form am Kopfe der Urkunde
stehen. Wir dürfen die Worte also nicht als selbständigen Satz auf-
fassen, sondern müssen sie verbinden mit dem folgenden: [.] rpr Lilus . . .
vet(erani); in diesen Worten steckt dann Prädikat und Subjekt eines
Satzes, das emtum = emtum (bovem) enthält das Objekt. Dadurch wird
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. XXXIX. Band. 17
258 Paul M. Meyer.
schon die Auf lösung des rpr durch Voll g raff, Roos und Boissevain
mit r(ebus) p(raestari) r(ecte) ausgeschlossen. Sie ist schon an sich durch
die Stellung unwahrscheinlich; die uns in den Notae iuris des Valerius
Probus (Coli. libr. II S. 147, 58) überlieferte Form lautet: r(ebus) r(ecte)
p(raestari), ebenso steht bei Ulpian., D. L 16, 71 und VI 1, 19 his rebus
recte praestari. Aber auch sachlich sind die Worte hier nicht am Platze;
es handelt sich nicht darum, *ne quid periculum vel damnum ex ea re
stipulator sentiret', wie Cuq hervorhebt. Er schlägt statt dessen unter
Berücksichtigung des vor rpr ausgefallenen einen Buchstabens vor zu
lesen: [t]r(adi) pr(omiserunt) und versteht den letzten Satz so: „Die
Kaufbürgen L. und D. haben sich "(durch Stipulation) verpflichtet, daß
der gekaufte Ochse am 9. September .... tradiert wird." Ob die Be-
ziehung der Datierung auf die Traditionsübergabe richtig ist, scheint mir
nicht sicher. Richtig ist aber, daß der Kaufgegenstand noch nicht seitens
des Verkäufers tradiert ist. Daß der Kaufpreis vom Käufer gezahlt ist,
wird nicht vermerkt und ist auch nicht wahrscheinlich, Pränumerations-
(Lieferungs-) Kauf liegt nicht vor. Die Parteien haben sich auf den
Kaufpreis in Höhe von 115 nummi = denarii geeinigt, dadurch ist der
Kauf zustande gekommen, die beiderseitigen Bedingungen sind noch nicht
erfüllt. Die Aufsetzung der Urkunde ist nachlässig; Datum und Ort
fehlen, ebenso die durchaus übliche nähere Beschreibung der Kaufsache,
des Ochsen; s. auch B 4 f .
Fehlt nun auch die Haftung des Verkäufers für Rechts- und Sach-
mängel oder irgend eine Beziehung auf dieselbe? Nach der Lesung von
Vollgraff und Roos müßte man das annehmen; mit Recht tritt dem
Cuq entgegen, indem er andere Auflösungen für Z. 4 und 7 vorschlägt.
Z. 4 lasen die Früheren 'rite uti l(icet) bovem emit (sie)'; rite bedeutet
aber stets „in der nach Zivilrecht gehörigen Form", bezieht sich auf
formale Rechtsgeschäfte und ist hier beim Konsensualkauf des ius gentium
nicht am Platze. Cuq liest daher wohl mit Recht er(ecte) ita uti l(iceat
sc. habere possidere cet.) . . . emi5, „ich habe den Ochsen so gekauft,
daß ich volles Eigentum und Besitz an ihm erhalte unter Eviktionshaf-
tung des Verkäufers".
Es bleibt noch Z. 7: r. i. c. a. Roos faßte dies als er(atio) i(uris)
c(ivilis) a(besto)'; da ist ratio zum mindesten überflüssig, es heißt stets
nur eius civile abesto\ und so ist auch der zweite Teil aufzulösen. Den
ersten Teil, das r, löst Cuq scharfsinnig und einleuchtend auf in r(ed-
hibitio). Danach soll also 1. Rückgabe des Kaufpreises bzw. der Kauf-
sache wegen Sachmängel, 2. das ius civile, vor allem die mancipatio, im
vorliegenden Fall ausgeschlossen sein. Also liegt, wenn 1. richtig ist,
simplaria venditio vor (s. Papinian., D. XXI 1, 48, 8) = &jcXyj d>v^ des
syrisch-römischen Rechtsbuches (§ 39. 113b; s. Bruns-Sachau in der
Juristischer Papyrusbericht. 259
Ausgabe S. 206 ff.) = drcX-?] (ävaitoSoto-;) itpäcti; der Basiliken (XIX 10, 48);
ygl. auch Mitteis, SZ. XXXII 348 zu P. Cairo Preis. 1; Rabel, Rom.
Privatrecht 465 ; E.Weiß, SZ. XXXVII 172 A. 3. Die Fehlergarantie,
und damit die redhibitio, wird ausdrücklich wegbedungen. Wegen dolus
malus haftet natürlich der Verkäufer, auch vom Wegfall der Preisminde-
rung ist nicht die Rede (ebensowenig D. XXI 1, 48, 8). Die Haftung
für heimliche Mängel wird also nicht prinzipiell abgelehnt wie beim
ägyptischen Tierkauf (s. Jur. Papyri S. 116) und bei Gellius, N.A. VI 4, h
Gegen meine Erklärung (Griech. Texte Nr. 7 Einl., vgl. auch daselbst
Nr. 5. 12) aller als Lieferungskauf gefaßten Urkunden ohne bezifferten
Kaufpreis als solcher über datio in solutum haben sich mit gewichtigen
Gründen gewandt Wenger, Deutsche Literaturzeitung 1917, 1299 f.,
San Nicolö, Krit. Vierteljahrschr. XIX 65 ff., Grenfell-Hunt,P. Oxy.
XIV 1639 Einl.; unentschieden läßt die Frage Bell, P. Lond. V 1656.
1764. 1774 Einl. Siehe jetzt auch de Francisci, La dottrina bizan-
tina della 'datio in solutum5 di fronte al materiale papirologico: Aegyp-
tus I 302 ff.
Neue Kaufverträge aus byzantinischer Zeit liegen vor P. Lond. V
1686 (a. 565, Aphrodito: Käufer ist ein Kloster, das die Steuern über-
nimmt). 1722 (a. 573, Syene, Hauskauf). 1724 (a. 578— 82, Syene, Haus-
kauf). 1733 (Hausteilkauf, Auflösung einer communio pro diviso). 1734.
1735. Nr. 1730 enthält die Zession (rcapa^P^0^) eines Hauses gegen
Übernahme der Verpflegung der Mutter des Verkäufers. Koptische Ver-
kaufsurkunden s. oben S. 249.
Pacht: Pachtverträge über Katökenland aus dem Ausgange der
Ptolemäerzeit sind P. Oxy. XIV 1628. 1629. — Ein an den Verwalter
eines Großgrundbesitzers gerichtetes Pachtüberangebot auf Privatland
liegt vor P. Oxy. XIV 16 30 (a. 222 p.Chr.?): rcpoccpspstv $C aipiosi»z
(bzw. xatoc tt-<; al&easoD«; ahxiov) akXuQ Ixrpiaq (Spa/pta*;) 200 bzw. 1552.
Zum iniö-eu-a vgl. Iur. Papyri Nr. 38, 24 f. ; M i 1 1 e i s , Grundzüge 196 A. 1 ;
Wilcken, Cbrest. Nr. 348 Einl.; P. Ryl. II 97, 5 Bern. Siehe auch das
Kauf Überangebot (urcspßoXtov) P. Oxy. XIV 163 3 (a. 275 p. Chr.) auf
airpaxa vffi &to(xvj<jett>£J auf unbebautes, vom Fiskus konfisziertes ehe-
maliges Privatland, das infolge vergeblichen Ausgebotes bei der 7tpoy.Yjpo£i<;
(vgl. PSI. IV 434, 11) auf die arcp&T«-Liste gesetzt war (vgl. Iur. Papyri
Nr. 57, 26 f., Nr. 93 §70 S. 335 f.; Plaumann, Idioslogos S. 12 f. 64).
— Angebote auf Dattelpalmernte enthalten P. Oxy. XIV 1631, 20 ff.
(a. 280 p. Chr., Parallelen s. in der Einl.) und 1632 (a. 353).
Neue byzantinische Pachtverträge sind unter anderem P. Lond. V
1688—1698, P. Flor. III 279. 281—283. 286. 342, P. Cairo byz. I 67101 ff.;
Hausmiete PSI. VI 709. Ein noch unveröffentlichter großer Aphrodito-
Papyrus ist P. Hamb. Inv.-Nr. 175 R. Um Teilpacht handelt es sich
260 Paul M. Meyer.
P. Lond. V 1694 (s. die Ein].). 1698. 1841; vgl. auch P. Hamb. I 23,
29—32; P. Giss. I 56, 15 ff.; P. Flor. III 279, 13 ff. 282, 26ff. Add. —
Eine Pacht-societas (xoivwvia) ist P. Lond. V 1705 (sonstige societates
Nr. 1794. 1795, vgl. P. Cairo byz. II 67158/9).
Lehrlingsyerträg'e (vgl. Iur. Papyri Nr. 42 u. S. 127 f.): P. Oxy.
XIV 1647 (saec. II ex.), zwischen dem Meister, einem yspSco«;, und der
Eigentümerin eines unmündigen Sklaven; Z. 44 ff. wird bestimmt: x[oj]v
V^i<% t&XV7]<» x[etpio]va£t(«v xa[l] Hi&ooeav x[sXs3jjJ.axu» ovxouv izpb$ [xo]v h':-
SasxaXov. Die Gewerbe- und Gildeneintritts-Steuer fällt dem Meister zu ;
zur Frage s. Iur. Papyri Nr. 42, 17 Bern. PSL IV 287 (a. 377) ist ein
Vertrag zwischen dem Meister, einem xapoixdpios xrv xr/vYjv (s. Reil, Ge-
werbe S. 98), und dem Vater des unmündigen Lehrlings. PSI. VI 710
(saec. II) ist wohl kein Lehrlingsvertrag.
IMenstverträge mit ländlichen Arbeitern (s. Iur. Papyri S. 128)
sind P. Oxy. XIV 1631, 1—20 (a. 280; Angebot: exoüsiüx; e-'.or/6u.sfra
fi'.-O'OJGasfrai i'f' evtautoy sva . . . . xa &f&iceXoop'rtxä IpTa rcdvxa xoü bnäpyovxo^
ooi . . . ajMteXtxoo xx^axo«; . . . .; zu den Einzelheiten vgl. die Bemerkungen
Grenfell-Hunts). 1692 (a. 188: Ipfotuo» *Aw{»v... 'AjtÄra.. . hcl
Ivtaoxov Iva . . . xa au.irsXoüp*(".xa y spixa spya rcdvxa . . .).
In dem TransportTertrag über (requirierte?) Kamele P. Bas. 2
(a. 190) ist die Bestimmung (Z. 10*f.) interessant: eav Se rcx?[b]vj xi<<;>
e| [a]ötu)[v xaca xrjv oSov, oToojjlbv 6u.[e]:v xy^v wpp[a}ret8o xal D&dlv
Cr^xYjO-fjoJexai rcpo[<;] ^piäc. Fällt eines der Tiere unterwegs, so sind die
Kamelführer durch Überbringung der Tiermarke (z^pa^), die sie aus
dem Fell ausschneiden, von jeder Haftung befreit. R a b e 1 knüpft hieran
höchst interessante rechtsvergleichende Bemerkungen aus dem indischen,
grusinischen, jüdischen und deutschen Rechte (S. 14 ff.).
Darlehn : Drei bemerkenswerte Darlehnsverträge des 3. Jahr-
hunderts v. Chr. liegen vor in PSI. IV 321 = P. Edgar Nr. 1 , PSI. IV
389 und P. Edgar Nr. 36. PSI. IV 32 1, wahrscheinlich aus dem
Jahre 274/3 v. Chr., ist die älteste uns bekannte ptolemäische Darlehns-
urkunde. Ein unvollständiges Duplikat'enthält P. Edgar Nr. 1 (Annales
du Service XVIII 162). Danach ist PSI. IV 321 Z. 7 ff. zu lesen (s. PSI.
VI S. IX) : Toüxo 8' loxiy] 4) tijxyj xoö ßac'.Xixoö [clxoo (übergeschrieben :
[xoxod oj<; tcsvxs?] o*payu.ü>v x9jt fivat exasxr^). 'ArcoSoTou 8s 'Ijsiooupo; Kot.
Die Vollstreckungsklausel (s. unten S. 276 i.y mit einleuchtenden Ergän-
zungen W engers (Krit. Viertel jahrsschr. XVIII 79) lautet (Z. 13 ff.):
xal •/] rcpä£'.<; eaxc» [Aiovua(u>s. Ix xü>v urcjapyovxcuy xcöv 'Iat^wpoü [xal x<üv xoü
I^ooü] (nur Realexekution , Haftung des Schuldners und Bürgen ; vgl.
W eng er a. a. O., P. Hamb. I S. 104, P. Hib. I 94) 7ipa33ovxi *c,6kov ov
[av pooXrjtat (s. Jörs, SZ. XL 14 A. 3)] &*(?) *pö? ßaotXcxa. Im P. Edgar
Nr. 36 (255/4 v. Chr.; Ann. du Service XIX 34 f.) lautet diese Klausel:
Juristischer Papyrusbericht. 261
Y] 8s] TCpä£i<; I'otü) Z*/jvojv. ex xs a'Jtdiv [x«l xJiv eyY^^v xal T(^v ürea'px6vx«>v
a5xot<; Tcavt]u)v (Li; upo; ßaa'.X'.xa (s. unten S. 277). In allen diesen Zeugen-
urkunden (auch in PSI. IV 321) beträgt die Zeugenzahl, wie immer,
sechs (nicht sieben) einschließlich des a'JYYPacPocP^a£ (zu den thrakischen
Namen der Zeugen in PSI. IV 321 s. Wilcken, Archiv VI 385). In
PSI. IV 389 (243/2 v. Chr.) ist Darlehnsgeber, wie in P. Edgar Nr. 36,
der bekannte Zenon, der bezeichnet wird als Zvjvouv 5AYpsö<f>&vxo<; Kaovco^
rcapsiu§7]p.o<; (s. PST. VI S. XIII); es liegt Umwandlung einer Darlehns-
schuld von 445 Drachmen nach Zahlung von 295 Drachmen in eine Rest-
schuld von 150 Drachmen vor. Z. 4 f. (vgl. Plaumann, P. Gradenwitz 10
S. 56) ist etwa zu ergänzen: Toöxo o° eaxiv xö apY^ptov o aovEXwpY)[aev 6
Nixav8po<; e/s'-v rcap' a5x]oö avxi xä>v ujxe (8paxjJ.<Jüv) ä[<; upouKpsiXev] rcpös
äi; xal reaps860"fj(cav?) 'HXioowpcui xd>t ßaatXixtöc. rcpaxxopi «[pYüpioo (Spa^jJ-at)
aqe. 'AtcoSoxcd 8]| xoö Savsioo xoutod xa[xa fJLYjy« ixaoxov] xö ircißaXXov,
apYüptoo (8paxfAa^) xe, &pxopisvo<; öuiö 'Erccicp jjltjvo«; xoö e (exoo<;). Die Voll-
streckungsklausel (Z. 7 f.) lautet : xal 4] repä?'.<; eotoj Z^vom xaxa xoö<;
vopLOu^ xa[l xö StaYpajxjxa (s. dazu Jörs, SZ. XL 13 ff. ; unten S. 277).
vEyyüoi; xoö Ntxd]v5pot) xoö Sayscou et«; exx[toiv (s. unten S. 262) 4] 8slva]
Etoivou üepotvY) fxsxd xuptou ... In P. E d g ar Nr. 3 6 gibt Zenon sechs
YecupYoi ein Gelddarlehn von je 10 Drachmen, drei anderen von je
8 Drachmen sl$ xijayjv oKo£oyioo. Bis zum Monat Pachons soll die Rück-
gabe des Geldes erfolgen oder eines üTcoCoytov als Surrogat für die Dar-
lehnssumme (vgl. oben S. 252 zu P. Oxy. III 507: Pringsheim). Zu
P. Oxy. XIV 1644 (63/62 v. Chr.) s. S. 263 f.
Abstrakte Literalverträgre des griechischen Rechts : Bran-
dileone (Rendiconti R. Acc. di Bologna, Ser. I Sezione
giurid. 1919/2 0) bestreitet die Existenz oder gar Klagbarkeit ab-
strakter Literalverträge im griechischen Recht, wie schon früher Gneist
(Formelle Verträge 413 ff.) und Be auch et (Droit prive IV 78 ff.), und
wendet sich gegen die Annahme des Gegenteils durch Mitt eis (Reichs-
recht 459 ff., Grundzüge 116 f.; s. auch Paul M.Meyer, Klio VI 422 ff.
436. 450). Er leugnet überhaupt mit Gneist gegen Mitt eis (a. a. O.
514 ff.) für die Verträge des griechischen Rechts den essentialen Charakter
der Schrift (S. 87 ff.). Im einzelnen behandelt er Gaius III 134 und den
viel umstrittenen, auch jetzt noch nicht klaren Ps. Asconius in Verrem
II 1, 36 §91 (S. 15 ff; vgl. auch Kniep, Gai commentarii 112, 222 ff.).
Die als Beispiele des abstrakten Literalvertrages in Anspruch genommenen
Inschriften und Papyrusurkunden analysiert Brandileone und kommt
mit Recht zu dem oben angegebenen Ergebnis. Es sind a) die Urkunden
der Nikareta-Inschrift (S. 36 ff., 47 f. : zum o6y*(payov tritt die ojxoXoyioc
als zweite Obligation hinzu, die mit ihr ein Ganzes bildet und die causa obli-
gationis für beide enthält) und die Arkesina-Inschrift aus Amorgos (S. 46 f.),
262 Paul M. Meyer.
b) (S. 51) die ein Schuldversprechen hinsichtlich des Restes einer schon
bestehenden Darlehnsschuld enthaltenden Papyri P. Paris. 8, P. Reinach 8
und 31: zu ihnen ist hinzuzufügen PSI. IV 389 (s. oben) und P. Graden -
witz 10 (datio in solutum für einen Pachtzinsrest; vgl. PI au mann
a. a. 0.), c) P. Paris. 7 (S. 52 ff. , Erneuerung einer bestehenden Natural-
darlehnsschuld durch den Sohn des Schuldners unter Hinzufügung des
4]jjLioXtov + IV2 Artaben), d) (S. 58 ff.) P. Lille II 14 (= Iur. Papyri Nr. 44),
e) (S. 61 f.) P. Reinach 7 (= Mitteis, Chrest. Nr. 16). Beispiele für die
Existenz der donatio in dotem redacta fehlen, wie Brandileone aus-
führt (S. 65 ff.), für die Papyri und die sonstigen Urkundenkreise ; die in
die Gestalt eines Savstov oder einer napafrYJxv] gekleideten Dotalverträge
der Soldaten mit ihren „Frauen" sind ungültig (S. 69 ff.). Eine fiktive,
in die Form eines Darlehens oder eines Depositum gekleidete Mitgift
des nationalägyptischen zy*(pa.<po<; yau,o<; bzw. ein solches Alimentations-
kapital des a-f&a-fos T".IJL0? bestehen nicht; weder P. Tor. 13 (= Iur. Papyri
Nr. 79) noch p! Teb. II 386 (= Mitteis, Chrest. Nr. 298) oder PSI. I 64 er-
weisen ein solches fiktives Rechtsgeschäft (S. 73 ff. ; vgl. Iur. Papyri S. 41 f.).
Bürgschaft: Gesamt- oder Teilhaftung für eine Schuld. Einen
lehrreichen Beitrag zur Geschichte und Bedeutung des Wortes öWkr^Xi^ooi
liefert nach der Darstellung von Mitteis (Grundzüge 113 ff.) Samter
im Philologus 1919, 414 ff. Das Wort erscheint erst seit der Mitte
des 1. Jahrhunderts v, Chr.; bis dahin stehen öcXXt,Xu>v und eytu0' getrennt,
hinzu tritt meist elq eVciatv: das bezeichnet mit Bortolucci (Bull. Ist.
dir. rom. XVII 305) und Mitteis (a. a. 0. 114 A. 5) den Zahlungs-
bürgen im Gegensatz zum Gestellungsbürgen (s. unten S. 272 : efTD0(5 e'lS
•Kapäctaotv; anders Part seh, Bürgschaftsrecht 116 und meine Iur. Papyri
Nr. 30, 9 Bern.). In vielen Urkunden begegnet dieser Ausdruck der wechsel-
seitigen Bürgschaft in enger Verbindung mit dem der Korrealität, des
Gesamtschuldverhältnisses (s. Mitteis a. a. 0. 113 f.): •*] 7tpä4i<; latou xal
ei evo<; v.al iv.6t.zxoo (oder örcotspou) xca e| ob leev alpvjTai, „wechselseitig für
eine und dieselbe Schuld Bürgschaft leistende Gesamtschuldner" (vgl.
Papinian D. XLV 2, 11; P. Hamb. I 23, 6 f. und das babylonische und
talmudische Recht: Iur. Papyri Nr. 30 Einl. S. 90).
Neben dieser „natürlichen" Bedeutung des Wortes aWr^i^^ooi zeigen
uns die Papyri zwei „entfremdete" Bedeutungen: 1. — Gesamtschuldner
schlechthin. Samt er faßt das im Gegensatz zu Part seh und Mit-
teis nicht als die ursprüngliche Bedeutung; auch in der byzantinischen
Theorie und Praxis wird e' aWr^^ü^t; und aWr^kt^öon; — „in gesamt-
schuldnerischer Haftung" gebraucht. S. auch P. Oxy. XII 1408 (unten
S. 274 f.). Dagegen bedient sich Iustinian in der Nov. Iust. XCIX der beiden
Wörter nicht in diesem Sinne, sondern = 2. „gemeinsam bürgend für
eine und dieselbe Schuld, also als Teilhaftung" (so schon in den Bürg-
Juristischer Papyrusbericht. 263
Schäften der Dorffunktionäre für die von ihnen vorgeschlagenen Liturgen).
Nur dann haften nach der iustinianischen Novelle mehrere Schuldner
auf das Ganze als Korrealschuldner, wenn dies durch besonderen Zusatz
ausdrücklich im Vertrage betont wird; sonst soll nur Teilhaftung be-
stehen. 'AXXYjXeyyuot bedeutet aber niemals Teilhaftung im Sinne der
Novelle, sondern vielmehr immer gesamtschuldnerische Verpflichtung.
Das betonen Mitteis und Samt er, indem sie auf den Ausdruck
M'.atpixun; aXXYjXeyyDot im P. Amh. II 151, 9 ff. hinweisen: Die Par-
teien wollen dadurch die Wirkung der Nov. Iust. XCIX ausschließen, die
Schuldner sollen Korrealschuldner im Sinne »ungeteilter" Schuld sein.
Zu den Fachwörtern iyhiyco&ai xtva, l^oy-i] siehe unter anderem
PSI. IV 349, 1 (254/3 v.Chr.: xaXox; av noifpouq £f8s£d}i.svo<; 7]fJiä<; izpb<;
töv teXiovyjv xoü xixto;) und P. Lond. V 1797, 8 (a. 546?: rcpoet$u><; &acpaXYj
tt]v eyoox*}]v ouaav a£t<L oe naptx~yk<3d,a.i xauTYjv tyjv ^pe(av).
Depositum: Das erste Kapitel des S. 228 angeführten Buches von
Koschaker behandelt „Depositum und Eigentumsverfolgung (Anefang)".
Den Papyrologen interessieren besonders die rechtsvergleichenden Aus-
führungen (S. 21 ff.) über die Strafe des Duplum im Gesetzbuch Ham-
murapis. Ob „das Gesetz des Königs, welches über das Depositum ge-
schrieben ist", das eine Seleukidenurkunde erwähnt, als Vorbild für
•den xüüv rcapaö-rpuüv vojaos der Papyri anzusehen ist, muß dahingestellt
bleiben (s. Wenger, Krit. Vierteljahrsschr. XVIII 10; Iur. Papyri
S. 91 oben).
Vollmacht : Neue Vollmachtsurkunden , ougtoctixgc (s. Iur. Papyri
Nr. 52 Einl. ; 91 I 4—6), sind P. Oxy. XIV 1634, 20 ff. mit Bern. 20 (a. 222).
.1642 mit Einl. (a. 289). 1643 mit Einl. (a. 298); P. Freib. II 9 (Vollmacht
für einen procurator bonorum).
Teilungs- und Auseinandersetzungsverträge: Zu den beiKreller,
Erbrechtl. Untersuchungen 77 ff. , 408 und Iur. Papyri Nr. 53 Einl. an-
geführten griechischen Urkunden kommen hinzu: P. Oxy. XIV 1637
(a. 257/9; s. oben S. 227): Teilung von Grundbesitz unter fünf Personen
in drei Gruppen auf Grund der Entscheidung eines vom praef. Aeg. dele-
gierten xptr/js oo&e^; P. Oxy. XIV 1638 (a. 282): Teilung einer Erben-
gemeinschaft zwischen Geschwistern von zwei verschiedenen Frauen des
Erblassers; P. Oxy. XIV 1721 (a. 187); PSI. VI 697 (saec. II). 698 (a. 392);
P. Lond. V 1728. Vgl. auch P. Oxy. XIV 1648, 43—47. 1695, 17 f. ; PSI.
V 452, 16 (s. oben S. 222 f.). Schwierig ist die Erklärung von P. Oxy.
XIV 1644 (63(62 v. Chr.): Drei Geschwister erklären ihren Anspruchs-
verzicht auf eine Darlehnsschuld, die ihr Neffe Moschion seiner Groß-
mutter Arsinoe, ihrer Mutter, gegenüber eingegangen ist. Es handelt
sich sicher um eine im Anschluß an die Erbteilung des Vermögens der
Arsinoe vorgenommene Ausgleichung zwischen den Erben. Wie aber
264 Paul M. Meyer.
die Worte Z. 18 ff. aufzufassen sind, ist mir nicht klar; sie lauten:
(6{xoXoyodg:v . . . jj.Y|0-£v lyxaXety • • • ^P- °'^ ^eT0 o Moo/tav tijt . . . 'ApsivoYjc.
. . . SavEiou) ivsxa xoö xov Mooy'ouva ota xiva«; cdxiaq xöv xa»ypyu>p».ajj.ov xyj<;
itpos'.pYjfisvrji; öpYopiXT(<; ouvaXXd^süJt; et? xy]v 'Apotvörjv ev nig[Tsi] Sia xyjv
icpoYeYPa!JLM-^VTiv ^i6xf][t]a T:£7to'.YjoO'a•.. Was bedeutet das sicher gelesene
xaivo^toptapLo«;? Die Herausgeber setzen es avavfcosti; (s. Iur. Papyri S. 205
und unten S. 280) gleich. Novation der einen pfandlosen Darlehnsschuld
in Darlehnspfand, wie die Herausgeber anzunehmen scheinen, liegt aber
nicht vor. Wie ist hier ev juoxs: zu fassen und was ist unter liä xr,v
7tpoYEypa;ji!jivYiv Ioioxtjx« zu verstehen?
Steinwenter (Stud. Pal. XIX 17 f. und bes. 20 ff., s. auch S. 54 f.)
verfolgt die Entwicklung der Auseinandersetzungsverträge von den demo-
tischen Teilungsverträgen und prozeßbeendigenden ot>fXtt>Pa>iöet< der Ptole-
mäerzeit an über den P. Straßb. I 20 aus dem 3. Jahrhundert n. Chr. und
die griechischen byzantinischen (wie BGU. 315, P. Lond. III 992 == Mit-
teis, Chrest. 365) und arabischen Urkunden (so SB. I 5681) bis zu den
koptischen 8'.aX6ast£ (s. Crum-S teind orf f , Kopt. Rechtsurkunden aus
Djeme, Abschnitt II), die er ex professo behandelt (s. unten S. 276).
Er weist auch auf die Parallelerscheinungen im babylonischen und ara-
mäischen Recht hin (s. Iur. Papyri S. 83 oben). Zur gemeingriechischen
li&hxx* vgl. Hitzig, SZ. XXVIII 241.
D. Sachenrecht,
Der iustinianische Unterschied zwischen res corporales und incorpo-
rales begegnet uns urkundlich in der Emphyteusisurkunde P. Cairo byz.
III 67 299, 13 f. (lustinus II.: rcav Eixaiov eixe cu>jj.axixov eixs aacojxaxov;
s. Arangio-Ruiz, Aegyptus I 22) und in dem Vertrag über
Wohnungsmiete PSI. VI 709, 19 (icsptox^S ou>fj.ax'.xoö (sie) xs xai a3(uu.dxo(u);
a. 566).
Longi temporis praescriptio: S. Iur. Papyri Nr. 54 (zu Z. 4 aveu
Tivo? ajjL^toßfYjxr^osw«; = sine ulla controversia s. Wlassak, Rom.
Provinzialprozeß 53 A. 49). — PSI. IV 281 (saec. II) enthält wohl
8txat(i)u,axa für einen Prozeß: außer dem zerstückelten Briefe eines ge-
wissen Epimachos an seinen Vormund Theon (R. I 1 — 14: c. 141 n. Chr.),
einer Eingabe desselben Epimachos an den Iuridicus Claudius Neocydes
(R. II 26—38: c. 141 n. Chr.; hier schlägt Wilcken, Archiv VI 385
für Z. 35 exsXeuas u,e a[rc]o&Y}jj.Yi3a'. urcep K[6tcx]ov [statt x[oiüx]y)v] vuvsl xpiexiav
vor), sowie Bruchstücken eines Gesuches rechtserhaltender Natur (vgl. Iur.
Papyri S. 282; Vers© Z. 49 — 60), in denen auch der Name Theon erscheint,
und Abrechnungen (Verso Z. 61 — 70) sind es Auszüge aus ürcofivrjfjwixtojAol
von Beamten mit Entscheidungen, denen die longi temporis praescriptio
Juristischer Papyrusbericht. 265
zugrunde liegt: 1. R. I 15 — 23 (c. 103/7 n.Chr.; sehr zerstückelt); das
Ssxaex-Yj xpovov Z. 19 weist auf im gleichen Gau wohnende Gegner hin.
2. R. I 23—25. II 39—41 (c. 107/112 n. Chr.; zum praef. Aeg. Servius
Sulpicius Similis siehe jetzt A. Stein, Hermes LIH 422 ff.). 3. R. II
41 — 47 (118 n. Chr.; vor dem Epistrategen Iulius Maximianus, der c. 141
n. Chr. Iuridicus ist). Das Stück zeigt, daß damals die longi t. praescriptio
in der Gerichtspraxis schon auf bewegliche Sachen ausgedehnt war, was
wir ja schon aus P. Flor. I 61 für die domitianische Zeit wußten, während
die gesetzliche Anerkennung dieser Praxis wohl erst unter Caracalla
erfolgte.
Lehnsrecht: Eine vorübergehende Dislozierung höherer Offiziere
(Chiliarchen, xaqiap^o«;, GxpaxY]f6<;) als Kleruchen (s. Iur. Papyri Nr. 56a)
liegt vor PSI. V 513 (252/1 v. Chr.; Z. 8 f. : yefpacpev H-01 rcpOGxexaxevat
xöv ßaacXsa xou<; ev öXkoi$ x6koi$ ojj.(op.oxoxa<; Siopö-cuaaaOat. aitoSo&^xcoaav
ouv ol xXY|poi toi<; &TCG*fsypa|j.|j.evoii;) ; vgl. auch V 536.
Seit dem Ausgang des 3. Jahrhunderts v. Chr. treten neben die
griechischen Kleruchen eingeborene. Der Ausdruck xX-rjpoöxot im engeren
Sinne bleibt in der Folge an ihnen haften , während die Kleruchen
griechischer Nationalität und Kultur jetzt als xaxoixoi bezeichnet werden
(s. 0 ertel bei Pauly-Wissowa s. v. Katoikoi, Sonderabzug S. 15 ff.).
Der Gegensatz zwischen diesen beiden Kategorien bleibt in dieser Be-
deutung auch in römischer Zeit bestehen; mit den xX^poü^oi sind die in
den Urkunden dieser Periode begegnenden eyacpeoiot zu identifizieren.
Das „Kleruchenland" im weiteren Sinne gehört zur Siou^oeux; io\umxYi
(Wilcken, Chrest. Nr. 341; Paul M. Meyer, P. Giss. I Nr. 60 Ein!.
S. 26 ff.) ; unter den Kategorien des Kleruchenlandes (s. P. Giss. a. a. 0.
28 f.) stehen sich vor allem die *f?j xaxoixix-rj und die yTl xXvjpou^ixYJ im
engeren Sinne = f?) tSiumxY] evacpsouov (Martin, Stud. Pal. XVII
43 ff.) gegenüber. — Daß die Katökenqualität in römischer Zeit am Boden
haftet, bestreitet Meautis, Hermoupolis la Grande 76 f. Auch
0 ertel (a. a. 0. 25 f.) hält es für wahrscheinlich, daß der Erwerb der
Katökenqualität an bestimmte nationale, d. h. kulturelle Voraussetzungen
geknüpft war.
Die einzige Zessionsurkunde (uapa^wp^oi«;) von Katökenland aus
der Ptolemäerzeit (s. Iur. Papyri Nr. 56c) liegt vor in P. Oxy. XIV
163 5 (44/37 v. Chr.). Ihr Formular entspricht vollkommen dem der
Zessionsurkunden aus frührömischer Zeit, P. Ryl. II 159, PSI. IV 320,
P. Oxy. IV 504. II 366, alle aus Oxyrhynchos. Die Tiapayoupfjot«; findet
statt axoXooö-ux; xolq iuxovo}rr][iivot<; 8i« tü>v ex xoö Itctcixoö auf Grund der
Anzeige an den rcpö<; xoT<; xaxaXoxi3fi.o!<; (vgl. dazu die unveröffentlichten
P. Hamb. I 62 und 84). — Auf Verpachtung von Katökenland beziehen sich
die Ptolemäerurkunden P. Oxy. XIV 1628 (73 v. Chr.) und 1629 (44 v. Chr.).
266 faul M. Meyer.
Vater und Sohn, die zu gleicher Zeit xXT-poöyot 6ind, begegnen uns
in den beiden Urkunden PSI. VI 632 und P. Edgar Nr. 38: Der
Vater ETpattrcrcoi; Maxe8[ibv tcüv 6rcö 'AJytrfovov Ircrceouv toö 'HpaxXeofrcoXtTOü
hat einen trcrctxös xX-^po«; inne, der Sohn NeorcToXejioc ist Mco«Sd>v xü>v ev
3>tXa$eXcpstat xXTjpouyujv. — Mit der Klernchenfrage hat nichts zu tun
dieirciTov-rj, wie jetzt Wi Icke n (Archiv VI 367 f., gegen die herrschende
Ansicht und Schönbauer) feststellt: Das griechische x^q etctY0^; ent-
spricht nach Griffith dem demotischen ms n kmj = „geboren in
Aegypten". Zur ercifov^ gerechnet werden die in Aegypten geborenen
Nichtägypter, deren Vater cTpaTiu>TY4<; und die selbst keine Soldaten waren.
Sobald sie ins Heer eintreten, scheiden sie aus der ercirovr] aus.
Erbpacht: S. P. Minns 2 (22/21 v. Chr.), Ueberlassung zur Erbpacht
gegen Kaufpreis und ewigen Jahreszins (vgl. Mi ttei s, SZ. XXXVI 427).
Emphytense: In meinen Iur. Papyri S. 193 oben habe ich schon
außer P. Lond. II 483 und BGU. 1020 (1. dort Z. 10 ev cou.[ßp6xip] xat
a[ß]po/to) die kirchliche Emphyteuse betreffenden Urkunden P. Cairo
byz.'lll 67 298 und 67 299 (Zeit Iustinus IL) angeführt. Nr. 67 299 wird
jetzt von Arangio-Ruiz (Aegyptus I 22 ff.) ausführlicher behandelt:
Der emphyteuta, ein Advokat, behält sich hier dem Eigentümer, einem
Kloster, gegenüber nicht nur volle Verfügungsfreiheit über das Grund-
stück, sondern auch das Recht vor, es iXzt 3».<; ßsXxiova eite el<; ysipova svsr-
xslv o-Stv (Z. 21), es zu verbessern oder zu verschlechtern, entgegen
den ausdrücklichen Bestimmungen Iustinians (Nov. Iust. VII 3, 2; CXX 8,
vgl. BGU. 396, 10). Es folgen die Worte: ota tyj? toö abxoö xokoo xoyji]<;
x:v8uveuouivT)<; ahxCb, die Arangio-Ruiz (a. a. 0. 25) mit vollem Recht
.dahin erklärt, daß den emphyteuta das periculum rei trifft. Beide Ver-
tragsabmachungen stellen also den emphyteuta vollkommen einem dominus
gleich, ob es sich nun um casus minor oder maior (so unterscheidet noch
Kaiser Zenon Cod. Iust. IV 66, 1) handelt,
Grundbuch: Wie sich wohl aus P. Oxy. XIV 1649 (nach dem
Jahre 280 n. Chr.) entnehmen läßt , wird o*T]iioata ßißXtotbptT] bzw. ßtßX.
oVjfioauov Xoycdv auch später noch als umfassender Begriff verwendet
und dient zur Bezeichnung beider Abteilungen des Amtes (ßtßXtocp'jXdxiov).
Ein &Y]fA03tov ß'.ßX'.o-f uXdx'.ov begegnet uns noch im Jahre 320 (PSI. V 454, 19).
Neues über das Grundbuchamt lehrt uns PSI. V 4 50 (saec. II/III).
Der Papyrus enthält folgende Bestandteile: 1. R. I 1 — 24c Vertrag zwecks
Verwandlung eines aypacpo; Ydjio; iQ Vollehe (s. oben S. 229). 2. R. II
25 — 47 : ein sehr fragmentierter Auszug aus den 6rcofivTjfj.aTiau.ot des praef.
Aeg. Servius Sulpicius Similis, der unter anderem das responsum eines
iurisconsultus (vofiwoc) Ulpius Dioscurides (s. E. Weiß, SZ. XXXIII
233 ff.) an einen als iudex datus fungierenden cTpaTYjvjaai; enthält. 3. Verso
I 46—68. Die Rubrik lautet: h(K(i]^'liq) Ix ttjc tüjv IvxTTjascuv sx Sta-
Juristischer Popyrusbericht. 267
otpcofiato^ xü>|j.Y]t(Lv Sscpco, yovaixüiv (es folgt ein Auszug aus einer rcapa-
XtupYjo:«;). Danach ist das Grundbuch des Dorfes Sepho im Oxyrhynchiti-
schen Gau, ebenso wie daselbst die xax' o-.xtav &rco*fpa-fai (s. PSI. I 53
Einl.), nach Männern und Frauen gesondert. 4. Verso II 69 — 88 : Aus-
zug aus der £Y]u,oaia ß'.ßXtoiKptf] , durch den die Lesung der Parallele
P. Oxy. X 1287 zum Teil berichtigt wird.
Während das Edikt des Mettius Rufus (lur. Papyri Nr. 59, 36—38)
die Erfordernis des erctaraXjJia des Grundbuchamtes unumschränkt auf-
stellt, beschränkt es der Gnomon des Idioslogos (s. Iur. Papyri Nr. 93)
§ 101 unter Strafandrohung von 50 Drachmen auf Kauf- und Hypotheken-
verträge (s. Iur. Papyri S. 341). — PSI. IV 314 (195 n. Chr.) enthält die
rcpoaayysXia der Verpfändung eines Hauses seitens des nur durch rcapdt-
d-soiq (s. Iur. Papyri Nr. 65) im Grundbuch eingetragenen Besitzers. —
Eine Sklaven-TCposcqyeXia an das Grundbuchamt zeigt der P. Rainer SN.
144 (Wessely, Stud. Pal. XIII 1 ff.; s. Iur. Papyri S. 197; Wilcken,
Archiv VI 415).
Zum Grund- und Gebäudekataster siehe jetzt E. Weiß bei Pauly-
Wissowa-Kroll X 2487 ff.
Zum Pfandrecht siehe unten S. 278 f. — Wohnungszinsantichrese
(Iur. Papyri S. 127. 226) siehe P. Oxy. XIV 1641 (a. 68).
E. Strafrecht.
Das Buch von Taub en schlag, Das Strafrecht im Rechte
der Papyri (1916) ist schon in meinen Iur. Papyri S. 236 ff. verwertet
worden. Es zerfällt in drei Teile : ptolemäische, römische, byzantinische
Epoche. Innerhalb jeder Epoche wird gesondert I. das materielle Recht,
II. Gerichtsorganisation und Prozeß, III. Strafen, IV. das deliktische Sklaven-
recht. Die Darstellung des ptolemäischen materiellen Strafrechts (ent-
sprechend in den beiden anderen Epochen) zerfällt in 1. Privatdelikte,
2. Steuerdelikte, 3. Königs- , 4. Majestäts- und 5. Sakraldelikte. Quellen-
mäßig belegt ist die Einteilung in private und öffentliche Delikte für die
Ptolemäerzeit nicht, dagegen die in dfiapr^aTa und ayvo^u.ara (s. Iur.
Papyri 236 f.).
F. Das Prozeßrecht.
I. Ptolemäerzeit.
Das Ko'nigsgericht. Auf das Königsgericht in Alexandreia bezieht
sich PSI. IV 392 (242/1 v. Chr.): Der Schreiber eines Briefes an Zenon
berichtet, daß die avdxpio:<; (Voruntersuchung vor dem Instruktor für das
Königsgericht, dem irpo? xa!<; avctxpber.: s. P. Hai. S. 32) für ihn günstig
268 Paul M- Meyer»
ausgefallen und an die aöXr; weitergegeben ist (siuSsSouivYji; eU aüXvjv).
Er wartet in Alexandreia auf die Entscheidung des Königs, diese zieht
sich lange hin, doch hofft er, daß der König zu seinen Gunsten ent-
scheiden und ihn freisprechen werde. — Auf ein mündlich dem Könige
vorgetragenes Bittgesuch scheint der Brief an Zenon PSL VI 551
(nach 273,2 v. Chr.; s. PSL VI S. XVII', Aegyptus I 65) Bezug zu nehmen.
Es ist aber leider nur die rechte und die linke Seite erhalten, in der
Mitte fehlen wahrscheinlich mindestens 30 Buchstaben. Ich gebe den
Text des Recto, das allein in Betracht kommt:
Zijvu>vi ^ottpetv ?S2po<; XOVtüitCtfirj^?] i*{ ]o ([xoö ßaG'.Xixoo
xovxa>xo(?)]ö: Edgar) xoö Xsrcxoö. "Hjjly;V Iv xcüi apYupc7rpo'l}j.vio'.
xüu Ytu,'oXiu>i (sie), tlq o <6> ßac.Xeix; avaßaiyjf» (?) , xaxößoT^-avxog
8£ }JioD xüh ßaccXsl itepl xoö ejj.&5 a<jj.):ie-
\ihvo<z, xad-ux; ouv£Ypd'|avxo Ix x[ ] xe jas y.'jpisosiv xoö xx^uaxo«;
xoö tf (exo •_>;).
naps^YjXüO-sv ouv 6 xa».pö<; xutt [ ] xoö |is xojUGaGfrai xb xxY,p.a. Kaxa-
5 ßovjGavxo? 81 jjloü xü>i ßaG'.XsT e[ rcpoGJxaYfJ-a xal exoir.Gdjrrjv xb{x a(arcsX<I>va
xal xa<; GOYYPacf*?« 'Ev oe xd>i [ J-.a^oö xaxsßoY,GiV 'AXxeiOBl v.p'.8"?tvai
}xs Tipo«; aOxov. Kpiöiyxiuy o[e ] x[-]vxojv sv 'AcppoStXY,«; tcoXj'. eVxtuv
tftt xptGS'. xal o: xpixai YVtäoiy [ J-eSoO'Yj {jlo:. XuvsYP&t'aT0 $i |xv. 6
avxiSixOi;
auYYPariYiv ajxooxaciot) xaxa xö u[ JpYopba; £e xiva[[<;]] eoofrYj yj
00TYPa(?*h xa"
10 yj yv^C'.i; fisoioiov ^>apdxY^ ov arcap[ 5Ey"> oü?]v so: ^i^poLZ/u. tzzoi
xooxcuv, tva e'.SyjK; oxt
osl fxs xojjuGacö-a'. xr,v aoYYpa<p[">']v xal xy]v yvoietv ]a.'(?)'
Eljx'jvsi.
Danach gehört der Briefschreiber, der den König angeht, wohl zur Be-
satzung eines königlichen Schiffes (vgl. PSL VI 551, 1 Bern, und die Er-
gänzung Edgars in Z. 1). Der König steigt auf das apYupo7tpoi}i.vov des
jyuoXcoy (nXolov), das silberne Hinterteil (rcpujxvioy ; vgl. rcpujj.va P. Edgar
Nr. 9, cxiortpujjivov PSL V 533, icpojwjTunfj P.Edgar Nr. 9) des , Andert-
halbruder-Schiffes " (vgl. die xp'.Y,ji'.oXia P. Lond. I 106, 2 f. ; P. Hamb.
Inv.-Nr. 333 , 20 : Klio XV 376 ff.) , auf dem rßpo; bedienstet ist. Hier
geht dieser ihn an (zu xaxaßoäv vgl. D ittenberger, OGI. II 669, 5;
PSL IV 440, 19 ; s. auch Z. 4. 6). Es handelt sich um einen ajj.rceXo>v,
ein xxY(pia, das Horos auf Grund einer cj^pa.^'q vom 13. Jahre (? = 273/2
v. Chr.) als sein Eigentum nebst den zugehörigen Erwerbsurkunden in
Anspruch nimmt. Die weitere Entwickelung der Angelegenheit ist infolge
der Lücken unklar: wer ist Subjekt zum .xaxeßoYjoev Z. 6, wer ist 'AXxetSYj*;?
Der König scheint (trotz Z. 5) keine Entscheidung gefallt zu haben, diese
Juristischer Papyrusbericht. 260
erfolgt vielmehr durch einen Kollegialgerichtshof in der x^9y-> iR Aphro-
ditopolis, zugunsten des Horos (Z. 7 f.). Der Gegner stellt ihm eine Ab-
standsurkunde aus (vgl. P. Hib. I 96).
Die ivts6£et<; ei? xo xob ßaoiXetug ovo|j.a (s. Iur. Papyri 260 f.) sind
auch im 3. Jahrhundert v. Chr. durchaus nicht immer unmittelbar an die
vom König generell delegierte Instanz (Stratege, Chrematisten, 8'.oixy]xyj^)
gerichtet und von dieser erledigt. Vielmehr weisen Partsch, Feist,
Pringsheim, Schwarz (Archiv VI 353) im Anschluß an P.Lille
II 22 darauf hin, daß schon damals ivxso^st? unmittelbar an den König
gerichtet und von ihm erledigt wurden. P. Lille II 22, 3 f. lautet nach
Schwarz: xccxd xafrxa eSouxa Se aoi xal abxiüt (cl. h. dem König) [xyjv
lvc&o]|iv e!$ zb oo[v ovojj.cc srcl xak] xaxr/.rcXcüaai' \xs s!<; xyjv rcoXtv litt xy]V
rcapdbxaa'.v xyjv y5^0^]^^ 0- Ttv • •) ^^[v (d. h. vor dem Königsgericht
in Alexandreia). Ebenso läßt sich aus PSI. IV 38 3, 4 f.: Itcs'.St] w-exe-
vvjvsxxat y] £vx;p[^'.c] rcpo? 'AicoXXwvtov (den Dioiketen) erschließen, daß die
Prozeßeingabe vom König an den Dioiketen weitergegeben ist, also dem
Könige eingereicht war. Vgl. auch P.P. III 25, 50 ff. (Archiv VI 357 f.:
s. unten) und den PSI. IV 415, 1 Bern, zitierten Papyrus. Andrerseite
werden auch Eingaben im außerordentlichen Verfahren an den 8to'.xY]x*r]<;,
6tco5iocxy)xy]<; (s. P. Edgar Nr. 38) und den bekannten Untergebenen des
Dioiketen Apollonios, Zenon (P. Edgar Nr. 25), als svx*u£t<; bezeichnet.
Im Anschluß mache ich auf die sonstigen ausgezeichneten und
höchst scharfsinnigen Ergänzungen und Erklärungen der vier oben-
genannten Forscher (A r ch i v VI 351 ff.) zu weiteren evx;6£si<; der P. Lille II
aufmerksam, deren juristische Erklärung im einzelnen bisher wenig ge-
fördert war. Behandelt werden von ihnen P. Lille II 6. 11. 13. 14. 23
(= Iur. Papyri Nr. 44; Z. 3 1. [cpaal 8'] eVstx5 d*sXY]Xü&eva'). 24 (Z. 7 1.
rcapovxiov xtviov oo^ ev[6pxoü£ rcapasxTjOU) xcüv YsY£VY]fJL£VÜJV] e^ M-- /spü>v
ftS'.xwv: s. Iur. Papyri Nr. 70, 204 Bern.). 34 (s. oben S. 254), besonders
aber 17. 30 und 31. Ich schreibe [im folgenden den verbesserten Text
dieser drei Urkunden aus:
P. L i 1 1 e II 17 (a. a. O. 352) : BaaiXsT IIxoXejjLa'lcot xatastv AioYXr\<;.
'AStxfoütiat üko Tccüxo?. 5Atco86vxo<; yap |aod] evxso|;v Ato-favet xcüt oxpa-
XYjyöUj oV yj<; lvecpdv[taa oxi Teco; ^pY|oafxsvo<; rcap' lfu»5 xaO1' 6}xoXoYt]av
oTvoo X°(ü<?) ^s» &TCY}ixY]{jivos tcXsovocxk; o&x [arceSiux*, ypa^avxoi; 8s Aco<pdvou<;
xoö axpaxY^oü IToXuxpdJxe'. Iir-oxs^aoö-a'., xaxaaxa? Icu? xoö xs (sxod«;) 'E[^elcp ..
6fxoXoYYjaa[i.evo<; öcrcoSoövat dvavxiXsxxoo?] o'i'vod X°(^s) ^ ^TC° T^^ irpaYSYP^r1*"
jiivY]? 4]pL;pa[<; ex-. otpsiXet jaoi. Aso}j.ou ouv cot), ßastXeö, TrpoGxd^ou] Aio<pdvsi
xcüt axpax7jY<J>r- YP^ai n[o]X'Jxpdxst xü>[i eitioxdxYjt, arcoaxelXai Tetov scp5 auxöv
Irel xüit Ix xyjs 6|j.oXoYta<;] etarcpä'at aötov xoö<; X X0[^c] T0^ oiy°u yj xvjv
[x'.jxyjv xal 3cTCo8oövat [aoc. Tooxoo y&P Y2VOIjl®vou ^<30}J-al] ^ G&> ßaocXeö,
xoo Btxaioo xsx£ü[x]u><;. [Euxü^et]. II[o]Xt)xpdxst eic(iaxdxY]i). 5An6oxsc(Xov)
270 Paul M. Meyer.
aöxov (oder Tscov), 5*io; ex xr(<; [öpoXoTiag ]. Das Petitum geht auf
sofortige Vollstreckung wegen der noch geschuldeten und als Schuld an-
erkannten 30 Maß Wein oder des Preises.
P. Lille II 3 0 (a. a. 0. 354): BaoiXel IlxoXejjiotiüJi yaipetv Neav8po<;
0![T]at[o<; (exaxovxdpoopoc). 5Ao'.xoüp.at 6it6 Ilaöüxoi; xoüv] xato'.xoovxwy ev
To'}at. 'Epioü *c«P %6vxo<; ITeTfüoei XP^13*V evxoxov . . SpayjJLdiv xal jU3\)-o.>3a[jivou
dp . . xa^5 6jjioXoYiay] u.esioiov, TjV GoyeYpd<laxo M-01» (itopoö dptaßuiv) os
*Vf opi[ou l<p9 cü:, otav IIex6o'.o<; u,7j] duoSän aoxdi;, x^v G'JYTPa'f*riv *ofUOÜ|A[as,
xeXeDX-fjSavxos 8s üsxusio^ licl xX^povojAOü] xoü rcarpo«; Ilauuos rcpö xoü yj
xojxtaaoO'at jxs x[d^ ap^üpiou Bpay>j.d; napd Üsxug'.o; *oö u*.oü] a6xoü, xyjv
cuYYPa',P"'lv 0t7tatxo6jj.eyO(; orc5 [ ejuoü [xapjr(CsaO-ai [xs oox eäc, tvjv li QVftpcv&rp]
oux ajio8i§üJ3tv. Verzugsantichrese.
P. Lille II 31 (a. a. 0. 354): BockXsi UzoXz^olIoh yatpetv eIjxitovtxo<;
'Ircrcov'xoo [ . . . . 'EpjJiia^] 6 doeX<po<; jxou xeXeüxöiv xaxaXelitst [aot xal xdit
Sslvi dSeXtpuii yy]V e<p5 Tji eSs8a]veioto rcapd 'I-tioviv.ou 'ApxdSo; xyjc xöj[v
iic]:cftpxta? eߧoji.Y1xovxotpo6pou yaXxoü [(opayjj.di; .... (0« xaxeyeiy,
xoü ypeou? xaö-5 ütco]\KjXY]v eiu -(dov> ovtoc, eV.ywpet "^Tv. *0 o° d[8eX-
905.. ••]> *'("* °^ vstuxepoi; eljxt. AfofJiai oüv oou, ßasf/.Xsö, ^poaxd^at
Atwpavet xün] arpaxY]Y<Ji)'. Yp^'f"*« MÖ3yuu xöü». dYOpay[6u,uK dvayeu>3'.v dvaYpdöat
rcapd] xoö clmeovutoo ex xoü 'Epfuoo xoü xsxeXfsuxvjxoxos bv6{j,axo<; cid xo [j.77,
veiojxepou |aoü ovxoc, ejtixaxaßoXYjv Yev^3[^at> M*S }AV] xu/ü> Xayu>v x&irjpQä!
o5Ss]vö? dUoo ovxo«;, dXX' ertl oe, ßas'.Xeü, xa[xa<?DYOjy, xöv rcdvxiuy ciotYjpa,
CYjJ.aJxü>v eoYvcDfJLovcuv xoycu. [Euxü^siJ. Moayov.. Jbav Tto'.wyxa'. rri ,^ ,-j
ex xoü xex*X[eürr.xoxo? ov6fj.axo<;, avarpa^ov] xal xd rcp(o3)xdY|J.axa, el jjlt] xi
eGttv aXXo Stax[&i]{t[eVjOyf erccsxsdai. S. unten S. 280.
Weiter werden erklärt und ergänzt die Prozeßurkunden P. P. III 25
(= Mitteis, Chrest. 30), P. Hai. 1 passim (s. unten), P. Eib. I 30 d
(== Iur. Papyri Nr. 77). 92 (= Mitteis, Chrest. 23).
Chrematisten : Durch die Ergänzungen und Erklärungen der wich-
tigen Urkunde P. P. III 25 (= Mitteis, Chrest. Nr. 30) durch Parts ch
und Genossen (Archiv "VI 355 ff.) ist unsere Kenntnis des Verfahrens vor
den Chrematisten sehr gefördert. Ich gebe eine kurze Analyse des Textes:
Z. 1 — 5: Schreiben des 'fpap.pxtxebs der Chrematisten Argaios an den
Gaustrategen Aphthonetos, das eine Abschrift einer 6rcoYpa<p yj (s. P. Tor. 13
= Iur. Papyri Nr. 79) der Chrematisten (s. Z. 23 ff.) enthalten soll.
Z. 6 f.: Kopf des Protokolls dieser bvofp&<py\ (durchgestrichen).
Z. 8 — 64: Abschrift eines Schreibens des elsaYurfeüs der Chrema-
tisten, Zoilos, an den Strategen. Diese Abschrift enthält einen Auszug
aus dem Protokoll der urcoYpa'fYj (Z. 8 — 62): Namen der Chrematisten
(Z. 8 — 10), Namen der Parteien, Kläger ist Apollonios (Z. 11 f.). Der
Beklagte hat sich durch Gestellungsbürgschaft verpflichtet, zum Termin
Juristischer Papyrusbericht. 271
vor den Chrematisten zu erscheinen; er befindet sich aber im Gefängnis
(Z. 16 — 23). Der Stratege, dem mittelbar die Gestellungsbürgschaft
(s. unten S. 272) geleistet wird, stellt daher den Antrag vor den Chrema-
tisten , den Bürgen des Beklagten , Ammonio» , der auch ausgeblieben,
statt dessen nach Alexandreia zu laden (Z. 23 — 32). Der Kläger erklärt
sich einverstanden, mit Ammonios in Alexandreia zu verhandeln. Er
beantragt aber, falls dieser sich nicht stelle, ein Versäumnisurteil
(ep[YjfAo8tx]o<; *fv[("!XY)]) zu fällen und den Strategen zu beauftragen , die
Vollstreckung durch seine Organe (^evixüiv npdxxops^: s. unten S. 281)
vorzunehmen (Z. 32 — 43). Die Chrematisten geben dem Antrage statt
(Z. 43 : ev[cX("p*fy3a|Asv frjt a|]'.o)ai), der Stratege wird beauftragt, den
Ammonios mündlich TzaLpv.y(cl[kia] xaxarcXelv ec<; ['AXssjavSpsifav] innerhalb
der prozeßordnungsgemäßen Frist. Erscheint Ammonios nicht (vgl. das
Chrematistenurteil P. Ryl. II 65, 14: xou<; lyiiaLkou\).ivoos XeXotrcoxas xal
«avcdicaotv TcscpüYoScxYjxoxa«; : Wilcken, Archiv VI 371 f.), soll dem An-
trag des Klägers gemäß erkannt werden ; erscheint er und wird der
Kläger abgewiesen, hat er dem Ammonios die Reisekosten zu ersetzen
(Z. 44 — 62). — Das rätselhafte ocrcoscppdYiojjia Z. 27. 35. 39 ist nach den
Verfassern (S. 359) möglicherweise als Siegelung der Evxeo^is bei der Bereit-
erklärung des Bürgen, die Beklagtenrolle zu übernehmen, aufzufassen.
Im Widerspruch zu allem Sonstigen stehen die P. Edgar 33 — 35
(Ann. du Service XIX 30 ff.) aus dem Jahr 31 des Ptolemaios II: ein
IIsxiov 6 xpYjjjiaxiaxvJi; bzw. xcuv ypY]fxaxiaxü>v wird vom Finanzminister
(8ioixY]XYJ<;) Apollonios als Stellvertreter auf einen Tag ins Dorf Phila-
delpheia gesandt. Als seine Tätigkeit wird nur die Untersuchung der
betreffenden Fälle und das Verhör angegeben (8iaxo6siv). Das Urteil
scheint nicht er zu fällen, sondern vielmehr der Dioiket. In den beiden
ersten Fällen ist ein Monopolarbeiter (£uxorcoio<;) Angeschuldigter; Kläger
sind in Nr. 34. 35 ei e£ eH©atoxtd8o<; Xaot (Aegypter!). Die Parteien (in
Nr. 35 ist der Angeschuldigte wohl Beamter) gehören also zum Ressort
des Dioiketen. Dieses Auftreten eines einzelnen Chrematisten (vgl. aber
etwa den P. Wiss. Ges. Straßb. 18, 5 f. : S. 276), der noch dazu Aegypter
ist, läßt sich nicht mit dem vereinigen, was wir sonst über die Chrema-
tisten im 3. Jahrhundert v. Chr. wissen (vgl. Iur. Papyri S. 259. 261 f.,
Nr. 78. 79); trotzdem dürfen wir die Beziehung auf sie nicht bezweifeln
(vgl. Wilcken, Archiv VI 451 f.).
Zur Prozeß-Immunisierung privilegierter Klassen des P. Hai. 1,
124 — 165 siehe Parts ch und Genossen, Archiv VI 348. Z. 153 f. lesen
sie: feav §s iY]xa[Xoo[j.evoi xtve<; f pacpetacüv xüiv] 8:x[<I>v] rcpo x[oö] e[ia]a/ [$■?]] vat
a[rco]ox[sX]X[ü>v]xat 6it[6] xoü ß[a]aiXiu><;, „wenn aber Beklagte (vorher ist
von den Klägern die Rede), nachdem ihnen die Klage geschrieben, vom
König auf Mission gesandt werden vor der Verhandlung ......"
272 Paul M. Meyer.
Zur Vorladung des Zeugen zum Zeugnis (et; fiaptoptav xXyjo^)
des P. Hai. 1, 222 ff. siehe Part seh und Genossen, Archiv VI 348 f.:
Das otYops'Jovxa Z. 223 ist Schreibfehler statt ayopsowv; es ist also zu über-
setzen: „Die Partei soll vor zwei Ladungszeugen (xXvjtops«;) den anwesen-
den Zeugen in Person laden, indem sie Punkt für Punkt vorspricht, was
er bezeugen soll. Der Ladende soll das Zeugnis auf ein Täfelchen
schreiben und der Geladene soll . . . Zeugnis ablegen über die Tatsachen,
bei denen er gegenwärtig war oder die er gesehen hat, indem er den
gesetzlichen Eid leistet . . . ." Vgl. P. Lille II 24, 7 f. nach der Ergänzung
von Parts ch und Genossen (Archiv VI 358): rcapovciov tivuiv, ou<; ev[6pxcu<;
Zu der durch Vermittlung des Ttpdxtojp an den Strategen (s. Archiv
VI 357 oben) zu leistenden Gestellungsbörgsehaft im ptolemäischen
Zivilprozeß (vgl. Iur. Papyri Nr. 74 Einl. § 3 und oben S. 262) siehe
Partsch und Genossen, Archiv VI 356 f.: Aus P. P. III 25 (s. oben)
Z. 29 f. läßt sich ein Gestellungseid des Beklagten in Verbindung mit
Bürgenstellung erschließen (vadimonium cum satisdatione et iureiurando).
P S I. V 542 zeigt ein rcpo3aYYsXu,a (s. Iur. Papyri Nr. 81) schon des
3. Jahrhunderts v. Chr., dessen Petitum nicht nur auf Untersuchung des
Falles durch den Adressaten , sondern auch auf Weitergabe an eine
höhere Instanz (hier den Strategen als Strafrichter) geht, wie es
uns bisher nur in den icposaYY^M-at« des 2./1. Jahrhunderts v. Chr. be-
zeugt war.
FII. Das Prozeßrecht der Kaiserzeit bis in die arabische Zeit.
Den römischen Provinzialprozeß macht Wlassak zum Gegen-
stände einer scharfsinnigen, die Materie auf ganz neue und sichere
Grundlagen stellenden Abhandlung (Sit'zun gsb er. "Wien. Akad. d. W.,
phil.-hist. Klasse CXC 4, 1919). Sie behandelt den Zivilprozeß in
allen Provinzen des römischen Reiches. Wie sie aber ausgeht von den
ägyptischen Papyri der Kaiserzeit, fördert sie auch die Erkenntnis des
ägyptischen Prozeßrechts in der römischen Epoche.
Wlassak stellt im ersten Kapitel fest, daß der Formularprozeß
nicht nur in den senatorischen Provinzen in Geltung war, sondern auch
in den kaiserlichen , die unter legati Augusti aus dem Senatorenstande
standen (S. 4 ff.). Nur in den prokuratorischen Provinzen ist der Kog-
nitionsprozeß allein üblich, so auch in Aegypten: Der praef. Aegypti hat
das ius edicendi, er veröffentlicht alljährlich ein Iurisdiktionsalbum
(S. 5 A. 2, 7 A. 10), er hält den Konvent ab (s. Iur. Papyri S. 279 ff.) und
bestellt daselbst Unterrichter (xp:rr]<; 8o9V.c = iudex datus; vgl. PSI. V
450, 36 ff. : responsum eines vojuxo«; == iurisconsultus an einen als iudex
Juristischer Papyrusbericht. 273
datus fungierenden Strategen , P. Oxy. XIV 1637, 9 xpixYji; xal [j.eaiTYj<; :
s. Jörs, SZ. XL 33 f. A. 2, xaM-a'-o^aa^?)- Wie Wilcken (Archiv VI
373 ff.) feststellt, unternehmen die Präfekten in der Regel während ihrer
ersten Konventsperiode — aber nur dann — eine Reise nach Ober-
ägypten und verbinden damit einen Konvent örcep Korexov. P. Ryl, II 74
(= Iur. Papyri Nr. 82 b), den Wilcken ins Jahr 133 setzt (Z. 10 ist
(stoo<;) i£ zu ergänzen; Z. 3 ff. faßt er anders auf als ich), enthält ein
Spezialedikt für die südliche Thebais. Berichten uns sonst die Papyri
von Amtsreisen und Prozeßerledigung außerhalb der Konventszeiten , so
haben wir es mit Inspektionsreisen und keinen Konventssachen zu tun
(vgl. Wlassak 35 A. 54). So ist wohl auch der Brief P. Oxy. XIV
1667 (saec. III) aufzufassen. In nachdiokletianischer Zeit fällt die Kon-
ventsordnung fort (vgl. Wlassak 35 A. 54, 48 ff.).
Im zweiten Kapitel (S. 11 ff.) führt Wlassak aus, wie seit Hadrian
der Formularprozeß in den unter proconsules und legati Augusti stehen-
den Provinzen allmählich verfällt und „verstaatlicht" wird: d. h. nicht
mehr wird auf Grund des Prozeßvertrages der Parteien einem nicht be-
amteten Privatgeschworenen (iudex) die Entscheidung vom Magistrat
überwiesen, vielmehr fällt der Statthalter entweder selbst die Entschei-
dung oder er ernennt einen beamteten Unterrichter als seinen Delegaten.
Das litigare per concepta verba, id. est per formulas, aber bleibt be-
stehen: es findet eine doppelte Edition der Formeln statt, eine außer-
gerichtlich für den Gegner, eine in iure für den Magistrat; das Ver-
fahren ist zweigeteilt, in der Mitte steht auch jetzt eine Streitbefestigung
durch die Parteien (Wlassak S. 23 ff.). Während der Prozeß vordem
iudex privatus, das Privatgeschworenenverfahren, sich in Rom mindestens
bis in die Zeit der Severe gehalten hat, in allen Provinzen schon früher
abgekommen ist (Wlassak S. 28 A. 33, 29 A. 35, 35 A. 54), hält sich
der Formularprozeß in seiner „verstaatlichten" Form bis in die nach-
diokletianische Zeit: erst durch den Erlaß des Constantius vom Jahre 342
(Cod. Iust. II 57, 1) wird er verboten (Wlassak S. 30).
Auf diesen „verstaatlichten" Formularprozeß in den Provinzen be-
zieht sich die von Aur. Victor de Caesaribus 16, 11 ff', berichtete
Prozeßladungsreform des Kaisers Marcus, deren richtiges Verständnis
Wlassak im 3. Kapitel erschließt (S. 36 ff.). Sie bedeutet eine ein-
heitliche Regelung der schon längst in den Provinzen mit Konvents-
ordnung bestehenden Prozeßladungsformrder litis denuntiatio (TcapayysX»a).
Diese wird durch Marcus in allen Provinzen eingeführt. Nur in Italien
bleibt im Ordinarverfahren die Vadimoniumladung bestehen, die dann
aber durch eine vom Gericht erbetene Streitansage ohne behördliche
Mitwirkung mit Sicherung durch testatio privata ersetzt wird. Auch in
Italien wird endlich im Jahre 322 die provinziale Ladungsform einge-
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. XXXIX. Band. 18
274 Paul M. Meyer.
lührt und damit zum allgemeinen Reichsrecht erhoben (Wlassak
S. 46 ff., bes. Cod. Theod. II 4, 2). Nach Wlassak S. 38 ff. Anm. 7 ist
die Streitansage in Rom wie in Aegypten und den übrigen Provinzen
kein lediglich privater Akt (Steinwenter, V erSäumnisverfahren 18 ff.
scheidet private und offizielle Denuntiation), sondern ein halbamtlicher,
der des Vollwortes der Obrigkeit bedarf, also stets eine denuntiatio ex
auctoritate (watparft&kin e£ a-jO-svttac). Im P. Lips. I 33 (= Mitteis, Chrest. 55
= Iur. Papyri 88) ist also dieser Ausdruck in engerer Bedeutung ge-
braucht, zur Bezeichnung der Kontumazialladung. Die Anwendung des
Kontumazialverfahrens in allen Zivilsachen ist die natürliche Folge
dieser halbamtlichen Litisdenuntiation ; es hat danach zweifellos seinen
Ursprung in den Provinzen (Wlassak S. 42 ff.) , wird dann in Italien
durch Marcus im Kognitionsprozeß vor den iuridici eingeführt (Wlassak
S. 59 ff. ; darauf bezieht sich die oratio divi Marci D. II 12, 1, 1). Das
Verfahren vor ihnen bildet das Mittelglied zwischen dem alten stadt-
römischen und dem Provinzialprozesse. In Aegypten läßt sich die
TtapaYY^ta, das Gesuch um amtlich (vom Strategen) zugestellte Privat-
ladung des Klägers an den Beklagten für die ganze Konventstagung
(s. das TtposxapTspsIv, TCooos&psusiv tu) ßYjjj/xTi), als Einleitung des Konvents-
Verfahrens zum mindesten seit dem Jahre 99 n. Chr. in den Papyri nach-
weisen: also schon im Ausgang des 1. Jahrhunderts steht das ius denun-
tiandae litis opperiendaeque ad diem für Aegypten fest (s. Iur. Papyri
S. 280, Nr. 83; Wlassak S. 38 ff.) und ist hier seitdem wohl die einzige
Ladungsform. Ob aus den Worten des P. Hamb. I 29 (= Iur. Papyri Nr. 85)
Z. 23 f. vom Jahre 94: ««p^vYciJXnt xot taßeXXag IcKppÄYwa geschlossen
werden kann , daß damals noch in Aegypten wie in Rom durch testatio
privata erhärtete Ladung üblich war (s. oben S. 247) , ist zweifelhaft
(Wlassak S. 38 A. 7, 47, 49 f., 55 f.). [Nicht zugänglich ist mir Brugi,
II nome dell' azione nel libello procedurale del diritto greco-romano:
Ann. Ist. stör. dir. rom. XIV, 1914/15, 3 ff.]
Appellation: Um Einlegung der Appellation (s. Iar. Papyri Nr. 74,
68 f. Bern, und S. 253) in einem Zivilverfahren um Schuld handelt es
sich P. Oxy. XII 1408 (= New Palaeographical Soc. II 77, etwa 210—214
n.Chr.), den Mitteis (S Z. XXXVIII 290 ff.) scharfsinnig erläutert.
Iudex a quo ist Sopatros, wohl ein iudex delegatus, Beklagter Tryphon;
Kläger und Appellant Asklepiades zugleich als procurator seines Vaters,
für den er cautio rat am rem haberi zu leisten hat, daß er nicht noch
einmal im eigenen Namen klagen werde: sie sind mit ihrem Anspruch
abgewiesen worden. Ihre Berufung ist beim iudex a quo angemeldet,
innerhalb von 15 Tagen soll sie beim iudex ad quem angebracht und
die Sukkumbenzmult (s. Iur. Papyri Nr. 71, 7jf. Bern.) hinterlegt werden
(\bu,aTC37.i tö rcp6oT6ifM)v), erst dann ist sie gültig. Der Beklagte verlangt
Juristischer Papyrusbericht. 275
Sicherstellung dafür, daß er inzwischen nicht zur Zahlung der Schuld
angehalten werde, was ausgeschlossen ist. Der Appellant Asklepiades
will die Sukkumbenzmult unzulässigerweise nicht für die ganze Berufungs-
summe, sondern nur für seinen Anteil (nicht den des Vaters) erlegen
(>cara xö IrctßaXXov jxot fjipoc). Der Beklagte repliziert dagegen: (juoc
sxxXyjto«; xai ev TCpöaxsijj-ov iattv. Die Appellation wie die Appellationsmult
ist eine einheitliche, die Appellanten sind <iXXY]Xeyyooc, ein jeder haftet
als Gesamtschuldner auf das Ganze, wenn auch die Appellation nur für
den Teil des anderen erfolgt.
Prozeßrecht der arabischen Zeit: In arabischer Zeit entscheiden
der Statthalter und der ihm zur Seite stehende Oberkadi nur die Pro-
zesse der Araber; ordentlicher Streitrichter, nicht nur Friedensrichter
und auch nicht bloßer Delegat des Statthalters, für die Prozesse der
Kopten ist der Pagarch (— amira, sahib-el-kura) , dessen Amtsbezirk
sich im wesentlichen mit dem territorium (ivopta, x^pa, vo^bi) einer koXk;
deckt. Das erweist Steinwenter (Stud. Pal. XIX 11 ff.) besonders
aus den arabischen Aphrodito-Papyrus (s. B e c k e r , P. Schott-Reinhardt ;
Zeitschr. für Assyriologie XX 68 ff. ; Islam II 245 ff.), zu denen die kop-
tischen Kauf- und Vergleichsurkunden treten (gegen Steinwenter tritt
Arangio-Ruiz, Aegyptus I 385 f., auf). Der Entscheidung des
Pagarchen oder anderer Rechtsschutzorgane (s. unten) unterwerfen sich
die Parteien stets freiwillig ; den Schluß des Verfahrens bildet stets eine
mit oder ohne Vermittelung von Schiedsmännern vor einem Privatnotar
aufgesetzte 8taXoat<;-Urkunde und Abstandserklärung. Zweifellos hat der
Pagarch (im Gegensatz zum Dioiketen: s. unten) das Recht, gegen den
widerspenstigen Beklagten vorzugehen und seine Entscheidung zu voll-
strecken. Der Dorf-Dioiket (s. oben S. 249) übt dagegen nur eine
auf Vermittelung der BcocXuoi? gerichtete friedensrichterliche Tätigkeit aus,
auf seinen Vorschlag werden meist in der Verhandlung vor ihm durch
compromissum der Parteien Schiedsmänner gewählt (Steinwenter 19 ff.).
Verstoß gegen die SiaXusi«; führt zum Verfall der durch ihre Straf kl ausel
festgesetzten Strafe; ein neues Verfahren wegen der bereits entschiedenen
Sache wird aber dadurch nicht ausgeschlossen. Eine gleiche friedens-
richterliche Tätigkeit hat der Lasane = ape, jjieiCwv, der Dorfschulze
(s. oben S. 249 f.); Steinwenter 54 ff. Gelegentlich finden wir ihn auch
zusammen mit den hn nog hröme als Schiedsmann fungierend. Diese
„ großen Männer" (= pisisovs«;: s. oben S. 250) sind die Honoratioren des
Dorfes; ihr Schiedsspruch wird bezeichnet als opo<; bzw. [kzoizsia, auch
rötto? (s. Steinwenter 17 f., 22 ff., 43 ff., 56 ff.). Vgl. dazu den leider
zum Teil verstümmelten , großen koptischen Papyrus aus byzantinischer
Zeit (etwa 570 n.Chr.) P. Lond. V 1709, in dem wohl der bekannte
Dioskoros (ebenso wie P. Lond. V 1708: a. 587) als arbiter fungiert,
276 Paul M. Meyer.
und P. Lond. V 1707 (a. 566); von sonstigen Vergleichen siehe besonders
P. Monac. I 1. 7. 14. 6, 4. 23 und SB I 5681 aus dem Jahre 623.
Die genannten Rechtsschutzorgane und andere werden häufig in
den Abstandserklärungen der koptischen Dialysis-Urkunden aufgeführt.
Ihre Fassung entspricht ähnlichen Aufzählungen byzantinischer Papyri
(?. bes. P. Lond. I 77 S. 241 ff. Z. 43 ff.: a. 600; V 1717, 26); sie gehen
zweifellos zurück auf die als Vorbilder der koptischen fodlooet^ anzu-
sprechenden deniotischen zr^/ojorzf.c (s. oben S. 264). So werden im
P. Wiss. Ges. Straßb. dem. 18, 5 f. als Rechtsschutzorgane angeführt:
„ . ..Richter (Laokriten) . fcxoocfjc (Chrematisten) . 0Tparr]y6<; , ejuatarr):
oder irgend ein Mensch der Welt, der in einer Sache vom König gesandt
ist." In den angeführten byzantinischen Urkunden und den koptischen
der Araberzeit finden wir folgende Rechtsschutzmittel : ö-elo? xou rrpotY-
\taxatbq tUiioc (kaiserliches Reskript) , Dorf-tinie (Dialysisfunktion des
Dioiketen und Lasane), Gau (tos) = kök:<; (Pagarch), Ixxkvfswxraxov (epi-
scopalis audientia), gpaträpcov (wohl nur allgemein weltliche Gerichtsbar-
keit, nicht speziell auf das praetorium des dux Thebaidis in Antinoupolis
bezüglich), Iv 8utaarf)pup -7; exto$ 8. (ordentliches Gericht und Schieds-
richter). S. Steinwent er 58 ff.
Yollstreckungsklausel : Nach alexandrinischem Stadtrecht soll
die Personalexekution nur eintreten, wenn das Vermögen des Schuldners
zur Befriedigung des Gläubigers nicht ausreicht (P. Hai. 1, 117 f., 119 f.
und S. 81 : Rpa£aT<n xafönceß sy oiv.r; ht tcöv 'j-as/ovrcov, lav Ss jjiy- IxKOir^..
v.al ht toü a&pjaxoq). Diese Bestimmung, die wahrscheinlich nur als Vor-
recht des alexandrinischen Bürgers gilt , hat ihr Vorbild z. B. in dem
halikarnassischen Gesetze bei Dittenberger, Sylloge3 Nr. 45 (bald
vor dem Jahre 454 3 v. Chr.; s. Z. 37: 5|v ok uy( ri a:jT<I> S|cn bfain otarqpfDV,
otfcov [slexfrijofau zx HayouyY,: ....); vgl. auch die Inschrift aus Delos
aus der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts v. Chr. BCH. XXXI, 1907,
47 Z. 27 ff. (dazu Latte, Heiliges Recht, 1920, S. 43 A. 13). Gegen jede
Personalexekution sollen die zum Ressort des 8tocr»jr^ gehörigen Personen
geschützt sein nach dem Erlaß des Ptolemaios Euergetes IL vom Jahre HS
v. Chr. (P. Teb. I 5 Z. 221 ff. = 11 itt eis, Chrest. 36); nur Vermögens-
exekution und Verkauf der gepfändeten Sachen ist gegen sie statthaft,
und auch dies nur in beschränktem Umfange (Z. 231 ff.). Diese Ver-
ordnung ist im fiskalischen Interesse erlassen (s. M itt eis, Grundzüge 20).
Das Gegenstück zur obigen alexandrinischen Verordnung bildet die
Kapajmaa äyojy.u.o;- Klausel in den alexandrinischen -jyyco&Y-eis der
augustischen Zeit, die sofortige Vollstreckung in die Person des Schuld-
ners im außerordentlichen Verfahren (ohne Mahnverfahren?) vorschreibt
(s. Iur. Papyri Nr. 45 Einl. § 2). Die Schuldner sind in allen diesen Ur-
kunden mit Ausnahme von BGU. 1151 und 1156 Perserepigonen. Im
Juristischer Papyrusbericht. 277
P. Oxy. XIV 1639 (73 oder 44 v. Chr.), einem yscpÖTpacpov zweier Perser-
epigonen, finden wir nach der xa&drcsp ey 8ixY]<;-Klausel (Z. 18): dYü>Yi|Aot
ao[c 8s] eaofAsO-a . . . xal eitl rcavxö? aauXoo xal ap^ovxoi; xal otcoo av xdic
xafröXöo TceptTCtTct-jfj? yj[uv. Das hat nichts mit der sofortigen Vollstreckungs-
erlaubnis der o^yx^p^gsi«; in die Person zu tun, bedeutet vielmehr nur
den Gegensatz zu dem vorhergehenden jj.yj fxevoüoouv yjjjiZv rcfijaxeouv xx«.
(s. Iur. Papyri Nr. 45, 33 mit Bern.). Neue Beispiele von Abführung in
die private Schuldhaft (äwafüi-pi) bieten PSI. V 529, 4 Bern., 532, 8 ff„
— Die Klausel yj rcpä|t<; eax<o d><; npö? ßaatXcxd (s. Lewald, Personal-
exekution 39; Paul M. Meyer, P. Hamb. I 2 S. 104 A. 5) stellt, wo sie
sich in Privatverträgen findet (z. B. neuerdings in den Zeugenurkunden
PSI. IV 321 ; P. Edgar Nr. 36, 11 ff. : s. S. 260 f.), die Privatschuldner Fiskal-
schuldnern gleich, wohl vor allem, aber nicht ausschließlich (s. P. Edgar 36),
hinsichtlich der (verschärften ?) Realexekution. Zu scheiden von der
Kpäii$ rcpo«; ßaaiXixd ist die Klausel y] Tcpä|t<; eoxü) xü) §avsioxvj rcapa xoö
uTCGXpeou updaaovxi xaxa xö 8:aYpa|j.|jia (Jörs, SZ. XL 13 ff.); in der Darlehns-
Zeugenurkunde PSI. IV 389 (s. S. 261) lautet sie, wie auch ähnlich in außer-
ägyptischen Urkunden : yj rcp. I. xaxa xoü<; vojaou«; xal xö §idYpaji.jüLa, P. Amh. II
43, 14 (173 v. Chr.) ist das xaxct zobc, vojxoo^ dem xaxa xö 8idypa}jijj.a nach-
gestellt. Die Vollstreckung soll also vonstatten gehen gemäß dem Gesetz
und der allgemeinen Gerichts- und Prozeßordnung (s. Iur. Papyri S. 253).
Eine Beschränkung auf Personalexekution liegt natürlich ebensowenig in
den Worten der Klausel, wie man die Formel yj itp. e. itpö? ßaatXixd nur
als auf Realexekution bezüglich ansehen darf (vgl. etwa P. Hib. I 124).
Welche Vorschriften die Gerichtsordnung im einzelnen hinsichtlich der
Vollstreckung enthielt, läßt sich aus den Urkunden bisher nicht erschließen.
Die üblichste und zugleich älteste Form der Urkundenvollstreckungs-
Klausel ist aber von der Ptolemäerzeit bis in die byzantinische hinein die
izpÖL^ic, xafrdrcep ey 8ixy]<; (= rcpä£c<; rcapa xoö 8elvo<; xa^dresp SIxyjv uxpXY]xoxo<;),
daneben findet sich die einfache Ttpä^-Klausel ohne hinzugefügtes
xctfl-ditep ey 8(xyjc. [Korrekturzusatz: Siehe jetzt Schwarz, Die
öffentliche und private Urkunde im römischen Aegypten
(Abh. Sachs. Ges. der Wiss. XXXI 3, 1920) S. 30-59, bes. 40 f. 47. 57,
und 298 ff. , der die beiden Formen für die Kaiserzeit als gleichwertig
erweist; öffentliche Schuldscheine sind als solche ohne weiteres voll-
streckbar, private dagegen nicht ohne rcpä^-Klausel und 8y]|aogUuoic.]
Die rcpä^-Klausel der Kaiserzeit ist normalerweise sowohl auf das Ver-
mögen des Schuldners als auf seine Person abgestellt. In der ältesten
uns vorliegenden Fassung aus dem Jahre 311 v. Chr. lautet die Formel,
wie auch außerhalb Aegyptens : y] rcp. ecxu> xaOdusp sy 8ixyj<; xaxa vojjlov
xeXo? Ixoooy)? (Iur. Papyri Nr. 18, 12; vgl. Jörs, SZ. XL 12 A. 1). —
Die Klausel: arco&oxw . . aveo 8£xyj<; xal xpiasoo*; (xal 6itep\Hascu<; xal eopYjai-
278 Paul M. Meyer.
Xoy:a<; . . . ) = „ohne Gericht und Gesetz . . ." (koptisch) = 'sine omni strepitu
iudicii et querele' findet sich in den hellenistischen, byzantinischen, kopti-
schen wie in den lateinischen mittelalterlichen Urkunden. Sie ist keine
leere Floskel, die Worte bringen vielmehr zum Ausdruck, daß dem
Gläubiger eigenmächtige Privatpfändung, Selbstvollstreckung zusteht, dem
Schuldner dagegen keine gerichtliche Einrede oder Schritte gegen das
private Vorgehen des Gläubigers. Das führt Rabel, P.Bas. S. 83 f.
treffend aus. Zur Frage der Selbstvollstreckung in den Ptolemäer-Papyri
siehe E. Weiß s. v. Katenechyrasia bei Pauly- Wissowa-Kroll X
2496 f.; Jörs, SZ. XL 5 ff., 47 A. 4; vgl. die gemeingriechische ep-ßateia
und ihre Folgehandlungen (s. unten S. 280).
Urkandenvollstreekung in das Vermögen: Den Gang des Mahn-
und des Vollstreckungsverfahrens aus pfandlosen oder durch Hypallagma
gesicherten Exekutivurkunden, den uns, zweifellos auf die Ptolemäerzeit
zurückgehend, die Urkunden der römischen Zeit bis ins 3. Jahrhundert
hinein zeigen, habe ich im Anschluß an die grundlegenden Aufsätze von
Jörs (Erzrichter und Chrematisten: SZ. XXXVI 230— 339; XXXIX
52 — 118) in den Iur. Papyri S. 142 ff. skizziert. Die für die Erkenntnis
der Rolle des Chrematistengerichts im Vollstreckungsverfahren ausschlag-
gebende Urkunde Berol. P. 11664, deren Z. 1— 15 Jörs mitgeteilt
hatte, ist von mir (a. a. 0. Nr. 48) ganz veröffentlicht worden. Die
Parallele zu dieser Urkunde, P. Ryl. II 115, hat Jörs (SZ. XL 87 ff.)
neben anderen Aktenstücken treffend analysiert. Eine rcapaSsi£i<; Ivs^upcov
(s. Iur. Papyri S. 144 B 2) erwähnt P. Edgar Nr. 4, 4 (Ann. du Ser-
vice XVIII 167). Eine neue, auf die Besitzeinweisung im Vollstreckungs-
verfahren bezügliche Urkunde ist PS I. IV 282 (183 n. Chr.), ihre Struktur
und ihr Inhalt weichen aber sehr von P. Flor. I 56 + P. Grad. (= Iur.
Papyri Nr. 49) und P. Flor. I 55 ab. Diese sind Zustellungsurkunden
des Besitzeinweisungsbeschlusses , unsere Urkunde , wie ich sie auffasse,
ist eine Eingabe der schon in den Besitz eingewiesenen (s. Z. 27 f.)
Gläubiger (ol rcepl tov Xeecp Yjß-v) ; sie ist datiert vom 9. Januar 183 (Z. 35 f.).
Es handelt sich also um ein nach Beendigung des Vollstreckungsver-
fahrens erfolgtes neues Ansuchen , gerichtet wohl an den praef. Aeg. ;
worauf es sich bezieht, läßt sich bei dem außerordentlich lückenhaften
Zustand des Papyrus nicht ersehen. Der Wortlaut der Eingabe stand
am Anfang der Urkunde, der nicht erhalten ist. Es folgen dann nach
meiner Auffassung Auszüge aus verschiedenen Aktenstücken, die sich
auf die ijijkt&sia beziehen:
1. Aus uTtojjLVTjiiaTiapLoi des Strategen (?; Verhandlung vor ihm als
Exekutionsinstanz: rcapsJYevovto ; Z. 1 — 4), 2. aus 6ito;j.vY]|j.aua[xoi des ftpx'-"
Sixacrfc (Z. 4— 15): einleitend steht das Datum (24.? Sept. 182: Z. 6)
und fad ß[vju,axo<;, auf die bizo^poLf-f] der Chrematisten wird bezug ge-
Juristischer Papyrusbericht. 279
nommen (Z. 11 — 13), ohne daß sie auch nur auszugsweise angeführt
wird. Das &ve]Yv(oaxai 8ia laarorfeüx; 'HXioSfwpou weist nicht auf ihren
nur aus der Ptolemäerzeit bekannten Geschäftsführer (vgl. Jörs, SZ.
XXXVI 260 ff. ; Iur. Papyri Nr. 79, 26 f. mit Bern, und oben S. 270 zu
P. P. III 25, 64). EloaywYels römischer Beamten siehe bei Preisigke,
Fachwörter s. v. S. 67 und besonders Stein, Untersuchungen zur Gesch.
und Verw. Aegyptens 187 ff. : ein solcher hat das Verhandlungsprotokoll
verlesen. Vgl. jetzt auch PSI. VI 688 R. Z. 68. 73, wo es sich um Aus-
gabeposten im Mahn- und Vollstreckungsverfahren handelt, wie Staato-
Mxoö, laarourel, on*rjpexYjt, eu-ßaSsia, y&pxou, xk\oc, fcu.ßao'eta«;, Ypäjixpcuv usw.
3. Petitum und Subscriptio der vom 5. Sept. 182 datierten evtsüqc«;
(s. Iur. Papyri S. 145 D 1) an den praef. Aeg. (es ist Veturius Macrinus).
Der Anfang des Petitum läßt sich etwa folgendermaßen ergänzen: Boo-
XofAsvot xa xy]<; IjJLßaSsta^ siuxsXsoO-Yjvai os6|j.s0,a ercl xyj<; 8caXoYY]<; oo^v.plvo.i
Ypa'-pat xü) xoü 50^o] | po^ytizoo axpaxY|*f<I> e|J.<ßt>ßaaai ^[fJ.ä<; el? xa xaxaYpacpo-
[xeva olxorceoa . . . . ax; icpoxstxai xal] | oüvstcioxosiv yj[(jlsI]v sv x-yj xo[ü]i[o>v
xpaiY]oei xal xopeia xal arcocpopä xcüv e£ a'jtoüv TCSpuaojxevcuv xal ev oi$ eav
aXXot<; | aoxcüv rtJpopSsofisO-a [ixspi xoüxcuv xxa. Die Subscriptio ist von
XsscpYjßii; zugleich als bKoycaysoq seines Mitgläubigers unterfertigt und zu
Händen des Präfekten eingereicht: Z. 15 — 27.
Es folgen endlich unter 4. 5. Vermerke von Beamten: 4. ein solcher
eines uTCYjpexr^ Diogenes und eines Calpurnius, dessen Amtsbezeichnung
fortgefallen ist (war er Kollege des Diogenes? Der Schuldner oder sein
Erbe ist er wohl sicher nicht). Das Datum ist wohl vom 6. Oktober 182.
Am Anfang von Z. 28 ist erhalten: ]xyjv rzpbq xc xrA°$ iwcoxvjv. Das kann,
wie das der Verhandlung vor dem apxi8iy.aaxi^<; nachfolgende Datum
zeigt, nicht als „die zum Ersatz der Schuld im Grundbuch eingetragene
Verfangenschaft der Grundstücke" (s. Iur. Papyri S, 144 B 3) gedeutet
werden ; eine Erwähnung dieses Stadiums der Vollstreckung wäre hier
nicht mehr am Platze. Wir müssen also xatox*^ hier als „Besitz" fassen
und die Worte auf die Besitzeinweisung (ejxßaSsia) beziehen. Diese ist
danach wohl von dem dtcyjpsxyji; vorgenommen worden. Ich ergänze daher,
wenn auch zweifelnd: 6rcY]ps[xY]<; fi.sxscu>xa . . . x<L uiroxpew svcuiuov <*><; xaö-Yj-
xei xal evsßtßaaa Xescpvjß'.v . . . xa! . . . slq] xyjv rcpö<; xo Xr^°* wzoyriV (misi
in possessionem). Ist diese Ergänzung richtig, was durchaus nicht sicher
ist, dann ist der Formalakt der epißa&sia nicht selbständig durch den
Gläubiger erfolgt (so Jörs, SZ. XL 65 f., 77 ff.), sondern unter behörd-
licher Mitwirkung. Wie ist aber das folgende aufzufassen: (!><; $k
r\\j.[ ]-o rcapdxetxat 4]|JLeIv? Handelt es sich um eine Zusatzbemerkung
des Gläubigers : wt; 8s Yjjjl[siv . . . 8ia xoü ßtßuocpoXaxetou SsBrjXwxai , xa
S'.xa-üjjiaxa (bzw. Sixa'.a) . . . ]o Tiapaxstxat yj|1.s;.v, die Besitzpapiere (Dekla-
rationen usw.) ruhen in unserem Fachwerk im Grundbuch?
280 Paul M. Meyer.
6. Der letzte Vermerk ist der des "ApjtaXo? xw;jiOYpoijj.}j.aTcu<; E[ folgt
der Name des Dorfes (Z. 32 — 34) : auf Eintragung ins Grundbuch kann
sich der Vermerk nicht beziehen; die ist schon erfolgt, vielleicht handelt
es sich um das xata/tupiCetv in den Dorfkataster.
Im gemeingriechischen Recht entspricht die sjj.ßaxeia der ejxßaSeta,
sie ist ein mündlicher Formalakt des Gläubigers ohne amtliche Mitwir-
kung, vor Zeugen. Ihrer kann sich im attischen Recht der Schuldner
durch l£aqwYr\ (Ausweisung, Pfandwehr) erwehren, welche die Stelle der
ägyptischen 4vrtpp?]ai<; (s. Iur. Papyri S. 143, 5) einnimmt. Dagegen steht
dem Gläubiger wiederum die Klage der Sixy] e^odXyj«; zu, welche eine
„Deliktsklage zum Schutze berechtigter Selbsthilfe" ist. Siehe jetzt vor
allem Rabel, SZ. XXXVI 346 ff., zusammenfassend 382 f.; XXXIX
296 ff. , vgl. auch E.Weiß s.v. Katenechyrasia bei Pauly-Wissowa
X 2508 f. ; Jörs, SZ. XL 77 ff. 'E^ay otrf'q und 8ixy] I^ooXt^ finden (im
Gegensatz zur avupp*f]oi<; und auch der ejj.ßaos:a) nicht nur bei der Ur-
kunden-, sondern auch bei der Urteilsvollstreckung Anwendung.
Die Darstellung des Vollstreckungsverfahrens aus den
durch Hypothek gesicherten Exekutivschuldscheinen
(s. Iur. Papyri S. 145) durch Jörs steht noch aus. Vgl. einstweilen SZ.
XL 54 A. 3. 4; 66 A. 1. Wichtige neue, auf dieses Verfahren bezügliche
Urkunden kenne ich nicht. Dagegen zeigen der uns durch Partsch
und Genossen (Archiv VI 354 f.) neu geschenkte P. Lille II 31
(218 v. Chr.) und P. Oxy. XIV 1634 (222 n. Chr.) sowie P. Oxy. XIV 1701
(saec. III) private Abmachungen zwischen Gläubiger und Schuldner, durch
welche die Zwangsvollstreckung in die Hypothek aufgeschoben bzw. ver-
mieden wird. Im Liller Papyrus hat ein Erblasser ein Grundstück für
ein Darlehn verpfändet, die Erben, seine beiden Brüder (Z. 2: xataXei-
jm [xot xai tJji otl-/i otÖsXcpöJi yrp £<p' r^t i$edd]veiGfat) , erkennen dem
Gläubiger gegenüber die Haftung des Grundstücks an, der Gläubiger
erklärt sich bereit, die Hypothek stehen zu lassen (Z. 4 : [6 8s xaxsye:v,
toö ypioot; x«\)-5 u7to]ö"rjXY]v erel föou ovto<;, Ixi-^uipzi 4j(i.iv). Das Petitum
geht auf Eintragung der Vereinbarung ins Notariatsregister des ayopowö-
jaoi; (s. Iur. Papyri S. 87) zwecks Vermeidung der ejrixaxaßoXYj (Iur. Papyri
S. 145. 205 f.) : Z. 7 (§£op/u) [-posxdCa'. . . . tö>'.] oxpazr^Gn, ypd'.|>ai Moo^un
td>t ör(opav[6juum Qtvavsioatv o.yx^pd'la.'. Ttapa] toö 'Irocovixoo ix xoö 'Eppuoü xoü
tstcX[suty]x6toi; bvofJLato«; (entsprechend Z. 11), oia to jxt( ...].. . EiuxaxaßoXYjv
•fevEoö^at. Die avavswaii; (vgl. Iur. Papyri S. 205) ist in dieser Ptolemäer-
urkunde Anerkenntnis der Grundstückshaftung durch den neuen Eigentümer
und Verlängerung der Hypothek durch den Gläubiger. Vgl. den xaivo/oupiojAos
P. Oxy. XIV 1644 (s. oben S. 264). P. Oxy. XIV 16 34 ist ein Kauf-
vertrag; die Verkäuferinnen, mehrere Schwestern, die cives Romanae und
uozrxi sind (s. oben S. 225), verkaufen das für ein Darlehn durch Hypothek
Juristischer Papyrusbericht. 281
(Z. 11 litt v.a.xoyfQ; P. Oxy. XIV 1701, 15 erci 6ico-6-qx-j?) verpfändete Haus
nebst Zubehör an die Gläubigerin und bekennen tö Xoircöv tyjs xijj.yjc, den
„Mehrwert", von ihr erhalten zu haben. Es handelt sich hier und im ana-
logen P. Oxy. XIV 1701 nicht um fiktiven Kauf, nicht um Anfall des Pfand-
objektes an den Gläubiger im .Vollstreckungsverfahren zum Schätzungs-
wert (s. Iur. Papyri S. 224) , sondern um gütliche Einigung zwischen den
Parteien mittels Kauf, wodurch es nicht zur Pfandvollstreckung kommt.
Urteilsvollstreckung: Das auf Grund rechtskräftigen Urteils, der
normalen Grundlage der Vollstreckung, eintretende behördliche Voll-
streckungsverfahren untersucht Jörs, SZ. XL 1 ff. Die Urteilsvoll-
streckung war in der ptolemäischen Prozeßordnung, dem äiaypafjifjia (s. oben),
behandelt (Jörs 17 A. 2). Als Urteilsvollstreckungsrichter fungiert das
erkennende Gericht (S. 18 ff.). Auch in der Kaiserzeit bleibt in Aegypten
der Prozeßrichter zugleich Vollstreckungsrichter; normalerweise ist es
der praef. Aeg., aus eigenem Recht fungiert als solcher auch der Iuridicus
(S. 24 ff.). Sie können ihre Vollstreckungsgewalt mandieren (S. 28 f.) ;
es werden besondere Vollstreckungsrichter in den Papyri erwähnt (6 hO
t<Bv xsxpi|jivü)v = iudex qui de iudicato cognovit (S. 29 ff.). Ausführendes
Organ auch bei der Urteilsvollstreckung ist in ptolemäischer Zeit der
gevtxüv itpdxiwp (S. 40 ff.; vgl. P. P. III 25, 42: s. oben S. 271), in dei
Kaiserzeit ein Amtsdiener des Vollstreckungsrichters (S. 44 ff). Vollzogen
wurde die Vollstreckung von Urteilen ebenso wie die aus pfandlosen
bzw. durch Hypallagma gesicherten Exekutivurkunden durch Pfändung:
während in der Ptolemäerzeit auch hierfür das Wort hsiopaolct. verwendet
wird , findet es sich für die Pfändung aus einem Urteil in römischer
Zeit nicht (S. 47 ff.). Wahrscheinlich aber bezeichnet auch hier der
Gläubiger die für die Vollstreckung in Anspruch genommenen Ver-
mögensstücke durch Tcaod8si£i£ (s. Iur. Papyri S. 144 B 2) ; daß aber eine
TrpoaßoXYj und xaiaypacpv] (s. Iur. Papyri S. 144 B 4. C 1) folgten, davon
wissen wir nichts. Ebenso läßt sich die IjxßaSsia nur für die Urkunds-
vollstreckung erweisen; auch P. Oxy. III 653 {= Mitteis, Chrest. 90)
bezieht sich nur auf diese, BGU. 378 (= Mitteis, Chrest. 60) handelt
es sich um das allgemein gültige römische Vollstreckungsverfahren, das
in einem Prozesse zwischen cives R. von einem reinrömischen Magistrat,
dem Iuridicus, angeordnet wird (S. 52 — 70). Die Wirkung der Pfändung
auf Grund eines Urteils ist nicht Verfall der gepfändeten Sache zu
Eigentum des Gläubigers: für die Ptolemäerzeit ist es sicher, daß be-
wegliche Sachen verkauft wurden (S. 70 f.), für Grundstücke muß die
Frage offen bleiben, ob Verfall oder Verkauf eintritt (S. 71 f.). Gemäß
der Regel des römischen Vollstreckungsverfahrens der extraordinaria
cognitio erfolgt in der Kaiserzeit die Befriedigung des Gläubigers durch
Verkauf der Pfandsache (pignus in causa iudicati captum ; S. 72 ff.).
282 Paul M. Meyer.
Cessio bonorum : Urkunden, welche die cessio bonorum betreffen,
besitzen wir jetzt in ziemlicher Zahl. Vermögensabtretung von Liturgie-
pflichtigen an die KpoßaXojxevoi aütou; zwecks Übertragung der Liturgie
enthalten die engeren Parallelen P. Oxy. XII 1405 (a. 200), BGü. 473
(= Mitteis, Chrest. 875, a. 200; dazu Wilcken, Archiv VI 421),
PSI. IV 392 (saec. III). In allen drei ist eine 0-eia a&ToxpatopixY] ht&vafyj;,
ein Kaiserreskript , der Eingabe des Liturgiepflichtigen vorangestellt.
Dieser soll danach keine capitis deminutio (occpatpsoi? tyj<; ejuTtjA»la<;) oder
iniuria erleiden (wie sie PSI. IV 392 im Widerspruch dazu stattgefunden
hat). Vgl. auch P. Oxy. XIV 1642, 33 f. (a. 289); XII 1417, 5 f. (saec.
IV in.); CPR. I 20 (= Wilcken, Chrest. 402: a. 250; hier wird 2/3 des
Vermögens abgetreten; 8. Wilcken a. a. O.). — Das Reskript des Severus
und Caracalla über das collegium centonariorum (Feuerwehrverein) in
Solva (Steiermark) legt Steinwenter (Wien. Studien XL, 1918) ab-
weichend vom ersten Herausgeber Cuntz aus. Dieser hatte die maß-
gebende Z. 7 ergänzt ad ver[ba tua etiam honor]is adhibendum est re-
medium und danach angenommen, die wohlhabenden Vereinsmitglieder
sollten auch zu den honores zwangsweise herangezogen werden. Stein-
wenter schlägt statt dessen etwa vor: adver[sum bonorum cessionjis
adhibendum est remedium, den wohlhabenderen centonarii sollen die
munera zwangsweise auferlegt werden, falls sie nicht die Abtretung ihres
Vermögens vorziehen. Gegen beide Ergänzungen wendet sich A. G. R003
(Mnemosyne 1919, XLVII, 371 ff.) und ergänzt: ad ver[ba tua substitutionjis
adh. est remedium. [Das Buch von Guenoun, La cessio bonorum, Paris
1920, ist mir nur durch das Referat Kubier s (Berl. phil. Wochenschr.
1921, 176 ff.) bekannt.]
Auf privatrechtliche cessio bonorum beziehen sich die 6no[iv7]}j.axtojj.ol
P. Ryl. II 75 I (saec. II). In P. Ryl. II 117 liegt wohl eine nachgeformte
in iure cessio hereditatis seitens des Intestaterben vor Antritt der Erb-
schaft an den Nachlaßgläubiger vor (s. Kr eller, Erbrechtl. Unter-,
suchungen 411 f.).
[Das mir erst nach Abschluß des Manuskriptes zugegangene Buch
von Andreas B. Schwarz, Die öffentliche und private Ur-
kunde im römischen Aegypten (Abh. Sachs. Ges. d. Wiss. XXXI 3),
konnte nur in einigen Zusatzkorrekturen verwertet werden; im nächsten
Bericht werde ich ausführlicher auf dasselbe eingehen, ebenso auf das
auch juristisch hochbedeutsame Werk von Sethe-Partsch, Demo-
tische Urkunden zum ägyptischen Bürgschafts recht, vor-
züglich der Ptolemäerzeit (Abh. Sachs. Ges. d. Wiss. XXXII).]
Abgeschlossen November 1920.
Besprechungen.
Hans Kr eller, Erbrechtliche Untersuchungen auf Grund der gräko-
ägyp tischen Papyrusurkunden. Leipzig und Berlin, Teubnerl919.
XII und 427 S.1).
In dieser sehr fleißigen und mit großer Akribie geschriebenen
Arbeit, deren erste drei Kapitel bereits 1915 als Dissertation erschienen
waren, hat sich der Verfasser die Aufgabe gestellt, das gesamte
griechische Papyrusmaterial zu untersuchen, um daraus ein Bild „des
im hellenistischen und römischen Aegypten in Geltung gewesenen
Erbrechtes" wenigstens in Umrissen zu gewinnen. Aus der Natur
der überlieferten Urkunden, die alle nur Einzeldokumente aus der
Praxis sind, ergab sich die Unmöglichkeit, auf Grund derselben ein
vollständiges System zu entwerfen, und die Arbeit Krellers mußte
sich in eine Reihe von Einzeluntersuchungen auflösen. Das erste
Kapitel befaßt sich mit dem Gegenstande des Erbrechtes im allge-
meinen und mit der Haftung für die Nachlaß Verbindlichkeiten ins-
besondere. In der wichtigen Frage, ob das hellenistische Recht hier
eine unbeschränkte Haftung des Erben (M i 1 1 e i s , Grundzüge S. 234 f.)
oder bloßes Einstehen cum bzw. pro viribus hereditatis
(hauptsächlich Partsch, Griech. Bürgschaftsrecht S. 231 ff.) ge-
kannt habe, läßt sich nach Verf. S. 47 ff. für Aegypten eine Ent-
scheidung zurzeit nicht treffen, und er neigt zur Ansicht, daß selbst
dem griechischen Rechte eine eigentliche Normierung der Materie
gefehlt habe. Zu den an dieser Stelle von Kr eller zusammen-
getragenen Urkunden ist jetzt ein umfangreicher Aphrodito Papyrus,
P. Lond. V 1708 (a. 567 ?) dazugekommen, der eine schiedsrichter-
liche Entscheidung in einer Erbschaftsangelegenheit enthält. Das
Einstehen mehrerer Erben für die Nachlaßschulden pro parte
hereditaria sowie ihre Verpflichtung zur Bestattung des Erb-
l) Vgl. auch den kritischen Bericht Paul M. Meyers im „Juristi-
schen Papyrusbericht", oben S. 231 ff. Leonhard Adam.
284 Besprechungen.
lassers wird darin Z. 57 — 69 und Z. 224 — 243 deutlich zum Ausdrucke
gebracht, ohne daß wir aber bezüglich des Haftungsumfanges etwas
Bestimmtes erfahren würden ; vgl. auch PSJ. IV 281, 43 f. (118 n. Chr.).
Den Anfang des zweiten Kapitels bildet eine terminologische
Untersuchung über die zur Bezeichnung des Erben und der Erb-
schaft in den Urkunden vorkommenden Ausdrücke. Der Sprach-
gebrauch ist trotz des Vorhandenseins gewisser juristischen begriff-
lichen Unterscheidungen zwischen Intestat- und Testamentserben im
allgemeinen schwankend ; vgl. auch meinen Hinweis auf einige Stellen
in C. Just. (Münch. krit. Vierteljahrschrift XIX S. 73) und z. B.
Glossae nom. s.v. 5taxaxox*f]. Interessant ist auch die Erwähnung
von xX^povofxot otxsrot xe xal gevot in P.Lond. V 1735, 15 (Ende 5. Jahrh.),
als Analogon zu P. Teb. 285 (Kr eil er S. 121). Die Deutung der
xX-yjpot in P. Mon. 9, 61 (vgl. Wenger, P. Mon. S. 113) wird jetzt
durch P. Lond. V 1733, 35 (a. 594) insoweit erleichtert, als in der
letzteren Urkunde die xXvjpoi als von den Großeltern der Verkäuferin
ausgehend bezeichnet werden. Sie enthalten daher erbrechtliche
Verfügungen wahrscheinlich im Wege der elterlichen Teilung; vgl.
auch die Bemerkungen Beils dortselbst S. 194 Anm.
Eine Mehrheit von Erben führt in der Regel zu einer Erben-
gemeinschaft, die meistens eine communio pro indiviso sein
wird. Manchmal findet man aber an Stelle der Bruchteilgemein-
schaft eine communio pro diviso, die Kreller auf das encho-
rische Recht zurückführt und die hauptsächlich aus dem praktischen
Bedürfnisse nach gesonderter Wirtschaft entstanden sein soll (S. 73 f.,
wo aber Z. 10 von oben wohl indiviso zu lesen ist). Die Auf-
lösung der Gemeinschaft wird durch Teilungsvertrag (S. 77 ff.) oder
durch gerichtliche (schiedsrichterliche) Teilung bewirkt. Bedeutend
ist bei den Teilungsverträgen der Gegensatz zwischen dem helleni-
stischen und dem national-ägyptischen Rechte, auf den Verfasser S. 76 f.
und S. 86 ff. in Anschluß an Berg er, Strafklauseln S. 182 aufmerk-
sam macht. Das hellenistische Recht kennt bloß den Teilungs-
vertrag im eigentlichen Sinne, bei dem alle Erben als Mitkontra-
henten zusammen auftreten und bei dem alle Erklärungen in einer
Urkunde vereint werden, während in den demotischen Papyri auch
noch Teilungen durch einseitige Anordnung eines Erben (ältesten
Bruders) oder durch selbständige „gesonderte gegenseitige Ueber-
eignung einzelner Stücke" mit wechselseitigen selbständigen Aner-
Besprechungen. 285
kenntnissen partieller Berechtigung vorkommen. Besonders schöne
Beispiele der letzten Art sind die dem. P. Cairo Cat. 30 602 und
30 603. Bemerkenswert hierzu ist die Parallelerscheinung im alt-
babylonischen Rechte, wonach zwischen semitischem und sumerischem
Sprachgebiete derselbe Gegensatz im Schema der Erbteilungsurkunden
zu beobachten ist, allerdings noch schärfer, indem hier der Norden
nur den selbständigen Anteilschein eines jeden Miterben kennt,
während im Süden nur die einheitliche Auseinandersetzungsurkunde
sämtlicher Erben zu belegen ist ; vgl. z. B. die drei Urkunden M. 103,
M. 104 und CT II 4 bei der Teilung der väterlichen Erbschaft zwi-
schen drei Söhnen, im Gegensatz zur einheitlichen Urkunde BE VI232
(am bequemsten bei Schorr, Urkunden d. altbabyl. Zivil- and
Prozeßrechts Nr. 179—181 und Nr. 191; dazu S. 228 f.). Einige
Schwierigkeiten bieten dem Verfasser S. 88 f. (vgl. auch B e r g e r
S. 180 ff.) die die Teilungsverträge beschließenden Sicherungserklä-
rungen. Die Frage nach der Bedeutung der einzelnen Klauseln kann
nur in größerem Zusammenhange richtig gewürdigt werden, und es
scheint mir, bei der von Kr eil er selbst (S. 89) wahrgenommenen
Anlehnung an das Formular der Kaufverträge, nicht zutreffend, die
sporadisch doch vorkommende ßeßaiaooi; wegzuinterpretieren, um so
mehr, als sie sowohl in den demotischen als wieder später in den
koptischen Urkunden begegnet und auch in Rom die Abgabe von
Stipulationen de evictione bei Auseinandersetzungen vorgesehen
war; vgl. D. 10, 2, 25, 21 und D. 10, 3, 10, 2 (dazu Rabel, Haf-
tung des Verkäufers S. 116 f.). Die Möglichkeit, daß gewisse Partien
im Formular des Teilungsvertrages, wie es noch bei anderen Ver-
fügungsgeschäften der Fall ist, mit den enchorischen prozessualen
Rezeßerklärungen im Zusammenhange stehen, scheint mir naheliegend
zu sein und ist für die Erklärung der Schlußklauseln des Vertrages
von eminenter Bedeutung. Ein weiterer Erbteilungsvertrag mit
ausführlicher ßeßatwais-Klausel ist P. Oxy. 1638 a. d. J. 282 n. Chr.
Zur Frage, ob das byzantinische Recht neben dem Teilungsprozesse
auch schon eine Erbteilung im "Wege der freiwilligen Gerichtsbar-
keit gekannt habe, sind die späten koptischen Papyri aus Ober-
ägypten heranzuziehen, in welchen häufig vor der Sia/.ooi? gesagt
wird, daß die Parteien die Behörde angegangen seien (ev&fsiy), „auf
daß die Teilung zwischen uns durchgeführt werde", vgl. z. B.
Crum-Steindorf, K(optische) R(echts-)U(rkunden) 39, 13 ff.; 43,
286 Besprechungen.
8 ff. ; 45, 16 ff. Die divisio erfolgt dann durch Schiedsmänner,
die von den Parteien auf Veranlassung der angerufenen Behörde
gewählt werden, und es wird über die Teilung eine S'.dXuci«; (vgl.
P. Par. 20) aufgesetzt. Trotz des Ive^etv, dessen technische Bedeu-
tung in dieser Zeit nicht zu stark gepreßt werden darf, muß nach
den klaren Ausführungen von Steinwenter (Studien zu den kopt.
Rechtsurkunden S. 21 f.) die Mitwirkung der angerufenen Ver-
waltungsbehörde als eine ihr kraft des Amtes zustehende friedens-
richterliche angesehen werden; vgl. auch mehrere Jahrhunderte
früher P. Lond. II S. 284 f., der vom Verfasser richtig hervorge-
hoben wird1). Der Eid spielt in verschiedenen Funktionen bei man-
chen dieser koptischen Teilungsurkunden eine Rolle; vgl. Stein-
wenter, a. a. 0. S. 557 und den Offenbarungseid in P. Lond. V 1708,
243 ff. ; vgl. schon früher bei der Erbteilung in dem. P. Brit. Mus.
20079 A und D (Reich, Wiener Denkschr. 55, 3 S. 68 ff.).
Das dritte Kapitel enthält den Erwerb und die Uebertragung
der Erbenstellung. Der Antritt der Erbschaft scheint sich in Aegypten,
soweit das spärliche Material uns da einen Einblick gewährt, ohne
irgendwelche besonderen Formalakte vollzogen zu haben. Jedenfalls
lassen sich im Rechte der %Apa (S. 99 f.) keine Indizien für eine Weiter-
entwicklung des altgriechischen Gegensatzes zwischen Erwerb durch
eigenmächtige Besitzergreifung (Ipßarc&Äsiv) und Erwerb auf Grund
Einweisung durch den Magistraten ^i->.w.6.'Czo§o.>) finden. Daran ändert
auch die zweimalige Erwähnung von liei&%a£eo$ac in P. Gnom. c. 5
und c. 9 nichts, da die betreffenden Rechtsvorschriften sich nur auf
die Alexandriner und auf die übrigen in Gemeindeverfassung leben-
den Hellenen (o.zzo:) beziehen, also nur griechisches Recht enthalten;
vgl. über die verschiedenen Bevölkerungsklassen in diesem Papyrus
Schubart, Ztsch. f. äg. Sprache 56 S. 80 ff., über diectzxoi P.M.Meyer,
Jurist. Papyri S. 319 f. Hingegen aber haben schon die ersten ptole-
mäischen Herrscher die Erbschaftsteuerdeklaration zur allgemeinen
Voraussetzung eines gültigen Erbantrittes gemacht. Von den ptole-
mäischen und römischen tkwrfpwpw. zur Erbschaftsteuer geht Verf.
S. 107 ff. zur Besprechung der ätiro-fpafot einzelner ererbten Grund-
stücke über, die zwecks Eintragung beziehungsweise Umschreibung
der im Erbgange erworbenen grundbuchfähigen Rechte eingereicht
*) Anders wohl die attische Klage slq oarr^öJv aTpeoiv nach Lip-
s i u s, Att. Recht S. 576 ff.
Besprechungen. 287
wurden. Für die Uebertragung der Erbenstellung kommen sowohl
Rechtsgeschäfte über das zu erwartende Erbe, als auch Verfügungen
über den angefallenen Erbteil in Betracht. Beides läßt sich in den
Papyri belegen ; für die zweite Kategorie bringt P. Ryl. II drei neue
schöne Fälle, die Verfasser in einem Nachtrage S. 410 ff. bearbeitet. Zum
Erbrechte des Fiskus (§ 15) sind jetzt die wichtigen Aufschlüsse in
P. Gnom, zu vergleichen.
In den folgenden beiden letzten Kapiteln, die zwei Drittel des
ganzen Buches ausmachen, behandelt Kr eil er die wichtigste Partie
des Erbrechtes, die Berufungsgründe; nach der gesetzlichen Erbfolge
(Kap. IV) die gewillkürte (Kap. V). Es werden dabei Probleme an-
geschnitten, deren Bedeutung weit über das Recht der Papyri hinaus-
reicht und die vom größten allgemeinen rechtshistorischen Interesse
sind. Zu diesen hier ausführlich Stellung zu nehmen, ist nicht ge-
boten ; es fehlt nicht nur an Raum, sondern auch an den nötigen
Vorarbeiten, und wir müssen uns daher mit einigen Hinweisen be-
gnügen. Eine Untersuchung der Intestaterbfolge der ägyptischen
Griechen hatte schon Mitteis, Grundzüge S. 236 angeregt, und sie
war auch zum Teil durch die Osservazioni sul sistema di successione
legittima von Arangio-Ruiz (Cagliari 1913) geleistet worden;
trotzdem aber sind die genauen und mit besonderem Weitblick ge-
führten Forschungen des Verfassers als grundlegend zu bezeichnen.
Nachdem nähere gesetzliche Bestimmungen über das im helleni-
stischen Aegypten geltende Erbfolgesystem nicht erhalten sind, nimmt
Kr eil er die drei aus der übrigen hellenistischen Welt bekannten
Intestaterbfolgeordnungen zum Ausgangspunkte seiner Darstellung.
Dazu möchte ich bezüglich des syrisch-römischen Rechtsbuches be-
merken, daß die in der Mehrzahl der Handschriften bezeugte Gleich-
stellung der Töchter mit den Söhnen nicht als im oriens chri-
stianus allgemein geltend betrachtet werden darf. Bereits Mit-
teis hatte, Reichsrecht und Volksrecht S. 330 ff., die Abweichung
in Par. § 1, wonach der väterliche Intestaterbteil der Tochter einen
halben Sohneserbteil ausmacht, hervorgehoben und diese Abweichung
in Bar-Hebraeus bestätigt gefunden. Die inzwischen veröffent-
lichten Rechtsbücher der beiden persischen Metropoliten Jesubocht
und Simeon machen auf die ungleiche Rechtspraxis aufmerksam,
erklären aber das Halbrecht der Töchter als die in ihrer Provinz
herrschende Satzung (Je sub och t, Corpus iuris IV 1 Einl. und § 1;
288 Besprechungen.
Simeon, Canones § 13; beide bei S ach au, Syr. Rechtsbücher III
S. 93 ff. und S. 244 ff.). Dieselbe Anschauung vertreten auch die
zwei nestorianischen Patriarchen Mesopotamiens T i m o t e o s §§ 49 — 52
(Sa chau, a. a. 0. II S. 91 ff.) und Jesubarnum § 51 (S a c h au,
a. a. 0. II S. 139) mit Betonung der lokalen Rechts Verschiedenheiten.
Danach müssen im Orient schon zur Zeit des syrisch-römischen
Rechtsbuches zwei verschiedene Erbfolgesysteme nebeneinander be-
standen haben, von denen das eine, nach welchem die Töchter nur
den halben Sohnesanteil erhielten, auch ins musulmanische Recht
rezipiert worden ist; vgl. zur ganzen Frage Carusi, II problema
scientifico nel dir. musul. S. 78 ff. Ueber den Ursprung dieses letzteren
Systems muß leider auch gegenwärtig die Entscheidung ebenso in
suspenso gelassen werden, wie es Mitteis vor 30 Jahren getan
hat; denn Nachweise der Zurücksetzung der Töchter gegenüber den
Söhnen sind sowohl in den indogermanischen als in den alten semi-
tischen Rechtskreisen (vgl. z. B. Gesetzbuch Chammurapis § 180) zu
finden. Ich habe aber dieses Problem hier wieder aufgerollt, um
den Spuren eines ungleichen Erbrechtes der Geschlechter, die Ver-
fasser S. 147 f. in manchen Urkunden festgestellt hat, durch ein
Bild aus dem hellenistischen Osten eine weitere Stütze zu bringen :
vgl. übrigens noch die Bestimmung des P. Gnom. c. 9, wonach der
intestat und kinderlos gestorbene Freigelassene eines griechischen
Gemeindeangehörigen wohl von den Söhnen, aber nicht von den
Töchtern seines Patrons beerbt wird.
Das in den Papyri gebotene Urkundenmaterial über Fälle der
successio ab intestatoist ziemlich umfangreich, aber nicht viel-
seitig genug, um uns ein vollständiges Bild der geltenden Erbfolge-
ordnung zu liefern. Der Verfasser muß sich daher S. 141 ff. darauf
beschränken, die Richtlinien des Systems anzugeben. Eine Berufung
der Kinder zur Erbschaft der Mutter scheint für Griechen und
Aegypter immer bestanden zu haben ; nur bezüglich der Kinder aus
Mischehen mit „Fremden" (ihoq) findet man hie und da eine ab-
weichende Regelung; P. Gnom. c. 12 und 38 zu c. 13. Umgekehrt
wird auch die Tochter eines missicius, die Römerin geworden
war, nach c. 54 von der Erbfolge ihrer ägyptischen Mutter ausge-
schlossen; dazuP. M. Meyer, a. a. 0. S. 238 f. Zum Intestaterbrecht
der Soldatenkinder gegenüber ihrem Vater bringt P. Gnom. c. 35
eine willkommene Bestätigung des ius commune. Für ein Erb-
Besprechungen. 289
recht des überlebenden Ehegatten liegen bisher keine positiven Zeug-
nisse vor, doch glaubt Kreller S. 178, nach Analogie der häufigen
Verfügungen von Todes wegen, für die Witwe ein Nießbrauchsrecht
wenigstens an einem Teil des Nachlasses annehmen zu dürfen. In
diesem Zusammenhange ist dann auch eine weitere Bestimmung des
oft zitierten P. Gnom. c. 6 anzuführen, durch welche die Verfügungs-
freiheit eines Alexandriners für seine Witwe zuungunsten der näch-
sten Erben auf ein Viertel des Nachlasses bei unbeerbter Ehe, auf
einen Kopfteil bei Konkurrenz mit Kindern beschränkt wird. Diese
Höhe des zulässigen Anteiles der Witwe ist rechtsgeschichtlich sehr
interessant.
Der Gedanke der Hausgemeinschaft und des gebundenen Fami-
lieneigentumes, der in den antiken Rechten überall mit ziemlicher
Schärfe hervortritt, hat auch im hellenistischen Rechte der freien
Verfügung des Einzelnen sowohl unter Lebenden als auch von Todes
wegen Schranken gezogen. Die latente Mitberechtigung der Kinder
am Familiengute ist aber im hellenistisch-römischen Aegypten, wie
die Untersuchungen des Verfassers S. 182 ff. zeigen, auch nicht zu
einem bloßen Noterbrechte der nächsten gesetzlichen Erben geworden,
sondern tritt in einer stärkeren Form zutage , nämlich in der
xato^rj der Kinder am Vermögen ihrer Eltern. Diese Kinder-xaxo/Y]
war unter Umständen einer Steigerung bis zur festen dinglichen
Anwartschaft fähig, und ihre Wirkungen konnten zum Teil bereits
zu Lebzeiten der Eltern ausgelöst werden. Der rechtliche Inhalt
dieses Institutes, auf dessen Ausbildung das enchorische Recht einen
größeren Einfluß als das griechische gehabt zu haben scheint, ist,
wie Verfasser zugeben muß, noch nicht nach allen Seiten klar er-
kenntlich. Vielleicht würde auch hier ein Vergleich mit altorien-
talischen Parallelerscheinungen manches Licht auf die Sache werfen.
Das babylonisch-assyrische Recht kennt nämlich ebenfalls solche
Warterechte der gesetzlichen Erben, die vielfach dieselben Erschei-
nungsformen aufweisen wie in Aegypten und die aber wegen des
reichlicheren Materials bis in die hellenistische Zeit genauer verfolg-
bar sind, als es im national-ägyptischen Rechte der Fall sein kann.
Wenn ich im Laufe dieses Referates die Heranziehung der alten
vorderasiatischen Rechte so oft betone, so geschieht das in vollem
Bewußtsein ihrer Bedeutung für die rechtsgeschichtliche Forschung.
Die Rezeption hellenistischen Rechtes aus dem oriens christianus
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. XXXIX. Band. 19
290 Besprechungen.
ist für das spätere römische Kaiserrecht zwar unbestritten, doch
darf dabei nicht vergessen werden, wieviel von diesem hellenisti-
schen Rechte orientalischen Ursprungs gewesen ist. Gerade auf
dem Gebiete des Noterbrechtes wird das jetzt durch die neuen Unter-
suchungen von C a rusi , a. a. 0. S. 95 ff. bewiesen, indem das Noterb-
recht des syrisch-römischen Rechtsbuches und der Nov. Just. 18
sich als Ergebnis eines Ausgleiches zwischen den entgegengesetzten
römischen und orientalischen Rechtsanschauungen charakterisiert.
Die Darstellung der gewillkürten Erbfolge, der Verfasser
das fünfte Kapitel seines Werkes widmet, bietet schon in der syste-
matischen Einteilung der erbrechtlichen Verfügungen große Schwie-
rigkeiten, da die betreffenden Institute des hellenistisch-römischen
Aegypten sich weder unter den römischen noch unter den modernen
Kategorien restlos einräumen lassen. Wir befinden uns eben hier
vor einer, namentlich gegenüber der römischen, total verschiedenen
Auffassung der juristischen Natur der erbrechtlichen Verfügung,
die zum Teil auf Ueberlagerung oder Fortentwicklung, zum Teil auf
Uebereinstimmung enchorischer und griechischer sowie orientalischer
Gesichtspunkte beruht. Romanistische Rechtssätze sind außerhalb
der pcujA-xi^Yj Siaö-vjxY) auf diesem Gebiete eigentlich wenig zum Durch-
bruch gekommen. Dieser Sachlage gemäß unterscheidet Kr eil er
rein auf Grund des Urkundenformulars eine Gruppe von erbrecht-
lichen Verfügungen, die er infolge des subjektiven Kontextes und
wegen der Anwendung gewisser technischen Ausdrücke als Testa-
mente bezeichnet, wobei er aber gleich betont, daß die insti-
tutio heredis nicht ihr charakteristisches Merkmal bildet und
sie daher nicht als Testamente im römischen Sinne verstanden wer-
den dürfen. Dieser Gruppe stellt er dann alle übrigen erbrecht-
lichen Verfügungen „ohne Testamentsform" gegenüber.
Zur zweiten Kategorie gehören die Erb vertrage und die mannig-
faltigen Formen der elterlichen Teilung, die Kr eil er an der Hand
des vermehrten Urkundenmaterials, die von Rabel in seiner ein-
schlägigen Arbeit gewonnenen Gesichtspunkte weiter ausbauend, aus-
führlich bespricht. Ein neues Beispiel der elterlichen Teilung durch
gemeinschaftliches korrespektives Testament1) mit Substitution der
l) Trotz der Bezeichnung dieser Urkunde als (&XXy]X) 6{jtoXo*j-'.a liegt
hier meines Erachtens, wie die subjektive Formulierung und die Ein-
leitungsformeln zeigen, ein Testament vor; vgl. übrigens das koptische
Besprechungen. 291
Kinder enthält jetzt P. Lond. V 1727 a. d. Jahre 583/4 n. Chr. Die
Anteile der Kinder sollen aber dabei gleich sein xat |jly] Stacpopav
texvu) napa texvov Ttorrjaoiaöm (Z. 42 f.).
Zur Frage nach dem Ursprünge des gräko-ägyptischen Testamentes
nimmt Verfasser nur kurz S. 245 ff. u. S. 342 ff. Stellung, indem er der
sonstigen Disposition seiner Arbeit gemäß auf das national-ägyptische
und auf das griechische Recht zurückgeht. Eine Fortentwicklung
enchorischen Rechtes scheint hier kaum vorzuliegen, weil das vor-
ptolemäische Aegypten an erbrechtlichen Verfügungen nur Ver-
gabungen mit sofortiger Wirkung inter vivos kannte (vgl. neuer-
dings Revillout, Les origines egypt. du droit romain S. 8 und 112).
Daher wird die Ausbildung des gräko-ägyptischen Testamentes
vorderhand wohl nur auf altgriechische Vorbilder zurückzuführen
sein. Die Vorläufer des altgriechischen Testamentes selbst wären
nach der herrschenden Brück sehen Lehre jedenfalls die doKoirpu;
und die Schenkung auf den Todesfall gewesen. Nachdem vom
ersteren Institute in den Papyri bisher keine ausdrücklichen Zeug-
nisse erhalten sind, bleibt bloß der Zusammenhang mit der donatio
mortis causa übrig. Diesem Problem, das auch für den Ursprung
des römischen Testamentes von allgemeiner Bedeutung sein könnte,
ist meines Erachtens Verfasser zu wenig nachgegangen; auch hätten
die bedeutenden Arbeiten Bonfantes auf diesem Gebiete (jetzt ge-
sammelt in Scritti giuridici vari I. Bd.) nicht unerwähnt bleiben
dürfen, weil sie die Erkenntnis der juristischen Natur der griechischen
oiaibjxY] wesentlich fördern. In byzantinischer Zeit wird die Ver-
bindung zwischen Testament und donatio mortis causa selbst
in formeller Beziehung deutlich sichtbar. Dafür bringt auch K r e 1 1 e r
S. 239 in P. Mon. 8 einen Beleg, der aber nicht der einzige ist;
vgl. auch das koptische Testament des Paulus aus dem 8. Jahrhundert
(KRU74), welches Z. 7 als döreandiatheke bezeichnet wird.
Ich halte es aber für gezwungen, in diesen späten Zeugnissen ein
erneuertes Zurückgreifen auf griechisches Recht zu erblicken, zumal
die mit der byzantinischen Periode einsetzende Orientalisierung uns
dafür weit näherliegende Zusammenhänge bietet. Bei dieser Ge-
legenheit möchte ich zweier auch sonst recht eigenartigen, von rö-
Testament der Susanna KRU 66, das in Z. 2 f. bixoko^ia SioctKpiY]«; heißt.
Ebensowenig schadet in dieser späten Zeit die Stipulationsklausel am
Schluß.
292 Besprechungen.
mischen Bürgern abgeschlossenen Adoption s vertrage aus dem
4. Jahrhundert gedenken, P. Oxy. 1206(335 n. Chr.) und P. Lips. 28
(381 n. Chr.), in denen dem Kinde die Erbschaft des Adoptivvaters
durch besondere Bestimmung zugesichert wird. Der Verfasser stellt
sie hinter die Erbverträge (S. 237) und erklärt im Anschluß an
Mitteis, Arch. III S. 281 f. (vgl. auch die bei P. M. Meyer,
a. a. 0. Einl. zu Nr. 10 zusammengetragene Literatur) die durchaus
unrömische Klausel als eine Art vertragsmäßiger Einräumung der
Erbenstellung. Woher stammen diese erbrechtlichen Verfügungen
in Adoptionsverträgen? Sie könnten wohl Reminiszenzen alter grie-
chischer Volksrechte oder enchorischen Ursprungs sein, wie auch
Verfasser, jedoch unter Hinweis auf den Mangel an Zwischengliedern,
annimmt, sie sind aber vielleicht eher orientalischen Einflüssen zu-
zuschreiben, wofür auch die Einräumung des Rechtes eines ulö;
Ttpoutotoxo? und die Stellung der Großmutter in P. Lips. 28 sprechen
würden; es fehlt uns ja da nicht an Parallelerscheinungen.
Nach einer genauen und übersichtlichen Liste aller in griechi-
schen Papyrusurkunden enthaltenen oder erwähnten Testamente
(S. 248 ff.), der jetzt P. Oxy. 1721 als Nr. 124a und P. Lond. V
1727 als Nr. 143 a einzufügen sind, gibt Verfasser noch als Ein-
leitung eine kurze Besprechung der wichtigsten technischen Aus-
drücke in den Testamenten. Darauf folgt als erster Abschnitt
(S. 303 ff.) eine Untersuchung der testamenti factio activa
und p assiva, der aus praktischen Gründen auch die wenigen Nach-
richten über die Erbfähigkeit angeschlossen sind. Die Testierfähig-
keit der Frauen, die Kr eil er für Aegypten unter Zuziehung des
v.öo:o<; allgemein annimmt (S. 307), ist jetzt nach P. Gnom. c. 15 be-
züglich der griechischen ioroi in Anlehnung ans griechische Recht
noch in römischer Zeit zu verneinen. Derselbe Papyrus bestätigt
auch die Geltung gewisser Kapazitätsbeschränkungen der Fremden
sowie der caelibes und orbi. Auf einige Abweichungen vom
ius commune machen Lenel-Partsch, Heidelb. Sitzber. 1920
und P. M. Meyer, a. a. O. Nr. 93 bei den betreffenden Stellen auf-
merksam.
Im nächsten Abschnitte S. 313 ff. werden die hellenistischen und
römischen Formen der Testamente eingehend besprochen. Die Prü-
fung der Urkunden ergibt S. 316 ff. als Normalform für die helleni-
stischen Testamente aus ptolemäischer und römischer Zeit Errichtung
Besprechungen. 293
vordem Staatsnotariate und Zuziehung von sechs Zeugen. Das wird
zwar jetzt von Schönbauer, Sav.-Z. 39 S. 239 f., für die Petrie-
Soldaten-Testamente des 3. Jahrhunderts v.Chr. bestritten, dafür erfahren
wir aber aus P. Gnom. c. 7, daß die notarielle Form im 2. Jahrh.
n. Chr. bei sonstiger Nichtigkeit gesetzlich vorgeschrieben war. Die
Möglichkeit privater Errichtung und nachträglicher Registrierung
lehnt Verfasser S. 319 und 322 nach erneuter Prüfung von P. Oxy. 494
mit Recht ab (vgl. auch P. M. Meyer, Jurist. Papyri S. 57). Nach
dem äußeren und inneren Formular teilt Verfasser die hellenisti-
schen Testamente in vier Gruppen ein, deren vierte er als die
Rainergruppe bezeichnet. Ueber die Besonderheiten des Formulars
dieser Gruppe kann uns Kreller nicht viel mitteilen, da er bloß
auf die Angaben Wesselys in seinen verschiedenen Schriften an-
gewiesen war. Durch das Entgegenkommen von. Prof. Wessely
war es mir möglich, Abschriften von einem Paar dieser unveröffent-
lichten Urkunden zu erhalten, und ich bin danach zur Ueberzeugung
gekommen, daß diese Abweichungen kaum bedeutend genug sind,
um die Bildung einer selbständigen Gruppe zu rechtfertigen. Nament-
lich PER. 1576 zeigt sowohl in der ganzen äußeren Form als in
der Klausel der Gesamtverfügung, weiters in den Unterschriften
und Siegeln der Zeugen und des Testators im allgemeinen das Bild
der Oxyrhynchosgruppe. Einiges ist übrigens durch das Fehlen ver-
tikaler Streifen des Papyrus unsicher. Es bleibt nur das Testament-
bruchstück des Mdptov Sapa^icu[vo?, gewesenen Agoranomos in Arsinoe,
PER. 1517, dessen sonderbare Fassung der Erbeinsetzung in Z. 10
nach der Abschritt Wesselys lautet: eav ok TcXeu[Tr;o]u> l'axu) |iot>
xXf]pov[ojx . . . und die außerhalb der römischen Testamente bisher ohne
Parallele ist (S. 347 f.). Auch die in der Tabelle S. 338 (D) an-
gegebene Nennung des Agoranomen im Präskript, welche an die
Drytongruppe erinnern würde, fehlt in PER. 1576, 3 und ist in
PER. 1517, 5 nur ergänzt. Eine Veröffentlichung dieser Urkunden ist
leider in der jetzigen Zeit nicht tunlich. In der Frage des Gebrauchs
des Griechischen in römischen Testamenten vor der Konstitution des
Alexander Severus (PER. 1702, dazu Verfasser S. 331 f.) ist P. Gnom.
c. 8 als Bestätigung des ius commune nachzutragen. Zu den by-
zantinischen Testamentsformen (S. 333 ff.) kommt jetzt der koptische
P. Lond. V 1709 aus der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts hinzu,
eine jj.sotx3ia in einem Erbstreite, dem eine vor sechs Zeugen errich-
294 Besprechungen.
tete (rfps'f o; po6Xrt|<ie? zugrunde liegt. Meines Wissens ist dieser der
einzige aus den Papyri bekannte Fall eines mündlichen Testamentes
und daher von großer Bedeutung. Ich war zuerst auf Grund einer
leider sehr wurmstichigen Stelle (Z. 79 f.), worin von IfifatvCCedfatt
und ixaaotüp:ov oder heftaptopta durch den Ixocxo? die Rede ist1), ge-
neigt, in dieser Urkunde den noch immer vermißten Beleg eines
testamentum apud acta conditum (C. Just. VI, 23, 19
[a. 413] ; Steinwenter, Beiträge z. öffentl. Urkunden wesen S. 70 ff.)
zu sehen. Eine eingehendere Prüfung des Sachverhaltes überzeugte
mich aber, daß an der Z. 79 ff. angeführten Amtshandlung der Erb-
lasser keinen Anteil gehabt hat. Es handelt sich da vielmehr um
eine vom Schiedsrichter selbst oder über seinen Auftrag von einem
der Erben beim s*5:y.o<; veranlaßte Einvernahme der ehemaligen Te-
stamentszeugen zwecks Feststellung des Inhaltes der letztwilligen
Verfügung des Verstorbenen ; vgl. insbes. Z. 76 ff. und die Frage
des defensor an die Zeugen Z. 84 ff. Unter den außerordentlichen
Testamentsformen sind die Soldatentestamente (S. 335 f.) hervorzu-
heben, deren Privilegien auch inP. Gnom. 34, allerdings nicht ganz
in Uebereinstimmung mit den Angaben der Klassiker, bestätigt
werden: vgl. Lenel- Part seh, a. a. 0. S. 26 f. und auch P. Catt. I
recto IV, 7 ff.
Der dritte Abschnitt dieses Kapitels (S. 342 ff.) befaßt sich mit
den einzelnen Verfügungen, die den Inhalt der Testamente aus-
machen. Neben der Zuwendung des ganzen Nachlasses an einen
Erben, oder der Verteilung desselben nach Quoten unter mehreren
Erben kommen auch gesonderte Verfügungen über die einzelnen
Gruppen der Nachlaßaktiven und Zuwendungen einzelner Gegen-
stände vor. Die Bezeichnung des Bedachten als xXiqpovoftoc ist nach dem
Wesen der hellenistischen Bcottf-Jprr] für seine Rechtsstellung von keiner
Bedeutung und durchaus nicht allgemein. Sie begegnet zuerst in
der Kaiserzeit in einigen Testamenten der Oxyrhynchosgruppe, wo-
bei aber kein Unterschied in der Art und in dem Umfange der Zu-
*) Die Le3ung euekmartur[ion oder -ia verdanke ich einer
freundlichen Mitteilung Beils; zur Bedeutung der beiden Termini,
die in dieser Zeit vielleicht nicht mehr scharf unterschieden werden,
vgl. Druffel, Papyrol. Studien S. 39, und Steinwenter, Beiträge
S. 46 f.
Besprechungen. 295
Wendung gemacht wird ; der Bedachte kann als xXyjpovojjlo? geschrieben
werden, auch wenn er nur einen einzelnen Nachlaßgegenstand er-
hält (vgl. z. B. P. Oxy. 1034; Kr eil er S. 352). Nutzungsrechte
werden ebenfalls oft testamentarisch begründet, entweder unmittel-
bar oder als Beschwerung eines anderen Bedachten. Die testamen-
tarischen Strafklauseln sind meines Erachtens vom Verfasser S. 372 f.
etwas zu kurz abgetan worden. Zur testamentarischen Bestellung
der Frau zum Vormund ihrer Kinder ist PER. 1576 interessant,
einmal wegen der ausführlichen Anordnungen über die Führung
der Vormundschaft und zweitens weil hier möglicherweise ein Gegen-
stück zum Sonderinstitut der eiraxoXouö^Tpia (P. Oxy. 907, 20 ff.;
dazu Verfasser S. 379) vorliegt ; vgl. Z. 16 : siraxoXooj^oövxo; [rtä]ot to![<;
t[y]i IrciTpoTCY^t öcjv^xouat xal tön [aYlop^Gfiun toö axfsXJcpoö jj.[ou 0sü>]vo<;.
Zum Schluß untersucht Kr eller noch die Aufhebung der Testa-
mente und die Testamentseröffnung. Im einzelnen wäre zur letzteren
noch P. Oxy. 1721 und PSI. IV 295 sowie die Lösung der chrono-
logischen Schwierigkeiten in P. Lips. 10, II (S. 402, 33) durch
W i 1 c k e n , Arch. VI S. 433 nachzutragen.
Die Methode, die der Verfasser in der Behandlung der einzelnen
Materien befolgt, mag wohl den Nachteil haben, daß dadurch ge-
wisse Partien seiner Arbeit etwas zu breit geworden sind und so-
mit der Ueberblick manchmal verloren geht. Allein sie entschädigt
uns ebenso oft durch kritische Bemerkungen zu den einzelnen Ur-
kunden und ebnet künftigen Forschungen den Weg. Es sind große
erbrechtliche Probleme, die da der Lösung harren, und ich glaube,
daß man noch manchen weitgehenden Zusammenhang wird aufdecken
können. Für diese Forschungen wird das Werk Krellers immer
von großer Bedeutung bleiben und eine Fundgrube von Kleinarbeit
bilden. Rühmend soll schließlich noch hervorgehoben werden, daß
Verfasser überall das en chorische Recht berücksichtigt hat, aller-
dings soweit dies jetzt möglich [ist; denn unsere Kenntnisse des
ägyptischen Rechtes müßten wohl auf eine ganz neue Grundlage
gestellt werden. Ansätze in dieser Richtung sind in letzter Zeit be-
reits gemacht worden.
Weiteren Arbeiten eines so gut eingearbeiteten Papyrologen
kann man mit Freude entgegensehen.
Prag, Oktober 1920.
Prof. Dr. Mariano San Nicolo.
296 Besprechungen.
Eine neue Sammlung juristischer Papyri.
Juristische Papyri. Erklärung von Urkunden zur Einführung in
die juristische Papyruskunde von Paul M. Meyer. Berlin, Weid-
mannsche Buchhandlung, 1920. XX + 380 S.
Paul M. Meyer, der vortreffliche Editor der Gießener und
Hamburger Papyri sowie der „Griechischen Texte aus Aegypten",
hat nun wieder eine Sammlung von Papyrusurkunden herausgegeben.
Diesmal ist es aber keine editio princeps, sondern lediglich eine
Ausgabe bereits bekannter Urkunden rein juristischen Inhalts, die,
wie der Untertitel besagt, „zur Einführung in die juristische
Papyruskunde", und zwar „den papyrologisch nicht vorgebildeten Ju-
risten sowie Historikern und Philologen" (S. III) dienen soll. Die
so gesteckten Ziele des Buches bringen es der allerdings zwei-
bändigen und an Urkunden reichlicher ausgestatteten Mitte is-
schen Chrestomathie nahe, doch ist die Anlage der beiden Werke,
die Behandlung der Urkunden, die Darstellung und schließlich die
Zahl und Auswahl der Urkunden so verschieden, daß sie ganz gut
nebeneinander bestehen und beide treffliche Dienste leisten können.
Das großzügige Werk Mitteis' wird weiterhin dem Rechtshistoriker
ein treuer täglicher Berater sein, aber auch P. M. Meyers Buch
ist durch den ausgezeichneten Apparat, mit dem die einzelnen Ur-
kunden ausgestattet sind, durch die kaum zu überholende Fülle von
Literatur- und Quellenhinweisen, durch die guten, kurzen Einfüh-
rungen in jedes Institut des Papyrusrechts und in jeden Urkunden-
typus zu einem erstklassigen Nachschlagewerk geworden, zu dem
selbst der „papyrologisch vorgebildete Jurist" und der Papyrus-
kenner vom Fach immer wieder wird greifen müssen.
Schon diese einleitenden Worte, die wir der folgenden Be-
sprechung vorausschicken, sollen das Lob, das wir der neuen
Sammlung juristischer Papyri zollen wollen, zum Ausdruck bringen
und als warme Empfehlung für alle, die Interesse für antikes Recht
und antike Forschung haben, gelten. Ein näheres Eingehen auf
den Inhalt der Ausgabe soll aber ein genaueres Bild von der reich-
haltigen Gabe abgeben, die P. M.Meyer seinen Fachgenossen,
Schülern und allen jenen, die in die juristische Papyruskunde sich
einführen oder auch nur einen gelegentlichen Streifzug unternehmen
wollen, spendet.
Besprechungen. 297
Seit dem Erscheinen der Mitt eis sehen Chrestomathie ist fast
ein Jahrzehnt verstrichen, freilich entfällt die Hälfte davon auf die
schwere und traurige Kriegszeit. Doch haben auch inter arma
die Papyrusherausgeber nicht geschwiegen, und sowohl in Deutsch-
land als auch im Ausland sind neue Urkunden publiziert worden.
Man sehe nur in dem vom Verf. auf S. VII — XI veröffentlichten
„Verzeichnis der wichtigsten Papyrusurkunden" die mit einem
Stern (*) versehenen Editionen nach, um festzustellen, wie viele
Neuausgaben von Papyri, an denen selbstverständlich die neue
Sammlung nicht vorbeigehen durfte, seit 1912 erschienen sind.
Die Serie der Neuerscheinungen ist übrigens seit dem Kriegsende
stets im Wachsen begriffen, insbesondere der englischen Editionen.
Die Oxyrhynchosbände haben bereits die Zahl 14 *) erreicht, neue
Londoner, Tebtynis- und Rylandsbände stehen bevor. Von den
seit 1912 erschienenen Papyri sind von Meyer mehrere Stücke
(etwa zwanzig) in seine Sammlung aufgenommen worden, darunter
selbstverständlich der P. Hai. 1 (Dikaiomata), der in drei Exzerpten
(Nr. 55, 70, 74) verwertet wurde. Daß der Verf. in letzter Stunde
noch den Berliner Gnomon des Idios Logos in einen Anhang
(S. 315 — 345, Nr. 93) aufgenommen und mit reichlichen Erläute-
rungen versehen hat, dafür soll ihm besonderer Dank ausgesprochen
werden. Die Auswahl der Urkunden — im ganzen 96 an der
Zahl — wurde mit Rücksicht auf die Chrestomathie so getroffen,
daß mehr als die Hälfte (49) solche bilden, die bei Mitt eis nicht
stehen, vgl. die Zusammenstellung auf S. XIX — XX 2). Allerdings
sind wiederum einige Urkunden aufgenommen worden, die in der
Wilcken sehen Chrestomathie zu finden sind, wie Nr. 2a, b, 3, 4,
51, 56 a, b, 82 a. Daß das Problem der Auswahl der Urkunden, das
bei dem beschränkten Umfange der Edition kein leichtes war, von
Meyer glänzend gelöst wurde, braucht wohl nicht erst hervor-
gehoben zu werden ; bei einem solchen Kenner des Materials, wie
es dieser Gelehrte ist, ist dies nur selbstverständlich. Allerdings
ist an Urkunden nur das Allernotwendigste hineingekommen. Die
Sammlung selbst hätte natürlich nur dadurch gewonnen, wenn die
*) Der Verf. konnte diesen Band nicht mehr berücksichtigen; ein
in der Korrektur eingefügter Hinweis auf diesen Band findet sich auf S. 94.
2) S. XX ist bei der letzten Urkunde (Nr. 8) der Stern zu streichen.
298 Besprechungen.
Zahl der Urkunden größer gewesen wäre, doch waren dem Umfang
des Buches Grenzen gezogen, wenn es durch übermäßiges An-
schwellen infolge seines Preises nicht unzugänglich werden sollte.
Der hohe Wert der „Juristischen Papyri " liegt vornehmlich
in der Ausstattung, die der Editor den einzelnen Urkunden ge-
geben hat. Jeder Urkunde geht eine Einleitung voran, welche
neben reichlichen Literaturnachweisen eine kurz formulierte Zu-
sammenfassung des Inhalts enthält und, was besonders wertvoll ist,
eine genaue Analyse der Bestandteile der Urkunde. Im Anschluß
daran werden sowohl bei einzelnen Urkunden als auch als Ein-
leitung zu ganzen Urkundengruppen Rechtsinstitute und Urkunden-
typen als Ganzes behandelt. Hierbei wird stets auf die einschlägige
Literatur (bis Herbst 1919) Bedacht genommen, die so erschöpfend
zitiert wird, wie man sie kaum vollzähliger in Ersteditionen oder
Spezialuntersuchungen findet. Auch Parallelurkunden werden ge-
nannt. Wie gewissenhaft, präzis und inhaltsreich diese Angaben
bei P. M. Meyer sind, weiß jeder, der mit seinen Editionen ver-
traut ist. Es genüge daher die Feststellung, daß auch die letzte
Arbeit P. M. Meyers seinen früheren Papyrusausgaben nicht nach-
steht. Dasselbe ist über den Apparat zu sagen, der Bemerkungen
zu einzelnen Redensarten, Worten, juristischen Termini usw. ent-
hält. Auch hier wird eine Fülle von Notizen geboten, die nicht
nur alles Wünschenswerte zum Verständnis der behandelten Ur-
kunde bieten, sondern auch, entsprechend verwertet und benutzt,
einen Wegweiser für das Verständnis anderer in die Sammlung
nicht aufgenommener Urkunden bilden. Freilich muß man sich
hierzu mit den „Juristischen Papyri* und der Anlage der erläutern-
den Zusätze vertraut machen ; unter Zuhilfenahme der Indices wird
dies keine großen Schwierigkeiten bereiten. Sehr gut war der Ge-
danke , schwierigere Redensarten, oft ganze Sätze durch Ueber-
setzung wiederzugeben, wodurch zum Teil wenigstens die aus
Raummangel nicht aufgenommene vollständige Uebersetzung der
Urkunden ersetzt werden soll. Der ständige Kontakt mit den in
der Ausgabe befindlichen Parallelstellen sowie mit den vom Editor
an anderer Stelle gegebenen Einzelerläuterungen erleichtert dem
Leser die sprachliche und juristische Analyse der Urkunden. Wenn
man hier etwas aussetzen könnte, so ist es, daß hier des Guten zu
viel geboten wird. Manche Teile des Apparats hätten leicht weg-
Besprechungen. 299
bleiben und der durch ihre Streichung freigewordene Raum für die
Aufnahme einiger weiterer Urkunden verwertet werden können.
Die verschiedenen Notizen über Amtspersonen (Präfekten usw.) und
ihre Ehrentitel unter gleichzeitiger Anführung der Literatur, die
Erläuterungen über die Datierungen (um so mehr überflüssig, als
doch jede Urkunde am Rand mit ihrem Datum versehen ist), die
geographischen und historischen Hinweise und sonstiges nicht juri-
stisches Beiwerk sind durchaus entbehrlich, da das Buch in erster
Linie als Einführung in die juristische Papyruskunde gedacht
war und daher diesen Charakter durch Beigaben philologischer oder
geschichtlicher Natur nicht einbüßen durfte. Wen solche Sachen
angehen, der wird schließlich doch nicht umhin können, die editio
princeps aufzuschlagen. Ebenso finde ich die wechselseitigen Ver-
weisungen bei einer und derselben Urkunde in der Einleitung aut
den Apparat („s. zu Z. . . .") und im Apparat auf die Einleitung
(„s. die Einl. ") als durchaus überflüssig. So viel muß man schon
jedem Benutzer der „Juristischen Papyri" zumuten, daß er die Ein-
leitung und die Bemerkungen zu der Urkunde, die ihn interessiert,
genau liest. Auch die häufigen Wiederholungen im Apparat bei
Erläuterung einzelner juristischer Termini hätte vermieden werden
können , am besten freilich meines Erachtens dadurch , wenn das
griechische Wörterverzeichnis (S. 346 — 373) auch Verdeutschungen
erhalten hätte, wodurch es zu einem nützlichen Gegenstück zu Prei-
sigkes „Fachwörtern" hätte werden können. Vielleicht läßt sich
diese Anregung bei einer späteren Auflage verwirklichen.
Was ich in dem Buche noch vermisse, ist eine kurzgefaßte
Einleitung über das Wesen der juristischen Papyrusforschung und
ihre Bedeutung für die antike Rechtsgeschichte im allgemeinen.
Einige Seiten über den Sinn und Zweck dieser Forschungen , in
deren Dienst sich so viele Gelehrte gestellt haben und über die
heutzutage kein Rechtshistoriker hinweg kann, wären dem großen
Ziele der Popularisierung der juristischen Papyruskunde, das diese
Sammlung letzten Endes doch verfolgt, nur zugute gekommen. Es
wird freilich eingewendet werden können, daß die Arbeit zunächst
als Sammlung von Urkunden gedacht war, doch ist sie durch die
Form, die der Verfasser ihr gegeben, zu einer Gesamtdarstellung
der juristischen Papyruskunde an Hand der behandelten Urkunden
geworden und da hätte ein einführender Aufsatz über die Probleme,
300 Besprechungen.
die die juristische Papyrusforschung autwirft und löst, über ihr
Verhältnis zur antiken Rechtsgeschichte im allgemeinen und zur
Romanistik im besonderen, dem Buche sicher nicht geschadet. Wir
besitzen über diese Fragen schon eine ganze Reihe kleiner Abhand-
lungen und Vorträge — von Wilcken, Mitteis1), v. Mayr,
Pfaff, R. de Ruggiero, Kubier, Wenger, Partsch,
Brugi2), Bortolucci 3), Berger4) u. a. — , die zumindest in
dem Literaturverzeichnis (S. XI ff.) unter einem besonderen Schlag-
wort gesammelt nicht hätten fehlen sollen.
Die in der Sammlung enthaltenen Urkunden sind in sechs
Gruppen vereinigt: Personenrecht, Urkundenwesen, Obligationen-
recht, Sachenrecht, Strafrecht und Prozeßrecht. Gegen die Gruppen-
einteilung wäre an sich nichts einzuwenden; man könnte vielleicht
darüber streiten, ob die Gruppe s Urkunden wesen* nicht als erste
zu setzen wäre. Daß in den einzelnen Gruppen sich Urkunden vor-
finden, die auch für andere Gebiete von hohem Belang sind, ist
selbstverständlich. Besonders trifft dies für die Gruppe B II :
Urkundenwesen (S. 76 — 113) zu, wo naturgemäß Urkunden ver-
schiedensten Inhalts, meist ins Obligationenrecht hineinspielende,
Aufnahme gefunden haben. Der Verfasser weiß aber durch ge-
schickte, wechselseitige Verweisungen den Zusammenhang zwischen
den an verschiedenen Stellen verstreuten , dasselbe Institut be-
treffenden Notizen aufrechtzuerhalten, so daß man alles, was sich
im Buche auf dieselbe Frage bezieht, mit Leichtigkeit findet. Das
Vormundschaftsrecht wird in der Gruppe Personenrecht, das Exe-
kution s verfahren in der Gruppe Obligationenrecht, im Abschnitt
Schuldverschreibungen, behandelt. Ob dies letzte mit Recht geschah,
mag dahingestellt bleiben; es wäre vielleicht ratsamer, dieses Kapitel
an das Pfandrecht (Gruppe D III) anzuknüpfen oder als besonderen
Abschnitt des Prozeßrechts zu behandeln. In der letztgenannten
*) Neuerdings in „ Antike Rechtsgeschichte und romanistisches
Rechtsstudium" (Mitt. des Vereins der Freunde des hum. Gymn. 1918).
2) I papiri greci d'Egitto e la storia del diritto romano (Antologia
giuridica X, 1914, Catania).
3) Diritto romano e papirologia. Macerata 1916.
4) L'indirizzo odierno degli studi di dir. romano. Prolusione (Riv.
crit. di scienze sociali II, 1915, Florenz), wo S. 302 des S.-A. die
Schriften der obengenannten Verfasser aufgezählt sind.
Besprechungen. 301
Gruppe wäre eine schärfere Scheidung zwischen Straf- und Zivil-
prozeß erwünscht gewesen.
Einen wichtigen Bestandteil des Buches bilden die Indices : ein
griechisches Wörterverzeichnis (S. 346 — 373), in welches der ge-
samte Wortschatz der bearbeiteten Urkunden aufgenommen wurde,
und ein lateinisch-deutsches Schlagwortregister (S. 374 — 379), das
schon bei einem flüchtigen Ueberblick ein Bild von der Reichhaltig-
keit des Gebotenen gibt.
Noch ein Wort über die Ausstattung, die — abgesehen vom
Papier, dem man leider die Entstehungszeit anmerkt — nichts zu
wünschen übrig läßt. Der Druck ist klar und gefällig, die Korrek-
turen sorgfältig durchgeführt, so daß das Buch frei von störenden
Druckfehlern ist *).
Obigen allgemeinen Betrachtungen über Anlage, Inhalt und
Wert der neuen Sammlung juristischer Papyri wollen wir einige
lose Bemerkungen über Einzelheiten anfügen. Es sind dies vor-
nehmlich Ergänzungen aus der jüngsten Literatur, die entweder erst
nach dem Herbst 1919 erschienen ist oder dem Editor infolge der
ungeregelten Zustände, in denen wir jetzt leben, unzugänglich war.
Einiges aus der römisch-rechtlichen Literatur, die P. M. Meyer
sonst ausgiebig verwertete, sei auch gestattet. Die Knappheit dieser
Notizen, die fast durchweg ergänzender und nicht kritischer Natur
sind, soll nur als Beweis dafür gelten, wie trefflich Meyer seine
Aufgabe gelöst hat.
Zu Nr. 3 und 4: Inschriftliches Material über Beurkundung
des Personenstandes in Griechenland bei E. Weiß, Zum Stadtrecht
von Ephesos, Jahreshefte des österr. arch. Instituts XVIII (1915)
289 ff. — Die Nr. 4 (ein hölzernes Diptychon mit lateinischem
Auszug aus den Geburtsregistern römischer Kinder in Alexandrien)
gibt mir Anlaß, auf eine früher von mir aufgestellte Behauptung
aus dem Gebiete der Interpolationenforschung zurückzukommen.
Ich habe seinerzeit in meiner Besprechung über Beseler, Bei-
träge zur Kritik der röm. Rechtsquellen I, II gegen dessen Be-
hauptung (II 33), daß „das Wort ,citra' aus dem Wörterbuch der
*) Ein besonderes Mißgeschick verfolgte den Namen des Hallenser
Romanisten Raape, der fast durchweg „Rape" genannt wird, und das
ital. Wort „giuridico", das merkwürdigerweise stets als „guiridico" er-
scheint (vgl. S. XIV, XV, 128, 134, 137, 222).
302 Besprechungen.
Klassiker gestrichen werden muß", als erster entschieden Stellung
genommen (Krit. Vierteljahresschrift XIV, 1912, 419). So auch
Mitteis, Sav.-Zt. XXXIII (1912) 196 ff. Kalb, Berl. philol.
Wochenschr. 1913, 334. Zustimmend nachher Part seh, Studien
zur negotiorum gestio I (1913) 25 ', Steinwenter, Studien
zum römischen Versänmnisverfahren (1914) 13 2. Solazzi, Cura-
tores pleni dei rninori, Atti Ist. Ven. LXXV (1915-1916), 1618.
Wlassak, Zum röm. Provinzialprozeß 1919, 63. In dem ge-
nannten Diptychon aus dem Jahre 148 n. Chr. findet sich nun die
Redensart citra causarum cognitionem, wodurch (abgesehen von der
wertvollen Stütze für das citra im allgemeinen) zunächst die Echt-
heit derselben Redensart in D. 2, 15, 8, 17 (vgl. Steinwenter
a. a. 0.) und D. 27, 10, 6 bekräftigt wird. Dies letzte auch gegen
Solazzi a. a. O.1). — Zu Xr. 1: Ueber die manumissio in ecclesia
vgl. De Francisci, Intorno alle origini della m. i. e. Rend. Ist.
Lomb. Ser. II, Vol. XLIV (1911) 619-642. Zum Heroldsruf
(avaxYjp^i?) vgl. Egon Weiß a. a. 0. S. 296. Inschriftenmaterial
zu Freilassungen mit Heroldsruf Weiß a. a. 0. Anm. 32. — Zu
Xr. 11; Die aitox^po^-Literatur ist in letzter Zeit durch neue Be-
trachtungen Cuqs (vgl. Zusätze S. 379) und Arangio-Ruiz*
Aegyptus, Riv. ital. di egittologia e di papirologia I (1920) 23
bereichert worden. Arangio-Ruiz sieht in den ttelo: vojiot des
P. Cairo Byz. I 67 097 (Meyer Nr. 11) und dem fteloc vo^oc, des
P. Cairo Byz. III 67 353, welcher den Kindern die Pflicht aufer-
legte, die Eltern axpwc u}j.av (Z. 32 f.), das 4. Gebot den Dekalogs
und wird damit am einfachsten der wörtlichen Bedeutung des
terminus &sio<; vojjlo? = lex divina (vgl. Meyer S. 28 zu Z. 88,
anders S. 25) gerecht. Aus Arangio-Ruiz a.a.O. 28 3 erfährt
man, daß auch Collinet sich mit dem aKov.'fipoi'.<;- Problem befaßt
*) Auf die sonstige Verwertung der Stelle durch Solazzi hier
einzugehen, liegt kein Grund vor. Aber schon jetzt sei gesagt, daß der
Gedanke, aus einer nicht ganz heilen Stelle (plenissimum — plenissi-
mam?) einen term. techn. „curatores pleni" konstruieren zu wollen, kaum
glücklich zu nennen ist. — Ueber citra vgl. noch Albertario, der
in der Besprechung von B eseler, Beitr. II im Bull, dell' Ist. di dir. rom.
XXIV (1912) S.-A. 5 seine frühere, auch in der milderen Fassung („citra
e per lo meno dubbio", vgl. Contrib. alla critica del Digesto, 1911, S. 23)
nicht richtige Ansicht zutreffend modifizierte.
Besprechungen. 303
hat (Nouv. Rev. hist. XXXVIII— XXXIX, 1914—1915, S. 391 ff.). —
Zu $r. 13: Bei Verpfandung von Kindern wird P. Jand. 62 ge-
nannt. Diese Urkunde ist inzwischen von P. De Francisci in
der soeben genannten neuen italienischen Zeitschrift „Aegyptus" I
(1920) S. 71 ff. einer Erörterung unterzogen worden. — Zu S. 31:
Zur Bedeutung von occp^Xtl in den Papyri vgl. noch Solazzi,
Curator impuberis (Rom 1917) 1161. — Zu S. 33: Zur Frauentutel
und -kuratel, insbesondere über den «ppovxwtYj?, vgl. Solazzi, Curatores
pleni dei minori, Atti Ist. Veneto LXXV (1916) 1612f. — Zu Nr. 13
wäre an Literatur nachzutragen: Solazzi, Sulla competenza dei
magistrati municipali nella costituzione dei tutore durante l'impero
romano, Atti Ist. Veneto LXXVII 1917—1918, S.-A. 20 ff., wo die
Fälle der Bestellung von Vormündern in den Papyri zusammengestellt
sind. Die Ergänzung der Z. 5 auf Grund eines neuen von Grenfell
veröffentlichten Diptychons (vgl. Zusätze S. 379) ist sehr lehrreich : es
handelt sich um ein SCons., worüber Gaius I 173 ff. handelt, vgl. ins-
besondere 183. Das Diptychon ist jetzt von Mitteis, Sav.-Zeitschrift
XL (1919) 358 f. abgedruckt worden. — Bei Xr. 14 (P. Oxy. XII
1467), einem der interessantesten Pap}^ri dieses Oxy. -Bandes, wollen
wir etwas länger verweilen, da die Urkunde mehrere Probleme auf-
rollt. Zunächst die Frage, ob man das ius trium liberorum erst
durch Verleihung seitens der kompetenten Behörden erwirbt oder ipso
iure auf Grund der reinen Tatsache, daß man Mutter dreier Kinder
ist. Die Herausgeber geben keine präzise Antwort darauf: sie nennen
das Stück „petition for ius trium liberorum", schreiben aber dann,
daß die Urkunde den Vorgang illustriert, „by which the right was
secured". Damit sind sie meines Erachtens der Wahrheit näher
gerückt, doch, wie es scheint, nur unbewußt, da sie gleich wieder
von „the granting of the ius trium liberorum" sprechen. P.M. Meyer
ist in seiner Ausdrucksweise nicht ganz scharf, denn in der Ueber-
schrift nennt er die Urkunde ein Gesuch „um Befreiung von der
Geschlechtsvormundschaft durch das ius liberorum", spricht aber
dann (S. 35 Z. 2) von einer „Verleihung", unter der er wohl die
Verleihung des ius liberorum meint. Entschieden hat sich zur
Frage nur W enger Krit. Vj. XVIII (1919) 55 ausgesprochen, der
in der Urkunde eine Förderung *) der Lehre vom ius liberorum
!) Er weist dabei (S. 5529) auf Zweifel bei Kubier, Sav.-Zeit-
schrift XXX (1909) 180 hin. Die Ausführungen Küblers beziehen
304 Besprechungen.
darin sieht, daß dieses Recht erst verliehen werden müsse und
nicht ipso iure mit der surcaiSe'la gegeben worden sei. Ich glaube
aber, daß man dieser Auffassung nicht ohne weiteres zustimmen
kann. Von einer Bitte um Verleihung ist in der Urkunde mit
keinem Worte die Rede, die Bittstellerin bittet nur: &4'.& ?x[6']v
ajxä (gemeint sind die vorher erwähnten ßtßXiftea, das ist eben diese
Bittschrift *) Iv rjj oft x[a]4t, d. h., daß diese Eingabe, worin sie ihre
Qualifikation zum ius liberorum mitteilt, in der statthalterlichen
Kanzlei aufbewahrt werde. Und so lautet auch der Vermerk des
Beamten der statthalterlichen Kanzlei (Z. 30) : Iotok ?o[b] xä ß$X{a
iv Tvj [ta^i]. Von Verleihung eines xsxvcuv fötatov keine Spur. Warum
sie diese Eingabe macht, betont die Petentin selbst mehrmals (Z. 18):
r.obz xo Sovao&a'. avs|JUto8bxo.>; «<; ivxsüö-sv icoioötiai o'.y.[ov]ojj.»a[<;] 8taTCpdGas30,a'.
und dann Z. 24: tv tu ß^ßoftd-l/fJuivT, (die folgende Ergänzung ist
mir zweifelhaft). Außerdem dürften sich darauf die von allen bis-
herigen Bearbeitern der Urkunde übergangenen Worte (Z. 15) :
6ixo xepuscrqc a-s «Xua; , womit, wie ich glaube, die Petentin an-
deuten will, daß sie der größeren Sicherheit wegen ihr Kinderrecht
durch Niederlegung der Eingabe in der statthalterlichen Kanzlei
festgelegt haben möchte. Die Uebersetzung der Stelle durch die
Herausgeber („in the fullness of my security") sagt gar nichts. Nun
ist der ganze Vorgang sehr plausibel. Wie haben die mit drei
Kindern gesegneten Mütter ihre Rechtsgeschäfte x0)?'Z *»p«w> abge-
schlossen ? Mußten sie zu jedem Kontrahenten ihre Kinder mit-
schleppen, um ihm die volle Geschäftsfähigkeit zu beweisen? Und
wenn diese nicht zur Hand waren (etwa verheiratete Töchter)?
Und müßte nicht der mit einer solchen Frau einen Vertrag ab-
sich aber nicht auf diese Frage. Kü bl er betont nur, daß die Urkunden
niemals, wo sie vom tcxvcnv Stxouov sprechen, angeben, auf welcher Basis
es erworben wurde, und zwar, ob es „vom Kaiser verliehen oder durch
dreimalige Geburt erworben ist". (Im ersten Falle wurde ja, wie be-
kannt, das ius liberorum auch ohne Kinder oder wenn weniger Kinder
vorhanden waren, verliehen.) Aus den Worten Küblers erhellt aber,
daß nach seiner Ansicht das ius liberorum durch die dreimalige Geburt
erworben wurde und nicht erst durch eine Verleihung. Die Frage, ob
bei Vorhandensein von drei Kindern noch eine Verleihung notwendig
ist, ist ja überhaupt erst durch unseren Papyrus angeregt worden.
*) W eng er a. a. 0. S. 55 erläutert aoxa mit den Worten „die
selbständige Rechtsstellung". Dem kann nicht zugestimmt werden.
Besprechungen. 305
schließende Partner noch die Richtigkeit der Mutterschaft nach-
prüfen, damit er das ins liberorum feststellen kann? Schließlich
noch eine Erwägung: das ius liberorum erhielt die Frau lediglich
durch die Geburt der Kinder (Paul. Sent. 4, 9, 1. 7 ; vgl. Cassius
Dio 55, 2, 5; 56, 10, 2: al xp!$ tsxoöaat). Es bleibt der Frau ge-
wahrt, auch wenn eines der Kinder oder alle gestorben sind, vgl.
Paul. 4, 9, 9. Auch dies erhöht den Wert einer amtlichen Fest-
stellung, daß die Frau einmal drei Kinder besaß und damit das
ius liberorum erlangte, denn sonst hätte die Frau, die keine drei
Kinder am Leben mehr besaß , jedem , der sich mit ihr in ein
Rechtsgeschäft einließ, wobei sie selbständig auftrat, noch beweisen
müssen , daß sie drei Kinder gehabt hatte. Alle diese Einwände
zeigen, daß der Vorgang, sich durch die Behörde das Bestehen des
ius liberorum feststellen zu lassen (dies geschah durch die Ent-
gegennahme der Anmeldung und Niederlegung derselben in den
Kanzleiakten), ein ganz vernünftiger und praktischer war, daß er
aber nichts mit einer Verleihung zu tun hat. Für den Erwerb des
ius liberorum ohne ein Verleihungsdekret spricht sich neuestens
auch Solazzi (Ius liberorum e alfabetismo, Rend. Ist. Lomb. LI,
1918, 587) *) aus, der mit Recht darauf hinweist, daß, wenn das
ius liberorum erst auf Grund einer Verleihung wirksam geworden
wäre, diese in der bekannten Formel über die Handlungsfähigkeit
der Frau Ausdruck gefunden hätte. Ich möchte nur noch hinzu-
fügen , daß die Wendung xa!<; yüvä^-v xa*s t("v *pt&v tekvow Sixaiü)
v. e x o a ji. *rj [jl !va[i] <; (Z. 4 — 5) 2) kaum für eine Verleihung spricht,
wenn man beachtet, daß die Frau einige Zeilen nachher vom
xo3jj.o? tyj<; eaitatSsiai; redet. Man könnte vielleicht noch einwenden,
daß die Feststellung, ob die Frau schreibkundig ist, eine Ingerenz
der Behörden notwendig erscheinen läßt, da man aus dem P. Oxy.
cit. herauslesen zu müssen glaubte, daß das YpaM-M-*™ l^ioxazd-ai Vor-
!) Diese Abhandlung Solazzis kam mir erst Anfang 1920 zu Ge-
sicht, als ich bereits meine Deutung des P. Oxy. XII 1467 für den Artikel
liberorum ius für Pauly-Wissowa niedergeschrieben hatte. Der Artikel
selbst wird nicht mehr erscheinen, da durch ein Versehen der Redaktion
Artur Steinwenter den Artikel ius liberorum zugewiesen erhielt und
in der Zwischenzeit auch publizierte (Bd. X, 1781 ff.).
2) Die Phrase entspricht wörtlich dem in klassischen Quellen vor-
kommenden iure trium liberorum honoratae, vgl. Gaius 3, 50. Ulp. Reg. 29, 7.
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. XXXIX. Band. 20
306 Besprechungen.
aussetzung des ius liberorum ist (so auch P. M. Meyer S. 31 f.).
Das trifft nicht zu, denn erstens stellt die Urkunde die Schreib-
kundigkeit durchaus nicht als Voraussetzung des ius liberorum hin,
sondern besagt nur, daß die volle Geschäftsfähigkeit den mit dem
ius liberorum ausgestatteten Frauen zukommt, um so mehr (jto[XX]<l>
BeicXIov), wenn sie schreibkundig sind. Zweitens gibt es eine Reihe
von Urkunden, wo sich Frauen auf ihr Kinderrecht berufen, die
nachher als des Schreibens unkundig von einem 6*oYpa<p6u<; unter-
schrieben werden; vgl. P. Oxy. X 1266, 1277; XII 1463; Thead. U
Lips 29 (vgl. Solazzi a. a. 0. 590). Auf eines sei noch hin-
gewiesen : ein Mißverständnis ist es , wenn die Herausgeber auf
Z. 4 — 5 hinweisend sagen, daß die Nennung der Zahl der Kinder
den Eindruck erweckt, daß sie alle am, Leben sind. Zunächst ist
dieser Umstand, wie bereits oben hervorgehoben wurde, irrelevant ;
außerdem entspricht die Bezeichnung tüjv tpiüv tsxvouv Bhwov der
lateinischen ius trium liberorum (vgl. Gaius 1, 194; 3, 46, 50
Ulp. Reg. 29, 7. Paul. Sent. 4, 9, 1). — Zu Xr. 16: Zu der im
Schlußsatz der Einleitung genannten BGU 1113 vgl. jetzt Solazzi,
L'abdicatio tutelae e BGU 1113, Rend. Ist. Lomb. Vol. XLVIII, 1915,
S. 988 ff. Die Abhandlung Solazzi s, dessen Forschungen in letzter
Zeit sich hauptsächlich auf das römische Vormundschaftsrecht kon-
zentrieren , blieb nicht ohne polemischen Widerhall. Ich nehme
Anlaß, die einschlägigen Arbeiten über die abdicatio tutelae, für
die BGU 1113 (Mitteis, Chr. 169) eine wertvolle Quelle bildet,
hier aufzuzählen: Perozzi, II tutore impubere (Memorie Accad.
Bologna, Ol. di sc. mor. Sez. giur. Ser. II, Vol. II, 1917—1918)
S. 100 ff. Solazzi, Di una nuova dottrina sull' abdicatio tutelae,
Rend. Ist. Lomb. LI, 1918, S. 865 ff. und nochmals Perozzi, Sull'
abdicatio tutelae, Rend. Accad. Bologna 1918 — 1919, S. 1 ff. —
Zu S. 41 : Die auf neuen Forschungen aufgebaute Terminologie
„eingetragene1' und nicht „eingetragene" Ehe für ya^o? eyypa<fo<;
und aypa-f 05 ist jedenfalls besser als die bisher gebrauchte „schrift-
liche" und „schriftlose" Ehe, da ja auch bei der letzten ziemlich
viel geschrieben wurde. Daher hätte S. 48 (Ueberschrift zu Nr. 20)
und S. 303 die ältere Bezeichnung (schriftlose Ehe) vielmehr ver-
mieden werden sollen. Zu rffpoupo«; ydao? vgl. Maroi, Un caratte-
ristico documento di I. y. (Bull, dell' Ist. di dir. rom. 1916; über
PSI I 64). — Zu S. 46: Zur Klausel na&Äicep i? Sixyjc und der
Besprechungen. 3
Kp&iiq xaxa xö SiaYpajxjxa vgl. neuestens Jörs, Sav.-Zeitschr. ]
(1919) 12 ff. — Zu S. 53 (ST. 21, Z. 10) : Man tut den Papyri l
recht, wenn man an der Form xö -fjiuöXtov festhält, obwohl, wie
seinerzeit nachgewiesen habe (Strafklauseln 15 ff.), die der Papyr
Sprache geläufige Form -q YjxioXia ist. Der Begründung Mitte
(Grdz. 119, 1) für das Festhalten „an der in der modernen Li
ratur rezipierten Neutralform" vermag ich nicht zu folgen, da
ziffernmäßige Statistik, die sich auf Grund des nach meinen „Str
klausein" publizierten Materials noch stark zugunsten der fei
ninen Form verschoben hat, nur für yj YjjxioXia spricht. —
S. 58 Abs. c: Zur mortis causa donatio bringt jetzt einige 1
merkungen Arangio-Ruiz im Zusammenhang mit P. Ca
Byz. III 67 340 (Aegyptus I, 1920, 31 ff.), wobei auch einige Str«
lichter auf Nov. 87 abfallen. — Zu Nr. 26: Der Herausgeber ;
braucht gerne den Terminus „cretio hereditatis" (vgl. S. 57 — I
Ueberschrift zu Nr. 26, S. 71, 375), der weder in den Quellen
legt, noch in der Literatur geläufig ist. In den Ausführungen <
Gaius 2, 164—178 und Ulpian Reg. 22, 27—34 ist nirgends m
einer cretio hereditatis die Rede, und aus der Formel „hereditat
adeo cernoque" (Gaius 2, 166; Ulp. 22, 28) bzw. der Redens;
hereditatem cernere (Gaius 2, 168. 176. 187; 3, 36. 212) die ]
Zeichnung cretio hereditatis zu konstruieren, geht mit Rüi
sieht auf die Erläuterungen bei Gaius 2, 164; Ulp. 22, 27, so\
solche Redensarten wie heres institutus cum cretione (Ulp. 22, \
oder cretio finita est (Gaius 2, 178), nicht an. An Literatur
Nr. 26 wäre noch Kniep, Gai Inst. Comm. II, 2 (1913) S. 300
zu nennen. Bei dieser Gelegenheit soll die neueste Literatur ül
die cretio nicht unerwähnt bleiben: Solazzi, I modi di accet
zione dell' ereditä nel dir. rom. (S.-A. aus Studi nelle scienze g
ridiche e sociali, Pavia, 1920, Bd. V) S. 1—28 und der dort
tierte Levy-Brubl, Etüde sur la cretio, Nouv. Revue hi
1914. — Zu Xr. 28 Z. 3: oh.iv. laxsYaafjivYj deutet Meyer (mit Luc
hard) „ein mit flachem Dach versehenes Haus". Gegen die De
tung oxeYa^u) = bedachen (vgl. Meyer zu Nr. 55 Z. 105) vgl. je
Preisigke Hermes 1919, 429; vgl. noch unten zu Nr. 48. — \
Xr. 30 : Zur Literatur über das depositum irreguläre in den Pap;
wäre nachzutragen: Costa, Sopra un nuovo documento di dej
sito irregolare (S.-A. aus Rend. Accad. Bol. 1910 — 1911). — !
308 Besprechungen.
S. 112: Zum byz. Urkunden- und Notariatswesen vgl. Stein-
wenter, Studien zu den koptischen Urkunden aus Oberägypten
(Stud. Pal. XIX, 1920) S. 61 ff. — Zu S. 127: Zur Wohnungsanti-
chrese vgl. jetzt P. Oxy. XIV 1641. — Zu S. 128: In der Ein-
leitung zum Abschnitt über Pacht beziehen sich die beiden Zitate
„Berger a. a. 0." nicht auf meine vorher S. 127 unten genannte
Abhandlung in dieser Zeitschrift Bd. XXIX (Wohnungsmiete), sondern
auf meine „Straf klausein". — Zu Xr. 38: Zur Literatur über Boden,
pacht wäre nachzutragen: Costa, Nuove osservazioni sopra le lo-
cazioni greco-egizie di fondi rustici (Memorie Accad. Bologna, Cl.
di sc. mor. Sez. giur. Bd. VII, 1912—1913). — Zu \r. 42: Neue
Parallelurkunde P. Oxy. XIV 1647. — Zu S. 143: Zum Begriff
BvreoSts = schriftliche Eingabe an den Statthalter vgl. Jörs, Sav.-
Zeitschr. XL (1919) 94 ff. — Zu S. 144: Zur icapdfte&c vgl. neuer-
dings Jörs a. a. 0. 92 ff. — Zu S. 145: Die im Abschnitt IIb an-
gekündigte Darstellung von Jörs ist inzwischen zum Teil ver-
öffentlicht worden (Sav.-Zeitschr. XL, 1919, S. 1 — 97), ist aber noch
nicht abgeschlossen. Die Ausführungen Jörs', die in bezug auf
Klarheit, Schärfe der Darstellung und Umsicht bei Formulierung
der Ergebnisse als mustergültig zu bezeichnen sind , sind natürlich
bei den meisten in diese Gruppe aufgenommenen (Nr. 47 ff.), wie
auch den dort genannten Parallelurkunden zu Rate zu ziehen. —
Zu Xr. 48 Z. 44: Zu olxtoc 8:0x8^05 vgl. die Ausführungen Preisigkes
über ote-pj, Hermes 1919, S. 429. Das Adjektiv Bwteyo; gibt aber
noch immer Anlaß zu Zweifeln. Meyer (u. a.) deutet es mit
..zweistöckig", d. h. zählt außer dem Erdgeschoß noch zwei Stock-
werke. Nun heißt aber at£p] zunächst „Geschoßdecke" (Dach), und
somit hat ein zweistöckiges Haus drei Geschoßdecken, und zwar
die des Erdgeschosses und zwei der beiden Stockwerke. Danach wäre
ein Haus mit zwei ocsfou (otxia hiaxefoq) nur mit einem Stockwerk,
weil die Decke des ersten Stockwerks bereits die zweite tjtey»] ist.
An dieser Deutung ändert nichts der Umstand, daß ev rjj Kpü-zy
z-Ayfi = „im ersten Stockwerk" bedeutet, weil dies sachlich »auf
der ersten Decke Q heißt, damit ist aber die Identifizierung izpünt]
GxsyYj = erstes Stockwerk (Raum, nicht Decke) nicht gegeben.
Prof. Preisigke, den ich um seine Meinung befragte, war so
liebenswürdig, mir seine Auffassung, die von der oben dargestellten
abweicht, schriftlich mitzuteilen. Er stimmt mit mir darin über-
Besprechungen. 309
ein, daß ev %-q npcux-f] oxifQ sieh auf den Raum bezieht, der auf der
ersten Geschoßdecke aufsteht, geht aber insofern weiter, als er für
ot^p) zwei Bedeutungen annimmt: „die ursprüngliche Bedeutung
von o. = Geschoßdecke verwandelt sich in die Bedeutung Raum
auf der ersten Geschoßdecke". „Spricht man nun von einer oixta
8io-c£y°<; — schreibt Prof. Preisigke — , so denkt man nicht mehr
an die ursprüngliche, sondern an die abgeleitete Bedeutung, weil bei
Kauf, Miete usw. weniger die Zahl der „Decken", als vielmehr die Zahl
der bewohnbaren und nutzbaren „Räume" in Frage kommt und
Bedeutung hat. Daher ist meines Erachtens eine otxta Stote-fo? ein
Haus, in welchem zwiefach ein Wohnraum auf der o-crpf] auf-
steht, d. h. in welchem zweimal eine aTe-r*! als Fußboden den
Bewohnern dient." Ich bringe hier diese Auffassung Prof. Preisig-
kes vor, damit zu der Divergenz der beiden Auffassungen Stellung
genommen werden kann. — Zu S. 192 — 193: Ueber Emphyteuse
bringt Meyer keine Urkunde in extenso, gibt nur Literatur in
kurzer Notiz an. Für eine neue Auflage wäre aber doch eine
Urkunde vorzumerken, am besten etwa P. Cairo Byz. III 67 299,
die, weil zu lang, in Exzerpten aufgenommen werden könnte. Zur
Verschiedenheit zwischen Gesetz und Praxis in justinianischer Zeit
in bezug auf das Recht der Emphyteuse vgl. die treffenden Be-
merkungen Ar an gio-Ruiz' in dem Aufsatz Applicazione del diritto
giustinianeo in Egitto (in der Zeitschr. Aegyptus I, 1920) S. 22 ff. —
Zu Xr. 63 vgl. jetzt PSI IV 314 (a, 195 p. Chr.) mit ganz un-
zulänglichem Kommentar des Herausgebers *). Die verschiedenen
Schreiber der Urkunde sind nicht angemerkt, und doch stammt wohl
die erste Zeile vom Beamten, oyj wird wohl mit as]oYi(u.s{w|Aou) aufzu-
lösen sein, nicht, wie der Herausgeber Bianchi schreibt, oY](ji.s'.oüji.a'.).
Die Urkunde ist eine icpoaaffekia (wie P. Oxy. III 483 = Mitteis
Chr. 203) über beabsichtigte Verpfändung (für Darlehen) einer
oixia, r^ ^ctpaO-feaJtv iiroiY][oä]ji.Y]v Sca tJ>v Tc&oxefojv ßißXto<pDXdxü>v. —
Zu Nr. T3 Z. 7 (S. 250) ist wohl durch Versehen die Angabe ausge-
fallen, aus welcher Sammlung der dort auszugsweise zitierte Privat-
brief stammt. — Zu Xr. T4: „Zur Lehre von den Zeugen im ptol.
Recht" bringt jetzt einige Beiträge Taubenschlag in einem
!) Was soll z. B. das'Literaturzitat „Partsch, Archiv 5, 496 sqq."
(sie), wo sich nur Partsch s Anzeige der Abhandlung Mitteis' über das
Grundbuch findet?
310 Besprechungen.
kurzen (polnischen) Aufsatz, der in den Abhandlungen (Rozprawy)
der Krakauer Akademie der "Wissenschaften (Bd. LXII der philos.-
hist. Klasse, 1920, S. 1 — 8) erschienen ist. Taubenschlag be-
faßt sich, vom Hallenser Papyrus Nr. 1 ausgehend, mit der Be-
handlung der Zeugen vor dem Zehnmännergericht und den „Schieds-
gerichten" (gegen diese Terminologie Taubenschlags P.M.Meyer,
S. 260). Das Ergebnis geht dahin, daß, während die Behandlung
der Zeugen (Ladung, Verhör, Beeidigung, Bewertung der Aus-
sagen u. a.) vor dem Zehnmännergericht mit jener vor den alexan-
drinischen Gerichten identisch ist, im friedensrichterlichen Ver-
fahren (herangezogen werden P. Petr. II 17, 1; Magd. 18. 35)
hingegen die Ladung der Zeugen von Amts wegen erfolgt und sie
ihre Aussagen mündlich und ohne Eid abgeben. — Zu S. 361 : Ueber
die o-.aXu-i; ist eine größere Studie von Steinwenter zu er-
warten (vgl. deren Ankündigung in den Studien zu den koptischen
Rechtsurkunden aus Oberägypten, Stud. Pal. XIX, 1920, Vor-
wort). — Zu S. 2T9: Zu den Gerichtskonventen neuestens Wlas-
sak, Zum röm. Provinzialprozeß (Sitz.-Ber. der Wiener Akad. der
Wiss., phil. -bist. Klasse, 1919) passim (vgl. S. 85); zu den iuridici
vgl. Wlassak a. a. 0. 60 f. — Zu S. 280: Zur Kapay^kia vgl.
Costa, Profilo storico del processo civile romano, 1918, S. 152 f.
und Wlassak a. a. O. S. 38 f. — Zu Xr. 85 vgl. Wlassak
a. a. O. S. 56, auch 38 \ — Zu Xr. 87 vgl. Wlassak, Anklage
und Streitbefestigung im Kriminalrecht der Römer (Sitz.-Ber. der
Wiener Akad. d. Wiss., phil.-hist. Klasse, 1917) S. 1437. — Zur
RapaffeXia 1% oÄfevtia^ der Xr. 88 vgl. Wlassak, Anklage und
Streitbefestigung 177 und Zum römischen Provinzialprozeß 39 f.
Wir sind mit diesen Notizen zu Ende. Um den Erfolg der
„ Juristischen Papyri" P. M. Meyers braucht man nicht besorgt
zu sein. Sie werden zweifellos treffliche Dienste auch beim Uni-
versitätsstudium leisten. Für Seminarübungen sind sie ein erst-
klassiges Aushilfsmitttel , das sowohl den Lehrern als auch den
Schülern sehr willkommen sein wird. Wie vieles hat sich da im
letzten Jahrzehnt geändert! Wer, wie der Schreiber dieser Zeilen,
an seine Studienzeit zurückdenkend, sich an die Schwierigkeiten er-
innert, mit denen er kämpfen mußte, um in den Dickichten der
Papyrusforschung Pfade zu finden, auf denen er sich aus dem Ur-
wald durchzuarbeiten versuchte, wer der technischen Hindernisse
Besprechungen. 311
gedenkt, die seine Lehrer — darunter der Herausgeber der „ Juri-
stischen Papj^ri" — zu bewältigen hatten, um der kleinen Schar
der Papyrusbeflissenen Texte der Urkunden zu verschaffen, die in
den Uebungen gelesen wurden (hektographische Vervielfältigungen
mußten zu diesem Zwecke für jede Stunde hergestellt werden), —
der wird mit Freude und Genugtuung das neue Buch begrüßen
und den Verfasser zur glänzenden Leistung, mit der er weite Kreise
erfreute, herzlichst beglückwünschen.
Corpus Iuris Civilis. Editio stereotypa tertia decima. Vol. I.
Institution es recognovit Paulus Krueger. Digesta re-
cognovit Tb. Mommsen, retractavit P. Krueger. Berolini, apud
Weidmannos 1920 (Ladenpreis 20 M.).
Die neue (13.) Auflage der bekannten Mommsen-Kruegerschen
Digestenausgabe darf auch in dieser Zeitschrift nicht übergangen
werden, um so mehr, als es sich nicht um einen rein stereotypen
Neudruck handelt. Sie weist nämlich einen sehr inhaltsreichen An-
hang (S. 958 — 986) auf, in welchem der unermüdliche Herausgeber
unter dem Titel „Supplementa adnotationum" die in den beiden
letzten Auflagen (XI 1908, XII 1911) eingeführten Neuerungen in
bezug auf das Verzeichnen von Interpolationen weiter ausbauend
eine sehr umfangreiche Liste von etwa 3500 Stellen gibt, in denen
Interpolationen angenommen werden. Einen wesentlichen Vorteil
den früheren Editionen gegenüber bildet die Angabe des Werkes,
in dem die betreffende Interpolationsvermutung aufgestellt wurde.
Damit hat der Verfasser dem Wunsche vieler Rechnung getragen
und den Benutzern der Digesten viel Zeit erspart, da die früher
lediglich auf den Namen des Verfassers sich beschränkenden Notizen
oft nur Anlaß zu langem Herumsuchen gaben, das nicht immer von
Erfolg begleitet war. P. Krueger hat sich aber mit der reinen Er-
gänzung der Noten zu den bereits früher als interpoliert bezeich-
neten Stellen nicht begnügt: er hat die gesamte neueste Literatur
bis 1919 (selbstverständlich mit Ausnahme der ihm nicht zugäng-
lich gewesenen ausländischen Literatur aus der Kriegszeit) fleißig
durchgearbeitet. Bei der Aufnahme fremder Interpolationsannahmen
geht Krueger durchaus kritisch vor. Das beweisen die zahlreichen
Fragezeichen, die er oft seinen Notizen beifügt, — Interpolations-
annahmen, die ihn nicht überzeugt haben, wurden überhaupt nicht
312 Besprechungen.
aufgenommen. Eine Reihe neuer Interpolationsfeststellungen stammt
übrigens vom Herausgeber selbst. Sehr erfreulich ist es, daß in
der neuen Auflage viele störende, von den älteren stereotypen Aus-
gaben ererbte Druckfehler verschwunden sind. Freilich sind an ihre
Stelle neue im Supplementum hinzugetreten ; man nimmt sie aber
gerne in den Kauf, da sie meistens leicht korrigierbar und schließlich
im Vergleich mit dem Gebotenen verschwindend gering sind.
Es ist wiederum ein großes Stück Arbeit, das der verehrte Ver-
fasser hier geleistet hat. Bis zum Erscheinen des von der Savigny-
Zeitschrift vorbereiteten Interpolationenverzeichnisses — dazu wird
es wohl noch einer langen Reihe von Jahren bedürfen — wird die
neue Auflage einen unentbehrlichen Behelf bei Benutzung der Di-
gesten bilden.
Steinwenter, Artur, Studien zu den koptischen Rechtsurkunden
aus Oberägypten (Studien zur Paläographie und Papyruskunde,
herausg. von Dr. Karl Wessely, Bd. XIX) Leipzig, Verlag
Haessel 1920 (79 S.) !).
Die in der Ueberschrift genannte Arbeit bildet den ersten Versuch
einer Einführung in die Rechtsgeschichte der koptischen Urkunden, für
die es bis jetzt dem Rechtshistoriker fast ganz an einführender Literatur
fehlte. Der Verfasser, ein wohlbekannter Forscher auf dem Gebiete des
römischen Rechts und der griechischen Papyruskunde, scheute nicht die
Mühe, sich auch in die Sprache der koptischen Urkunden einzuarbeiten,
um auf diese Weise ein für die große Gemeinde der Romanisten und
Papyrusforscher unzugängliches Gebiet zu betreten, und die von ihm,
dem mit dem Rüstzeug der modernen rechtsgeschichtlichen Forschung
ausgestatteten Gelehrten, gewonnenen Ergebnisse jenen der griechischen
Papyruskunde gegenüberzustellen und für die Rechtsgeschichte der Pa-
pyri auszuwerten. Die koptischen Urkunden, von denen die meisten aus
der zweiten Hälfte des VIII. Jahrhunderts stammen (sie reichen bis ins
X. hinein), knüpfen an die griechisch-byzantinischen an, und bieten so-
mit eine Quelle zur Erkenntnis des lebenden Rechts in Aegypten durch
einige Jahrhunderte über die byzantinischen Urkunden hinaus. Sie sind,
wie Verfasser zeigt, das Ergebnis einer fortschreitenden Entwickelung
aus dem Formular der griechisch-byzantinischen Urkunden, was durch
die Gemeinsamkeit des griechischen und des koptischen Notariats zu er-
klären ist. Aber auch die aus den koptischen Urkunden zu erschließen-
x) Vgl. über dieses Werk Paul M. Meyer im „Juristischen Papyrus-
bericht" oben S. 248 f. Leonhard Adam.
)
Besprechungen. 313
den Normen und Rechtsinstitute weisen viel Gemeinsames mit dem Rechte
der byzantinischen Urkunden auf, so daß sich auch hier für manche
Materien ein Bild der Einflüsse und Fortentwicklung zeichnen läßt. Das
interessanteste Problem ist freilich die Scheidung der verschiedenen
Rechtskreise und Einflüsse voneinander, ein Problem, das bei den grie-
chischen Urkunden auf drei Gebiete (national-ägyptisches, griechisches
und römisches) beschränkt, hier noch um eines bereichert oder vielmehr
erschwert wird : das arabische. Der Verfasser geht bei seinen Unter-
suchungen die Wege, die die moderne Rechtsgeschichte bei der Erfor-
schung des Rechts der griechischen Papyri wandert: eine gute, verläß-
liche Methode, die von einem umsichtigen und bewanderten Kenner an-
gewandt nicht versagen kann. Deshalb ist auch das Buch Stein wenters
reich an neuen belehrenden Ergebnissen, die die vom Verfasser ange-
kündigte, auf breiter rechtsgeschichtlich-vergleichender Grundlage aufge-
baute Untersuchung des Dialysis-Problems mit größter Spannung erwar-
ten läßt. Denn gerade diese Untersuchungen über die Dialysis im an-
tiken Recht — ein Institut, wofür die koptischen Urkunden reichhaltiges
Material bieten, — haben den Verfasser zu umfangreichen, mit dem
Sprachstudium des Koptischen verbundenen Vorarbeiten geführt, deren
Ergebnisse Verfasser jetzt vorlegt. Es sind dies umfassende Exkurse
über einzelne Fragen der Verwaltungs- und Gerichtsorganisation, wie
auch des koptischen Notariats- und Urkundenwesens. In das erste Ge-
biet fallen die Darstellungen über den Dux und Pagarchen (S. 6—18),
den Dioiketen (S. 19—25 und 34 — 37) und den Protokometen-Lasane
(S. 38—51), wobei vornehmlich auf deren Jurisdiktionelle Tätigkeit ge-
sehen wird, — in das zweite die Abschnitte über die Aktpräskripte der
thebanischen Rechtsurkunden (S. 26 — 33) und über die Verfasser und
Schreiber der Urkunden (voji'.xo«; und uicoypacps'j«; S. 61 — 73). Hiemit wird
einerseits das koptische Notariat, andererseits die Beteiligung der Be-
amten an der Errichtung der Urkunden eingehend beleuchtet. Sach- und
Quellenregister sind selbstverständlich beigefügt.
Steinwenters koptische Studien reihen sich würdig den bis-
herigen Arbeiten des Verfassers an. Die klare und übersichtliche Dar-
stellungsweise, das sorgfältige Abwiegen aller für und gegen seine Thesen
sprechenden Argumente bei vollständiger Beherrschung des Materials und
der Literatur, wirken anregend beim Studium des Buches; das stete An-
knüpfen an byzantinische und ältere Urkunden verleiht der Arbeit, die
schon durcli Behandlung neuer Gebiete und wenig geläufiger Fragen regstes
Interesse weckt, besonderen Reiz und fesselt den Leser,' der dem Ver-
fasser reichliche Belehrung verdanken wird.
Wien, im Oktober 1920.
Dr. Adolf Berger,
314 Besprechungen.
Richter, Johannes, Die Entwicklung des Erwerbs von Grund-
eigentum durch Ausländer in Marokko. (Leipziger Dissertation.)
0. 0., im September 1918. (Druck von Hopfer, Burg b. M.) 59 S. 8°.
Die Fragen des Grundeigentums in Marokko sind vor Richter
verschiedentlich behandelt worden: auf deutscher Seite von Stein-
führer (1910) und Kaulisch (1911), auf franzosischer besonders
von Michaux-Bellaire und Aubin (1912) sowie von Amar
(1913). Die Arbeit des zu früh vollendeten W. Steinführer1) ist
eine auf literarisches Beiwerk ganz verzichtende, knappe, klare,
materiell vorzügliche Darstellung, die vielfach aus persönlicher Kennt-
nis der Dinge schöpft. Von Steinführer ist Richter in starkem Maße
abhängig. Die Steinführersche Arbeit ist durchaus das Knochen-
gerüst der Richterschen : Glied für Glied finden wir hier wieder,
im gleichen Aufbau, ja auch in gleicher besonderer Ausgestaltung,
in derselben logischen Verknüpfung, Schritt für Schritt sogar mit
fast dem gleichen, oft nur leicht veränderten sprachlichen Ausdruck.
Hier und da ist Steinführer aus Kaulisch und französischen Quellen,
an besonderer Stelle aus der guten Arbeit von Ph. Vassel, Ueber
marokkanische Prozeßpraxis (Mitt. d. Or. Sem. 1902), ergänzt. Fest-
stellungen aus eigener Kenntnis des Verfassers treten nicht hervor.
Auch die Zusätze zu Steinführer sind materiell wenig belangreich.
Immerhin ist die Arbeit eine nützliche Zusammenfassung, insbesondere
auch durch die übersichtliche Gliederung und die literarischen Nach-
weisungen (auch Steinführer ist gewissenhaft, Schritt für Schritt zitiert).
Im einzelnen ist freilich Vorsicht geboten, da die Richtersche Arbeit
einen gewissen Mangel an Straffheit zeigt, der hier und da auch ma-
teriell von Bedeutung sein kann. So in der Angabe S. 21: „Reparaturen
nimmt das Machsen vor, wovon 6 Proz. der Kosten zu zahlen sind."
In Wahrheit liegt die Sache so, daß von den Reparaturkosten ebenso
wie von der Bausumme der den Fremden überlassenen Gebäude eine
jährliche Rente von 6 Proz. zu zahlen ist (Steinführer S. 56).
In der geschichtlichen Einleitung ist das Verhältnis von Araber-
tum und Berbertum in Nordafrika, dessen richtige Erfassung in
rechtsvergleichender Beziehung nicht gleichgültig ist, unzulänglich
und zum Teil geradezu falsch dargestellt.
J) Wohnung und Grundeigentum der Fremden in Marokko. In Mit-
teilungen des Seminars für Orientalische Sprachen zu Berlin, Jahrg. 13,
Abs. 2, 1910, S. 52-64.
Besprechungen. 315
Nöldeke, Theodor, Geschichte des Qoräns. 2. Auflage, völlig um-
gearbeitet von Friedrich Schwally. 2. Teil : Die Sammlung des
Qoräns mit einem literarhistorischen Anhang über die mo-
hammedanischen Quellen und die neuere christliche Forschung.
Leipzig 1919. Dieterich. VIII, 224 S. 8°.
Der Koran in seiner uns heute vorliegenden Gestalt ist auf Veran-
lassung des Kalifen Othraan gegen Ende seiner Regierung (terminus ad
quem 18. Dhu'l-higga 35 d. H. = 17. Juni 656) offiziell festgesetzt. Er geht
unmittelbar zurück auf eine Redaktion, in welcher Zaid Ben Thabit schon
unter der Regierung Abu Bekrs (8. Juni 632 — 22. August 634), also so-
gleich nach dem Tode Muhammeds, die bis dahin verstreuten, aus dem
Munde des Propheten auf einzelnen Blättern (auch Steinen, Knochen und
anderem Material) aufgezeichneten Offenbarungen gesammelt hatte. Es
hatte auch andere solche Sammlungen gegeben, die aber auf Anordnung
Othmans alle vernichtet wurden. So ist unser heutiger Koran seit ältester
Zeit, trotz der von verschiedenen Sekten des Islams gegen ihn erhobenen
Vorwürfe, allein gültig und in Gebrauch gewesen. Auch die schiitische
Kirche beurteilt und gebraucht den othmanischen Koran bis auf den
heutigen Tag als Heilige Schrift.
Ueber die vorothmanischen Koranausgaben, welche neben der Samm-
lung des Zaid bestanden, sind uns einige Nachrichten überkommen. Dar-
nach unterschieden sich diese Sammlungen von der späteren offiziellen
zunächst in der Anordnung der Suren (Kapitel) und hatten teilweise auch
einige Bestandteile (so die erste Sure und die beiden letzten) weniger
als jene. Einige Verse sollen sie auch mehr gehabt haben. Diejenigen
der letzteren, von denen der Wortlaut mitgeteilt wird, erweisen sich als
unecht und sind auch rechtsgeschichtlich ohne Interesse, bis auf den
sogenannten „Steinigungsvers' in dem Koran des Ubai. Er lautet : „Wenn
ein bejahrter Mann und eine bejahrte Frau Unzucht treiben, so steinigt
sie unbedingt zur Strafe von Gott; Gott aber ist allmächtig und all-
weise." Schwally hat dargelegt, daß diese kriminalrechtliche Bestimmung
erst nach dem Tode Muhammeds eingeführt sein kann.
Der Text des othmanischen Korans ist, wie Schwally auf Grund
seiner eingehenden Untersuchungen zusammenfassend urteilt, „so voll-
ständig und treu, wie man es nur erwarten konnte". Audi die Bean-
standungen einzelner geringfügiger Bestandteile des Textes durch abend-
ländische Gelehrte erweisen sich als haltlos. Vollends nichtig sind die von
muslimischen Sekten, besonders den Schiiten, gegen Othraan erhobenen
Beschuldigungen. So soll er eine große Zahl von Lesarten geändert oder
unterdrückt haben, welche die Heiligkeit Alis und seines Geschlechtes
aussprachen. Ja, die Schiiten behaupten sogar, daß ganze Suren, die
3 IG Besprechungen.
einst im Koran gestanden, von Othman beseitigt worden seien. Die einzige
bis jetzt davon bekannt gewordene ist die von Schwally in Text und
Uebersetzung mitgeteilte sogenannte %Zweilichter-Sure". Erdrückendes
Beweismaterial stempelt sie zu einer, wie es scheint, späten schiitischen
Fälschung, wie auch alle jene schiitischen Lesarten erdichtet sind.
Allein die erste Sure sowie die beiden letzten unterscheiden sich
nach Schwally nach Inhalt und Form so sehr von allen übrigen Suren,
daß sie, wie er sich ausdrückt, zur Verdächtigung ihrer Echtheit geradezu
herausfordern. Aber gerade in die Untersuchung dieser Frage tritt er
nicht näher ein. Meines Erachtens kann weder die starke Abhängigkeit
der ersten Sure von jüdischen und christlichen Liturgien, noch die Tat-
sache, daß die beiden Beschwörungssuren „voll des massivsten Heidentums"
sind, dagegen sprechen, daß diese Texte von Muhammed rezitiert wurden.
Schwally hat das alte Köldekesche Werk so eingreifend umge-
arbeitet, daß von dem ursprünglichen Texte kaum noch wesentliche
Stücke im Wortlaut vorliegen. Er hat die Originalquellen und die ge-
lehrte Forschung im weitesten Umfange kritisch benutzt. Leider starb
er, ehe er noch die letzte Hand an sein Manuskript legen konnte, auch
er, wie sein Schwager Heinrich Zimmern bezeugt, eines der vielen Opfer
der anglo-amerikanischen Hungerblockade. Doch ist das nahezu druck-
fertige Werk durch Heinrich Zimmern und August Fischer, mit Zusätzen
von letzterem, befriedigend durch die Presse geführt worden. Der literar-
historische Anhang ist von besonderem Interesse. Schwally hat sich
darin bemüht, „alle Leistungen in ihrer Eigenart, mit ihren Vorzügen
und Fehlern sachlich und unparteiisch zu erfassen, um es dadurch auch
dem allgemeinen Historiker und Religionsforscher, der nicht Arabist ist, zu
ermöglichen, sich in der Literatur über den Gegenstand zurechtzufinden."
Prof. Dr. Georg Kampflfmeyer, Berlin-Dahlem.
N i e d n er, Alexander, Reichsgerichtsrat. — Sozialisierung der Rechts-
pflege. Leipzig o. J. Verlag von Dr. Werner Klinkhard. 56 S.
(= „Deutsche Revolution". Eine Sammlung zeitgemäßer Schriften,
herausgegeben von Prof. Dr. H. H. Houben und Dr. E. Menke-
Glückert, Bd. VI).
Der Ausdruck „Sozialisierung" gehört zu den meist gebrauchten und
häufig auch mißbrauchten Schlagworten der gegenwärtigen Revolutions-
bewegung. Soweit er zur praktischen Inangriffnahme gesetzgeberischer
Projekte geführt hat, beschränkt er sich auf wirtschaftspolitische
Maßnahmen, welche eine Umgestaltung des Produktions- und Güterver-
teilungsprozesses anschließend an die Syndikatsentwicklung der hoch-
kapitalistischen Periode unter Einfügung öffentlich-rechtlicher Faktoren
Besprechungen. 317
und Festlegung einer von Staats wegen geregelten Arbeitsordnung zum
Gegenstand haben. Man darf also begierig sein, zu erfahren, inwie-
fern dieser Begriff auf die Rechtspflege, die doch gerade in der neueren
Geschichte der Kulturstaaten zur ausschließlichen Staatsfunktion ge-
worden ist, Anwendung finden soll. In der Tat lassen die Ausführungen
des Verfassers neben einer Reihe schlechterdings mit Sozialisierung
keinerlei Berührung leidender Reformvorschläge hie und da eine ent-
schiedene Anlehnung an die vormärzlichen Zustände patriarchalischer
Friedensrichtertätigkeit erkennen, deren wahrer Charakter durch radikale
Redewendungen dem nicht verdeckt wird, der in der Ueberwindung ge-
sellschaftlicher Bildungen durch die Zwangsgewalt des Staates den wesent-
lichsten Fortschritt der öffentlich-rechtlichen Entwicklung seit der Mitte
des 19. Jahrhunderts erblickt. Daß man beispielsweise mit den während
des Krieges gebildeten Miet- und Hypothekeneinigungsämtern und ähn-
lichen Einrichtungen die besten Erfahrungen gemacht (S. 18), wird von
denjenigen, welche kraft der Ausnahmegesetzgebung ihrer Gewalt unter-
worfen sind, keineswegs übereinstimmend bestätigt. Aus diesen angeb-
lich günstigen Erfahrungen aber, wie der Verfasser es tut, das Postulat
einer allgemeinen Verkümmerung der Rechtsverfolgung mit staatlicher
Hilfe herleiten, heißt in der Tat Sozialisierung im Sinne einer Reaktivie-
rung des Uebergewichts der Gesellschafts- über die Staatsautonomie
treiben. Nun ist es ja bekannt, daß unsere moderne soziale Entwick-
lung auch auf anderen Gebieten in Reaktion gegen den weit getriebenen
Individualismus der europäischen Wirtschafts- und Rechtsordnung, wie
sie sich seit der großen französischen Revolution gestaltet hat, vielfach
wieder an mittelalterliche Vorbilder, wie beispielsweise das Zunft- und
Gildenwesen, angeknüpft und sie in moderner Verjüngung wieder in den
Staatsorganismus eingefügt hat. Aber die Skepsis, mit der der Verfasser
achselzuckend sagt: „Wenn zwei Personen sich streiten, ist in aller
Regel Recht und Unrecht auf beiden Seiten verteilt" (S. 21) und : „Man
muß sich endlich von der Vorstellung freimachen, daß e3 nur ein rich-
tiges Recht gäbe, oder wenn es existierte, daß es möglich wäre, aller-
wegen ein solches zu finden" (S. 20), erinnert doch verzweifelt an die
Bankerotterklärung von weiland Pontius Pilatus, die zugunsten einer
Rechtsvergewaltigung abdiziert, wobei der Grund für diese Vergewal-
tigung, er sei religiöser, nationaler oder gesellschaftlicher Natur, keinen
Unterschied macht. Besonders im Munde eines Mitgliedes des höchsten
Gerichtshofs nimmt sich dieser Skeptizismus wunderlich aus, denn man
mag mit dem englischen Prozeßrecht der Meinung sein, daß der Apparat
berufsmäßiger Rechtsfindung unter Aufwendung der mit der Garantie
zutreffender Entscheidung verbundenen Kosten und Mühen nur für die
prinzipiell wichtigen Streitsachen wirtschaftlich hohen Werts sich verlohne,
318 Besprechungen.
das tägliche Einerlei geringwertiger Streitobjekte aber der friedens-
richterlichen Menschenverstandsjudikatur überlassen werden könne — als
allgemeines Prinzip für die Rechtspflege aber erscheint der Verzicht auf
die Auffindung des richtigen Rechts doch als juristischer Selbstmord.
Doch läßt sich ein Werturteil über die Vorschläge des Verfassers
nur an Hand der Einzelmaßnahmen, die er empfiehlt, fällen. Leider be-
dingt die Broschürenform seiner Publikation eine äußerst skizzenhafte
Darstellung, die jedes nähere Eingehen auf die Einzelgebiete vermissen
läßt. So stimme ich dem Verfasser durchaus zu, wenn er dafür plädiert,
daß während der Ausbildungszeit die Geistesbeschäftigung des jungen
Juristen nicht lediglich auf das Theoretische und Rezeptive eingestellt
sein darf. Die praktische Betätigung im Erwerbs- und Wirtschaftsleben,
die er empfiehlt, begegnet aber in ihrer Verwirklichung erheblichen
Schwierigkeiten. In Konferenzen, die seinerzeit im Preußischen Mini-
sterium des Innern stattgefunden haben, zu welchen ich zugezogen war,
ist eingehend darüber verhandelt. Neu sind natürlich die m ei s ten der
von Niedner gemachten Vorschläge nicht. Denn die Fragen der Justiz-
reform stehen seit Jahren auf der Tagesordnung, und er selbst hat sich
wiederholt an den Erörterungen beteiligt. An dem Bürgerlichen Gesetz-
buch wie am Strafgesetzbuch und den Prozeßordnungen ist lebhafte Kritik
geübt, die Richtervereine haben sich in, wie ich meine, nicht immer
glücklicherweise mit der Abstellung der in der Praxis zutage getretenen
Mißstände beschäftigt, Novellen zur Zivilprozeßordnung haben nament-
lich den durch die wirtschaftlichen Umwälzungen bedingten Aenderungen
der Verhältnisse Rechnung zu tragen sich bemüht, an dem Entwurf der
Strafprozeßordnung haben wir uns in der Reichstagskommission in langer
Arbeit abgemüht, die Neugestaltung des materiellen Strafrechts ist sorg-
fältig vorbereitet. Aber alle diese Ansätze genügen dem Verfasser nicht.
Er vertritt unter gelegentlicher Verwendung der Phraseologie radikal-
sozialistischer Opposition auf allen Gebieten eine völlige Umwälzung des
Bestehenden, die, wie mir scheint, in vielen Punkten keinen Fortschritt,
sondern einen erheblichen Rückschritt, keine im Interesse sozialer Aus-
gleichung gebotene, sondern lediglich eine auf Schwächung des Staats-
einflusses und damit auf Freimachung der Bahn für die Diktaturgelüste
der jeweils stärkeren sozialen Gruppe hinauslaufende Tendenz erkennen
läßt. Wenn beispielsweise zwar zuzugeben ist, daß der strafrechtliche
Schutz der menschlichen Arbeitskraft durch Verschärfung der Strafvor-
schriften gegenüber Zuwiderhandlung gegen soziale Schutzvorschriften
sich empfiehlt, so ist es doch andererseits schwer, die nach dem bestehen-
den Strafrecht gegen Eigentumsverbrechen angedrohten Freiheitsstrafen mit
Niedner als unsoziales Klassenrecht aufzufassen. Die vom Verfasser u. a.
empfohlene Geldstrafe hat ja gewiß auf vielen Gebieten eine Aus-
Besprechungen. 319
dehnungsmöglichkeit; an sich aber ist sie nicht gerade sozial empfehlens-
wert, wenn sie bei dem Unvermögenden durch substituierte Freiheits-
oder Arbeitsstrafen ersetzt werden muß. Der Verfasser hilft sich hier,
um das soziale Gesicht zu wahren, mit folgenden Vorschlägen (S. 39) :
„Der Eingang von Geldstrafen auch seitens Unbemittelter wird durch
Zulassung ausgiebiger Stundungs- und Ratenbewilligungen regel-
mäßig zu erreichen sein, wrobei stets dem Verurteilten die Möglichkeit
zu eröffnen ist, die Strafe abzuverdienen. Eine nachträgliche Festsetzung
zwangsweiser Ersatzarbeit kann erfolgen, wenn einwandfrei feststeht, daß
der Verurteilte sich böswillig der Vollstreckung entzieht. Andernfalls ist
die Strafe niederzuschlagen/ Wem dieses bis zur Niederschlagung der
Strafe gehende Recht zustehen soll, sagt der Verfasser nicht. Vermut-
lich dem Richter, denn die derzeitige Strafvollstreckungsbehörde, die
Staatsanwaltschaft, will er, ebenfalls in Rückkehr zu vorkonstitutionellen
Zuständen, als überflüssig beseitigen (S. 26). Daß damit der richter-
lichen Tätigkeit eine von der eigentlichen Rechtsfindung erheblich ab-
weichende minutiöse Verwaltungstätigkeit zugemutet .wird, kann viel-
leicht weniger bedenklich für den erscheinen, der mit dem Verfasser die
eigentliche Aufgabe des Richters überhaupt in einer Ausgleichung so-
zialer Unebenheiten ohne Rücksicht auf juristisch-technische Vorbildung
und Kenntnisse erblickt (vgl. den Abschnitt II der Broschüre). Ob freilich
damit die ebenfalls angestrebte Vereinfachung der Rechtspflege und Ver-
minderung der Beamtenzahl (Abschnitt IV, S. 31) zu erzielen ist, dürfte
zweifelhaft sein. Die bisherige „Sozialisierungs"tätigkeit unserer neuen
Gewalthaber läßt Zweifel daran berechtigt erscheinen. Was Bürokrat i-
sierung ist, wissen wir doch eigentlich erst seit der Revolution. Und
da der Verfasser, wie es bei der gegenwärtigen Tendenz in unserer Selbst-
verwaltung nur natürlich ist, für seine „Volksrichter" eine entspre-
chende Besoldung in Sperrdruck vorsieht (S. 24), so ist auch die
Verbilligung, die sonst aus seinen Vereinfachungs- und Laisierungsvor-
schlägen erwachsen könnte, nicht zu erwarten. In dem Ersatz des richter-
lichen durch das Laienelement geht er sehr weit. Ich habe stets auf
strafrechtlichem Gebiet der weitestgehenden Mitwirkung von Laien das
Wort geredet und in dem Doppelheft 5/G des „Kulturparlaments" ge-
legentlich der Strafprozeßreform mich eingehend mit dem Problem der
Laienrechtsprechung auch in Zivilsachen beschäftigt. Es würde zu weit
führen, hier näher darauf einzugehen. Gerade was ich als Gefahr dieser
Laienrechtsprechung ausgeführt habe, wird mir durch die Sozialiserungs-
bestrebungen Niedners bestätigt: Die Besorgnis vor einer teil weisen
Rückgängigmachung der Errungenschaften der modernen Staatsentwick-
lung, der Trennung von Verwaltung und Rechtsprechung, vor der Ver-
wechslung von Rechtsstreitentscheidung und Austragung sozialer Gegen-
320 Besprechungen.
sätze, die Zerspitterung der Rechtspflege in Sondergerichtsbildungen und
im Zusammenhang damit die Förderung der Entfremdung zwischen Be-
rufsrichtertum und praktischem Leben. Die Verwirklichung der Rechts-
idee erscheint uns Unmodernen als ein Postulat der Gesamtkultur ohne
Rücksicht auf den praktischen Nutzen. Niedner sucht den mindestens
zweifelhaften Wert der gegenwärtigen Rechtspflege durch die Statistik
des früheren Gerichtsvollziehers Finhold über den Erfolg der Zwangs-
vollstreckungen in einem bestimmten Bezirk darzutun (S. 17). Selbst vom
rein staatsökonomischen Gesichtspunkt aus würde es verfehlt sein, auch
wenn brauchbares statistisches Material zugrunde gelegt wird, den Er-
folg der Rechtsordnung lediglich aus den zur Zwangsvollstreckung ge-
diehenen Fällen zu beurteilen. Gott sei Dank befolgen viele Verurteilte
die Richtersprüche auch ohne Zwangsvollstreckung. Ganz unschätzbar
ist vollends der Einfluß, den psychologisch das Bestehen einer guten
Rechtspflege auf die Erfüllung von Verbindlichkeiten ohne Prozeß ausübt.
Ob allerdings die Rechtsprechung gut sein würde, wenn Niedners organi-
satorische Vorschläge verwirklicht würden, ist mir sehr zweifelhaft. Die
Oberlandesgerichte beseitigt er als überflüssig (S. 30). Die dritte Instanz hat
nur im Interesse der Rechtseinheit für ihn Sinn (S. 31). Wie sie aber dieser
Aufgabe gerecht werden soll, wenn seinem Vorschlag entsprechend „in allen
Fällen, wo die Gerichte endgültig entscheiden", „eine Begründung regel-
mäßig überhaupt nicht erforderlich" ist, ist schwer abzusehen. Stat pro
ratione voluntas ! Aus dem entscheidenden Teil vermögen die übrigen Ge-
richte doch nur zu ersehen, ob Aulus Agerius oder Numerius Negidius
obgesiegt hat; für die einheitliche Behandlung gleich gelagerter Rechtsfälle
ist aber die Kenntnis der Begründung für dieses Resultat nicht unwesentlich.
Der Abschnitt „Soziales Zivilrecht" enthält mehrere sehr begründete
aber keinen neuen kritischen Einwand gegen Vorschriften des BGB. Neu ist
nur bei einzelnen dieser Bemängelungen ihre Unterordnung unter den so-
zialen Gesichtspunkt, so z. B. bei der Frage des Gefahrüberganges beim Kauf.
Alles in allem: Wenn das Sozialisierung der Rechtspflege ist, mag uns
der Himmel vor einer solchen Sozialisierung bewahren, die verzweifelte
Aehnlichkeit mit einer Ruinierung hat. Wir danken dafür, wenn die Er-
rungenschaften einer die Rechtsverwirklichung ohne Ansehen der Person
erstrebenden Entwicklung von langen Jahrzehnten zugunsten eines Mode-
begriffes über den Haufen geworfen werden sollen. Die Volkstümlichkeit,
welche in der Anpassung an jede weitverbreitete Tagesströmung ohne
Prüfung ihrer inneren Berechtigung besteht, führt, wie die Vorschläge des
Verfassers zeigen, bisweilen zu den rückläufigsten Tendenzen, mögen immer
sie durch revolutionäre Ausstaffierung sich den Anstrich sozialer Fort-
geschrittenheit £eben. ¥r • • v t* n «•
& ° Heinrich Dove, Berlin.
IV.
Die Legitimation des Erben
nach russischem und baltischem Recht
unter Vergleichung mit den Bestimmungen des deutschen B.Gr.B.
Von
Dr, jur. Edgar Tatarin (Marburg a. L.),
Rechtsanwalt aus Riga.
(Fortsetzung und Schluß.)
Inhalt.
Seite
III. Ab sehn. Das unstreitige Nachlaßverfahren im Baltikum 323
Tit. 1. Die Rechtsentwicklung 323
§ 25. Die ältesten Quellen des Landrechts 323
§ 26. Das ältere Stadtrecht 326
§ 27. Die weitere Rechtsentwicklung im allgemeinen . 334
§ 28. Die russische Justizreform vom Jahre 1889 und die
Entwicklung bis znr Gegenwart 337
Tit. 2. §29. Grundlegendes über die Erbfolge. . 340
Tit. 3. Das Verfahren zur Sicherung des Nachlasses 343
§ 30. A. Die direkten Sicherstellungsmaßnahmen und die
Fälle derselben 343
§ 31. Das zuständige Gericht und die einzelnen Maß-
nahmen 347
§ 32. B. Die Bestellung eines Kurators 352
§ 33. C. Das Nachlaßproklam 357
Tit. 4. Die Bestätigung der gesetzlichen Erben im
Erbrecht . 358
§ 34. Die Bestätigung im Erbrechte als Legitimations-
mittel 359
§ 35. Das zuständige Gericht und der Charakter des Ver-
fahrens 362
§ 36. Der Bestätigungsantrag 366
§ 37. Das Nachlaßproklam 368
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. XXXIX. Band. 21
322 Tatarin.
Seite
§ 38. Der Zeitpunkt des Bestätigungsantrags .... 385
§ 39. Die Bestätigung der Erben im Erbrechte . . . 389
§ 40- Die Einweisung in den Besilz der Erbschaft . . 394
Tit. 5. Die Anerkennung der Rechtskraft der Ver-
fügungen von Todes wegen 395
§ 41. Allgemeines 395
§ 42. Die Einlieferung des Testaments 397
§ 43. Die Testamentseröffnung 402
§ 44. Das Aufgebotsverfahren 408
§45. Der Erbschaftsantritt 411
§ 46. Die gerichtliche Anerkennung der Rechtskraft des
Testaments 411
Tit. 6. §47. Der Rechtszustand während der deutschen
Besetzung des Baltenlandes 429
IV. Ab sehn. Die rechtliche Bedeutung der ErblegitimationB-
Urkunden im russischen und baltischen Recht 432
Tit. 1. Die Vermutung für die Richtigkeit der Legi-
timationsurkunden. 432
§ 48. Das deutsche Recht 432
§ 49. Das russische Recht 434
§ 50. Das baltische Recht 446
Tit. 2. Der öffentliche Glauben der Legitimations-
urkunden 451
§ 51. Das deutsche Recht 451
§ 52. Das russische Recht 452
§ 53. Das baltische Recht 457
Tit. 3. lieber das Verhältnis der Bestätigungs-
beschlüsse des unstreitigen Nachlaß-
verfahrens zu den Erkenntnissen des
Zivilprozesses 459
§ 54. Die Bedeutung der Bestätigungsbeschlüsse für den
Prozeß 460
§ 55. Die Verbindlichkeit des Prozeßurteils für das un-
streitige Nachlaßverfahren 461
Nachwort , 465
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 323
III. Abschnitt.
Das unstreitige Nachlaßverfahren im Baltikum.
Tit. 1. Die Rechtsentwicklung.
§ 25. Die ältesten Quellen des Landrechts.
Die älteren Quellen des baltischen Rechts enthalten wenig
oder gar nichts über die Legitimation des Erben. Nur auf
indirektem Wege kann man sich Aufschlüsse über diese Frage
verschaffen.
Die Hauptquellen des Landrechts: das Waldemar-
Erichsche Lehnrecht1), das älteste livländische Ritterrecht1),
der livländische Spiegel Land- und Lehnrechts *) und das mitt-
lere livländische Ritterrecht2), deren Entstehung in das 13.
bis 15. Jahrhundert fällt3), wissen jedenfalls nichts von einer
Beteiligung des Gerichts an der Regelung des Nachlasses, wie
sie überhaupt nichts Näheres über Erwerbung und Antritt des
Nachlasses, Erbteilung usw. enthalten4). Wie von Helmersen
überzeugend dargetan5), galt für das alte livländische Recht,
das ein rein deutsches Recht darstellte, der allgemeine Grund-
satz des letzteren: „Der Tote erbt den Lebendigen" — es folgt
dieses aus der Bestimmung des mittleren Ritterrechts, daß
das Kind den Vater beerbt, wenn es, obgleich nach dessen
Tode geboren, nur kurze Zeit gelebt hat, oder, wie das ge-
nannte Rechtsbuch sich ausdrückt, nachweislich „de veer wende
beschriet" 6). Die Erwerbung der Erbschaft erfordert also
keine besondere Antretung, geschweige denn eine Anerkennung
*) Vgl. Bunge, Altlivl. Rechtsbücher.
2) Vgl. Oelrichs, Rig. R.
3) Vgl. Bunge, Einleitung, S. 95—118.
4) Vgl. v. Helmersen, Adelsrecht, S. 30 ff. u. 322.
5) Helmersen a. a. 0. S. 30 u. 99, vgl. auch Geschichte des liv-,
est- und kurländischen Privatrechts, S. 80.
6) Vgl. Mittl. Ritterrecht, Kap. 27 u. 54.
324 Tatarin.
des Erbrechts durch das Gericht: der Erbe erwarb die Erbschaft
durch den bloßen Anfall, d. h. durch den Tod des Erblassers.
I. Die zwei ältesten Rechtsquellen: das Waldemar-
Erichsche Lehnrecht und das älteste Ritterrecht
stellen dem Inhalte nach ein fast reines Lehnrecht dar 1). Bei
einem solchen bestand natürlicherweise ein Bedürfnis nach einer
Legitimation des Erben um so weniger, als das altlivländische
Ritterrecht nur das strenge Mannlehen 2) kannte : die patri-
archalischen Verhältnisse, in denen ein solches wurzelte, brachten
es mit sich, daß schon bei Lebzeiten des früheren Besitzers
die Person des Lehnfolgers allgemein feststand, wie etwa
heute bei der Thronfolge; nach dem Tode des Erblassers rückte
der Erbe, der gewöhnlich zur Stelle und „in der Were be-
storben" war, einfach in den Besitz des Lehns ein; worauf
es ankam, war einzig, die Belehnung vom Lehnsherrn zu
erlangen. Diese wird durch das Waldemar-Erichscbe Lehn-
recht in den Art. 4 — 11 und im älteren Ritterrechte in den
Art. 6 — 9 geregelt: sie mußte binnen Jahr und Tag gemutet
werden3). Neben diesem zugleich öffentlichrechtlichen Akt
hatte ein gerichtliches Nachlaß verfahren keinen Platz. — Auch
für eine Sicherung des Nachlasses durch das Gericht, d. h. für
dasjenige Verfahren, aus dem sich historisch meistenteils die
Beteiligung des Gerichts am unstreitigen Nachlaßverfahren
entwickelt, bestand im ältesten livländischen Recht kein Be-
dürfnis; denn waren die Kinder des Verstorbenen unmündig,
so übernahm der nächste Schwertmage laut Gesetz4) die Vor-
mundschaft, wobei dann der Nachlaß in seine Verwaltung ge-
*) Bunge, Einleitung, S. 98— 100 ff.
2) Vgl. A. v. Transehe, Zur Geschichte des Lehnwesens in Liv-
land, S. 17 ff.; insbesondere S. 63 ff.
. 3) Vgl. Waldemar-Erichsches Lehnrecht, Art. 4, gl: Stervet
ein man, de söne heft, ein edder meer, de ein, de to sinen jaren ge-
kotnen is, de schal overvaren binnen jar unde dach, dat is ses veken unde
ein jar, dat sin to entvangende. § 2: Vorsumet he de tut, so is sin gut
vorjaret, he möge denn echte not bewisen, dat he nicht komen mochte.
4) Waldemar-Erichsches Lehnrecht, Art. 13.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 325
langte J) ; starb aber der Erblasser, ohne Kinder zu hinterlassen,
so blieb die Witwe Jahr und Tag im Besitze der Erbschaft, die
dann an den König fiel 2). Allerdings soll, falls ein Schwertmage
nicht vorhanden ist, der König3) — und nach dem ältesten
Ritterrechte der Bischof4) — Vormund sein; da diese obersten
Lehnsherren nun aber die Verwaltung in diesem Falle kaum
selbst ausgeübt haben werden, so liegt der Gedanke nah, hier
eine Ausübung der Verwaltung durch den vom Könige oder
Bischof eingesetzten Richter 5) anzunehmen. Das sind vielleicht
Keime der späteren Nachlaßsicherungsmaßnahmen. (Ganz ähn-
liche Bestimmungen enthält das älteste Ritterrecht G).
IL Der Spiegel Land- und Lehnrechts, der zum
größten Teile auf dem Sachsenspiegel Landrechts beruht und
in der Hauptsache Landrecht enthält, stellt in B. I, Art. 14
den Satz auf:
„De erve mach wol varen to der wedewen in dat gut eer dem
mantveste, up dat he beware, dat'dar nicht vorlaren werde, dat em
anvallen mach. Mit sinem rade schal ok de vrowe begraft unde
mantfeste began; anders en schal he nene gewalt hebben bet an dem
mantveste. Na dem mantveste schal he eschen, wat em tobehört" 7).
Der Erbe soll also vor dem Dreißigsten (in Livland ge-
wöhnlich Mondfest genannt) zwar die Aufsicht darüber haben,
daß ihm nichts von der Erbschaft verloren gehe, jedoch erst
nach Ablauf dieser Frist das Gut „eschen", d. h. dasselbe
(eventuell gerichtlich) fordern 8) dürfen. Ferner enthält dieses
Rechtsbuch (B. III, Art. 11) die Bestimmung:
1) a. a. 0. Art, 16—19.
2) a. a. 0. Art. 23 u. 24, § 4.
3) a. a. 0. Art. 13, § 2.
4) Aeltestes Ritterrecht, Art. 12, § 2.
5) a. a. 0. Art, 43, vgl. hierzu auch den Livl. Spiegel I, 42.
G) Art. 12—14 u. 17—24.
7) Vgl. den oben S. (I) 274, N. 1 zitierten Art. 22, Ssp. I.
8) Das Wort „eschen" (oder „esschen") hat gewöhnlich die Bedeutung
von „gerichtlich fordern" (heischen), vgl. das russische „isk" (bcks,), „iskatj"
(«(•Kau,) für „Klage" „gerichtlich klagen", auch Oel rieh s, Rig. R., Glos-
sarium dazu, S. 278.
326 Tatarin.
„Ift twe up ein gudt spreken na dem dörtigesten dage, de-
jennige, de dat gut under sik heft, de schal dat nemant antworden,
se vordregen sich denne mit minne edder mit rechte."
Und in dem B. III, Art. 56, wo dem Herrn zugebilligt
wird, seinen Dörfern ein Sonderrecht zu geben, heißt es:
„Nen utwendich man is plichtich, in dem dorpe to antworden
na erem sunderliken dorprechte, he en klage denn up erve edder
gut edder umme schult."
Das dürften wohl die drei einzigen Stellen sein, die von
einer gerichtlichen Hilfe bei der Geltendmachung des Erbrechts
durch den Erben handeln. Es ist aus ihnen ersichtlich, daß
diese Hilfe aber in erster Linie für das streitige, das Klage-
verfahren, vorausgesehen ist; eine Andeutung auf ein un-
streitiges Nachlaß verfahren ist höchstens in dem Worte „ eschen K
des ersten Zitats zu erblicken: es ist darin nicht enthalten,
daß die Forderung des Erben im Prozeß wege geltend zu machen
war. Die Annahme des Gegenteils liegt dagegen nah, wenn
man in Betracht zieht, daß den mit dem livländischen Spiegel
verwandten deutschen Rechtsbüchern der gleichen Zeit die
gerichtliche Einweisung in das Erbe im unstreitigen Verfahren
durchaus bekannt war1). Auch das mittlere Ritterrecht,
das in der Hauptsache das frühere Recht wiedergibt, enthält
in dieser Hinsicht keine neuen Bestimmungen, ebensowenig wie
die livländische erzstiftische Gerichtsordnung von 1539 — das
Formulare procuratorum des Dionysius Fabri 2).
§ 26. Das ältere Stadtrecht.
I. Anders im Stadtrechte. Schon im ältesten lübischen Rechte
für Reval aus dem 13. Jahrhundert findet sich die Bestim-
*) Vgl. Kuttner, Das Verhältnis des Z.P. zum Erbschein, S. 209 ff.
Merkwürdig ist e3 allerdings, daß die Bestimmung des Ssp. I, 28 in den
Livl. Spiegel nicht aufgenommen ist — im Ssp. war die Rede davon,
daß erbloses Gut vom Richter in Verwahrung zu nehmen sei, wonach
man dasselbe von ihm zu „eschen" habe. Binnen Jahr und Tag kann
sich der Erbe zu demselben „tien mit rechte".
2) Vgl. Oelrichs, Rig. R,, S. 153 ff.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 327
mung, daß, wenn jemand in Reval ohne Erben stirbt, „sein
gut schal men deme rade van der stat antworden to bewarende,
ne komet oc nemen binnen deme jare unde dage de sie to
deme gude te mit rechte, so boret des gudes dat halue det der
koningliker wolt unde der stat dat halue del *). Genau wie
im Sachsenspiegel I, 28 ist hier vorausgesehen, daß der rechte
Erbe sich zu dem in Verwahrung des Rats befindlichen erb-
losen Gute, „te mit rechte", d. h. sich zu demselben mit Ge-
richte ziehe — das ist wohl ein deutlicher Hinweis auf eine
damals bereits bestehende unstreitige gerichtliche Erbeinweisung.
Die gleiche Bestimmung ist dann in der Revision des Revaler
Stadtrechts von 1586 wiederholt2).
Einen sehr interessanten Hinweis enthält ein im Jahr 1475
nach Reval ergangenes Urteil des lübischen Oberhofs:
„Renold, (nadem) juwe wedderpart is hyr gekomen mit einem
tovorsichte, dat hyr de rad van werde erkande unde Hanse van
der Heide wisede in de guder, unde he borgen gesät hefft to den
schulden to antwerdende, unde gy dat togelaten unde nicht ge-
schulden en hebben, unde dat Testament Hans Hedebeken bynnen
jar unde dage nicht erkennen hebben laten, so en is dat testament
nicht van werde3).
Aus diesem Urteil ist vor allem zu ersehen, daß in Reval
um jene Zeit bereits gerichtliche Einweisungen der gesetz-
lichen Erben in den Nachlaß auf Grund sog. „Tovorsichts-
breve" üblich waren. Dies waren amtliche Bescheinigungen
der Heimatsbehörden auswärtiger Erben über deren verwandt-
schaftliches Verhältnis mit dem Erblasser, in denen zugleich
die Gewähr wegen künftiger Ansprüche etwaiger anderweitiger
Erben zugesagt wurde4). Zweitens aber ist daraus ersichtlich,
daß man dazumal bereits nach dem Tode des Erblassers das
J) Bunge, Revaler Stadtrecht I, das lübische Recht für Reval,
Niederdeutscher Kodex von 1282, Art. (18) u 167; vgl. auch den Lateini-
schen Kodex von 1257 nebst üebersetzung von 1347, Art. 19.
2) a. a. 0. Revision von 1586, Lib. II, Tit. I, § 14.
s) Zitiert bei Pauli, Abh. aus dem lüb. Recht III, S. 344, N. 329.
4) Pauli a. a. 0. S. 139, vgl. auch N. 290.
S28 Tatarin.
Testament vom Gerichte „irkennen" lassen mußte. Hier wird
der Anspruch auf Grund Testaments den bereits eingewiesenen
Intestaterben gegenüber als verspätet zurückgewiesen. Beide
Arten des späteren unstreitigen Nachlaßverfahrens sind damit
für Reval im 15. Jahrhundert bereits nachgewiesen.
Die Revision von 1586 enthält außerdem noch die Vor-
schrift, daß nach dem Tode eines Ehegatten, falls die Kinder
keine Freunde haben, der Ueberlebende dem Rat Rechenschaft
über dasjenige zu legen habe, was den Kindern zukommt1).
Hier sind also dem Rate als dem obersten Stadtgerichte ge-
wisse Sicherungsfunktionen in bezug auf solche Hinterlassen-
schaften auferlegt, bei denen die Erben unbekannt oder un-
mündig sind. Es ist klar, daß, wenn hier nach Jahr und Tag
den erschienenen Erben, oder nach Eintritt der Volljährigkeit
den Kindern des Erblassers der aufbewahrte bzw. überwachte
Nachlaß durch Vermittlung des Rats überantwortet wurde, diese
Erben, falls sie es brauchten, vom Rate auch leicht eine Be-
scheinigung darüber erhalten konnten, daß sie die rechten Erben
seien; dem Rate sind hier eben vermöge seiner Verwaltungs-
oder Aufsichtstätigkeit die erbrechtlichen Verhältnisse bekannt
geworden. — Eine Revaler Bursprake vom Jahre 1560 lautet
ferner :
Ist einer etwa gestorben
In irgend einem Hause,
Er sey von Teutscher
Oder unteutscher Geburt,
Last er Gut oder Erbe nach,
Der Wirth des Hauses
Soll es dem Rathe offenbaren,
Thut ers nicht,
Man soll's richten vor Diebstahl2).
') Revision von 1586, Lib. II, Tit. I, § 21.
2) a. a. 0. IL S. 240, vgl. auch die spätere Fassung vom Jahre 1803
daselbst S. 241. Hieran hat dann offenbar die spätere Verordnung (Re-
skript der Regierung vom 18. Oktober nebst Anordnung des General-
gouvernements vom 5. Oktober 1819) angeknüpft; es heißt dort, daß
sowohl die Polizeikommissäre als sämtliche Einwohner und Hauseigen-
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 329
Hier wird also dem Rate der Stadt die allgemeine Aufsicht
über diejenigen Nachlässe auferlegt, wo jemand in fremder
Umgebung gestorben ist. So mag zuerst der Keim zur frei-
willigen Gerichtsbarkeit in Nachlaßsachen gelegt worden sein.
Daß das damalige Stadtrecht im Gegensatze zum Landrecht
solche Bestimmungen enthielt, erklärt sich aus den ganz anders
gearteten, städtischen Verhältnissen : hier ist nicht der gleiche
bodenständige patriarchale Charakter der Vermögensgrundlagen
vorhanden — nicht die gleiche Exklusivität in bezug auf das
Eindringen Fremder: schon das älteste lübische Recht (für
Reval) vom Jahre 1257 enthielt die Bestimmung, daß, falls
„ein sturue sunder erffnamen vnde vnse borgen nicht en were",
so sollen, falls nicht die Möglichkeit vorliegt, seine Hinter-
lassenschaft dem Hauswirte zur Verwahrung zu überlassen,
„de radlude dat vorwaren bet to der vorgheschreuen tyd" 1).
Die Stadt und besonders die Hansestadt brachte im Gegen-
satz zum flachen Lande den ständigen Zuzug Fremder mit
sich. Auf der Grundlage dieser spärlichen gesetzlichen Be-
stimmungen erwuchs dann durch die gerichtliche Praxis
ein unstreitiges Nachlaß verfahren , wie wir es z. B. in der
kgl. schwedischen Resolution vom 14. Oktober 1643 bereits
als gegeben vorfinden : hier heißt es in § 9, der sich auf eine
Erbschaftsangelegenheit des weiland Reinhold Dreyer in Reval
bezieht, daß es Ihrer Kgl. Majestät gnädiger Wille sei, „daß
Burgermeistere und Rath berührte Erbschaft an denselben ab-
folgen lassen, welchen Sie nach genauer Untersuchung prüfen
tümer verpflichtet sind, von allen Todesfällen außer dem Polizeimeister
auch dem Magistrate zu berichten — mit der Angabe, ob „abwesende
oder unmündige Erben vorhanden sind", wonach dann die kompetente
Behörde (d. i. offenbar der Rat) „alle erforderlichen Versiegelungen und
Inventuren" vorzunehmen habe: vgl. Bunge a.a.O. II, S. 548. Vgl.
hierzu auch den Senatsukas vom 31. März 1888 (ebenfalls bei Bunge
a. a. 0. II, S. 474).
!) Bunge, Rev. St.R. I, Uebersetzung v.J. 1347 des Lateinischen
Kodex von 1257, Art. 19.
330 Tatarin.
und befinden am meisten dazu berechtiget zu seyn" x). So besagt
denn auch der Bericht des Revaler Rats „Ueber das gericht-
liche Verfahren bei dem Rathe und den Niedergerichten u vom
8. November 1784, daß zu den Angelegenheiten des Magi-
strats „alle Erbschafts- und Testaments-Sachen . . . gehören"2).
Auch in bezug auf die testamentarische Erbfolge bestimmt
bereits die Revision des lübischen Rechts für Reval vom
Jahre 1586: „Alle Testamente sollen durch die verordnete
Testamentarien binnen Monatszeit gerichtlich produciert und
verlesen werden, es wäre denn, daß Ferien oder andere Ver-
hinderung dem Rathe vorfielen . . . " 3) , und die Waisen-
Gerichts- und Vormünder-Ordnung" vom Jahr 1697 spricht in
Tit. I, § 4 von „Bestätigung des Testaments"4).
II. Weniger ergiebig und unzweideutig fließen die Quellen
des alten rigischen Stadtrechts in bezug auf unser Thema.
Das älteste für Reval (Anfang des 13. Jahrhunderts) und für
Hapsal aufgezeichnete rigische Stadtrecht (vom Jahre 1279)'
enthält keinerlei direkten Hinweis bezüglich unserer Frage 5).
In dem für Riga bestimmten Hamburger Statut von 1270 ist
die Rede davon, daß, falls jemand sein Testament vor zwei
Ratmannen errichtet hat und der eine davon gestorben ist, der
Ueberlebende die Errichtung (offenbar nach dem Tode des
Testators) allein zu bezeugen habe 6) : hier hat die genannte
*) Vgl. Bunge a. a, 0. II, S. 245.
2) a. a. 0. I, S. 307; II, A, 6 b.
3) a. a. 0. I, S. 142, Revision v. J. 1586, Lib. II, Tit. I, § 11. Vgl.
auch Pauli, Abhandlungen aus dem lübischen Recht III. S. 342 ff.
4) a. a. 0. I, S. 260.
5) Vgl. Napiersky, Quellen des Rigischen Stadtrechts, A u. B.
Es wäre hier höchstens zu erwähnen, daß laut § 19 jenes ältesten Stadt-
rechts : „si quis moritur sine herede, hereditas defuncti seruabitur duobus
annis et die; si quis autem heredem se ingesserit, ponet fideiussores, ne
quis hereditateni illam de cetero exigat." Daraus läßt sich bereits auf
eine Beteiligung des Gerichts an der Nachlaßregelung schließen. Vgl.
unten S. 331, N. 3 u. 4.
6) a. a. 0. S. 83: Hamburg-Rigisches Recht V, 2.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 331
Quelle offenbar die nachherige Verhandlung der Nachlaß -
angelegenheit auf Grund Testaments vor dem Rate im Auge,
denn die späteren umgearbeiteten Rigischen Statuten (ent-
standen um die Wende des 13. Jahrhunderts1) fügen hinzu:
„unde so wat claghe opsteyt van testamente, dat sal de rat
richten" 2). — Ferner bestimmen ebenfalls bereits die um-
gearbeiteten rigischen Statuten, daß, falls jemandem eine Hinter-
lassenschaft anfällt, er sie binnen Jahr und Tag zu fordern
habe, widrigenfalls die Stadt Riga dieselbe erbt3); hier kann
es sich nur um eine Meldung bei Gericht handeln, denn es
liegt in der Natur der Sache, daß sonst die Rechtzeitigkeit
der Forderung kaum zuverlässig festgestellt werden kann4).
Die gleiche Bestimmung enthalten auch die neueren Statuten
und Rechte der Stadt Riga (Entwurf von 1673), wie solche
bis zur Kodifizierung des baltischen Privatrechts in Kraft waren5) ;
in diesen ist auch noch bestimmt, daß Schuldforderungen gegen
den Nachlaß des Verstorbenen binnen Jahr und Tag unter
Beibringung gerichtlicher Beweise geltend zu machen seien G)
*) a. a. 0. Einleitung S. LXI.
2) Napiersky a. a. 0. Umgearb. Rig. Statuten VII, 5, § 2. Dieser
Ausgabe ist der von J. C. Schwartz im Jahr 1780 entdeckte Original-
kodex aus der rigischen Stadtkämmerei zugrunde gelegt. In der ersten
von Gerh. Oelrichs, Bremen 1773, veröffentlichten Ausgabe, der eine
Bearbeitung vom Jahr 1542 zugrunde liegt, lauten die Schlußworte:
„sali de Radtman richten", was mir jedoch als widersinnig erscheint —
vgl. die zitieite Ausgabe S. 42.
8) Vgl. Napiersky a. a. 0. Umgearb. Rig. St. VII, 10, desgl.
Oelrichs a, a. 0. S. 43, vgl. auch oben S. 330, N. 3.
4) Das folgt auch indirekt aus dem bei Napiersky a. a. 0. S. 309
zitierten Senatusconsultum vom 22. August 1604, laut welchem in der-
artigen Fallen Jahr und Tag als annus utilis zu verstehen sei. In
gleichem Sinne Bunge, Die Stadt Riga im 13. und 14. Jahrhundert,
S. 252, 6.
5) Rig. Statuta, Lib. IV, Tit. 7. Ueber diese neueren Statuta vgl.
Bunge, Einleitung in die liv-, est- und kurländische Rechtsgeschichte,
S. 234—235.
6) a. a. 0. Lib. III, Tit. 6, § 3.
332 Tatarin.
(die älteren Statuten sprachen hier nur von den Beweisen,
schrieben keinen Termin vor1) — auch hier dürfte aus dem
genannten Grunde eine Geltendmachung bei Gericht gemeint
gewesen sein. Daß das alte Rigische Recht außer dem Klage-
verfahren ein besonderes Verfahren in Testaments- und Inte-
staterbschaftssachen gekannt hat, wird am besten durch die
Bestimmung der neueren Statuten der Stadt Riga dargetan :
daß vor das Niedergericht alle „Civil- und Blut- Sachen" ge-
hören, während „die Testamenten, Erbforderungen, Proclamata"
^ihre erste Instanz vorm Rath haben"2)3). Die Vormünder-
ordnung von 1591 enthält unter anderem die Vorschrift:
„Wan natnhaffte Schulden fürhanden, sollen die Vormündere
vmb ein öffentlich proclama beim Erbarn Rathe anhalten vnd in
termino, nach ergangener erkenntnis der Oeditorn, einen Vber-
schlaek machen, wie die Erbschaft jegen solche Schuldenlast ge-
schaffen 4).
Das damalige Recht kannte also bereits ein Aufgebots-
verfahren durch den Rat — allerdings nur in der Form eines
') Vgl. Napiersky a. a. 0., Umgearb. Rig. St. VII, 11, desgl.
0 elrichs a. a. 0. S. 43.
2) Rig. Statuta, Lib. II, Cap. 3, § 1.
3) Die Verwaltungsfunktionen des Rig. Rats in bezug auf Erbschaften
sind ferner ersichtlich aus dem Hamburg-Rigischen Recht II, 12 (vgl.
Napiersky a. a. 0. S. 73) : „So wanne ghot uppe kindere eruet wert,
vnde is der kindere welic, de erme dinge vnrechte dot, vnde et deme
rade witlic wert, dat kint ne sal des godes nicht weldich sin al wante in
de thit, dat et sineme dinge reyte doyt. Vnde de anderen kindere solen
des godes weldich sin, de erme dinghe rechte dot ofte don." Diese Be-
stimmung findet sich auch in den umgearbeiteten Statuten: V, 11. —
Die Statuta und Rechte, Ausg. 1798, bringen sie in folgender veränderten
Fassung: „Da etwa E. E. Rahte, oder denen verordneten Waysen-Herren
kund würde, daß einige Kinder und Erben, denen Guth heimgefallen,
ihre Sache nicht recht angingen, also, daß sie es verbrächten; Alsdann
soll sothanen Erben nichts in Händen gestattet, besondern von den Vor-
mündern verwaltet werden, bis solche Eiben ihnen selbst, besser denn
vorher vorstehen mögen."
4) Vorm.Ordn. von 1591, § 15, bei Napiersky a. a. 0. S. 278.
Die Legitimation des Erben nacli russischem und baltischem Recht. 333
Gläubiger-, keines Erbenaufgebots. Daß der Rat sich aber
nicht auf dieses beschränkte, sondern nachher auch für die
Ordnung des Nachlasses sorgte, ist aus dem Senatusconsultum *)
vom 19. November 1669 2) ersichtlich, durch welches in Sachen
eines erblosen Nachlasses „die Disposition und Hebung der
bonorum vacantium" nach Meldung der Gläubiger einer be-
sonderen Person (einer Art Pfleger) übertragen wird. Durch
Senatusconsultum vom 3. Juni 1659 wird auch den Meistern
und Handwerkern vorgeschrieben, „die bona caduca der Meistere
oder Gesellen inskünfftig nicht ihren laden zuzueignen, be-
sondern dem Waisengerichte selbige anzumelden vnd auszu-
kehren"3); hier finden wir das Waisengericht als städtisches
Untergericht mit der Fürsorge für das erblose Gut betraut.
Aus dem Ratsdekret vom 16. Dezember 1579 4), desgleichen
aus dem Senatusconsultum vom 4. Juni 1617 5) ist zu ersehen,
daß der Rat damals bereits in unstreitigem Verfahren Nachlaß-
angelegenheiten entschied: durch das erstere werden die vollen
Brüder und Schwestern „vor die nähesten Erben zu des ver-
storbenen Ludwich Bürsteis nachgelassene Erbschaft erklähret'',
im letzteren erläutert der Rat auf des „Waysenherrn Berndt
Dölmans frage, so Er wegen eines Erbfals Einem Erb. Rath
proponiret", daß das jus repraesentationis anzuwenden sei —
offenbar sind hier dem Waisengerichte bei Verhandlung der
Nachlaßangelegenheit Zweifel über die Anwendung des Rechts
aufgekommen. Endlich enthalten die bei Napiersky zitierten
Ratsdekrete vom 21. September 1565 und vom 21. September
1604 6) Entscheidungen des Rats in unstreitigen Erbteilungs-
angelegenheiten.
*) Ueber diese Senatusconsulta der baltischen Städte als Rechts
quelle vgl. Bunge, Einleitung, S. 235 ff.
2) Vgl. Napiersky a. a. 0. S. 326.
3) a. a. 0. S. 318.
4) a. a. 0. Einleitung, S. C. III, Nr. 11.
5) a. a. 0. S. 310-311, Nr. 26.
6) a, a. 0. Einleitung, S. C. III, Nr. 15 u. 16.
334 Tatarin.
Was dann ferner das Verfahren in Testarnentssachen x)
anbelangt, so enthält die Vormünder-Ordnung von 1591 2) in § 2
die Vorschrift, die Witwe solle „das Testament einem Erbarn
Rathe, durch die Wayseherrn, vier Wochen nach ihres Mannes
Todte insinuiren vnd dasselbe bey Macht erkennen lassen",
und § 11 derselben spricht von der „Bestetigung des Testa-
ments", ebenso wie auch schon Pt. 82 der rigischen Bursprake
aus dem 15. Jahrhundert3). Auch in der auszugsweise von
Napiersky abgedruckten Brauerschen Präjudikatensammlung
finden sich zwei Dekrete des Rats von 1595 und 1645, die
die Bestätigung von Testamenten betreffen4), und in dem Se-
natusconsultum vom 27. Februar 1594 verbietet der Rat den
Predigern die Ausfertigung von Testamenten, da solches den
Stadt-Secretarien zustehe, „oder es will E. Erb. Rath solche
winkelmessige Testamenta oder der Herrn Prediger beweise
keinesweges annehmen oder bestettigen" 5).
§ 27. Die weitere Rechtsentwicklung im allgemeinen.
I. Im Dargelegten sind die Hauptquellen des älteren mate-
riellen baltischen Rechts in Betracht gezogen. Das mittlere
livländische Ritterrecht kam in den meisten Territorien des
Baltenlandes zur Anwendung und bildete zusammen mit den
obenerwähnten Rechtsbüchern die Hauptquelle des baltischen
Landrechts. Das lübisch-revalsche und das hamburg-rigische
*) Testamente sind in Livland verhältnismäßig alt — vgl. das bei
v. Helmersen, Adelsrecht, S. 349 ff. abgedruckte Testament des Otto
von Ixkulle vom Jahr 1417, aber auch schon im 14. Jahrhundert sind
Testamente nachgewiesen (vgl. Bunge, Privatrecht, § 376a).
2) a. a. 0. S. 273 ff.
3) Vgl. bei Napiersky a. a. 0. S. 235: „Vorthmer buth de Radt
vnd will geholdenn hebben, welck borger edder geselle syn Testamenth
deit edder beschrinen let, de sali der stadt inn sinhem testamente tho
dem buwethe wes thokernn edder geuen, anders will de Radt nhen
Testament by macht holden edder delenn."
4) Vgl. Napiersky a. a. 0. S. C. I bis C. II, Nr. 8 u. Nr. 10.
5) a. a. 0. S. 303, Nr. 11.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 335
Recht bildeten den Grundstock des heutigen Rechts nicht nur
Revals bzw. Rigas, sondern auch der meisten kleineren bal-
tischen Städte. Bei der großen Zerrissenheit der baltischen
politischen Geschichte, die einzelne Provinzen und Städte zeit-
weilig ihre ganz eigenen, von den übrigen Landesteilen ab-
gesonderten Geschicke erleben ließ , bildete sich eine große
ßuntscheckigkeit der Rechtszustände1) heraus, die
einerseits den Landrechten der drei einzelnen Provinzen ihren
eigenen Charakter gab, andererseits zu solchen Sonderbildungen
führte wie etwa das Spezialrecht des Piltenschen Kreises, das
Narwasche Stadtrecht, das sich hauptsächlich auf schwedisches
Stadtrecht gründete, oder das Magdeburger Recht in Jakob-
stadt. Hier alle diese Sonderbildungen zu verfolgen, würde
uns zu weit führen. Nur so viel sei gesagt, daß außer diesen
einheimischen deutschrechtlichen Quellen bis zum Ende der
livländischen Selbständigkeit im Jahre 1561 das kanonische
und gemeine Recht nur sehr beschränkten Eingang gefunden
hatten2). Erst in der polnischen Zeit (1561 — 1621) kam das
römische Recht durch die Praxis mehr in Aufnahme3). Nach
dem Uebergang Estlands im Jahr 1561 und Livlands im
Jahr 1621 an Schweden bestätigten die schwedischen Könige
ihren neuen Provinzen die altangestammten Rechte und Privi-
legien, wobei jedoch von Gustav Adolf angeordnet wurde,
daß in subsidium das schwedische Reichsrecht anzuwenden
sei und dieses selbst vor dem römischen und dem gemeinen
deutschen Rechte den Vorzug haben sollte4). Außerdem er-
ging eine Reihe königlich schwedischer Gesetze und Ver-
ordnungen für Liv- und Estland, unter denen für unser Thema
in der Hauptsache die Vormünderordnung vom 17. März 1669
*) Ueber diese Mannigfaltigkeit der Quellen speziell auf unserem
Gebiete vgl . v. S a m s o n , Erbschaftsrecht, § 66 ff. ; Nielsen, Erb folge-
recht, §§ 7 u. 9.
2) Vgl. Bange, Einleitung, 8. 170—179.
3) a, a. 0. S. 179 u. 195.
*) a. a, 0. S. 196—200 u. 208.
336 Tatarin.
und die Testamentsstadga vom 3. Juli 1686 in Betracht kommen;
da dieselben bis zum heutigen Tage einen Bestandteil des
baltischen Privatrechts bilden, so werden wir auf dieselben
noch wiederholt zurückzukommen haben J).
IL In Kurland ging die Rechtsentwicklung in der herzog-
lichen Zeit (1561—1795) ihre gesonderten Wege, wobei diese
Entwicklung in der Hauptsache auf dem früheren Rechte und
dem gemeinen deutschen Rechte fußte, ohne daß hier fremde
Rechte in Aufnahme gekommen wären; nur* der Einfluß des
römischen Rechts ist in Kurland ein stärkerer, als in den
nördlichen Provinzen 2).
III. Mit der Angliederung Liv- und Estlands (1721) und
Kurlands (1795) an Rußland begann auch ein gewisser Einfluß
der russischen Gesetzgebung auf die baltische Rechtsbildung,
doch war dieser besonders im 18. Jahrhundert und speziell in
bezug auf das Privatrecht ein geringer. Im Jahre 1862 folgte
die Kodifikation des bis dahin in ungezählten Rechtsquellen
verstreuten Privatrechts im Band III des Provinzialrechts, wo-
mit endlich die erforderliche Klarheit der baltischen Rechts-
verhältnisse geschaffen war.
Die Bestimmungen über die Behörden- und Gerichtsver-
fassung waren bereits 1845 als Teil I des Provinzialrechts
kodifiziert worden, und in den Zuständigkeitsvorschriften dieses
Teils sind mancherlei Hinweise auf den Rechtszustand in unserer
Frage vor der Justizreform des Jahres 1889 enthalten.
IV. Der baltische Zivilprozeß war im Gegensatz
zum materiellen Rechte nicht zugleich mit diesem kodifiziert
worden, sondern beruhte bis zum Jahr 1889 einerseits auf alt-
hergebrachtem Gewohnheitsrecht, andererseits auf einer Reihe
von sehr verschiedenartigen schriftlichen Quellen. Die ur-
sprüngliche altdeutsche Gerichtsverfassung war erst unter pol-
nischer Herrschaft beseitigt worden, übte jedoch als Gewohn-
heitsrecht auch späterhin noch einen gewissen Einfluß auf die
r) Vgl. a.a.O. S. 244 ff.
2) a. a. 0. S. 254.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 337
Gestaltung der prozessualen Verhältnisse. Die Grundlage des
späteren livländischen Prozesses bildeten zum großen Teile
schwedische Rechtsquellen x) und die Konstitutionen und Zirku-
lärbefehle des Hofgerichts, welch letztere die Rechtsentwicklung
bis zur Justizreform von 1889 fortsetzen. In der russischen
Zeit kamen noch eine Reihe von Allerhöchsten Befehlen und
ausnahmsweise solche reichsrechtliche Bestimmungen hinzu, die
ihrem Charakter nach auch für das Baltikum maßgebend waren.
Neben solchem örtlichen Rechte war aber im Baltikum seit
dem 17. Jahrhundert als Hauptgrundlage des Zivilprozesses der
römisch-kanonische gemeine Prozeß in Form des territorialen
summarischen Verfahrens zur Anwendung gelangt, wobei die Fort-
entwicklung desselben durch die deutsche Gesetzgebung und Dok-
trin auch dem Baltenlande indirekt zugute kam; die in Deutsch-
land in Aufnahme gekommenen neuen Grundsätze fanden teils
durch die Konstitutionen der baltischen Obergerichte, teils
durch Doktrin und Praxis auch im Baltenlande Eingang2).
§28. Die russische Justizreform vom Jahre 1889 und
die Entwicklung bis zur Gegenwart.
Im Jahre 1889 erfolgte im Baltenlande die Justiz-
reform, durch welche an die Stelle der einheimischen deutschen
Gerichte das russische Gericht gesetzt wurde. Dieser Schritt
war langerhand von der Regierung vorbereitet worden. Da-
durch erklärte sich auch, daß den um die Mitte des 19. Jahr-
hunderts entstandenen Teilen IV und V der Kodifikation des
Provinzialrechts, welche unter anderem den Prozeß in weiterem
Sinne enthielten, die Bestätigung nicht zuteil wurde: auf diesem
*) So eine Reihe von „Ordinanzen" für die einzelnen Arten der
livländischen Gerichte und allgemeine schwedische Prozeßgesetze, die
z. T. in Livland besonders promulgiert, z. T. durch die Praxis aufge-
nommen waren, — unter ihnen besonders die Prozeßstadga vom 4. Juli 1695,
ferner königlich schwedische Entscheidungen in Prozeßsachen.
2) Vgl. hierüber 0. Schmidt, Zivilprozeß, S. 1 — 8, auch v. Sani-
son, Erbschaftsrecht, § 67.
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. XXXIX. Band. 22
338 Tatarin.
Gebiete wünschte man von russischer Seite keine Kodifizierung,
sondern eine völlige Umgestaltung nach russischem Muster.
Die panslavistischen Kreise sahen darin ein Mittel zur größeren
Assimilierung des Baltikums. Man darf sich nicht verhehlen,
daß diese Art des Angriffs auf die Sonderstellung Liv-, Est- und
Kurlands ein gewandter Schachzug war. Die baltischen gericht-
lichen Verhältnisse waren durchaus reformbedürftig, dagegen die
russische Gerichtsverfassung und die beiden Prozesse vom Jahre
1864 das vielleicht Vollkommenste, was die Gesetzgebung des
neuen Rußlands geschaffen hatte. So zeigte sich die Reform von
1889 vom rein juristischen Standpunkt als durchaus begründet:
an Stelle veralteter, ja zum Teil verstaubter Prozeßformen, an
Stelle der größten inneren Zersplitterung des Gerichtsverfahrens
— jede Provinz hatte besondere Gerichte, Stadt und Land ihr
eigenes Verfahren, Adel, Bürgertum, Bauern, Beamte, Universität
unterstanden verschiedenen Gerichten — trat das einheitliche
System der von modernem Geiste erfüllten russischen Gerichts-
ordnungen, Man hätte diese Neuerung im Baltenlande vielleicht
mit Befriedigung als einen großen Fortschritt begrüßt, wenn
man nicht vor allem den russifikatorischen Zweck empfunden
hätte. Die verfassungsmäßige deutsche Gerichtssprache wurde
durch die — Deutschen, Letten und Esten fremde — russische
ersetzt und die Rechtssprechung landfremden, mit den ein-
heimischen Gesetzen unbekannten Richtern anvertraut.
In einer Hinsicht muß man allerdings den Reformatoren
Gerechtigkeit widerfahren lassen: die am meisten hervorstechen-
den und durch das materielle Privatrecht bedingten Eigentüm-
lichkeiten des baltischen Zivilgerichtsverfahrens waren bei der
Reform berücksichtigt worden. Es wurden als Fortsetzung
der Z.V.O. die §§ 1799 — 2097 nebst einigen Anhängen an-
gefügt, die das russische Verfahren für Liv-, Est- und Kur-
land teilweise ergänzten, teilweise abänderten. Hierbei spielten
eine besondere Rolle die Bestimmungen über die freiwillige
Gerichtsbarkeit (Z.V.O. §§ 1907—2097), darunter das un-
streitige Nachlaßverfahren (§§ 1956 — 2029) und das Aufgebet—
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 339
wesen (2054 — 2093), bezüglich welcher die eigentlich russische
Z.V.O. keine oder nur sehr dürftige Bestimmungen enthält.
Somit hatten wir vor Besetzung des Baltikums im
Weltkriege durch die deutchen Truppen folgenden Zu-
stand auf dem den Gegenstand dieser Untersuchung darstel-
lenden Rechtsgebiet1). Gemäß Z.V.O. § 1907 wird das un-
streitige Verfahren in Nachlaßsachen durch die speziell bal-
tischen Bestimmungen der russischen Z.V.O. geregelt, die Vor-
aussetzungen und die Art des Verfahrens aber bestimmen sich
durch das materielle Privatrecht (Bd. III d. Prov.R.). Somit
herrscht auf unserem Gebiete ausschließlich baltisches Recht:
Die einschlägigen Vorschriften der Z.V.O., die dem Reform-
gesetze vom 9. Juli 1889 entstammen, sind in der Hauptsache
aus dem bei den verschiedenen baltischen Gerichten bestehenden
Verfahren geschöpft worden. Gleich bei der Veröffentlichung
des Gesetzes vom 9. Juli 1889 wurden die Motive in der Zu-
sammenstellung von A. Gaßmann und A. Baron Nolcken vom
russischen Justizministerium herausgegeben (auch deutsch von
A. Baron Nolcken, Dorpat-Riga 1889).
In der Praxis ist diese Grundlage aber nicht vorwiegend im Geiste
des baltischen Rechts fortentwickelt worden; dank den russischen Richtern
entstand eine Beeinflussung durch die im zweiten Abschnitt dieser Ab-
handlang untersuchten Vorschriften des russischen Rechts, wie auch durch
die russische Senatsjudikatur. — Des Gesagten bedurfte es, um das neuere
Verfahren in unstreitigen Nachlaßsachen an den baltischen Gerichten
richtig zu verstehen und zu würdigen.
Eine Schilderung des baltischen unstreitigen Nachlaß-
verfahrens vor der Justizreform würde uns zu weit führen, wir
wollen aber bei Darstellung desjenigen Rechtszustands, der auf
unserem Gebiete vor dem Kriege bestand, festzuhalten suchen,
worin derselbe oktroyiertes Recht, worin nur eine natürliche
Fortentwicklung des historisch Gewordenen darstellte.
3) Diese Arbeit, 1918 — 19 entstanden, hat in der Hauptsache den
Rechtszustand vor jener Besetzung im Auge; übrigens ist derselbe heute
fast unverändert wiederhergestellt. Vgl. unten S. 481, N. 2.
340 Tatarin.
Tit. 2. § 29. Grundlegendes über die Erbfolge.
Um die Urkunden, die nach baltischem Rechte der Legi-
timation des Erben dienen, richtig beurteilen zu können, ist
es, wie oben1) bereits erwähnt, notwendig, das unstreitige
Nachlaß verfahren als Ganzes kennen zu lernen.
Die Tätigkeit des Gerichts auf diesem Gebiete zerfällt in
zwei Hauptzweige, die sich schon rein äußerlich darin scheiden,
daß sie verschiedenen Gerichten zustehen. Es handelt sich erstens
um eine Sicherstellung, um einen Schutz des Nachlasses, zwei-
tens um eine Feststellung der Person des Erben. Für das Sicher-
stellungs- oder Nachlaßermittlungsverfahren ist der Friedens-
richter zuständig, in dessen Bezirk sich Nachlaßvermögen befin-
det2), das Erbenermittlungsverfahren oder die sog. „Bestätigung
der Erben im Erbrechte" steht je nach der Höhe des Nachlaß-
werts demjenigen Bezirksgerichte oder Friedensrichter zu, in
deren Amtsbezirk der Erblasser seinen letzten Wohnsitz hatte3).
Bevor wir aber das Verfahren zur Sicherstellung des Nach-
lasses betrachten, müssen wir uns über folgendes klar sein.
Nach baltischem Recht wird die Erbschaft in Anlehnung
an das gemeine Recht erst durch die Annahme erworben4).
Der erste Entwurf zum Provinzialrecht vom Jahre 1862 hatte
versucht, dem ursprünglich im liv- und estländischen Land-
recht herrschenden deutschrechtlichen Grundsatz: „Der Tote
erbt den Lebendigen" neue Geltung zu verschaffen5). Teil-
weise wohl infolge der von kurländischer Seite ausgehenden
Kritik 6) wurde dieser Grundsatz später zugunsten des gemein-
*) S. (I) 269.
2) Z.V.O. 1971.
3) Z.V.O. 2011, 2015 u. 2019. Hier ist das Bezirksgericht zuständig
bei Nachlässen im Werte von mehr als 500 Rubel und wenn es sich um
Immobilien handelt, sonst der Friedensrichter (Z.V.O. 1806 u. 202).
4) Pr.R. §§ 2622 u. 2623.
•) Vgl. R. Seraphim, Antretung, S. 177.
6) Vgl. F. Seraphim, Die Deliberationsfrist und das beneficium in-
ventarii nach älterem kurländischen Rechte in der Dorpater Zeitschrift
f. Rechtswiss. X, 2, insbesondere S. 159 ff.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 341
rechtlichen fallen gelassen. In Kurland hatte nämlich der Erb-
schaftserwerb durch bloßen Anfall seit Ausbildung eines be-
sonderen kurländischen Rechts nie gegolten, in Livland und
den estländischen Städten war er durch die kgl. schwedische
Resolution vom 28. Mai 1687 aufgehoben worden, so daß er
vor der Kodifikation nur noch im estländischen Landrechte
galt1). Nach heutigem baltischem Recht wird daher der Er-
werb der Erbschaft nicht vorausgesetzt, sondern es bedarf einer
besonderen Antretung derselben2); diese kann nicht nur durch
ausdrückliche mündliche oder schriftliche Willenserklärung,
sondern auch stillschweigend durch konkludente Handlungen —
durch eine pro herede gestio — erfolgen 3). Zwischen sui und
extranei heredes unterscheidet das heutige Recht nicht mehr,
doch wird von demjenigen Erben, der den Besitz der Erbschaft
hat, ganz gleich ob suus oder extraneus, falls er sich binnen
der ihm gesetzlich oder auf Grund gerichtlichen Beschlusses 4)
zustehenden Ueberlegungsfrist nicht äußert, angenommen, daß er
die Erbschaft angetreten habe 5), bei Nichtbesitz wird im Falle
der Nichtäußerung während der Frist angenommen, daß der
Erbe die Erbschaft ausgeschlagen habe, es sei denn, daß ihm die
Ueberlegungsfrist auf Drängen der Gläubiger oder Legatare ge-
setzt worden war, in welchem Falle er bei Nichtäußerung gleich-
') Vgl. Geschichte des liv-, est- und kurländischen Privatrechts,
S. 80 u. 159; Bunge, Liv- u. estländ. Privatrecht II, S. 327 u. 329a;
Helmersen, Geschichte des livländ. Adelsrechts, S. 30 u. 99; R. Sera-
phim a. a. 0. S. 176; Er d mann, System III, S. 413, N. 2. — Es ist
daher die bei Samson, Erbschaftsrecht, § 45 aufgestellte Behauptung,
daß das Eigentumsrecht auf eine angefallene Erbschaft dem Erben (in
Livland) vom Augenblick des Todes erwachse, kaum haltbar (Samson
widerspricht hier auch sich selbst, da er in seinen §§ 96, 108 u. 109 ff.
den richtigen Standpunkt entwickelt).
■ 2) Vgl. Zwingmann, Entsch. III, 335.
3) Pr.R. 2625 u. 2636, vgl. R. Seraphim a. a, O. S. 187 ff. und
Sen.Beschl. in Sachen Herzberg 1895/5878 und in Sachen Klemm 1901/4196
(bei Bukowsky, Kodex I, S. 1007 u. 1011).
4) Pr.R. 2628—2630, 2632, 2634.
5) Pr.R. 2631.
342 Tatarin.
falls als Annehmender gilt1;. Diese Vorschriften bestehen sowohl
für die gesetzliche als für die testamentarische Erbfolge. Bezüg-
lich der Vertragserben besteht im baltischen Privatrecht ein
Widerspruch2), den wir wohl mit Erdmann am richtigsten in der
Weise lösen werden, daß auch der Vertragserbe im Prinzip in
der Annahme der Erbschaft frei ist, daß bei ihm aber dann Erb-
schaftserwerb ipso jure mit dem Anfalle anzunehmen ist, wenn
er den Erbvertrag ohne Vorbehalt selbst abgeschlossen hatte3).
Die Erbfolge des baltischen Rechts ist die römischrecht-
liche Uni versal Sukzession4). Der Erbe setzt die Rechts-
persönlichkeit des Erblassers fort. Daraus folgt im Prinzip
die Haftung des Erben für die Nachlaßschulden mit seinem
ganzen Vermögen5). Doch kann der Erbe dieselbe auf eine
Haftung cum viribus hereditatis beschränken, wenn er in ge-
setzlich bestimmter Frist über den Nachlaß ein Inventar er-
richtet6). Der zur Erbschaft Berufene kann sich, bevor er
sich über Annahme oder Ausschlagung der Erbschaft äußert,
über den Bestand derselben Gewißheit verschaffen 7), doch sind
hier die sonstigen Erbschaftsinteressenten berechtigt, ihm eine
Frist (spatium deliberandi) für die Annahme setzen zu lassen.
F. Seraphim weist mit Recht darauf hin, daß ein Ueberlegungs-
Ji Pr.R. 2634; bei Fristsetzung auf Drängen derjenigen, die bei
seinem Fortfall Erben werden, wird nach § 2635 bei Nichtäußerung —
auch in bezug auf den besitzenden Erben — Ausschlagung angenommen.
Vgl. Erdmann, System III, S. 417 ff.
-i Vgl. Pr.R. 2496 u. 2623.
3) Er dm an n, System III, S. 375, N. 4; vgl. Bukowsky I a.a.O.
S. 946 n. 1001, anderer Ansicht R. Seraphim a. a. 0. S. 178 ff. Vgl.
jedoch auch Pr.R. 2776-
4) Vgl. Erdmann, System III. S. 421 ff. u. 411; Zwingmann.
Entscb. II, 189. Allerdings ist dieses Grundprinzip nach verschiedenen
Richtungen zugunsten der Singu'arsukzession durchbrochen, ao bezüglich
der Erbfolge in Erbgüter, Pr.R. 1914 ff. ; vgl. auch schon die schwedische
Testamentsstadga von 1686, § 1, 2.
B) Pr.R. 2659 u. 2648, .desgl.. 1698.
Pr.R. 2649.
7J Pr.R. 2633.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 343
recht des Erben sich neben dem beneficio inventarii als über-
flüssig darstellt, da ja das Inventar den Erben vor allem Nach-
teil schützt l). In der Praxis spielt daher auch das Ueber-
legungsrecht im Baltikum eine sehr geringe Rolle, besonders
da in zweifelhaften Fällen stets ein Proklam erlassen wird und
der Erbe hierbei auch ohne Errichtung eines formellen In-
ventars genügend Zeit hat, sich über den Zustand des Nach-
lasses Gewißheit zu verschaffen, ohne der Geltendmachung eines
besonderen Ueberlegungsrechts zu bedürfen.
Nach Vorausschickung dieser grundlegenden Begriffe wenden
wir uns zunächst der Betrachtung des Verfahrens zur Sicher-
stellung des Nachlasses zu. Dieses kommt in gleicher Weise
sowohl bei der gesetzlichen als bei testamentarischer und ver-
traglicher Erbfolge zur Anwendung.
Tit. 3. Das Verfahren zur Sicherung: des Nachlasses.
§ 30. A. Die direkten Sicherstellungsmaßuahmen und die
Fälle derselben.
Nach dem Tode des Erblassers erfolgt vor allem eine
Sicherstellung der Erbschaft I. e. S. (Sequestrierung),
und zwar entweder von Amts wegen oder auf Antrag.
I. Ersteres geschieht in folgenden Fällen:
1. wenn, wie sich das Gesetz ausdrückt, „die Erben über-
haupt oder auch nur zum Teil unbekannt sind".
Diese gesetzliche Vorschrift ist nicht gerade als klar zu bezeichnen.
Man kann sich schwer eine Situation vorstellen, bei der die Erben „zum
Teil" unbekannt sind. Die Erben sind entweder bekannt oder unbekannt;
ist „ein Teil" unbekannt, so wird es zugleich unbestimmt, ob die be-
kannten Erben überhaupt Erben sind, denn wenn, was ja ungewiß ist,
die unbekannten Personen näher mit dem Erblasser verwandt sind als
die bekannten , so waren eben die Erben alle unbekannt. Ferner ist
von Erdmann9) mit Recht die Frage aufgeworfen worden, ob die Erben
l) Vgl. F. Seraphim a. a. 0». S. 139.
*) Erdmann, System III, S. 404, Anm. 4,
344 Tatarin.
dem Gericht oder überhaupt, d. h. etwaigen Interessenten des Nachlasses,
unbekannt sein müssen. Erdmann beantwortet diese Frage aber ent-
schieden falsch , wenn er sich für die zweite Alternative entscheidet.
Da es sich hier um eine Sicherstellung von Amts wegen handelt, so kann
nur die Kenntnis des Gerichts maßgebend sein J). Erdmann bemerkt
zwar, daß bei solcher Auslegung dieser Fall alle Erbfälle überhaupt
umfassen kann , doch wird man das insofern einschränken müssen , als
ja naturgemäß nur derjenige Wissenszustand des Gerichts maßgebend
sein kann, der sich auf Grund empfangener Informationen ergibt. An
sich werden dem Gericht die Erben fast immer unbekannt sein, die an-
geführte Bestimmung soll ihm offenbar aber nur dann eine Handhabe für
ein Eingreifen ex officio geben, wenn es auf Grund der in § 1973 Z.V.O.
erwähnten Anzeigen die Ueberzeugung gewinnt, daß entweder niemand
da ist, der Anspruch auf den Nachlaß erhebt, oder aber die vorhandenen
Prätendenten nicht die richtigen sind2). Immerhin wird auf Grund des
wörtlichen Textes dieser Bestimmung das Gericht eine sehr dehnbare
Möglichkeit haben, von Amts wegen Sicherstellungen von Nachlässen vor-
zunehmen. Streng logisch genommen, ist daher diese Vorschrift als zu
unbestimmt nicht zu billigen — sie stammt aus einem patriarchalischen
Zeitalter, wo in kleinen Verhältnissen schon bei Lebzeiten des Erblassers
seiner Umgebung und auch dem Richter bekannt war, wer die Erben
sind3); starb dann ausnahmsweise einmal ein Fremder in der Gemeine,
so nahm das Gericht den Nachlaß in Verwahrung. Heute sind dagegen
in dem in Betracht kommenden Zeitpunkt, d. b. unmittelbar nach dem
Tode des Erblassers die Erben größtenteils noch nicht sicher bekannt. —
Unter den Fall der Unbekanntheit des Erben fällt entschieden auch der
in § 2589 Pt. 3 genannte Fall, daß „die Erben zwar bekannt und anwesend
sind, allein die Erbschaft nicht antreten wollen oder können" — wollen die
eigentlichen Erben nicht antreten, oder sind sie erbuufähig oder erbunwür-
dig, so sind eben die wahren Erben noch unbekannt. Daher war eigentlich
dieser Pt. 3 unnütz — er wird in der Praxis auch kaum einen beson-
deren Anlaß zur amtlichen Sicherstellung geben , da im maßgebenden
Anfangsstadium noch kaum die in ihm genannten Fakta feststehen
werden.
*) So auch Lutz au, Fünf Fragen, S. 18 u. 21.
2) So ist auch die Praxis aufzufassen, auf die sich Erdmann
a.a.O. S. 404, Anm. 4 und ihm folgend Bukowsky, Kodex T, S. 984
berufen.
3) Vgl. die oben S. 328 ff. zitierten und besprochenen Bestimmungen
des lübisch-revaler Stadtrechts aus dem 13. — 16. Jahrhundert; vgl. auch
S. (1)277 ff. das über das gemeine Recht Gesagte.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 345
2. Die Sicherstellung ex officio hat ferner zu erfolgen,
falls die Erben auch nur teilweise abwesend sind, ohne gesetz-
liche Stellvertreter an Ort und Stelle zu haben;
3. falls auch nur einer der Erben geschäftsunfähig ist und
dabei weder ein gesetzlicher Vertreter für ihn zur Stelle ist, noch
der überlebende Elternteil anwesend ist1);
4. wenn es zur Kenntnis des Gerichts dringt, daß der
Nachlaß überschuldet ist und das Interesse der Gläubiger als
gefährdet erscheint;
5. wenn für die Integrität des Nachlasses zu fürchten ist.
Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, so kann das Ge-
richt immerhin Sicherungsmaßnahmen auf besondere Bitte von
Seiten der Erben treffen2).
') So ist fraglos der Pfc. 4 des § 2589 in Verbindung mit Pt. 2 und
der Anm. zu § 2589 zu interpretieren. Der Pt. 4 spricht nur von dem
Falle, daß „kein Vormund oder Kurator bestellt ist", es wird aber im
Hinblick auf den Pt. 2 für das Unterbleiben der amtlichen Sicherstellung
nicht genügen, daß er bestellt ist, er muß auch anwesend sein. — Die
Anm. zu § 2589 ergänzt den Pt. 4, der wohl die Bestellung eines Vor-
munds und Kurators, nicht aber die natürliche Vormundschaft des über-
lebenden Elternteils (Pr.R. § 273) erwähnt. Wenn die Bestimmung der
Anmerkung, daß Minderjährigkeit bei Anwesenheit des überlebenden
Parens kein Grund für die Sicherstellung von Amts wegen sein soll,
nicht in den allgemeinen Text des § 2589 hineingearbeitet worden ist,
so erklärt sich das wohl in erster Linie durch den § 286 Pr.R., wonach
die Mutter nach liv- und estländischen Stadtrechten nicht an sich ge-
setzliche Stellvertreterin des Minderjährigen igt. Trotzdem sie dieses
nicht ist, soll ihre Anwesenheit aber genügen, um eine amtliche Sicher-
stellung unnötig zu machen. — Die schwedische Testamentsstadga vom
17. März 1669, auf die sich Pr.R. § 2589 als Quelle bezieht, verlangte
auch Sicherstellung des elterlichen Nachlasses bei Unmündigkeit der
Kinder bereits beim Tode bloß eines Elternteils — durch Inventur, Er-
nennung von Vormündern, die zugleich die Rolle von Kuratoren hatten,
Und eventuell gerichtliche Sequestration (vgl. Vorm.Ordn. §§ 4, 6, 11 u. 18).
2) Es muß dieses aber auf solche Bitte nicht tun, wie Lutz au
a. a. 0. S. 20 meint. Die im Texte ausgedrückte Anschauung entspricht
auch der Praxis, wie sie sich seit der Justizreform durch die russischen
Gerichte herausgebildet hat.
346 Tatarin.
Diesen positiven Bestimmungen steht die negative Vor-
schrift des § 2588 gegenüber, daß jede amtliche Maßregel zur
Sicherstellung unterbleibt, wenn die Erben bekannt, großjährig
und anwesend sind, es sei denn, daß die Erben darum bitten
Man kann sich nicht verhehlen, daß diese Vorschriften nicht
sehr glücklich redigiert sind, denn die positiven und negativen
Bestimmungen schließen einander nicht au.s. Wie ist es zum
Beispiel, falls die Erben alle bekannt, anwesend und groß-
jährig sind, aber unter ihnen sich Geschäftsunfähige befinden,
die keinen gesetzlichen Vertreter haben, oder falls sie die Erb-
schaft nicht antreten wollen ? Man wird hier wohl annehmen
dürfen . daß £ 2589 die Bestimmung dts § 2588 einschränkt,
und daß daher in den genannten Fällen eine Sicherstellung
von Amts wegen zu erfolgen habe.
Von Amts wegen (Pr.R. 2589) schreitet das Gericht1) zur
Sicherstellung auf Grund von Mitteilungen der im Sterbe-
hause Wohnhaften oder der Polizei, desgleichen auf Grund von
Forderungen der Staatsanwaltschaft oder auch eigener Wahr-
nehmung.
II. Anträge auf Sicherstellung (Pr.R. 2588) können aus-
gehen von den Erben, den Testamentsvollstreckern oder Nach-
laß kuratoren. der Obrigkeit verstorbener Amtspersonen (hier
jedoch bloß hinsichtlich der zu ihrer Amtssphäre gehörigen
Gegenstände) und den Gläubigern gerichtlich zugesprochener
oder sichergestellter Forderungen (hier nur hinsichtlich des
zur Deckung erforderlichen Betrages2)3).
'i Z.V.O. 1970.
-) Z.V.O. 1072.
3) N;ich obigem könnte es erscheinen, als wenn sonstige Erbschafts-
interessenten, z. B. Legatare oder Erbschaftsgläubiger, die weder über
eine gerichtlich zugesprochene noch sichergestellte Forderung verfügen,
machtlos sind, eine Sichersteliung des Nachlasses zu erzielen, da sie
weder unter die in Z.V.O. 1972 aufgezählten Antragfberechtigten noch
unter die in Z.V.O. 1973 geraunten Mitteilungsbert chtigten fallen. Hier
wird man aber nicht fehlgehen, wenn man die Aufzählung des § 1973
als nicht erschöpfend ansieht. Das geht auch aus dem Texte dieses Para-
Die Legitimation des Erben nach rassischem und baltischem Recht. 347
Pjin Antrag , wenn er selbst von den dazu absolut berechtigten
Personen ausgeht und also nicht nur als Mitteilung aufzufassen ist,
verpflichtet den Richter aber noch keineswegs, demselben Folge zu
geben. Er kann dieses z. B. unterlassen, wenn mehrere Erben vorhanden
sind und nur ein Teil um Sicherungsmaßnahmen bittet, während der
andere geltend macht, daß solche nur lästig wirken würden, oder wenn z. B.
die Erbqualität des Antragstellers fraglich ist. Wenn kein Fall obli-
gatorischer Sicherstellung vorliegt, sind die eingehenden Anträge vom
Richter auf ihre sachlichen Voraussetzungen zu prüfen.
§ 31. Das zuständige Gericht und die einzelnen Maß-
nahmen.
I. Zuständig für Sicherstellung des Nachlasses ist stets
der Friedensrichter (nie das Bezirksgericht), in dessen Bezirk
der Nachlaß sich befindet l). Befinden sich Nachlaßobjekte in
den Bezirken mehrerer Friedensrichter, so ist jeder von ihnen
zuständig. Auf Antrag kann auch ein in der Nähe wohnender
Ehrenfriedensrichter die notwendigen Maßnahmen treffen; es
können hier nur Richter gemeint sein, die in der Nähe des
Ortes wohnen, wo sich der Nachlaß befindet2) — der Grund,
warum hier die Ehrenfriedensrichter mit den Berufsrichtern
graphen indirekt hervor, denn du in den durch Pr.R. 2589 aufgezählten
Fällen ein Einschreiten des Richters von Amts wegen auch auf Grund
seiner „ eigenen Wahrnehmungen" zulässig ist, so wird es genügen, wenn
z. B. der Legatar eine solche eigene Wahrnehmung des Richters etwa
durch Vorlegung des Totenscheins und einer polizeilichen Bescheinigung
bzw. durch schriftliche Behauptung einiger Zeugen hervorruft. Ganz
von selbst versteht sich aber ein solches Recht der gen. Erbschafts-
interesse iten (wie Eid mann, System 111, S. 405, Anm. 2 offenbar meint)
nicht. Bezüglich der Gläubiger erkannte v. Samsou a. a. 0. § 100 ein
solch« s Recht bereits vor der Kodifizierung an.
J) Z.V.O. 1971.
2) In der Nolcken sehen Uebersetzung bei Gaßmann und Nolcken
heißt es liier: ein Pin ihrer Nähe lebender Ehrenfried ensrichter". Das
ist aber eine fehlerhafte Uebersetzung, die auch schon aus dem Grund«
sinnwidrig ist, weil die Antragsteller fern von allen Nachlaßobjekteu
wohnen können und damit ihren Friedensrichtern zuständig würden, die
mit dem Nachlasse keinerlei örtliche Berührung hätten.
348 Tatarin.
konkurrieren, ist darin zu suchen, daß bei ersteren eine nahe
Bekanntschaft mit den persönlichen und den Vermögensverhält-
nissen des Erblassers vorausgesetzt werden kann — die russische
Gerichtsverfassung zieht überall dort die Ehrenfriedensrichter
heran , wo eine solche Vertrautheit als erwünscht erscheint.
Diese Richter haben sich jedoch auf die in Z.V.O. 1974 er-
wähnten Sicherungsmaßnahmen zu beschränken und dürfen
keine weiteren Verfügungen bezüglich des Nachlasses (wie etwa
Einsetzung einer Kuratel) treffen — solche stehen dem ordent-
lichen Richter zu ; ebensowenig dürfen sie sich mit eventuellen
einschlägigen Beschlüssen des letzteren in Widerspruch setzen 1).
Für den Sicherstellungsbeschluß muß dem Richter der Tod
des Erblassers glaubhaft gemacht sein — das geschieht bei
Anträgen durch Beifügung eines kirchlichen Totenscheins, bei
Sicherstellungen von Amts wegen gewöhnlich durch bloße Be-
hauptung der uninteressierten Verwaltungsorgane oder Per-
sonen 2).
II. Sich er Stellungsmaßnahmen sind: Inventur, Ueber-
gabe zur Aufbewahrung und ausnahmsweise Versiegelung3).
Alle diese Maßnahmen werden ausgeführt durch den Gerichts-
vollzieher4). In dem diesem zuzufertigenden Beschluß des Richters
wird ihm in der Praxis bloß im allgemeinen die „Sicherung
des Nachlasses" vorgeschrieben. Daraufhin hat er regelmäßig
die Inventur und Uebergabe des Nachlasses zur Aufbewahrung
vorzunehmen ; ob auch eine Versiegelung erforderlich ist, kann
der Richter bei Fällung seines Beschlusses oft noch gar nicht
überschauen, und so bleibt diese Frage in praxi gewöhnlich
der Entscheidung des Gerichtsvollziehers überlassen, der sich
hierbei an den § 1975 Z V.O. zu halten hat.
a) Die Inventur des Nachlasses dient nach baltischem
Rechte, wie nach gemeinem, einem doppelten Zweck — einer-
1) Sen.E. 1903/16.
2) Vgl. Lutz au a. a. 0. S. 23.
3) Z.V.O. 1974 u. 1975 und Pr.R. 2587.
4) Z.V.O. 1976, 1974 u. 1997.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 349
seits dem Schutze des Nachlasses, andrerseits der Bestimmung
des Umfanges der Haftung der Erben *).
Gerade wo nach Pr.R. 2588 die Sicherstellung auf Grund Antrags
erfolgt, wird gewöhnlich die Veranlassung zu diesem in dem Wunsche
der Erbprätendenten zu suchen sein, einerseits eine autoritative Unterlage
für ihre Entscheidung über Annahme oder Ausschlagung der Erbschaft2)
binnen des spatium deliberandi3) zu erhalten, andrerseits für den Fall
der Annahme cum beneficio inventarii ihre Haftung durch gesetzmäßige
Festlegung des Nachlaßbestandes zu fixieren4). Zwar ist nach Pr.R.
ausnahmsweise die Benutzung einer privaten Inventur zulässig, falls der
Erblasser selbst kurz vor seinem Tode eine solche errichtet hatte, sonst
schreibt das Gesetz aber strikt die gerichtliche Inventarisierung des
Nachlaßbestandes vor — auf Grund einer privaten Inventur kann, nach
baltischem Recht, in der Regel das beneficium inventarii also nicht
geltend gemacht werden5). Die näheren Regeln über die Inventur ent-
hält die Z.V.O.6): wichtig ist die Bestimmung des § 1994, wonach die In-
ventur (offenbar im Hinblick auf das genannte beneficium) im Gegensatz
zum russischen Sicherungsbeschlag 7) mit einer Schätzung durch den
Gerichtsvollzieher, die er nach den gewöhnlichen Schätzungsregeln vor-
zunehmen hat8), zu verbinden ist.
*) Vgl. G aß mann und Nolcken a. a. 0., Motive zu Art. 238
(1975) und zu Art. 291 (2008).
2) Pr.R. § 2633.
3) Pr.R. §§ 2628—2630, 2632 u. 2634.
4) Pr.R. 2649.
8) Dieses geht unzweideutig aus der Anm. zu Pr.R. 2649 und für
Kurland obendrein aus §2651 hervor. In der gen. Anmerkung heißt es:
„Ueber das bei der Aufnahme des Inventars zu beobachtende Verfahren
siehe die Zivilprozeßordnung" — diese enthält in den §§ 1994 — 1996
die betr. Vorschriften über die gerichtliche Inventur. Diese Anmerkung
ist von Er d mann offenbar übersehen worden, da er, um das Obige für
Liv- und Estland zu beweisen, auf die Quellen des § 2652 zurückgreift
(Erdmann, System III, S. 451, N. 4). Dieser Rückgriff ist nur insofern
von Interesse, als er beweist, daß die in Verbindung mit der Justizreform
von 1889 eingefügte Anm. zu § 2649 altbaltii-ches Recht zur Geltung
bringt. Vgl. auch die Vorm.Ordn. von 1669, § 18.
6) §§ 1994—1996.
7) Vgl. oben S. (I) 299.
8) Vgl. Z.V.O. §§ 1994, 1000-1008 u. 1117-1126.
350 Tatarin.
b) Nach erfolgter Inventaraufnahme hat der Gerichtsvoll-
zieher für gehörige Aufbewahrung des festgestellten Nach-
lasses zu sorgen.
1. hi der Regel wird dieser denjenigen Personen übergeben, die
ihn ohne Fortschaffung zu übernehmen bereit sind, also in erster Linie
den Hausgenossen des Verstorbenen, seinem Hauswirt, Nachbarn usw..
wobei die Auswahl dem Gerichtsvollzieher überlassen ist *). — 2. Zwar
haben Z.V.O. 1997 uud Pr.R. 2590 und 2594 scheinbar in erster Linie
für die Aufbewahrung den Nachlaßkurator im Auge, doch wird dieser,
der häufig ein Rechtsanwalt oder Geschäftsmann ist, die Aufbewahrung
trotz seiner Verwaltungspflicht besonders bei Wohnungseinrichtungen
und größeren beweglichen Stücken schwer übernehmen können, so daß
auch in praxi der Gerichtsvollzieher vermöge seines Bestimmungsrechts
diesem nur die Aufbewahrung kleinerer beweglicher Stücke (etwa Schmuck,
Silber usw.) anvertraut. — 3. Wertpapiere, Wertsachen. Bargeld, auch
solches, das den Erlös für schnell verderbliche Sachen bildet, sind beim
Richter zu deponieren2).
Sachen, die zum Nachlaß offenbar nicht gehören, können durch
den Friedensrichter von Amts wegen den Eigentümern ausgereicht werden,
so besonders versiegelte Pakete, Dokumente, deren Eigentümer durch
Aufschriften oder andere Beweisstücke kenntlich sind, Staats- oder Kom-
munalbehörden gehörige, aber auch sonstige Gegenstände b). Hier hat
der Richter also bereits ein vollständiges amtliches Besitzregelungsrecht;
hält er das Eigentum für zweifelhaft, oder wird gegen die Ausreichung
solcher Sachen protestiert, so stellt der Richter den Interessenten die
Erhebung einer Interventionsklage anheim4).
c) Die Versiegelung erfolgt nur ausnahmsweise als
reine 5) Schutzmaßnahme vor der Inventur, und zwar haupt-
sächlich, wenn aus irgendwelchen Gründen nicht sofort zur
J) Vgl. Z.V.O. §§ 1997, 1010, 1011, 1009.
2) Z.V.O. 1982. 1998, vgl. auch 986. Schnell verderbliche Sachen
unterliegen sofortiger öffentlicher Versteigerung.
3) Z.V.O. 2000-2004.
4) Z.V.O. 2004, 1983—1985 u. 1092. Eine solche Interventionsklage
kann im Hinblick auf den Hinweis auf Z.V.O. 1092 offenbar nur gegen
die Erbschaftsprätei:denten (bzw. die Protestierenden) einerseits und die
Nachlaßmasse andrerseits als Beklagte gerichtet werden.
5) Vgl. Motive zu 241 (1978) bei Gaßmann und Nolcken, de9gl.
Erdmann, System, S. 406.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 351
Inventur geschritten werden kann, oder wenn bei Abwesenheit
der Erben der Richter eine Versiegelung für erforderlich er-
achtet 1).
Die Regeln , an die sich der Gerichtsvollzieher hierbei zu halten
hat, sind in den §§ 1975 — 1987 der Z.V.O. dargelegt. Bemerkenswert ist
hierbei, daß er verpflichtet ist, den Hausgenossen einen Revers abzu-
fordern, daß sie weder etwas vom Nachlaß beiseite geschafft haben,
noch ihnen bekannt wäre, daß irgend etwas von demselben fehle2). Ein
gleicher Revers ist vorgeschrieben, falls die Inventur ohne Versiegelung-
stattfindet3). Nach Maßgabe erfolgter Inventarisierung werden die Siegel
entfernt, was übrigens auch nach Ermessen des Richters geschehen kann4).
Die Sicherstellungsmaßnahmen des Friedensrichters unter-
liegen der Beschwerde an das Friedensrichterplenum ge-
mäß den §§ 2009-2013 Z.V.O. Die Beschwerdefrist ist eine
siebentägige.
Ein Vergleich der dargelegten Sicherungsmaßnahmen mit
der Darstellung des entsprechenden gemeinrechtlichen Ver-
fahrens oben in Abschnitt I C zeigt uns , daß das baltische
Verfahren zur Sicherstellung des Nachlasses dem des gemeinen
Rechts in den Hauptzügen gleicht. So war es auch bereits
vor der Kodifizierung. Auf unserem Gebiete hatte das alt-
baltische Recht nur wenig feste Rechtsbpgriffe und Rechts-
einrichtungen ausgebildet. Die oben in der geschichtlichen
Einleitung gestreiften aber blieben , ebenso wie ähnliche in
Deutschland, unentwickelt. So füllte denn die Praxis die
vorhandenen sehr beträchtlichen Lücken auf Grund der sub-
J) Z.V.O. 1975, vgl. auch Pr.R. 2537 u. Z.V.O. 1988, desgl. Motive
zu 238 (1975) und zu 271 (2008) bei G aß mann und Nolcken. Die
Motive zu 238 (1975) stellen sich ganz bewußt in Gegensatz zu Pr.R. 2587,
nach welchem Paragraphen die Versiegelung als die gewöhnliche Maß-
nahme erscheint. In den Motiven heißt es ganz richtig, daß „in der
Praxis dieses Mittel ohne die Inventur verhältni.-niäßig selten angewandt"
wurde, und daß die Versiegelung „eine zwecklose Belastung der Erben
und der Erbmasse" sei. — Vgl. auch Lutzau a. a. O. S. 26.
2) Z V.O. 1978.
3) Z.V.O. 1994.
4) Vgl. Z.V.O. 1988—1993, insbesondere 1992.
352 Tatarin.
sidiären Geltung des gemeinen Rechts durch Einrichtungen des
letzteren aus. Da in den einzelnen baltischen Gebieten der
Gerichtsgebrauch aber ein ungleichmäßiger war, so verstärkte
sich der Einfluß des gemeinen Rechts auf unserem Gebiete
noch mehr mit der Kodifizierung, die eine Vereinheitlichung
am besten auf dem Boden des gemeinen Rechts herbeiführen
konnte 1).
§ 32. B. Die Bestellung eines Kurators.
Durch das aus dem römischen Rechte stammende Prinzip
des Erbschaftserwerbs durch Annahmeerklärung entsteht im
baltischen Rechte, ebenso wie im gemeinen, ein Stadium, in
welchem die Rechtssphäre des Verstorbenen de facto ohne
Träger ist. Hier hat sich nun das Provinzialrecht den gemein-
rechtlichen Begriff der ruhenden Erbschaft (hereditas iacens)
zu eigen gemacht und dieser ausdrücklich den Charakter einer
juristischen Person zugebilligt2). Letztere bedarf aber zum
Handeln eines Organs. Ein solches wurde für einzelne Fälle
bereits im römischen Recht in Gestalt des Kurators geschaffen3).
Das baltische Recht hat den Kurator, hierin dem gemeinen
Rechte folgend, zu einem regelmäßigen Institut erhoben.
Die Bestellung der Kuratel erfolgt entweder auf Antrag
der Erben4) oder unter bestimmten Voraussetzungen, von
Amts wegen. Diese Voraussetzungen sind die gleichen, wie
auch für die von Amts wegen ergehende Sicberstellung des
Nachlasses 5), wozu hier noch die Fälle treten, daß ein rechts-
kräftiges Testament vollstreckt werden soll, hierfür aber weder
*) Hiervon überzeugt man sich am besten durch einen Vergleich
mit den Darstellungen von Samsons über das livländische Erbschafts-
und Näherrecht, Riga 1828, und Nielsens Darstellung des Erbfolge-
rechts in Livland, Riga 1824 (man beachte besonders die zitierten Quellen).
2) Pr.R. § 1692, vgl. auch § 713.
3) Vgl. oben S. (I) 272; vgl. Erdmann, System III, S. 25.
4) Pr.R. 2590.
5) Pr.R. 2590 u. 2598.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 358
ein Testamentsvollstrecker noch ein direkter Erbe vorhanden
ist 1), oder daß ein Testament angefochten wird und das Gericht
es für angemessen hält, die Verwaltung des Nachlasses bis zur
Entscheidung einer Kuratel zu übertragen2). Ob die Ein-
setzung der Kuratel notwendig ist, dürfte stets dem Ermessen
des Gerichts anheimgestellt sein 3). Aus der Beziehung des
Pr.R. § 290 auf die §§ 2588 und 2589 ergibt sich, daß, wenn
die Erben bekannt, großjährig und anwesend sind und auch
keine notorische Ueberschuldung des Nachlasses vorliegt bzw.
dieser nicht in seiner Integrität gefährdet ist, eine Vertretung
der hereditas iacens entbehrt werden kann, es sei denn, daß
die Erben besonders um Einsetzung der Kuratel bitten.
Letzteres wird vornehmlich der Fall sein, wenn der Nachlaß
der Verwaltung bedarf oder aus irgendwelchen Gründen Ver-
fügungen über denselben notwendig sind4). Hierin bestehen
jedenfalls in erster Linie die Obliegenheiten des Kurators. Die
§§ 2594 und 2597 Pr.R., ebenso wie die Motive zu den
§§ 2008 und 2010 Z.V.O.5) sprechen allerdings auch vom
») Pr.R. 2453, vgl. Z.V.O. 2009.
2) Pr.R. 2480.
3) Vgl. Lutzau a. a. O. S. 26.
4) Nach dem Texte des § 2590 scheint es, als wenn nur die Erben
die Einsetzung einer Kuratel beantragen können, sonst aber eine solche
nur von Amts wegen erfolgen darf. Man wird aber wohl annehmen
müssen, daß auch andere Personen das Recht haben, darum zu bitten.
So namentlich im Falle der sog. separatio bonorum, die bei Zahlungs-
unfähigkeit des Erben sowohl von den Legataren als von den Nachlaß-
gläubigern beantragt werden kann (Pr.R. 2658 ff.). Eine derartige Ab-
sonderung der Erbschaft kann nur durchgeführt werden, wenn die Nach-
laßmasse von einem Kurator besonders verwaltet wird (vgl. das oben
S. (I) 272 Gesagte). Die Handhabe zur Ernennung eines solchen bietet § 2589,
Pt. 5, der die Einsetzung einer Kuratel von Amts wegen vorschreibt,
falls „für die Integrität des Nachlasses etwas zu fürchten ist". Hier
wird zwar die Entscheidung vom Richter abhängen, der gefährdete
Gläubiger aber jedenfalls darum bitten dürfen, wenn auch sein Recht
sich formell mehr als Informations- denn als Antragsrecht darstellt.
5) G aß mann und Nolcken zu 271 u. 273.
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. XXXIX. Band. 23
354 Tatarin.
Schutze der Erbschaft, der ihm obliegt ; aber diese seine Funk-
tion ist nur als nebensächliche und indirekte anzusehen, da
die „Erhaltung des Nachlasses in seiner Integrität" (von der
Pr.R. 2594 spricht) im Dienste der Verwaltungstätigkeit steht,
die Inventur aber (deren Beantragung dem Kurator nach
Pr.R. 2597 obliegt *), wie wir bereits gesehen haben, vor allem
schon von Amts wegen oder auf Antrag der Erben erfolgen
kann. Im Hinblick hierauf hat sich auch die Praxis auf den
Standpunkt gestellt, die Vorschrift des § 2597 nicht als Muß-,
sondern als Sollvorschrift aufzufassen (es heißt dort „haben . . .
nachzusuchen"). Ein solcher Usus erscheint auch als der einzig
zweckmäßige ; denn oft wird die Einsetzung einer Kuratel von
Seiten der Erben nur beantragt, weil während des Stadiums
der „ruhenden Erbschaft" Verwaltungs- und Verfügungsmaß-
nahmen erforderlich sind ; ein Schutz durch Inventur oder gar
Versiegelung würde sich hier oft als unnütz drückender Ein-
griff erweisen, da sich der Nachlaß ohnehin vielleicht im Be-
sitze der Erben oder in sicherer Verwahrung befindet2). —
Es werden nach Bedarf ein oder mehrere Kuratoren er-
nannt 3).
Gemäß Pr.R. 2590 erfolgt die Ernennung des Kurators
durch „die zur Verhandlung der Nachlaßsache kompetente
Zivilbehörde",
Dieser Gesetzestext stammt noch aus der Zeit vor der Justizreform,
als noch „das ganze den Nachlaß betreffende Verfahren, angefangen von
den Schutzmaßregeln und endigend mit der Erbteilung, ein unteilbares
Ganzes bildete" 4). Damals befand sich dieses Gesamtverfahren je nach
dem Stande des Erblassers in der Hand des Hofgerichts (für Edelleute),
des Landgerichts für nichtadlige Personen geistlichen und weltlichen
1) Lutzaus Argumentation (a. a. 0. S. 25), daß der Kurator außer
der Inventur auch Versiegelung und Abgabe des Nachlasses zur Auf-
bewahrung beantragen kann, dürfte stichhaltig sein.
2) Dieses übersieht Lutz au a.a.O. S. 25, obgleich er erwähnt, daß
die Kuratoren in praxi diesen Antrag zu unterlassen pflegen.
3) Z.V.O. 2590.
4) Vgl. Gaßmann und Nolcken zu 273 (2010).
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 355
Standes (im allgemeinen), der städtischen Magistrate und deren Unter-
gerichte (für Stadtbewohner), des Universitätsgerichts und der Bauern-
gerichte1); wobei aber jedes dieser Gerichte, da es die gesamte Nachlaß-
behandlung hatte 2), sowohl die Kuratel anordnete als auch den Kurator
ernannte. Seit 1889 ist nun vor allem die Ausscheidung der Waisen-
gerichte3) als Vormundschaftsbehörden erfolgt: diese auch schon früher
vorhandenen Behörden behielten seit jener Zeit nur noch rein obervormund-
schaftliche Funktionen (während ihnen die ihnen früher etwa in Riga
zuständige unstreitige Nachlaßverhandlung genommen wurde). Daher
ist seit jener Zeit das Verfahren folgendes: Die Einsetzung der Kuratel
geht entweder vom Friedensrichter aus, dem die Sicherstellung obliegt,
oder von demjenigen Gerichte, dem die unstreitige Nachlaßverhandlung
im engeren Sinne zusteht4). Der Beschluß des Gerichts wird dann von
4) Vgl. Pr.R. I. Teil, §§ 311, Pt. 7; 369, Pt. 1 u. 10; 458, VI., Pt. 28
560, Pt. 2, 7, 8; 643, Pt. IIb u. 16 usw. So auch in der Hauptsache vor
der Kodifikation, vgl. v. S'a m s o n a. a. 0. §§ 61 ff.
2) Allerdings mit einigen Ausnahmen : auf dem Lande stand die
Ergreifung der ersten Maßregeln zur Sicherung des Nachlasses dem Ord-
nungsgerichte zu (vgl. Prov.R. I. Teil, § 411, Pt. 13); in Riga kompetierte
die gesamte Nachlaßverhandlung dem städtischen Waisengerichte als
Untergericht des Magistrates, doch hatte formell den Erlaß der Ver-
fügungen hinsichtlich des Aufgebotsverfahrens sowie auch die Publikation
der Testamente der Magistrat selber (vgl. Prov.R. I. Teil, § 458, Pt. 27 u. 28).
Die Praxis hatte sich aber so gestellt, daß de facto auch der Erlaß von
Nachlaßproklamen dem Waisengericht zustand (vgl. Präjudikate des Rigaer
Rats betreffend den Zivilprozeß, Riga 1881, I, Nr. 28, Resol. des Rats vom
13. Juni 1880, Nr. 4046). Daß in Riga das Nachlaßverfahren dem Waisen-
gerichte zustand, das doch kein Gericht i. e. S. war, erklärt wohl auch
den Ausdruck des Pr.R. 2590 „Ziviljustizbehörde".
3) In diesen Behörden wiegt noch der ständische Charakter vor :
es gibt adlige und städtische Waisengerichte; die Funktion der bäurischen
Vormundschaftsbehörde erfüllt das Gemeindegericht (vgl. Livländ. Bauern-
verordn. § 955 und Gemeindegerichtsordn. §§ 247 u. 249).
4) Z.V.O. 2009 — d. h. vom Bezirksgericht oder Friedensrichter, je
nach dem Werte des Nachlasses (darüber Näheres unten). Daß der § 2009
wie oben zu interpretieren ist, wird auch durch die Sen.E. 1898/117 in
Sachen Keyserlingk anerkannt (vgl. Bukowsky, Zivilgesetze, S. 381—382).
Hier wird ausdrücklich ausgesprochen, daß der § 2009 nicht sagen will,
daß Friedensrichter oder Bezirksgericht eine Kuratel nur dann einsetzen
dürfen, wenn sich die betr. Nachlaßsache in ihrer Verhandlung bereits
befindet, sondern daß durch denselben die Zuständigkeit geregelt werden
356 Tatarin.
Amts wegen dem Waisengerichte !) zugefertigt, und dieses als Obervormund-
schaftsbehörde ernennt den Kurator auf Vorschlag der Interessenten2).
Die Aufsicht und Leitung der Tätigkeit des Kurators steht ebenfalls
den Waisengerichten zu3). Die Kuratoren haben sich bezüglich ihrer
Tätigkeit und Rechnungslegung in der Hauptsache an die Bestimmungen
des Pr.R. 2594 — 2598 mit den entsprechenden Modifikationen und an die
für Vormünder über Großjährige geltenden Regeln4) zu halten.
So viel über die Kuratel dürfte für unseren Zweck ge-
nügen.
Zu erwähnen ist nur noch, daß die Gerichtspraxis in An-
lehnung an das durch die russische Senatsjudikatur entwickelte
analoge Verfahren eine Spe'zialkuratel5) für einzelne
Prozesse ausgebildet hat. Hier setzt auf Bitten des Klägers
das Prozeßgericht für den verstorbenen Beklagten einen „Nach-
laßkurator zur Klagebeautwortung" ein, reicht dem Kläger
hierüber ein Zeugnis aus, und dieser erwirkt auf Grund des letz-
teren vom Waisengericht die Ernennung des Kurators. Derselbe
braucht hier mit der Nachlaßverwaltung nichts zu tun zu haben,
es sei denn, daß er allgemeiner Nachlaßkurator ist oder wird 6).
Diese Spezialkuratel fällt aber aus dem Rahmen des unstreitigen
Nachlaß Verfahrens und steht ganz im Dienste eines einzelnen
Prozesses.
soll — für den Fall, daß eine Kuratel an sich erforderlich ist. Die betr.
Sen.E. beruft sich hier ganz stichhaltig auf die im § 2009 zitierten
Paragraphen Pr.R. 2453 u. 2480, welche gerade Fälle voraussehen, in
welchen ein unstreitiges Nachlaßverfahren durchaus nicht zu bestehen
braucht.
») Z.V.O. 2010.
2) Also nicht nur der Erben — Pr.R. 2591, vgl. auch die Sen.E.
1903/21 in Sachen v. Smit (Bukowsky I a. a. O. S. 986).
3) Pr.R. 2594, 2595, 2596, 2598, 458 ff., vgl. auch Motive bei Gaß-
mann und Nolcken zu § 273 (2010).
4) Pr.R. 495, 365 ff., 373 ff., 431 ff., 437 ff., 470 ff. Vgl. Erdmann III,
S. 23 u. 407.
5) Sen.E.E. 1874/829, 1878/290, 1885/131; vgl. Z.V.O. 751, 960 u. 215.
In Rußland setzt das Gericht aber keinen Kurator, sondern einen Vor-
mund ein. Vgl. Z.G.B. 1164 u. 1066u, oben S. (I) 299 u. 350.
6) Es ist dieser Fall analog dem Falle des B.G.B. 1961.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 357
§ 33. C. Das Nachlaßproklam.
Außer den direkten Sicherstellungsniaßnahmen und der
Einsetzung einer Nachlaßkuratel gehört zu denjenigen gericht-
lichen Mitteln, die die Feststellung und Sicherung des Nach-
lasses bezwecken, noch das Nachlaßproklam. Zum Erlaß des-
selben ist der Friedensrichter aber nur berechtigt, wenn er
zugleich Nachlaßverhandlungsgericht ist, d. h. wenn er nicht
nur nach Wert und Art des Nachlaß Vermögens für die Erb-
schaftsverhandlung zuständig ist, sondern auch der Erblasser
in seinem Amtsbezirke den letzten Wohnsitz gehabt hat. Ist
der Friedensrichter ausschließlich als Nachlaßsicherungsgericht
zuständig, so entscheidet er wohl über die Notwendigkeit eines
Proklams, nicht aber kann er ein solches auch erlassen —
hierzu hat er das zuständige Nachlaß Verhandlungsgericht auf-
zufordern. (Näheres darüber unten.)
Die Fälle, in denen ein Aufgebot notwendig ist, laufen
darauf hinaus, daß entweder die Erben oder die Nachlaßschulden
nicht feststehen. Diese Voraussetzungen hat der Friedens-
richter festzustellen.
Er kann den Beschluß über das Aufgebot aus eigener
Initiative fassen oder auf Antrag der Erbschaftsinteressenten
(anwesende Erben, Legatare, Gläubiger), des Testamentsvoll-
streckers oder des Kurators. Die Erben werden den Antrag
stellen — entweder um die schriftliche Inventur der Aktiva
des Nachlaßvermögens durch ein Verzeichnis der Passiva, d. h.
der Forderungen gegen den Nachlaß zu ergänzen1), oder um
sonstige Prätendenten auf den Nachlaß kennen zu lernen oder
auszuschließen. Die Nachlaßkuratoren werden durch Bean-
tragung des Aufgebots einerseits ihrer Pflicht, eine vollständige
Inventur nicht nur der Aktiva, sondern auch der Passiva der
Nachlaßmasse aufzustellen (Pr.R. 2597), nachzukommen suchen,
andrerseits die Erben festzustellen suchen, um den Nachlaß ge-
!) Pr.R. 2629, 2633, 2651, 2652; vgl. auch v. Samson a. a. 0.
§§ 93 ff.
358 Tatarin.
maß Pr.R. 2598 richtig übergeben zu können. Die Gläubiger
verfolgen mit dem Proklam einerseits den Zweck, die rechten
Erben festzustellen, um zu wissen, woran sie sind, und um
schneller zu dem Ihrigen zu gelangen1), andrerseits — die
Solvenz des Nachlasses klarzulegen. Aehnlich liegt es bei der
testamentarischen Erbfolge*), wovon unten die Rede sein soll.
Wie sich aus obigem ergibt, schießt der beim Friedens-
richter gestellte Antrag meist über das diesem obliegende
Sicherungsziel hinaus. Häufig werden die Erben, die auf eine
Legitimation ausgehen, aber vorher eine Sicherung des Nach-
lasses erzielen wollten, zugleich mit dem Sicherstellungsantrag
beim Friedensrichter den Antrag auf Erlaß eines Aufgebots
verbinden. Sie ersparen dadurch vorläufig ein besonderes Ge-
such an das Nachlaßverhandlungsgericht und die damit ver-
knüpften Kosten, denn der Friedensrichter muß von Amts wegen
über das zu erlassende Aufgebot dem ersteren Mitteilung
machen 3).
Tit. 4. Die Bestätigung der gesetzlichen Erben
im Erbrechte.
Ganz unabhängig von dem geschilderten Verfahren zur
Sicherstellung des Nachlaß Vermögens, das auf besonderen An-
trag der Interessenten oder in den im Gesetze besonders auf-
gezählten Fällen von Amts wegen eingeleitet wird, besteht im
baltischen Rechte ein zweites Verfahren, das der Ermittlung
des rechten Erben dient. Im Gegensatz zum erwähnten nimmt
dieses besondere Formen an — je nachdem, ob es sich um
Intestaterbfolge, um testamentarische oder vertragliche Erb-
folge handelt.
Betrachten wir dasselbe zunächst in der Form, in der es
sich bei der Intestaterbfolge abspielt.
J) Vgl. Pr.R. 2629, 2634, 2654.
2) Vgl. Pr.R. 2457, 2461, 2634.
3) Z.V.O. 2013, S. 2.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 359
§ 34. Die Bestätigung im Erbrechte als Legitimations-
mittel.
Im Gesetze Z.V.O. 2019 heißt es:
„Halten es die gesetzlichen Erben, die die Erbschaft angetreten
haben, für notwendig, zwecks Feststellung ihrer Rechte auf die
Erbschaft die Mitwirkung des Gerichts in Anspruch zu nehmen, so
können sie unter Beibringung gehöriger Beweise das zuständige
Gericht (§ 2011) um ihre Bestätigung im Erbrecht (yTüepaaeHie m>
npaßaxt Hac.iiacTBa) bitten 1)."
Es ist somit dem Ermessen der Erben überlassen, ob sie
sich zwecks Feststellung ihrer Rechte überhaupt an das Ge-
richt wenden wollen 2). Das Gericht tritt hier stets nur auf
besonderen Antrag, nie von Amts wegen in Tätigkeit. Der
Erbe ist nicht verpflichtet, wie nach österreichischem Recht,
sich erst durch das Gericht anerkennen und dann in den Nach-
laß einantworten zu lassen. Darin gleicht das baltische Recht
dem russischen. Beide stützen sich auf das römische Recht,
<3em eine gerichtliche unstreitige Nachlaßregelung fremd war.
Die Bestimmung des § 2019 bedeutet aber nicht, daß das bal-
tische Recht keinen Eingriff des Gerichts in die Regelung des
Erbganges kennt, sondern nur, daß es zur Legitimation des
*) So übersetze ich den erwähnten Paragraphen in Uebereinstimmung
mit dem oben S. (I) 286, N. 1 Gesagten im Gegensatze zur Nolcken sehen
Uebersetzung bei G aß mann und Nolcken § 282, wo es „Bestätigung
ihres Erbrechts" heißt. Vgl. hierzu auch die Uebersetzung bei Klibanski
Handbuch II.
2) Vgl. die unzweideutige Feststellung dieses Prinzips bei Zwing-
mann, Entsch. II, 189; desgl. vgl. Erdmann, Erbschaftsklage, S. 257;
dieser wirft allerdings die Begriffe stark durcheinander: er hält weder
Erbschaftsklage und unstreitiges Nachlaßverfahren scharf auseinander,
noch ist er sich darüber klar, daß letzteres zweierlei Funktionen um-
faßt, solche, die die Sicherstellung des Nachlasses bezwecken, und solche,
die den rechten Erben feststellen wollen. — Vgl. hierzu ebenfalls
G a ß m a n n und Nolcken, Motive zu 286 (2023) ; a. A. Sen.E. in Sachen
Klemm 1901/4197 (bei Bukowsky, Kodex I, S. 1011). Ueber die Gründe,
die gegen ein obligatorisches Erbenermittlungsverfahren sprechen, vgl.
Eßlinger, Erbschein, S. 38.
360 Tatarin.
Erben keiner Feststellung seiner Rechte durch das Gericht be-
darf — prinzipiell kann er seine Erbqualitäfc denjenigen, mit
denen er es zu tun hat, auch auf anderem Wege als durch
eine gerichtliche Bescheinigung über seine Bestätigung im Erb-
rechte beweisen.
Der Ausdruck „Bestätigung im Erbrechte" stammt übrigens
aus dem russischen Rechte, wie ja überhaupt der ganze § 2019
dem § 1408 des russischen Rechts nachgebildet ist. Aller-
dings führt § 2019 diesen Ausdruck aus der russischen Praxis
ein, denn, wie wir oben gesehen haben, kennt ihn der Gesetzes-
text des § 1408 nicht. Ueberhaupt muß gesagt werden, daß
ein Verfahren, welches darauf hinausläuft, den Erben als
solchen öffentlich zu kennzeichnen, dem baltischen Rechtsleben
erst seit der Justizreform von 1889 bekannt geworden ist —
das kodifizierte materielle Recht von 1864 kennt ein solches
nicht, geschweige denn das frühere formelle, das vor und nach
der Kodifikation in Uebung war. In seinem „livländischen Erb-
schafts- und Näherrecht " (Riga 1828) spricht Samson wohl
von der Legitimation des Erben, aber aus seinen Ausführungen
geht klar hervor, daß er keine Legitimation in unserem Sinne
im Auge hat. Nach Samson *) liegt der Beweis des Erbrechts
im Zweifel „jedem ob, der den Anfall einer Erbschaft be-
hauptet und dieselbe antreten will". Weiter aber heißt es:
„geht aus den Beweisen des sich meldenden Erben nicht mit
voller Zuverlässigkeit hervor, daß er nach der gesetzlichen Erb-
folge der nächste und einzige Erbe des Verstorbenen sei: so
kann das Gericht nach Umständen mit oder ohne Sicherstel-
lung ihm den einstweiligen Besitz des Nachlasses einräumen" ;
noch weiter aber ist die Rede von Personen, die sich eigen-
mächtig in den Besitz von Erbschaften setzen oder solche
während des Besitzes treulos verwalten 2). Daraus folgt, daß
das livländische Recht vor der Kodifizierung unter der Legi-
1) v. S a m 8 o n a. a. O. §§ 52 ff., desgl. Nielsen, Erb folgerecht, § 33.
2) Vgl. Erdmann, Erbschaftsklagc, a. a. O. V, „die provisorische
Besitzregulierung \ S. 273 ff.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 361
timation des Erben die Erbringung von Beweisen verstand,
die das Gericht veranlassen konnten, ihn in den Besitz des
Nachlasses einzuweisen. Durch die von Amts wegen oder auf
Antrag eingeleiteten Sicherstellungsmaßnahmen, die sich vor
der Justizreform im gleichen Gerichte wie das Erbenermitt-
lungsverfahren und die ober vormundschaftlichen Funktionen
konzentrierte, hatte das Gericht den Nachlaß bei zweifelhafter
Rechtslage gewissermaßen unter seiner Oberaufsicht1) — da-
her lief natürlicherweise das Bestreben der Erbprätendenten
darauf hinaus, dem Gerichte solche Beweise zu erbringen, daß
es die Einweisung in den Erbschaftsbesitz vornahm. Von der
Erzielung einer Urkunde aber, die den Erben als solchen ein
für alle Male einem jeden Dritten gegenüber legitimierte, weiß
das ältere baltische Recht noch nichts. Das folgt vor allem
auch aus den bei Samson S. 28 und § 52 zitierten Regeln der
Leihbank vom 26. November 1772 und dem Senatsukas hierzu
vom 20. Juni 1820, nach welchem „zur Auszahlung eines
Kapitals aus der Leihbank an die Erben des verstorbenen
Deponenten die gerichtliche Bescheinigung über das Ableben
des Erblassers und über die Rechte des Erben, desgleichen
über den Umstand beizubringen ist, daß alle Erfordernisse in
Ansehung der Zitation der Erben beobachtet worden sind".
Hier dient also dem Erben zur Legitimation im Einzelfalle
nicht eine einheitliche Urkunde über die Rechtslage, sondern
eine Reihe von Einzelbescbeinigungen über bestimmte Tat-
sachen. So läßt sich denn das frühere baltische Verfahren
höchstens als ein der römischrechtlichen bonorum possessio
ähnliches charakterisieren. Der Einsatz ist hier nicht, wie im
österreichischen Recht, zum öffentlichen Glauben des „Ein-
antwortungsdekrets" fortentwickelt: will der Erbe etwa Nach-
laßobjekte von Dritten heraushaben, muß er sein Erbrecht von
Fall zu Fall beweisen, ebenso wie er es zum Zweck der Ein-
weisung dem Gerichte gegenüber getan hatte. —
l) Vgl. Erdmann, Erbschaftsklage, a. a. 0. S. 258, N. 29, vgl.
Pr.R. 2598.
362 Tatarin.
Erdmann, der sich übrigens bezüglich der ganzen Frage nicht im
klaren befindet, spricht einerseits (ganz im Sinne des oben Ausgeführten)
von der „provisorischen Besitzregulierung*, betont aber andrerseits, daß
es bereits vor der Justizreform üblich geworden war, daß die Zivil-
justizbehörde den Intestaterben, welche durch Aussagen zweier testes
habiles respektive durch Taufscheine usw. ihren Verwandtschaftsgrad er-
wiesen haben, ein Attestat über ihr Erbrecht erteilte, um ihnen die
Möglichkeit zur Empfangnahme solcher Erbstücke zu gewähren, „welche
eine schriftliche Beurkundung oder Legitimation zu ihrem Erwerbe er-
heischen"1). Er verkennt aber hier, daß solche Attestate nur für be-
stimmte Falle erteilt wurden und eine allgemeine Feststellung des Erben
durch das Gericht in keiner Weise ersetzen konnten, auch bilden solche
keineswegs das Resultat einer gerichtlichen Untersuchung: sie tragen
rein formalen Charakter und ähneln den heutigen Ehrenfriedensrichter-
attesten, wie wir solche bereits im russischen Recht kennen lernten.
Es bleibt hier ein Verdienst der russischen Justizreform
von 1889 , die ganze Frage — unter dem Einflüsse der ur-
sprünglich im russischen Gesetze nicht ausgedrückten, aber durch
die Senatsjudikatur zur Geltung gebrachten Anschauung —
auf das richtige Gleis geführt zu haben: es bedarf einer Be-
stätigung im Erbrechte vor allem, um dem Erben eine brauch-
bare Legitimation zu verschaffen.
§ 35. Das zuständige Gericht und der Charakter des
Verfahrens.
Die Erben, die es für notwendig halten, die Mitwirkung
des Gerichts zwecks Feststellung ihres Erbrechts in Anspruch
zu nehmen, wenden sich, wie Z.V.O. § 2019 sagt, an das
zuständige Gericht (§ 2011). Wie aus dem angezogenen
§ 2011 hervorgeht, ist dieses zuständige Nachlaßverhandlungs-
gericht im Gegensatze zum Nachlaßsicherungsgericht je nach
der Beschaffenheit und dem Werte des Nachlasses entweder
der Friedensrichter oder das Bezirksgericht, in dessen Amts-
bezirk der Erblasser seinen letzten Wohnsitz hatte 2). Hiernach
*) Erdmann, System III, S. 446; vgl. auch Erdmann, Erb-
schaftsklage V, S. 273—275.
2) Die Nolckensche üebersetzung ist hier ungenau: er schiebt
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 363
ist der Friedensrichter zuständig, wenn der Nachlaß 500 Rbl.
nicht übersteigt und kein Immobil zu demselben gehört; ist
letzteres der Fall, oder übersteigt der Wert 500 Rbl., so ist
das Bezirksgericht zuständig1).
Die örtliche Zuständigkeit dieses Nachlaßverhandlungs-
gerichts ist, im Gegensatz zum russischen Rechte, für das
Baltikum klar geregelt, und zwar prinzipiell in gleicher Weise
wie im deutschen F.G.G. — maßgebend ist in der Regel der
Wohnsitz des Erblassers zur Zeit des Erbfalls. Das baltische
Recht sagt allerdings: wo „der Erblasser seinen letzten Wohn-
sitz hatte". Diese Ausdrucksweise gibt die Möglichkeit, ein
baltisches Gericht auch dann als zuständig anzusehen, wenn
der Erblasser im Baltikum in der letzten Zeit weder Wohn-
sitz noch Aufenthalt hatte, was in dem Falle wichtig ist, daß
er Vermögensobjekte im Baltikum hinterlassen hat. Hier dürfte
es genügen, sich nach dem letzten Wohnsitz im Baltenlande
zu richten. Eine Möglichkeit, aus dem zitierten Gesetzestexte
die Zuständigkeit des baltischen Gerichts auch für den Fall
herzuleiten, daß der Erblasser im Baltikum zur Zeit des Erb-
falls bloß seinen Aufenthalt hatte oder dort nur Vermögens-
objekte hinterlassen hat, ohne dort jemals gewohnt zu haben 2),
liegt leider nicht vor.
Besonders bezüglich des letzteren Falles erweist sich das als emp-
findlicher Mangel, denn weder wird man von einem auswärtigen (beson-
ders einem ausländischen) Gerichte verlangen können , daß es baltisches
Recht (z.B. bezüglich der besonderen Erbfolge in Erbgüter3) anwendet,
noch andrerseits von baltischen Behörden, daß sie bezüglich im Baltikum
befindlicher Objekte (besonders Immobilien) Legitimationsurkunden an-
erkennen, die den Erben von ausländischen Behörden ausgestellt sind4).
hier vor „seinen letzten Wohnsitz" die Worte „vor dem Tode" ein, die
im russischen Urtexte des Gesetzes vom 9. Juli 1889 fehlen.
») Z.V.O. 1806, Pt, 1 u. 202.
2) Vgl. F.G.G. 73.
3) Pr.R. §§ 1914—1916.
4) Bezüglich der im Baltikum belegenen Immobilien kann die
Grundbuchbehörde eine Korroboration auf die Namen der Erben übei-
364 Tatarin.
Es fehlen hier Bestimmungen , wie sie in Deutschland das F.G.G. § 73,
S. 2 und der Abs. 3 enthält. In Rußland besteht hinsichtlich solcher
Fälle, wie wir oben gesehen haben J), gerade infolge der unvollständigen
Bestimmung des § 1408 und der dehnbaren des § 215, die Möglich-
keit zu anpassender Interpretation. Aber auch im Baltikum wird man
nicht umhin können, den offenbaren Mangel des Gesetzes auf Grund
allgemeiner Erwägungen zu ergänzen. Hat der Erblasser Vermögen im
Baltikum hinterlassen und wird in bezug auf den erbrechtlichen Ueber-
gang desselben baltisches, materielles oder formelles Recht zur Anwen-
dung gelangen müssen, so muß auch gezwungenermaßen ein baltisches
Gericht gefunden werden, das die Rechte der Erben auf dieses feststellt2).
Das kann nur das forum rei sitae sein3).
haupt nur auf Grund gerichtlichen Beschlusses vornehmen — das folgt
aus dem Texte des § 39 der temporären Regeln betr. das Verfahren in
Grundbuchsachen (G aß mann und Nolcken a. a. 0. Beilage VIII), in-
direkt auch aus Z.V.O. 2023. Als eine solche dürfte aber kaum z. B.
der Erbschein der deutschen Nachlaßbehörde anerkannt werden. Aber
selbst die „Bestätigung der Erben im Erbrechte" von seiten eines Gerichts
des inneren Rußlands konnte bisher von den baltischen Grundbuchbehörden
nur dann als genügende Grundlage für die Umschreibung auf den Namen
des Erben genommen werden, wenn aus ihm ersichtlich war, daß die
besonderen baltischen erbrechtlichen Bestimmungen, denen doch Im-
mobilien unterworfen sind (vgl. Pr.R., Einleitung XXXIII), angewandt
waren.
>) Vgl. S. I, 49, N. 1.
2) Man wird hier nicht einwenden dürfen, daß die Frage nach dem
zuständigen Gerichte nicht identisch sei mit der Frage, welches Recht
zur Anwendung zu kommen hat. Rein theoretisch wird man ja sagen
dürfen, daß für die Verhandlung des Nachlasses eines Ausländers, der
sowohl seinen Wohnsitz im Auslande gehabt hat, als auch daselbst ver-
storben ist, der aber z. B. ein Grundstück im Inlande besessen hat, das
ausländische Gericht zuständig ist, wobei es bezüglich des inländischen
Grundstücks inländisches Recht anzuwenden habe ; praktisch genommen
wird aber eine solche Regelung nicht genügen, da man keinerlei Sicher-
heit dafür besitzt, daß das ausländische Nachlaßverhandlungsgericht auch
tatsächlich das besondere inländische Recht anwendet. Im Falle, daß
es' dieses aber nicht tut, hat z. B. die inländische Grundbuchbehörde
keinerlei Möglichkeit, die Anwendung des inländischen Rechts durch das
ausländische Gericht durchzusetzen, auch fehlt ihm die Sicherheit, daß
die eventuellen inländischen Interessenten die Möglichkeit gehabt haben,
am ausländischen Verfahren teilzunehmen. Daher wird ein ausländisches
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 365
Was den inneren Charakter und die Art des Verfahrens
des baltischen Nachlaßverhandlungsgerichts anbelangt, so wird
in bezug hierauf dasselbe gelten müssen, was oben bezüglich
Rußlands gesagt worden ist. Die Art des Verfahrens nach der
Justizreform war stark durch die in Rußland auf diesem Ge-
biete herausgebildeten Anschauungen beeinflußt — man sah
auch in der neueren baltischen Praxis das unstreitige Nachlaß-
verfahren (wenigstens soweit dies der Erbenermittlung diente)
nicht als verwaltende Tätigkeit eines besonderen Nachlaß-
gerichts an, sondern als einen Zweig der allgemeinen richter-
lichen Tätigkeit der ordentlichen Gerichte 1). Vor der Justiz-
reform kannte die städtische Gerichtsbarkeit die Zuständigkeit
einer besonderen Ziviljustizbehörde — des Waisengerichts —
für unstreitige Nachlaßsachen 2) : es war dasselbe eine in erster
Zeugnis über das Erbrecht der darin angegebenen Personen für die
Grundbuchbehörde keinerlei Vermutung begründen können, daß dieselben
die rechten Erben des zu übertragenden Grundstücks sind. Es sprechen
hier zwingende Gründe für die Zuständigkeit eines inländischen Gerichts.
Dieses noch ganz besonders aus dem Grunde, weil es sich bei Fest-
stellung der rechten Erben nicht um ein streitiges Verfahren handelt,
bei dem die Gegenpartei'auf die Anwendung des richtigen Rechts dringen
könnte, sondern um ein amtliches Verfahren, bei dem das Gericht ganz
einseitig instruiert sein kann. Sehr zweckmäßig ist daher z. B. die
Bestimmung des § 2369 B.G.B. Vgl. hierzu Boschan, Nachlaßsachen,
S. 11—25.
3) (Zu S. 364.) So auch die Praxis. Den formellen Anlaß zu solcher
Deutung gibt vielleicht der wörtliche Text des § 2019, der im allgemeinen
vom zuständigen Gerichte spricht und sich nur in Klammern auf den § 2011
bezieht. Daraus wird man folgern können, daß zwar in der Regel das
im § 2011 genannte Aufgebotsgericht zuständig ist, in besonderen Fällen,
wie dem obigen, aber das zuständige Gericht besonders zu bestimmen
ist. — In gleichem Sinne sprach sich bereits die dem Dörptschen Hof-
gericht erteilte Resolution (§ XI) Gustav Adolfs aus dem Feldlager zu
Werben vom 23. August 1631 aus — vgl. v. Samson, Erbschaftsrecht, § 68.
Bezüglich des anzuwendenden materiellen Rechts vgl. Pr.R., Ein-
leitung XXXIII u. XXXIV.
*) Vgl. das oben S. (I) 315 ff. Ausgeführte.
2) Seine Spur hat dieser Zustand im Ausdruck des Pr.R. 2590
.„ Ziviljustizbehörde u bis heute hinterlassen.
366 Tatarin.
Linie verwaltende Behörde. Aber die mögliche Entwicklung,
die von hier ihren Ausgangspunkt hätte nehmen können, wurde
durch die Justizreform abgeschnitten.
§ 36. Der Bestätigungsantrag.
Dem Bestätigungsantrag, den die Erbprätendenten an das
zuständige Gericht richten, sind „die gehörigen Beweise" bei-
zufügen 1). Diese sind im Gesetze nicht näher beschrieben,
doch wird man dieselben auf Grund der gerichtlichen Praxis2)
und des in Rußland eingebürgerten Verfahrens folgendermaßen
bestimmen können.
a) Der Tod des Erblassers ist, ebenso wie in Rußland,
durch den kirchlichen Totenschein zu beweisen.
b) Auch die Verwandtschaft mit dem Erblasser
ist in gleicher Weise wie in Rußland zu beweisen3); im Gegen-
satze zu Rußland müssen die Antragsteller aber dartun, daß
keine besser berechtigten Personen als die Antragsteller vor-
handen sind4); nur unter dieser Voraussetzung kann das Ge-
richt sie als Erben anerkennen. Die Intestaterbfolge beruht in
der Hauptsache auf der Nähe der Verwandtschaft 5). Den Er-
weis, daß sie die nächst und einzig Berechtigten sind, erbringen
die Antragsteller dem Gericht auf zweierlei Weise. Entweder
es wird ein Aufgebot der Erben erlassen — falls sich hier-
bei kein besser Berechtigter als die Antragsteller meldet, darf
deren Behauptung, daß sie die nächsten Erben sind, als er-
J) Z.V.O. § 2019.
2) Vgl. hierzu bezüglich der früheren Praxis v. Samson a. a. 0.
§§ 52 ff.; Nielsen a. a. 0. §§ 33 u. 47 ff.
3) Vgl. oben S. 307 f.
. 4) Z.V.O. § 2012, Pt. 2, vgl. v. Samson a. a. 0. § 54.
5) Pr.R. 1879—1881, vgl. hierzu Ni eisen a. a. 0. §§ 47 ff.; hier ist
besonders darauf hingewiesen, daß dieses bereits in Konrad von
Jungingens Gnadenrecht für Estland von 1397 und in Sylvesters
Neuer Gnade von 1457 ausgesprochen war. Allerdings besteht die heutige
Intestaterbfolge in der Hauptsache auf dem Justinianeischen System.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 367
wiesen angesehen werden1); oder aber sie bringen dem Ge-
richte hierüber ein Ehrenfriedensrichterattest bei. Es war alt-
hergebrachter Gerichtsgebrauch in den baltischen Provinzen,
daß ein Proklam als nicht notwendig angesehen und der Nach-
laß den Erben auch ohne ein solches ausgeliefert wurde, falls
sie auf andere Weise, etwa durch Zeugen, dartun konnten, daß
sie die nächsten Berechtigten sind2). Ein hierauf bezügliches
Verfahren hat sich nun seit Einführung des Instituts der Ehren-
friedensrichter (die über eine besondere Vertrautheit mit den
örtlichen Verhältnissen verfügen sollten) in deren Händen kon-
zentriert. Es ist üblich geworden, daß dieselben auf Grund
ihrer Kenntnis der Familienverhältnisse des Erbprätendenten
oder — im Anschluß an den früheren obenerwähnten Usus —
auf Grund der Aussage zweier testes habiles und der in Frage
kommenden Personenstandsurkunden den Erbprätendenten be-
scheinigen, daß sie in dem und dem verwandtschaftlichen Ver-
hältnis mit dem Erblasser 'stehen und daher seine alleinigen
gesetzlichen Erben sind. Solche Atteste haben sich außer dem
in Anlehnung an den bei den russischen Gerichten bestehenden
und durch die Gerichtspraxis legalisierten ähnlichen Usus heraus-
gebildet3). Das baltische Ehrenfriedensrichterattest unter-
scheidet sich vom russischen nur dadurch, daß es im Hinblick
auf die Bestimmungen des Provinzialrechts nichts darüber zu
enthalten braucht, daß die genannten Erben alle anwesend sind;
aber das baltische Recht verlangt jedenfalls, daß alle im Attest
bezeichneten Personen bei Gericht vertreten sind, sonst muß
das Gericht von Amts wegen ein Proklam erlassen 4).
c) Auch im Baltikum ist von den Antragstellern in gleicher
Weise wie in Rußland ein Nachlaßverzeichnis zu Steuer-
zwecken mit einer Kopie für den Kameralhof einzureichen.
J) In Deutschland ist das Proklam nach B.G.B. 2358, Abs. 2 beim
Erbscheinverfahren ausschließlich Beweismittel. Vgl. hierüber Wein er,
Erbschein, S. 40; Saupe, Erbscheinverfahren, S. 52.
2) Vgl. Erdmann, System III, S. 446.
3) Vgl. oben S. (I) 307 u. 309 f.
4) Vgl. Z.V.O. 2012, Pt. 2.
368 Tatarin.
Alles in bezug auf dieses in Anlaß des russischen Bestätigungs-
verfahrens Gesagte bezieht sich auch auf das Baltikum '). Die Vorschrift
der Z.V.O. 1408, Anm. bezüglich der Nichtausreichung der Legitimations-
urkunden vor Entrichtung der Erbschaftssteuer ist für das Baltikum in
einer besonderen Anmerkung zu § 2022 wiederholt.
d) Gewöhnlich wird mit dem Gesuch um Bestätigung im Erbrecht
noch eine Bitte um vorheriges Proklam verbunden sein , doch wie wir
gesehen haben, ist ein solches eventuell nicht erforderlich; wo aber
darum nicht gebeten wird . obgleich es erforderlich ist, erläßt das Ge-
richt ein solches von Amts wegen2) (hierüber Näheres unten).
Im Gegensatz zum russischen Verfahren wird das Ersuchen
des Gerichts um Feststellung der Rechte der Antragsteller in
der Regel nicht mit dieser direkten Bitte eingeleitet werden.
Personen, die einen solchen Antrag beabsichtigen, die aber das
erwähnte Ehrenfriedensrichterattest nicht zur Verfügung haben,
werden das Gericht vor allem um ein Proklam ersuchen. In
diesem Falle sind die Gebühren hierfür im voraus zu entrichten3);
sie betrugen vor dem Kriege laut Z.V.O. 857, Anmerkung —
4 Rbl. 50 Kop. für dreimaligen Abdruck in der Senatszeitung.
§ 37. Das Nachlaßproklam.
I. Wie bereits mehrfach erwähnt, ist dem baltischen Recht
das deutschrechtliche Nachlaßproklam mit Präklusivwirkung4)
bekannt. Ja, dasselbe steht sozusagen im Zentrum des un-
streitigen Nachlaß Verfahrens. Zwar kannte das alte baltische
Recht ein zwiefaches Aufgebot: ein solches zur Ermittlung der
Erben und ein solches zur Feststellung der Gläubiger und da-
mit des Betrages der Erbschaft 5) ; zwar auch sind diese zwei
*) Vgl. oben S.(I) 308 f.
2) Vgl. Z.V.O. 2012.
3) Vgl. Z.V.O. 2071.
4) Vgl. oben S. (I) 276.
5) Vgl. die oben S. 332. N. 4 zitierte Bestimmung der Rigaer Vor-
münderordnung von 1591, daselbst Statuta der Stadt Riga. Vgl. eben-
falls Nielsen a. a. O. §§ 379 u. 436; v. Samson a. a. O. §§ 70—76 u.
93 u. 94; Bunge, Privatrecht II, § 399.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 369
verschiedenen Bestandteile nunmehr in ein und demselben Auf-
gebot verschmolzen *), doch hat heute das Aufgebots verfahren
nicht, wie es folgerichtig gewesen wäre, im Sicherstellungs-
und im Erbenbestätigungsverfahren einen Platz gefunden,
sondern es ist prozessual als Bestandteil ausschließlich dem
letzteren Verfahren zugewiesen worden. Allerdings dient mate-
riell auch heute das Aufgebot sowohl der einen als der anderen
Feststellung.
Die Bestimmungen der russischen Z.V.O. über das baltische
Aufgebotsverfahren stützen sich auf das materielle Pr.R., wie
es bereits , vor dem Jahre 1889 bestand; das in den vorge-
schriebenen Fällen einzuschlagende Verfahren aber ist in der
Hauptsache der deutschen Z.P.O. nachgebildet, wovon man sich
leicht durch einen Vergleich überzeugen kann2) (Z.V.O. 2011
bis 2014, 2054-2071, 2079-2080 und Z.P.O. 946—959 und
989 — 1000). Es lag die Benutzung dieses Vorbilds auch in-
sofern nahe, als die Z.P.O. eine Fortbildung des auf deutsch-
rechtlicher Grundlage entstandenen gemeinrechtlichen Ver-
fahrens bietet und auch der baltische Zivilprozeß im weiteren
Sinn in der Hauptsache auf gemeinrechtlicher Basis beruht.
Das in solcher Weise aus der deutschen Z.P.O. geschöpfte
Verfahren wurde nun in seiner materiellen Grundlage an das
baltische Recht angepaßt, in prozessualer Hinsicht aber auf
die russische Nachlaß Verhandlung zugeschnitten, wobei man
übrigens offenbar das Bestreben gehabt hat, auch dem her-
kömmlichen baltischen Verfahren gerecht zu werden3).
IL Nach heutigem Rechte ist für den Erlaß des Auf-
gebots stets das Nachlaßverhandlungsgericht, d. h. je nach der
») Z.V.O. 2012 u. 2079. Vgl. Erdmann, System III, S. 408 ff.
2) Vgl. z. B. auch den Hinweis in den Motiven bei Gaßmann
und Nolcken zu 330 (2067).
3) Vgl. hierüber O. Schmidt, Zivilproz., S. 7—8. Prof. Schmidt
ging so weit, daß er der deutschen Z.PO, aus dem gen. Grunde noch
bis zur Justizreform maßgebenden Einfluß auf die Ausbildung des balt.
Prozeßrechts zuerkannte. Vgl. auch Bunge, Entwurf, §§ 645—670.
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. XXXIX. Band. 24
370 Tatarin.
Beschaffenheit und dem Wert des Nachlasses das Bezirksgericht
oder der Friedensrichter zuständig1).
III. Ein Aufgebot findet in folgenden Fällen statt:
1. wenn die Erben unbekannt sind, oder wenn es nicht sicher
bekannt ist, ob diejenigen, die sich als Erben gemeldet haben,
die einzigen Erben und die Nächstberechtigten sind ; 2. wenn
äich die Erben die Erbschaft nur mit dem beneficium inventarii
anzutreten bereit erklärt haben; 3. wenn den Erben, den Te-
stamentsvollstreckern oder dem Nachlaßkurator die Nachlaß-
schulden nicht bekannt sind2). — Diese Fälle lassen sich in
der Weise zusammenfassen, daß ein Aufgebot stattfindet, wenn
entweder die Erben oder die Nachlaßschulden unbekannt sind,
denn Punkt 2 wie auch 3 hat die Feststellung der Schulden
im Auge.
IV. Das Aufgebot wird auf Antrag oder von Amts wegen
erlassen 3).
a) Berechtigt, das Aufgebot zu beantragen, sind sämtliche
Erbschaftsinteressenten (Erben, Legatare, Gläubiger), der Nach-
laßkurator4) und der Testamentsvollstrecker5).
Ueber die Form des Antrags vgl. Z.V.O. 2057. Besonders zu er-
wähnen ist, daß dem Gericht diejenigen an der Sache interessierten
Personen anzugeben sind, welche dem Antragsteller bekannt sind, denn
dieselben müssen, ebenso wie auch die dem Gericht bekannten Personen,
unabhängig vom öffentlichen Aufgebot durch persönliche Ladung be-
nachrichtigt werden6).
b) Von Amts wegen erläßt das Aufgebot stets das Nach-
laßverhandlungsgericht 7), doch ist auch der Friedensrichter als
*) Pr.R. 2011.
2) Z.V.O. 2012.
3) Pr.R. 2597 u. Z.V.O. 2012.
4) Pr.R. 2597, 2651 u. 2652. Der Kurator ist im baltischen ebenso
wie im gemeinen Rechte [vgl. oben S. (I) 278] verpflichtet, sowohl die Erben
zu ermitteln als den Nachlaßbestand festzustellen. Hierzu hat er bei
Gericht ein Proklam zu beantragen.
5) Z.V.O. 2013, S. 1.
6) Vgl. Z.V.O. 2064.
7) Z.V.O. 2011 u. 2012 a. A.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 371
Sicherstellungsgericht, wenn er nicht zugleich Verhandlungs-
gericht ist, in den erforderlichen Fällen berechtigt, das Verhand-
lungsgericht zum Erlaß des Aufgebots aufzufordern. Seine Auf-
forderung ist für dieses verbindlich, da hier die Entscheidung über
die Notwendigkeit des Aufgebots dem Friedensrichter zusteht1).
V. Das Aufgebot erfolgt durch Bekanntmachung in der
Senatszeitung und der örtlichen Gouvernementszeitung, und zwar durch
dreimaligen Abdruck 2). Außerdem erfolgt Aushängung im Gericht und
auf der Börse. Die Bekanntmachung muß die Angabe enthalten, daß
alle, die als Erben, Gläubiger usw. irgendwelche Rechte auf den Nachlaß
haben, im Falle, daß sie ihre Rechte und Einwendungen nicht binnen
der Proklamsfrist anmelden , als dieser Rechte und Einwendungen ver-
lustig angesehen werden sollen3). Außerdem muß sie die nähere Be-
zeichnung der Personen des Antragstellers und der Nachlaßsache ent-
halten4). Die Proklamsfrist hängt nach der Bestimmung des Gesetzes
vom Ermessen des Gerichts ab, doch darf dieselbe nicht weniger als
6 Monate und nicht mehr als Jahr und Tag betragen , wobei sie vom
Tage des dritten Abdrucks der Bekanntmachung in der Senatszeitung
berechnet wird. Nach der Praxis der reformierten Gerichte war in letzter
Zeit die altlivländische Frist von Jahr und Tag5) ganz außer Gebrauch
gekommen, sondern stets eine Frist von 6 Monaten üblich.
*) Z.V.O. 2013, S. 2. Die Uebersetzung von Nolcken (276) ist
hier falsch. Im russischen Urtexte heißt es: „Wenn der Friedensrichter
Maßregeln zur Sicherstellung eines Nachlasses, für den er nicht zuständig
ist (§ 2011), ergreift, so benachrichtigt er von der Notwendigkeit, ein
Proklam zu erlassen, das zuständige Gericht", nicht aber, wie Nolcken
übersetzt: „Der Friedensrichter teilt . . . falls nötig, dem zuständigen
Gerichte mit, daß ein Nachlaßproklam erlassen ist." Außerdem geht
dieses ganz klar aus den Motiven zu 277 hervor. Es heißt da: „Außer-
dem muß auch der Friedensrichter, der Maßregeln zum Schutz eines
seine Kompetenz übersteigenden Nachlasses ergreift, und der es für
notwendig erachtet, die Erben vorzuladen, das Recht haben, solches
demjenigen Gericht, das zum Erlassen der Vorladung befugt ist, mitzu-
teilen, sonst könnte er, wenn die interessierten Personen, die darum
nachsuchen können, abwesend sind, die ihm auferlegte Pflicht, die Erben
vorzuladen, nicht erfüllen."
2) Z.V.O. 2062, 295 u. 297.
3) Z.V.O. 2079.
4) Z.V.O. 2060.
5) Vgl. v. S a m s o n a. a. O. § 70 ; E r d m a n n , System III, S. 410, N. 2.
372 Tatarin.
VI. Aus den dargelegten, allgemein sowohl auf die Erben —
als auf die Nacblaßermittlung zugeschnittenen Bestimmungen
des neueren baltischen Rechts ergibt sich irisbesondere für die
von uns hier naher zu betrachtende Nachlaßverhandlung folgende
Nutzanwendung.
Wie wir bereits gesehen haben , werden die ihre Be-
stätigung im Erbrechte beantragenden Erben schon in allen
jenen Fällen um ein Proklam bitten, wo sie nicht imstande
sind, zu beweisen, daß sie die einzigen Erben und keine näher
Berechtigten vorhanden sind. Sie werden es aber nicht nur
in diesem Falle tun, sondern vor allem auch, wenn sie effektiv
nicht wissen, ob nicht vielleicht andere die Erbschaft bean-
spruchen könnten. Beantragen sie aber die Bestätigung, ohne
zu behaupten und ohne beweisen zu können, daß sie die ein-
zigen und Nächstberechtigten sind, und unterlassen sie trotz-
dem die Bitte um ein Proklam, so wird das Gericht von Amts
wegen ein solches erlassen, denn ohne dasselbe kann das Ge-
richt seinen Bestätigungsbeschluß nicht fällen. — Aber auch
in dem Falle wird der Erbschaftsprätendent ein Proklam be-
antragen, wenn er sich erst schlüssig werden will, ob er den
Nachlaß antreten soll1). Hier handelt es sich zwar für ihn
um Feststellung der Schulden, aber auch dieses Aufgebot steht
letzten Endes im Dienste der Feststellung des rechten Erben,
da nur derjenige Erbe wird, der die Annahme der Erbschaft
erklärt hat. — Ebenfalls, wenn er von vornherein die Erb-
schaft nur mit dem beneficium inventarii anzutreten bereit ist,
muß der Erbe um ein Proklam bitten 3), widrigenfalls das Ge-
richt ein solches von Amts wegen erläßt. — Der Erbe, der
eine Anerkennung seines Erbrechts durch das Gericht anstrebt,
wird aber in vielen Fällen, wenn er diesem Gedanken näher-
x) Pr.R. 2633 und Z.V.O. 2012, Pt. 4.
2) Z.V.O. 2012, Pt. 3, 2015 n. 2018.
3) Wie oben bereits erwähnt, bilden Ueberlegungsrecht und Wohltat
des Inventars nebeneinander eigentlich ein Supeifluum, aber das baltische
Pr.R. kennt sie nun einmal, wie auch das spätrömische, nebeneinander.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 373
tritt, bereits ein erlassenes Aufgebot vorfinden, sind doch, wie
wir gesehen haben, in vielen Fällen auch andere Personen:
Kuratoren, Testamentsexekutoren, Legatare, Gläubiger, ja das
Gericht selber zum Teil berechtigt, zum Teil verpflichtet, ein
Proklam zu beantragen bzw. zu erlassen 1). Hier wird der
Erbe zunächst vom laufenden Proklam Notiz nehmen, dasselbe
zu Ueberlegungszwecken ausnutzen, um sich über den Stand
des Nachlaßvermögens Klarheit zu verschaffen und dann vor
Ablauf des Proklams zusammen mit seiner Annahmeerklärung
den Antrag auf Bestätigung im Erbrechte stellen.
Vielfach wird das vorliegende, von anderer Seite aus-
gehende Aufgebot allerdings der Feststellung der Nachlaß-
masse dienen. Logischerweise hätte ein solches Aufgebot in
das Sicherstellungsverfahren gehört. Da nun das Gesetz aber
durch den vorgeschriebenen Text des Aufgebots beide Zwecke
vereint, so war es vielleicht konsequent, im Interesse der Ein-
heitlichkeit der Meldungen das Aufgebotsverfahren in eine
Hand zu legen 2).
VII. Binnen der Aufgebotsfrist haben sich nun alle die-
jenigen Personen , die irgendein Recht auf den Nachlaß oder
irgendwelche Forderungen an denselben zu haben glauben3),
zu melden. Hierzu gehören: gleich oder besser Berechtigte
als die bisher bekannten Erben; Erben oder Legatare, die
ihre Ansprüche aus einem bisher unbekannten Testament her-
leiten; Nachlaßgläu biger usw. Sicher aber nicht Vindikanten,
die ein Eigentumsrecht an einzelnen Gegenständen, die bisher
zum Nachlaß gerechnet wurden, geltend machen, denn diese
behaupten ja kein Recht auf den Nachlaß — sie bestreiten viel-
mehr, daß ihr fälschlich mit einbezogenes Eigentum zum Nach-
laß gehöre : für deren rei vindicatio (nicht hereditatis petitio)
kann nur die gewöhnliche Verjährungsfrist gelten. Desgleichen
sind von der Verpflichtung, ihren Anspruch anzumelden, be-
') Vgl. oben S. 357 f.
2) Vgl. oben S. 358.
3) Vgl. Z.V.O. 2079.
374 Tatarin.
sonders ausgenommen: 1. Gläubiger, deren Forderungen in das
Grundbuch eingetragen sind, mit Ausnahme jedoch der Zinsen
und sonstigen Nebenforderungen, da von diesen, im Gegensatz
zu den eingetragenen Hypotheken selbst, nicht zu präsumieren
ist, daß sie nicht bezahlt seien; 2. die noch vor der Publi-
kation des Aufgebots dem Gerichte angemeldeten Ansprüche,
z. B. der Anspruch des Erben, der das ganze Verfahren ein-
geleitet hat, oder des Gläubigers, der um das Aufgebot ge-
beten hatte; man wird sich hier wohl der Interpretation des
Senats anschließen dürfen, daß es nicht notwendig ist, daß
diese Ansprüche demselben Nachlaß Verhandlungsgericht ge-
meldet waren — die Meldung kann z. B. dem Sicherstellungs-
gericht oder dem Prozeßgerichte gegenüber im Zusammenhang
mit einem in demselben schwebenden Prozesse erfolgt sein 1). —
3. Ebenfalls bedarf es wohl keiner speziellen gerichtlichen An-
meldung bei Forderungen, die allen Erben bekannt sind, so
nach der Anschauung des Senats bei gerichtlich zugesprochenen
Forderungen, falls auf Grund derselben Nachlaß vermögen ge-
pfändet worden ist, sollte es sich auch um Urteile ganz anderer
Gerichte handeln 2) — solche Ansprüche können den Erben
nicht unbekannt geblieben sein. Ueber diesen Fall schweigt
zwar das Gesetz, doch ist jedenfalls Zweck des Aufgebots die
Ermittlung unbekannter Forderungen; daher ist der ausge-
sprochene Satz eigentlich selbstverständlich. Immerhin wird
man sagen müssen, daß es für solche Gläubiger gefahrlich sein
kann, ihre Forderungen ungemeldet zu lassen, da ihnen hier
der Nachweis schwer fallen kann, daß ihr Anspruch allen
Erben bekannt geworden ist. Man wird es aus diesem Grunde
aber auch für genügend ansehen dürfen, wenn die betreffenden
Ansprüche nicht direkt bei Gericht, sondern beim Kurator
gemeldet werden, falls dieser es kraft seines Amtes nur über-
nimmt, von den Forderungen dem Gerichte Mitteilung zu
J) Vgl. Sen.Beschl. 1907/5274 in Sachen Kühn., zitiert bei Bukowsky,
Balt, Zivilgesetze, S. 766.
*) Vgl. Sen.E. 1897/10 in Sachen von Witte. Bukowsky a.a.O.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 375
machen. Letztere dürfte allerdings notwendig sein, da für die
Erben nur diejenigen Forderungen verbindlich sind, die im
Präklusionsbeschluß vom Gerichte als rechtzeitig gemeldet auf-
geführt werden, oder von denen bewiesen werden kann, daß
sie den Erben bekannt sind1).
VIII. Besondere Vorschriften enthält das Pr.R. bezüglich
der Erbschaftsklage. Von dieser heißt es, daß sie, wenn
ein Proklam erlassen war, „im Laufe der Proklamsfrist ange-
stellt werden" muß 2), es sei denn, daß der Kläger beweisen
kann, daß er von dem Proklam keine oder nur verspätete
Kunde hatte, wobei ihm dann eine längere Frist zustatten kommt;
diese beträgt für Liv- und Estland sowie für die kurländischen
Städte Mitau, Bauske und Friedrichstadt — Jahr und Tag von
der Zeit an gerechnet, wo der Kläger von der Eröffnung der
Erbschaft Kenntnis erhalten hat, für den übrigen Teil von
Kurland 5 Jahr von der Eröffnung der Erbschaft an 3). Ist in
den erstgenannten Gebieten der Nachweis einer früheren
Kenntnis des Berechtigten vom Erbanfall nicht zu erbringen,
so gilt die allgemeine Verjährungsfrist von 10 Jahren (bzw.
für die drei genannten Städte von 5 Jahren)4) von der Er-
öffnung der Erbschaft an 5). Nun weist Erdmann aber ganz
*) Jedenfalls aber wird weder das Gericht noch die Erben diese
Forderungen als ausgeschlossen ansehen dürfen, falls sie dem Gerichte
nicht von den Gläubigern direkt, sondern durch Vermittlung des Kurators
mitgeteilt worden sind.
2) Pr.B. 2619.
3) Ganz richtig faßt wohl Erdmann diesen Ausdruck so auf, daß
der Berechtigte von der Eröffnung der Erbschaft für ihn, nicht nur
vom Tode des Erblassers Kenntnis haben muß. Die gegenteilige Meinung
Lutz aus ist wohl nicht zu billigen. Vgl. Bukowsky (Kodex, S. 997, a)
und Pr.R. 2630.
4) So — richtig R. Seraphim a. a. 0. S. 198, wohl nicht zutref-
fend — Erdmann, System III, S. 444.
5) Pr.R. 2619 u. 2620, vgl. Erdmann, System III. S. 444. — Ist
jedoch das Proklam erst nach Ablauf der allgemeinen Verjährungsfrist
von 10 (in Kurland 5) Jahren erlassen worden, so muß die Erbschafts-
klage eo ipso während der Aufgebotsfrist erhoben werden, und eine
376 Tatarin.
richtig darauf hin, daß, auch wenn der zur Klage Berechtigte
Tom Proklam wußte, er gewöhnlich weder die Möglichkeit ge-
habt haben wird, noch in die Lage gekommen sein wird, die
Erbschaftsklage innerhalb der Proklamsfrist zu erheben, da die
Voraussetzungen für dieselbe noch gar nicht gegeben waren:
nach dem Pr.R. ist es erforderlich, daß der Beklagte das Erb-
recht des Klägers bestreitet und ihm den Erbschaftsbesitz vor-
enthält *) — vielfach wird dieser Zustand aber erst während
des laufenden Proklams oder gar nach Ablauf desselben ent-
standen sein; liegen aber die faktischen Voraussetzungen be-
reits während des Proklams vor, so verlieren sie doch jede
Rechtswirkung und wird die hereditatis petitio ganz gegen-
standslos, wenn der präsumtive Beklagte sich während des
Proklams nicht meldet: hier wird dann der Kläger sich auf
andere Maßnahmen — eventuell auf die rei vindicatio — be-
schränken können. Daher nimmt Erdmann und mit ihm die
Judikatur2) an, daß das Pr.R., wenn es „ Anstellung" der Erb-
schaftsklage während der Proklamsfrist verlangt, offenbar An-
meldung der Erbansprüche mit der hereditatis petitio ver-
wechselt: der Ausdruck „ Anstellung" der Klage kann nur so
ausgelegt werden, daß eine Anmeldung des Anspruchs des
Berechtigten während der Frist für die Erhebung der Klage
Vorbedingung ist. Erfolgt eine solche Anmeldung nicht, so
wird der zur Erbschaftsklage Berechtigte mit seinem Anspruch
präkludiert. Kann er nun beweisen, daß er ohne seine Schuld
vom Proklam keine Kenntnis gehabt hat, so stehen ihm die
obengenannten längeren Fristen für die Erbschaftsklage zu,
er muß aber für diese vor allem die Folgen der ergangenen
Entschuldigung mit Unkenntnis gibt es hier nicht (Entsch. des Peters-
burger Appellhofs vom 4. Februar 1914 in Sachen Siegert — zitiert bei
Bukowsky, Kodex, S. 996.
J) Pr.R. 2600, vgl. Erdmann, Erbschaftsklage, S. 262.
2) Vgl. Erdmann, Erbschaftsklage, a. a. 0. S. 270—271; desgl.
Er d mann, System III, S. 445. Sehr zutreffend motiviert ist die dar-
gelegte Anschauung auch in der Sen.E. 1911/60.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 377
Präklusion beseitigen. Ueber die hierzu vorausgesehenen Mittel
Näheres unten 1).
IX. Ist nun die Aufgebotsfrist abgelaufen, so erläßt das
Gericht auf Antrag oder nach eigenem Ermessen einen Be-
schluß, daß alle während der Frist nicht angemeldeten Rechte
als erloschen anzusehen sind. Die Antragsteller haben hierbei
die Beweise über den Ablauf der Proklamsfrist beizubringen2).
Von Amts wegen erläßt es diesen Beschluß, falls auch das
Aufgebot von Amts wegen ergangen war; zum Antrag sind
nach dem wörtlichen Gesetzestext3) nur diejenigen berechtigt,
die ursprünglich das Aufgebot beantragt hatten.
Ob diese Bestimmung ganz zweckmäßig ist, mag dahingestellt sein:
es kann z. B. der ur.-prüngliche Antragsteller, der sich in Anbetracht der
angemeldeten Passiva entschlossen hat, die Erbschaft nicht anzutreten,
oder der kein Interesse an schneller Erledigung hat, die Sache einfach
liegen lassen, während andere Erbschaftsinteressenten (Miterben, Lega-
tare usw.) oder der Kurator eine baldige Erledigung und Klarstellung
wünschen. Es dürfte hier kaum berechtigt sein, letzteren, wenn sie auch
von sich aus ein Aufgebot beantragen durften, nur deswegen die obige
Möglichkeit zu nehmen, weil der Antragsteller ihnen ursprünglich zuvor-
gekommen war. Aus diesem Grund wäre eine Interpretation des § 2006 Z. V.O.
naheliegend, durch welche als Antragsteller alle angesehen würden,
denen das Antragsrecht auf Erlaß des Proklams an sich zusteht. Der
Gesetzgeber ist hier, wie aus den Mo'iven4) ersichtlich, von ganz falschen
Voraussetzungen ausgegangen. Er hat auf das Aufgebotsverfahren, das
doch ein Verwaltungsverfahren darstellt, die strengen Grundsätze der
Verhandlungsmaxime des ordentlichen Prozeßverfahrens anwenden zu
müssen geglaubt — die Sache sollte »nur auf Antrag der Parteien an-
beraumt" werden5). Es entspringt dieses der oben bereits geschilderten
russischen irrigen Anschauung vom unstreitigen Nachlaß verfahren als
1) S. 380 ff.
2) Vgl. das oben in Anlaß des russischen Verfahrens S. (I) 308 Ge-
sagte. Vgl. hierzu auch G aß mann und No Ick en, Motive zu 329/2066).
3) Z V.O. 2066.
A) Vgl. Gaßmann und Nolcken zu 329 (2066).
5) Bunge in seinem Entwurf einer Ordnung des ger. Verf. in
Zivilrechtssachen, § 658, räumte wenigstens dem Kurator eo ipso das ge-
schilderte Antragsrecht ein.
378 Tatarin.
einer Abart der richterlichen Tätigkeit des Prozeßgerichts 2). — Ist übrigens
der Antrag auf Erlaß des Präklusionsbeschlusses 6 Monate nach Ablauf
der Proklamsl'rist nicht gestellt worden, so ist das Gericht berechtigt
das ganze Verfahren einzustellen; zur Herbeiführung eines Präklusionf-
beschlusses ist dann ein neues Aufgebot erforderlich2).
Als rechtzeitig werden diejenigen Meldungen angesehen,
die zwar nach Ablauf der Proklamsfrist, jedoch vor Erlaß des
Präklusionsbeschlusses erfolgt sind 3), sie sind daher in die Auf-
zählung der nichterloschenen Rechte, Forderungen und Ein-
wendungen aufzunehmen, die jedes Ausschlußurteil (Präklusions-
beschluß) enthalten muß 4).
Eine Entscheidung über den Rechtsstreit, der
möglicherweise in der Anmeldung einander ausschließender
Rechte, zweifelhafter Forderungen, oder in geltendgemachten
Einwendungen liegen kann, gehört nicht ins Aufgebotsverfahren ;
daher verweist das Gericht solche Rechtsstreitigkeiten stets
auf den Klage weg — das Aufgebots verfahren ist ein un-
streitiges und beschränkt sich auf die Feststellung, daß keine
1) Der weitere Satz des §2066 Z.V.O.: „Vor Erlaß dieses Bescheids
kann das Gericht, falls nötig, dem Antragsteller eine Frist bestimmen,
damit er zur Erhärtung seines Gesuches ergänzende Beweise beibringe"
dürfte kaum auf das von uns zu untersuchende Nachlaßproklamverfahren
Anwendung finden, sondern, da er in allgemeiner Weise auf alle Arten von
Aufgeboten gemünzt ist, in erster Linie für andere Arten desselben in Be-
tracht kommen. Auch im unstreitigen Nach laß verfahren wird das Gericht
oft von Amts wegen ergänzende Beweise verlangen; aber dieser wird e*
für den Bestätigungsbeschluß, nicht für den Präklusionsbeschluß bedürfen.
2) Z.V.O. 2067. Das Gericht ist aber, wie ich in meiner Praxi«
beim Petersburger Appellhof in Sachen Sybin durchgefochten habe, nicht
berechtigt, das Verfahren niederzuschlagen, falls die 6 Monate zwar ab-
gelaufen sind, aber der Präklusionsantrag eingelaufen ist, bevor das
Gericht dazu gekommen war, das Verfahren einzustellen. Vgl. Motive
bei Gaßmann und Nolcken zu 330 (2077).
3) Vgl. den hiermit auch schon vor der Justizreform übereinstim-
menden Standpunkt der Gerichte: Präjudikate des Rig. Rats betr. d.
Zivilproz. II, 482.
4) Vgl. Sen.E. 1902/63 in Sachen ürbanowitsch (zitiert bei By-
kowßky. Zivilgesetze, S. 765).
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 379
Rechte außer den angemeldeten bestehen. Das Ausschluß urteil
ist negativen Charakters : es sagt nur, daß die nichtgemeldeten
Ansprüche als nicht existierend anzusehen sind, nicht — daß
die gemeldeten wirklich zu Recht bestehen *).
X. Ausnahmsweise kann das Aufgebots verfahren auch bis
zur Entscheidung des Rechtsstreits ausgesetzt werden
oder ganz eingestellt werden.
Das ist der Fall, wenn der während der Proklamsfrist geltend ge-
machte Rechtsstreit, wie das Gesetz sich ausdrückt, die Entscheidung in
dem Aufgebotsverfahren beeinflussen kann oder die Möglichkeit der Fort-
setzung dieses Verfahrens ausschließt2). Diese Vorschrift, die für alle
Aufgebotsarten aufgestellt ist, wird für das Nachlaßproklam wohl nur
ausnahmsweise in Betracht kommen , denn man wird sich hier schwer
Fälle vorstellen können , in denen ein geltendgemachter Rechtsstreit die
Entscheidung gerade im Aufgebotsverfahren beeinflussen oder dessen
Fortsetzung ausschließen könnte3). Ein solcher Fall dürfte etwa vor-
liegen, wenn bei der Intestaterbfolge während des Proklams ein Testa-
ment vorgelegt wird, das doch ein ganz anders geartetes Aufgebot ver-
langt und das Antragsrecht des ursprünglichen Antragstellers überhaupt
aufhebt4). Gewöhnlich wird man aber eine solche Einstellungsnotwendig-
keit nur annehmen, wenn man das Aufgebotsverfahren, das doch einen
Bestandteil des unstreitigen Nachlaßverfahrens bildet, mit diesem in toto
verwechselt, denn nur von einer Aussetzung dieses letzteren kann ge-
wöhnlich die Rede sein. Das Aufgebotsverfahren dagegen schließt stets
mit der bloßen Feststellung der rechtzeitigen Meldung bestimmter An-
sprüche; wird durch die Meldung das von dem Antragsteller zur Be-
1) Z.V.O.2065, S. 1, vgl. Motive bei Gaßmannu. Nolcken zu 32S.
2) Z.V.O. 2065, S. 2.
3) Vgl. die Ausführung des Senats in der Entsch. 1907/33 in Sachen
Kurrikow (bei Bukowsky, Bali Ziv.Ges., S. 764).
4) Auch beim Testamentsaufgebot nach Pr R. 2452 und Z.V.O. 1907
wäre eine Einstellung dieses Aufgebots erforderlich im Falle der Ver-
weigerung der Anerkennung der Rechtskraft des Testaments, weil damit
ja das Aufgebot durch Fortfall des Testaments, als seiner Grundlage,
gegenstandslos geworden ist. Ist aber zugleich mit dem Testaments-
aufgebot ein gewöhnliches Nachlaßaufgebot ergangen, so ist hier der
Präklusionsbeschluß zu fällen, da die hier gemeldeten Ansprüche (etwa
die der Gläubiger) sowohl für die testamentarische als für die Intestat-
erbfolge in Betracht kommen.
380 Tatarin.
gründung des Aritrags behauptete Recht bestritten, so ist, unter Aus-
schließung der nichtgemeldeten, das angemeldete Recht vorzubehalten 1).
XL Alle Beschlüsse und Verfügungen des Gerichts im
Aufgebotsverfahren unterliegen auf allgemeiner Grundlage der
Beschwerde 2).
XII. Oben streiften wir bereits die Frage, wie sich der
mit seinen Rechten Ausgeschlossene gegen den ihn be-
nachteiligenden Präklusionsbeschluß seh ützen könne.
Das Gesetz gewährt ihm einen doppelten Schutz: die dem
deutschen Aufgebotsverfahren hier unbekannte3) Beschwerde
und eine Anfechtungsklage.
a) Die Beschwerde ist zulässig4): 1. wenn das Auf-
gebotsverfahren in einem im Gesetze nicht ausdrücklich an-
gegebenen Falle eröffnet worden ist, 2. wenn die Bekannt-
machungen nicht den vorgeschriebenen Inhalt5) hatten und nicht
J) Von der Richtigkeit dieser Auffassung überzeugt ein Vergleich
mit dem dem § 2065 Z.V.O. fraglos zugrunde liegenden § 953 der deutschen
Z.P.O. und den auf Grund derselben ergangenen Entscheidungen des
R G. 67, 59 u. 67, W, welch letztere für die Anwendung der Aussetzung
Fälle anführt, die entweder auf anderen Gebieten des Aufgebotsverfahrens
liegen, oder bei denen überhaupt die Zulässigkeit des betr. Aufgebots in
Frage gestellt wird — so wenn ein angeblicher Erbe ein Nachlaß-
gläubigeraufgebot veranlaßt hat und es sich nachher erweist, d<Q er gar
nicht Erbe ist. — In bezug auf den in den Motiven zu Z.V.O. 2065
genannten zweiten Fall — eine Leugnung der Gültigkeit des Testaments
durch die erschienenen Erben — muß aber überhaupt der Zweifel ent-
stehen, ob dieser Fall zu einer Einstellung oder Aussetzung des Auf-
gebotsverfahrens Anlaß geben darf. M. E. ist hier vielmehr die Prä-
klusion auszusprechen und dem erschienenen Intestaterben seine Ein-
wendung gegen das Testament als rechtzeitig erfolgt vorzubehalten (vgl.
Gaßmann und Nolcken zu 2065). Die Anziehung dieses Beispiels
legt den Gedanken nahe, daß bei Entwurf des § 2065 gerade jene Ver-
wechslung des Aufgebots mit dem Verfahren, in d-ssen Anlaß das Auf-
gebot erfolgt, stattgefunden hat, von der oben im Text die Rede ist.
2) Z.V.O. 2068, vgl. oben S. (I) 322.
*) Vgl. Z.P.O. 957, Abs. 1.
4) Z.V.O. 2068.
:i Z.V.O. 2060.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 381
in den vorgeschriebenen Blättern erfolgt waren, 3. wenn die
an der Sache interessierten, vom Antragsteller gemäß Z.V.O. 2057,
Punkt 3 anzugebenden Personen nicht durch besondere Ladung
benachrichtigt worden waren1), 4. die vorgeschriebenen Pro-
*) So und nicht anders ist wohl der Hinweis des § 2068 auf 2063
zu verstehen, obgleich man zugeben muß, daß der wörtliche Text dieser
Paragraphen etwas anderes zu sagen scheint. Rein formell genommen
läßt Pt. 2 des § 2068 eine Beschwerde zu, wenn die im Artikel 2063
dargelegte Vorschrift hinsichtlich des Inhalts der Bekanntmachungen und
der Art ihrer Publikation verletzt worden ist, § 2063 aber besagt, daß
die an der Sache interessierten Personen, welche von dem Antragsteller
angegeben sind, besonders zu laden sind (hiermit sind fraglos die Per-
sonen gemeint, die laut § 2057, Pt 3 im Aulgebotsantrag angegeben sein
müssen). Der offenbare Fehler in der Ausdrucksweise des Gesetzes liegt
nur darin, daß § 2068 sich nur auf den § 2063 beruft, ohne das von ihm
Gemeinte näher auszuführen. So kommt es, daß bei streng wörtlicher
Auffassung der § 2068, Pt. 2 nur den Fall zu treffen scheint, wo die
vom Antragsteller genannten Interessenten nicht zitiert worden sind;
während er offenbar nicht nur diesen Fall im Auge haben wollte, sondern
vor allem den, daß Personen, die der Antragsteller zwar nicht genannt
hat, aber hätte nennen müssen, nicht besonders vorgeladen worden sind.
Daß dieses die ratio legis ist, geht eigentlich klar aus den Motiven zu
2063 hervor. Hier heißt es: „Eine möglichst große Publizität der Be-
kanntmachungen über das Aufgebot ist erforderlich im Interesse der
Personen, deren Rechte durch das Aufgebotsverfahren verletzt werden
können, und im Interesse einer Hinderung des Antragstellers an der
Möglichkeit, eine solche Entscheidung zu erlangen, die nicht zustande
gekommen wäre, wenn die Interessenten vom Aufgebot Kenntnis erhalten
hätten. Aus demselben Grunde und in Anbetracht dessen, daß der Zweck
der Vorladung der ist, solche Interessenten zu ermitteln, die unbekannt
sind, ist es notwendig, daß die dem Antragsteller bekannten Personen
zur Geltendmachung ihrer Rechte, unabhängig von der Publikation, durch
besondere Zustellung vorgeladen werden." (Gaßmann und Nolcken
zu 326.) E3 ist danacli klar, daß § 2063 den Zweck verfolgt, die dem
Antragsteller bekannten Interessenten besonders zu laden, und nicht nur
die formelle Vorschrift geben soll, daß die von ihm Genannten besonders
vorgeladen werden sollen. So hat sich auch der Senat in seiner Ent-
scheidung 1909/44 gestellt. Allerdings ist diese bezüglich § 2069 ergangen
und bezieht sich somit nicht auf den Fall der Beschwerde, sondern auf
die Klage. Da aber 2069 die Klage in denselben Fällen zuläßt, in denen
nach 2068 eine Beschwerde möglich ist, so muß offenbar das gleiche in
382 Tatarin.
klamsfristen nicht eingehalten worden sind und 5. eine recht-
zeitige Meldung vom Gericht unberücksichtigt gelassen worden
ist. — Die Beschwerdefrist beträgt 1 Monat vom Tage der
Beschlußverkündung an.
b) Die Klage, die sich fast genau mit ihrem augen-
scheinlichen Vorbild — der deutschen Anfechtungsklage nach
Z.P.O. 957 — deckt, ist außer in den Fällen 1 — 5, in
welchen eine Beschwerde möglich ist, auch noch dann zu-
bezug auf die Beschwerde gelten, denn eine Möglichkeit, den erörterten
Fall unter einen der zwei Punkte zu bringen, die eine Klage vorsehen,
wo keine Beschwerde möglich ist, besteht nicht. Es liegt hier weder
eine Dokumentenfälschung vor, noch unwahre (der russische Text sagt
sogar wörtlich „ lügenhafte") Angaben im Aufgebotsantrag, denn man wird
schwerlich solche in einem bloßen Verschweigen sonstiger Interessenten
erblicken können, umso mehr, als eine solche Unwahrheit durch straf-
rechtliches Urteil festgestellt sein muß (vgl. § 2070). — Natürlich kommt
es in unserem Falle darauf an, ob der Beschwerdeführer unzweideutige
Beweise liefern kann, daß er dem Antragsteller bekannt war, denn ein
besonderes Beweisverfahren ist bei der Beschwerde unzulässig : käme es
auf ein solches heraus, wäre der Prozeß weg einzuschlagen. [Entgegen
den obigen Ausführungen hat übrigens der Petersburger Appellhof in
einer von mir vertretenen Rigaer Nachlaßsache Minus im Jahre 1912 eine
solche Beschwerde nicht zugelassen. Leider habe ich, trotzdem ich die
Entscheidungsgründe für nicht stichhaltig erachtete, die Sache aus
praktischen Rücksichten nicht vor den Senat bringen können.] Fraglich
könnte es ja natürlich sein, ob ein solcher am Verfahren bisher unbe-
teiligter Interessent in dasselbe als Beschwerdeführer einrücken kann,
und ob er nicht gezwungen wäre, den ihm nachteiligen Präklusions-
beschluß durch Anfechtungsklage zu beseitigen. Ich meine aber, daß
dieses Bedenken nicht stichhaltig ist, da die Praxis der russischen Ge-
richte im Baltikum nach russischem Muster die Anwendung der all-
gemeinen Prozeßvorschriften in subsidium auch auf das unstreitige Nach-
laßverfahren zuließ, und da das Eintrittsrecht dritter Personen in ein
Verfahren (dieser Eintritt deckt sich in der Hauptsache mit der deutschen
Nebenintervention) laut Z.V.O. 662—666 und den Sen.E.E. 1893/111 und
1908/84 ein recht weitgehendes ist. Auch wäre es sonst schwer erfindlich,
in welchen Fällen ohne einen solchen Eintritt eine Anwendung des
§ 2068, Pt. 3 bei Verstößen gegen § 2063 überhaupt in Betracht kommen
könnte. Denn auch wenn der Interessent dem Gerichte genannt war, so
war er dadurch noch nicht Teilnehmer des Verfahrens geworden.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 383
lässig, wenn 6. eine Fälschung in den bei Gericht beige-
brachten Dokumenten nachgewiesen worden ist oder 7. die im
Aufgebotsantrag gemachten Angaben sich als unwahr *) er-
wiesen haben 2). Die Klage ist binnen vier Monaten zu er-
heben; diese sind zu rechnen vom Tage, an welchem der
Kläger vom Ausschlußurteil Kenntnis erlangt hatte, oder an
dem das Urteil, durch welches (Fall 6) die Fälschung oder
Unwahrheit der gemachten Angaben (7) ausgesprochen worden
war, Rechtskraft erlangt hatte. Zuständig ist dasselbe Gericht,
<las über den Nachlaß verhandelte (nur eventuell, falls Prozesse
und Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit in diesem
Gericht getrennt sind, eine andere Abteilung). —
Es entsteht hier im Falle der Erbschaftsklage die Frage, ob der
mit seinem Anspruch infolge Nichtmeldung Präkludierte zuerst die Folgen
des Ausschlußurteils durch die Anfechtungsklage nach Z.V.O. 2069 zu be-
seitigen hat oder berechtigt bzw. gezwungen ist, sofort die Erbschafts-
klage zu erheben. An und für sich wird man sagen müssen, daß falls
eine Präklusion stattgefunden hat, der Erbschaftsklage ein Hindernis
entgegensteht und daher eine Möglichkeit zur Erhebung derselben binnen
der in den §§ 2619 und 2620 Pr.R. vorgesehenen Fristen erst vorliegt,
wenn das Urteil (bzw. der Beschluß) betreffend Aufhebung des Aus-
schlußurteils rechtskräftig geworden ist. Nach der deutschen Z.P.O.,
laut welcher die Klage des § 957 eine Gestaltungsklage und fraglos mit
der Erbschaftsklage nicht identisch ist, wird zweifellos dieses auch der
folgerichtige Standpunkt sein. Aus der Anmerkung zu Z.V.O. 2070 und
den Motiven zu 2069 ff. scheint aber hervorzugehen, daß nach Anschauung
des Gesetzgebers die in letzterem Paragraphen behandelte Klage, wenn es
sich um den Anspruch eines Erbprätendenten handelt, durch die Erb-
schaftsklage konsumiert wird3). Ob sich das rechtfertigen läßt, ist zweifel-
haft, denn erstens handelt es sich im ersten Falle um eine Leistungs-,
im zweiten um eine Gestaltungsklage4), zweitens wird es häufig einer
1) Die N o Ick en sehe Uebersetzung ist hier wiederum irrig, wenn
er statt „unwahr" „falsch" sagt. Das geht aus einem Vergleich mit
§ 2070 hervor. Im russischen Texte heißt es wörtlich „lügenhaft".
2) Z.V.O. 2069.
3) Vgl. G aß mann und Nolcken, Motive zu 333.
■*) Eine Unterscheidung, die allerdings weder in die russische Z.V.O.
noch in die baltische Praxis gedrungen ist.
384 Tatarin.
Erbschaftsklage nach Beseitigung des Ausschlußurteils gar nicht mehr
bedürfen, indem der Erbschaftsbesitzer den restituierten Ausgeschlossenen
ohne weiteres anerkennen wird, drittens aber erscheint eine Vereini-
gung der Erbschafts- mit der Anfechtungsklage aus praktischen Gründen
für den Präkludierten als lästig. Die letztere wird nämlich unter die-
jenigen Klagen zu rechnen sein, deren Klagesumme nach Z.V.O. 257, P. 3
einer Einschätzung nicht unterliegt, weswegen er zur Entrichtung der bei
größeren Nachlässen sehr beträchtlichen Klagegebühren erst bei Erhebung
der Erbschaftsklage gezwungen sein wird ; daß er diese Gebühr aber
gleich bezahlt, ohne vielleicht überhaupt zum Kern der Erbschaftsklage
zu gelangen, erscheint als ungerechtfenigt. — Als ein Hindernis für die
entwickelte Auffassung erweist sich nur die überaus kurze Verjährungs-
frist der Erbschaftsklage nach baltischem Recht, für die als Reg^l Jahr
und Tag vom Augenblick, wo der Berechtigte von der Erbschaftseröffnung
Kenntnis hatte, maßgebend ist. Entwickelt sich nämlich in Anlaß der
Anfechtungsklage ein mehr oder weniger komplizierter Rechtsstreit, so
kann die Erledigung dieser Vorklage unter Umständen, wenn die Sache
durch mehrere Instanzen geht, Jahr und Tag bei weitem übersteigen.
Man wird indessen annehmen dürfen, daß die Erbschaftsklage bis zur
Rechtskraft des Urteils über Aufhebung der Präklusion ruht, und daß
die Verjährungsfrist derselben erst zu laufen beginnt, wenn der Erb-
schaftsanspruch „dergestalt begründet ist, daß sofort geklagt werden
kann"1), was nicht der Fall ist, solange das Ausschlußurteil zu Recht
besteht. Es scheint mir, daß nur diese Auffassung dem Sinne der pro-
zessualen Einrichtungen und besonders der Wirkung des Ausschlußui teils
gerecht wird2).
Wie übrigens aus einem Vergleich derjenigen Fälle, wo
eine Beschwerde, mit denjenigen, wo eine Klage zulässig ist,
hervorgeht, wird als das normale Mittel zur Beseitigung der
Präklusion offenbar die Beschwerde angesehen. Die Frist
1) Pr.R. 2623.
2) In Deutschland sind alle diese Fragen viel weniger akut, da die
deutsche Erbschaltsklage einer 30jährigen Verjährungsfrist unterworfen
ist und dalier der Klageberechtigte bei vorheriger Erhebung der An-
fechtungsklage nicht Gefahr läuft, daß ihm erstere inzwischen verjährt.
Im baltischen Rechte aber steht der im Texte dargelegten Auffassung
scheinbar die kategorische Bestimmung der §§ 2619 u. 2620 entgegen,
daß die kurze Verjährungsfrist der Erbschaftsklage von der Zeit an
gerechnet wird, wo der Berechtigte von der Eröffnung der Erbschaft
Kenntnis erhalten hatte.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 385
für dieselbe zählt vom Präklusionsbesclilusse an, während die
Klage, für die die Kenntnisnahme vom Beschlüsse maßgebend
ist, offenbar nur dort an die Stelle der Beschwerde treten soll,
wo die Beschwerde bereits verjährt ist.
XIII. Der im unstreitigen Nachlaßverfahren eine wichtige
Rolle spielende Präklusionsbeschluß ergeht in praxi gewöhnlich
zusammen mit dem Bestätigungsurteil.
Ist die Aufgebotsfrist abgelaufen, so bittet in der Regel der An-
tragsteller das Gericht, zugleich mit dem Ausschluß aller nichtgemel-
deten Rechte und Ansprüche auch seine Bestätigung im Erbrecht aus-
zusprechen.
§ 38. Der Zeitpunkt des Bestätigungsantrags.
Was nun den Zeitpunkt anbelangt, in welchem der An-
trag auf Bestätigung im Erbrechte gestellt werden muß, so
gilt als Anfangsmoment der Erbfall. Sind die Antragsteller
in der Lage, das obenerwähnte Ehrenfriedensrichterattest dar-
über beizubringen, daß sie die einzigen Erben sind, so können
sie unter Annahmeerklärung sofort um Bestätigung im Erb-
rechte bitten. Ist dagegen ein Proklam erlassen, so muß dieses
erst abgelaufen sein, bzw. kann über einen früher verlautbarten
Antrag erst nach Ablauf des Proklams entschieden werden x),
es sei denn, daß vor Ablauf desselben durch ein Ehrenfriedens-
richterattest bewiesen wird, daß die Antragsteller die einzigen
Erben sind. In letzterem Falle kann die Bestätigung auch
vor Ablauf des Proklams erfolgen — diese Möglichkeit scheint
zwar Z.V.O. 2020 zu widersprechen, doch ist sie als ein-
schränkende Bestimmung von der Praxis fest aufgenommen.
Das ist auch berechtigt2), denn das Ehrenfriedensrichterattest
beweist die Ueberflüssigkeit des Aufgebots zum mindesten in
bezug auf die Erben; sollte sich aber einmal ausnahmsweise
der Ehrenfriedensrichter geirrt haben, so bleibt dem innerhalb
*) Z.V.O. 2020.
2) Vgl. hierzu bezüglich des deutschen Rechts die Ausführungen
Eßlingers (Erbschein, S. 66— 67).
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. XXXIX. Band. 25
386 Tatarin.
der Proklamsfrist erschienenen Prätendenten noch immer der
Klageweg offen.
Was den Schlußmoment für den Bestätigungsantrag an-
belangt, so ist hier ebenfalls zu unterscheiden, ob ein Proklam
ergangen war oder nicht.
a) War dieses der Fall, so haben etwaige Prätendenten
den Bestätigungsantrag vor Ablauf des Proklams oder doch
jedenfalls vor Erlaß des Präklusionsbeschlusses zu stellen *).
Haben sie diese Frist versäumt, so bleibt ihnen, wie wir ge-
sehen haben, nur der Klageweg offen. Zwar läßt das Gesetz
in gewissen Fällen die Beseitigung der Präklusion auch durch
Beschwerde zu, doch wird auch in diesem Falle der verspätete
Erbprätendent, falls die bestätigten und in den Besitz ein-
gewiesenen Erben ihm nicht freiwillig die Erbschaft oder einen
Teil derselben herausgeben, die Erbschaftsklage erheben müssen.
Der Erlaß einander widersprechender Bestätigungsbeschlüsse,
wie im russischen Rechte, ist im baltischen ausgeschlossen.
Das wird dadurch verhindert, daß im Baltikum das Erben-
aufgebot in der Hand des Nachlaßverhandlungsgerichtes ruht,
und daß das Aufgebot mit Ausschlußwirkung ausgestattet ist.
Allerdings vermißt man auch hier Bestimmungen über die Be-
fugnis des Verhandlungsgerichts, einmal ergangene Beschlüsse
aufzuheben oder abzuändern. Denn richtiger wäre es, im Falle
der Beseitigung der Präklusion durch Beschwerde oder Klage
dem Nachlaßverhandlungsgerichte die Möglichkeit zu gewähren,
den früheren Bestätigungsbeschluß entsprechend dem neuen
nachträglich zugelassenen Anspruch aufzuheben, als alle solche
Fälle bei Widerstand der früher Bestätigten auf den Klage-
weg zu verweisen. Ein von Amts wegen einsetzendes Ver-
fahren zur Nachprüfung des früheren Beschlusses könnte hier
manche unnütze Klage verhindern. Beim Fehlen einer dem
B.G.B. 2361 ähnlichen Bestimmung muß im Baltikum auf eine
solche Möglichkeit jedoch verzichtet werden.
J) Z.V.O. 2064.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 387
b) Ist hingegen kein Proklam erlassen, so kann der Be-
stätigungsantrag jederzeit erfolgen, auch noch nach Ablauf
der allgemeinen Verjährungsfrist von 10 Jahren, vom Tode des
Erblassers gerechnet1) (falls nicht vorher eine dazu berechtigte
juristische Person den erblosen Nachlaß erworben hat); nur
kann nach diesem Zeitpunkte dem bestätigten Antragsteller vom
Erbschaftsbesitzer die Verjährung entgegengehalten werden 2).
Gewöhnlich wird die Verzögerung einer klaren Annahme-
handlung bzw. des Bestätigungsantrags von Seiten des Erben
bei den Nachlaßgläubigern und denjenigen, die nach ihm die
Anwartschaft auf die Erbschaft haben (oder im Testaments-
falle bei den Legataren), das Bestreben hervorrufen, sich binnen
bestimmter Frist Klarheit über die Rechtslage zu verschaffen.
Im Hinblick hierauf sieht das baltische Recht auf Antrag der
genannten Personen die gerichtliche Anberaumung einer
Ueberlegungsfrist voraus, binnen welcher der Erbe in be-
stimmter Form anzunehmen oder auszuschlagen hat3).
Der Antrag auf eine solche Fristsetzung ist an das für die Nach-
laßverhandlung zuständige Gericht zu richten4). Im Hinblick auf das
im Baltikum übliche Aufgebot, das alle die oben genannten Personen
beantragen können 5), ist ein solches spezielles Verfahren aber gar nicht
aktuell. Ich erwähne es hier nur, um zugleich auszusprechen, daß das
Proklam ein einfaches Mittel gewährt, die Unbestimmtheit der Rechts-
lage nach dem Tode einer Person zu beseitigen. Allerdings setzt, wie
wir oben gesehen haben, die Bestätigung der Erben im Baltikum eine
Annahme der Erbschaft voraus, doch wird dieselbe in vielen Fällen, so
auch besonders im Proklamsfalle, präsumiert6).
*) Vgl. das oben S. (I) 312 in bezug auf Rußland Gesagte.
2) Pr.R. 2620.
3) Pr.R. 2634 u. 2635.
4) Z.V.O. 2015, vgl. 2016 u. 2017. Vgl. Motive bei Gaßmann und
Nolcken zu 281 (2018).
5) Z.V.O. 2013 u. 2012. In der Praxis spielt deswegen auch die
Ueberlegungsfrist des § 2634 Pr.R. „bis zu neun Monaten" gar keine
Rolle — an ihre Stelle tritt stets die übliche Proklamsfrist von 6 Monaten.
6) Pr.R. 2625, 2631, 2634. Vgl. auch die Motive zu Z.V.O. 18073
bei Smirlow a, a. O. S. 1000.
388 Tatarin.
Bei Nichtgeltendmachung von Erbansprüchen ist die
Rechtslage in bezug auf die Hinterlassenschaft im allgemeinen
im Nichtproklamsfalle nach 10 Jahren die gleiche wie im
Proklamsfalle nach Ausspruch der Präklusion. Hat sich in
dieser Zeit kein Erbschaftsprätendent gemeldet, so ist der Nach-
laß als erb los zu betrachten1). Hier setzt nun gemäß den
im Baltikum bestehenden Vorschriften das Recht der Städte,
der Kirche, gewisser Korporationen und Stiftungen, wie
auch des Fiskus auf erbloses Gut ein 2). Ein solches erb-
loses Gut fällt aber den Berechtigten nicht Ton selbst zu,
wie etwa jemandem durch den Erbfall sein Erbe. Im Gegen-
teil, da es hier erst der Feststellung des Gerichts bedarf, daß
das Gut erblos geworden ist, und aus dem Gesetze nicht immer
klar hervorgeht, wer ein Anrecht auf das erblose Gut besitzt 3),
so wird man hier im Gegensatze zum Erbenbestätigungs-
beschlusse sagen müssen, daß der zu jenem Behufe zu erwirkende
Gerichtsbeschluß nicht deklaratorische, sondern konstitutive Be-
deutung hat. Der Prätendent wird sich aber auf einen im
unstreitigen Verfahren ergehenden Beschluß beschränken dürfen;
es bedarf zum Erwerb des erblosen Guts nicht der Erhebung
einer Klage. So entscheidet wenigstens die Praxis4); eine
Regelung der hier einsetzenden Verfahrensart (wie etwa im
B.G.B. 1964 ff.) enthält das baltische Gesetz nicht. — Da nun
aber auch im Proklamsfalle, wie wir gesehen haben, der rechte
gesetzliche Erbe unter gewissen Voraussetzungen sein Erbrecht
noch im Verlaufe von 10 Jahren vom Erbfalle an auf dem
J) Besonders anerkannt ist die Erblosigkeit des Nachlaßguts nach
x^blauf der Proklamsfrist durch Sen.Beschluß von 1898/8037 in Sachen
Lihkum (zitiert bei Bukowsky, Kodex. S. 793): es wird hier der An-
nahme entgegengetreten, als wenn auch im Falle eines Proklams das
Gut erst nach 10 Jahren erblos würde.
2) Pr.R. §§ 1965—1970.
3) Vgl. Pr.R. 1967 und die Ausführungen Erdmanns, System III,
S. 162, N. 3.
4) Vgl. Beschluß des Petersburger Appellhofs vom 3. September 1913
in Sachen Ducimetiere (zitiert bei Buko wsky a. a. O. S. 793).
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 389
Klagewege geltend machen kann, so wird in solchen Fällen
sein Anspruch gegen den Erwerber des erblosen Guts zu richten
sein; eine Notwendigkeit, wie manche meinen, wegen dieser
nur ausnahmsweise möglichen Klage erst nach 10 Jahren die
Erblosigkeit des Guts anzunehmen, scheint mir nicht vorzuliegen.
§ 39. Die Bestätigung der Erben im Erbrechte.
Auf den Antrag der Erben und außerdem, falls ein Nach-
laßproklam stattgefunden hat, nach Ablauf der Proklamsfrist,
schreitet das Gericht zur Bestätigung der Erben im Erb-
rechte, d. h. zur Feststellung, wer die rechten Erben sind, was
durch besonderen Beschluß ausgesprochen wird. Wie wieder-
holt betont, hat dieser rein deklaratorische Bedeutung.
Das Gericht untersucht und entscheidet die Frage nach
den rechten Erben auf Grund der ihm beigebrachten Beweise.
Unter diesen spielt eine wichtige Rolle, im Gegensatze zum
russischen Rechte, das Ergebnis des ergangenen Proklams:
dieses hat die Rechtsvermutung zur Folge, daß die gemeldeten
Erben die einzigen sind, und daß nähere als sie nicht vor-
handen sind. Auch im Baltikum stellt das Gericht von Amts
wegen in allen seinen Zivilabteilungen Nachforschungen an,
ob nicht früher bereits ein Proklam in gleicher Sache ergangen
war, ob kein Testament vorliegt, ob nicht andere Anträge auf
Erbbestätigung von anderer Seite eingereicht sind, ob kein
Rechtsstreit in derselben Erbschaftsangelegenheit schwebt;
wenn hier diese Nachforschungen auch längst nicht die gleiche
Rolle spielen wie in Rußland, wo ja zur Nachlaßverhandlung
kein Proklam, geschweige denn ein solches mit Präklusions-
wirkung gehört.
Für den Beschluß des Gerichts sind eventuell Erbverzichte der
Berechtigten von Bedeutung. Diese sind besonders wichtig, wenn den
Erben vom Gericht ein spatium deliberandi auf Antrag derjenigen ge-
setzt wurde, die die nächste Anwartschaft auf die Erbschaft hatten.
Hier gilt bloßes Stillschweigen als Ausschlagung *).
*) Vgl. Z.V.O. 2015, Pr.R. 2635.
390 Tatarin.
Für die gerichtliche Verhandlung bei Fällung des Be-
stätigungsbeschlusses, insbesondere für die Anwendung der
Verhandlungs- und Offizialmaxime gilt im Baltikum genau
dasselbe wie in Rußland *), mit dem bloßen Unterschiede, daß
für den Bestätigungsbeschluß die Ergebnisse des Proklams
wesentlich ins Gewicht fallen. Der Präklusionsbeschluß ist
entweder bereits vorher erlassen oder erfolgt zu gleicher Zeit
mit dem Bestätigungsbeschlusse.
Eine wichtige Abweichung vom russischen Verfahren
liegt in folgendem: In Rußland fehlen zwar gesetzliche Be-
stimmungen darüber, wie zu verfahren ist, wenn einander wider-
streitende Anträge vorliegen, doch hat der Senat der Anschau-
ung Geltung verschafft, daß das Gericht berechtigt ist, solche
Anträge zu prüfen und auf Grund derselben einen vorläufigen
Beschluß zu fällen. Das baltische Recht dagegen enthält die
klare Vorschrift, daß bei Streit über das Erbfolgerecht die
Interessenten auf den Klageweg zu verweisen sind 2). Die
Motive gehen davon aus, daß die Bestätigung im Erbrechte
im unstreitigen Verfahren nur so lange möglich ist, als die
Rechte der Erben nicht angefochten sind3), Man wird nicht
*) Vgl. hierüber Bunge, Entwurf, §§ 243 ff. Derselbe gewährt
hier allerdings dem Gerichte bei Verhandlung nichtstreitiger Rechtssachen
einen viel weiteren Spielraum zur Anwendung der Offizialmaxime, als
dieses in der baltischen Praxis üblich geworden ist. So sollte das Gericht
auch in der Fixierung und Beschaffung des ihm für die vollständige
Aufklärung notwendig erscheinenden Materials ungefähr die gleichen
Befugnisse haben wie das deutsche Nachlaßgericht bei Ausstellung des
Erbscheins.
2) Z.V.O. 2021. So auch Bunge, Entwurf, § 249: rHängt die
Verfügung in einer Sache der nichtstreitigen Rechtspflege von der Er-
örterung streitiger Rechtsfragen oder von Tatumständen ab, welche sich
nur durch förmliches Beweisverfahren aufklären lassen, so trifft das
Gericht keine voreilige Entscheidung, sondern verweist die Beteiligten
auf den Rechtsweg. u
3) Gaßmann und Nolcken zu 286 (2023). Vgl. auch a. a. 0.
Motive zu 273, wo vorausgesehen wird, daß eine Kuratel recht lange
dauern kann: „bis ein Endurteil* über die Rechte der die Erbschaft
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 391
umhin können, den Standpunkt des baltischen Rechts für den
richtigeren und konsequenteren zu halten, solange eine Be-
stimmung fehlt, laut welcher, wie in Deutschland, das Gericht
berechtigt ist, seine früheren Feststellungen zu ändern bzw.
für kraftlos zu erklären. Denn soll der Bestätigungsbeschluß
legitimierende Wirkung üben, so ist es vorzuziehen, daß er in
zweifelhaften Fällen überhaupt unterbleibt, als daß er ergeht
und sein Widerspruch mit den inzwischen festgestellten Tat-
sachen sich vielleicht alsbald herausstellt, ohne daß eine Auf-
hebung desselben vor Fällung des Urteils durchgesetzt werden
könnte *). — Anders ist natürlich auch im Baltikum zu ent-
scheiden, wenn die während der Proklamsfrist gemeldeten neuen
Erbansprüche, die die Erbansprüche der ursprünglichen Antrag-
steller dezimieren oder völlig ausschließen, gar keinen Streit
über das Erbfolgerecht bedeuten, etwa weil die nachträglich
Angemeldeten gleich nah oder näher mit dem Erblasser ver-
wandt sind und dieses durch die vorgelegten Personenstands-
urkunden klar bewiesen ist. Selbst wenn die ursprünglichen
Antragsteller gegen die Bestätigung der später Gemeldeten aus
irgendwelchen Gründen protestieren sollten, das Gericht aber
die Rechtslage für völlig klar hält, hat es die von ihm un-
zweifelhaft für die rechten Erben Gehaltenen als solche zu be-
stätigen. Dies wird besonders der Fall sein müssen, wenn das
Gericht die Art der Anwendung des Gesetzes durch einen Teil
der Prätendenten für eine falsche hält. Eine genaue Ab-
grenzung der Fälle, wo ein Streit über das Erbfolgerecht vor-
liegt, der einen Bestätigungsbeschluß ausschließt, kann schwer
vindizierenden Personen erfolgt ist". Danach ist also, im Gegensatz zum
russischen' Rechte, eine vorläufige Regelung der Erbfolge bis zur Ent-
scheidung des Rechtsstreits nicht erforderlich ; während des Interregnums
verwaltet die hereditas iacens der Kurator.
*) Man wird nur im baltischen Recht eine Bestimmung darüber
vermissen, daß das Gericht bei einem Offenlassen der Frage nach dem
rechten Erben festzusetzen hat, welcher Teil im bevorstehenden Prozeß
Kläger und wer Beklagter zu sein hat. Vgl. hierüber Bunge, Entwurf,
§§ 663 ff.
392 Tatarin.
theoretisch gegeben werden. Man wird im großen und ganzen
nur sagen können, daß das Gericht im Baltikum, ebenso wie
in Rußland, in bezug auf die Feststellungen ganz frei ist und
besonders über die Anwendung des Gesetzes zu einer ganz
unzweideutigen Entschließung gelangen muß, denn iura novit
curia. Nur wenn die verschiedene Stellungnahme der einzelnen
Prätendenten sich aus einer verschiedenartigen Ausmünzung
des tatsächlichen Materials ergibt, und besonders, wenn nur
eine ergänzende Beweiserhebung zu klaren Schlüssen führen
kann, ist das Gericht nicht wie in Rußland zu einer vorläufigen
Stellungnahme gezwungen, sondern berechtigt und verpflichtet,
den Rechtsstreit auf den Prozeßweg zu verweisen.
Ebenfalls im Gegensatz zum russischen Recht steht die
Bestimmung, daß das Gericht in seinem Beschluß festzustellen
habe, ob der Antragsteller die ganze Erbschaft als alleiniger
Erbe oder nur einen bestimmten Anteil an derselben als Mit-
erbe erworben hat *). Im Interesse der Legitimationskraft des
Bestätigungsbeschlusses ist diese mit dem B.G.B. 2357 identische
Vorschrift als durchaus zweckmäßig zu begrüßen, denn die in
Rußland bestehende abweichende Praxis nimmt diesem Be-
schlüsse die gerade vom Senate nach seiner neueren Auffas-
sung beabsichtigte Legitimationswirkung. — In der Regel wird
der Beschluß auch im baltischen Recht keine Angabe einzelner
Objekte unter Bezeichnung der dieselben erbenden Personen
enthalten. Immerhin sieht das Gesetz auch diese Möglichkeit
vor, indem es vorschreibt, daß das Gericht bei mehreren
Erben festzustellen habe : nicht nur, daß ihnen bestimmte An-
teile zustehen , sondern auch , welcher Anteil dem einzelnen
Erben zukommt2). Hiermit sind offenbar die Ausnahmefälle
der Singularsukzession gemeint, so vor allem die besondere
Erbfolge in Erbgüter in Liv- und Estland 3). — Ferner ist in
bezug auf mehrere Erben auch vorgeschrieben, daß der Be-
J) Z.V.O. 2022, Pt. 1, vgl. auch 2065.
2) Z.V.O. 2022, Pt. 2.
3) Vgl. Pr.R. 1914 ff., 1923 u. 1925.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 393
schluß aussprechen müsse, ob sie bestimmte Anteile oder die
Erbschaft ungeteilt erworben haben *) ; dieses bezieht sich auf
die Fälle fortgesetzter Gütergemeinschaft und ungeteilten Erb-
schaftsbesitzes bei beerbter Ehe2) (Pr.R. 1711, 1759, 1772,
1791, 1822, 1845); es ist hier üblich, in den gerichtlichen Be-
schluß die ideellen Anteile der einzelnen Erben aufzunehmen,
da deren Bestimmung ja schon wegen der Erbschaftssteuer
erforderlich ist.
Falls ein Erbe die Erbschaft unter Vorbehalt der
Rechtswohltat des Inventars angetreten hat, muß dieses
im Bestätigungsbeschluß besonders ausgesprochen sein.
Der § 2018 Z.V.O. schreibt in bezug auf diesen Fall vor, daß,
falls der Erbe eine derartige Erklärung abgibt und weder Inventur noch
Gläubigeraufgebot bis dahin stattgefunden haben, solche noch erfolgen
müssen3). Das letztere hat das Bestätigungsgericht allerdings in der
Hand , da es hierfür zuständig ist. Diese Vorschrift läuft im Grunde
aber darauf hinaus, daß bei Antritt cum beneficio inventarii eine Bestäti-
gung auf ein Ehrenfriedensrichterattest hin nicht zulässig ist. In bezug
auf die Errichtung des Inventars ist dagegen das Nachlaß Verhandlungs-
gericht weder zuständig noch antragsberechtigt: in dieser Hinsicht kann
die erwähnte Vorschrift nur so aufgefaßt werden, daß eine Bestätigung
cum beneficio inventarii nur erfolgen kann, wenn der unter solchem Vor-
behalt Antretende eine Abschrift der in vorgeschriebener Form errichteten
Inventur bzw. einen Beweis ihrer Errichtung binnen ihm zu bestim-
mender Frist dem Gerichte vorlegt.
Alles über die gerichtliche Berechnung der Erbschafts-
steuer (oben § 24), die Anfechtung und Rechtskraft
des Bestätigungsbeschlusses (§ 14) in bezug auf Ruß-
land Gesagte gilt auch für das Baltikum.
0 Z.V.O. 2022, Pt. 2.
2) In letzterem Falle ist dieses besonders wichtig, weil die beerbte
Witwe bei fortgesetzter Gütergemeinschaft allein zur Vertretung des
Nachlasses legitimiert ist (vgl. Zwingmann, Entsch. IV, 523). Zeug-
nisse über die Fortsetzung der Gütergemeinschaft, wie sie das B.G.B. 1507
kennt, sind dem baltischen Rechte unbekannt (vgl. hierzu Bosch an,
Nachlaßsachen I, S. 290).
3) Vgl. Z.V.O. § 2012, Pt, 3; v. Samson, Erbschaftsrecht, §§ 93 ff.
|94 Tatarin.
Ebenso wie in Rußland dient dem Erben zu seiner Legi-
timation die beglaubigte Abschrift des Gerichtsbeschlusses
über seine Bestätigung im Erbrechte mit der gericht-
lichen Aufschrift über die Rechtskraft desselben.
§ 40. Die Einweisung in den Besitz der Erbschaft.
Auf Grund des ergangenen Bestätigungsbeschlusses sind
die Erben laut Z.V.O. 2023 berechtigt, den sichergestellten
Nachlaß in Empfang zu nehmen. Hier handelt es sich aber
nicht bloß um die Legitimation des Erben, sondern um eine
Handlung, die dazu bestimmt ist, das unstreitige Nachlaß-
verfahren abzuschließen. Zwar ist dieses in der Z.V.O. nicht
ausgedrückt, doch kommt es deutlich im Pr.R. x) zum Aus-
druck, wo es heißt, daß die Kuratel so lange dauert, bis durch
eine rechtskräftige Entscheidung über die Rechte der Erb-
prätendenten erkannt ist, worauf die Kuratoren den anerkannten
Erben den Nachlaß ausliefern und, nachdem sie von diesen
quittiert worden, entlassen werden. Dazu hat die Rechts-
sprechung anerkannt, daß die bloße Bestätigung der Erben
die Kuratel nicht beendigt, sondern daß diese als Vertretung
des Nachlasses noch bis zur Uebergabe fortdauert2). Erdmann
vertritt sogar den Standpunkt, daß die Rechte und Pflichten
des Nachlasses „nicht mit dem Moment der Delation, sondern
erst mit dem der Akquisition" auf den Erben übergehen, und
daß der Erbe die Erbschaft aus den Händen des Kurators so
übernimmt, wie sie sich unter seiner Verwaltung gestaltet hat 3).
Dieses ist nun allerdings falsch — mit der Annahme der Erb-
schaft ist zum Träger der Rechte und Pflichten des Verstorbenen
fraglos der Erbe geworden, und der Kurator ist nur sein Ver-
treter. Trotzdem hat sich das baltische Privatrecht von der
Anschauung noch nicht freigemacht, daß das genannte Nach-
1) Pr.R. 2598.
2) Zwingmann, Entsch. V, 751, desgl. Sen.E. in Sachen Kruhmin
vom 2. November 1910, Nr. 6764 (bei Bukowsky S. 991).
3) Erdmann, System III, S. 25.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 395
laßverfahren nur dem Zwecke diene, dem Erben den Besitz
der Erbschaft zu verschaffen, daß dasselbe — wie im römischen
Rechte — eine Art von vorläufigem Besitzprozeß darstelle1).
Es ist hier ein Vorzug der Z.V.O., daß sie durch Aufstellung
des Satzes, der Erbe sei auf Grund des Bestätigungsbeschlusses
zum Empfange des sichergestellten Nachlasses in gleicher Weise
berechtigt wie zur Uebertragung der ererbten Immobilien
in den Grundbüchern, die Legitimationswirkung dieses Be-
schlusses unterstrichen hat.
Tit. 5. Die Anerkennung der Rechtskraft der Verfügungen
Ton Todes wegen.
§ 41. Allgemeines.
Erweist es sich nach dem Tode des Erblassers, daß er
eine letzt willige Verfügung hinterlassen hat, so setzt ein be-
sonderes Eröffnungs- und Bestätigungsverfahren ein, das sich
teils in den Rahmen des allgemeinen unstreitigen Nachlaß-
verfahrens eingliedert, teils — soweit es sich um eine gericht-
liche Feststellung des rechten Erben handelt — dieses Ver-
fahren durch ein den Erfordernissen dieses Falles entsprechendes
ersetzt.
Das baltische Recht kennt im Gegensatze zum russischen
neben dem Testamente auch einen Erbvertrag2). Es besteht
außerdem in Kurland die gemeinrechtliche Unterscheidung von
Testament und Kodizill, während in Liv- und Estland jede
Ergänzung zum Testamente Kodizill genannt wird3). Das be-
*) In dieser Auffassung ist auch Erdmann trotz der damals schon
in Kraft getretenen Justizreform befangen, was in seiner Bezeichnung
des unstreitigen Verfahrens als „provisorischer Besitzregulierung" (Sy-
stem III, S. 446) und in dem Aufsatze „Die Erbschaftsklage des Pro-
vinzialrechts" zutage tritt. — Vgl. über diese Frage die treffenden Be-
merkungen Weißlers, Nachlaßverfahren, S. 207, N. 2 u. 8.
2) Pr.R. 2481 ff.
3) Pr.R. 1982, 2438, 2791, Anm. 2, 2792. Vgl. Bunge, Privat-
recht II, § 377.
396 Tatarin.
sondere Eröffnungs- und Bestätigungsverfahren findet nicht nur
bei Testamenten, sondern auch bei den genannten Kodizillen
und Erbverträgen, wie auch bei Schenkungen auf den Todes-
fall1) statt2). Wenn daher im folgenden einfach vom Testa-
mente die Rede sein wird, so bezieht sich das Gesagte auch
auf die übrigen Verfügungen von Todes wegen.
Die Auffindung einer solchen Verfügung unterbricht nicht
die etwa bereits eingeleiteten gerichtlichen Maßnahmen zur
Ermittlung und Sicherstellung des Nachlaß Vermögens3). Bloß
das Verfahren zur Feststellung der rechten Erben wird durch
Auffindung des Testaments in wesentlich andere Bahnen ge-
leitet, wenn auch manches, was zur Legitimation der gesetz-
lichen Erben führen sollte, ebenfalls für die Bestätigung des
Testaments Bedeutung haben muß, so etwa ein Ehrenfriedens-
richterattest, das die einzigen gesetzlichen Erben nennt. Hier
wie da steht im Mittelpunkt des ganzen Verfahrens das Auf-
gebot, das allerdings, wenn es erlassen war, um die gesetz-
lichen Erben festzustellen, für die Testamentsbestätigung un-
brauchbar ist und durch ein anders gefaßtes ersetzt wenden
muß ; das Gesetz verlangt ausdrücklich, daß bei Vorliegen einer
Verfügung von Todes wegen diejenigen aufgeboten werden,
die gegen diese irgendwelche Einwendungen haben.
Das baltische Verfahren unterscheidet sich sehr wesent-
lich vom russischen dadurch, daß hier den Funktionen des
Gerichts der rein verwaltende Charakter gewahrt ist. Wie wir
sehen werden, findet auch hier ein Eingreifen des Gerichts von
Amts wegen statt, aber nur in bezug auf die Eröffnung und
Bekanntmachung der letztwilligen Verfügungen, nicht auch in
bezug auf die Bestätigung derselben. Letztere trägt vor allem
*) Pr.R. 2421 ff.
2) Z.V.O. 1956, 1957 u. 1966. Vgl. Sen.E. 1895/54 in Sachen von
Stackeiberg (Bukowsky, Ziv.Ges., S. 381).
3) Vgl. Lutzau, Fünf Fragen, S. 17—20 u. 21 a. A. Hier wird
ausgeführt, daß selbst der im Testamente geäußerte Wunsch des Testators,
daß die Sicherstellungsmaßnahmen unterbleiben sollen, keinerlei Rechts-
effekt hat.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 397
formellen Charakter, die nähere Beprüfung sowohl der Form
als des Inhalts der Testamente ist prinzipiell in das Klagever-
fahren verwiesen 1). Das Gericht hat hier weder beglaubigende
noch prozessuale Funktionen. Daher kann hier streng ge-
nommen auch nicht von einer Bestätigung des Testaments die
Rede sein: es handelt sich im Baltikum um eine gerichtliche
Feststellung der Rechtskraft des Testaments, wie solches auch
im Texte des Gesetzes richtig zum Ausdruck gelangt2).
§ 42. Die Einlief er ung des Testaments.
A. Das Gesetz schreibt vor, daß nach des Testators Tode
jedes schriftliche Testament vom Inhaber desselben sofort dem
zuständigen Gericht eingeliefert werden muß3).
Zuständig ist in der Regel das Bezirksgericht, in dessen Amts-
bezirk der Testator vor seinem Tode den letzten Wohnsitz hatte, nur
ausnahmsweise der entsprechende Friedensrichter, falls zum Nachlaß
keine Grundstücke gehören und es bei Einlieferung bereits fest be-
stimmt werden kann, daß das Objekt der letztwilligen Verfügung seinem
Werte nach 500 Rubel nicht übersteigt4).
Das Testament wird sich nach dem Tode des Testators
entweder bei einer dritten Privatperson oder beim Notar (bzw.
beim Sekretär der Grundbuchbehörde in dessen Eigenschaft als
Notar) in Aufbewahrung befinden 5) oder aber unter den unter-
lassenen Papieren des Erblassers durch die Erben, Haus-
*) Dieser Satz erleidet allerdings wesentliche Einschränkungen, die
wir unten kennen lernen werden.
2) Vgl. Z.V.O. 1968 ff. und Pr.R. 2452.
3) Pr.R. 2446, Z.V.O. 1957.
4) Z.V.O. 1956, 1806; Motive bei G aß mann und Nolcken zu
233 (1970).
5) Eine Aufbewahrung bei Gericht kennt das Pr.R. nicht mehr.
Vor der Kodifikation war eine solche durchaus üblich, ebenso wie eine
Aufbewahrung bei der 1772 ins Leben gerufenen Leihbank. Vgl. v. Samson
a.a. 0. §§ 586 ff.; Nielsen a. a. O. § 378; Bunge, Privatrecht II, § 389.
An die Stelle der behördlichen Aufbewahrung ist jetzt eine solche beim
Notar getreten.
398 Tatarin.
genossen oder den Gerichtsvollzieher bei Vornahme der In-
ventur aufgefunden werden 1). In letzterem Falle hat dieser
das Testament uneröffnet dem Friedensrichter, der ihn be-
auftragt hatte, vorzulegen. Der letztere nimmt sodann, falls
er zuständig, die Eröffnung vor, oder falls er es (wie in der
Regel) nicht ist, übersendet er dasselbe dem zuständigen Be-
zirksgericht. Hatte ein Notar das Testament in Verwahrung,
so hat er es, sobald er vom Tode des Erblassers Kenntnis er-
langt hat, dem zuständigen Gericht von Amts wegen zuzu-
stellen. Diese Vorschrift bezieht sich auch insbesondere auf
diejenigen, sei es auch privatim niedergeschriebenen Testamente,
die dem Notar vom Erblasser unter bestimmter Erklärung und
unter Aufnahme einer besonderen Hinterlegungsurkunde in
versiegeltem Paket übergeben worden waren und daher als
öffentliche gelten 2). Der Notar wird hier die Uebersendung
an das Gericht vornehmen müssen, nicht nur sobald ein Antrag
der Interessenten an ihn ergeht, sondern auf bloße Vorlegung
eines Todesbeweises; und zwar hat er das Paket nicht etwaigen
Interessenten auszuliefern, sondern direkt dem Gericht3). —
Bezüglich der zur Einlieferung verpflichteten Privatpersonen bleibt
der § 2446 Pr.R. allerdings lex imperfecta. Doch werden die Inter-
essenten (Erben, Legatare) — abgesehen davon, daß Pr.R. 4593 ihnen
eine Handhabe bietet, auf dem Klagewege die Vorweisung des Testa-
ments zur Einsicht zu erzwingen — auch auf Erfüllung der den In-
habern laut § 2446 obliegenden Verpflichtung zur Einlieferung bzw. auf
Ersatz des durch Vorenthaltung zugefügten Schadens klagen können4).
') Pr.R. 2445, vgl. Z.V.O. 1930, 1981 u. 1999.
2j Pr.R. 2033 u. 2034, Not.O. 148-150, 152 u. 153. Nur in Estland
werden solche Testamente, wenn sie nicht die formellen Erfordernisse
von Privattestamenten aufweisen, durch derartige Niederlegung nicht zu
öffentlichen,. Pr.R. 2033, Anm.
3) So auch der Petersburger Appellhof in Sachen Wende 1898/376
(zitiert bei Bukowsky, Kodex I, S. 822): sDie Ausreichung des Testa-
ments an die Erben oder an Dritte kann im Streitfalle zur Folge haben,
daß ein solches nach 2039 als Privattestament angesehen wird."
4) Pr.R. 3284 u. 3444. Erdmann meint allerdings, daß die Inter-
essenten die Einlieferung schon durch die Klage gemäß Pr.R. 4593 er-
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 399
Abgesehen hiervon werden , ebenso wie in Rußland , die Interessenten
unter Beibringung des Todesbeweises und unter Berufung auf das vor-
handene Testament das Gericht bitten dürfen, auf Grund analoger An-
wendung der §§ 445—447 Z.V.O. den Dritten zur Vorlegung desselben
zu verpflichten *).
Der Grund, weswegen das Gesetz die Einlieferung der
Testamente bei Gericht verlangt, ist aus der Pandektenstelle
zu ersehen, die dem § 2445 Pr.R. zugrunde liegt: quin potius
publicum est instrumentum — das Testament geht nicht nur
diejenigen etwas an, denen darin etwas verschrieben ist, sondern
auch die Allgemeinheit2). Aber auch die in der Hauptsache
auf altlivländischem (germanischem) Recht beruhende und dem
heutigen baltischen Testamentsrechte als Hauptquelle dienende
schwedische Testamentsstadga von 1686 verlangte, daß die
Testamente „bei des Testatoris Tode vor gehörigem Gerichte
aufgewiesen (bekannt gemacht) werden"3). Das heutige Gesetz
gibt keinen Termin an, bis wann diese Einreichung erfolgen
müsse — es hält sich mit seinem Ausdrucke „nach des Te-
stators Tode" an die zitierte Vorschrift der Testamentsstadga4).
zwingen können, und daß diese Klage eventuell auf das ganze Interesse
geht (Erdmann, System III, S. 322; vgl. auch IV, S. 547 ff.), doch wird
man dem nicht zustimmen können, da 4593 zur Herausgabe nicht verpflichtet.
*) Allerdings sind auch die §§ 445—447 Z.P.O. lex imperfecta (vgl.
Motive zu denselben bei Smirlow a. a. 0. S. 427) — vgl. hierzu meine
Ausführungen oben S. (I) 328 f.
2) L. 2 D. testamenta quemadm. aperiantur 29, 3. Vgl. Erdmann,
System III, S. 325, N. 6; v. Samson a. a. 0. § 605.
3) Testamentsstadga VIII, 1. Vgl. Bunge, Privatrecht, S. 284—285,
insbesondere N. f. u. h. Ueber die Bedeutung der Eröffnung und Be-
stätigung im verwandten älteren lübischen Rechte vgl. Pauli, Abhand-
lungen a. d. lüb. R. III, S. 341 ff. und besonders S. 346. Hier ist es
interessant, daß in Lübeck und, wie aus einigen Quellenstellen zu schließen
ist, wohl auch in den baltischen Hansestädten die Eröffnung vor dem
Rat ursprünglich einen ähnlichen Sinn hatte wie noch heute die Be-
stätigung in Rußland ; diese Prozedur diente dem Beweise des bis dahin
nicht glaubwürdigen Testaments.
4) Allerdings sprach die Testamentsstadga an anderer Stelle (X, 1)
von der Frist „binnen Nacht und Jahr", was das russische Reichsjustiz-
400 Tatarin.
Man wird nicht umhin können, dieses als das einzige Richtige
anzusehen — im Gegensatze zu den ganz verfehlten Vorschriften
des russischen Rechts in dieser Frage. Interessenten, vor
allem die Intestaterben, haben stets die Möglichkeit, durch
ein Proklam die für sie nachteiligen Folgen einer Verzögerung
der Vorlegung bzw. Verheimlichung des ihnen unbekannten
Testaments auszuschalten.
Ausnahmsweise kann die Einlieferung bei Gericht unter-
bleiben :). Es bezieht sich dieses auf die Fälle, wo nach An-
sicht des Gesetzgebers das Testament sei es durch seinen Cha-
rakter, sei es durch den Willen des Testators die Angelegen-
heit eines ganz beschränkten Personenkreises bilden soll. Es
unterliegen der Einlieferung bei Gericht zwecks Eröffnung und
Bekanntmachung nicht:
1. Testamente der Eltern zum Besten ihrer Kinder, wenn diese alle
gegenwärtig sind2),
2. gegenseitige Testamente von Ehegatten nach dem Tode eines
von ihnen, falls die Testatoren solches verfügt hatten3), und
3. jegliches Testament, falls der Testator die Einlieferung aus-
drücklich untersagt hatte4).
kollegium im Jahre 1724 veranlaßte, dem baltischen Gesetze die dem
russischen Rechte entsprechende Interpretation angedeihen zu lassen, als
sei hier die ortsübliche Frist von Jahr und Tag als Präklusivfrist an-
zuwenden : das Testament sollte bei Nichteinlieferung binnen derselben
seine Kraft verlieren (Revisionsentscheidung in Sachen von Bock wider
von Brummer vom 25. Januar 1725). Etwas Aehnliches hatte sich übrigens
auch in Lübeck herausgebildet; vgl. Pauli, Abhandl. a. d. lüb. R. III.
S. 344 u. 345 (für das ältere Reval bestreitet Pauli einen solchen Ge-
richtsgebrauch : a. a. 0. S. 344, N. 329). — Die Praxis hat sich lange Zeit
an diese irrtümliche Auffassung gehalten: vgl. Nielsen a. a. 0. § 299;
v. Samson a. a. 0. § 596 und Bunge, Privatrecht, § 389, N. a. Die
Kodifikation hat die Frage aber wieder zurechtgestellt. Vgl. meine
obigen Ausführungen über das russische Recht [S. (I) 330 ff.].
!) Z.V.O. 1957.
2) Pr.R. 2447, Anm. 2.
s) Pr.R, 2450.
4) Pr.R. 2446. Vgl. auch Motive bei G aß mann und Nolcken
zu 233 (1970), desgl. v. Samson a. a. 0. § 601.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 401
Hier kann die Eröffnung im Kreise der Interessenten vorgenommen
werden, einer allgemeinen Bekanntmachung bedarf es nicht 1). Die Inter-
essenten sind aber natürlich nicht gehindert, auch solche Testamente
gerichtlich eröffnen und bekanntmachen zu lassen2).
B. Das baltische Recht kennt aber auch mündliche
Privattestamente 3). Solche sind nur in den Städten Livlands
unzulässig, da hier alle Testamente der dem Stadtrechte Unter-
worfenen öffentlich errichtet sein müssen4). Wenn solche Te-
stamente auch von einem der anwesenden Zeugen oder durch
einen Dritten bei der Errichtung oder später schriftlich auf-
gesetzt worden waren, so gelten sie doch damit nicht als schrift-
liche 5), es kann also von einer Einlieferung bei Gericht be-
züglich mündlicher Testamente überhaupt nicht die Rede sein —
das Gesetz verlangt hier auch konsequenterweise zur Einleitung
eines gerichtlichen Verfahrens den Antrag der interessierten
Personen 6).
Wenn wir somit gesehen haben, daß bei den schriftlichen
Testamenten das Gericht auch ohne privaten Antrag befugt
ist, zur Eröffnung und Bekanntmachung des Testaments zu
schreiten, so ist doch hier die Offizialmaxime streng auf die
genannten Handlungen beschränkt: weder stellt das Gericht
von sich aus direkte Nachforschungen nach Testamenten an,
noch geht es von Amts wegen, wie in Rußland, über die Er-
öffnung und Bekanntmachung hinaus — die Bestätigung der
*) Bereits im früheren Rechte üblich; vgl. Nielsen a. a. 0. § 377.
2) Dieses um so eher, als eine Unterlassung dieser gerichtlichen
Prozedur auch die Unmöglichkeit eines Ausspruchs der Rechtskraft durch
das Gericht zur Folge hat. Die Ansicht in den Motiven zu Z.V.O. 1970
(Gaßmann und Nolcken 233), daß die Einlieferung des Testaments
bei Gericht nicht zulässig ist, wenn solches vom Testator ausdrück-
lich verboten, ist jedenfalls ganz fehlerhaft. Das Nähere über alles
dieses vgl. unten S. 425 ff.
3) Pr.R. 2069. 2096, 2097, 2087—2089.
4) Pr.R. 2095; vgl. hierüber M. Groedinger, Journal des Just.Min.,
Dezember 1908 (zitiert bei Bukowsky, Kodex I, S. 833 f.).
5) Pr.R. 2089.
6) Z.V.O. 1962.
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. XXXIX. Band. 26
402 * Tatarin.
Testamente , die in Rußland merkwürdigerweise x) von Amts
wegen erfolgen kann, ist im Baltenlande, wo es sich vielmehr
um eine Anerkennung der Rechtskraft handelt, stets nur auf
Antrag vorzunehmen. Bezüglich der Nachforschungen ist aller-
dings zu bemerken, daß zwar nicht das Nachlaß verhandlungs-,
wohl aber das Nachlaßsicherungsgericht durch seine Maß-
nahmen indirekt die Ermittlung eines Testaments von Amts
wegen herbeiführen kann, indem der mit der Inventur beauf-
tragte Gerichtsvollzieher oder der eingesetzte Kurator ein solches
entdecken und bei Gericht einliefern können. Der die Siche-
rungsmaßnahmen vornehmende Friedensrichter hat dasselbe dann
von Amts wegen zwecks Eröffnung dem Nachlaßverhandlungs-
gerichte zu übersenden 2).
§ 43. Die Testamentseröffnung.
A. Sofort nach Einlieferung des Testaments setzt der Vor-
sitzende, ohne den Eingang eines bezüglichen Antrags abzu-
warten, einen Termin für die Testamentseröffnung fest3).
Hierüber ist eine Bekanntmachung im Empfangsraum4) und
an den Gerichtstüren auszuhängen und in der örtlichen Gou-
vernementszeitung zu veröffentlichen 5). Eine besondere Ladung
der Interessenten findet nicht statt.
Im festgesetzten Termin erfolgt die Eröffnung durch den Vor-
sitzenden (bzw. den Friedensrichter). Dasselbe wird erforderlichenfalls
den etwa erschienenen Zeugen zur Anerkennung ihrer Unterschriften
und Siegel vorgewiesen. Eine besondere Ladung der Zeugen findet in
1) Vgl. das oben S. (I) 325-328 u. S. (I) 330 ff. Gesagte.
2) Z.VO. 1980, 1981 u. 1999.
3) Z.V.O. 1958. So — von Amts wegen — auch schon im früheren
Recht, vgl. v. Samson a.a.O. § 603; Nielsen a.a.O. § 378.
*) Nicht, wie Klibanski unrichtig übersetzt, „im Sitzungszimmer".
5) In dringenden Fällen, z. B. wenn es notwendig ist, die Anord-
nungen des Testators über sein Leichenbegängnis zu erfahren, kann der
Termin auch ohne besondere Bekanntmachung, aber unter Ermöglichung
des Erscheinens der anwesenden Erben, ganz kurz anberaumt werden:
Z.V.O. 1959 und Motive bei Gaßmann und Nolcken S. 142.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 403
der Regel nicht statt: das Gesetz nimmt an, daß sie die allgemeine
Bekanntmachung in der Gouvernementszeitung lesen werden — de facto
erscheinen sie fast nie. Persönlich geladen werden sie auch in dem
Falle nicht, wenn das Testament offen bei Gericht eingereicht wird,
wie solches selbst bei nicht notariellen Testamenten häufig der Fall ist,
wo sich also das Gericht im voraus von ihren Personalien überzeugen
könnte. Offiziell gilt aber das Testament bis zum Termin als nicht er-
öffnet, und so kommt es auch nicht zu einer Ladung der Zeugen. Das
baltische Recht geht noch immer von der Fiktion der wirklichen Er-
öffnung aus, im Gegensatz zum B.G.B., das der wirklichen Sachlage ent-
sprechend in 2260 Abs. 3 auch den Fall der Einlieferung eines offenen
Testaments vorsieht. So kommt es also zur Zeugenvernehmung nur in
Ausnahmefällen, wenn die Interessenten dieses besonders beantragen,
und zwar in der Regel, wenn Verdacht der Unechtheit oder künftiger
Anfechtungen vorliegt 1). Die Zeugenvernehmung hat also im baltischen
Recht einen ganz anderen Charakter als im russischen. Während sie
dort der Feststellung desjenigen materiellen Tatbestandes dient, dessen
Vorhandensein das Gericht erst veranlaßt, dem Privattestament die
diesem nach dem russischen Rechtsstandpunkt noch fehlende öffentliche
Beglaubigung zu erteilen2), bilden im baltischen Recht die Zeugen so-
zusagen eine Reserve für den möglicherweise kommenden Prozeß; be-
fürchten die Interessenten einen solchen , so können sie allerdings die
Zeugen auch schon im unstreitigen Verfahren vernehmen lassen , doch
nur zur Bestätigung reiner Formalien: diese haben hier ihre etwaige
Untersiegelung und deren Unverletztheit anzuerkennen3). Aus der Mög-
lichkeit einer nachträglichen Ladung der Zeugen geht hervor, daß die
Testamentseröffnung und -bekanntmachung im Baltikum auch über den
Rahmen einer einheitlichen Gerichtssitzung hinausgehen kann.
Erscheint niemand zum anberaumten Termin, so geschieht die Er-
öffnung und Verlesung des Testaments, wie dieses die Regel ist, vor
*) Erdmann, System III, S. 326, N. 4. Ueber den gleichen früheren
Gerichtsgebrauch vgl. v. Samson a.a.O. §§ 597, 602. Nach der bis
zur Kodifikation geltenden Testamentsstadga X, 1 mußten allerdings die
gesetzlichen Erben zugegen sein und wurden daher in älterer Zeit be-
sonders geladen; vgl. Bunge, Privatrecht II, S. 308.
2) Vgl. oben S. (1)340—341 u. S. (I) 328.
3) Pr.R. 2447, Z.V.O. 1960; vgl. Erdmann a. a. O. S. 326; v. Sam-
son § 608. Weitergehend war die Rolle der Zeugen nach der Testa-
mentsstadga von 1686 (vgl. IX, 1 u. 2) : hier sollten die Zeugen bezeugen
können, daß das vorliegende Testament gemäß Erklärung des Testators
„sein Wille wäre".
404 Tatarin.
leeren Bänken, jedoch bei offenen Gerichtstüren !). Ueber das Verfahren
wird ein Protokoll aufgenommen, das außer der vollen Abschrift der
Testamentsurkunde den Vermerk enthalten muß: 1. ob die Siegel un-
versehrt waren, 2. eventuell die Zeugenaussagen, 3. erhobene Einwen-
dungen, 4. eventuell festgestellte formelle Mängel, wie etwa Korrekturen,
Radierungen, Streichungen2).
Bei mehreren Testamenten unterliegen alle der Bekannt-
machung, von mehreren gleichlautenden Originalen nur eins.
Auch eine Abschrift, selbst eine unbeglaubigte, kann nach dem
Pr.R. ausnahmsweise bei Verlust oder Unmöglichkeit der Herbei-
schaffung des Originals der Eröffnung und Bekanntmachung
zur Grundlage dienen, doch haben die Interessenten hier bei
ungenügender Beglaubigung nicht nur das Dasein, sondern
auch den Inhalt des Testaments zu beweisen3). Diese auf das
römische Recht zurückgreifende Vorschrift des materiellen
Rechts4), die durch keine Verfahrensvorschrift der Z.V.O. er-
gänzt ist, wird man jedenfalls einschränkend zu interpretieren
haben. Bei gehöriger Beglaubigung der Abschrift, unter der
nur eine notarielle oder persönlich vom Testator ausgehende
verstanden werden kann, wird das Dasein des Testaments durch
diese selbst erbracht sein; wie aber der Inhalt des Testaments
bei nicht gehöriger Beglaubigung im unstreitigen Verfahren
bewiesen werden soll, ist nicht ohne weiteres klar. Man wird,
um den Rahmen des Nachlaßverfahrens nicht zu sprengen, als
solche Beweise nur Schriftstücke (etwa eine amtliche Urkunde,
in der dieser Inhalt bestätigt wird, oder einen Brief des Te-
stators, in dem er die Kopie erwähnt) oder die Aussagen
solcher Zeugen gelten lassen, die in der Kopie als Testaments-
zeugen genanut sind. Nur in derartigen Ausnahmefällen wird
man die Verlesung einer Kopie zulassen dürfen. Dem oben
geschilderten Grundcharakter der baltischen Testamentseröffnung
*) Pr.R. 2447, Z.V.O. 1960; vgl. v. Samson § 602.
2) Z.V.O. 1961.
3) Pr.R. 2448 u. 2449.
*) L. 10 u. 12 D. testam. quemadm. aper. 29, 3.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 405
entspricht ein solches Beweisaufnahmeverfahren im Grunde
überhaupt nicht, und daher kann die Vorschrift des Pr.R. 2449
nicht als glückliche bezeichnet werden 1).
Bezüglich im Auslande errichteter Testamente gilt
wohl dasselbe, was oben in bezug auf das russische Testa-
mentsverfahren dargelegt worden ist. Wir haben hierüber für
das Baltenland keine besonderen Bestimmungen. Im allgemeinen
haben, wie in Rußland, so auch im Baltenlande die im Aus-
lande errichteten Testamente volle Gültigkeit, falls sie die Be-
glaubigung der ausländischen Vertretung tragen, daß die Ur-
kunde nach den Landesgesetzen zustande gekommen ist. Ein
solches Testament wird also, falls der Testator im Baltikum
verstorben ist, von den baltischen Gerichten zur Bestätigung
angenommen werden müssen 2).
Die Behauptung von Mängeln bzw. der Unechtheit des
Testaments hindert die Verlesung nicht3). Wer nach dem
Gesetze zu Einwendungen gegen das Testament berechtigt ist,
*) Eignet sich eine vorgefundene Testamentsabschrift auch nicht
zur Eröffnung und Bekanntmachung im Extrajudizialverfahren, so wird
sie oft als Hilfsmittel dienen können, um im Vereine mit den sonstigen
in den §§ 1962 — 1964 Z.V.O. genannten Beweismitteln zur Feststellung
des letzten Willens als einer mündlichen Aeußerung zu führen. Denn
in gleicher Weise wie nach Pr.R. 2039 ein nicht zu Recht bestehendes
öffentliches Testament seine Bedeutung als Privattestament nicht zu ver-
lieren braucht, ist nach Ansicht des Senats (Entsch. 1901/3 u. 1903/100)
und Bukowskys (Kodex I, S. 830, Anm.), welch letzterer sich hier auf
den Kommentar von Glück- Mühlenbruch (Bd. 35, S. 29, N. 51) stützt,
auch ein wegen formeller Mängel als solches unhaltbares schriftliches
Testament eventuell als mündliches aufrecht zu erhalten. Diese aus-
gedehnte Auffassung vom favor testamenti hat manches für sich.
2) Etwas anderes betrifft die Frage, inwiefern ausländische, im
Auslande eröffnete Testamente bzw. die auf Grund derselben erteilten
Legitimationsurkunden zur Legitimation der Erben im Baltenlande taug-
lich sind. Auch diese Frage wird wohl ebenso wie in Rußland zu ent-
scheiden sein: daß, sofern es sich um baltisches Vermögen handelt, eine
Nachprüfung durch das baltische Gericht erforderlich ist.
3) Pr.R. 2448.
406 Tatarin.
kann dieselben vor Eintritt der Rechtskraft geltend machen
und damit letztere eventuell verhindern 1).
Nach Eröffnung und Veröffentlichung liegt das Testament
zur Einsicht für alle Interessenten im Gerichte aus.
Es können auch vor Eintritt der Rechtskraft des Testaments Ab-
schriften desselben mit der Aufschrift des Gerichts, daß es veröffentlicht
ist und allen vorgeschriebenen Formalien entspricht, jedoch noch nicht
rechtskräftig geworden ist, den Erben verabfolgt werden2). Diese Vor-
schrift dient, wie aus ihrer Bezugnahme auf Pr.R. 2480 und ihren Mo-
tiven3) hervorgeht, der auch in das baltische Recht übergegangenen
inissio Hadriana. Auf Grund eines äußerlich fehlerfreien Testa-
ments kann der Erbe in den Erbschaftsbesitz eingewiesen werden, auch
bevor dasselbe rechtskräftig geworden ist*). Obgleich die Prozedur einer
solchen Besitzeinweisung im baltischen Recht nirgendwo näher geschil-
dert ist, wird man doch annehmen können, daß, falls die obenerwähnte
Testamentsabschrift sich in casu als ungenügendes Instrument zum Be-
sitzerwerb erweist, der Erbe auch einen Beschluß des Gerichts über die
Besitzeinweisung wird herbeiführen dürfen 5). Neuerdings hat dieser Stand-
punkt auch seine Bestätigung durch den Gesetzgeber erfahren. In den
neuen Regeln von 1913 über die zwangsweise Erfüllung im Wege des
Urkundenprozesses6) ist für das Baltikum als Erblegitimation im Ur-
J) Die Einwendungen können aber auch, wie wir unten sehen
werden, vom Gericht unberücksichtigt gelassen werden (vgl. S. 410 f.).
2) Z.V.O. 1969.
3) Vgl. Gaßmann und Nolcken zu 232.
4), Pr.R. 2480, vgl. v. Samson a. a. 0. §§ 872 u. 874.
5) Eine faktische Besitzeinweisung durch einen Gerichtsvollzieher
wird man hier für unzulässig erachten müssen, da eine solche in der
Regel nur auf Grund eines im Klageverfahren ergangenen Urteils erfolgen
kann. Die genannte Testamentskopie bzw. der Gerichtsbeschluß über
die Einweisung wird dem Erben wohl als Legitimation dienen, ver-
weigern Dritte trotzdem die Besitzüberlassung, so bleibt dem Erben
nur der Klageweg offen.
6> Z.V.O. 18073, Pt. 2 (Ausgabe vom Jahre 1913) und Motive im Projekt
des Justizministers bei S m i r 1 o w a. a. O. S. 100). Klibanski (Handb. II,
S. 393) übersetzt hier nicht gerade glücklich (18072): »Der Zwangsvoll-
streckung unterliegen" usw. Das ist mißverständlich, denn hier ist nicht
von der gewöhnlichen Zwangsvollstreckung die Rede, sondern von einer
besonderen neuen Prozeßart, die dem deutschen Urkundenprozesse ent-
spricht. Daher dürfte die im Texte gewählte Bezeichnung „zwangsweise
Erfüllung" auf Grund von Urkunden solchem Mißverstehen vorbeugen.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 407
kundenprozeß u. a. auch der „Gerichtsbeschluß über die Einweisung des
Erben in den Besitz des vermachten Vermögens (Pr.R. 2480)" anerkannt
worden. — Es darf aber nicht verkannt werden , daß eine solche Be-
sitzeinweisung auf Grund des § 2480 Pr.R. das Verhältnis des solcher-
maßen legitimierten Testamentserben nur gegenüber jedem sonstigen Erb-
prätendenten regeln will, keineswegs aber bedeutet, daß ein etwa erfolgtes
Nachlaßsicherungsverfahren dadurch erschüttert werden könnte. Wie
aus Pr.R. 2589, Pt. 5 ersichtlich, kann ein solches verfügt worden sein,
weil der Nachlaß notorisch überschuldet und das Interesse der vermut-
lichen Gläubiger gefährdet ist. Daher wird der verwaltende Kurator oder
der Sequester keineswegs durch einen solchen Besitzeinweisungsbeschluß
verpflichtet, den Nachlaß dem missus ex lege ultima de edicto divi Hadriani
tollendo zu übergeben, sonst könnte ja der Erbe inzwischen den ganzen
Nachlaß zum Schaden der Gläubiger verschleudern J). Allerdings erweist
es sich hier, daß es von Nachteil ist, daß Sicherstellungs- und Ver-
handlungsgericht voneinander getrennt sind — so kann möglicherweise
das die Einweisung dekretierende Verhandlungsgericht von dem statt-
gehabten Sicherungsverfahren gar nichts wissen. Es ist überhaupt fraglich,
ob die missio Hadriana noch zeitgemäß ist und nicht bloß Uneinheitlich-
keit in das Testamentsverfahren hineinbringt.
B. Der Eröffnung entspricht bei mündlichen Testa-
menten die Feststellung ihres Inhalts. Wie bereits bemerkt,
wird hier ein Verfahren nur auf Antrag der Interessenten ein-
geleitet.
Auf einen solchen hin ladet das Gericht die Zeugen, die der münd-
lichen Willenserklärung beigewohnt haben2). In der Gerichtssitzung
werden die Zeugen unter Eid in Gegenwart derjenigen Personen, ver-
nommen, welche Rechte auf die Erbschaft geltend machen. Diese haben
neben dem Gericht auch das Recht der Fragestellung3). Die Zeugen
haben nach Feststellung der Personalien des Testators über den Inhalt
des mündlichen Testaments, Ort und Zeit der Abfassung sowie über die
für die Gültigkeit desselben maßgebenden Begleitumstände auszusagen4).
!) Ein solcher Fall ist in meiner Praxis vorgekommen — hier wurde
das Obige weder vom Gerichte noch von den Beteiligten richtig erkannt.
Im wesentlichen richtig, wenn auch nicht in allen Teilen ganz klar ist
die Entscheidung des Petersburger Appellhofs in Sachen Maaker 1901/330
(Bukowsky, Kodex I, S. 987).
2) Z.V.O. 1962.
3) Z.V.O. 1963, 399 u. 400.
4) Z.V.O. 1962.
408 Tatarin.
Das hierüber abgefaßte Protokoll wird gleichzeitig mit einer eventuellen
schriftlichen Aufzeichnung des letzten Willens in derselben Weise, wie
oben bezüglich der schriftlichen Testamente geschildert, veröffentlicht x).
§ 44. Das Aufgebotsverfahren.
Nach Veröffentlichung des Testaments erläßt das Gericht
auf Antrag der Interessenten oder von Amts wegen, falls es
es für notwendig erachtet, ein Aufgebot derjenigen Personen,
die Einwendungen gegen das Testament zu erheben haben,
oder die, wie sich das Gesetz ausdrückt, «sonst in dieser Ver-
anlassung Anträge zu machen haben" 2). Auf dieses Aufgebot
sind gemäß der Z.V.O.3) die allgemeinen Aufgebotsregeln an-
zuwenden.
Man fragt sich hier unwillkürlich, welche denn die Fälle sind, in
denen das Gericht es von Amts wegen für notwendig erachten wird,
ein solches Aufgebot zu erlassen. Nach wohl richtiger Ansicht des Senats
bezweckt das im § 2451 Pr.R. gemeinte Aufgebot in Anlaß der Testa-
mentsbestätigung den Aufruf nur derjenigen Personen, welche Einwen-
dungen gegen das Testament zu machen haben4). Daraus folgt, daß
trotz der Vorschrift des § 1967 Z.V.O. , die hier die allgemeinen Auf-
gebotsregeln angewandt wissen will, hier nur ein Teil derjenigen Fälle
in Betracht kommen kann, in denen das Gericht sonst nach Z.V.O. 2012
von Amts wegen ein Aufgebot erlassen kann. Und zwar sind das die
Fälle, in denen die Feststellung der rechten Erben, nicht die der Gläu-
biger, erzielt werden soll5). Andrerseits wird man aber nicht vergessen
dürfen, daß es auch bei testamentarischer Erbfolge nötig werden kann,
die Gläubiger festzustellen 6) (z. B. wenn der Erbe cum beneficio inven-
tarii antritt) oder auch diejenigen zu ermitteln, die Ansprüche auf das
von der testamentarischen Verfügung nicht betroffene Vermögen er-
heben7). Diesem Bedürfnis kommt nun die Vorschrift des § 2014 Z.V.O.
:) Z.V.O. 1964, vgl. Pr.R. 2089.
2) Pr.R. 2451.
3) Z.V.O. 1967.
4) Senatsbeschluß in Sachen Brenner 1893/1239 (zitiert bei Bu-
kowsky, Kodex I, S. 923).
5) D. h. Z.V.O. § 2012, Pt. 1 u. 2.
6j Vgl. Nielsen, Erbfolgerecht, § 384.
7) Vgl. Gaßmann und Nolcken, Motive zu 277 (2014) a. E.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 409
entgegen, wonach das gewöhnliche Nachlaßproklam und das testamen-
tarische Aufgebot miteinander verbunden werden können. Nur darf man
nicht vergessen, daß es sich hier um zwei verschiedene Aufgebotsarten han-
delt. Beantragen die Interessenten ganz einfach ein Proklam oder liegt
ein Antrag hierauf überhaupt nicht vor, so wird das Gericht wohl in der
Regel nur ein Aufgebot nach 2451 erlassen; um also sicher zu gehen,
daß auch die Gläubiger aufgerufen werden, müssen die Interessenten,
falls die Voraussetzungen dafür bestehen, ausdrücklich hierum bitten —
das ist in der baltischen Praxis nicht immer klar erkannt worden *).
Man wird der Auffassung jedoch nicht beipflichten können, als
wären diejenigen noch zu besonderer Anmeldung ihrer Ansprüche ver-
pflichtet, die solche auf Grund des Testaments als Erben oder Legatare
haben. Ganz richtig ist hier wohl der Standpunkt der bisherigen Judi-
katur, daß das Aufgebot nur solche Interessenten ermitteln soll, die
dem Gerichte unbekannt sind, wozu die im Testament selbst Genannten
nicht gerechnet werden können2). — Anders liegt es aber mit der Erb-
schaftsantretung von Seiten der Erben. Diese müssen, falls ein Aufgebot3)
ergangen ist, eine Annahme vor Ablauf desselben erklären. Zwar kann
eine solche Erklärung auch in konkludenten Handlungen liegen und
daher außergerichtlich erfolgen, doch wird von einem Testamentserben,
der sich nicht im Besitz der Erbschaft befindet und sich während der
Proklamsfrist weder bei Gericht meldet noch außergerichtlich seinen
Willen, die Erbschaft anzutreten, durch Handlungen kundgibt, angenommen
werden müssen, daß er die Erbschaft ausgeschlagen habe 4). Daher wird
der durch Testament berufene Erbe zur Vermeidung von Zweifeln gut tun,
seine Annahmeerklärung vor Ablauf der Proklamsfrist, sei es auch nur
in Form eines Testamentsbestätigungsantrags, bei Gericht kundzugeben5).
1) Die Lösung dieser ganzen Frage durch Erdmann, System III,
S. 327 erscheint mir als oberflächlich, denn es ist nicht angängig, die
Frage, wann ein Testamentsproklam zu erlassen sei, nach Maßgabe der
§§ 2588 u. 2589 Pr.R. zu entscheiden, da diese Paragraphen, wie wir
gesehen haben, vor allem mit einer Sicherstellung des Nachlasses rechnen.
Auch Er d mann unterscheidet offenbar nicht scharf zwischen den ver-
schiedenen Arten des Aufgebots.
2) Vgl. die Entscheidung des Petersburger Appellhofs in Sachen
Kiisk, 1897/8 (zitiert bei Bukowsky, Kodex I, S. 923).
3) Pr.R. 2629. Das Gesetz sagt aber nicht, welcher Art dieses
Proklam sein muß, daher wird man annehmen dürfen, daß ein Testa-
mentsproklam nach 2451 genügt.
4) Pr.R. 2631.
5) In diesem Sinne wird man wohl den Ausdruck des Pr.R. 2451
von den Personen, „die sonst in dieser Veranlassung Anträge zu machen
410 Tatarin.
Daß etwa ein durch das Testament Berufener infolge Unkenntnis
hievon durch Ablauf des Proklams unberechtigterweise als Ausschlagender
angesehen wird, das wird einerseits dadurch verhindert, daß alle Inter-
essenten, welche dem Antragsteller bekannt sind, dem Gericht anzugeben
und von diesem persönlich zu benachrichtigen sind1), andrerseits durch das
Recht des fälschlicherweise Präkludierten, die Präklusion anzufechten2). In
praxi stellt das Gericht den abwesenden Erben und Legataren Auszüge aus
dem Testament unter den von den Antragstellern angegebenen bezw. von
ihnen eingeforderten Adressen zu; besonders wurde das bei Erben beob-
achtet, die sich im Ausland befanden, da von diesen angenommen wurde,
daß das erlassene Aufgebot sie nicht erreichte3).
Nach Ablauf der Proklamsfrist ergeht nun auf Antrag
oder von Amts wegen (in gleicher Weise, wie oben beim Inte-
statverfahren geschildert4)) der Beschluß des Gerichts, durch
welchen alle Einwendungen, die während derselben gegen das
Testament nicht erhoben worden sind, und alle Anträge, die
in Veranlassung desselben nicht gemacht worden sind, für er-
loschen erklärt werden 5). Die gemachten Einwendungen sind
im Präklusionsbeschluß den Interessenten als rechtzeitig
erfolgt vorzubehalten 6). Auf eine Prüfung eines erhobenen
Rechtsstreits läßt sich das Gericht hierbei nicht ein, sondern
es verweist die Interessenten auf den Rechtsweg 7) ; eventuell
wird es jedoch, wie wir unten sehen werden, bei Entscheidung
haben", aufzufassen haben. Das Proklam nach § 2451 soll nicht nur
diejenigen vom Erbfalle benachrichtigen, die infolge des ergangenen
Proklams ihre Erbantretung in verkürzter Frist geltend zu machen haben :
vgl. Pr.R. 2629 u. 2631. Ein Antrag auf Bestätigung des Testaments,
wenn er ohne Einschränkung erfolgt, darf als Annahmeerklärung an-
gesehen werden.
») Z.V.O. 2057 u. 2063.
2) Z.V.O. 2068—2070.
3) Gerichtlicher Brauch — vgl. Nielsen a. a. O. §§ 380 u. 381.
4) Vgl. oben S. 377.
• 5) Pr.R. 2451 und Z.V.O. 1967, 2066, 2079.
6) Vgl. oben S. 379 f. Wie daselbst N. 1 bereits bemerkt, kann eine
Einwendung gegen die Gültigkeit des Testaments nur in den seltensten
Fällen Anlaß zur Einstellung des Aufgebotsverfahrens geben.
7) Z.V.O. 1967 u. 2065, S. 1.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 411
der Frage, ob das Testament für rechtskräftig zu erklären ist,
diejenigen Einwendungen berücksichtigen, die eigentlich keinen
Rechtsstreit enthalten, weil sie nur als Hinweise auf Um-
stände aufzufassen sind, die das Gericht auch von Amts wegen
hätte berücksichtigen müssen, oder weil durch den Einspruch
der Interessenten der Mangel unzweifelhaft feststeht 1).
§ 45. Der Erbschaftsantritt.
Was oben in bezug auf die gerichtliche Anberaumung
einer Ueberlegungsfrist für die Erbschaftsannahme 2) und die
Antretung der Erbschaft unter Torbehalt der Rechts wohl tat
des Inventars 3) gesagt worden ist, gilt auch für das Testa-
mentsverfahren.
§ 46. Die gerichtliche Anerkennung der Rechtskraft des
Testaments.
I. Verfügungen von Todes wegen werden durch Gerichts-
beschluß — stets auf Antrag der Interessenten — für rechts-
kräftig erklärt4):
1. a) falls kein Aufgebot erlassen worden ist — nachdem
es in Liv- und Estland Jahr und Tag, in Kurland fünf Jahre
lang vom Tage der Eröffnung und Verlesung unangefochten
im Gerichte ausgelegen hat, oder
b) falls ein Aufgebot ergangen war — wenn es im Laufe der
gerichtlich anberaumten Frist nicht angefochten, oder wenn die
etwa gegen dasselbe erhobenen Einsprachen beseitigt worden sind :
2. sowohl falls kein Aufgebot ergangen war, wie auch im
Falle eines solchen — wenn die nächsten gesetzlichen Erben5)
ausdrücklich auf eine Anfechtung verzichtet haben.
J) Vgl. unten S. 419 ff.
2) S. 387.
3) S. 393.
4) Z.V.O. 1966, Pr.R. 2452.
5) Z.V.O. 1966, Pt. 2, vgl. Pr.R. 2477. 2478 u. 2798. Vgl. die Teata-
mentsstadga von 1686, § VIII.^ 2.
412 Tatarin.
In diesem letzteren Falle müssen die nächsten gesetzlichen Erben
alle anwesend oder vertreten sein und die übereinstimmende Erklärung
über ihren Verzicht auf eine Anfechtung bei Gericht abgeben. Zum
Beweise dessen, daß sie wirklich die einzigen und nächsten Intestaterben
sind, müssen sie ein Ehrenfriedensrichterattest vorlegen. Hier ist also
eine Erklärung des Testaments für rechtskräftig sofort nach der Er-
öffnung möglich. Auch bei bereits ergangenem Aufgebot ist unter der
erwähnten Voraussetzung eine solche Erklärung vor Ablauf des Pro-
klams möglich1).
IL Es fragt sich nun, was zu erfolgen hat, falls gegen
das Testament während der Proklamsfrist Einwendungen
erhoben worden sind. Das Gesetz (Pr.R. 2452) spricht, wie
wir gesehen haben, von der Möglichkeit, Einsprachen zu be-
seitigen. Andrerseits bestimmt § 2065 Z.V.O. bezüglich des
Aufgebotsverfahrens, daß das Gericht sich auf eine Prüfung
der erhobenen Rechtsstreitigkeiten nicht einläßt, sondern die
Parteien auf den Prozeßweg verweist 2). Endlich gibt es Fälle,
in denen das Gericht durch die Einwendung auf so wesent-
liche Mängel des Testaments hingewiesen wird, daß eine Ver-
weisung auf den Prozeß weg als überflüssig erscheint: die An-
erkennung eines solchen Testaments erweist sich von vorn-
herein als ausgeschlossen, da es bereits laut Gesetz nichtig ist.
Wie sind nun diese Widersprüche zu lösen ? Es erscheint
nach dem Gesagten, als wenn es doch Fälle gibt, in welchen
das Gericht bereits im unstreitigen Verfahren zu einer Prüfung
der erhobenen Einwendungen gezwungen ist.
Um in dieser im baltischen Rechte besonders verwickelten
Frage die richtige Lösung zu finden, müssen wir folgendes in
Betracht ziehen:
Das baltische Recht kennt, wie die meisten Gesetzgebungen,
mehrere Kategorien von Ungültigkeit bzw. von Hemmung der
Wirksamkeit eines Testaments, wenn es auch dieselben nicht
1) Gerichtsgebrauch — vgl. das oben S. 385 Gesagte, desgl. die
Motive bei G aß mann und Nolcken zu 233(1970), S. 142 a.E.; Erd-
mann, System III, S. 329, Anm. 1.
2) Vgl. auch den analogen § 2022 Z.V.O.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 413
genügend abgegrenzt auseinanderhält. Ein Testament ist nach
baltischem Rechte:
a) von Anfang an nichtig1):
(1) wenn dem Erblasser die testamenti factio activa fehlte,
(2) bei Verletzung der wesentlichen Formvorschriften,
(3) bei error, dolus, metus,
4) wenn der gesamte Inhalt des Testaments contra legem
aut contra bonos mores ist,
5) wenn der gesamte Inhalt durchaus unverständlich, sinn-
los oder widersspruchsvoll ist,
(6) bei Unvollendetheit der Verfügung.
Es ist jedoch zu bemerken , daß die genannten 6 Punkte nur in
Kurland ipso iure Nichtigkeit des Testaments bewirken; in Liv- und
Estland ist das nur bei Punkt 4 und 5 der Fall (in den Fällen 1 — S
und 6 bedarf es dazu einer Anfechtung von seiten der Anfechtungs-
berechtigten 2).
b) Das Testament verliert dagegen erst später seine
Gültigkeit:
(1) in Kurland bei Fortfall aller Erben, sei es aus Unfähig-
keit oder aus einem anderen Grunde 3) ; beruht der Fortfall auf
dem Fehlen einer richtigen Erbeseinsetzung, so wird das Testa-
ment bei Vorhandensein der Kodizillarklausel aufrecht erhalten4).
(lx) in Liv- und Estland dagegen, wenn dem kinderlosen
Testator nach der Errichtung ein Leibeserbe geboren wird, es
sei denn, daß das Testament jenen Fall ausdrücklich berück-
sichtigt5).
!) Pr.R. 2787, 2789 und Anmerkung.
2) Vgl. unten c).
3) Pr.R. 2791. In Livland dagegen wird auch beim Fortfall aller
Erben ein Testament in seinen sonstigen Dispositionen aufrecht erhalten,
indem an die Stelle der Testamentserben die gesetzlichen rücken —
Pr.R. 2791, Abs. 2. Vgl. auch die frühere Bestimmung der Testaments-
stadga von 1686, § V, 5.
4) Pr.R. 2792.
') Pr.R. 2796. In Kurland, wo ein Pflichtteilsrecht besteht, kann
der posthumus nur den Pflichtteil beanspruchen.
414 Tatarin.
2. durch Widerruf.
a) Dieser kann ausdrücklich durch notarielle Erklärung oder durch
private — mündliche oder schriftliche — Erklärung vor zwei glaub-
würdigen Zeugen erfolgen 1),
ß) auch stillschweigend durch absichtliche Zerstörung der ganzen Ver-
fügung in ihren sämtlichen Hauptexemplaren2) oder durch spätere Er-
richtung eines neuen gültigen Testaments, es sei denn, daß der Testator
das frühere ausdrücklich aufrecht erhalten hat, oder daß sich nicht er-
mitteln läßt, welches das ältere ist, wobei dann beide gelten (nur im
Falle einer Unmöglichkeit, sie zu vereinigen, sind hier beide ungültig)3).
c) Ein Testament, das an sieh gültig ist, kann durch An-
fechtung von Seiten der hierzu Berechtigten beseitigt werden:
solche Anfechtbarkeit liegt inLiv- und Estland in den
sub a) 1 — 3 und 6 bezeichneten Fällen vor4). In Kurland
dagegen kennt das Gesetz die Anfechtbarkeit überhaupt nicht,
in den genannten Fällen ist das Testament ipso iure als nichtig
zu betrachten; de facto jedoch läuft es auch in Kurland in
den Fällen a) 1 und 3 auf eine der Anfechtung ähnliche Hand-
lung hinaus, da es sich hier um Nichtigkeitsgründe handelt,
die aus dem Testament an sich nicht zu ersehen sind und da-
her mindestens einer Konstatierung von Seiten der Interessenten
bedürfen 5).
Welche Stellung nun der Richter im unstreitigen
Verfahren diesen verschiedenen Arten der Wirkungs-
hemmung gegenüber einzunehmen hat, wird vom Gesetz
nicht klar ausgesprochen und hat auch bisher weder in der
Praxis noch in der Wissenschaft eine allgemeine und einheit-
J) Pr.R. 2807 u. 2799, Anm. 2. Eine bloße Zurücknahme des beim
Notar niedergelegten Testaments hebt dasselbe nicht auf, sondern nimmt
demselben nur die Eigenschaft eines öffentlichen: Pr.R. 2808 u. 2037.
*) Pr.R. 2809-2813.
. 3) Pr.R, 2801—2805.
*) Warum Erdmann (a. a. O. S. 349) hier kein Anfechtungsrecht
zugibt, sondern ausdrücklich von einer Nichtigkeitsklage spricht, ist nicht
recht verständlich und steht im Widerspruch mit Pr.R. 2789 und An-
merkung dazu.
5) Vgl. unten S. 422.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 415
liehe Entscheidung gefunden. Im wesentlichen könnte man in
bezug auf das Resultat Erdmann recht geben, wenn er auch
seinen Standpunkt nicht aus einheitlichen Gesichtspunkten ab-
leitet und in den Einzelheiten daher nicht ganz zutreffend ent-
scheidet. Die richtige Lösung dürfte die folgende sein.
Wie auch in der Judikatur bereits hervorgehoben, unter-
scheidet sich der baltische die Rechtskraft eines Testaments
betreffende Gerichtsbeschluß wesentlich vom Bestätigungsbe-
schluß des russischen Gerichts 1). Wie wir gesehen haben,
hat das russische Gericht eine Beglaubigungsfunktion zu er-
füllen — es verleiht besonders dem privaten Testamente die
ihm noch fehlende staatliche Sanktion — es handelt sich in
Rußland um einen Beglaubigungsausspruch. Daraus ergibt
sich natürlicherweise eine Prüfung des Testaments, die nicht
nur die formelle Seite desselben umfaßt, sondern, soweit es
ohne längere kontradiktorische Verhandlung möglich ist, auch
auf den materiellen Inhalt eingehen soll. Anders im Baltikum.
Hier ist nach den neuen Vorschriften der Z.V.O. der Rechts-
kraftsbeschluß als ein mehr oder weniger formeller gedacht:
es soll der Ablauf gewisser Fristen, während welcher das
Testament öffentlich ausgelegen hat, oder der Verzicht ge-
wisser Personen genügen, um das Testament für rechtskräftig
zu erklären. Wie sich die Motive zu § 1970 Z.V.O. ausdrücken,
soll „das Testament sogar infolge der Nichtbeobachtung von
Formalitäten oder des Mangels der Rechtsfähigkeit des Testators
oder anderer wesentlicher Mängel nur auf Grund der Anfech-
tung seitens der Interessenten, nicht aber vom Gericht aus
eigener Wahrnehmung für ungültig erklärt werden". Nun
wird man aber allerdings nicht behaupten können, daß der
letztere Gedanke richtig ist bzw. dem baltischen materiellen
Rechte entspricht, noch daß er konsequent durchgeführt wäre.
Das materielle Recht sagt keineswegs, daß alle wesent-
*) Vgl. z. B. Beschluß des Petersburger Appellhofs in Sachen Feuchtner
1902/49 (bei Bukowsky a. a. 0. S. 1069), vgl. auch Motive zu 233 bei
G aß mann und Nolcken.
416 Tatarin.
liehen Mängel des Testaments nur auf Grund der Anfechtung
eine Ungültigkeit des Testaments bedingen. Wie wir oben
gesehen haben, bedingt Gesetzwidrigkeit (a 4) und Sinnlosig-
keit (a 5) des gesamten Testamentsinhalts überall im Baltikum
von selbst die Nichtigkeit des Testaments; Mangel der Testa-
mentsfähigkeit, wesentliche Formmängel, error, dolus, metus,
Unvollendung der Verfügung (a 1, 2, 3, 6) aber bedingen sie
ipso iure jedenfalls in Kurland. Der § 2789 besagt keines-
wegs, daß die in ihm erwähnten Mängel nur durch Anfechtung
geltend gemacht werden können, sonst bliebe ja kein Raum
für seine Anmerkung, die von einer „von selbst'' eintretenden
Nichtigkeit spricht. Die Motive zu Z.V.O. 1966 (1970) lassen
nun diese Anmerkung ganz außer acht, wenn sie behaupten, daß
wesentliche Mängel nur auf Anfechtung hin die Ungültigkeit des
Testaments bedingen. Richtig ist, daß diese Mängel nur durch
die vom Gesetz genannten Personen1) (nicht durch andere)
geltend gemacht werden dürfen ; daraus folgt aber nicht, daß
das Gericht Mängel unberücksichtigt zu lassen hat, die das
Testament von selbst ungültig werden lassen.
Ferner aber bezieht sich Z.V.O. 1966 auf den § 2452
Pr.R., der voraussieht, daß eventuell erhobene Einsprachen auch
beseitigt werden können 2). Sollte man dieses etwa nur so
aufzufassen haben, daß Einwendungen dann zu beseitigen sind,
wenn sie von unberechtigten Personen ausgehen oder sich auf
Tatbestände beziehen, die eine Ungültigkeit des Testaments
nicht nach sich ziehen3)? Ist nicht vielmehr ein Einspruch zu
J) Es sind dieses auf Grund der §§ 2477, 2478 u. 2798 die „gesetz-
lichen Erben", was Erdmann (System III, S. 342) wohl richtig so aus-
legt, daß damit nicht allein die Intestaterben, sondern auch diejenigen
gemeint sind, die „nach den Gesetzen" zur Erbschaft berufen, also
auch Testamentserben auf Grund eines früheren Testaments, etwaige
Vertragserben usw.
2) Vgl. hierzu auch den Senatsbeschluß in Sachen Reddel 1912/10908
(Bukowsky a. a. 0. S. 924).
3) Wie Er d mann richtig bemerkt, sind die im Gesetz genannten
Fälle nicht Beispiele, sondern haben erschöpfende Bedeutung (Erdmann,
System III, S. 347, N. 3).
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 417
beseitigen, auch wenn er formell richtig erhoben wurde, aber
materiell unbegründet ist, z. B. der nächste Intestaterbe weist
ein später errichtetes Testament vor, das Gericht findet aber,
daß dieses gar kein Testament, sondern ein unvollendeter Privat-
brief ist. Sollte ein solcher Einspruch genügen, um die Fest-
stellung der Rechtskraft zu verhindern? Erkennt man aber
ein Prüfungsrecht des Gerichts bezüglich der erhobenen Ein-
wendungen an, wird man da ein Prüfungsrecht des Gerichts
nicht auch im umgekehrten Falle für berechtigt halten müssen,
d. h. wenn die Einwendung auf einen Umstand hinweist, der
ipso jure Ungültigkeit des Testaments bedingt?
Sodann weisen die Motive zu § 1966 sehr richtig darauf
hin, daß nach Pr.R. 2480 der Erbe auf Grund eines äußerlich
fehlerfreien Testaments jederzeit verlangen kann, in den Erb-
schaftsbesitz eingewiesen zu werden. Hier hat also das Ge-
richt von sich aus zu prüfen, ob ein Testament äußerlich fehler-
frei ist. Wie nun, wenn das Gericht hierbei innere Fehler
feststellt, die an sich Ungültigkeit bedingen? Darf es dann
hinterher ein solches Testament bestätigen, bloß weil es während
der festgesetzten Fristen unangefochten geblieben ist?
Endlich sagen sowohl § 1966 Z V.O. als § 2452 Pr.R. nur,
daß ein unangefochtenes Testament für rechtskräftig zu erklären
ist, nicht aber, was mit dem Testament zu geschehen
hat, wenn es angefochten worden ist. Das ist eine sehr
wesentliche Lücke. § 2065 Z.V.O., auf den sich 1967 bezieht,
besagt nun zwar, daß das Gericht sich im Aufgebotsverfahren
nicht auf eine Prüfung der erhobenen Rechtsstreitigkeiten ein-
läßt, sondern den Parteien anheimstellt, diese im Prozeßwege
zu beweisen. Jedoch bezieht sich diese Vorschrift erstens nur
auf das Aufgebotsverfahren, das hiernach mit dem rein for-
malen Präklusionsbeschluß unter ausdrücklicher Wahrung der
Rechte aus den erhobenen Einwendungen abschließt x) ; zweitens
aber spricht der genannte Paragraph nur von der Notwendig-
*) Vgl. Senatsentscheidung in Sachen Urbanowitsch 1902/63 (bei
Bukowsky, Zivilgesetze, S. 385).
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft XXXIX. Band. 27
4:18 Tatarin.
keit, die Einwendungen im Prozeß wege zu beweisen — wie
nun aber, wenn ein Beweis gar nicht notwendig ist, da der
behauptete Umstand an sich feststeht?
Man wird, da die Z.V.O. uns im Stiche läßt, die erwähnte
Lücke nicht aus dem formellen, sondern auf Grund des mate-
riellen Rechts ergänzen müssen, um so mehr, als auch die Motive
zum Gesetze von 1889 uns zwar sagen, daß wesentliche Mängel
des Testaments nur auf Grund der Anfechtung zur Ungültig-
keit führen, nicht aber, in welcher Weise eine solche Anfech-
tung durchgeführt wird 1). Eine Bestimmung hierüber wäre
aber schon aus dem Grunde notwendig gewesen, weil Pr.R. 2479
vorschreibt, daß derjenige, der ein Testament anfechten will,
seine Ansprüche binnen der gesetzlichen Frist bei derjenigen
Behörde geltend machen muß, welcher die gerichtliche Ver-
handlung der Nachlaßsache zusteht, widrigenfalls das Testa-
ment für rechtskräftig erkannt wird. Laut Pr.R. 2480 S. 1
aber hat dieses Nachlaßverhandlungsgericht die Einrede zu-
nächst auf ihre Erheblichkeit provisorisch zu prüfen, bis even-
tuell die Entscheidung des ordentlichen Prozeßgerichts darüber
erfolgt. So und nicht anders ist wohl der § 2480 zu ver-
stehen 2). Es geht aus ihm jedenfalls unzweifelhaft hervor,
daß das Nachlaß Verhandlungsgericht den erhobenen Widerspruch
nicht nur zu registrieren hat, sondern zu demselben vorläufige
Stellung zu nehmen hat. Aus § 2479 im Zusammenhang mit
Pr.R. 2452 aber geht hervor, daß, wenn ein Widerspruch
binnen der gesetzlichen Frist erfolgt, entweder die Erklärung
der Rechtskraft des Testaments unterbleibt oder aber dieser
Widerspruch beseitigt wird und dann natürlich der Anerken-
nung der Rechtskraft nichts im Wege steht.
Man wird sich auf Grund des Dargelegten dem Eindruck
nicht verschließen können, daß die Z.V.O. auf diesem Gebiete
mit dem materiellen Rechte sehr schlecht in Einklang gebracht
') Vgl Gaßmann und Nolcken S. 142.
2) Vgl. hierzu Erdmann a. a. 0. S. 344.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 419
ist und daß die ganze Frage im Wortlaut des Gesetzestexts
überhaupt keine Entscheidung findet.
Prinzipiell muß nun aber anerkannt werden, daß das Nach-
laßverhandlungsgericht alle diejenigen Mängel, welche
das Testament „von selbst" nichtig machen, von
Amts wegen zu beachten hat, falls diese Mängel aus
dem Testamente selbst oder aus dem sonstigen dem
Gerichte im unstreitigen Nachlaßverfahren zur Ver-
fügung stehenden Material unzweifelhaft ersichtlich
sind1). Dieses folgt einerseits aus der Idee der freiwilligen Ge-
richtsbarkeit überhaupt, die nur festzustellen hat, was nicht augen-
scheinlich widerlegt ist. Im besonderen aber aus dem Zwecke des
unstreitigen Nachlaßverfahrens, soweit es nicht bloßes Nachlaß-
sicherungsverfahren ist2), die rechten Erben festzustellen und
ihnen dann eine Legitimationsurkunde zu liefern, durch welche
sie sich Dritten gegenüber als Erben auszuweisen imstande sind.
Wie sollte ein für rechtskräftig erklärtes Testament aber eine
solche Funktion erfüllen, wenn jeder Dritte sich sagen müßte :
laut Pr.R. ist doch eine solche Urkunde an und für sich nichtig!?
Aus dieser grundlegenden Erwägung ergibt sich nun
folgende Stellungnahme zu den einzelnen Fällen der oben-
erwähnten Hemmungen der Wirksamkeit des Testaments.
a) Das Gericht muß in Liv-, Est- und Kurland von
Amts wegen beachten: 1. Gesetzwidrigkeit der testamenta-
rischen Verfügungen (oben : a 4) 3), 2. Sinnlosigkeit derselben
') Dieser Satz findet auch seinen Ausdruck in der Judikatur, vgl.
den Beschluß des Petersburger Appellhofs in Sachen v. Seck vom 12. No-
vember 1910 (Bukowsky, Kodex I, S. 937), wo es heißt: Es gibt Fälle,
in denen auch ohne Streit zwischen den Intestat- und Testamentserben
.,das Gericht durch Beschluß im unstreitigen Verfahren die Ungültigkeit
des Testaments anerkennen kann".
2) Was ja der Testamentsbestätigung gegenüber fortfällt,
3) Pr.R. 2789, Pt. 4. Nichtigkeit des Testaments wird aber nur
durch die Gesetzwidrigkeit des gesamten Testamentsinhalts hervor-
gerufen. Die Gesetzwidrigkeit eines Teils macht nach Pr.R. 2788 u. 2474
das Testament nur teilweise ungültig, alle übrigen Verfügungen bleiben
420 Tatarin.
(a 5) *), 3. den ausdrücklichen oder stillschweigenden Widerruf,
sei es durch äußere Kenntlichmachung am Testamente selbst
(Durchreißen, Durchstreichung usw.), sei es durch Errichtung
eines neuen Testaments (b 2) 2) ;
b) in Kurland3) außerdem :
1. Verletzung der wesentlichen Form Vorschriften (a2)4).
2. Unvollendetheit der Verfügung (a 6) 5), 3. mangelnde testa-
in voller Kraft und Wirkung, so daß hier das Testament als teilweise
rechtskräftig anzuerkennen ist — die ungültigen Verfügungen müssen
ausdrücklich im Gerichtsbeschluß ausgemerzt werden. Vgl. Sen. Beschluß
in Sachen Süd 1910/1519 (bei Bukowsky, Kodex I, S. 1063). So auch
bereits die Testamentsstadga von 1686 § V, 5.
J) Pr.R. 2789, Pt. 5. Hier gilt das gleiche, wie unter S. 419, N. 3 gesagt.
2) Pr.R. 2799—2813, vgl. das oben S. 414 Gesagte.
3j Pr.R, 2789, Anm.
4) Pr.R, 2789, Pt. 2. Vgl. hier insbesondere die Vorschriften der
§§ 2024—2105 Pr.R, Vgl. hierzu den Beschluß des Petersburger Appell-
hofs vom 9. März 1905 in Sachen Hellwig (Bukowsky a. a, O. S. 1063),
wo ein Testament nicht für rechtskräftig erklärt wurde, obgleich alle
Intestaterben darum baten. In Liv- und Estland dagegen hindert eine
Verletzung der wesentlichen Formvorschriften die Anerkennung der
Rechtskraft nur, falls die Berechtigten die Ungültigkeit des Testaments
durch Anfechtung geltend machen — so auch vom Petersburger Appell-
hof in Sachen Allenstein 1892/72 anerkannt (vgl. Bukowsky, Kodex I.
S. 833): ein gegen die Vorschrift des Pr.R. 2095 in einer livländischen
Stadt errichtetes Privattestament wird hier gemäß Pr.R. 2452, 2476 u. 2789
doch für rechtskräftig erklärt.
6) Pr.R. 2789, Pt. 6. In Liv- und Estland muß eine unvollendete
letztwillige Verfügung, wenn sie nicht angefochten wird, gemäß 2789,
Anm. weiter zu Recht bestehen und für rechtskräftig erklärt werden
können. Hiermit steht jedoch der § 2085 in direktem Widerspruch, wonach
eine testamentarische Verordnung, die offenbar noch nicht geschlossen und
vollendet, z. B. mitten in einem Satze abgebrochen ist, von gar keiner
Wirksamkeit ist. Auf Grund dieser Vorschrift hat auch der Petersburger
Appellhof in Sachen v. Stael-Holstein 1898/51 (Bukowsky a. a. O. S. 924)
einem ununterschriebenen Testamente sowohl Veröffentlichung als Rechts-
kraft versagt. Man wird diesen Widerspruch höchstens in der Weise
versöhnen können, daß man annimmt, § 2085 habe die rein formelle Un-
vollendung im Auge, da dieser Paragraph im Hauptstück von der äußeren
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 421
mentifactio activa (a 1) a), 4. Zwang, Betrug und wesentlichen
Irrtum (a 3)2), 5. den Fortfall aller Erben (b l)3);
c) in Liv- und Estland außerdem die Geburt eines
Leibeserben (b l^4).
In den aufgezählten Fällen, wo Nichtigkeit des Testa-
ments ipso jure vorliegt, wird das Gericht diese Nichtigkeit
jedoch nur dann im unstreitigen Verfahren aussprechen, wenn
es diese Nichtigkeit aus dem Testament oder dem ihm akten-
mäßig zur Verfügung stehenden Beweismaterial als unzweifel-
haft ersieht. Das wird aber in den Fällen unter b 3 — 5 und c
nur sehr selten möglich sein 5), daher wird auch hier das Gericht
die Interessenten gewöhnlich auf den Klage weg verweisen müssen.
Das Gericht kann im unstreitigen Verfahren kein kompliziertes
Beweisverfahren einschlagen — für ein solches gibt es keinerlei
Form der Testamente enthalten ist, § 2789 dagegen eine solche, die sich
erst aus dem Sinne des Testaments ergibt.
>) Pr.R. 2789, Pt. 1.
2) Pr.R. 2789, Pt. 3. So auch bereits die Testamentsstadga von
1686, § IX, 1.
3) Pr.R, 2791, vgl. Anm. 2 und 2792. Der Beschluß des Appellhofs
in Sachen Feuchtner 1902/49 (Bukowsky ;j. a, 0. S. 1064) glaubt hier
Ungültigkeit nur bei Anfechtung annehmen zu dürfen, Ich halte das
nicht für richtig. Vor allem lag hier im römischen und gemeinen Rechte,
welche als Quellen zu § 2791 zitiert werden, kein Fall der Anfechtbaikeif,
sondern ein solcher der Nichtigkeit vor (L. 181 D. de regulis iuris 50, 17;
§ 7 J. de hereditat., quae ab intestato deferuntur 3, 1). Ferner aber ist
die Deduktion des Appellhofs falsch, daß Anm. 2 zu § 2789 eine er-
schöpfende Aufzählung der Nichtigkeitsfälle enthält, vielmehr ist die
Aufzählung der Fälle der Anfechtbarkeit darin eine erschöpfende, vgl.
auch Erdmann, System III, S. 347, N. 3. — In Liv- und Estland bleibt
das Testament bestehen und die Intestaterben rücken ein.
*) Pr.R. 2796. Auch hier ist im Gegensatze z. B. zum B.G.B. 2079
im baltischen wie im römischen Recht ein Fall von Nichtigkeit zu er-
blicken; vgl. die Quelle zu 2796: § 1 C. de posthumis heredibus in-
stituendis 6, 29. Vgl. das oben unter N. 3 Gesagte. In Kurland hat nach
Pr.R. 2794 der posthumus nur das Recht auf den Pflichtteil.
6) Ein derartiger Fall wäre z. B. der Fortfall aller Testamentserben
in Kurland durch Ausschlagung bei Gericht.
422 Tatarin.
Anhaltspunkt im baltischen Gesetz 1). Die Anfechtung, von der
§ 2789 auch für die meisten dieser Fälle spricht, schrumpft hier
zu einer bloßen Konstatierung der Nichtigkeit zusammen ; letztere
hätte das Gericht, wenn es dieselbe hätte erkennen können,
auch von Amts wegen berücksichtigen müssen 2).
In allen übrigen oben (S. 413 — 414) genannten
Fällen kann das Gericht die Mängel des Testaments
nur auf Antrag berücksichtigen — es braucht dieses
aber nicht zu tun, es kann die Frage auch im Extrajudizial-
verfahren unentschieden lassen und die Interessenten nach Z.V.O.
2065 auf den Rechtsweg verweisen. Für die Berücksichtigung
solcher Mängel müssen nach stattgehabter Anfechtung naturgemäß
die gleichen Beweisregeln gelten, wie in den Fällen der Nichtigkeit.
Andrerseits wird man im Hinblick auf Pr.R. 2452, wenn
man überhaupt eine formelle und materielle Prüfung des Te-
staments durch das Gericht zuläßt, diesem nicht das Recht
verweigern können, auch Einwendungen „zu beseitigen''
— selbst solche, durch die an sich Nichtigkeit geltend gemacht
wird. Es können eben nicht nur bezüglich der Fälle von An-
fechtbarkeit, sondern auch bezüglich der Nichtigkeit Behaup-
tungen der Parteien vorliegen, die sich gleich von selbst wider-
legen oder durch das in der Akte befindliche Material wider-
legt werden, z. B. eine Verfügung, die der Anfechtende durch
falsche Interpretation für gesetzwidrig oder gänzlich sinnlos
hält, erscheint dem Gerichte als völlig tadellos, oder ein
späteres Testament, das angeblich das erste aufheben soll,
erweist sich als früher errichtet oder überhaupt nicht als Te-
stament, oder aber das Gericht ersieht, daß dem Anfechtenden
das Recht fehlt, einen Einspruch gegen das Testament zu er-
heben, da er seine Zustimmung zu demselben bereits bei der
Errichtung kundgegeben hatte 3), oder aber es werden formelle
*) Uebereinstitnmend auch Bunge, Entwurf, § 249 ; vgl. das Zitat
oben S. 390, N. 2.
2) Vgl. Erdmann a. a. 0. S. 351, N. 3.
3) Vgl Entscheidung des Petersburger Appellhofs in Sachen Nitawsky
vom 24. Oktober 1907 (Bukowsky S. 1068).
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 423
Mängel geltend gemacht, die gar keinen gesetzlichen Nichtig-
keits- oder Anfechtungsgrund abgeben 1).
Zusammenfassend wird man sagen müssen: das Gericht
hat in der Regel ein Testament für rechtskräftig zu
erklären, wenn es binnen bestimmter Zeit nicht
angefochten worden ist oder auf die Anfechtung
von seiten der Berechtigten (Pr.R. 2477) verzichtet
worden ist (Z.V.O. 1966 und Pr.R. 2452, 2479).
Diese Regel ist aber in folgender Weise teils einzu-
schränken, teils zu erweitern.
1. Das Gericht hat es abzulehnen, ein Testament für
rechtskräftig zu erklären, wenn es auf Grund des akten-
mäßigen Materials von sich aus oder auf Hinweis (Pr.R. 2476)
einen von den genannten Nichtigkeitsgründen (Pr.R. 2789,
2791, 2796, 2799-2813) oder auf Einspruch des Anfechtungs-
berechtigten (Pr.R. 2476 — 77) einen der Anfechtungsgründe
(Pr.R. 2789, 1 — 3 und 6 und Anmerkung) unzweifelhaft fest-
stellt. Hier bleibt den Interessenten aber die hereditatis petitio
offen (Z.V.O. 2065) 2).
2. Es hat ein Testament trotz erhobenen Einspruchs
für rechtskräftig zu erklären, wenn dieser nach Meinung
des Gerichts durch sich selbst oder durch das aktenmäßige
Material, sei es formell, sei es materiell, widerlegt wird (Pr.R.
2452, S. 1); allerdings ist hier der Einspruch für den Fall,
daß der Anfechtende anderer Ansicht ist, diesem als rechtzeitig
geltend gemacht vorzubehalten.
Wird eine Einwendung erhoben, die — ganz gleich, ob
sie sich auf Nichtigkeit oder Anfechtungsrecht stützt — das
Gericht auf Grund des aktenmäßigen Materials zu keinem
genügenden Urteil über die Gültigkeit oder Ungültig-
]) Vgl. Entsch. des Petersburger Appellhofs in Sachen Bücke 1891/61
(Bukowsky S. 937) — hier würde geltend gemacht, daß das Testament
keinen Hinweis auf den „ klaren Verstand und freien Willen" enthielt —
das ist aber kein gesetzliches Erfordernis.
*) Vgl. hierzu oben S. 379, N. 4.
424 Tatarin.
keit des Testaments gelangen läßt, so ist dieses trotzdem für
rechtskräftig zu erklären, wenn es sich äußerlich als fehler-
frei erweist (Pr.R. 2480), hier ist aber dem Einspruch Er-
hebenden sein Anfechtungsrecht im Präklusionsbeschluß vorzu-
behalten (Z.V.O. 2065, S. 1): er kann es hinterher auf dem
Klageweg durch Nichtigkeitsklage geltend machen 1).
III. Wie bereits erwähnt, kann ein Testament teilweise für rechts-
kräftig erklärt werden2) — unter Beseitigung bzw. Zurechtstellung der
angültigen Verfügungen — das Bestreben des Gesetzes geht dahin, alle
den Gesetzen und der Vernunft nicht widerstreitenden Anordnungen bei
Kraft zu erhalten. Hierbei ist eine Kombination von Testamentsbestäti-
gung und Bestätigung der Intestaterben möglich, ebenso wie im Falle der
Ausschlagung durch die Testamentserben. In Liv- und Estland bleibt
in letzterem Fall das Testament aufrechterhalten 3), nur daß an die Stelle
*) In der Hauptsache gelangt Erdmann (a. a. 0. S. 346—352) zu
ähnlichen Resultaten. Seine Hauptabweichung vom Dargelegten liegt
darin, daß er dem Gerichte das Recht einräumt, von Amts wegen nur
fehlerhaften, d. h. den in § 2789 unter 2, 4 u. 5 bezeichneten Testamenten
(vgl. a. a. 0. S. 351, N. 6) die Anerkennung der Rechtskraft zu versagen.
Hier wird man aber zurechtstellen müssen, daß es nicht nur in diesen
Fällen, sondern in Kurland auch in den sub 1, 3, 6 und in den §§ 2796
und 2799 — 2803 genannten, in Livland auch in den in den §§ 2796 und
2799—2803 genannten (hier aber nicht in Fall 2789, 2) diese Aner-
kennung von Amts wegen unterlassen muß, wenn es nur die Ungültigkeit
des Testaments durch das ihm zur Verfügung stehende Material fest-
stellen kann. Es ist nicht richtig, daß in Kurland Testamente eo ipso
in Kraft verbleiben, wenn es sich wohl um Nichtigkeit, nicht aber um
Fall 2789, Pt. 2, 4 oder 5 handelt; sie können wohl faktisch in Kraft
verbleiben, weil die Möglichkeit nicht vorliegt, außerhalb des Prozesses
ihre Nichtigkeit festzustellen, immerhin wären aber auch solche Fälle
denkbar, z. B.: in Kurland ist aus dem in der Gerichtsakte befindlichen
kirchlichen Taufschein des Testators zu ersehen, daß er bei der Errichtung
des Testaments bloß 14 Jahre alt war. — Dann aber kann nicht ver-
schwiegen werden, daß Erdmanns Entscheidung eine oberflächliche
ist, da er einerseits das formelle Recht des Reformgesetzes vom 9. Juli 1889
gar nicht genügend beachtet, andrerseits, wie bereits oben bemerkt, die
Eigentümlichkeiten des unstreitigen Verfahrens durchaus nicht klar erkennt.
2) Pr.R. 2474 u. 2788, vgl. oben S. 419, N. 3 u. S. 420, N. 1.
3) Pr.R. 2791, Anm. 2.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 425
der Testamentseiben die Intestaterben rücken. Hier weiden die Intestat-
erben um Anerkennung der Rechtskraft des Testaments bitten — unter
Feststellung dessen, daß als Erben des Verstorbenen an Stelle des oder der
Testamentserben nunmehr die Antragsteller als Intestaterben gelten.
IV. Nach baltischem Recht sind übrigens einige Arten
von Testamenten von der gerichtlichen Eröffnungspflicht be-
freit, weswegen in bezug auf solche auch ein Beschluß
über den Eintritt der Rechtskraft nicht ergehen
kann. Es sind dieses:
1. Testamente der Eltern zugunsten ihrer Kinder1);
2. gegenseitige Testamente der Ehegatten nach dem Tode
des einen von ihnen, falls die Testatoren eine solche gerichtliche
Eröffnung vor Ableben beider ausdrücklich verboten hatten 2) ;
3. Testamente, deren Eiiilieferung ins Gericht vom Te-
stator ausdrücklich untersagt worden war^)4).
Man wird hier besonders über die Verbindlichkeit der Vorschrift
des Testators, die eine Einlieferung ins Gericht verbietet, Zweifel haben
müssen. Eine solche Vorschrift verträgt sich besonders mit dem oben
dargelegten Standpunkt des Pr.R. nicht, daß das Testament als öffent-
liches Gemeingut anzusehen sei. Aber auch die Erbschaftsinteressenten
werden sich mit dem unveröffentlichten, dem Widerspruche Dritter (wie
gewöhnlich im Aufgebotsverfahren) noch gar nicht ausgesetzten Testa-
mente kaum begnügen können. Will der auf Grund solchen Testaments
eingesetzte Erbe sich Dritten gegenüber legitimieren, so kann er ein Testa-
ment, gegen welches noch alle Einwendungen offenstehen, nicht brauchen.
Hier darf ihm — ebenso wie als in den Fällen 1 und 2 — nicht verwehrt
sein, bei Gericht die Anerkennung der Rechtskraft des Testaments zu
beantragen. Deswegen kann die Bedeutung der erwähnten Ausnahmen
bloß darin bestehen, daß hier bei einer Auseinandersetzung unter den-
jenigen Personen, die durch das Testament bedacht worden sind, nicht
geltend gemacht werden kann, daß demselben noch die öffentliche An-
erkennung fehle. Sowie es sich aber um die Geltendmachung der Erben -
Stellung Dritten gegenüber handelt, kann auch ein Verbot des Erblasser?
') Pr.R. 2447, Anm. 2.
2) Pr.R. 2450.
3) Pr.R. 2446.
*) Vgl. hierüber Motive bei G aß mann und Nolcken zu 233
(1970); Bukowsky. Kodex I, S. 922, Anm.; Er d mann a. a. 0. S. 326.
426 Tatarin.
die Interessenten nicht hindern, den Weg der freiwilligen Gerichtsbar-
keit zu beschreiten. Nur eine Verkennung der Bedeutung und des Zwecks
des unstreitigen Verfahrens konnte den Gesetzgeber veranlassen, bei
Erlaß des Reformgesetzes vom 9. Juli 1889 in den Motiven auszusprechen,
daß die Einlieferung des Testaments in das Gericht „nicht zulässig* sei,
wenn solches vom Testator ausdrücklich verboten ist ]). Ebensowenig
ist der Standpunkt des Petersburger Appellhofs zu rechtfertigen, wenn
er ausspricht, daß auf Grund Pr.R. 2446 das Gericht r nicht berechtigt
sei, ein Testament zu bestätigen, dessen Einlieferung ins Gericht vom
Erblasser verboten ist" 2). Hier handelt es sich nicht um die Frage nach
der Respektierung des Willens des Erblassers, sondern um Interessen
Dritter, um den öffentlichen Glauben, den ein Testament als Legitimations
Urkunde nicht an sich besitzt, sondern erst auf Grund eines bestimmten
öffentlichen Verfahrens gewinnen kann.
V. Aus dem Dargelegten ergibt sich, daß das baltische
Testaments verfahren, wenn es auch eine Beprüf ung des Testa-
ments in beschränktem Maße zuläßt, doch wesentlich vom
russischen Verfahren abweicht. Vom Bestreben ge-
tragen, dem Testamente zwecks Vollstreckung eine staatliche
Sanktion zu erteilen, schreibt das russische Recht nicht nur
die Inangriffnahme der Bestätigung von Amts wegen vor,
sondern es gewährt auch im Prinzip dem Gerichte das Recht,
die Frage nach der Ungültigkeit des Testaments stets von
Amts wegen anzuschneiden ; außerdem aber schlägt das russische
Gericht für seine Feststellungen beim Privattestamente ein
Untersuchungsverfahren ein : es vernimmt Zeugen und den
Abschreiber des Testaments, ja erhebt sogar (gemäß bestehender
Praxis) zur Feststellung der Beobachtung gewisser Formalien
Beweise, die nicht aus dem Testamente selbst entspringen3).
1) G aß mann und Nolcken, Motive zu 233 (1970).
2) Entscheidung des Petersburger Appellhofs 1895/65 in Sachen
Grünreich (bei Bukowsky, Kodex I, S. 922). Anders der Senatsbeschluß
1911/13517 in Sachen Tomik, wo der Senat bloß ausspricht, daß ein
Erbvertrag zwischen Eltern und Kindern vom Gerichte auch ohne form
liehe Eröffnung und Bestätigung als verbindlich angesehen werden muß
— das steht völlig im Einklang mit Pr.R. 2447, Pt. 2 (desgl. bei Bu-
k owsky a. a. 0.).
3) Vgl. oben S. 341 ff.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 427
Im Baltikum dagegen, wo von der Voraussetzung ausgegangen
wird, daß die letztwillige Verfügung, so lange sie nicht er-
schüttert ist, zu Recht besteht, hat das Gericht zur Feststel-
lung der Rechtskraft des Testaments nur auf Antrag zu schreiten,
Beweiserhebungen aber finden überhaupt nicht statt, geschweige
denn von Amts wegen *). Wenn beim auf Antrag eingeleiteten
Bestätigungsverfahren das Gericht in gewissen Fällen die Un-
gültigkeit des Testaments auch von Amts wegen auszusprechen
hat, so ist die Möglichkeit jedenfalls in Liv- und Estland eine
viel beschränktere als in Rußland. Im baltischen Testaments-
verfahren herrscht in weiterem Maße, als das in Rußland der
Fall ist, die Verhandlungsmaxime. Ausnahmen von derselben
finden nur statt: in bezug auf die Testamentseröffnung und
-Verlesung, ferner auf die Erlassung des Proklams, die auch
von Amts wegeu erfolgen kann, und endlich bezüglich der
Feststellung in gewissen Fällen der Ungültigkeit des Testa-
ments. Vom deutschen Erbscheinverfahren unterscheidet sich
das baltische Testamentsverfahren durch das Vorwiegen des
Verhandlungsprinzips : wohl ist in bezug auf die Feststellungen
ausnahmsweise das offizielle Ermessen zulässig, Einleitung des
Verfahrens und Beweiserhebungen von Amts wegen finden aber
nicht statt — das Gericht muß sich auf dasjenige Material be-
schränken, das ihm die Interessenten vorlegen. Trotzdem
steht der baltische Beschluß in seiner allgemeinen legitimieren-
den Bedeutung infolge des von alters her üblichen Aufgebots-
verfahrens dem deutschen Erbscheine näher als der russische
Bestätigungsbeschluß.
Eine Testamentsbestätigung durch Feststellungsklage, wie
sie das russische Recht kennt, ist dem baltischen fremd. Aber
dem Testamentseiben, der das unstreitige Nachlaß verfahren
nicht beantragen kann (z. B. weil bereits die gesetzlichen Erben
bestätigt sind), oder dem in diesem Verfahren die Anerkennung
*) Die ausnahmsweise einmal erfolgende Vernehmung der Testa-
mentszeugen kann nicht als Beweiserhebung angesehen werden.
428 Tatarin.
der Rechtskraft des Testaments versagt worden ist, steht binnen
der vorgeschriebenen Fristen die Erbschaftsklage offen.
VI. Dem Testamentserben wird zu seiner Legitimation
nach Ergehen des Beschlusses über die Rechtskraft des Testa-
ments, das Original des letzteren, ebenso wie in Rußland, unter
Schnur und Siegel des Gerichts mit der Aufschrift desselben
über Veröffentlichung und eingetretene Rechtskraft ausgereicht.
Doch auch hier geschieht das nur nach Entrichtung der Erb-
schaftssteuer 1). Der Betrag letzterer wird durch den Be-
stätigungsbeschluß festgesetzt.
VII. Die Beschlüsse und Anordnungen des Gerichts in
Sachen des unstreitigen Testamentsverfahrens unterliegen der
Beschwerde auf gewöhnlicher Grundlage2), in bezug auf die
Anfechtung des ergangenen Aufgebots gilt hier dasselbe, wie
eben in Anlaß des Intestatverfahrens dargelegt.
VIII. Selbstverständlich ist aber die Regelung der Erb-
>,chaftsverhältnisse durch das unstreitige Testamentsverfahren
nur eine vorläufige3). Den rechtzeitig gemeldeten Anfech-
tungsberechtigten steht hinterher eine Beseitigung des ihnen
hinderlichen Testaments auf dem Klageweg zu. Nur falls sie
mit ihrem Anspruch bei ergangenem Aufgebot ausgeschlossen
worden sind und kein Grund für eine Anfechtung des Aus-
schlußurteils besteht bzw. die Fristen hierfür oder — bei Nicht-
') Z.V.O. 1968.
2) Z.V.O. 1970. Zu bemerken ist hier nur, daß die Praxis der
russischen Gerichte in bezug auf die den Rechtskn.ftsbeschluß betreffenden
Beschwerden die russische Beschwerdefrist (Z.G.B. 10669) von 1 Monat
anwendet. Ob das berechtigt ist, mag dahingestellt sein, denn der Aus-
druck des § 1970 Z.V.O. „auf allgemeiner Grundlage" bezieht sich wohl
nur auf die Prozeßvorschriften der Z.V.O., nicht auf das dem Baltikum
fremde Z.G.B. Das Richtige wäre daher auch hier die Einhaltung einei
Htägigen Frist.
3) Vgl. hierüber Zwingmann, Entach. III, 1290; \gh auch die
interessante Parallele im verwandten lübischen Rechte bei Pauli, Abh.
a. d. lüb. Recht, S. 347: besonders hier auch der im baltischen Rechte
wiederkehrende Gegensatz zwischen formalia und materialia.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 429
erlaß eines Proklams — für die Geltendmachung von Erb-
ansprüchen verstrichen sind, ist das rechtskräftige Testament
eine unanfechtbare Urkunde. Aber auch vor Verfall solcher
ihr eventuell noch entgegenstehender Rechte ist sie ein völlig
brauchbares Legitimationsmittel. Man wird jedoch auch hier,
ebenso wie in Rußland, in Fällen, wo im Testamente nicht alles
sonnenklar ist, den unzweideutigen Ausspruch des Gerichts darüber
vermissen, wer auf Grund desselben als rechte Erben anzusehen
sind. In ganz anderer Weise bietet hierüber einen autorita-
tiven Ausspruch des Nachlaßgerichts der Erbschein des deutschen
Rechts.
IX. In bezug auf die Kosten des unstreitigen Nachlaß -
Verfahrens gilt im Baltikum dasselbe wie in Rußland, es treten
nur noch die Aufgebotskosten hinzu, die 4 Rbl. 50 Kop. aus-
machen *), beim Testamentsverfahren aber sind außerdem 3 Rbl.
für die Bekanntmachung über den EröfFnungsterniin in der
Gouvernementszeitung zu entrichten 2).
Tit. 6. § 47. Der Rechtszustand während der deutschest
Besetzung des Baltenlandes.
Im vorstehenden habe ich zusammenfassend dasjenige un-
streitige Nachlaßverfahren geschildert, das im Baltikum bis in
die letzte Zeit zur amtlichen Feststellung der rechten Erben
und damit zur Erteilung von Legitimationsurkunden an die-
selben führte.
Im Jahre 1915 erfolgte nun die Besetzung Kurlands, im
Jahre 1917 die Rigas und 1918 die Liv- und Estlands durch
das deutsche Heer. Ueberall wurden, da die russischen land-
fremden Gerichte das Land geräumt hatten, von der deutschen
Verwaltung unter Hinzuziehung örtlicher Juristen deutsche Ge-
richte eingesetzt.
In Zivilsachen wurde die bis dahin gültige russische Z.V.O.
») Z.V.O. 857, Anm.
2) Z.V.O. 1958.
430 Tatarin.
suspendiert und die deutsche Z.P.O. eingeführt. Bezüglich der
freiwilligen Gerichtsbai keit wurde bestimmt, daß auf diesem
Gebiete das deutsche F. G.G. vom 17. Mai 1898 und das preu-
ßische Gesetz vom 21. September 1899 gelten sollten, soweit
aber in diesen keine genügenden Bestimmungen enthalten sind,
subsidiär die Vorschriften der russischen Z.V.O. über das Ver-
fahren vor den im Baltikum tätigen Gerichten *).
Man wird letztere Regelung für keine glückliche halten
müssen. Wie ich bemüht gewesen bin, im obigen zu zeigen,
sind die auf das Baltenland bezüglichen Bestimmungen der
Z.V.O. wenn auch nicht in allen Hinsichten geglückt, so doch
mit einer gewissen Sorgfalt den materiellen Bestimmungen des
baltischen Privatrechts angepaßt worden. In der Hauptsache
stützen sie sich außerdem, wie mehrfach gezeigt, auf altbal-
tischen Gerichtsgebrauch und die im Baltenlande fiüher gül-
tigen Gesetze. Daß ein gewisser russischer Einfluß mit unter-
laufen war, war beim Zuge der Zeit unvermeidlich. Er ist
aber auf unserem Gebiete nicht groß, wie ja auch die beträcht-
liche Zahl der Paragraphen beweist, die in der Ergänzung zur
Z.V.O. unserem Gegenstande zugeteilt worden sind. Es wäre
daher nützlich gewesen, diese rein baltischen Bestimmungen
(im Gegensatze zur sonstigen Z.V.O.) auch unter deutschem
Regiment voll und ganz bei Kraft zu erhalten und umgekehrt
dem F G.G. und dem preußischen Gesetz vom 21. September
1899 nur subsidiäre Bedeutung zu gewähren Damit wäre dann
die harmonische Rechtsentwicklung nicht unterbunden worden.
Eine solche Regelung stellt sich als zwingende Notwendigkeit
schon aus dem Grunde heraus, weil das F. G.G. und das Gesetz
vom 21. September 1899 nur einen kleinen Teil derjenigen
Vorschriften enthalten, die im Pr.R. fehlen, die aber das un-
streitige Nachlaß verfahren zu seiner Regelung erheischt. Ein
Ersatz des Fehlenden aber ist um so weniger erzielt worden, als
J) Vgl. Verordnungsblatt für die von deutschen Truppen besetzten
Teile Livlands und Estlands Nr. 9 vom 12. Januar 1918. Verordnung
116, § 33.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 431
die im B.G.B. enthaltenen Bestimmungen über das Nachlaß- und
besonders über das Erbschein verfahren nicht rezipiert worden sind.
Wäre man dagegen, wie hier vorgeschlagen, verfahren, so
hätte man den organischen Zusammenhang mit der baltischen
Vergangenheit gewahrt und hätte dabei doch manche wünschens-
werte Ergänzung und Verbesserung des bestehenden Rechts er-
zielt: so durch die vollkommeneren Vorschriften des F. G.G.
§ 73 über die örtliche Zuständigkeit, die Bestimmungen des
■§ 83 über Anhaltung zur Ablieferung des Testaments, des § 84
über die Erteilung des Erbscheins x) usw.
Heute2), da ich dieses schreibe, sind nun, wie so oft in
diesem Weltkriege, die noch beim Beginn der Niederschrift
vorliegender Abhandlung bestehenden Zustände durch die ein-
ander jagenden Ereignisse überholt worden. Trotzdem hielt
ich es nicht für angebracht, die vorstehenden kurzen Bemer-
kungen zu unterdrücken. Sie werden vielleicht bei einer künf-
tigen Regelung der freiwilligen Gerichtsbarkeit im Baltenlande
dem Gesetzgeber, wer er auch sei, einen Hinweis für den ein-
zuschlagenden Weg bedeuten3).
1) Letzteren hat übrigens die Praxis seit Einführung des F.G.G.
sowieso ins Zentrum des baltischen Nachlaßverfahrens gestellt. Hier
mußten aber ergänzend, obgleich über den Sinn der Verordnungen hin-
übergreifend, auch die Bestimmungen des B.G.B. bezüglich des Eibscheins
zur Anwendung gelangen. So ist z. B. das mehrfach erwähnte Ebren-
triedensrichterattest durch die Versicherung an Eides Statt des B.G.B,
§ 2356 ersetzt worden.
2) Dezember 1918.
3) Jetzt 1921, wo die Fortsetzung der 1918—19 verfaßten Arbeit zum
Druck gelangt, sind auf den Trümmern des alten Baltenlandes (Liv-, Est-
und Kurland) die zwei nationalen Volksstaaten Lettland und Estland ent-
standen, in denen der frühere russisch-baltische Rechtszustand auf unserem
Gebiete, unter geflissentlicher Ausmerzung aller Spuren deutscher Kriegs-
herrschaft, wiederhergestellt worden ist. Insofern entspricht die obige
Darstellung heute wieder fast restlos dem in jenen Staaten bestehenden
Rechtszustand. Bei objektiver Erwägung wird man dort vielleicht trotz
allem einmal erkennen, worin der temporäre Rechtszustand der Jahre
1915 — 19 den Ausdruck einer höheren Rechtsentwicklune darbot.
432 Tatarin.
IV. Abschnitt.
Die rechtliche Bedeutung der Erblegitimations-
urkunden im russischen und im baltischen Recht.
Tit. 1. Die Vermutung für die Richtigkeit
der Legitimationsurkunrlen.
§ 48. Das deutsche Recht.
Der deutsche Erbschein ist eine öffentliche Urkunde *), die
eine Beurkundung eines Rechtsverhältnisses enthält 2) : er stellt
fest, wer als der rechte Erbe des Verstorbenen anzusehen ist.
Für die Richtigkeit des Ausspruchs über das Erbrecht gilt die
ausdrückliche Vermutung des § 2365: der im Erbschein als
Erbe Bezeichnete gilt jedem gegenüber als Erbe. Diese Ver-
mutung wirkt sowohl für als gegen ihn : er ist einerseits für
Anträge bei Behörden (besonders beim Grundbuchamte), für
Rechtsgeschäfte mit Privatpersonen , für Prozesse aktiv legi-
timiert, andrerseits auch als für die Schulden des Erblassers
Verpflichteter, als Vertreter seiner Unternehmungen, seiner
Betriebe, als sein Nachfolger im Prozesse passiv legitimiert3).
Dieses Erbrecht ist im Erbscheine genau zu bestimmen, bei
mehreren Erben ist die Größe des Erbteils anzugeben, be-
sonders sind auch Beschränkungen durch Nacherbfolge und
Testamentsvollstreckerschaft zu bezeichnen4). Als öffentliche
Urkunde hat der Erbschein auch die in Z.P.O. 437 ausgedrückte
Vermutung der Echtheit für sich 5). Die Vermutung des § 2365
B.G.B. erstreckt sich jedoch nicht weiter, als sein Text aus-
drücklich besagt — insbesondere gilt sie nicht für die Richtig-
keit der in ihm eventuell angegebenen Tatsachen 6) und für
l) Boschan, Nachlaßsachen, S. 27 — 28.
2J Eßlinger, Erbschein, S. 10 ff., S. 76; Wein er, Erbschein, S. 9.
3) Binder, Rechtsstellung des P>ben II, S, 9; Boschan a.a. 0. S.26-
*) B.G.B. 2364 u. 2365.
5) Vgl. Weiß ler, Nachlaßverfahren. S. 226.
6) Weißler a. a. 0. S. 226; Weiner, Erbschein, S. 49; Eßlinger
a. a. 0. S. 10.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 433
den Bestand des Nachlasses 1). Die Vermutung des § 2365
kann als praesumtio iuris gemäß Z P.O. 292 widerlegt werden2).
Eine Begründung enthält der Erbschein nicht3).
Die Erteilung eines Erbscheins kann sowohl bei gesetz-
licher als bei testamentarischer Erbfolge verlangt werden, was
im Gegensatze zum früheren preußischen Rechte, wie es im
Gesetze vom 12. März 1869 enthalten war, steht: dort war
durch den § 9 für den Fall der ungenügenden Bestimmtheit
der letztwilligen Verfügung die Ausstellung einer ergänzenden
Bescheinigung über das Erbrecht vorgesehen. Jedoch ist bei
testamentarischer Erbfolge nach heutigem Rechte der Erbschein
das einzige gesetzlich vorgesehene Legitimationsmittel: der
Grundbuchbehörde gegenüber kann, wenn diese es für genügend
erachtet, das Erbrecht auch durch die letztwillige Verfügung
nebst Eröffnungsprotokoll nachgewiesen werden4).
Im übrigen ist der Erbschein überhaupt nicht obligato-
risch5) — der Erbe kann sich in der Regel durch jede andere
Art des Nachweises legitimieren. Nur in einzelnen Fällen,
so dem Grundbuchamte , der Schiffsregisterbehörde 6) gegen-
über, ist der Erbschein zum Nachweis der Erbfolge vorge-
schrieben.
Wie wir aus dem Dargelegten ersehen, ist die Bedeutung
des Erbscheins für das deutsche Rechtsleben genau durch das
Gesetz geregelt: seine rechtliche Kraft beruht vor allem auf
der in § 2365 ausgesprochenen Rechtsvermutung.
!) Weiner a.a.O. S. 52 ; Kretschmar.. Erbrecht, S. 295; Eß-
linger a. a. 0. S. 10.
2) Vgl. Weiner a. a. 0. S. 50; Kretschmar a. a. 0. S. 295;
Kipp, Erbrecht, S. 184, N. 4; Kuttner, Rechts Wirkungen aus Akten
der F.G. in Jherings Jahrbüchern, Bd. 61, 1912, S. 122 ff.
3) Vgl. Eßlinger a.a.O. S. 21; Saupe, Erbschein verfahren, S. 87.
4) G.B.O. 36, Abs.l, vgl. hierüber Voß bei Gruchot 43, S. 657—658;
Boschan S. 26.
6) Vgl. Weiner S. 54; Weißler S. 232— 233 : Boschan S. 30;
Kretschmar S. 284; Eßlinger S. 33.
6) G.B.O. 36, F.G.G. 107.
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. XXXIX. Band. 23
484 Tatarin.
§ 49. Das russische Recht.
Das russische Recht dagegen, in welchem sich das Erb-
bestätigungsverfahren erst durch die gerichtliche Praxis heraus-
gebildet hat, enthält keinerlei Gesetzesbestimmungen über die
rechtliche Bedeutung der zwei dem Erben zur Legitimation
dienenden Urkunden: des Erbbestätigungsbescblusses und des
bestätigten Testaments. Vor allen Dingen stellt das russische
Recht keine besondere Rechtsvermutung im Sinne des § 2365
B.G.B. auf. Die Prozeßordnung enthält ebenfalls — und zwar
bewußtermaßen — keine dahingehenden Bestimmungen. Die
Motive zur Z.V.O. sprechen aus, daß der Vorschlag, in An-
lehnung an die §§ 1349 — 1353 Regeln über die Rechtsvermu-
tungen in das Gesetz aufzunehmen, aus dem Grunde nicht an-
genommen worden sei, ^weil die Lehre von den Rechtsver-
mutungen in engem Zusammenhang mit den Grundzügen des
Privatrechts stehe und in die Zivilverfahrensordnung erst dann
aufgenommen werden könnte, wenn die Zivilgesetze genügend
klar dargestellt wären". Solches ist aber bis zum heutigen
Tage nicht geschehen 1).
Wir müssen daher die Frage nach der Rechtskraft dieser
Urkunden auf indirektem Wege: auf Grund allgemeiner Er-
wägungen und der Ergebnisse der gerichtlichen Praxis zu ent-
scheiden suchen.
Beide unstreitigen Verfahrensarten, sowohl das Intestat-
als das Testamentsverfahren, führen zu einem Gerichtsbeschlüsse,
der einen Ausspruch über das Erbrecht der Antragsteller ent-
hält. Bei der Intestaterbfolge ist der Ausspruch ein direkter,
bei der testamentarischen ein indirekter, indem durch den
Testamentsbestätigungsbeschluß in der Regel nur die Rechts-
kraft der letztwilligen Verfügung ausgesprochen wird. Da das
Gesetz keine besonderen Bestimmungen über die Rechtskraft
dieser Beschlüsse enthält, so müssen wir auf dieselben in erster
Linie die allgemeinen Bestimmungen über Gerichtsbeschlüsse
') Motive zu Z.V.O. 456 (zitiert bei Smirlow a. a. 0. S. 430).
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 435
anwenden, was um so näher liegt, als die russische Rechts-
anschauung auf das unstreitige Verfahren überhaupt die Grund-
sätze des streitigen anwendet. Es kann dieses insofern nicht
auffallen, als der russische Bestätigungsbeschluß im Gegensatze
zum deutschen Erbschein nicht eine besondere Urkunde ist,
die durch Beschwerde nicht angefochten werden könnte, sondern
in bezug auf seine<Anfechtbarkeit anderen Beschlüssen gleichsteht.
A. In der Regel können nach Z.V.O. 891 Gerichtsbe-
schlüsse im Gegensatz zu Urteilen infolge veränderter Tat-
umstände aufgehoben oder abgeändert werden. Wie
jedoch aus den Motiven ersichtlich, bezieht sich dieses erstens
nur auf diejenigen innerhalb des Prozesses ergehenden Be-
schlüsse, durch welche „keine endgültige Anerkennung der
Rechte der Parteien" stattfindet, zweitens aber ist ein solches
Abänderungsrecht nur für so lange anerkannt, „als der Prozeß
nicht durch Endurteil erledigt ist" *). Hieraus folgt a contrario,
daß Beschlüsse, die eine Anerkennung bestimmter Privatrechte
enthalten, die dazu außerhalb des Prozesses ein begrenztes Ver-
fahren abschließen, nicht in willkürlicher Weise abgeändert
oder aufgehoben werden können. In Uebereinstimmung hier-
mit hat auch der Senat ausgesprochen, daß „diejenigen Be-
schlüsse, durch welche materiell über ein Recht entschieden
wird, für die Beteiligten die Bedeutung eines materiell-recht-
lichen Urteils haben ; solche Beschlüsse . . . werden bei Nicht-
erhebung der Beschwerde binnen festgesetzter Frist rechts-
kräftig und können weder im unstreitigen noch im streitigen
Verfahren geändert werden, sogar wenn sie auf einseitigen
Antrag und ohne kontradiktorisches Verfahren ergangen sein
sollten"2); und insbesondere noch in bezug auf Testamente
heißt es: „Ein Gerichtsbeschluß, der die Bestätigung des Testa-
ments betrifft, kann nach Rechtskraft desselben im unstreitigen
J) Motive zu Z.V.O. 891 (zitiert bei S mir low a. a. 0. S. 646). So
auch Issatschenko, Russ. Zivilproz. I, S. 146 — 148 und Anm. 1, S. 146.
2) Sen.E.E. 1873/1, 1874/347; teilweise widersprechend, aber kaum
logisch zu rechtfertigen die Sen.E.E. 1879/147, 1880/124.
436 Tatarin.
Verfahren nicht abgeändert werden*1). So hat sich auch die
herrschende Ansicht in der Wissenschaft gestellt2).
Wie wir oben gesehen haben, unterliegen alle diejenigen
Beschlüsse, die das Verfahren abschließen, und damit auch die
Erben- und Testamentsbestätigungsbeschlüsse, der Beschwerde3),
alle Beschlüsse aber, die durch solche angefochten werden
können, sind der Rechtskraft fähig4) und hiermit formell dem
Urteil gleichgestellt. Damit gelangen wir auch auf diesem
zweiten Wege zum Ergebnis, daß auf die erwähnten Beschlüsse
des unstreitigen Nacblaßverfahrens nicht Z.V.O. 891, Abs. 2,
sondern Abs. 1 anzuwenden ist, wonach das Gericht seine Re-
solution weder aufheben noch abändern darf5).
Solche Beschlüsse gelten also nach Eintritt der Rechts-
kraft als res judicata, d. h. sie stellen unter den Beteiligten 6)
dasjenige Recht fest, das in ihnen ausgesprochen wird. Dieses
allerdings mit einer sehr wesentlichen Einschränkung: der Be-
schluß steht dem Urteil nach und schließt dieses in keinem
Falle aus. Jeder Bestätigungsbeschluß kann also durch Urteil
nachgeprüft werden: sowohl der am unstreitigen Verfahren
beteiligte als der daran unbeteiligte Erbprätendent kann durch
1) Sen.E. 1879/278.
2) Vgl. Annenkow V, S. 390 — speziell in bezug auf das Nach-
laßverfahren; Issatschenko, Russ. Zivilproz. I, S. 148 — im allge-
meinen in bezug auf Gerichtsbeschlüsse — in Anlehnung an die bereits
früher erwähnte Sen.E. 1889/1, laut welcher Beschlüsse, durch welche
das Verfahren beendet wird, der Beschwerde unterliegen und damit auch
der Rechtskraft fähig sind.
3) Sen.E.E. 1872/542 u. 558 und 1876/202; vgl. oben S. (I) 322 u. 353.
*) Sen.E.E. 1882/101 u. 1889/1.
5) Eine Einschränkung wird hier nur in der Hinsicht zu machen sein,
daß, sofern eine Bestätigung überhaupt nicht erfolgt war, z. B. wegen
fehlender Beweise, eine neue Verhandlung im unstreitigen Verfahren
immerhin zulässig sein muß, sobald neues Material beigebracht wird;
denn hier ist ein materieller Beschluß ja noch gar nicht ergangen. Vgl.
hierzu Sen.E. 1908|16, deren Motivierung aber kaum zutreffend sein
dürfte. Vgl. auch die auf Urteile bezügliche Sen.E. 1907/42.
c) Z.V.O. 895.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 437
die gerichtliche Klage sein besseres Erbrecht dem im un-
streitigen Verfahren als Erben Anerkannten gegenüber durch-
setzen und damit den Beschluß beseitigen 1). Die russische
Jurisprudenz ist noch nicht zur klaren Erkenntnis dessen durch-
gedrungen, daß es sich hier um zwei verschiedene Verfahrens -
arten handelt, und daß der Charakter des Urteils und des Be-
stätigungsbeschlusses ein wesentlich verschiedener ist : daß das
Urteil nur Recht zwischen den am Rechtsstreit Beteiligten
schafft, der Gerichtsbeschluß der freiwilligen Gerichtsbarkeit
aber mit dem Anspruch auftritt, das Erbrecht einem jeden
Dritten gegenüber festzustellen. Hieraus erklärt es sich auch,
daß die russische Praxis auf das unstreitige Verfahren und die
in demselben ergehenden Beschlüsse die allgemeinen Regeln
des Zivilprozesses anwendet.
Der Bestätigungsbeschluß ist also nur insoweit mit Rechts-
kraft ausgestattet, als er durch ein Urteil nicht beseitigt worden
ist. Die Praxis wendet eben auch hier die Anschauungen
des Prozeßrechts an. Gleich wie z. B. der Gerichtsbeschluß
über die Nichtberücksichtigung einer prozeßhindernden Einrede
(Z.V.O. 69 und 571) nach der stehenden Praxis durch das
Urteil nachgeprüft werden kann2), indem die Einrede nach
ihrer Ablehnung durch Beschluß weiterhin als gewöhnliche
Prozeßeinwendung geltend gemacht werden kann, ebenso wird
von der Praxis auch der Erbbestätigungsbeschluß als vorläufiges
summarisches Erkenntnis angesehen, das durch ein auf Grund
einer kontradiktorischen Verhandlung ergehendes besseres Er-
kenntnis — das Urteil — ersetzt werden kann.
Daß der Bestätigungsbeschluß von der Gerichtspraxis dem
im Prozesse ergehenden Beschlüsse gleichgeachtet wird, folgt
auch schon daraus, daß seine obenerwähnte bedingte Rechts-
kraft nur denjenigen gegenüber wirkt, die am Verfahren be-
teiligt waren. Wie wir bereits gesehen haben, kann jeder am
unstreitigen Nach laß verfahren unbeteiligte Erbprätendent noch
') Vgl. Sen.E.E. 1893/4, 1895/90.
2) Vgl. hierzu die Sen.E.E. 1870189, 1882/60 u. 1885/32.
438 Tatarin.
binnen 10 Jahren erscheinen und das Gericht um seine Be-
stätigung als Erbe bitten *) — er war ja am früheren Ver-
fahren nicht beteiligt; und nur bei Protest von Seiten der
früher Bestätigten ist er abzuweisen ; da die erste Bestätigung
ohne Bezeichnung der Erbteile erging2), so faßt die russische
Praxis eine solche nachträgliche Bestätigung weder als Auf-
hebung noch als Abänderung, sondern nur als Ergänzung des
früheren Beschlusses auf. Nur bei Protest der Erstbestätigten
oder falls ein bestätigtes Testament vorliegt3), stellt sich die
Praxis auf den Standpunkt, daß damit eine Einheit der zwei
getrennten Verfahren entsteht und eine Bestätigung neuer
Prätendenten eine Abänderung des früheren Beschlusses be-
deuten würde4). Daher werden in diesem Falle die neuen
Prätendenten auf den Klageweg verwiesen. Ein solcher ist
nach der russischen Rechtsanschauung während der allgemeinen
Verjährungsfrist noch stets gangbar, und zwar sowohl für die
am unstreitigen Verfahren Unbeteiligten als auch für die Be-
teiligten, aber mit dem Beschluß Unzufriedenen. Es ist nicht
ausgeschlossen, daß nach Erkämpfung eines Urteils neue Prä-
1) Vgl. oben S. (I) 297 u. 312 ff.
2) Vgl. Sen.E.E. 1896/4 u. 1898 35; Klibanski. Handbuch, S. 88
u. 155, N. 4.
3j Denn die Bestätigung des Testaments faßt das russische Recht,
wie wir gesehen haben, als öffentliche Angelegenheit auf, weswegen es
hier eigentlich keine Unbeteiligten gibt.
4) Das ist bloß dann nicht der Fall, wenn nach Bestätigung der
Intestaterben ein Testament zur Bestätigung eingeliefert wird. Hier ent-
steht nach der Auffassung des Senats offenbar keine Einheit des Ver-
fahrens und es ist daher eine Bestätigung der Testamentserben trotz
Bestehens einer gerichtlichen Bestätigung der Intestaterben möglich
(Sen.E. 1912/73). Das ist übrigens eine Konsequenz des Standpunkts des
russischen Rechts, daß das Testament von Amts wegen zu bestätigen ist.
In bezug auf alle solche infolge der Unvollkommenheit des Gesetzes gar
nicht zu vermeidenden Fälle des Ergehens einander widersprechender
Bestätigungsbeschlüsse bemerkt Annenkow (a. a. 0. S. 390), daß hier
kein anderer Ausweg verbleibt, als — das Recht der dadurch geschädigten
Erben auf Geltendmachung ihrer Rechte im Prozeßwege anzuerkennen.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 439
tendenten erscheinen und die früheren Erben durch einen neuen
Prozeß verdrängen, denn das Urteil hat Rechtskraft auch nach
russischem Rechte (Z.V.O. 895) nur unter den Teilnehmern
bzw. ihren Rechtsnachfolgern oder Vertretern *). Allen Dritten
gegenüber werden sowohl die im Bestätigungsbeschluß als die
im Urteil enthaltenen Feststellungen über das Erbrecht erst
dann als unerschütterlich auftreten, wenn es während der Ver-
jährungsfrist von 10 Jahren vom Todestage (bzw. vom Ablauf
des Aufgebots) an gerechnet unangefochten geblieben ist. Das
hat aber mit der Vermutung für die Richtigkeit des Inhalts
derselben nichts zu tun.
B. Von der erörterten negativen Seite der materiellen
Rechtskraftswirkung des Bestätigungsbeschlusses, die sich darin
äußert, daß ein solcher Beschluß von demselben oder einem
anderen Gericht nicht mehr im gleichen Verfahren nachgeprüft
werden kann, ist aber die positive Seite derselben zu unter-
scheiden. Zur Klarstellung dieser ist zu untersuchen, inwie-
fern die durch den Beschluß festgestellte Rechtslage künftig-
hin als maßgebend angesehen werden muß.
Hier haben wir nun die Bestimmung des § 893 Z.V.O. ,
wonach ein rechtskräftiges Urteil nicht nur für die Beteiligten,
sondern auch für das Gericht, das dasselbe erlassen hat, und
für alle sonstigen Gerichts- und Verwaltungsbehörden sowie
auch für die Beamten des Reiches verbindlich ist 2). Das ist
eine Bestimmung, wie sie im deutschen Gesetze nicht vor-
handen ist, wie sie aber z. B. Kuttner mit Otto Bahr für
eine stillschweigende Voraussetzung der modernen staatshoheit-
lichen Rechtspflegetätigkeit hält3). Aus dieser Bestimmung
entspringt an sich die Vermutung für die Richtigkeit des ge-
richtlichen Erbbestätigungsbeschlusses, sofern derselbe Rechts -
1) Vgl. Sen.E.E. 1870/1664, 1872/664. 1873/1592, 1878/201, 1879/312.
1881/159, 1886/64, 1889/69, 1896/54; desgl. Issatschenko a. a. 0. I,
S. 140 ff.; Engel mann, Russ. Gerichtsverfahren, S. 367, N. 2.
2) Vgl. Engelmann, Russ. Gerichtsverfahren, S. 367, Pt. 3.
3) Vgl. Kuttner, Verh. des Zivilproz. zum Erbschein verfahren,
S. 108 u. 232—283; Otto Bahr, Rechtsstaat, S. 67.
440 Tatarin.
kraft erlangt hat und formell dem Urteil gleichgestellt ist.
Diese Vermutung geht dahin, daß ein in einem solchen Be-
stätigungsbeschluß als Erbe Bezeichneter — unabhängig davon,
ob der Beschluß für die an seinem Zustandekommen nicht Be-
teiligten unumstößlich ist — so lange für alle Behörden und
Beamten als rechter Erbe gelten muß, solange der Beschluß
nicht auf dem Klagewege beseitigt ist. Daraus folgt aber, daß
der Beschluß um so mehr allen dritten Privatpersonen gegen-
über maßgebend ist, denn muß jede Behörde von der Vermu-
tung ausgehen, daß der Bezeichnete rechter Erbe ist, so darf
auch jeder Dritte ihn als Erben ansehen. Zwar kann der Be-
schluß auf dem Prozeß wege nachträglich erschüttert werden,
doch solange das nicht der Fall ist, spricht die Vermutung
für den im unstreitigen Verfahren Bestätigten *).
In bezug auf das Dargelegte ist zweierlei auseinanderzu-
halten. Wenn der Senat ausspricht, daß die Bestätigung der
Erben im Erbrechte im unstreitigen Verfahren keinerlei Hinder-
nis für ein Prozeßverfahren bildet 2), andrerseits aber oben aus-
geführt wurde, daß der Bestätigungsbeschluß, sofern er formelle
Rechtskraft erlangt hat, für die Gerichte verbindlich ist3), so
handelt es sich im ersten Falle um die Entscheidung im Rechts-
wege derselben Frage nach dem Erbrechte, die im unstreitigen
Verfahren eine vorläufige Entscheidung gefunden hatte. Im
zweiten Falle aber handelt es sich um die Frage, inwiefern die
J) Diese Konsequenz folgt wohl auch noch indirekt aus der Sen.E.
1878/278, wonach § 459 Z.V.O. nicht ausspricht, daß das Gericht bei
Entscheidung eines Prozesses das Recht hätte, die Gültigkeit einer vor-
gelegten formellen Urkunde abzulehnen, falls diese durch Beschluß einer
dazu gesetzlich autorisierten Behörde beglaubigt worden ist und falls
deren Gültigkeit kraft desselben Gesetzes nur durch besondere Klage
erschüttert werden kann. Da letzteres beim Bestätigungsbeschlusse der
Fall ist, und da laut Sen.E. 1878/92 Urteilskopien unter die in § 459
gemeinten Urkunden fallen, so dürfen wir wohl diese Entscheidung auch
auf die Erbbestätigungsbeschlüsse im allgemeinen, jedenfalls aber aut
die bestätigten Testamente anwenden.
2) Sen.E. 1912/69 u. a.
3) Z.V.O. 893..
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 441
Feststellungen des Beschlusses von Gerichten und Behörden
bei Entscheidung anderer Prozesse bzw. Angelegenheiten nach-
geprüft werden dürfen oder als richtig hingenommen werden
müssen, z. B. ein Wechsel wird vom Erben des ursprünglich
Berechtigten ausgeklagt, oder der Erbe verkauft das Grund-
stück des Erblassers — es fragt sich, darf hier das Gericht
oder der Notar die Legitimation des Erben noch anderweitig
nachprüfen. Hier kann die Antwort gemäß dem Dargelegten
nur so lauten: Trotz der Möglichkeit, das Erbrecht des Be-
stätigten auf dem Prozeß wege anzufechten, ist die Feststellung
des Bestätigungsbeschlusses bis zu einer solchen Beseitigung
des Beschlusses von allen Dritten einschließlich aller Gerichte
und Amtspersonen als richtig anzuerkennen. Und zwar ist die
Vermutung, die zugunsten des Beschlusses spricht, eine prae-
sumtio juris et de jure — wie jedes rechtskräftige Urteil kann
der Beschluß, im Gegensatze zum deutschen Erbschein, nicht
widerlegt werden: solange er auf dem Klagewege nicht ent-
kräftet ist, wirkt sein Inhalt positiv gegen jedermann. Darin
besteht der Gegensatz zur negativen Rechtskraftswirkung; diese
gilt, wie wir gesehen haben, nur den Beteiligten gegenüber:
jeder unbeteiligte Erbprätendent kann eine neue Entscheidung
herbeiführen.
Nur so, meine ich, lassen sich die unvollkommenen Gesetzes-
bestimmungen und die sich widersprechenden Entscheidungen
der russischen Gerichte in logische Uebereinstimmung bringen.
Hier ist zu beachten, daß, wenn das auf Klage ergehende Urteil
auch nur zwischen den Parteien wirkt, der siegreiche Kläger
sich durch dasselbe doch die gesamte Rechtsstellung verschafft,
die der unterlegene Beklagte als präsumtiver Erbe innehatte und
daß daher der auf dem Klagewege als Erbe Anerkannte von der
Rechtskraft des Urteils an auch Dritten gegenüber als Erbe gilt.
Es muß hier gesagt werden, daß weder das russische Ge-
setz noch die Rechtssprechung Regeln aufstellen, in welcher
Weise bei Ergehen eines dem Bestätigungsbeschluß wider-
sprechenden Urteils der erstere unschädlich zu machen bzw.
442 Tatarin.
aus der Welt zu schaffen ist. Es muß hier natürlich die Frage
entstehen, von welchem Augenblick an der Beschluß die Ver-
mutung seiner Richtigkeit verliert, und in welcher Weise das
für Dritte kenntlich gemacht wird. Hier versagt die russische
Jurisprudenz. Es fehlt ein der deutschen Einziehung x) ana-
loges Verfahren.
Daß das russische Recht die Absicht hat, dem Bestäti-
gungsbeschlusse die dargelegte Wirkung zuzuerkennen , geht
aus der obigen2) Schilderung des Bestätigungsverfahens hervor:
das Gericht begnügt sich nicht mit der einseitigen Behauptung
des Erbrechts: es verlangt entweder den Erlaß eines Auf-
gebots der Erbprätendenten oder, wo ein solches nicht ergangen
war, eine Bestätigung wohlinformierter örtlicher Einzelrichter
darüber, daß die Antragsteller die einzigen gesetzlichen Erben
des Verstorbenen sind. Ferner stellt das Gericht vor Fällung
seines Beschlusses von Amts wegen Nachforschungen an, ob
kein bzw. kein anderes Testament des Erblassers vorliegt, ob
nicht andere Bestätigungsanträge eingereicht sind oder etwa
eine Anfechtung der Rechte der Antragsteller vorliegt3). (Im
Widerspruche hiermit steht allerdings , daß bei Erlaß eines
Aufgebots die Antragsteller weder zu behaupten noch zu be-
weisen brauchen, daß sie die nächsten Erben des Verstorbenen
sind4). Aber man kann eben nicht behaupten, daß die rus-
sische Praxis dem unstreitigen Nachlaßverfahren gegenüber ein-
heitliche Gesichtspunkte einnimmt, und daß in allen Entschei-
dungen selbst des höchsten Gerichtshofes eine klare Auffassung
über die Natur der in demselben ergehenden Erkenntnisse vor-
handen wäre.) Zutreffend dürfte auch wohl die allgemeine
Bemerkung Pobjedonoszews 5) sein, daß, obgleich das Verfahren
') B.G.B. 2361—2362.
- -jS. (1)307 ff., 315 ff,. 337 ff.,
3) Vgl. oben S. (I) 316, 338 f.
4) Sen.E.E. 1879/90, 1880/210; teilweise in anderem Sinne: die
Sen.E.E. 1882/103, 1893/4.
5) P o b j e d o n o s z e w a. a. O. S. 383.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 443
ein unstreitiges ist, hieraus doch Dicht folge, daß das Gericht
keine Prüfung der Rechte des Antragstellers vorzunehmen habe.
Es habe nicht von sich aus streitige Fragen aufzuwerfen, die
die Interessen Dritter betreffen. Es habe aber eine rechtliche
und tatsächliche Prüfung des Anspruchs des Antragstellers in-
sofern vorzunehmen, als dieser denselben aus seiner rechtlichen
Beziehung zum Erblasser herleitet.
Jedenfalls ist auch vom Senate ausgesprochen, daß „die
Bestätigung des Erben in seinen Rechten . . ., die für ihn kein
neues Recht erschafft, zur Geltendmachung derjenigen Rechte
dient, die ihm schon kraft Gesetzes gehören" x), und daß die-
selbe „nur eine gerichtliche Bescheinigung des gesetzlichen Erb-
rechts — jedoch nicht mehr als das — darstellt"2). Hieraus
darf die legitimierende Wirkung der Bestätigungsbeschlüsse
in allgemeiner Weise gefolgert werden. Der Erbe wird sich
überall dort an das Gericht um eine Bestätigung im Erbrecht
wenden, wo er ohne eine solche die auf ihn übergegangenen
Rechte des Erblassers geltend zu machen nicht imstande ist3).
Wie bereits oben erwähnt, ist es ihm aber nicht verwehrt, sein
Erbrecht in casu auch auf andere Art nachzuweisen4). Die Bestäti-
gung der Intestaterben ist in der Regel nicht obligatorisch 5),
wohl aber die der Testamentserben : wer als Testamentserbe sein
Erbrecht geltend machen will, muß ein bestätigtes Testament
und eventuell einen ergänzenden Gerichtsbeschluß vorlegen.
Bei der Intestaterbfolge ist die Legitimation ausschließlich
durch Bestätigungsbeschluß nur für folgende Fälle vorgesehen :
*) Sen.E.E. 1876/184, 1911/24.
2) Sen.E.E. 1897/71 u. 1898/30; vgl. Sinaiski a. a. 0. S. 400.
3) Sen.E. 1880/101.
4) Gemäß der Senatsjudikatur kann der gesetzliche Erbe auch ohne
gerichtliche Bestätigung die Erbschaftsklage erheben (1875/519 u. 582),
desgl. den Herausgabeanspruch in bezug auf einzelne Nachlaßgegenstände
geltend machen (1880/101), dieselben veräußern (1875/848), seinen Erbteil
veräußern (1871/10), über Erbgut testieren (1876/184), sich im Prozesse
und Vollstreckungsverfahren legitimieren (1880/65) usw.
5) Sen.E.E. 1876/184, 1896/116, 1902/9, 1905/4, 1905/7, 1911/24. .
444 Tatarin.
1. der Reichsbank, den städtischen Kommunalbanken und den staat-
lichen Sparkassen gegenüber, sofern es sich um Einlagen handelt '),
2. dem Gerichte gegenüber für die Einweisung in den Besitz eines
(Grundstücks,2),
3. der Vormundschaftsbehörde bzw. dem Nachlaßpfleger gegenüber
zwecks Empfang des bis dahin verwalteten Nachlasses3),
4. im Urkundenprozeß dem Gerichte gegenüber, zum Nachweis des
Uebergangs der Rechte oder der Pflichten aus den Urkunden auf die
Prozeßparteien. Hier muß sich nicht nur der Kläger durch den Be-
stätigungsbeschluß aktiv legitimieren, sondern auch die passive Legiti-
mation des Beklagten kann ausschließlich durch diesen erfolgen4)5).
Im Gegensatze zum deutschen Recht bedarf es aber bei der Ueber-
tragung von Grundstücken nicht der gerichtlichen Legitimation6), was
als Folge des Mangels eines Grundbuchsystems anzusehen ist.
Aus den angeführten Bestimmungen des Gesetzes geht jeden-
falls deutlieh hervor, wie dasselbe den Erbschein ansieht: ist
die Vermutung für die Richtigkeit desselben auch nicht in all-
gemeiner Weise ausdrücklich festgelegt, so folgt sie doch aus
den obenerwähnten Spezialbestimmungen in gleicher Weise
wie aus den Gesetzesvorschriften über Beschlüsse und die Rechts-
kraft gerichtlicher Erkenntnisse im allgemeinen 7).
') Reichsbankordnung 157, Kommunalbankordnung 64, Staatl. Spar-
kassenordnung 55, vgl. auch Z.G.B. 1298.
2) Z.V.O. 1424 und Z.G.B. 1296, vgl. das oben Gesagte S. (I) 287.
3) Z.G.B. 1299 Sen.E.E. 1869/177, 1872/885 u. 1874/127, vgl. oben
S. (I) 287.
4) Z.V.O. 1613, Pt. 3 und 1614, Pt. 4.
5) Die in Z.G.B. 1144 vorgesehene gerichtliche Bescheinigung stellt,
obgleich sie sowohl von Annenkow als auch von Scherschenewitsch
hierunter gerechnet wird, gar keine Erblegitimation dar, da es sich hier
nach dem deszendenzlosen Tode von Kindern um die Anerkennung nicht
des Erbrechts, sondern des Eigentumsrechts ihrer überlebenden Eltern auf
Kapitalien handelt, die von diesen auf die Kinder übergegangen waren.
6) Dieses ist ausdrücklich anerkannt durch die Sen.E. von 1896/116.
'•) Im Hinblick auf das Dargelegte wird man die Behauptung
Klibanskis (Handbuch S. 154, 5c) nicht für zutreffend halten dürfen,
daß „die Erbbescheinigung durch das zuständige Gericht im unstreitigen
Verfahren gemäß Art. 1401—1403 Z.V.O. (zu Art. 1239) ohne jede
präjudizielle Wirkung (also in Abweichung vom § 2365 desB.G.B.j"
erteilt wird. Erstens verleiht § 2305 B.G.B. dem Erbschein durchaus
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 445
Wie wir den angeführten Bestimmungen und der Judi-
katurx) entnehmen können, wird der Erbe durch den Be-
stätigungsbeschluß ebenso wie im deutschen Recht sowohl
aktiv als passiv legitimiert.
Im Gegensatze zum deutschen Rechte ist der Beschluß
mit Gründen zu versehen, doch erstreckt sich die Vermutung
nur auf den Inhalt des Beschlußtenors, nicht auf die Begründung2).
Ist der Anteil im Beschluß doch näher bestimmt, so hat diese
Bestimmung keine verbindliche Kraft 3). Die Vermutung spricht
nur für den Uebergang der Rechte des Erblassers auf den
Erben, nicht dafür, daß ein bestimmtes Gut dem Erblasser ge-
hört habe4).
Alles Dargelegte gilt in gleichem Maße vom Feststellungs-
urteil, durch welches in besonderen Fällen 5) die Bestätigung
des Testaments herbeigeführt wird. Denn gingen wir im obigen
von den Gesetzesvorschriften über die Rechtskraft des Urteils
aus , so gelten dieselben in erster Linie auch für das Testa-
mentsbestätigungsurteil. Die negative Rechtskraftswirkung des
letzteren ist nur insofern eine weitergehende, als ein solches
Urteil nur dann durch ein neues Klageverfahren erschüttert
werden kann , falls am früheren Verfahren unbeteiligte Erb-
prätendenten die Ungültigkeit des bestätigten Testaments geltend
machen. Ob eine solche Nichtbeteiligung aber anerkannt werden
darf, wenn beim ersten Klage verfahren die beklagte Seite durch
nicht präjudizielle Wirkung — der Erbschein steht einer Klage nicht im
Wege — , andrerseits aber hat die Vermutung mit präjudizieller Wirkung
nichts zu tun, die Vermutung des russischen Bestätigungsbeschlusses ist,
wie wir gesehen haben, eine stärkere als die des deutschen Erbscheins.
*) Vgl. besonders Z.V.O. 1614, Pt. 4 und die Sen.E.E. 1881/127 und
1875/1063, welch letztere ausspricht, „daß die Bestätigung des Erben im
Erbrechte ihn verpflichtet, die Nachlaßschulden zu bezahlen, mag er auch
faktisch den Erbschaftsbesitz noch nicht angetreten haben".
2) Vgl. die allgemein auf gerichtliche Erkenntnisse bezügliche Sen.E.
1876|526.
3) Sen.E. 1893/4.
*) Sen.E.E. 1876/302 und 1878/60.
5) Vgl. oben S. (I) 348.
446 Tatarin.
den Nachlaßpfleger *) vertreten war, kann fraglich erscheinen,
denn dieser wird von der Praxis als Vertreter auch aller ab-
wesenden Interessenten aufgefaßt.
§ 50. Das baltische Recht.
Wesentlich anders liegt die Sache im baltischen Recht.
Die Grundvoraussetzungen sowohl der negativen als der
positiven Rechtskraftswirkung des Beschlusses über die Be -
stätigung der Intestaterben im Erbrechte und über die Rechts-
kraft des Testaments sind allerdings die gleichen wie in Ruß-
land, da es sich auch im Baltenlande im Gegensätze zu Deutsch-
land nicht um eine gerichtliche Legitimations Urkunde sui
generis, sondern um ein Legitimationszwecken dienendes gericht-
liches Erkenntnis handelt2). Das unstreitige Nachlaß ver-
fahren dient im Baltikum zwar noch anderen Zwecken als der
Legitimation des Erben, was uns oben veranlaßte, diese einzelnen
im Gesetze ineinander verflochtenen Zwecke klarzulegen, doch
ist es in der Hauptsache auch hier dazu bestimmt, den rechten
Erben festzustellen und ihm einen Ausweis über seine Erb-
qualität zu verschaffen. Diesen Zweck erfüllt der Bestätigungs-
beschluß und das rechtskräftige Testament in viel vollkommenerer
Weise als in Rußland. Die negative Rechtskrafts Wirkung der
betreffenden Beschlüsse ist im Baltenlande viel schärfer durch-
geführt. Erzielt wird diese Wirkung durch das Aufgebot
sonstiger Erbprätendenten, das hier mit Präklusivkraft aus-
gestattet ist und außerdem einen Bestandteil des Testaments-
verfahrens bildet. Dadurch wird die Nachlaßverhandlung zu
einer Angelegenheit der Allgemeinheit. Die Frage nach dem
rechten Erben kann nicht, wie in Rußland, durch einen am
ersten Verfahren Unbeteiligten zu neuer Entscheidung im un-
streitigen Verfahren gebracht werden. Einander widersprechende
x) Vgl. oben S. (I) 350.
-) Ueber die auch schon vor der Justizreform von den baltischen
Gerichten anerkannte Unverbindlichkeit der Beschlüsse der freiwilligen
Gerichtsbarkeit für das Prozeßgericht vgl. Zwing mann, Entsch. VII, 1290.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 447
Bestätigungsbeschlüsse sind im Baltikum prinzipiell ausge-
schlossen. Aber auch die Beseitigung des ergangenen Be-
stätigungsbeschlusses oder des rechtskräftigen Testaments durch
Klage ist an sich unmöglich — es muß vorher die Präklusion
beseitigt werden, was, wie wir gesehen haben, auf ein Mini-
mum von Fällen reduziert ist. Der unter Aufgebot ergangene
Bestätigungsbeschluß ist daher im Baltenlande in negativer Hin-
sicht so gut wie unerschütterlich, positiv ist er, wie in Ruß-
land, als gerichtliches Erkenntnis Dritten gegenüber mit der
praesumtio iuris et de iure ausgestattet. Saine Wirkung ist
somit eine stärkere als die des Erbscheins in Deutschland :
durch das Aufgebot sind die Möglichkeiten einer nachträglichen
Erschütterung desselben fast völlig beseitigt. Es tritt hinzu,
daß auch die formelle Rechtskraft der betreffenden gericht-
lichen Erkenntnisse diesen eine gewisse Unanfechtbarkeit ge-
währleistet, denn die Kopie mit der Aufschrift über einge-
tretene Rechtskraft wird nur nach Ablauf der Beschwerde-
fristen ausgereicht 1).
Freilich bedingt das deutsche Erbscheinverfahren größere
Schnelligkeit, was kein zu unterschätzender Vorzug ist. Rechnet
man im Baltenlande Aufgebotsfrist, Vorbereitungen zum Antrage
und Beschwerdefristen zusammen, so wird man sagen dürfen,
daß der Erbe in der Regel erst etwa 3|4 Jahr nach dem Todes-
falle eine genügende Legitimationsurkunde zur Verfügung hat.
Allerdings wird er sich in gewöhnlichen Fällen ein Ehren-
friedensrichterattest beschaffen können und dann die Bestätigung
in wenigen Wochen durchsetzen. Beim fehlerlosen Testament
steht ihm außerdem eine vorläufige Besitzeinweisung auf Grund
des Pr.R. 2480 (missio Hadriana) zu; letztere ist allerdings in
praxi wenig üblich und wird größtenteils durch die endgültige
Anerkennung der Rechtskraft des Testaments auf Grund des
*) In Deutschland dagegen unterliegt der erteilte Erbschein über-
haupt keiner Beschwerde — nur der Beschluß über Ablehnung der Er-
teilung ist anfechtbar — F.G.G. 19 u. 20. Vgl. hierüber Boschan, Nach-
laßsachen. S. 75—76.
448 Tatarin.
in Verbindung mit dem Ehrenfriedensrichterzeugnis zu er-
klärenden Verzichts der Anfechtungsberechtigten (Z.V.O. 1966,
Pt. 2) ersetzt. Denn die missio Hadriana stellt auch im bal-
tischen Rechte eine vorläufige Regelung dar, die in demselben
unstreitigen Verfahren wieder aufgehoben werden kann, so
daß sie dem Erben ein geringes Gefühl der Sicherheit gewährt.
Aber auch die Bestätigung auf Grund Ehrenfriedensrichter-
attests ist zwar endgültig, aber durch das Fehlen des sonst er-
gehenden Ausschlußurteils (Präklusionsbeschlusses) viel weiter-
gehenden Erschütterungsmöglichkeiten ausgesetzt als der nor-
male ßestätigungsbeschluß. Freilich wird hierzu nur bei eigent-
lich unzweifelhaften Verhältnissen gegriffen, denn nur bei solchen
wird sich das genannte Attest vom Ehrenfriedensrichter erzielen
lassen, so daß de facto die auf ein solches ergangene Bestätigung
dieselbe Sicherheit gewährt wie der reguläre Gerichtsbeschluß.
Im Gegensatz zur russischen Bestätigung der Intestaterben
stellt dieselbe aber im Baltikum bis auf die missio Hadriana
keine vorläufige, sondern eine endgültige Regelung dar, was
sich besonders darin kundtut, daß hier eine Nachprüfung der
Rechtslage auf dem Rechtswege prinzipiell ausgeschlossen ist —
die Erbschaftsklage ist nicht nur an sich durch kurze Fristen
beschränkt, sondern auch durch das ergangene Ausschlußurteil
in der Regel ausgeschlossen.
Setzt sich freilich, trotz der vor ihm nach erfolgtem Be-
stätigungsbeschlusse aufgetürmten Hindernisse, der rechte Erbe
dem fälschlicherweise Bestätigten gegenüber siegreich durch,
so verschafft er sich ebenso wie in Rußland die gesamte Rechts-
stellung des bisherigen präsumtiven Erben ; damit gewinnt auch
das ergangene Urteil — im Gegensatze zur regelmäßigen
Wirkung eines solchen bloß unter den Prozeßparteien — die
Vermutung seiner Richtigkeit allen Dritten gegenüber.
Beim Testamente ist allerdings dem Untersuchungsgrund-
satz infolge des andersartigen Zwecks und Charakters dieses
Verfahrens im Vergleiche mit Rußland viel weniger Spielraum
gelassen und daher materiell eine größere Möglichkeit für
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 449
spätere Klagen offen gelassen. Doch wird dieses durch das
ergehende Aufgebot reichlich wettgemacht.
Was die Einzelheiten der baltischen Legitimationsurkunden
anbelangt, so darf, sofern hier keine Einschränkungen gemacht
werden, das gleiche angenommen werden wie bezüglich Ruß-
lands 1). Zu bemerken ist nur, daß hier ebenso wie in Deutsch-
land die Erbteile genau zu bezeichnen sind, was die Legiti-
mationskraft wesentlich erhöht. Denn oft wird es sich nicht
um die Frage handeln, wie die Wirkungen eines mit einem
Dritten auf Grund solcher Urkunde abgeschlossenen Rechts-
geschäfts sind, sondern ob der Dritte sich auf Grund einer un-
klaren Legitimation mit dem Erben überhaupt einlassen wird.
Prinzipiell ist ebenso wie in Rußland die Legitimation des
Erben nicht an gerichtliche Urkunden gebunden, sondern es
ist demselben überlassen, wie er sich in casu ausweisen will.
Jedoch bestehen hiervon wesentliche Ausnahmen :
1. Da bisher im Baltikum die Bestimmungen der rus-
sischen Kreditgesetzgebung (Bd. IX d. Reichsgesetzbuchs) ver-
bindlich waren, so hat sich der Erbe auch den oben sub 1 für
Rußland aufgezählten Kreditinstituten gegenüber durch gericht-
lichen Ausweis zu legitimieren 2).
2. Der Grundbuchbehörde gegenüber ist ausschließlich
Legitimation durch gerichtlichen Bestätigungsbeschluß bzw.
durch gerichtlich für rechtskräftig erklärtes Testament zulässig.
Das folgt aus § 39 der temporären baltischen Grundbuchordnung
vom 9. Juli 1889, wonach zur Vornahme der Korroboration (Eintragung)
vorgelegt werden müssen : 1. alle die die zu korroborierenden Rechte
oder die in die Grundbücher einzutragenden Auskünfte nachweisenden
J) Ebenso wie in Rußland ist der Bestätigungsbeschluß nicht gegen-
ständlich — vgl. hierzu Zwingmann, Entsch. II, 189.
2) Vgl. hierzu auch Samson a. a. 0. S. 28, § 52, Anm.: Reglement
der Leihbank vom 20. November 1772 S. 2 und Ukas vom 20. Juni 1820,
wonach im Baltikum dazumal zur Auszahlung eines Kapitals aus der
Leihbank die gerichtliche Bescheinigung über das Ableben des Erblassers
und über die Rechte des Erben, desgl. über die Ediktalzitation beizu-
bringen war.
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. XXXIX. Band. 29
450 Tatarin.
Urkunden und Dokumente und 2. der Nachweis der Einwilligung der-
jenigen Person, gegen welche die Korroboration gerichtet ist, mit Aus-
nahme der Fälle, wenn die Korroboration ein durch Gesetz oder gericht-
lichen Beschluß festgestelltes Recht betrifft ..." Die Praxis faßt hier
die Vorschrift, daß die durch Pr.R. 810 vorgeschriebene Eintragung der
Veränderung des Eigentümers auf Grund der Erbfolge durch Urkunden
und Dokumente nachgewiesen werden muß, so auf, daß ein solcher
Nachweis nur durch das bestätigte Testament oder den Beschluß über die
Bestätigung der Intestaterben erbracht werden kann, was indirekt durch
den Pt. 2 bestätigt wird ; denn wo die Eintragung unabhängig von einer
Einwilligung erfolgt, wie bei der Erbfolge, da kann das einzutragende
Recht nur durch gesetzliche Vorschrift oder gerichtlichen Beschluß fest-
gestellt sein; man wird im Falle der Erbfolge aber nicht sagen können,
daß das Recht des Impetranten durch das Gesetz schon soweit klar-
gestellt ist, daß hier das Gesetz als genügende Grundlage für die Ein-
tragung desselben angesehen werden darf. Es bleibt also nur der ge-
richtliche Beschluß als Grundlage für eine Uebertragung auf den Namen
des Erben. Daher wird auch die Vorschrift der Z.V.O. 2023, daß die
Erben berechtigt sind, auf Grund des Bestätigungsbeschlusses die Ueber-
tragung der ererbten Grundstücke auf ihren Namen zu verlangen , so
ausgelegt, daß sie diese Berechtigung ausschließlich auf Grund des ge-
richtlichen Beschlusses haben l). Hierin zeigt sich ein auf dem Vor-
handensein eines Grundbuchsystems beruhender wesentlicher Unterschied
mit dem russischen Recht. Im Gegensatz zum deutschen Recht kann im
Baltikum die Grundbuchbehörde ebenso wie auch jede andere Behörde die
vorgelegten gerichtlichen Legitimationsurkunden nicht beanstanden 2).
3. Wie in Pr.R. 2598 klar ausgesprochen, kann im Falle
einer Kuratel die Auslieferung des Nachlasses nur auf Grund
rechtskräftigen Bestätigungsbeschlusses verlangt werden.
4. Ebenso wie in Rußland kann sowohl die Aktiv- wie
auch die Passivlegitimation des Erben im Urkundenprozesse
nur durch gerichtliche Urkunden erfolgen 3), und zwar erwähnt
hier das Gesetz außer der Bestätigung der Erben im Erbrechte
*) Das steht allerdings in äußerlichem Widerspruch mit der anderen
Bestimmung des § 2023, denn es unterliegt keinem Zweifel, daß die
Erben den Nachlaß auch ohne Bestätigung erhalten können.
2) Das folgt aus der oben S. 441 u. 447 erwähnten praesumptio iuris
et de iure. Vgl. Weiß ler, Nachlaßsachen, S, 232.
3) Z.V.O. 18073, 1613 u. 1614.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 451
und dem für rechtskräftig erklärten Testament noch die missio
Hadriana auf Grund Pr.R. 2480 und die gerichtliche Anerken-
nung der Erbschaftsannahme durch den Erben.
Man wird diese Regelung für eine flüchtige und geringe Ver-
trautheit mit den Grundlagen des baltischen Erbrechts verratende halten
müssen. Wie wir gesehen haben, bietet die missio Hadriana eine bloß
vorläufige Regelung; immerhin kann sie, wenn sie auch nicht mit der
gleichen Vermutung wie ein normaler Bestätigungsbeschluß ausgestattet
ist, in Anbetracht ihrer schnellen Erwirkung als brauchbares Legiti-
mationsmittel für den Urkundenprozeß angesehen werden. Ueberhaupt
keine Legitimation aber bietet der Gerichtsbeschluß über Anerkennung
der Erbschaftsannahme durch einen bestimmten Erben, denn das hierauf
abzielende Verfahren gewährt, wie wir gesehen haben, nicht die ge-
ringsten Garantien für eine richtige Feststellung des oder der rechten
Erben — sie hat gänzlich andere Zwecke im Auge. Daher wäre die
genannte Bestimmung aus dem Gesetze zu beseitigen1).
Wie aus der Fassung des § 1807 3 Z.V.O. ersichtlich, waren
auch die russischen Legitimationsurkunden den von baltischen
Gerichten ausgestellten im Baltikum gleichgestellt.
Tit. 2. Der öffentliche Glauben der Legitimations-
urkunden.
§ 51. Das deutsche Recht.
Durch positive Bestimmung des B.G.B. ist der deutche
Erbschein im Interesse des Rechtsverkehrs mit öffentlichem
Glauben ausgestattet, d. h. zugunsten des Dritten, der gut-
gläubig mit dem Scheinerben verhandelt, gilt nicht nur die
Vermutung, sondern die Fiktion der Richtigkeit des Erbscheins.
Dieser wird als richtig behandelt, selbst wenn es sich nach-
träglich erweist, daß er falsch war2). Diese Wirkung erstreckt
*) Allerdings dürfte sie kaum großen Schaden anrichten, denn wie
bereits oben erwähnt, gehört bei der heutigen Nachlaßverhandlung das
Ergehen eines solchen Beschlusses zu den größten Seltenheiten.
2) B.G.B. 2366 u. 2367. Vgl. Kipp, Erbrecht, S. 184—185; Binder;
Rechtsstellung II, S. 9 ff.; Eßlinger S. 81 ff.; Weiner S. 56.
452 Tatarin.
sich aber nur auf dingliche Verfügungen ; die §§ 2366 — 67 B.G.B.
erwähnen hier erschöpfend den Erwerb von Nachlaßgegen-
ständen oder eines Rechts an solchen, Befreiung von einem zur
Erbschaft gehörenden Rechte, Leistung an den Erbscheinerben
und jede sonstige dinglich wirkende Verfügung über zur Erb-
schaft gehörende Rechte 1). Es ist hier aber, da es sich um den
Schutz des sich einlassenden gutgläubigen Dritten handelt, nur
der rechtsgeschäftliche Erwerb geschützt2), jedoch unabhängig
davon, ob es sich um entgeltlichen oder unentgeltlichen Er-
werb handelt3). Der Erbschein schützt nur, sofern es sich
um einzelne Nachlaßgegenstände handelt, nicht aber bei Ver-
trägen über den Erwerb der ganzen Erbschaft4); das ist auch
verständlich, denn in letzterem Falle handelt es sich nicht um
Aufrechterhaltung eines Rechtsscheins im Interesse des Rechts-
verkehrs — hier muß der Satz in Geltung bleiben, daß nemo
plus iuris transferre potest, quam ipse habet. Wer eine Erb-
schaft als solche erwirbt, kann von der Pflicht nicht ent-
bunden werden, das Erbrecht seines Kontrahenten zu prüfen.
§ 52. Das russische Recht.
Die russische Gesetzgebung enthält keinerlei direkte Be-
stimmungen über den öffentlichen Glauben der Erblegitimations-
urkunden. Statt dessen stellt sie in kasuistischer Weise die
Regel auf, daß Verkauf und Verpfändung von Nachlaß vermögen
durch den gesetzlichen Erben auch dann wirksam sind, wenn
hinterher eine Testamentsbestätigung erfolgt und somit die
Testamentserben sich als die rechten Erben erweisen: diese
sind nur berechtigt, den von den Intestaterben empfangenen
J) Vgl. Weiß ler, Nachlaßsachen, S. 228; Kipp S.184; Binder II,
S. 10—11.
2) Binder S. 10; Weißler S. 228.
3) Binder S. 13; Weißler S. 229.
4) B.G.B. 2030.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 453
Gegenwert ohne Zinsen herauszuvei langen 1). Durch die Senats-
judikatur ist diese Bestimmung per analogiam dann auch auf
die Fälle ausgedehnt, wo die Testamentserben später durch die
Intestaterben 2) oder die früher als rechte Erben angesehenen
Intestaterben durch später erschienene verdrängt oder beschränkt
werden 3).
Die genannte Bestimmung erwähnt in keiner Weise als
Bedingung für die Aufrechterhaltung des Verkaufs oder der
Verpfändung die Vornahme solcher Rechtsgeschäfte durch den
bestätigten Erben. Da nach russischem Recht der Intestat-
erbe sich auch ohne gerichtliche Bestätigung legitimieren kann,
so müßte man annehmen, daß der Schutz des gutgläubigen
Dritten, der in dieser Bestimmung enthalten ist4), sich auch
auf den Fall erstreckt, wo er sich mit dem nicht bestätigten
Intestaterben eingelassen hatte. Man wird jedoch aus nahe-
liegenden Gründen eine solche Konsequenz nicht ziehen dürfen.
Hat sich nämlich der Dritte mit dem nicht bestätigten Intestat-
erben eingelassen, so wird in der Mehrzahl der Fälle dieser
über Nachlaßgut nicht sowohl auf Grund seines Erbrechts als
auf Grund seines Besitzes haben verfügen können, wobei dann
der § 1301 gar nicht zur Anwendung kommen kann, da der
Dritte ihn ganz pure für den Eigentümer gehalten haben wird ;
der später erscheinende rechte Erbe wird hier in solchem Falle
das Rechtsgeschäft auf Grund der Regel ubi meam rem in-
venio, ibi eam vindico 5) erschüttern können. Hat sich dagegen
der erste mutmaßliche Intestaterbe dem Dritten gegenüber
privatim als Erbe zu legitimieren gesucht und werden nachher
andere als Erben bestätigt, so wird man kaum jemals aner-
kennen dürfen, daß der Dritte wirklich mit dem „gesetzlichen
') Z.G.B. 1301.
2) Sen.E.E. 1876/46, 1880/101, 1890/43, 1891/105, 1894/5, 1907/64.
3) Sen.E.E. 1879/111 u. 1891/105, so auch der Entwurf Z.G.B., vgl.
See ler, Entwurf, S. 131.
4) Dieses spricht die Sen.E. 1904/23 aus.
5) Z.G.B. 609 u. 691.
454 Tatarin.
Erben" kontrahiert hat, und daher den § 1301 nicht anwenden
können1). Auch alle dieses Thema berührenden Senatsent-
scheidungen sprechen ausnahmslos von Rechtsgeschäften der
„bestätigten Erben" 2). Zur Vermeidung von Zweifeln müßte
dieses im Gesetz aber klargestellt werden. Zum Schutze Dritter,
die sich mit einem Usurpator eingelassen haben, welcher eine
amtliche Anerkennung seines Erbrechts für sich nicht anführen
kann, liegt keinerlei Rechtsgrund vor. Wir werden daher den
§ 1301 in der ausdehnenden Interpretation des Senats nur auf
den Fall einer Legitimation des Erben durch die Kopie des
gerichtlichen Beschlusses bzw. das bestätigte Testament an-
wenden dürfen 3). Beim Testamente dürfte es hierbei gleich-
gültig sein, ob dasselbe durch Beschluß oder Urteil4) bestätigt
wurde. Es kommt hier also auch einem solchen Urteil Ver-
trauensschutz zu.
Im Gegensatze zum B.G.B. schreibt das russische Recht
den Schutz des Dritten nur bei Verkauf und Verpfändung vor.
Es fragt sich nun, wie es mit sonstigen dinglichen Verfü-
gungen über Nachlaßobjekte steht. Man wird hier, besonders
da auch der Senat in keiner seiner Entscheidungen über die
in § 1301 genannten Rechtsgeschäfte hinausgeht, in dieser
Hinsicht keiner erweiternden Interpretation Raum geben dürfen.
Es werden daher Ueberlassungen von Nutzungsrechten, Erlaß
einer Schuld, Kündigungen usw., vor allem aber unentgeltliche
Veräußerungen, wenn sich nachher ein anderer als Erbe er-
J) Das folgt auch indirekt aus § 1300, da nach diesem Intestaterben
den Testamentserben nur dann für die gezogenen Einkünfte und ihre
Verwaltung nicht verantwortlich sind, wenn sie in den Erbschaftsbesitz
eingewiesen waren. Eine solche Einweisung findet aber wenigstens bei
Grundstücken nur auf Grund gerichtlicher Bestätigung statt.
2) Vgl. Sen.E.E. 1879/111, 1891/105, 1910/97, 1912/11. Die Sen.E.
1900/84 verlangt, daß im Moment der Veräußerung der .gesetzliche
Titel" des Besitzes nicht durch einen Rechtsstreit erschüttert ist.
3) So auch der Entwurf des Russ. Z.G.B., vgl. Seeler, Entwurf,
S. 131.
4j Vgl. oben S. 347 ff.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 455
weist, sich diesem gegenüber nicht aufrechterhalten lassen 1).
Nur in bezug auf Leistungen an den bestätigten Erben wird
man den gutgläubigen Dritten schützen müssen. Es folgt dieses
indirekt aus Z.G.B. 1300 und 1302, wonach der eingewiesene
Intestaterbe dem später erschienenen Testamentserben für die
gezogenen Einkünfte und für die Verwaltung bis zur Rechts-
hängigkeit des Herausgabeanspruchs nicht verantwortlich ist —
die Einkünfte kann er als gutgläubiger Besitzer behalten: der
Senat sieht den fälschlicherweise bestätigten Erbprätendenten
als „unstreitigen Träger des Erbrechts" an und erkennt ihn
als verfügungsberechtigt an , solange sein Recht nicht ange-
fochten ist 2). Eine nochmalige Einziehung der Einkünfte durch
den nachträglich erschienenen rechten Erben hat das Gesetz
nicht im Auge. Das gleiche wird dann aber auch in bezug
auf Leistungen gelten müssen — mit dem bloßen Unter-
schiede, daß diese dem wahren Erben vom Scheinerben zu er-
setzen sind 3).
Wie jedoch aus den Sen.E.E. 1910/97 und 1912/11 folgt,
scheint der Senat im Gegensatze zum deutschen Recht den gut-
gläubigen Dritten auch bei nicht rechtsgeschäftlichem Erwerb
schützen zu wollen, da es sich in jenen Fällen um einen meist-
bietlichen Verkauf handelt, den die später erschienenen rechten
Erben nicht anzufechten berechtigt sein sollen. Man wird aus
diesen vereinzelten Entscheidungen aber keine zu weitgehenden
Folgerungen ziehen dürfen4).
Die ganze Regelung dieser Frage durch den § 1301 stellt
eine Ausnahme von der sonst streng durchgeführten Grund-
*) Der Entwurf (vgl. Seeler S. 131) schützt nur den entgeltlichen
Erwerb von Rechten an Nachlaßgegenständen.
2) Vgl. Sen.E.E. 1876/46, 1876/459, 1904/23, 1912/73.
3) Solche Leistungen werden vom Entwurf ausdrücklich — wenn
auch durch mangelhaft gefaßte Vorschritt — aufrechterhalten (vgl.
Seeler a. a. O. S. 131).
4) Die Fassung des Entwurfs Z.G.B. geht offenbar ebenfalls über
den Schutz des rechtsgeschäftlichen Erwerbs hinaus (Seeler a. a. O.
S. 131).
456 Tatarin.
regel des russischen Rechts „ubi meain rem invenio, ibi eam
vindico" dar *). Es kann aber nur der gutgläubige Dritte dem
rechten Erben gegenüber geschützt werden, denn ist er bös-
gläubig, so bleibt im Hinblick auf den Ausdruck des § 1301
vom freien und unstreitigen Gut die Regel des § 691 bestehen,
wonach jeder sein Vermögen aus fremdem ungesetzlichem Be-
sitz herausverlangen kann. So auch der Senat, der den § 1301
nur auf den gutgläubigen Erwerber anwendet2).
Wie wir aus dem Dargelegten ersehen, ist die Regelung
unserer Frage durch das russische Gesetz eine sehr unvoll-
kommene und wenig durchdachte. Immerhin werden die Haupt-
fälle des gutgläubigen Erwerbs durch den gerichtlich bestätigten
Erben vom Gesetze getroffen und gegenüber dem später ein-
tretenden rechten Erben aufrechterhalten.
Als ein großer Mangel muß es aber empfunden werden,
daß dieser Schutz des gutgläubigen Dritten versagen soll, so-
bald Veräußerung nach Erhebung der Klage des rechten Erben
gegen den früher bestätigten Erben erfolgt ist3). Der Dritte
braucht von dieser Klage gar nichts zu erfahren; solange außer-
dem der bisherige Scheinerbe durch einen gerichtlichen Be-
stätigungsbeschluß legitimiert ist, liegt nicht der geringste
Grund vor, den nach wie vor gutgläubigen Dritten anders zu
behandeln als bisher. Mit der Klage ist keine Einziehung oder
Unschädlichmachung des Bestätigungsbeschlusses, ja nicht ein-
mal eine öffentliche Bekanntmachung verbunden.
') Z.G.B. 609 u. 691, vgl. Klibanski, Handbuch, S. 185.
2) Sen.E.E. 1904 23, 1910/97 und 1912,11. Ebenso Entwurf Z.G.B.
(Seeler S. 131).
3) Z.G.B. 1301, vgl. Sen.E.E. 1876/459, 1900/84, 1903/23, 1907/64,
auch Klibanski a. a. O. S. 185, N. 3, wo besonders unterstrichen wird,
daß der Schutz gegenüber dem Testament nicht schon von der Ein-
rei-chung desselben zur Bestätigung aufhört. Der Entwurf vermeidet
diesen Fehler (vgl. Seeler S. 131). Vgl. allerdings die zum Teil ab-
weichenden Sen.E.E. 1876,46, 1879/32, 1869/1305.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 457
§ 53. Das baltische Recht.
Das baltische Recht enthält keinerlei Vorschriften über
den öffentlichen Glauben der gerichtlichen Erblegitimationen.
Derselbe kann nur indirekt aus den Bestimmungen des Gesetzes
gefolgert werden.
Wie wir gesehen haben, steht im Zentrum des baltischen
Nachlaß Verfahrens das Erbenaufgebot. Dieses ist mit Aus-
schlußwirkung ausgestattet. Die Präklusion der nicht recht-
zeitig Gemeldeten wird durch besonderes Ausschlußurteil aus-
gesprochen : ihre Rechte gelten als erloschen 1). Die Folge ist,
daß der Dritte, der sich mit dem bestätigten Erben einläßt,
auf den Bestätigungsbeschluß bauen kann. Meldet sich dennoch
nach erfolgter Präklusion ein näherer oder gleich naher Erbe,
so muß er alle Handlungen und Verfügungen des bestätigten
Erben gegen sich gelten lassen: er kann weder die Käufer
von Erbschaftssachen noch die Erbschaftsschuldner belangen.
Hier steht das baltische Recht auf dem Standpunkt des ge-
meinen Rechts. Die Präklusion gilt als Strafe, die den Dritten
jedenfalls davor schützt, daß der ausgeschlossene Erbe ihn etwa
nachträglich belangt2). Gelingt es letzterem gleichwohl, in
den wenigen vom Gesetze 3) vorgesehenen Fällen eine Resti-
tution seiner Rechte durchzusetzen, so werden trotzdem die in
der Zwischenzeit vom bestätigten Erben vorgenommenen rechts-
geschäftlichen dinglichen Verfügungen auch ihm gegenüber
ihre Wirksamkeit behalten müssen und er, wie im russischen
Rechte, nur Auskehrung der empfangenen Gegenwerte von dem
ursprünglich Bestätigten verlangen dürfen. Man wird aber
diesen öffentlichen Glauben der Bestätigungsbeschlüsse, wie im
gemeinen Rechte4), auf diejenigen Fälle beschränken müssen,
*) Z.V.O. 2066. Der russische Text sagt noch schärfer „als vernichtet".
2) Vgl. hierüber Hillenkamp, Erbschein, S. 20 und Eßlinger,
Erbschein, S. 6.
3) Z.V.O. 2068, 2069 u. 2070, Anm.
4) Vgl. Hillenkamp S. 20, Abs. 2.
458 Tatarin.
wo ein Präklusionsbeschluß ergangen war. Die baltische Ge-
richtspraxis hat diesen öffentlichen Glauben jedenfalls bisher
nicht weiter ausgedehnt. Es steht daher das baltische Recht
in dieser Beziehung noch auf einem ziemlich rückständigen
Standpunkt — etwa demjenigen, den das gemeine und das
preußische Recht vor ungefähr hundert Jahren einnahmen *),
und der in Preußen offiziell erst durch das Gesetz vom 12. März
1869 durch eine allgemeine Wirkung der Erbbescheinigung
Dritten gegenüber ersetzt wurde. Man wird also im Balten-
lande der missio Hadriana als einer bloß provisorischen Rege-
lung und der Bestätigung auf Grund des Ehrenfriedensrichter-
attests noch keinerlei öffentlichen Glauben einräumen dürfen.
Die letzterwähnten Fälle sind zwar gerade die einfachsten, und
die Wahrscheinlichkeit, daß die Rechtslage hier mit der Be-
urkundung nicht übereinstimmt, ist eine sehr geringe; aber
um hier den öffentlichen Glauben anzuerkennen, dazu bedürfte
es erst einer positiven Gesetzesbestimmung. Es ist wohl im
baltischen Rechte durch die ganze Art des Verfahrens dafür
gesorgt, daß die Rechtskraft der Bestätigungsbeschlüsse nur
in den seltensten Fällen durch Klage erschüttert werden kann,
geschieht dieses aber einmal ausnahmsweise, so können Dritte
nur im Falle des Proklams auf Schutz in ihren Rechten rechnen.
Indirekt allerdings kann eine jede Erbbescheinigung des
öffentlichen Glaubens teilhaftig werden — ganz gleich, ob sie
mit oder ohne Aufgebot zustande gekommen ist 2). Und zwar
geschieht das gerade in bezug auf die wichtigsten Fälle : wo
zum Nachlaß ein Immobil gehört3). Laut Z.V.O. 2023 sind
die Erben berechtigt, die Eintragung der ererbten Immobilien
in den Grundbüchern kraft des ergangenen Bestätigungs-
y) Vgl. Hillenkamp S. 20; Eßlinger S. 7.
• 2) Vgl. Z.V.O. 2020.
3) Vgl. Pr.R, 812 u. 813, desgl. Entscheidung des Petersburger
Appellhofs und Senatsentscheidung in Sachen Bodneek (bei Bukowsky,
Kodex I, S. 346) — hier wird besonders der öffentliche Glaube nur gut-
gläubigen Dritten gegenüber festgelegt,
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 459
beschlusses auf ihren Namen zu verlangen. Mit erfolgter Ein-
tragung gilt der bestätigte Erbe auch allen Dritten gegenüber
als Erbe der umgeschriebenen Immobilien.
Im Gegensatz zum russischen Recht, wo die ausdrückliche
spezielle Gesetzesvorschrift zur Richtschnur zu nehmen ist, wird
man den öffentlichen Glauben der baltischen Erbbescheinigungen
auf Grund des Proklams nicht nur auf Verkauf und Verpfän-
dung, sondern auf alle dinglichen Verfügungen zu erstrecken
haben, denn durch das Aufgebot wird der Uebergang des Erbes
zu einem öffentlichen gemacht und der solcherart bestätigte
Erbe gilt allen Dritten gegenüber in jeder Hinsicht als Erbe.
Die vorstehende Lösung der Frage nach dem öffentlichen
Glauben der baltischen Erblegitimationen ergibt eine befriedi-
gende Lösung für die meisten der im ganzen sehr selten vor-
kommenden Fälle, wo trotz Proklam hinterher erst der rechte
Erbe erscheint. Immerhin vermißt man hier unzweideutige
Gese tzes Vorschriften .
Tit. 3. Ueber das Verhältnis der Bestätigungsbesclilüsse
des unstreitigen Nachlaßverfahrens zu den Erkenntnissen
des Zivilprozesses.
Diese in der deutschen Literatur in letzter Zeit mehrfach
diskutierte Frage l) ist für Rußland und das Baltikum viel
weniger akut und sie beantwortet sich im Hinblick auf das
Dargelegte auch in viel einfacherer Weise als in Deutschland.
]) Vgl. besonders die Schriften von G. Kuttner, Das Verhältnis
des Zivilprozesses zum Erbscheinverfahren, Festgabe für Gierke, Breslau
1910; Erbrecht und Erbrechtsprozeß in Jherings Jahrbüchern, Bd. 59,
1911, und Rechtsvermutungen aus Akten der F.G., ebenda. Bd. 61, 1912:
ferner E. Josef, Einwirkung des rechtskräftigen Urteils auf Entsch. der
F.G., ebenda Bd. 61, 1912; Kipp, Erbrecht, S. 179—180; Bosch an,
Nachlaßsachen, S. 28, 65, 81, 124; Saupe, Erbschein verfahren, S. 59— 6- ;
Planck, Kommentar zu B.G.B. V, § 2359, N. 2; Staudinger, Kom-
mentar V, S. 857; Leonhard, Franz, Erbrecht, §2359, C. 2; Hellwig,
Rechtskraft, S. 12, N. 3, S. 18; Lehrbuch I, S. 337, N. 18; II, S. 40, N. 13;
Dem bürg, Deutsches Erbrecht, § 162.
460 Tatarin.
Es gilt in dieser Hinsicht für Rußland und das Baltenland ein
und dasselbe, denn der Grundcharakter des unstreitigen Nach-
laßverfahrens und seine Stellung im System des Zivilprozesses
im weiteren Sinn sind hier und dort die gleichen.
Es handelt sich dabei um zwei. Fragen: um die Bedeutung
der unstreitigen Bestätigungsbeschlüsse für den Prozeß und
umgekehrt um die bindende Kraft des Prozeßurteils dem un-
streitigen Nachlaßverfahren gegenüber. Diese beiden Fragen
haben im obigen eigentlich bereits ihre Beantwortung gefunden,
und wir haben im folgenden nur noch zusammenzufassen.
§ 54. Die Bedeutung der Bestätigungsbeschlüsse für den
Prozeß.
Diese Frage ist in doppelter Hinsicht zu erörtern.
1. Vor allem handelt es sich um die Frage, inwieweit
bindend der Beschluß für jeden beliebigen Prozeß
ist, in welchem die Frage nach dem rechten Erben indirekt
eine Rolle spielt.
Hier gilt, daß der Beschluß als gerichtliches Erkenntnis, soweit er
formelle Rechtskraft erlangt hat, mit der praesumtio iuris et de iure zu-
gunsten der in ihm bezeichneten Eiben ausgestattet ist. Er kann wohl
durch einen Prozeß beseitigt werden , solaüge das aber nicht der Fall
ist, gilt die durch ihn begründete Vermutung, wie die durch ein Urteil
begründete, allen und jedem gegenüber. Im Gegensatz zum deutschen
Erbschein kann diese Vermutung nicht widerlegt werden (vgl. Z.P.O. 292).
Ebensowenig als eine Behörde (z. B. die Grundbuchbehörde im Baltikum)
den Bestätigungsbeschluß beanstanden kann, darf das Prozeßgericht den
Prozeßgegner mit der Behauptung hören, daß der durch Bestätigungs-
beschluß Ausgewiesene nicht Erbe sei, geschweige denn eine solche Be-
hauptung nachprüfen1). Wohl aber muß das Gericht den Einwand be-
achten, daß der Bestätigungsbeschluß gar nicht mehr zu Recht besteht,
da er inzwischen durch Prozeßurteil entkräftet ist2).
2. Die zweite Frage ist eine solche nach der negativen
Rechtskrafts wirkung des Bestätigungsbeschlusses.
*) Z.V.O. 893, vgl. meine obigen Ausführungen (S. 441 f.).
2) Ist er zwar angefochten, aber ein Urteil zugunsten des neuen
Prätendenten noch nicht ergangen, so gilt seine Vermutung weiter fort.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 461
Hier muß die Antwort dahin lauten, daß eine Entscheidung der
Frage nach dem rechten Erben im Wege des unstreitigen Nachlaß-
verfahrens die Entscheidung des Prozeßgerichts in keiner Weise prä-
judiziert. Binnen bestimmter Fristen, die wir oben kennen gelernt
haben, kann der rechte Erbe prinzipiell die Stellung des Scheinerben
auf dem Prozeßwege erschüttern bzw. nachprüfen lassen 1). Im Balten-
lande steht hier nur einem solchen Prozesse in den meisten Fällen das
Ausschluß urteil des Aufgebotverfahrens entgegen8).
Der ergangene Bestätigungsbeschluß ist also für das Gericht
dort nicht bindend, wo der in diesem angestrengte Prozeß direkt
auf die Entscheidung der Frage nach dem Erbrechte gerichtet ist.
§ 55. Die Verbindlichkeit des Prozeßurteils für das un-
streitige Nachlaßverfahren.
Hier hat die Antwort ganz anders zu lauten als in Deutschland.
Das Urteil ist für das Gericht des unstreitigen Verfahrens
stets verbindlich; es schließt ein solches Verfahren aus. Das
ist die logische Folgerung aus § 893 Z.V.O., nach welchem
ein rechtskräftiges Urteil nicht nur für die Parteien verbindlich
ist, sondern auch für das Gericht, das dasselbe erlassen hat, so-
wie auch für alle sonstigen Gerichts- und Verwaltungsbehörden
und für die Beamten des Reichs. Der Annahme einer solchen
Verbindlichkeit auch für das Gericht des unstreitigen Nachlaß -
Verfahrens steht nicht entgegen, daß in den meisten Fällen —
und im Baltikum nach ergangenem Aufgebote stets — die
materielle Rechtskraftswirkung des unstreitigen Beschlusses eine
subjektiv weitere ist als die des Urteils, indem er nicht nur
unter den Beteiligten, sondern auch allen Dritten gegenüber
Recht schafft. Denn dort, wo dem Urteil bereits ein unstreitiges
Nachlaßverfahren vorangegangen war (und das wird wohl meist
der Fall gewesen sein), besitzt der im Prozeßwege anerkannte
Der Prätendent kann sich gegen Handlungen des bestätigten Erben,
etwa Veräußerungen von Erbschaftsobjekten, Einziehung von Forderungen
nur durch prozessuale Sicherungsmaßregeln schützen.
J) Vgl. oben S. (I) 297, 301, 312 ff.
2) Vgl. oben S. 377, 380 ff., insbesondere S. 383, 384.
462 Tatarin.
Erbe, wie wir gesehen haben, bereits die Erbenstellung jedem
Dritten gegenüber 1). Wo ein solches Verfahren aber nicht
stattgefunden hatte, da ist es dem dritten Interessenten unbe-
nommen, das ergangene Urteil durch neue Klage zu erschüttern,
denn jenes war für ihn als Unbeteiligten ja nicht verbindlich.
Uebrigens steht in bezug auf den öffentlichen Glauben das Ur-
teil, durch welches der Erbe sein Erbrecht durchsetzte, nach
russischem Rechte dem unstreitigen Bestätigungsbeschlusse in
keiner Hinsicht nach. Der § 1301 Z.G.B. beschränkt sich gar
nicht auf Verkauf oder Verpfändung durch den auf Grund
Bestätigungsbeschlusses legitimierten Erben — es ist in ihm
die Rede von den gesetzlichen Erben überhaupt , und seine
Vorschrift ist von der Rechtsprechung auf den Testaments-
erben überhaupt ausgedehnt worden. Daher wird man die
Wirkung des Verkaufs oder der Verpfändung durch den Erben
gutgläubigen Dritten gegenüber auch auf die Fälle erstrecken
müssen, wo der Erbe sein Recht durch gerichtliches Urteil
durchgesetzt hat. Der § 1301 gibt eben keine Vorschrift, die
dazu bestimmt ist, den öffentlichen Glauben des Bestätigungs-
beschlusses in allgemeiner Weise festzusetzen, sondern er geht
von Verkauf und Verpfändung aus und schützt denjenigen, der
gutgläubig vom Erben als solchem die betreffenden Rechte er-
warb. Im baltischen Rechte dagegen kann der im Prozesse
siegreiche Erbe dadurch, daß er ein Proklam erläßt, die Wirkung
des Urteils ausdehnen — das Proklam ist ganz unabhängig
vom sonstigen Nachlaßverfahren durchführbar2). Mit Hilfe
des Ausschlußurteils kann er dem zu seinen Gunsten ergangenen
Urteil öffentlichen Glauben verschaffen.
Die dargelegte Abweichung vom deutschen Rechte beruht in
erster Linie darauf, daß in Rußland und im Baltenlande Pro-
zeß- und Nachlaß verfahren nicht scharf voneinander geschieden
sind: das letztere steht demselben Gerichte zu, ein besonderes
Nachlaßgericht gibt es nicht, weswegen auch die allgemeinen
r) Vgl. oben S. 441 u. 448.
2j Z.V.O. 2011—2014.
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 463
Regeln des Prozesses und im besonderen diejenigen über die
materielle Rechtskraft von Urteilen und Beschlüssen auf das Nach-
laßverfahren Anwendung finden. Daher kann hier die „völlige
Unabhängigkeit" des Nachlaßgerichts, auf der in Deutschland
eine Reihe von Schriftstellern1) den Mangel einer bindenden Wir-
kung des Urteils für den Nachlaßrichter basiert, für uns nicht in
Betracht kommen. — Ferner ist, wie wir gesehen haben, in
Rußland prinzipiell die Verbindlichkeit der gerichtlichen Urteile
für alle Gerichte und Behörden des Reichs ausgesprochen —
eine Vorschrift, die für Deutschland z. B. Kuttner nur gegen
Widerspruch 2) aufzustellen vermag. Uebrigens ist hier zu
bemerken, daß in Deutschland diese verbindliche Kraft der
Urteile von der subjektiven materiellen Rechtskraftswirkung
nicht immer klar auseinandergehalten wird, indem z. B. be-
hauptet wird, die materielle Rechtskraft eines Urteils wirke
nach § 325 Z.P.O. nur für und wider die Parteien, ihre Rechts-
nachfolger und die sonstigen diesen gleichgestellten Personen,
zu denen der Nachlaßrichter nicht gehöre 3), weswegen auch
das Urteil für diesen keine bindende Wirkung habe. Diese
Argumentation ist augenscheinlich falsch. In ersterer Hinsicht
handelt es sich um Interessenten — Private, die so oder
anders von der Rechtskraft des Urteils durch Einfluß auf ihre
Rechte in Mitleidenschaft gezogen werden können (subjektive
materielle Rechtskraft), während es sich in der zweiten Hin-
sicht um Anerkennung der durch das Urteil geschaffenen Rechts-
lage durch persönlich uninteressierte Staatsorgane oder Per-
sonen handelt (objektive materielle Rechtskraft). In Ruß-
land wird die subjektive materielle Rechtskraftswirkung durch
Z.V.O. 895 festgelegt, im Gegensatz zur objektiven Wirkung
*) Planck, Kommentar V, § 2359, N. 2; Josef a.a.O. S. 201;
Saupe, Erbscheinverfahren, S. 58 u. 60, Anm. 1; vgl. hierzu Kuttner,
Verh. des Z.P. zum Erbschein verfahren, S. 168.
2) Vgl. Josef a. a. 0. S. 202 ff.
3) SoBoschan, Nachlaßsachen, S. 65, 124 ; Planck, Kommentar V,
§2359, N. 2; Josef a, a. 0. S. 207; Saupe, Erbscheinverfahren, S. 59a.E.
464 Tatarin.
des Urteils, die der § 893 regelt1). — Endlich fehlt im rus-
sischen Rechte eine Bestimmung, wie sie das B.G.B. in § 23C0,
Abs. 1 enthält, daß bei Anhängigkeit eines Rechtsstreits über
das Erbrecht vor Erteilung des Erbscheins der Gegner des
Antragstellers gehört werden solle. Im Gegenteil : wie wir
gesehen haben, ist im russischen und im baltischen Rechte die
Anhängigkeit eines solchen Rechtsstreits ein Hindernis für
die Erledigung der Nachlaßangelegenheit im unstreitigen Ver-
fahren1). Hier gilt der Satz, den auch der erste Entwurf zum
B.G.B. (§ 2071, Abs. 2) enthielt : „Ein Erbschein soll nicht erteilt
werden, solange ein Rechtsstreit über das Erbrecht anhängig
ist", den aber in Deutschland später die zweite Kommission ver-
warf, um eine Schikanierung des rechten Erben zu verhindern.
Aus allen dargelegten Gründen gilt für Rußland und das
Baltikum, was Kuttner in seiner Schrift: „Das Verhältnis des
Zivilprozesses zum Erbschein verfahren" auch für Deutschland
festzulegen bestrebt ist3).
1) Vgl. hierzu die treffenden Ausführungen von Kuttner a.a. 0. S. 167.
2) Vgl. oben S. (I) 316 u. S. 389.
3) Vgl. auch seine ergänzenden Ausführungen in Bd. 23 von
Jherings Jahrbüchern „Erbschein und Erbrechtsprozeß". Ich halte die
Kuttner sehe Anschauung auch für Deutschland für die zutreffende. Vgl.
Leonhard, Franz, Erbrecht, § 2359, C. 2. Kuttners Hauptgegner,
Josef, gelangt in seinem Aufsatz „Die Einwirkung des rechtskräftigen
Urteils auf Entsch. der F.G." in Bd. 25 derselben Zeitschrift zu seiner
Behauptung, daß Urteile des Prozeßgerichts für das Nachlaßgericht ganz
unverbindlich seien, auf Grund sehr anfechtbarer Argamentation. Vor
allem ist es nicht richtig, daß die Verrichtung der freiwilligen Gerichts-
barkeit im Gegensatze zur Tätigkeit der Prozeßgerichte darin bestehe,
neue Rechte zu begründen (a. a. 0. S. 201) : Das unstreitige Nachlaß-
verfahren (und besonders das deutsche Erbscheinverfahren) hat stets die
wahre Rechtslage zu erforschen, den rechten Erben festzustellen. Gerade
nach B.G.B. gilt Erbschaftserwerb durch den Anfall, der Erbschein hat
rein deklaratorische Bedeutung. — Ferner gründet Josef seine ganze
Anschauung auf eine vereinzelt dastehende Aeußerung der Motive zu
H.G.B. 16, welcher aber wohl kaum die von ihm angenommene Be-
deutung zukommen dürfte. Seine Ausgestaltung des von Unger zur
Illustration der bindenden Wirkung eines des Prozeßurteils für das
Die Legitimation des Erben nach russischem und baltischem Recht. 465
Nachwort.
Wir sind am Ende unserer Betrachtung. Wer derselben
gefolgt ist, wird sich dem Eindrucke nicht verschließen können,
daß sowohl im russischen als im baltischen Rechtsleben die
Anschauungen über Sinn und Zweck des unstreitigen Nachlaß -
Verfahrens noch vielfach verschwommene sind, daß besonders
die Funktionen des Gerichts, die auf die Feststellung und Legi-
timation des rechten Erben abzielen , mit anderen auf andere
Zwecke gerichteten eng verwoben sind. So stellt sich das
Gebiet, das wir mit dieser Abhandlung betreten haben, noch
als ein Gebiet des Werdens und Gestaltens dar.
Nachlaßgericht angeführten Beispiels (S. 205 — 206) aber gewinnt ihren
scheinbar ad absurdum führenden Sinn nur, weil diese Ausmalung eine
ihrer Zweckmäßigkeit nach sehr fragliche Bestimmung der Z.P.O. für
ihre Zwecke ausnutzt. Die. Möglichkeit, daß im angeführten Beispiele
das Prozeßgericht zur Anerkennung des B als Erben trotz Feststellung
der Zurechnungsfähigkeit des Testators gelangt, liegt nur an den an-
fechtbaren Bestimmungen der Z.P.O. 331 u. 332 (vgl. Weismann, Zivil-
prozeß I, S. 398—399), nach welchen ein Versäumnisurteil trotz zweifel-
losen Widerspruchs mit dem Ergebnis des seitherigen Verfahrens ergehen
kann (nach russischem Recht, wo Eremoditialverfahren herrscht, wäre
die Konstruktion Josefs eo ipso hinfällig). Ebensowenig überzeugend
wirkt sein Beispiel, wo im Drange der Geschäfte der Richter ein un-
richtiges Urteil verkündet. Abgesehen davon, daß, wie Josef selbst in
der N. 10, S. 208 anführt, ein solches Urteil nach Z.P.O. 319 berichtigt
werden könnte (ich halte das für ein dringendes Erfordernis !) , können
durch solche ganz anomale Einzelfälle die allgemeinen Erwägungen
Kuttners nicht erschüttert werden. Das gleiche hätte in bezug auf
das von Josef über das Anerkennungsurteil Gesagte zu gelten — für
Rußland wäre das keinesfalls maßgebend, weil dort der Satz gilt, daß
der Kläger in jedem Falle seine Klage zu beweisen hat (Z.V.O. 366), und
daß das Anerkenntnis ein Beweismittel ist, sich aber nicht auf die Rechte
des Gegners beziehen kann (Sen.E.E. 1890/42 u. 1894/4).
Die Widerlegung des zum Teil mit Kuttner übereinstimmenden
Kipp (vgl. Erbrecht, S. 179—180 und Anm. 24) durch Josef (a. a. O.
S. 209) aber beruht auf der Voraussetzung, daß das Nachlaßgericht auch
die Interessen unbeteiligter Dritter von Amts wegen wahrzunehmen habe,
was kaum stimmen dürfte.
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. XXXIX. Band. 30
466 Tatarin.
Heute herrscht in jenen Ländern ein großes Chaos. Aber
eines Tages muß wohl auch dort Licht werden1). Sollte diese
Untersuchung, wenn neues Leben auf den Ruinen zu blühen
beginnt, der wiedereinsetzenden Rechtsentwicklung die Auf-
findung des weiter einzuschlagenden Weges erleichtern, so wäre
ihr Zweck erfüllt. Vielleicht aber gibt sie auch der deutschen
Rechtswissenschaft, außer den vermittelten neuen Kenntnissen,
durch den Vergleich eine noch schärfere Erkenntnis des Wertes
des eigenen Systems.
*) Außer dem oben S. 431, N. 3 in bezug auf die Konsolidierung Lett-
lands und Estlands Nachgetragenen wäre in bezug auf das heutige Ruß-
land zu bemerken, daß dort noch immer das durch das bolschewistische
Dekret vom 27. April 1918 (und Ausführungsanweisungen dazu vom 11. Juni
1918) erklärte Erbrecht zu Recht besteht, wenn auch bereits das Dekret
vom 21. Mai 1919 die in jenem enthaltenen Einschränkungen weiter aus-
baut. Grundsätzlich tragen jedoch diese Einschränkungen öffentlich-recht-
lichen Charakter, indem sie der Erhaltung von „Arbeits wirtschaften" dienen.
Von einer Anerkennung des privatrechtlichen Erbrechts kann bisher nicht
die Rede sein, doch lassen sich bei der seit einiger Zeit eingetretenen
Schwenkung des Bolschewismus auch in dieser Hinsicht Ueberraschungen
erwarten (vgl. A. v. Freytagh-Lo ringho ven, Die Gesetzgebung der
russischen Revolution, 1920, S. 184, und derselbe, Die Entwicklung des
Bolschewismus in seiner Gesetzgebung, 1921, S. 45).
Druckfehlerberichtiguiig
in bezug auf Teil I in Band XXXVIII, Heft 3 der Zeitschrift.
Seite 292, Zeile 15: lies „vorlegt" statt „vorstellt".
„ 293, „ 2: lies „Vorlegung" statt „Vorstellung".
306 statt der Fußnote 1 (die auf S. 307 gehört und daher doppelt dasteht) muß
es heißen:
!) Uebrigeus hat der Senat anerkannt, daß bei Vorlegung des Friedens-
richter- oder Ehrenfriedensrichterattests darüber, da'5 alle zur Bestätigung
gemeldeten Personen anwesend und die einzigen Erben sind, eine Vor-
legung des Totenscheins nicht mehr erforderlich ist, da der Tod des Erb-
lassers hier aus diesem Zeugnis bereits ersichtlich ist (Sen.E. 1879|335). —
Ich erörtere im Texte nur den Haupterbfall — den Tod des Erblassers,
nicht auch die drei anderen nach russischem Rechte in Betracht kommen-
den nebensächlichen Erbiälle : Eintritt ins Kloster, Rechtsverlust durch
gerichtliches Urteil und Verschollenheitserklärung.
Seite 345, Zeile 11: lies -vorgelegt^1 statt „vorgestellt".
Besprechungen.
ß. Kukula, Der Verwaltungszwang. Eine kritische Studie
des sog. Verwaltungsstrafrechts. Manzsche Verlags- und Uni-
versitätsbuchhandlung, Wien 1918. 8°. V + 104 S.
Der Verfasser bestreitet die Berechtigung des sog. Verwaltungs-
strafrechts (Einl. V). „Zweierlei Strafrecht kann es nicht geben" (S. 15,
97). Der Lehre vom „Polizeidelikt" und von der „Polizeistrafe" ist die
Lehre vom Verwaltungszwang entgegenzusetzen (S. 101). Den Nach-
weis verspricht Kukula eingangs kurz zu gestalten. Man wird jedoch
nicht behaupten dürfen, daß er diesem Versprechen gerecht geworden
ist. In weitester epischer Breite werden vielfach selbstverständliche
Gedanken entwickelt, die Polemik neben zahlreichen Ausrufungs- und
Fragezeichen mit unsachlichen Ausfällen, Bildern und Floskeln verbrämt,
so z. B. wenn (S. 32) die Argumente von Meinungsgegnern mit ins
Schleudern geratenen Automobilen verglichen werden.
In umständlicher Weise entwickelt Kukula zunächst die von
M. E. Mayer übernommene These, daß das Strafrecht nur dasjenige
Unrecht treffen soll, das mit einer „K ultu rn o rm" in Widerspruch
steht (S. 26). Aber zur Abgrenzung des Justizstrafrechts vom Polizei-
unrecht will Kukula dieses zu solchem Zweck von M. E. Mayer
aufgestellte Kriterium gar nicht benutzen: Kriegsgesetze und gewisse
Gefahrdelikte stellen nach Kukula echtes Strafrecht dar, obgleich sie
keiner Kulturnorm widersprechen (S. 28 und 30 N. 18), andrerseits weist
er auf Verwoltungsdelikte hin, die nicht bloß einer Rechtsnorm, sondern
auch einer Kulturnorm widersprechen (§ 85 d. Oesterr. GewO.). Man
fragt sich da unwillkürlich, wozu dann jene ganze philosophisch auf-
gemachte Einleitung? Etwa nur zur Feststellung, daß sich für das
Strafrecht der Satz ignorantia iuris nocet bloß durch die Kulturwidrigkeit
des Delikts rechtfertigen läßt, weil offenbar von Verschulden keine Rede
sein kann, wo (S. 13 und 16) das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit fehlt?
Aus der Tatsache, daß die Praxis auf die im II. Teil des österreichischen
Strafgesetzes (offenbar in den §§ 278—310 und 500—525) behandelten Ver-
gehen und Uebertretungen den Satz ignorantia iuris nocet nicht immer
anzuwenden vermag, darf nach Kukula nicht etwa gefolgert werden, daß
es sich hier um zweierlei Strafrecht handelt, sondern nur, daß verwaltungs-
rechtliche Tatbestände ins Strafgesetz geraten sind, die nicht der Strafe,
sondern dem Verwaltungszwang unterliegen. Die Exklusivität des Straf-
gesetzes verlangt Fernhaltung alles dessen, was nicht als strafwürdig an-
gesehen werden kann (S. 14). Das Strafrecht ist retrospektiv, das Ver-
468 Besprechungen.
waltungsrecht providentiell ; die allgemeine Zweckmäßigkeitsfrage de$
ersteren verlangt im voraus normierte obligatorische Strafe (Legalitäts-
prinzip S. 53 ff.), die konkrete Zweckmäßigkeitsfrage des letzteren freiem Er-
messen überlassenen Zwang (Opportunitätsprinzip, S. 53 ff.)- Sehr schlecht
ist Kukula auf James Goldschmidt zu sprechen. In dessen nach
J. Hatschek (Instit. d. VerwR. 1919, S. 181) nicht hoch genug zu be-
wertender Theorie vermag Kukula nicht „auch nur irgendeine Grundlage
zur dogmatischen Fundierung einer richtigen Erkenntnis des Wesens des
Verwaltungsstrafrechts zu erblicken" (S. 34). Das einzige, was er bei
Goldschmidt gelten läßt, ist die Abschichtung des Strafrechts von
der Verwaltung, aber nicht im Sinne einer Nebeneinanderstellung von
einem „ eigentlichen" und einem „ Afterstrafrecht", sondern im Sinne
einer Abscheidung allen Strafrechts vom Verwaltungszwang (S. 42).
Folgerichtig verwirft er auch die Dreiteilung seines Landsmanns 0. Ha-
tschek in Kriminal-, Ungehorsams-, Polizeistrafe. Aller Zwang der Ver-
waltungsbehörden ist für Kukula stets nur Verwaltungszwang (S. 47).
Nicht nur theoretisch, auch im österreichischen Recht erkennt Kukul a
eine Polizeistrafe nicht an. Hier wird man seiner erzwungenen Inter-
pretation der österr. MinVO. v. 1854 nicht zustimmen können. Diese VO.
enthält, wie von 0. Hatschek (Goltd. Arcb. Bd. 57 S. 51 ff. u. 99 f.)
überzeugend dargetan, zweierlei Mittel: trotz ihrer unvollkommenen
Redaktion bleibt es zweifelsfrei, daß § 7 eine Exekutivstrafe gegen die-
jenigen, die ein im Wirkungskreise der politischen oder polizeilichen
Behörden erlassenes Verbot „zu übertreten suchen oder in dessen Nicht-
beachtung verharren", anordnet (ein schwerwiegender Druckfehler im
Texte des § 7 bei Kukula S. 50 Zeile 18 — num" statt „und" — er-
weckt hier auf den ersten Blick einen noch besonders ungünstigen Ein-
druck von der Kukulaschen Beweisführung). Im Gegensatz dazu ist
§ 11 derselben VO. die Grundlage der österreichischen Verwaltungsstraf-
gewalt. Aber auch außerdem enthält, neben den verwaltungsrechtlichen
Tatbeständen des II. Teils des Strafgesetzes, das sonstige österreichische
Verwaltungsrecht eine große Reihe von polizeistrafrechtlichen Tatbe-
ständen, bei denen es Sache der Staatsgewalt ist, zu strafen und nicht
Exekutionszwang zu üben (vgl. 0. Hatschek a. a. 0. S. 23 ff. und 25 ff.).
Kukula muß auch seinen Satz — daß es überhaupt nicht gibt, was die
herrschende Terminologie „Polizeistrafe" nennt, daß es nicht Aufgabe
der Verwaltungsbehörden sein kann, „lediglich einen vollendeten Tat-
bestand unter die Strafnorm zu subsumieren" — durch den Nachsatz
einschränken: „wenn nicht Zukunftserwägungen dieses Vorgehen not-
wendig erscheinen lassen" (S. 61). Hiermit ist jedoch die ganze Theorie
aufgehoben. Auch bei der Kritik Brockhausens (S. 65) gerät Kukula
in eine Sackgasse, indem er behauptet, daß auch die sog. „Polizeistrafen
Besprechungen. 4(39
gar nichts anderes als Zwangsstrafen sind, und daß den einzigen Unter-
schied zwischen ihnen der Gesichtspunkt abgibt, ob der auszuübende
Zwang ein unmittelbar gegenwärtiger . . . oder . . . auf die fernere Zu-
kunft wirkender sein soll". Danach gibt es hier also auch nach Kukul a
zwei Gruppen und einen Unterschied zwischen ihnen ! Die Klarheit der
Begriffe wird nicht dadurch gefördert, daßKukula sich bemüht, beide
in einen Topf zu werfen. Dieser Standpunkt läuft auf eine Apologie
der rückständigen Ungebundenheit der österreichischen Verwaltung hinaus
(vgl. S. 67 f.). Wenn Kukula ausspricht, daß um willen der Stärkung
der „Position des Bezirkshaupt manns" Mächtigen gegenüber, eine Bindung
desselben an gesetzliche Strafvorschriften nicht stattfinden dürfe, so
bedeutet das doch nur freie Hand fürs Strafen, wo es sich angeblich
um Zweckdienlichkeit handelt. Kukula hat sich (S. 48) als altöster-
reichischer Beamter zu erkennen gegeben, der ganze Ton seiner Schrift,
besonders bekannten Vertretern der Wissenschaft gegenüber, zeigt, wie
sehr er von der eigenen Fürtrefflichkeit durchdrungen ist. Wenn alle
österreichischen Beamten wären wie er, dann ließe sich in jenem Lande
vielleicht die Lösung alles Verwaltungszwanges von gesetzlichen Siche-
rungen erwägen. Einstweilen geht aber der moderne Fortschritt überall
darauf hinaus, einerseits das Justizstrafrecht vom Ballast des sog. „Polizei-
unrechts" zu befreien (vgl. auch v. Liszt, Lehrbuch § 26, III, Anm.),
andrerseits dem Verwaltungszwang seine alte Willkür zu nehmen. Das
kann aber nur erreicht werden durch möglichste Einengung desjenigen
Gebietes, auf dem die Polizei nach freiem Ermessen walten kann. In
dieser Richtung ist Goldschmidt durch die Aufstellung des Begriffs
eines Verwaltungsstrafrechts bahnbrechend gewesen (Definition Goltd.
Arch. Bd. 49 S. 89 f. : „Inbegriff derjenigen Vorschriften, durch welche
die mit der Förderung des öffentlichen oder staatlichen Wohls betraufe
Staatsverwaltung im Rahmen staatsrechtlicher Ermächtigung in der
Form von Rechtssätzen an die Uebertretung einer Verwaltungsvorschrift
als Tatbestand eine Strafe als Verwaltungsfolge knüpft"); allerdings
wurzelt Goldschmidt ganz im Boden der deutschen lex lata. Aber
auch der völlig in seiner österreichischen Sphäre befangene Kukula
ist doch so weit von modernen Ideen infiziert, daß er zu ganz ähnlichen
Forderungen für die „Verwaltungsstrafe" (in der er Polizei-, Zwangs-,
Ungehorsams-, Exekutiv-, Ordnungsstrafe mit umfaßt — S. 74 N. 4) ge-
langt wie jene Lehre: neben der Geltung des Zweckmäßigkeitsprinzips
(S. 45 ff., 74 f.) — Haftbarkeit juristischer Personen (S. 77, 83 ff.), Unanwend-
barkeit der Begriffe Mitschuld, Anstiftung, Versuch (S. 88), Undurchführ-
barkeit des Satzes ignorantia iuris nocet (S. 12 f., vgl. den amüsanten
Fall der teppichklopfenden Babette bei G o 1 d s c h m i d t a. a. 0. S. 76, 90).
Allerdings ergibt sich von selber, daß die Verwaltungsstrafreehtstheorie
470 Besprechungen.
die Ablehnung des Prinzips nulla poena sine lege (S. 87), die Belang-
losigkeit eines „wie immer gearteten Verschuldens" (S. 71 ff.) nicht gelten
lassen kann. Darin liegt ja ihr Kardinalunterschied von der Kukula-
schen Konstruktion, daß sie ein Strafrecht sui generis postuliert, welches
Kukula im Begriffe des einheitlichen Verwaltungszwangs untergehen
läßt. Auch Goldschmidt ging ursprünglich davon aus, daß „die Ver-
waltungs- und darunter die Polizeistrafe generisch von der polizeilichen
Exekutivstrafe nicht verschieden" sei (a. a. 0. S. 89). Das war ihm aber
nur die Handhabe für die allein zweckmäßige Abschichtung des Ver-
waltungsstrafrechts vom eigentlichen Justizstrafrecht, aber innerhalb
jenes so erweiterten Gebietes des Verwaltungszwangs verlangte er von
vornherein eine Abschichtung des Verwaltungsstrafrechts von der Exe-
kutivstrafe. Auf diese Weise gelangte er allerdings zur Auffassung des
Verwaltungsstrafrechts als eines mixtum compositum von Verwaltungs-
vorschrift und Rechtssatz (a. a. 0. S. 87, auch Festg. f. Koch S. 416; vgl.
auch den neuesten Versuch J. Hatscheks, Institutionen des VerwR.,
S. 181 f., innerhalb des Polizeiunrechts zwecks Klärung noch eine weitere
Abschichtung der bloßen Polizeiwidrigkeit vorzunehmen und diese
als Verletzung einer von der Polizei aufgestellten Konventionairegel zu
fixieren). Gewiß kann die heutige Selbständigkeit der österreichischen
Verwaltung der Einbeziehung der Verwaltungsstrafgewalt in ein durch
Rechtsprinzipien beherrschtes Verwaltungsrecht förderlich sein, aber schon
die Unbekanntschaft desselben mit dem Satze nulla poena sine lege steht
der Anerkennung seiner von Kukula (S. 93 f.) behaupteten größeren
Fortschrittlichkeit gegenüber dem deutschen Rechte hindernd im Wege
(vgl. auch Hatschek a. a. 0. S. 118). Man wird den Versuch Kukulas,
die — im Interesse einer Befreiung der Verwaltung von Willkür — so
wertvolle Abschichtung der Verwaltungsstrafe von der Exekutiv-
strafe zu verwischen, theoretisch und praktisch als einen völlig miß-
glückten ansehen müssen. Das betrifft aber vor allem sein Bestreben,
die für die österreichische lex lata vielleicht erträgliche Konstruktion zu
einer allgemein gültigen Lehre zu erheben.
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß bei Kukula.
wie bei vielen anderen, welche dieses Thema behandelt haben, eine große
Befangenheit in ihrer lokalen Sphäre herrscht. Weiterkommen, all-
gemeine Gesichtspunkte für unsere Frage gewinnen läßt sich aber nur,
wenn wir den Blick über unser eigenes Staatsgebilde mit seinen histo-
risch gewordenen Verwaltungsbedingungen hinausrichten. Das von
Kukula angeschnittene Problem ist, wie vielleicht nur wenige, aui
rechts vergleichende Betrachtung angewiesen. Nur durch solche
lassen sich Maßstäbe auch für eine rechte Fruktifizierung der Gold-
schmidtschen Ideen gewinnen. Es kann nicht geleugnet werden,
Besprechungen. 471
daß die Schwierigkeiten der Scheidung von Justizstrafrecht und Polizei-
strafe einerseits, von letzterer und sog. Exekutivstrafe andrerseits in allen
Ländern beträchtliche sind. Gerade die Verschiedenheit der Methoden,
in welchen diesen Problemen zu Leibe gerückt worden ist, erweist sich
aber als überaus lehrreich. In den westlichen Ländern (England,
Frankreich, Belgien) hat sich zuerst die Erkenntnis Bahn ge-
brochen, daß Strafe, d. h. Verhängung eines Uebels für begangenes Un-
recht, nur durch Gesetze angedroht, nur durch Gerichte verhängt werden
soll (von Goldschmidt, Goltd. Arch. 49 S. 82 allerdings als „Rechts-
fanatismus der Revolutionszeit" bezeichnet). Dem hieraus entsprungenen
Bestreben, alle Strafe gesetzlich genau zu normieren und die Verhängung
auch aller Polizeistrafe den gewöhnlichen Gerichten (Belgien) oder ge-
richtlichen, mit verwaltungsrechtlichen Funktionen vereinigten Organen
(englische Friedensrichter) zu übertragen, haben sich jedoch praktische
Schwierigkeiten in den Weg gestellt. Es hat sich einerseits die Unmög-
lichkeit herausgestellt, alle diejenigen Fälle gesetzgeberisch im voraus
zu erfassen, in welchen sich vom Standpunkte des öffentlichen Wohls
eine Strafe als erforderlich erweist, andrerseits die Notwendigkeit, die
Kriminalgerichte nicht mit jeder Bagatelle zu befassen, vor allem aber
die Verhängung von Zweckmäßigkeitsstrafen der Verwaltung zu über-
lassen. Dem wird nun dadurch Rechnung getragen, daß in beschränk-
tem Umfange ein Strafrecht der Verwaltung zugelassen wird, wobei
dieses jedoch entweder richterlicher Kontrolle unterstellt (Berufung oder
besonderes Verfahren) oder durch von der Verwaltung unabhängige Ver-
waltungsgerichte ausgeübt wird. Das ist die oberflächliche Lösung des
Problems auf rein prozessualem Wege, welchen auch die §§ 453 ff., 459 ff.
der deutschen StrPO. beschreiten ; sie kann keine wesenerschöpfende
sein, da sie sich nach dem bloß äußerlichen Merkmal des Strafumfangs
richtet. Dem materiellrechtlichen Prinzipe nulluni crimen sine lege
aber sucht man in jenen Ländern dadurch Gerechtigkeit widerfahren zu
lassen, daß entweder ein besonderes Delikt der allgemeinen Uebertretung
von Verwaltungsverfügungen (Frankreich) oder besondere Blankett-
gesetze (süddeutsche Länder) aufgestellt werden, bei denen der Gesetz
geber nur die Strafe verhängt, die nähere Aufstellung der verbietenden
Verordnung dagegen der Verwaltung überläßt. Neuerdings bricht sich
nun immer mehr die Erkenntnis Bahn, daß die sog. Polizeidelikte der
Strafgesetzbücher ins Justizstrafrecht tatsächlich nicht gehören, da sie
wesentlich andere Voraussetzungen zeigen als das Kriminalunrecht und
ihre Bestrafung vor allem unter dem Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit
zu stehen hat. Eine lehrreiche Mischung all dieser Gesichtspunkte zeigte
die russische Gesetzgebung vor Errichtung der Ssowjetrepublik.
Einerseits besaß die russische Verwaltung: als Erbteil des Polizeistaats
472 Besprechungen.
eine unerhörte Omnipotenz, andrerseits stand die russische Wissenschüft
ganz auf dem Boden der englisch- französischen Doktrin, nach welcher
Strafe nur durch Gesetze angedroht, nur durch Gerichte verhängt werden
dürfte. Der russische Friedensrichter-Ustaw enthielt in seinen 181 Para-
graphen neben wirklichem kriminellem Unrecht auch diejenigen Polizei-
delikte, deren Bestrafung das Gesetz den Friedensgerichten zuwies. Die
russische Wissenschaft und die lex lata lehnte allerdings die Unter-
scheidung des Polizeiunrechts ab, wandte vielmehr die allgemeinen Straf-
rechtsgrundsätze auf alle den Gerichten zuständigen Delikte an (vgl.
Ssergejewski, Russ. Strafrecht, 1904, S. 70 f., dazu allerdings auch
die auf das Polizeiunrecht Rücksicht nehmenden Ergänzungen von Prof.
Shishilenko, das. S. 71). Das sich daneben erhebende administrative
Strafrecht, von der Theorie in seinem Hauptteil als Anachronismus ver-
urteilt, zeigte sehr verschiedenen Charakter (vgl. Foinitzky, StrProz. I
1902, S. 11 f., II 1899, S. 100). Auf Grund des Anhangs zu den §§ 1124
und 1214 StrPrO. sowie einiger Spezialgesetze (so StempelsteuerO.)
gab es ein Strafrecht der Verwaltung in minder wichtigen (so z. B. Zoll-,
Forst-, Post-, Stempel-) Sachen, wobei teilweise den Delinquenten An-
rufung der Gerichte zustand. Dann bestand, abgesehen von verstärkten
Schutzzuständen — als der eigentliche Quell administrativer Willkür das
Recht der allgemeinen Verwaltung, Polizeiaufsicht, Ausweisung, Verban-
nung (auf Grund des Ustaws zur Vorbeugung und Verhinderung von
Verbrechen § 1 N. 1 u. Anh.) zu verhängen ; endlich Repressivrechte
der Pressepolizei (auch nach 1906), Disziplinarausweisungen der Dorf-
gewalten den Bauern gegenüber (Allg. Bauerordn. § 62 Pt. 1 u. Anh.
z. § 205 des Ustaws zur Vorbeugung und Verhinderung von Verbrechen).
Wir haben hier eine ganze Skala administrativer Strafarten, beginnend
mit der Zuständigkeit im Gesetze bestimmter Verwaltungsbehörden für
gesetzlich geregelte, den Gerichten entzogene Polizeidelikte mit teilweise
richterlicher Kontrolle — bis zur administrativen Willkür nicht genau
bestimmter Organe in bezug auf nicht normierte Tatbestände, bei welchen
die Verwaltung die Notwendigkeit ihrer Eingriffe aus der Verhinderung
von Verbrechen ableitete. Man wird zugeben, daß es sich hier um zwei
getrennte Arten von Verwaltungszwang handelte: einerseits um eine
Entlastung des nach der englisch-französischen Doktrin für das Strafen
allein zuständigen Richters in bezug auf unwichtigere Delikte vorwiegend
formalrechtlichen Charakters, andrerseits um einen noch an keine ver-
waltungsrechtlichen Schranken gebundenen, nach reinen Zweckmäßigkeits-
erwägungen vorgehenden Verwaltungszwang, der in seinen Maßnahmen
allenthalben in das Gebiet der Strafgewalt übergeht. Diesem ganzen
System sind die leitenden Gedanken des modernen deutschen Strafrechts
noch völlig fremd. Daß die Verwaltung ebenfalls nach Rechtsgrund-
Besprechungen. 475
Sätzen geregelt werden könnte, darauf war man in Rußland noch gar
nicht gekommen. Recht galt als identisch mit Gericht, Verwaltung — *
mit Willkür. Es ist das große Verdienst der deutschen Wissenschaft,
daß sie durch die Schöpfung eines Verwaltungsrechts, durch den
systematischen Ausbau einer Verwaltungsgerichtsbarkei t, durch
den vor allem von Goldsehmidt konsequent versuchten Aufbau
eines Verwaltungs strafrech ts der Einführung der Rechtsprinzipien
in das Gebiet der Verwaltung die Wege geebnet hat. Auch ohne die
Durchführung der englisch -französischen Doktrin, die übrigens, wie wir
gesehen haben, gar nicht konsequent alle Strafe dem Gesetz und Ge-
richt vorzubehalten vermag, erscheint der deutsche Weg als derjenige,
der allmählich alle administrative Willkür zu beseitigen geeignet ist.
Solchen Zielen aber arbeiten Konstruktionen wie die Kukulasche völlig
entgegen, indem vieles, was bereits dem Rechte gewonnen war, in die
Sphäre des behördlichen Ermessei.s zurückgestoßen werden muß. Ein
Schritt auf dem deutschen Wege ist die Loslösung des sog. Polizeiun-
rechts von der Sphäre des Justizstrafrechts. Das ist aber der Punkt,
wo der materiellrechtliche Weg sich vom prozessualen scheidet (vgl.
StrPO. §§ 453" und 459 ff.) : es genügt nicht, gewisse Minimalstrafen den
Verwaltungsbehörden zuzuweisen, sondern es kommt darauf an, die
materielle Verschiedenheit des strafbaren Verwaltungsdelikts vom Krimi-
nalunrecht einerseits, vom bloß polizeilichen Verwaltungszwang erfordern-
den, rein verwaltungsrechtlichen Tatbestand andrerseits nachzuweisen.
Und darin besteht das nicht hoch genug einzuschätzende Verdienst Gold-
schmidts, daß er den auch von Kukula nicht mehr zu leugnenden
besonderen Charakter des Verwaltungsdelikts in bisher klarster Weise
herausgearbeitet hat. Es liegt darin allerdings nur die weitere logische
Konsequenz des von 0. Mayer begründeten deutschen Verwaltungs-
rechts. Diese ganze Bewegung läuft auf die Forderung hinaus: das
Verbrechen im weiteren Sinn — dem Gericht, die Beseitigung der dem
öffentlichen Wohl entgegenstehenden Unrechtmäßigkeiten — den Ver-
waltungsbehörden, das Verwaltungsdelikt aber — den Verwaltungs-
gerichten! Es läßt sich freilich nicht vermeiden, daß sowohl Verwal-
tungsdelikt als Verwaltungsgerichtsbarkeit ein mixtum compositum
zwischen Justiz und Verwaltung darstellen. Das Problem der Begriffs-
bestimmung des Polizeidelikts wird (als ein rein praktisches) wohl kaum
je in solcher Weise gelöst werden, daß die Grenzen zwischen Polizei-
und Kriminaldelikt aufhören werden, flüssige zu sein (vgl. Gold-
schmidt, Goltd. Arch. S. 89). Bisher aber dürfte Goldschmidts
Definition des Polizeidelikts als Verletzung eines durch die Verwaltung
geschützten Interesses, als unterlassene Unterstützung der auf Förderung
des öffentlichen Wohls gerichteten Staatsverwaltung, die präziseste und
474 Besprechungen.
praktisch brauchbarste sein (vgl. die Zusammenstellung bei J. Hatschek
a. a. 0. S. 179 ff.). Daneben bedeutet die Schrift Kukulas eine Begriffs-
verwirrung. — Eine weitere Verfolgung jener rechtsvergleichenden An-
regungen verbietet der Rahmen dieser Besprechung.
Dr. jur. Edgar Tatarin, Marburg a. L.
Dr. Konst. v. Dietze, Stolypinsche Agrarreform und Feld-
gemeinschaft. Quellen und Studien des Osteuropa-Instituts
Breslau. I. Abteilung: Recht und Wirtschaft, Heft 3. Verlag
B. G. Teubner, Leipzig und Berlin 1920. VIII + 87 S.
Diese Veröffentlichung des Osteuropa-Instituts führt den Interessenten
in übersichtlicher Weise in das Wesen der S t o lypi n sehen Agrar-
reform ein. Das Büchlein (89 S.) will sich offenbar auf begriffliche
Klarstellung beschränken, von der Erörterung der politischen und der
kulturhistorischen Bedeutung dieser Reform dagegen Abstand nehmen.
Diese Aufgabe löst es in einigermaßen erschöpfender Weise. Allerdings
gewinnt es durch jene Beschränkung einen etwas theoretischen, ja man
könnte sagen konstruktiv-kompilatorischen Charakter. Es ist nicht das
Produkt lebendiger Anschauung, praktischer Erfahrung, sondern abstrakter
Bücherweisheit. Es zeigt sich dieser Charakter vor allem im Fehlen
aller Fäden zur Weiterentwicklung der russischen Agrarfrage während
des Krieges und der Bolschewikenherrschaft. Die Stolypinsche Reform
wird als eine Einzelerscheinung außerhalb ihres Zusammenhangs mit
der russischen historischen Vergangenheit und der russischen Gegen-
wart betrachtet. Es ist auch weniger ihr Rechtscharakter, als ihre Be-
deutung in wirtschaftlicher Hinsicht, ihr Platz im wirtschaftlichen System,
die der Autor zum Gegenstand seiner Erörterung macht. In rein kon-
struktiver Hinsicht wird man die grundlegenden Begriffsbestimmungen
von Gemeindebesitz und Feldgemeinschaft nicht als einwandfrei heraus-
gearbeitet erachten können; jedenfalls läßt sich nicht behaupten, daß dem
Autor die Durchführung dieses Unterschiedes, der — was er rügt — von der
russischen Gesetzgebung und Wissenschaft nicht gemacht wird, klar ge-
lungen wäre (vgl. die Ausführungen auf S. 24 — 30). Hier hätte vielleicht dem
Autor eine rechtsvergleichende Aufgabe erwachsen bzw. helfen können —
die Durchführung von Parallelen zur altgermanischen Agrarverfassung.
Der Grundgedanke des Büchleins besteht darin, daß Gemeindebesitz
und Feldgemeinschaft mit Umteilungen ein Attribut der tausch- und
verkehrslosen Wirtschalt sind, dem Kapitalismus und der Verkehrswirt-
schaft dagegen direkt zuwiderlaufen, daß ferner ungesunde äußere Hem-
mungen (S. 17 — 23 u. S. 40 ff.) die frühere Entwicklung zum Privatbesitz
und zur Privatwirtschaft der Bauern hintangehalten hatten und daß die
Stolypinsche Agrarreform bloß die Konsequenz einer vollen Durch-
Besprechungen. 475
führung des kapitalistischen Wirtschaftssystems in bezug auf agrare
Verhältnisse darstellte. Zugleich zeigt er jedoch, wie ein „Festhalten
an der merkantilistischen und protektionistischen Handels- und Industrie-
politik und die Unterordnung der Verkehrspolitik unter politische und
militärische Gesichtspunkte" es verhindert haben, daß aus der Reform
eine wesentliche Besserung der Lage der Einzelwirtschaft zum Markte
entspringen konnte ; erst hierdurch aber wären zu den äußeren Antrieben
der Reform auch die inneren einer natürlichen Anpassung an die ge-
änderte Wirtschaftslage hinzugetreten (vgl. S. 74 f.). Die sich aus jener
Tatsache ergebenden Voraussetzungen für eine kommunistische Gesamt-
richtung des revolutionierten russischen Proletariats sieht der Verfasser
nicht. Ebensowenig Beachtung schenkt er dem Paradoxon, daß der
Zarismus jahrhundertelang bis zur Stolypinschen Reform, um das Bauern-
tum zu beherrschen, den praktischen Kommunismus an seinem Busen
nährte und daß der Staatskommunismus der Lenin und Trotzki seine
Herrschaft nicht anders zu sichern wußte, als indem er den bäuerischen
Massen das Geschenk des Tndividualbesitzes darbrachte.
Dem Kenner Rußlands bringt das Dietzesche Büchlein im wesent-
lichen eine hellere Beleuchtung des wirtschaftlichen Charakters der Stoly-
pinschen Reform. Als Aufklärungsschrift für Deutschland ist sie durch-
aus geeignet, darüber hinaus ein Bild von ihren wirtschaftlichen Voraus-
setzungen, ihrem Inhalt und ihrer gesetzgeberischen Technik zu gewähren.
Dr. jur. Edgar Tatarin, Marburg a. L.
Dr. F. Fick, Versicherungsrechtliche Abhandlungen.
Band III. Einige Grundbegriffe der Schadensver-
sicherung: Ersatzwert, Versicherungswert, Ver-
sicherungssumme, Gegenstand der Versicherung,
Interesse, Gewinnverbot, entwickelt an Hand des
schweizerischen WG. unter Berücksichtigung
des internationalen Gewohnheitsrechts und des
Rechts der angrenzenden Staaten, namentlich des
deuts chen VVG. und der österreichischen VO. 57 S.
Art. Institut Orell Füßli, Zürich 1918.
Dr. F. Fick, Versicherungsrechtliche Abhandlungen.
Band IV. Der Ersatzwert in der Feuerversicherung
nach dem schweizerischen VVG. Zugleich einerechts-
v ergleich ende Studie mit Bezug aufdas internationale
Gewohnheitsrecht und das Recht der angrenzenden
Staaten, namentlich das deutsche VVG. und die öster-
476 Besprechungen.
reichische VO., sowie die französische Versicherungs-
praxis. 396 S. Art. Institut OrellFüßli, Zürich 1918.
Die Gesetzgebung auf dem Gebiete des Privatversicherungsrechts
hat in den letzten Jahren ganz erheblich an Bedeutung gewonnen.
Nachdem die in einzelnen Staaten erlassenen Bestimmungen sich im
allgemeinen bewährt und viele Länder ihre Versicherungsgesetz-
gebung immer mehr ausgebaut haben, erscheint es als eine dankens-
werte Aufgabe der Rechtsprechung und der Wissenschaft, mitzuwirken
bei der Auslegung sowie Fortbildung der bestehenden Vorschriften.
Der Verfasser hat es daher unternommen, unter dem Titel „Ver-
sicherungsrechtliche Abhandlungen" eine Reihe von Schriften heraus-
zugeben, in welchen er — so heißt es ausdrücklich an einer Stelle —
zur Klärung der in der Praxis vielfach nicht richtig gehandhabten Be-
griffe beitragen will. Die früher schon erschienenen Bände I und II
sind betitelt : „Die bei der Auslegung des Versicherungsvertragsrechts
maßgebenden Grundsätze" sowie „Der Begriff der Feuerversicherung".
Es wird in den Abhandlungen ein besonderer "Weg eingeschlagen,
der um so nachahmenswerter erscheint, als fast sämtliche Begriffs-
bestimmungen zunächst aus den Bezeichnungen des täglichen Lebens
heraus entwickelt werden. Um ein Beispiel zu erwähnen : In Band III
(S. 23 ff.) gibt der Verfasser eine Bestimmung des Begriffs „Interesse".
Er führt zunächst an, was als gewöhnlicher Sprachgebrauch in
Meyers Konversationslexikon unter dem Stichwort »Interesse" zu
linden ist. Dann spricht er von der Bedeutung dieses Wortes in
der Rechtswissenschaft und der Zivilrechtsgesetzgebung allgemein
und stellt nebeneinander Definitionen von Mommsen, Bruns, Dern-
burg, Brinz und Windsclieid. Alsdann geht der Verfasser auf den
Interessen begriff in der Versicherungsvertragsgesetzgebung
und der Versicherungswissenschaft über. Auch hier gibt
er wörtliche Begriffsbestimmungen von Manes, Ehrenberg, Kisch,
Hoppe, Ostertag, Hagen, Brecher und Bendix. Bei Besprechung der
Versicherungsgesetzgebung wird zunächst vom schweizerischen VVG.
ausgegangen. Die weiteren Untersuchungen erfolgen, wie sich auch
aus dem Titel ergibt, unter Berücksichtigung des internationalen
Gewohnheitsrechtes und des Rechtes der angrenzenden Staaten,
namentlich Deutschlands und Oesterreichs.
In Band III gibt Verfasser in der Hauptsache eine Deduktion
folgender Begriffe:
Besprechungen. 477
Ersatzwert, Versicherungswert, Versicherungssumme, Gegenstand
der Versicherung, Interesse, Gewinnverbot und kommt zu beachtens-
werten, für die künftige Entwicklung des gesamten Versicherungs-
rechts sowie für die Versicherungspraxis bedeutungsvollen Ergeb-
nissen.
Band IV behandelt einen der in Band III bereits allgemein ent-
wickelten Begriffe genauer, nämlich den des Ersatzwertes in der
Feuerversicherung. Einen erheblichen Raum nimmt die Definition
auf Grund des schweizerischen VVG. ein, dessen Artikel 63 so-
wohl hinsichtlich seines Inhalts als seiner Stellung im System einer
genauen Betrachtung unterzogen wird. Es folgen eingehende Er-
örterungen über die Berechnung des Ersatzwertes bei Waren und
Naturerzeugnissen, bei beweglichen Sachen in der Hand des Er-
zeugers oder Umformers, bei Gebäuden sowie endlich bei den übrigen
Gebrauchs- und Ertragsgütern. Die letzten Kapitel behandeln Ret-
tungsschaden, Rettungskosten, Beweislast und taxierte Police (bei
letzterer wird von vornherein ein Versicherungswert, vorbehaltlich
des Gegenbeweises, durch besondere Vereinbarung festgelegt). Die
aufgestellten Berechnungsgrundsätze werden aus dem „Interesse u ge-
folgert, das ein Eigentümer der Sache an der Erhaltung hat, sie
gelten aber auch für alle anderen Eigentümer von Interesseversiche-
rungen (Sachversicherungen im engeren Sinne), nicht nur für die
Feuerversicherung. Die Untersuchungen gewinnen hierdurch noch ganz
erheblich an praktischer Bedeutung. Bemerkenswert ist auch die Zu-
sammenstellung der wesentlichen Ergebnisse am Schlüsse, die dadurch
vorteilhaft auffällt, daß bei den gedrängt wiedergegebenen Definitionen
die im Gesetzeswortlaut enthaltenen Bestimmungen mit Anführungs-
zeichen versehen sind. Ich führe als Beispiel an (S. 255): „ Ersatzwert "
ist „der Wert, den das versicherte Interesse zur Zeit" „des Eintritts
des befürchteten Ereignisses" (des Schadenfeuers) „gehabt hat".
Die Bücher, die gut ausgestattet sind, zeichnen sich durch aus-
führliche Literaturverzeichnisse, durch übersichtliche Anlage sowie
infolge genauer Inhaltsbezeichnung am Rande noch besonders aus.
Ein aus mehreren hundert Seiten bestehender Anlagenteil zu Band IV
enthält hauptsächlich frühere Gesetzentwürfe, Sitzungsberichte sowie
Eingaben und dient in zweckmäßiger Weise zur Vervollständigung
der wissenschaftlichen Untersuchungen.
Assessor Dr. Ludwig Berliner, Berlin.
478 Besprechungen.
Dr. iur. F. C. Zitelmann, deutscher Konsul, zur Zeit des Friedens-
schlusses Referent für die russischen politischen Angelegenheiten
im Auswärtigen Amt. Rußland im Friedensvertrag von Ver-
sailles (Artikel 116, 117, 292, 293, 433 des Friedensvertrags).
Kommentar nebst einschlägigen Noten. — Veröffentlichung aus
dem Kommentar zum Friedensverträge herausgegeben von Prof.
Dr. Walter Schücking. Berlin 1920. Verlag von Franz Vahlen —
Verlag von Robert Engelmann.
Die Aufnahme internationaler Handelsbeziehungen zu Rußland
macht eine Erörterung auch der staatsrechtlichen Beziehungen Ruß-
lands zu Deutschland schon jetzt notwendig. Wenn auch an den
Versailler Friedensverhandlungen Vertreter der Gebietsteile des ehe-
mals zaristischen Rußlands (außer den polnischen Delegierten) nicht
teilgenommen haben, so hat man auf Seiten der Entente doch durch
Aufnahme einiger zum Teil wichtiger Bestimmungen über das Ver-
hältnis Deutschlands zu Rußland wohl zu verstehen gegeben, daß
man nach Konsolidierung der Verhältnisse in Rußland von der
russischen Regierung den Beitritt zum Versailler Friedensvertrag
erwartet. Solange dies freilich nicht der Fall ist und überdies alle
von Deutschland mit Rußland vor dem 1. August 1914 geschlossenen
Verträge aufgehoben sind, außerdem Deutschland auf „alle Vor-
teile" des Brest-Litowsker Friedensvertrages und seiner Zusatzver-
träge verzichtet1), besteht ungeachtet der tatsächlichen Beendigung des
Krieges ein Zustand, in dem die im Friedensvertrag vorgesehenen
Beziehungen zwischen Rußland und Deutschland praktisch nicht zu
verwirklichen sind2).
Die wesentlichen Vorschriften des Friedensvertrages über diese
Rechtsbeziehungen finden sich verstreut in den verschiedenen Ab-
schnitten des Friedensinstrumentes. So wird in Artikel 116 und
!) Nach Artikel XV des Waffenstillstandsvertrages und Artikel 259
Ziffer 5 des Friedensvertrages.
2) Vgl. Wolff, Recht des Friedensvertrages. Jur. Wochenschr.
1919, S. 865. Treffend bemerkt Schönborn in der Jur. Wochenschr.
1920, S. 955, daß für Sowjetrußland der Versailler Friedensvertrag an
sich „res inter alios acta quae neque nocet neque prodest" ist. Die
deutsche Regierung freilich bleibt auch an diese Bestimmungen des
Friedensvertrages, der durch seine Ratifikation in Deutschland Gesetzes-
kraft mit innerstaatsrechtlicher Wirkung erlangt hat, gebunden.
Besprechungen. 479
117 unter den „Politischen Bestimmungen über Europa" als Ab-
schnitt XIV des Teils III mit der Ueberschrift „Rußland und die
russischen Staaten" Deutschlands Anerkennung der Unabhängigkeit
der russischen Gebiete und der Verzicht auf alle mit Kußland ab-
geschlossenen Verträge usw. behandelt, während in den Artikeln 292
und 293 in Teil X unter den „Wirtschaftlichen Bestimmungen" in
Abschnitt 2 unter dem Kapitel „Staatsverträge" die vertraglichen
Beziehungen zwischen Rußland und Deutschland in ihrer staats-
rechtlichen Tragweite erörtert werden. Der Artikel 433 enthalt
unter der Ueberschrift „Osteuropa" als Abschnitt 2 der in Teil XIV
des Friedensvertrages behandelten „Bürgschaften für die Durch-
führung des Friedensvertrages" die Regelung der Räumung der
russischen Gebiete durch deutsche Truppen.
Der durch besondere Sachkenntnis berufene Verfasser, dem als
Referenten des deutschen Auswärtigen Amtes ein reiches Akten-
material sowie persönliche Kenntnis der historischen Vorgänge zur
Verfügung stand, hat durch einen wertvollen über den Rahmen
rein juristischer Ueberlegungen hinausgehenden Kommentar die Er-
örterung der eingangs angedeuteten Fragen ermöglicht. So werden
in ausführlicher Darstellung neben den sprachlichen Abweichungen
des englisch-französischen Textes des Friedensvertrags die einzelnen
Begebnisse und Beziehungen dargelegt, die zu der im Friedensver-
trage erfolgten Regelung Anlaß gegeben haben, sodann wird die
Anwendung der gegebenen Vorschi'iften auf die einzelnen russischen
Teilgebiete an Hand der Sonderabkommen und Zusatzprotokolle
eingehend erörtert, wobei sich an die juristische Auslegung des Ver-
tragsinhalts eingehende Betrachtungen historischen und wirtschafts-
politischen Inhalts knüpfen. Nicht nur dem Friedensvertrag von Brest-
Litowsk wird unter anderem eine ausführliche Darstellung der histori-
schen Einzelheiten gewidmet, auch die anderen mit der maximalistischen
Regierung Rußlands abgeschlossenen Uebereinkommen sind eingehend
besprochen. Eine dankenswerte Erweiterung nach der historisch-
politischen Seite hin erfährt der Kommentar durch Beigabe sämtlicher
Urkunden, die sich auf den Meinungsaustausch zwischen der Entente
und Deutschland über die Räumung des Baltikums beziehen.
Die sorgfältige Arbeit des Verfassers, die unter weitgehender
Benutzung des Aktenmaterials gerade auch für die spätere An-
knüpfung und Wiederaufnahme der staatsrechtlichen Beziehungen
480 Besprechungen. Preisaufgabe.
zwischen beiden Ländern wertvolle Unterlagen bietet, darf über das
bloß juristische Interesse an den erörterten Fragen auch die Auf-
merksamkeit der Historiker und Politiker in bedeutendem Maße
für sich in Anspruch nehmen. So ist die Vorveröffentlichung dieser
wertvollen Arbeit lebhaft zu begrüßen. Dr. Martin Domke, Berlin.
Heinsheime r, Typische Prozesse. Ein Zivilprozeßpraktikum zum
Gebrauch bei akademischen Uebungen und zum Selbststudium.
* 4. verbesserte Auflage. Verlag Otto Liebmann, Berlin 1919. 134 S.
Die Eigenart dieses Praktikums liegt darin, daß es in seinem ersten
Teil (S. 1 — 97) dem Leser, wie es der Verfasser im Vorwort ausdrückt,
„ zusammenhängende Prozeßbilder vorführt, bei denen der Studierende
die Prozeßstadien von Schritt zu Schritt mitschaffend durchwandert".
In dem zweiten, kürzeren Teil sind sodann gut ausgesuchte Fälle der
üblichen Art beigefügt. Es ist dem Verfasser in hervorragendem Maße
gelungen, seinen Beispielen trotz ihres hohen theoretischen und päd-
agogischen Gehalts den so störenden schulmäßigen Anstrich zu nehmen
und den Lernenden ernstlich an die Probleme der Rechtswirklichkeit
heranzuführen. Nur ein starkes Gefühl für die Praxis vermochte den
Verfasser hierzu zu befähigen. Bei den Dozenten bedarf die Arbeit des
Verfassers keiner Empfehlung mehr; die Studierenden seien, auch für
die Zwecke des Selbststudiums, nachdrücklich auf sie hingewiesen.
Prof. Dr. A. Nußbaum, Berlin.
Preisaufgabe.
Die Fakultät der Rechtswissenschaft an der Universität Leiden
hat aus den von dem im Jahre 1919 verstorbenen niederländischen
Kolonialrichter Dr. S. J. Visser gestifteten Mitteln folgende Preis-
aufgabe ausgeschrieben :
„Es wird verlangt eine vollständige Uebersicht über
die internationalen Verträge der Republik der Vereinigten
Provinzen (1579-1795)/
Es werden Preise bis zum Gesamtbetrage von 5000 nieder-
ländischen Gulden zuerkannt werden. Einsendungstermin spätestens
1. Juli 1923. Nähere Angaben über das Preisausschreiben wird
auf Ansuchen erteilen: der ab -actis der fakulteit der Rechtsgeleerd-
heid te Leiden.
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