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^
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X'
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
SAN FRANCISCO
LIBRARY
IJ
»-I
ZEITSCHRIFT FÜR HYPNOTISIÜS
PSYCHOTHERAPIE
SOWIE ANDERE
PSYCHOPHYSIOLOGISCHE UND PSYCHOPATHOLOGISCHE
FORSCHUNGEN.
BAND 9.
MIT BEITRÄGEN VON
Db. Ach (Stbabsbubg), Db. Blassbebo (Ebajl^u), Db. Bbodmamv (Jena), Fbof. Binswangeb
(Jbka), A. Gbohmahb (Zübigh), Db. Gbotjahn (Beblut), Db. Hilobb (Maodbbübo)| Db.
HnwcHLAFF (Bbblin), Db. Isbnbbbo (Bbblik), Db. Latttenbagh (Beblih), Db. Mabcinowski
(Padbbbobk), Db. F. G. Müllbb (Münchbn)i Db. y. Sohbbnck-Notzino (Münohbn), Db. Sbif
(livucHEir), Db. van Stbaaten (Bbblin), Db. Tatzbl (München), Db. Tbcklbnbxtbg (Leipzig),
Db. O. Vogt (Bbbun), Db. Vobbbodt (Alt- Jessnitz).
uhtbk besonderer förderung ton
PKOF. A. FOREL
HERAUSGEGEBEN TON
DR. 0. VOGT.
LEIFZIG 1900
VERLAG VON JOHANN AMBEOSIUS BARTH
xf A
Alle Rechte vorbehalte n.
Inhalts-Verzeichniss.
Band 9.
Originalartikel.
Ach, Ueber geistige Leistungsfähigkeit im Zustand des einge-
engten Bewusstseins 1
Binswanger, Zur Casuistik der Agrapbie 84
Grohmann, Einiges über Suggestion durch Briefe 283
Hi Iger, Zur Casuistik der hypnotischen Behandlung der Epilepsie 47
Hirschlaff, Kritische Bemerkungen über den gegenwärtigen
Stand der Lehre vom Hypnotismus 65, 202
Marcinowski, Selbstbeobachtungen in der Hypnose ... 5, 177
Müller, Ueber den Einfluss des Lichtes auf die körperlichen und
psychischen Functionen 267
y. Schrenck-Notzing, Der Fall ISauter 321
Seif, Casuistische Beiträge zur Psychotherapie 275, 371
T. Straaten, Zur Kritik der hypnotischen Technik. . . 129, 193
Tatzel, Eine hypnotische Entfettungskur 231
Vogt, Kurze Bemerkungen über die vorstehenden Bemerkungen
HirschlaflTs 229
— Die möglichen ITormen seelischer Einwirkung in ihrer ärztlichen
Bedeutung. 1 253
Literaturübersichten.
V. Schrenck-Notzing, Literaturzusammenstellung über die Psy-
chologie und Psychopathologie der vita sexualis. 3. Fortsetzung 98
— IV —
Seite
ZusammenstelluDg der Literatur über Hysterie seit dem Jahre
1896. 5. u. 6. Portsetzung 113, 223
(Arbeiten von: ünverricht, Wollenberg, Soury, Bresler,
Raymond, Böttger, Stembo, Schütte, Schnitze, Hoff-
mann, y. Hösslin, y. Krafft-Ebing, Bresler, Richter,
Könige, y. Krafft-Ebing, Kraepelin, Delbrück, Ddga,
Sanctis, Barth, Ziehen, Oppenheim, Magnan, Raymond,
y. Krafft-Ebing, Ganser, Binswanger, Janet, y.Krafft-
Ebing, Fürstner, Wollenberg, Vigouroux.)
Referate und Besprechungen.
Abramowicz, Behandlung des chronischen Alcoholismua mittelst
Hypnotismus 376
Y. Bechterew, Hypnotische Suggestion bei chronischem Alco-
holismus 314
Eulenburg, Ueber Arbeitscuren 61
Grassl, Die Hansen'sche Lehre vom Bevölkerungsstrom . . . 192
Haenel, Die psychischen Wirkungen des Trionals 319
Higier, üeber specifischen Dämmerzustand des Bewusstseins in
der posthypnotischen Periode 376
Hoff mann, Physicalische Heilmethoden bei Nervenkranken . . 317
James, Talks to Teachers on Fsychology 312
Knopf, Sprachgymnastische Behandlung eines Falles von chro-
nischer Bulbäxparalyse .191
Mendelsohn, Hypurgie 377
Moebius, Vermischte Aufsätze 380
Oppenheim, Nervenkrankheiten und Leetüre 379
Patrick, Some Feculiarities of the Secondary Personality . . 62
Rosin, Ueber die compensatorische üebungstherapie der Tabes
dorsalis 191
Römer, Psychiatrie und Seelsorge 374
Sanctis, üna Yeggenta 309
V. Schrenck-Notzing, Suggestive Behandlung des contraren
Geschlechtstriebes 314
Scripture, The new psychology 378
Strohmeyer, Enteretis membranacea 318
Switalski, Ueber Suggestivbehandlung des perversen Geschlechts-
triebes 376
V. Voss, Ueber Schwankungen der geistigen Arbeitsleistung . . 320
lieber geistige Leistungsfahtgiceit im Zustande des eingeengten
Bewusstseins.
Voa
Dr. Narziss Aeh-Strassburg i. E.
In eingehender Weise hat Vogt ^) auf die Anwendbarkeit der auf
Selbstbeobachtung von Bewusstseinserscheinungen beruhenden directen
psychologischen Forschungsart in solchen Bewusstseinszuständen hin-
gewiesen, bei denen die Möglichkeit einer stärkeren Concentration der
Aufmerksamkeit gegeben ist. Er benutzte hierzu vor Allem den Zu-
stand des systematischen partiellen Wachseins. Wie für
die subjective Form des Experimentirens, also „für das Studium aller
derjenigen psychischen Phänomene, bei denen Erinnerungsbilder den
wesentlichen Bestandtheil büden", so lässt sich auch für die objective
Art der psychologischen Forschung die angegebene Methode mit Elrfolg
benutzen.
Besonders beachtenswerth erscheint mir ihre Verwendung für die
sogenannten fortlaufenden Methoden, bei denen wie beim Ad-
diren (Kraepelin) oder Auswendiglernen von Zahlenreihen (Ebbing-
haus), einzelne Gebiete des psychischen Geschehens durch gleichmässig
ablaufende Arbeit in Anspruch genommen werden. Wenn mir auch
bis jetzt nur eine recht geringe Zahl von Versuchen zur Verfügung steht,
so erscheint es mir doch nicht zwecklos, auf die Erhöhung der geistigen
Arbeitsleistung hinzuweisen, wie sie sich nach meinen Erfahrungen im
Zustande des systematisch eingeengten Bewusstseins einstellt, und die
Yortheilhafte Anwendung der in Bede stehenden Art psychologischer
Forschung auch bei continuirlicher geistiger Arbeit darzuthun.
*) ni. Intern. Congr. f. Psych. 1897, S. 250 ff. — Diese Zeitschr., Bd. V, S. 7ff.
und 180 ff.
Zeitschrift für Hypnotismos ete. IX. ^
2 Narziss Ach.
Als unberechenbare Einwirkung auf die Versuchsergebnisse, ins-
besondere der fortlaufenden Arbeit kann die Beeinflussung des Bewusst-
seins durch ablenkende Störungen, durch Zwischengedanken oder äussere
Beizeinwirkungen, betrachtet werden. Wohl kann eine hierdurch be-
dingte üngleichmässigkeit der Arbeitsleistung, der Forderung Krae-
pelin's^) entsprechend, durch Häufung der Beobachtungen unschädlich
gemacht werden. Doch wird sich mit dem Verschwinden dieser unbe-
absichtigten Beeinflussungen, wie es der Zustand des eingeengten Be-
wusstseins ermöglicht, die Leistungsfähigkeit in der vorliegenden Be-
schäftigung ihren psychophysischen Bedingungen folgend durch eine
grössere Genauigkeit auszeichnen, wobei die Möglichkeit der erhöhten
Aufmerksamkeitsspannung in einem Ansteigen der geleisteten Arbeit
zum Ausdruck kommt. Auch Schwankungen in der Stimmung, die bei
der Durchführung fortlaufender Aufgaben zuweilen hinderlich sind,
können im eingeengten Bewusstsein ausgeglichen werden. Daneben
werden sich die Begleiterscheinungen der continuirlichen Arbeit, die*
psychophysischen Aufmerksamkeitsschwankungen, die Uebung, Anregung,
Ermüdung und Erholung in ihrem Einfluss auf die Arbeitsleistung
klarer und ausgesprochener nachweisen lassen. Die Wirkung der
Müdigkeitsgefühle und der in Gestalt von Antrieben einsetzenden
Willensimpulse wird dagegen wohl in den Hintergrund treten. Die
Betrachtungsweise der verwickelten Arbeitscurve wird
demnach klarer und eindeutiger, ein umstand, der an sich
schon zur Prüfung der Vogt 'sehen Methodik auffordern müsste, be-
sonders da, wie bereits Vogt ausgeführt hat, zur Erzielung des par-
tiellen systematischen Wachseins die Suggestibilität jedes nervengesunden
Menschen genügt.
Da zur genauen Ausfuhrung der angedeuteten Einzelheiten umfang-
reiche Reihen eingehender Versuche nöthig sind, wie sie mir leider in
Folge von Mangel an Versuchspersonen nicht zur Verfugung stehen,
so möchte ich vorerst nur auf die allgemeine Erhöhung der Arbeits-
leistung im Zustande des eingeengten Bewusstseins hinweisen.
Als fortlaufende Arbeit benutzte ich das Addiren einstelliger
Zahlen. Die Ausführung jeder Addition wurde durch einen Strich
markirt, was nach den Feststellungen Amberg's^) als zulässig er-
^) Kraepelin, Der psychologische Versuch in der Psychiatrie. Psych. Ar-
beiten, I. Bd., S. Iff.
*) Amberg, Ueber den Einfloss von Arbeitspausen auf die geistige Leistungs-
fähigkeit. Kraepeiin's Psychol. Arbeiten, I. Bd., S. 300 ff.
Üeber geistige Leistungsfähigkeit im Zustande des eingeengten Bewusstseins. 3
scheint. Auch hatte die Versachsperson K. bereits zu Beginn der
ersten Hypnose durch wochenlange andersartige Versuche eine hohe
Uebung im Addiren erreicht. Der Schlaf war gleich in der ersten
Sitzung tief. Aus diesem Schlafe wurde E. durch die sich auf die
vorliegende, bekannte Aufgabe beziehende Suggestion partiell erweckt,
während für die übrigen nicht am Experimente betheiligten Bewusst-
Seinselemente die Schlafhemmung weiter dauerte. Wenn ich mich den
Ausfahrungen Vogt 's anschliesse, so bestand die affectlose Zielvor-
Stellung ihrem positiven Inhalte nach darin, dass der Versuchsperson
aufgetragen wurde, sie werde wie sonst mit möglichster Anspannung der
Aufmerksamkeit arbeiten; der negative Inhalt der Zielvorstellung be-
stand in der £mpfindungsunfähigkeit gegen Tast- und Gehörseindrücke.
Nur das Schlagen der fünf Minuten-Uhr, das von der Versuchsperson
durch einen Querstrich angezeigt wurde, sollte gehört werden.
In der folgenden Zusammenstellung sind die Ergebnisse von vier
Versuchstagen, 2 Normaltagen (6. und 10. Juli) und 2 Hypnose-Tagen
(8. und 9. Juli), vorgeführt. Die Versuchszeit war Morgens 9 Uhr eine
halbe Stunde lang, die in der Tabelle der Versuchsanordnung ent-
sprechend in je 6 Abschnitte mit den Additionsergebnissen von jedes Mal
6 Minuten abgetheilt ist.
Anzahl der gemachten Additionen.
Zeit
6. VU. 1898
8. vn.
9. VIT.
10. VII.
Xi C 1 V
Normal
Hypnose
Hypnose
Normal
1. Fünf Minuten
349
404
408
366
2. » n
363
462
411
366
3» n n
348
439
418
376
4- ,
346
419
440
411
ö' » n
343
420
462
326
6- » T)
359
416
367
361
Summe der Addit. der ersten
25 Minuten
1739
2134
2129
1843
Leider können wir die letzten fünf Minuten zu einer vergleichenden
Betrachtung nicht heranziehen, da K. am 9. VII. bereits nach 25 Mi-
nuten wieder vollständig erwachte, und sich seine Additionen in Folge
dessen hier sehr stark der Norm nähern. Das Steigen der Leistung
im Zustande des eingeengten Bewusstseins ist augenfällig. Ohne auf
Einzelheiten einzugehen, will ich nur anführen, dass die Besserung der
4 Narziss Ach.
ersten 25 Minuten an den beiden Hypnose-Tagen gegenüber den Normal-
tagen 681 Additionen oder 19^0 ^^^^ Normalleistung beträgt Die
abnorm intensive Folgewirkung des eingeengten Be*
wusstseinszustandes hat eine Steigerung der Arbeits-
leistung um fast einFünftel des Normalen herbeizuführen
vermocht. In mannigfachen Beispielen hat Vogt auf partiell erhöhte
Leistungsfähigkeit im Zustande des eingeengten Wachseins hingewiesen.
Die erwähnten Untersuchungen bilden eine Bestätigung dieser Er-
fahrungen.
Da es sich bei den vorliegenden Versuchen um eine künstliche
Erhöhung der geistigen Widerstandsfähigkeit handelt^ so er-
giebt sich hieraus die Unmöglichkeit, den Zustand des systematisch
eingeengten Bewusstseins zur Untersuchung der individuell verschieden
starken Ablenkbarkeit^ einer Grundeigenschaft der geistigen Persön-
lichkeit, zu verwenden. Doch wird die vergleichende Untersuchung von
Arbeitsleistungen, die unter dem Einflüsse ablenkender Beize vor sich
gehen und solcher, die im Zustande des eingeengten Bewusstseins, also
ohne Störung ablaufen, nicht ohne Nutzen für die Frage nach der
geistigen Widerstandsfähigkeit sein.
Die spärlichen, von mir mit Zeitmessung ausgeführten Experimente
(Beactionsversuche) sind bis jetzt noch ohne greifbaren Erfolg geblieben.
Selbstbeobachtungen in der Hypnose.
Eine Studie von
Dr. Marcinowskl^ Dirig. Arzt am Inselbade bei Paderborn.
Diese Zeilen schreibe ich nieder auf Veranlassung von O. Vogt,
welcher bekanntlich eine ganze Sammlung ähnlicher Selbstbeobachtungen
besitzt. Die Publication der meinigen war anfangs keineswegs be-
absichtigt. Die Experimente hatten für mich zunächst lediglich den
Zweck, die Empfindungen des Hypuotisirten am eigenen Körper kennen
zu lernen, um mich so besser in die psychische Verfassung meiner
Patienten hinein denken zu können. Aeussere Umstände und Compli-
cationen, die dabei eintraten, legten uns aber bald den Gedanken nahe,
diese Selbstbeobachtungen seien ein geeignetes Demonstrationsobject
für mancherlei Geschehnisse, die sich im Rahmen normal psycho-
logischer Vorgänge abspielen; jedenfalls enthalten ihre Details eine
Anzahl feinerer technischer Fingerzeige und werfen hier und da auch
ein Streiflicht auf die mannigfachen offenen Fragen unserer Special-
Wissenschaft; doch davon am Schluss.
0. Vogt hatte es also unternommen, mich einzuschläfern, und
wählte hierzu die von ihm eingeführte Form des sogen, fractionirten
Verfahrens.
Brodmann hat dasselbe in dieser Zeitschrift jüngst eingehend
geschildert, so dass ich über die technischen Details heute kurz hin-
weg gehen kann. Ich legte mich auf ein Chaiselongue nieder, deckte
mich mit einem Plaid zu, Vogt verdunkelte das Zimmer etwas durch
Herabdrehen der Gasflammen und nahm neben mir Platz. Die üblichen
Vorbereitungen, auf welche mit Becht so grosser Werth gelegt wird,
wie theoretische Belehrung etc. fielen bei mir fort. Vogt legte
6 Dr. Marcinowski.
seine Hand auf meine Stirn, forderte mich auf, gerade vor mich
hin zu sehen, also nach der 2iimmerdecke, und begann sofort mit
ruhigem, behaglichem Stimmfall meine Aufmerksamkeit auf die sich
einstellenden Empfindungen des Einschlafens zu richten; Wärme der
aufgelegten Hand, Erscheinungen am Orbicularis oculi etc. gaben dazu
Gelegenheit. Dabei erkundigte er sich nach der Realisation der Sug-
gestionen und liess mich antworten. Bald hatte ich mich gewöhnt,
auch ohne Fragen zu erzählen, was mir etwa auffiel. Auf diese Art
liess sich zu Beginn jeder Sitzung der Grad meiner Disposition und Sug-
gestibilität leicht prüfen. Bald nachdem der Augenschluss erfolgt war,
wurde ich zunächst wieder aufgeweckt und nach allen Details meiner
Empfindungen ausgefragt. Die nächsten Hypnosen derselben Sitzung
wurden dann allmählich immer länger und tiefer gestaltet. Die Sug-
gestionen erstreckten sich bei mir naturgemäss lediglich auf die Er-
zielung eines ruhigen hypnotischen Schlafzustandes.
lieber meine Person habe ich hier noch einzuschalten, dass ich
noch niemals hypnotisirt worden war ; vor Jahren hatte ich mich einem
äusserst gewandten Hypnotiseur gegenüber vollkommen refiractär er-
wiesen, obwohl ich mich keineswegs gegen die Hypnose gesträubt hatte,
welche mir vorher von anderen demonstrirt worden war. Damals war
ich etwa 17 Jahre alt. Ich habe mich jetzt als Arzt seit längerer
Zeit mit der Psychotherapie theoretisch und practisch vertraut ge-
macht und mehrfach selber Hypnosen zu Heilzwecken eingeleitet, auch
des öfteren andere Kollegen hypnotische Experimente vornehmen sehen.
Ferner will ich der Vollständigkeit halber einige Characteristica
meiner psychischen Yeranlagimg anführen, da auch auf die Berück-
sichtigung dieser Momente vom Hypnotiseur seinen Kranken gegenüber
Rücksicht genommen werden soll. Dass diese oft die specielle Gestaltung
hypnotischer Zustände beeinflusst, braucht hier wohl nicht erst erörtert
zu werden.
Ich gehöre nicht zu den ruhigen Menschen, sondern neige ent-
schieden zur Nervosität, vulgo Neurasthenie. Ich verfüge über em vor-
zügliches Auffassungsvermögen, aber die frühere Treue des Gedächt-
nisses ist schon lange nicht mehr vorhanden; so leicht ich mir einen
Gedankengang assimilire, so wenig zähe halte ich ihn fest. Ich habe
gegen früher entschieden an Fähigkeit zu concentrirter Aufmerk-
samkeit eingebüsst und schiebe dies auf einen gewissen Hang zum
Wachträumen; ich bin nicht wie früher im Stande, auftauchende Ge-
dankenreihen immer zu unterdrücken, so dass ich häufig zu schnell
Selbstbeobaohtungen in der Hypnose. 7
handle. Hieraus verstehe ich Manches, was ich in der Hypnose an mir
beobachtet habe. Mein Schlafbedürfniss ist ziemlich gross, mein Schlaf
ruhig und meist traumlos. Derselbe wird seit längerer Zeit fast alle
Nächte von Perioden von Halbschlummer unterbrochen, da meine Frau
mehrmals der Eonder wegen aufsteht. Für diese Perioden fehlt mir
nur sehr ausnahmsweise das Erinnerungsvermögen. Aeusserlich schlafe
ich dabei ruhig weiter, weiss aber alles, was um mich vorgeht.
Zum Kapitel der Autosuggestionen habe ich noch zu erwähnen,
dass ich zur Zeit von eigentlicher Hypnosenliteratur nur die grösseren
Werke von Bernheim, Wetterstrand undForel genauerkannte,
und mich für diese Selbstbeobachtungen absichtlich naiv gehalten habe.
Von Selbstbeobachtungen war mir nur die Bleulersche bekannt
(F o r e 1 , Hypnotismus, p. 216 f.). Die Zeitschrift für Hypnotismus habe
ich erst nach Fertigstellung der Protokolle vorgenommen und hoffe, dass
ich so vermieden habe, Zustände darum zu produciren, weil ich sie vorher
studirt hatte, oder Beobachtungen zu machen, weil ich im Yorurtbeil
befangen, sie unbewusst so machen wollte, um so werthvoUer war es mir,
hinterher Bestätigungen von Anschauungen zu lesen, die sich mit den
meinigen oft wörtlich deckten, und unbeeinflusst mit meinen Schluss-
folgerungen zu Resultaten gelangt zu sein, zu denen auch andere ge-
kommen waren. Diese Art und Weise, wie ich zu ihnen gelangt bin,
dürfte auch den objectiven Werth meiner Beobachtungen erhöhen.
Bleuler stellt am Ende seiner Selbstbeobachtung die Frage auf,
ob die hypnotischen Zustände sehr mannigfacher Natur seien, oder
mehr eine gewisse Gesetzmässigkeit aufwiesen. Die folgenden Zeilen
mögen ihm darauf die Antwort geben, dass hypnotische Zustände trotz
ihrer unendlichen Mannigfaltigkeit nirgends eines gesetzmässigen Zu-
sammenhanges mit den normalen psycho-physiologischen Geschehen ent-
behren, und dass wir in der That begründete Aussicht
haben, den Gesetzen dieses Geschehens mit Hülfe der
Selbstbeobachtung in eingeengten Bewusstseinszustän-
den, wie sie die Hypnose darstellt, mehr und mehr auf
die Spur zu kommen.
Ich kann hier natürlich nur einen kleinen Bruchtheil von all dem
wiedergeben, was ich in der Hypnose eäipfunden und beobachtet habe.
Ich würde sonst zu ausführlich werden müssen. Ich habe deshalb auch
nur die wesentlichsten Vorkommnisse geschildert, und von der Wieder-
gabe des weitläufigen Wortlauts der ertheilten Suggestionen Abstand
genommen, da ich dieselben doch nicht hätte wortgetreu angeben können.
3 Dr. Al&rcinowski.
Die Protokolle sind von mir unmittelbar nach den Sitzungen verfasst.
Ihr Inhalt dürfte genau genug angegeben sein, um Unklarheiten in der
Darstellung zu vermeideD.
I. Sitzung: Donnerstag Abend Vi 6 Uhr. 4 Versuche.
1. Hypnose.
Beim Hinlegen zeigt sich starkes Herzklopfen und es tritt eine eigenartige
Aufregung ein, für welche ich keine Erklärung habe finden können, ein psychisches
Substrat für dieselbe fehlte in meinem Bewusstsein vollkommen. Unter der auf-
gelegten Hand und geeignetem Zuspruch beruhigt sich das Herz bald.
Die die erste Hypnose einleitenden Suggestionen realisiren sich schnell. Ich
theile während derselben Vogt meine Beobachtungen mit. Das Wärmegefuhl der
auf die Stirn gelegten Hand ist nur schwach angedeutet; den Grund hierfür findet
Vogt in einer starken Eigenwärme meiner Stirn. Meine Aufregung ist nun ent-
sprechenden Suggestionen vollständig gewichen. Der Augenschluss kommt folgender-
maassen zu Stande, während Vogt diese Erscheinungen in Form verbaler Sug-
gestionen begleitet: Zunächst hebt sich das Unterlid, so dass das Gesichtsfeld nach
unten kleiner wird, zugleich tritt dabei mehr Thränenfeuchtigkeit vor die Pupille,
und verschleiert den freien Blick etwas; das Zwinkern hört auf, ich merke, wie
der Blick starr wird, die Gegenstände verschwimmen mit undeutlichen Grenzen,
das untere Lid hebt sich immer mehr, und plötzlich senkt sich das obere Lid
herunter, die Augen sind geschlossen. Ein unendlich wohlthuendes Gefühl durch-
strömt den Körper, man glaubt noch tiefer in die Kissen zurückzusinken ; ich strecke
mich aus, und ein tiefer, wollüstiger Athemzug hebt die Brust; dann ebbt* die
Kespirationsthätigkeit ab, weit unter die Norm sinkend, und die Athmung bleibt
während der Hypnose leise, oberflächlich und auffallend langsam. Ruhe, behagliches
sich gehen lassen, Lustbetonung sind der Inhalt der einfachen verbalen Suggestionen.
Ich verhalte mich dabei ganz passiv, beobachte zunächst die hellen Kontrastbilder
der Deckenstukatur, die sich meinem Augenhintergrund eingeprägt hatte, und welche
als röthlich leuchtende Figuren die Zeichnung der Decke auf dem nun schwarzen
Untergrund meines visuell sonst leeren Bewusstseins wiedergaben. Es tritt eine
unendlich behagliche Ruhe ein. Ich glaube, all dem Widerstand leisten zu können,
will es aber nicht und fühle nicht das geringste Bedürfmss dazu, denn mir ist
so sehr wohl. Trotzdem versuche ich eine kleine Probe; als Vogt mit der
Suggestion des Erwachens beginnt, öffne ich die Augen, ohne den Befehl dazu
abzuwarten. Es gelingt sofort, vielleicht allerdings nur darum so leicht, weil die
Suggestion des Erwachens schon eingeleitet war. Dies geschah mit den Worten:
„Wenn ich jetzt bis 3 zähle, so gehen Ihre Augen auf^ und Sie sind wieder ganz
schön frisch und munter. Eins, zwei, drei!" Die ganze Suggestion wurde mit etwas
erhobener, lebhafter Stimme gegeben.
2. Hypnose tritt bereits schneller ein, ist auch etwas tiefer. Die oben näher
beschriebenen optischen Kontrastbilder gehen wirr durcheinander. Durch alle
Glieder geht ein eigenthümliches Ziehen. In der Muskulatur machen sich Spannungen
bemerkbar, die namentlich im Gesicht immer mehr zunehmen und sich dort schliesslich
unwiderstehlich bis zum Lächeln steigern. Ich habe dies zwar als Lächeln em-
pfunden, meine aber, dass der Vorgang der war, dass die Vorstellung des Lächelns
erst durch den Spasmus geweckt wurde. Ich erinnere mich dabei, dieses Lächeln
Selbstbeobachtungen in der Hypnose. 9
bei vielen Hypnotisirten gesehen zu haben, und dass ich dabei immer gedacht hatte,
dasi sie sich in der That über die Hypnose lustig machten. £s ist dies aber höchstens
als ein Verlegenheitslächeln über die eigenthümliche Situation aufzufassen, in der
man sich komisch vorkommt, wenn es eben überhaupt als die Folge einer Reflexion
aufzufassen ist, und nicht umgekehrt diese Reflexion erst die Folge der
empfundenen Muskelspannungen darstellt. Diese Ifuskelspannungen
traten schliesslich zwangsweise auf, d. h. ich hatte das Gefühl, mich ihnen gegen-
über gehen lassen zu müssen, ohne dabei zu vergessen, dass ich sie in jedem
Moment durch kräftigen Willen unterdrücken konnte; ich hatte aber absolut kein
Bedürfniss dazu. Die Mnskelunrnhe und der Spasmus der mimischen Muskeln Hess
auf wiederholte Yerbalsuggestion sehr bald nach.
Dr. V. macht nun starke Streichungen über den linken Arm und suggerirt
das Auftreten von Wärme in demselben. Diese Suggestion realisirt sich nicht,
sondern ich mache Y. darauf aufmerksam, dass ich durch die Streichungen ent-
schieden mehr geweckt werde. Mir waren dieselben unangenehm. Später nach
dem Aufwachen fand ich auch den Grund dafür. Ich selbst pflege nämlich beim
Hypnotisiren die Streichungen nur ganz leicht und den Körper kaum berührend
auszuführen. Als ich bei V. zuerst die Anwendung so fester Streichungen sah,
hatte ich inuner den Gedanken gehabt, dass dieselben nicht so wirksam sein könnten,
als die von mir geübten« Dies wa^, wenn ich mir dieses Zusammenhanges auch
zunächst nicht bewusst war, der Grund, warum mich diese Streichungen störten.
Schnelles vollkommenes Erwachen auf Kommando.
3. Hypnose.
Augenschluss erfolgt rasch, aber zunächst unvollständig; die Augen bleiben
eine Zeit lang halb offen, wobei ich für einige Zeit etwas munterer werde. Ich
hatte nämlich dem Gefühl des Augenschliessens zu früh nachgegeben, früher als bis
es unwiderstehlich wurde. Diesmal sprach Y. viel auf mich ein, vor allem Ruhe und
behagliches Daliegen suggerirend. Das Gefühl des völligen Sichhingebens an die
Ruhe war geradezu wonnig, die Glieder schmiegten sich völlig ihrer Unterlage an.
Ich hatte dabei immer das Gefühl, als ob V. mit seinen Suggestionen etwas später
käme, als sich dieselben verwirklichten; die Bewusstseinserscheinung war schon da,
als ich seine Worte hörte. Dieselben betrafen auch das Lächeln; der Spasmus sollte
nicht wieder auftreten, und in der That hatte ich diesmal zu meiner Verwun-
derung nicht den Drang zum Lächeln, sondern empfand zugleich mit der Ruhe
deutlich ein Erschlaffen der ganzen Muskulatur, auch im Gesicht ; die Wangen hingen
mir schlaff herunter. V. schien das auch zu bemerken, aber ich konnte in Gedanken
nicht recht unterscheiden, ob das Eintreten des Phänomens suggerirt war, oder ob
es umgekehrt nur geschickt zur Suggestion benutzt wurde, weil sein Eintreten bemerkt
worden war. Mein Empfinden bei ruhiger, nicht mit dem Gefühl der Anstrengung
verknüpfter Selbstbeobachtung war bei allen Suggestions Wirkungen das des spon-
tanen Eintritts, verbunden mit einem ausgesprochenen Gefühl der Passivität^ In
dieser Hypnose mache ich auch die Bemerkung, dass ich genau fühlen konnte, wie
meine Bulbi nach oben und innen gedreht waren, etwas, was mir einige Tage zuvor
in wachem Zustand trotz angestrengten Bemühens nicht möglich gewesen war.
Ich hatte also während der Hypnose volle Kritik, auch bemerkte ich, dass
ich alles in der Aussenwelt Vorgehende auffasste, genau wie im Wachen. Das
10 Dr. Marcinowski.
Bedürfniss aber, zu prüfen, ob ich mich noch bewegen könne, wie es in der zweiten
Hypnose aufgetaucht war, fehlte mir.
4. Hypnose.
Dieselbe war nur wenig tiefer. Die Worte von V. wurden mir aber immer
gleichgültiger ; ich hörte sie, ohne darauf hinzuhören. Der Strassenlärm wurde ebenso
laut wie vorher empfunden, trotz gegentheiliger Suggestion, aber ich bewahrte ihm
gegenüber ein grösseres Gefühl der Ruhe ; er weckte in mir an undeutliche Träume
erinnernde Bilder: ein Hund bellte z. B., und ich sah ihn zugleich vor mir, als ob
ich lebhaft träumte.
Abbruch der Versuche für heute, da sich die Hypnose nicht weiter vertiefte.
Frisches erquicktes Gefühl nach dem Aufwachen. Ich bemerkte noch am Tage
darauf, dass gewisse Erinnerungsbilder des während der Hypnose Vorgefallenen
von ungewohnt starker sinnlicher Lebhaftigkeit waren und auch fernerhin blieben.
Beim Fortgehen versichert mir V., dass ich erstaunt sein werde, wie gross der
Unterschied zwischen heute und dem nächsten Tage sein würde. Obwohl ich mir
sofort bewusst war, dass diese so oft gehörten Worte eine Suggestion darstellten,
so fehlte mir doch zu meiner Verwunderung die volle Kritik hierfür trotz wachen
Zustandes ; ich empfand die Wirkung der Worte, und konnte mir nicht klar darüber
werden, ob sie Vogt 's wirklicher Ueberzeugung entsprachen oder lediglich auf
Suggestiv Wirkung berechnet waren. Dieser Gedanke beschäftigte mich lange Zeit,
ohne selbst nach Wochen an dem Status etwas zu ändern.
II. Sitzung: Freitag Abends V«6 Uhr. Am Abend vorher hatte ich mich
eingehend über hypnotische Zustände unterhalten und war darauf des Nachts in
einen tiefen bleischweren Schlaf veraunken, eine Schlafform, die von meinem ge-
wohnten Schlaf wesentlich abwich.') Bei Beginn der Versuche tritt wieder starkes
Herzklopfen auf, lässt sich aber leicht beruhigen. Die Haut ist heute auffallend kühler
wie gestern, so dass sich auch die Wärmesuggestion der aufgelegten Hand leichter
realisirt. Es werden 5 kurze Hypnosen hervorgerufen. Die Beeinflussung ist aber
heute nur eine ganz geringe, und der Beginn der Schlafhemmung lässt zum Theil
recht lange auf sich warten. In der H3rpnose selbst tritt auch nicht jene wohHge
Entspannung und Ruhe auf wie gestern, sondern der ganze Körper bleibt etwas
erregt, wie nach einer seelischen Aufregung, einzelne Muskelgruppen, so im Ge-
sicht, zeigten leichte Zuckungen. Es ist mir heute nicht möglich, jene wohlthuende
Gedankenlosigkeit hervorzurufen und zu empfinden. Die Vorstellungen jagen sich
und wechseln rasch. Die gegebenen Suggestionen ärgern mich; Vogt's Stimme
ist mir störend laut, und die Wortfolge zu schnell. Ich bitte nun V., das. Zimmer
mehr zu verdunkeln ; umsonst, jeder weitere Versuch ist immer weniger erfolgreich.
Ich habe schliesslich nur das Gefühl, dass ich mit geschlossenem Auge daliege und
mich ärgere. Beim dritten Mal realisirt sich die Wärmesuggestion auf der Haut
an Armen, Brust und Hals auffallend stark und hält auch noch nach der Hypnose
längere Zeit an, desgleichen bleibt das Gefühl von dem Druck der Hand an der
Stirn bestehen. Beim vierten Versuch tritt der Augenschluss ungleich ein und
zwar zuerst rechts, mit dem Gefühl des Krampfes verbunden. In demselben Moment
breche ich selber den Versuch ab, und zu gleicher Zeit tritt ein kürzerer Krampf
der Orbicularis auf, der das Auge, während ich mich erhebe, ganz schliesst. Es
*) Cfr. pag. 7 oben.
Selbstbeobachtungen in der Hypnose. 11
fehlte bei allen Versuchen die Intensität des Bedürfnisses zum Augenschluss und
jedes Lustgefühl, welches gestern die einzelnen Proceduren in so ausgesprochenem
Maasse begleitete. Hin und wieder Hessen die Spannungen in den Muskeln ruck-
weise nach, was man wörtlich sehr richtig als „tiefer sinken'' bezeichnen kann; aber
es kam dabei zu keiner andauernden Ruhe und Erschlaffung.
Nach einer Pause von einer halben Stunde Wiederholung der Versuche. 4 kurze
Hypnosen. Die 25eit bis zum Augenschluss dauert noch länger wie vorher ; nament-
lich der TÖllige Schluss erfordert mehrere Minuten. Die Stimmung ist im All-
gemeinen ruhiger, aber immer noch treten Muskelspannungen auf. £s spielt sich
ein richtiger Kampf ab ; ich empfinde genau das Auf- und Abwogen zwischen Auf-
wachen und tieferen Einschlummern, welches wieder meist ruckartig erfolgt. Beim
dritten Versuch habe ich unter sehr lebhaftem Zuspruch und energischen, rasch
hintereinander wiederholten Suggestionen plötzlich die Empfindung, nunmehr über-
wältigt zu werden und meinen heute so schlecht disponirten Zustand verschwinden
zu fühlen. Leider wird der Zuspruch gleich darauf wieder ruhiger, und sofort
wird auch die Hypnose wieder oberflächlich. In den beiden ersten Versuchen
jagten sich die verschiedensten Bilder und Vorstellungen ohne ersichtlichen Zu-
sammenhang, ohne Beziehungen zu einander; am 3. und 4. war das Bewusstsein
meist völlig leer. Der Grad der Beeinflussung war im Ganzen nur ein sehr ge-
ringer gewesen.
Der Grund für diese unerwartet eingetretene Complication war zunächst nicht
ersichtlich, wurde aber von mir sofort mit der ungewöhnlichen Form des vorauf-
gegangenen Nachtschlafes in Verbindung gebracht, ohne dass es mir dabei möglich
gewesen wäre, mich irgend eines Traumbildes oder dergleichen zu erinnern.
lU. Sitzung: Sonnabend 10 Vt — H Va Uhr Vormittags. Mein Nachtschlaf war
wie gewöhnlich verlaufen. ^) Zunächst wurden drei ganz kurze Versuche gemacht.
Die Hand wurde auf meine Bitte ganz lose auf die Stirn aufgelegt, weil sie, fest
an die Stirn gedrückt, mich in unbequemer Weise am wohligen Ausstrecken ge-
hindert hatte. Heute kein Herzklopfen. Der Augenschluss erfolgt rechts und links
^eder gleichmässig, nur tritt dabei nicht wie bei I. das Gefühl des Schwindens
der Sinne auf, und die Lider werden auch trotz darauf gerichteter Suggestion
ebenso wenig wie gestern schwer oder müde. Der Zwang zum Schliessen der
Augenlider ist ein ganz anders gearteter als bei I. Während sie sich da mit einem
unendlich behaglichen Gefühl heruntersenkten, ein Gefühl, gegen das mir gar nicht
der Gedanke kam, mich wehren zu wollen, ist es heute jedes Mal ein ausgesprochener
Krampf des Orbicnlaris, den ich nicht überwinden kann. Mit grosser Anstrengung
gelingt es mir, den Lidspalt etwas zu erweitem. Durch diese Bewegung kommt
mir aber der krampfhafte Zustand des Muskels nur umsomehr zum Bewusstsein,
und das Gefühl des Zwanges wird deshalb nur noch mehr verstärkt, je mehr ich
mich dagegen wehre. Schliesslich sehe ich die Nutzlosigkeit meiner Bemühungen
ein; der Wille zum Widerstand lässt nach, ich gebe den Kampf auf, und der letzte
achmale Kest der Lidspalte schliesst sich, aber ohne jede Instbetonte Müdigkeits-
empfindung. Die einzelnen einfacheren Suggestionen der Wärme, der Ruhe und
der Erschlaffung, der nachlassenden Spannung in der Zwerchfellgegend, wo sich
leise Spasmen störend bemerkbar machen, erfüllen sich prompt. Die eintretende
*) Cfr. pag. 7 oben.
12 Dt, Marcinowski.
Realisation wird als Folge der Suggestion erkannt, und das Gefühl des Beeinflusst-
werdens ist im Bewusstsein vorhanden. Die einzelnen Healisationen sind aber nicht
von Dauer, sie erfolgen zwar unmittelbar, lösen sich aber gleich darauf wieder langsam,,
und 80 stellt sich der ganze Vorgang als ein wogender Kampf dar, der mich in
seiner Form und seiner körperlichen Empfindung an eine Rutschbahn erinnert, die
nach steilerem Abfall ein allmähliches Steigen in stetiger Wiederholung zeigt. Das
Empfinden hierbei ist das des körperlichen Sinkens und G-ehobenwerdens ; daher
das Auftauchen des erwähnten Vergleichbildes. Dieser Wechsel von Einschlafen
und Aufwachen war aber im Gegensatz zu der Abwehr des fremdartigen Empfindens
eines Augenmuskelkrampfes ein lustbetonter. Der Strassenlärm ist mir wie gestern
sehr unangenehm, weil er mich an der völligen Hingabe hindert, ebenso störte
es mich wie gestern, dass Herr V. die Suggestionen in schneller Wortfolge giebt
und sie in complicirte, fachwissenschaftliche Ausdrücke kleidet, oftmals derselben
Suggestion eine wechselnde Form gebend. Es macht mir, der ich scharfe und spitz-
findige Dialectik gewohnt bin, hier Mühe, den Worten zu folgen, und ich bitte um
monotonere und etwas „ungebildetere*^ Suggestionen.
Kleine Pause. Unterhaltung über den Zustand. Ich erwähne hierbei meine
Gewohnheit, mich oft noch kurz vor Tisch zu einem kurzen, erquickenden Schlafe
hinzulegen, der immer stark lustbetont ist.
Es folgen drei längere Versuche. Allen gemeinsam ist wieder der krampfhafte
Augenschluss , wie bei 1. bis 3. Eindringliche Suggestion der Schläfrigkeit und
Müdigkeit, sowie der Erinnerung an das Lustgefühl, welches ich am ersten Tage
empfunden hatte, realisirt sich ganz allmählich und langsam, erreicht aber nicht
jene Intensität wonnigen Gefühls wie bei I. Bei ruhiger, leiser Sprechweise werde
ich allmählich gleichgültiger gegen Worte und Aussengeräusche, von denen nur
noch die ganz lauten meine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. In der Pause zwischen
5 und 6 kommt mir erst nach dem Aufwecken, das wie stets ohne Mühe geschieht,
auf einmal ein starkes Gefühl von Müdigkeit zum Bewusstsein, und ich erkenne
jetzt erst im Wachen den weitgehenden Grad der stattgehabten Beeinflussung. So
bald ich mich hochrichte, lasse ich mich mit einer gewissen Willensschlaflheit so-
gleich wieder zurückfallen, und gebe der angenehmen Müdigkeit nach. Ich gebe
meinem Empfinden mit den Worten Ausdinick: „wenn mir das zu Hause passirte,
so würde ich nun sagen, Kinder, lasst mich mal eine Viertelstunde zufrieden, ich
muss mich ein bischen hinlegen. '^
Ich lege mich nun auf die Seite. Der Augenschluss erfolgt wieder krampf-
haft; Suggestion des erwähnten Mittagschlafes, und des ersten Stadiums gewöhn-
lichen Einschlafens. Dieselbe ist mir, wahrscheinlich als gewohnte Vorstellung, an-
genehm. Darauf überlässt mich V. mir selbst, entfernt auch die Hand von der
Stirn. Nach längerer Zeit, ausgefüllt mit angenehmer Ruhe, habe ich das Gefühl,
dass ich doch nicht tiefer einschlafen könne ; es überkommt mich schliesslich etwas
wie Langeweile und ich öffne die Augen spontan, ohne Befehl. Ich hatte
stets gemeint, dass ich einfach nur die Augen zu öffnen brauche, um wieder im
wachen Zustande zu sein, und glaubte dies heute um so mehr, als ich mich unbe*
einfinsst wähnte, sollte aber sofort eines Besseren belehrt werden. Ich setzte mich
auf und musste dabei ein starkes Gefühl von Müdigkeit überwinden. Kaum war ich
dann aber einige Schritte gegangen, als ich auch schon einen Stuhl nehmen und
meinen Kopf aufstützen musste ; ein unbezwingliches Gefühl von Schläfrigkeit über-
Selbstbeobachtungen in der Hypnose. 13
mannte mich einfach, war stärker als mein Wille. Erst drei Mal wiederholte, ener-
gische Wachsnggestion unter Händedruck auf die Schläfengegend brachte mich wieder
in normale Verfassung. Ich war also durch die Müdigkeitssuggestion doch so stark
beeinilusst, ohne das in der Hypnose selbst empfunden zu haben, und dies machte
sich um so stärker geltend, als ich ohne Aufwecken den Versuch selbstständig ab-
gebrochen hatte. Ein unangenehmer Kopfschmerz verfolgte mich übrigens noch
den ganzen Tag trotz angestrengter ablenkender Arbeit und verliess mich erst
ziemlich plötzlich Abends gegen 8 Uhr.
Interessant war heute unter Anderem der Unterschied zwischen lustbetonten
gewohnten und unangenehmen ungewohnten Vorstellungen zu constatiren.
rV. Sitzung:
Sonntag lOV*— llVi-
1. und 2. Kurze Versuche zur Prüfung der Suggestibilität. Augenschluss erfolgt
heute ohne Spannung und ohne Krampf. Wärme schnell realisirt. Die Suggestion
der Müdigkeit und Schwere in den Lidern wird in Gegensatz zu dem gestrigen
Krampf gesetzt und als normale gewohnte Empfindung hingestellt. Ruhe und
Lustbetonung vorhanden. Störung durch grelles Sonnenlicht wird durch Herab-
lassen der Markise beseitigt. Suggestibilität ist ausgesprochen vorhanden.
3. Längere Hypnose. Die eigenen Gedanken stören mich und lassen mich
nicht tiefer kommen. Ich sage mir in Gedanken rhythmisch mit den Athem-
bewegungen fortwährend die Worte her: „nicht nachdenken, nicht nachdenken'',
später, als der Strassenlärm wieder sehr laut ist: „nicht hören, nicht hören''. Es
glückt damit, Gedanken und Geräusche etwas zu unterdrücken, aber nur für kurze
Zeit, dann lenken sie plötzlich wieder die Aufmerksamkeit auf sich, und in dem-
selben Augenblick werden sie wieder als sehr laut bewusst. Alle darüber und
über Anderes angestellten Reflexionen macheu mir einen traumhaften Eindruck
nnd verlieren immer mehr an Activität; die Gedanken tauchen von selbst auf.
Trotzdem habe ich die ausgesprochene Idee, nicht beeinflusst zu sein; ich weiss,
dass ich unter dem Einfluss der Suggestion stehe, habe aber keine entsprechende
Empfindung davon. Es ist dies ein eigenthümllcher Zwiespalt, dem ich aber nicht
anders Worte zu leihen vermag. Der aber weckt den Gedanken des Zweifels in
mir und zugleich den Wunsch nach gewaltsamerer ßeeinflussung.
Nach längerer Pause 4. Versuch. Augenschluss trotz Aufforderung zur
Gegenwehr schnell erzielt und lustbetont. Lebhafte Suggestion der Müde und
Schwere, des sich nicht mehr bewegen Wollens. Es tritt keine Lust zur Prüfung
der Wirkung ein. Ich weiss genau, ich kann mich bewegen; aber sobald ich den
motorischen Impuls gebe, so lässt der Wille dazu auch schon nach, und es kommt
höchstens zu Unruhe oder Zuckungen in einzelnen Muskeln. Schliesslich gebe ich's
auf, habe aber nicht das Gefühl des absoluten Beherrschtseins. Ich erachte dies
dabei in Gedanken als eine Folge d£r Vogt'schen Methode, welche beabsichtigt, den
Bestand des eigenen Willens zum unantastbaren Bewusstseinsbesitz werden zu lassen.
Auch hier bleiben die. Reflexionen traumhafter, passiver Natur.
V. Sitzung:
Montag 10»/4-llV« Vorm.
1. Versuch, nur ganz kurz zur Prüfung der Disposition. Ich empfinde von
vornherein Ruhe und Behaglichkeit und habe das Gefühl, dass die Experimente
heute gut glücken würden.
X4 ^^' Marcinowski.
Augeiischlass erfolgt sehr schnell. Wärme stark realisirt. Schlafhemmung
lastbetont. Keine Spasmen in der Moskulatar bemerkbar.
2. Versuch, wird etwas länger ausgedehnt. Ich werde dabei in Folge der
darauf gerichteten Suggestionen ruhig und gleichgiltig gegen die Aussenwelt.
Einfache Verbalsuggestion, die Tiefe der Schlafhemmung betreffend, und mit ruhiger
gedämpfter Stimme gegeben, sind mir angenehm und bewirken stets unmittelbar
darauf tieferes Einsinken in den Schlummerzustand, besonders dann, wenn die
Saggestion zeitlich mit dem Exspirium zusammentrifft, welches in der Kückenlage
schon an und für sich von dem Gefühl des Zurücksinkens begleitet ist.
3. Versuch, Zustand wie bei 2. Zu Beginn lege ich den £opf anders als ge-
wöhnlich, sehe dadurch neue ungewohnte Bilder vor mir an der Wand und fühle
mich dadurch absolut wach. Ich nehme wieder die gewohnte Lage ein und sehe
die Decke an, wie bei den früheren Hypnosen. Sehr lebhafte Suggestionen und
schnelles Sprechen monire ich als störend. Ich komme dann allmählich in einen
Zustand tieferer Schlafhemm ang und fühle wieder meine zunehmende Gleichgiltig-
keit gegen die Aussenwelt. Der Strassenlärm ärgert mich nicht mehr so, ich habe
nicht mehr den lebhaften Wunsch, ihn nicht zu hören, er halt meine Aufmerksam-
keit nicht mehr gefesselt. Diese Empfindungen entsprechen genau den darauf
hinzielenden Suggestionen.
4. Längere Hypnose, ich komme noch etwas tiefer hinein. Es tauchen vor
mir zusammenhanglose Bilder auf, die ganz flüchtiger Natur sind, und mir nur
dunkel bewusst werden. Einzelne davon knüpfen hin und wieder an ein Geräusch
draussen an. Ich sage zu Dr. Vogt, dass ich träume.
5. Versuch. Noch länger und noch tiefer, bei völlig erhaltener und bewusster
Kritik meiner Situation. Ich beobachte ohne Anstrengung oder Aufmerksamkeit
alle Details, wie im Theater, die Träume fangen wieder an, sind zunächst noch
sehr flüchtig, werden dann aber lebhafter : Wagen fahren, — Männer gehen, —
Alles durcheinander jagend, ohne erkennbare associative Verknüpfung. Ich sage V.,
dass eine furchtbare Unordnung in meinem Gehirn herrsche. Saggestion, dass die
Bilder sich nicht so jagen sollten, in geringerer Menge auftreten, dafür aber deut-
licher werden sollten. Zunächst wird mein Bewusstsein darauf leer. Alles ist
schwarz. Dann kommen die Träume wieder und werden immer sinnlicher. Der
Wagen kommt wieder, — es ist ein Taxameter, — es kommt mir so vor, als ob
der Kutscher betrunken ist, — ich muss darüber lächeln, — ein Frauenzimmer
geht vorüber, sieht sich um und lacht auch, — auf der Strasse schnelles Pferde-
getrappel, — das Geräusch überträgt sich auf die Person, sie läuft, trippelt, und nun.
finde ich das wieder komisch, und verziehe mein Gesicht zum Lachen, was ich
deutlich fühle. Jetzt denke ich an gestern Nachmittag, wo ich im Menschen-
gewühl unter den Linden ging, — die Menschenmenge wächst immer mehr, — un-
zählige Wagen rasseln näher, — auch der Kaiser kommt, wie gestern, — immer mehr
£quipagen, — die Situation droht gefahrlich zu werden, — in demselben Moment
wird auch schon ein Mensch überfahren, — Alles stürzt daher, — immer mehr
Menschen, — Militär mit rothen Federbüschen kommt in Front angelaufen etc. etc.
Beim Ueberfahren des Menschen wird der Traum schliesslich affectbetont, die
Situation regt mich lebhaft auf, ich hole ängsüich und tief Athem, verliere aber
dabei nicht das Bewusstsein der Situation, weiss wo ich bin und dass ich träume^
weiss, dass ich jeden Moment wach sein könnte, wenn ich wollte, und beobachte
Selbfltbeobachtungezi io der Hypnose. 15
interessirt den jagenden Character der rasend schnell sich entwickelnden Traum-
bilder. Ich werde mitten in Träumen in der üblichen Weise geweckt, bin sofort
munter.
6. Einschlafen erfolgt sehr schnell. Es tauchen w^ieder einzelne Traumbilder
auf: — eine Gasse, — wo ist das ? — /a, richtig, das muss in Breslau sein, — ich
war vor 14 Tagen noch dort — aber es sieht fremd aus — nein, es ist doch die
Gasse, die ich meine, sie führt nach dem Hof des Magdalenen-Gymnasiums — und
nun sehe ich mich als Knabe da spielen und befinde mich von dem Moment an in
der Lage eines Menschen, der in einen Stereoskopkasten hineinguckt, und vor dessen
Augen ein Bild nach dem andern herunterklappt, nur geht dies hier äusserst schnell
vor sich. Dieser Traum hat einen absolut anderen Character, wie der im 5. Versuch.
Die Bilder sind von stereoskopischer Plasticität und stellen deutliche, complexe Er-
innerungsbilder von wirklichen Begebenheiten meiner Xin derzeit dar, welche mir
als wahr bekannt sind. Sie folgen imgemein rasch hinter einander, und ich fühle,
wie eines das andere durch angesprochene Associationen ablöst. Begebenheiten, die
durch ihren Inhalt eng mit einander associirt sind, tauchen in ganzen Reihen schnell
hinter einander auf, und erinnern mich einen Moment an ähnliche Vorkommnisse
bei den Freud-Breuer 'sehen Analysen. Nach einer ganz kleinen Pause kommt
dann wieder eine neue Serie, alles ohne jeden chronologischen Zusammenhang, nur
dem Inhalt oder einzelnen Inhaltsmomenten nach zusammengehörig, aber alles meine
Kindheit betreffend, soweit ich sie in Breslau verlebt habe, also bis zu meinem 10. Lebens-
jahre. Keine einzige phantastische Vorstellung kommt dazwischen. Beispiele:
1. Bild: Ich pflegte sehr früh des Morgens mit meinem Vater spaziren zu gehen,
— 2. Bild: wir kaufen dann in eiuem Keller frische warme Semmeln, — 3. Bild:
der Spaziergang fuhrt zu Teichen, wo ich Salamander fange, — 4. Bild : Salamander-
zucht zu Hause, — — neue Serie: — a) der alte Portier — b) seine Frau —
c) deren Katze — d) Quälerei derselben — e) dieselben fanden im Garten statt —
f) Spiele daselbst — g) meine Wohnung auf einem Weidenbaume — h) Unfug von
da aus — i) Spiegelblenden der Kindermädchen draussen — k) anderer Unfug
draussen etc. So jagte ein Bild das andere, aber jedes ist für sich abgerundet.
ELomal bewege ich dabei meine Lippen wie zum Sprechen, so lebhaft sind die
Traume. Allen Träumen in 5 und 6 fehlt auffallender Weise jedes acustische
Phänomen; es sind stumme Bilder, nur zum Ansehen. An Strassenlärm weiss
ich mich nicht zu erinnern. Auffallend ist hier namentlich der scharf getrennte,
absolut verschiedene Character der Träume in 5 und 6. Ihr Auftreten war rein
passiver Natur.
Ich war an diesem Tage gegen ^/a? Uhr frisch aufgewacht und hatte dann
dennoch bis 8 geschlafen. Von diesem Morgenschlaf war ich mit ziemlich heftigem,
dumpfem Kopfschmerz erwacht und hatte dies Dr. V. mitgetheilt. Es gelang aber
weder in den einzelnen Hypnosen, noch nachher im Wachen unter Zuhülfenahme
von starkem Ueberreiz, durch schmerzhaften Druck auf die Kopfnerven (supraorbitalis,
Ramns temporalis), die Schmerzen wirksam zu bekämpfen. V. hatte dies voraus-
gesagt, da die sich den Morgenschlaf anknüpfenden Kopfschmerzen in der Regel
einer therapeutischen Beeinflussung sehr unzugänglich sind.
Im AUgemeinen scheint das Hindemiss, welches sich der Beeinflussung am
zweiten Tage entgegen gestellt hatte, nunmehr gänzlich überwunden zu sein.
16 Dr. Marciuowski.
VI. Sitzung:
Dienstag \/4ll— 11 Uhr Vorm.
Einige Zeit vor dem Beginn der Versuche macht sich eine gewisse Unruhe
im ganzen Körper bemerkbar, dem Gefühl einer unbestimmten Erwartung ähnlich.
1. Ganz kurzer Versuch. Augenschluss erfolgt schnell. Wärmesuggestion
realisirt sich stark. Die Erregung nimmt zu, begreift in erster Linie die Muskulatur;
leises allgemeines Ziehen im Körper, hie und da fibrilläre Zuckungen, das plötzlich
zu ziemlich heftigem Zähneklappem führt. Ich kann es nicht unterdrücken, und
habe dabei das Gefühl der Willensschwäche, d. h. ich nütze meinen Willen nicht
genug aus und weiss das. Ich fühle, dass ich mich nicht so anstrenge, als ich
könnte, ich lasse mich gehen. Schnelles Aufwecken beseitigt diese Erscheinungen.
2. Augenschluss schnell, energische Ruhesuggestion. Das Muskelzittem und
Zähneklappem deutet sich noch einige 3Iale an, dann tritt vollkommene Kühe
und Schlaffheit ein, trotzdem ein stark schmerzhafter Krampf im rechten Fuss
entsteht. Derselbe schwindet sonst nur, wenn ich aufstehen oder den Fuss gegen
eine harte Fläche anstemmen kann. Ich kämpfe mit mir, ob ich das thun soll.
Heute gelingt es mir aber, durch grosse Willensanstrengung, unterstützt durch die
energische Suggestion, Schmerz und Krampf zu überwinden, bis er allmählich Ton
selbst nachlässt. Die Hypnose vertieft sich darauf rasch, ich werde wieder gleich-
giltig gegen die Worte des Hypnotiseurs, und höre nur selten darauf hin. Es tauchen
bei sonst leerem Bewusstsein einzelne wenige, ganz undeutliche Traumbilder auf.
3. Der Lidschluss erfolgt nur ganz langsam und unvollständig, ich bleibe dabei
wach und empfinde schliesslich genau, woran das liegt. Vogt wollte mich nämlich
versuchsweise allein einschlafen lassen und mir fehlte ohne die bereits gewohnte
verbale Suggestion die Möglichkeit hierzu. Wenige Worte genügen sofort, um
die Augen zum Schluss zu bringen und Müdigkeit und Ruhe hervorzurufen. Lust-
betonter ErschlafFungszustand, die Geräusche ärgern mich nicht, starke Gleichgiltigkeit.
Die Erschlaffungs- und Ruhesuggestionen rufen in mir heute wieder das auch von
V. in seine Suggestionen hineingewobene Gefühl des in I. beschriebenen, hin-
gegossenen Daliegens hervor. Ich halte nun die Hände über dem Bauch gefaltet,
eine dieser Vorstellung widersprechende Lage. Es taucht in Folge dessen das
Bedürfniss in mir auf, die Hände zu lösen und schlaff bei Seite zu legen. Ich wider-
strebe diesem Bedürfniss, worauf dasselbe immer stärker wird, und schliesslich zu
einem sehr unangenehmen Gefühl in den Händen führt, bis ich nachgebe und die
Hände bei Seite lege. Sofort tritt tiefe ' lustbetonte Ruhe ein.
Darauf beobachte ich eine Art von Träumen, welche ich als Gedankenträume
ohne Bilder bezeichnen möchte. Sie sind flüchtiger Natur, treten passiv auf und
lassen mit einer auffallenden Durchsichtigkeit associative Anknüpfungen an Ge-
räusche und auch associative Verknüpfungen unter sich erkennen. Ich fühle, wie
dieser Zustand des eingeengten Bewusstseins leichter und schneller die bestehenden
associativen Verbindungen aufdeckt; die Dinge fallen mir schneller ein, ohne dass
ich danach zu suchen brauche. Da V. keine weiteren verbalen Suggestionen giebt,
werde ich langsam wieder wacher. Rasches Aufwachen auf Befehl.
4. Lidschluss erfolgt schnell. Ich komme rasch tiefer, der ungemein laute
Strassenlärm stört mich aber sehr und ich gelange nicht zu behaglicher Ruhe. Da V.
nicht spricht, werde ich immer wieder wacher und bitte um Traumsuggestionen. Ich
war nicht im Stande, die Traume activ hervorzurufen. Die Suggestion der Traum-
SelbstbeobachtiiBgen in der Hypnose. 17
bilder war erst zu allgemein gehalten und realisirte sich deshalb nicht. Ich habe das
Gefühl, dass dies so nichts nutzt, und bitte um speciellere Suggestionen. Sie werden
gegeben^ aber nicht ganz in der Form, wie ich es erwartet habe. Ich glaubte mich
zu phantastischen Träumen disponirt, wie sie gestern beim 6. Versuch auftauchten,
während Y. an die in V. 6. bezeichneten Scenen anknäpfte. Kun träumte ich zwar,
aber immer abwechselnd, bald nach Typus V. 6., bald nach V. 6., wobei die ein-
zelnen Bilder sich nicht vermengten, und nur insofern associative Verknüpfung
zeigten, als sie dieser Art nach zusammengehörten, ähnlich dem wechselnden Inhalt
auf den einzelnen Seiten des bekannten Hoffmann 'sehen Romans „Kater Murr".
Die Träume waren auch nicht so plastisch, nicht so sauber und deutlich abgerundet
wie gestern, wurden aber gleichwohl gelegentlich affectbetont : Eine aufgeregte
Menschenmasse rief lautes und schnelles Athmen hervor, das mir zwar nicht recht
motivirt vorkommt , dass ich aber trotz dieser Kritik nicht unterdrücke. Die Träume
verblassen sofort wieder, als Vogt aufhört, dieselben zu suggeriren; ich fühle, wie die
Hypnose wieder oberflächlicher wird. Gerade will ich um neue Suggestionen bitten,
als V. mich aufweckt. Obwohl ich glaubte, zum Schluss nur ganz oberflächlich ge-
schlafen zu haben, bin ich nach dem £rwachen noch immer benommen, und muss
wiederholt um energischen Wachbefehl bitten.
Diese Versuchsreihe ist characterisirt durch die starke Abhängigkeit des Zu-
standes von den andauernden Suggestionen. Ich bemühte mich vergebens, irgend
etwas selbst hervorzurufen, nicht einmal zum spontanen Augenschluss kam ich, und
musste Vogt schliesslich darum bitten, und das Alles bei erhaltener klarer Kritik
und trotz des Gefühls, eigentlich noch immer keinen tieferen Grad von Beinflussung
erreicht zu haben.
Vn. Sitzung: Mittwoch 10 — 11 Uhr Vorm. 1. Kurze Einleitungshypnose er-
gieht hohe Suggestibilität und die gestern beobachtete starke Abhängigkeit vom
Wortlaut der Suggestionen.
Der 2. Versuch ergiebt zunächst nichts Neues. Ich komme rasch in tiefere
Hypn. Geräosche und Stimme des Hypn. bleiben bald anbeachtet, ähnlich als wenn
man während einer Unterhaltung an ganz andere Dinge denkt. Die suggerirten
Träume realisiren sich nur sehr langsam und verhältnissmässig undeutlich. Sie
werden laut Suggestion an das zwischen 1 und 2 geführte Gespräch angeknüpft.
(Aufnahme von Athmungscurven.) Aber der Traum ist gewissermaassen mühsam;
ich habe die Empfindung an seinem plastischen Zustandekommen mitzuarbeiten,
ich male mir den Inhalt derselben activ aus, während ich ihn träume, sehe aber
die Bilder ziemlich lebhaft vor mir.
Indessen bemächtigt sich meines Körpers ein so ausgesprochenes Gefühl von
Müdigkeit und bleierner Schwere, wie ich es bisher in diesem Grade nicht gekannt
habe. Zugleich wird die ganze Haut intensiv warm, ich bleibe aber klar in meiner
Beobachtungsfähigkeit und fasse die Sache wohl richtig so auf, als ob der Körper
jetzt trotz erhaltener geistiger Kritik ganz tief schläft. An diesem Erschlaffungs.
zustand nimmt auch die Muskulatur der Hautgefässe und der Blutcapillaren Theil
daher die Wärmeempfindung. Das Bewusstsein wird leer, nur die Fähigkeit zur
Beobachtung ist wach geblieben. Ich habe dabei ein Gefühl in den Gliedern,
namentlich in den Armen, welches in mir den Gedanken weckt, dieselben schliefen
so tief, dass ein Griff von Vogt zur Herstellung der Katalepsie ausreichen müsste-
Aufwecken rasch und vollständig.
Zeitschrift für Hypnotismus eto. IX. ^
lg Dr. Marcinowski.
3. Versuch. Rascher Lidschluss, Aufmerksamkeit so auf die Vorgänge in der
Hypaose gerichtet, dass Geräusche gänzlich ignorirt werden. Detaillirtere Suggestion
von Schwere und Müdigkeit realisirt sich schnell, dem Befehl folgend erst im rechten
Arm, dann im linken, und schliesslich im ganzen übrigen Körper. Der Zustand ist
sofort so tief, wie vorher bei 2. Nun ergreift V. meinen linken Arm, stellt ihn
aufrecht und versucht mehrere Minuten lang suggestive Katalepsie hervorzurufen,
aber die Suggestion realisirt sich absolut nicht, auch nicht einmal andeutungs-
weise, der Arm bleibt schlaff; dagegen resultirt ein sehr interessanter Zustand,
über den ich mich trotz der weitgehenden somatischen Schlafhemmung genau unter-
halte und Auskunft gebe. Es handelt sich um ein partielles vollkommenes Auf-
wecken des linken Armes bis zur Schulter durch die mit obigen Versuchen ver-
bundenen passiven Bewegungen desselben. Ich hebe ihn ungehemmt und mühelos,
mache sogar unwillkürliche Gesten mit ihm beim Sprechen, jedem leisesten Willens-
impuls folgt er sofort, wie im völligen Wachsein; aber ausser ihm ist der ganze
übrige Körper in einer starken Hemmung befangen, gewissermaassen gefesselt. Nur
mit gewaltiger Willensanstrengung gelingt es mir, einige Bewegungen mit dem
rechten Arm anzudeuten. £r ist bleischwer und sinkt zurück. Der Willensimpuls
ist trotz der Anstrengung zu schwach; ich bin den schlafenden Gliedern gegenüber
nicht zu energischen Impulsen iahig. Die Haut ist wie in 2 warm, sonderbarer
Weise ist aber der ganze linke wache Arm sehr kalt, was sich auch objectiv nach-
weisen lässt, und V. stellt fest, dass er gegenüber dem übrigen Körper auffallend
blass sei, also stark contrahirte Hautgefässe aufwiese. Die dem linken Arm gegen-
über versuchten Wärme- und Schlafsuggestionen gelingen bis zu einem gewissen
Grad, müssen aber Schritt für Schritt vorgehend gegeben werden. Schliesslich
bleibt nur noch die ulnare Kante des Unterarms und der Hand kalt und blass.
Nunmehr wollte V. die augenscheinlich vorhandene Tiefe der Hypnose aus-
nutzen und suggerirte Amnesie. Dies ruft aber sofort die heftigsten Gegenvorstellungen
wach. Die Idee, nach der Hypnose womöglich die Fähigkeit zu verlieren, die
heute besonders interessanten Vorgänge aufzeichnen zu können, führt zu lebhaftem
mit Erregung verbundenen Sträuben. Diese Abwehr ist mit dem Bewusstsein ver-
bunden, dass mein Wille die Situation vollkommen beherrsche, und dass es nicht
möglich sein dürfe und werde, mir die ungewollte Amnesie aufzudrängen, die Ab-
wehr tauchte aber rein passiv auf. Schnelles, vollständige Erwachen auf Befehl.
Das Kältegefühl im linken Arm bleibt auch nach dem Aufwachen noch längere
Zeit bestehen und lässt sich auch durch energisches Reiben meinerseits nicht ver-
ändern. Erst als V. diese Manipulation selber vornimmt und sie mit energischen
Wachsuggestionen verbindet, lässt der Krampf in der Gefässmuskulatur allmählich nach.
Vin. Sitzung:
Donnerstag 10— IOV2 Uhr.
1. Kurze Hypnose. Augenschluss erfolgt auffallend langsam. Dabei habe ich
nach einigem Nachdenken die Empfindung, dass dies mit den dabei auftauchenden
Erinnerungsbildern des gestrigen Abends zusammenhängt. Ob diese als Ursache für
den verspäteten Lidschluss wirken, oder ob umgekehrt der verspätete Lidschluss die
Erinnerung an gestern weckt, kann ich dabei nicht genau unterscheiden. Es handelte
sich darum, dass ich ein junges Mädchen zu therapeutischen Zwecken hypnotisirt
hatte und dabei von der üblichen Reihenfolge der Suggestionen insofern abgewichen
war, dass ich zunächst ihre Aufmerksamkeit auf allgemeine körperliche Sym-
Selbstbeobachtungen in der Hypnose. 19
ptome lenkte und den Lidscbluss anfan^^s weniger betonte. So war zwar ein für
das erste Mal schnelles Einschlafen erzielt worden, aber bei yerhältnissmässig langsam
eintretendem Lidscbluss. Dies Erinnerungsbild tauchte in mir auf und mag, mir
nnbewusst, seinen Einfluss geltend gemacht haben, so dass sich V. nach dem Grunde
dieser bei mir nicht gewohnten Erscheinung erkundigte. Das passiv auftauchende
Erinnerungsbild lenkte meine Aufmerksamkeit auch entschieden von der eigenen
Hypnose und von Vogtes Worten ab.
2. Die Hemmung des Lidschlusses ist nach dieser Analyse und der Aussprache
über dieselbe beseitigt. Die Augen schliessen sich schnell und ich fühle, wie ich
rasch tiefer komme. Ich falte die Hände über der Brust, es ist mir aber nur kurze
Zeit möglich, sie so zu halten ; die Suggestion der Schlaffheit zwingt mir wiederum
das Bedürfniss auf, sie an die Seite heruntergleiten zu lassen. Ich fühle, wie diese
Suggestion durch das Erinnerungsbild an die Vorgänge aus der früheren Hypnose
(cfr. VI, 3) verstärkt wird. Darauf vertieft sich wie damals die Schlafhemmung
rasch. Der Körper wird von wohliger Wärme überrieselt, die Gefässmuskulatur
entspannt sich, die Glieder werden bleischwer wie gestern, und der somatische
Schlaf tritt wieder ein. Aber aufs ^eue spielt die Erinnerung an frühere Hypnosen
hinein; mit dem bleischweren Gefühl tritt dessen associative Verbindung mit dem
gestrigen Zustande in Wirkung, und der linke Arm wird genau wie gestern wach.
Er wird auch nicht warm, sondern ich habe im Gegensatz zum übrigen Körper
eine kühle Empfindung (als ich 3 Tage später .beim Dictiren des Manuscripts an
diese Stelle komme, tritt im wachen Zustand das intensive Kältegefühl im linken
Arm wieder auf und bleibt ca. V4 Stunde lang bestehen). Lange kämpfe ich mit
dem Entschluss, Bewegungen zu versuchen. Es ist ein starker Widerstand dagegen
vorhanden und ich theile dies V. mit. Schliesslich ermanne ich mich zu dem Versuch
und kann den linken wachen Arm genau so gut bewegen, wie gestern, während es
mir nur mit grosser Anstrengung gelingt, den rechten zu rühren. Ich fühle,
welchen Widerstand die Gelenke bieten, der Arm fällt bleischwer herab. Uebrigens
konnte V. diesmal keinen objectiven Unterschied in der Wärme zwischen rechts
and links wahrnehmen. Es handelte sich also wohl nur um eine Erinnerung auf
vornehmlich psychischem Gebiet,' während bei dem erwähnten Dictat der Unter-
schied in der Wärme der beiden Hände wieder ein stark auffallender und objectiv
ohne Weiteres nachzuweisender war.
Vogt streicht den linken Arm, energisch Wärme suggerirend. Dieselbe ver-
wirklicht sich aber ebenso unvollständig, wie gestern. Im Gegeutheil« die mit den
Streichungen verbundenen Bewegungen wecken mich auf. V. überlässt mich dann
mir selbst und bekämpt nur meine Tendenz, die Erscheinungen scharf zu beobachten.
Ich fühle dann aber wie früher, dass der Schlaf meines Körpers allmählich immer
leichter wird, es kehrt Leben in die Glieder zurück, sie sind nicht mehr so blei-
schwer und müde, und ich spüre etwas wie Erquickung nach Schlummer. V. weckt
mich auf, nachdem ich ihm dies mitgetheilt habe.
3. Schnelleres Einschlafen, ich komme aber nicht tief. Starke Hyperacusis;
der Strassenlärm ist meiner Empfindung nach unerträglich laut, V. findet das
Gegentheil. Die Hypnose ist ganz oberflächlich und unergiebig. Die Idee, mich
selbst beobachten zu wollen, verhindert augenscheinlich das Eintreten tieferer, an
Bewusstlosigkeit erinnernde Zustände vollkommen. Ich werde rasch aufgeweckt
und glaube kaum, beeinflusst gewesen zu sein.
2*
20 I^- Marcinowski.
DL Sitzong nach drei mal 24 Std. Paose, om die starke Tendenz zur Selbst*
beobachtong abzuschwächen:
Sonntag 10—11 Uhr Vorm.
Vor Beginn des L Versaches sprechen wir noch aber Terschiedene Dinge,
wahrend ich schon daliege. Diese Stellnng und die ganze Umgebong mit mir
dabei einige Male das Gefohl eintretender Hypnose wach, so dass ich den Augen-
schloss direct bekämpfen mnss.
1. Derselbe erfolgt dann sehr schnell und erinnert mich lebhaft an L Einige
Unrohe in der Moskolator kann ich nicht onterdrücken , sowohl das Lachein als
aoch das in VI. beobachtete Zahneklappem wird angedeotet. Ich bitte, mir mit
der Hand die Wangen zo streichen, oud dadorch die Berohigongssugg estion zo
ontentotzen. Allmählich lisst die ünrohe nach, ond so tritt onter dem Einflösse
der Worte jener aasgesprochene Erschlaflfbngszostand aoC der sich auch wieder aof
die Gefössmosknlator erstreckt, nor die linke Hand bleibt kalt. Ich mache daraof
aufmerksam ond V. soggerirt unter Berohrong derselben Wärme mit den Worten :
ffiie fahlen, wie sie allmählich wärmer wird." Das Wort allmählich roft meine
Kritik wach, da sich der Ausdruck nicht dem thatsächlicfaen Geschehen anschmiegt.
Die Wärme kommt nämlich dadurch za Stande, dass sich peristaltiscfae Wellen von
Erschlaffung der Huscularis über die Glieder ergiessen, die mit dem Gefühl der Wärme-
Congestion verbunden sind. Ich mache V. auf diesen Unterschied aufmerksam, sowie
darauf, dass dies von ihm so häufig angewandte Wort „allmählich" überhaupt auf
meine Zustände nur selten gepasst hätte. V. suggerirt in Folge dessen eine fluthweise
Zunahme der Wärme. Aber schon wieder wird meine Kritik wach , denn die Fluth-
wellen betreffen nicht den Wärmegrad, wie V. meint, sondern die räumliche
Ausdehnung desselben ; jede Welle schreitet über die Grenzen des erwärmten Gebietes
weiter hinaus, dieeelben peripherwärts erweiternd. Es sind diese Wellen parallel
zu setzen mit dem Auf- und Abwogen des Einschlummerns und wieder Aufwachens,
wie ich es bereits geschildert habe. ^) Diese Erscheinung tritt auch heute deutUch
auf, und ich erkenne dabei die Ursache für ein eigenthnmliches Gefühl in den
Augäpfeln, welches das tiefere Einsinken in Schlummer begleitet. Dasselbe kommt
dadurch zu Stande, dass zu gleicher Zeit mit dem Moment des Vertief ens der
Hypnose, die Bulbi wie beim Lidschluss ad maximum nach oben und innen ge-
wendet werden.
Geräusche argem mich heute nicht. Zwischen Kritik und Gleichgültigkeit
wogt die Stimmung auf ond ab. Ich rufe mir activ eine Menge Traumbilder hervor,
ähnlich dem Typus V. 6. gestaltet, nur wahrscheinlich ihrer acüven Natur ent-
sprechend langsamer ablaufend; sie betreffen eine viel spätere Lebensepoche,
wie in V. 6.
Nach dem Aufwecken fühle ich mich leicht benommen. Ich glaube, ziemlich
lange gelegen zu haben, vielleicht ^^4 Stunde, und finde zu meiner grossen Ver-
wunderung eine leichte Amnesie angedeutet. Es macht mir Mühe, mich an die
eben noch klar bewussten Vorgänge zu erinnern, und das Nachdenken ist mir in
meinem halbdösigen Zustand lästig. Schliesslich überwinde ich das Gefühl, kann
mich aber absolut nicht besinnen, was ich V. noch ' erzählen wollte, und gebe es
endlich auf, die Sache herauszukriegen. Mit dem Moment aber, wo V. seine Hand
*) Cfr. IIb, pag. 11 u. III. 1—3.
Selbstbeobachtungen in der Hypnose. 21
auf meine Stirn legt and die 2. Hypnose einzuleiten beginnt, weiss ich wieder Alles
ond sage dies. V. nimmt die Hand fort und in demselben Augenblicke will sich
wieder Alles yerwischeu. Es gelingt mir aber, die ausreissenden Gedanken noch
gewissermaassen beim letzten Ende zu erwischen und festzuhalten, so dass ich nun
V. die beabsichtigte Mitthellung machen kann, nämlich, dass ich schon vor Beginn
der 1. Hypnose durch die ganze Situation meinen Zustand derart beeinflusst ge-
fühlt hatte, wie ich es bereits schilderte.
2. Hypnose. Dieselbe ist nicht ganz so tief wie 1, was ich daran merke,
dass mich der Strassenlärm nicht so gleichgültig lässt. Active und passive Träume
gehen durcheinander, bald Phantasmen, bald affectbetonte Bilder wie bei V. 5,
oder auch Erinnerungsbilder wirklicher Begebenheiten. Der active Traum erinnert
genau an wache Zustände, wenn ich mich meinen Gedanken hingebe.^) Heute
oonstruirte ich ein einfaches Perimeter für mein Sprechzimmer, ohne dass ich seit
vielen Monaten mit diesem Plan zu thun gehabt hätte. Diese Arbeit hatte die
Form eines Traumes, in welchem ich das fertige, sich stets in der Construction
dem jeweiligen Gedankengang anpassende Instrument mit Patienten versuchte;
sinnliche Lebhaftigkeit der Bilder war ausgesprochen vorhanden. Bei den Er-
innerungsbildern wirklicher Begebenheiten trat deren associative Verknüpfung unter-
einander wieder klar hervor. Z. B.: Ich sehe einen runden gelben Fleck, —
ich denke an Sonne, — dies weckt in mir die Erinnerung an ein modernes Bild,
wo ein Mann seine beiden Arme der Sonne entgegenstreckt, — darauf fällt mir ein
Blatt aus dem Skizzenbuch meiner Mutter ein, wo sie selbst in ähnlicher Haltung
nnd unter Bezug auf die Worte: „Ich grüsse dich, Frau Sonne!'' skizzirt worden
war (doppelte Association Sonne und Haltung), — von da komme ich auf die
Künstlerin, die das gezeichnet hatte, — etc. etc.
Im Ganzen war der somatische Schlaf diesmal nicht so tief wie bei VII, die
Benommenheit der geistigen Functionen dagegen bedeutend stärker ausgeprägt,
als je zuvor.
X. Sitzung:
Dienstag, Vorm. 10-11 Uhr.
1. Hypnose. Wärmesuggestion realisirt sich sehr schnell und auffallend stark,
ich empfinde die Congestion in die Haut der Stirn und der Augenlider brennend
heiss. Die Augen schliessen sich sehr schnell; unter tiefem Aufathmen und einem
wunderbar wonnigen Lustgefühl strecke ich mich und sinke sofort in jene angenehme
Erschlaffung. Die Athmung wird darauf ganz flach und langsam, nachdem noch
eine Weile lang im Anschluss an das erste tiefe Aufathmen sehr ausbiegige Respi-
rationsbewegungen gemacht wurden, die der Ausdruck jener stark lustbetonten
Erregung des ganzen Körpers waren. Ich erinnere mich nicht, jemals ein solch rausch-
artiges Empfinden gehabt zu haben, ausser bei sexuellen Erregungen. Zugleich
ergoss sich auch die heisse Congestionswelle über die Gliedmaassen und ich kam
schnell in tiefere Hypnose. Jetzt fiel mir ein, dass wir das letzte Mal verabredet
hatten, dass ich mir Watte in die Ohren stecken wollte, um mehr gegen die mich
so stark belästigenden akustischen Reize geschützt zu sein. Ich fürchtete mich,
durch dieselben in diesem Zustand gestört zu werden, der mir heute besonders gut
disponirt erschien. Ich erinnerte V. deshalb an unsere Abrede und er weckte mich
*) Cfir. Einleitung, pag. 6.
22 I^r. Marcinowski.
auf. Ich bedaure das sehr, da die folgenden Versuche leider nicht gehalten haben,
was der erste versprach. Dieser erste hatte kaum eine Minute in Anspruch ge-
nommen. Ich verstopfe mir die Ohren mit Watte.
2. Bereits der Lidschluss erfolgt langsamer und zögernd, Wärmesuggestion
realisirt sich nicht, da der Kopf noch roth und heLts war. Ich kritisire stark
an Vs. Worten. Suggestion traumlosen, somatischen Schlafzustandes aus VII. 2,
pag. 17 kommt aber nach suggestiver Beseitigung der V. mitgetheilten Neigung
zum Kritisiren zur Verwirklichung. Es juckt mich nun etwas an der Nase, und
ich will es wegwischen, unterlasse es aber und mache dabei folgende Beobachtung.
Diese Willensregung tauchte in mir auf, als gerade der somatische') Schlaf ein-
zutreten begann, und ich konnte nun die Tiefe desselben gewissermaassen messen,
wenn ich meine Absicht, die Hand zum Gesicht zu führen, zu verwirklichen suchte.
Zuerst bewegte ich die Hand noch ganz leicht, aber beim Heben des Armes er-
lahmte mein Wille, und nun wurde die Ausführung der Absicht bei jedem
weiteren Versuch dazu immer geringer, schliesslich kam es. je tiefer der soma-
tische Schlafzustand w^urde, nur noch zu leisem Zucken der Finger, am Ende nur
noch zu einem, ich möchte sagen, psychischen Ruck. Ich constatirte femer die
sehr herabgesetzte psychische Energie, eine behagliche Trägheit, einen stark ver-
langsamten Ablauf der diesen Willensimpuls ausmachenden psychischen Thätigkeit.
Eben dieser langsame Ablauf liess mich aber einen Blick in den Mechanismus
des Willensactes thun, dessen einzelne Phasen auseinandergezogen vor mir lagen.
Erst taucht der Gedanke auf: „ich möchte mir das Juckende wohl weg-
wischen." — Dieser Gedanke fuhrt zu einer Bejahung seitens des Willens:
„ja ich will es mir wegwischen," — diese Absicht lässt in mir den Ent-
schluss reifen, es zu thun; — aber von da bis zur Ausführung ist noch ein
langer Weg. Ich schwanke hin und her, ehe ich den Willensimpuls motorisch
umsetze, und die That selbst kostet mich während der ganzen Bewegung andauernde
Energie. Die aber leistet mein Nervensystem nicht mehr, und der Impuls zur
That erlahmt auf halbem Wege, wie eine grosse Kegelkugel, die eine Frau mit
kolossalem Kraftaufv^and schleudert, und die schon auf halber Bahn so friedlich
zur Ruhe kommt. So sind meine motorischen Impulse in der Hypnose alle ge-
wesen. Aber erst heute ist es mir so klar zum Bewusstsein gekommen, ein wie
complicirter Vorgang solche AVillensäusserüng ist, die sich in eine ganze Anzahl
scharf getrennter Componenten zerlegen lässt.
Nach dem Erwecken bemerke ich erstaunt, dass eine leichte Amnesie ein-
getreten ist. Ich beobachte eine gewisse vergnügt behagliche Stimmung beim
Aufwachen, habe kein Bedürfnies weiter nachzudenken und mich gross zu bewegen.
Ich fühle an meinem Gesichtsausdruck, wie ich noch so daliege, dass ich denselben
schon oft bei anderen Hypnotisirten beobachtet habe. Vogt fragt mich; wie ich
aber antworten will, fühle ich die angedeutete Amnesie. Ich versuche, mir das eben
Erlebte ins Gedächtniss zu rufen, aber das Nachdenken erlahmt rasch, wie vorher der
Willensimpuls ' auf motorischem Gebiete ; ich fühle mich zu behaglich gedankenfaul
und mit einem vergnügten: „na dann nicht" lege ich mich zur nächsten Hypnose
zurecht. Wie widersprechend ist diese Stimmung zu meiner erregten Gegenwehr
gegen die gegebene Suggestion der Amnesie am VII. Tage!
') Cfr. VII. 2, 3.
Zur Psychologie der hypnotiechen Zustände. 23
3. 4. ? Ich V>iD jetzt nicht mehr im Stande, anzugeben, ob ich heute dreimal oder
viermal eingeschläfert wurde, manches spricht für das Eine, manches fiir das Andere.
Die einzelnen Hypnosen gehen mir durcheinander und ich kann mich für die richtige
Unterbringung der einzelnen Beobachtungen heute nicht verbürgen. Die letzte
Hypnose war nur kurz und wurde von mir selbst abgebrochen, da sich trotz der
Watte in den Ohren die Hyperakusis, an der ich litt, so unangenehm bemerkbar
machte, dass sie sogar zu emotionellen Abwehrbewegungen und motorischen Un-
willensänsserungen mit Unruhe des ganzen Körpers führten. Ich konnte nicht still
liegen bleiben und richtete mich unwirsch und völlig wach auf, die Versuche ab-
brechend. Ich war mir bewusst, dass der Strassenlärm in keinem Verhältniss zu
dem Grad meiner Erregung stand.
Hiermit beschliesse ich die Frotocolle meiner Hypnosen. Dieselben
wurden sämmtlich — wie schon oben erwähnt — unmittelbar nachher
skizzirt und sind mit Ausnahme einiger stilistischer Feilungen wörtlich
wiedergegeben.
Im Folgenden will ich nun den Versuch machen, dasjenige zu-
sammenzufassen, was ich als Hypnotiseur aus diesen Vorgängen gelernt
habe und was ich als objectiven Thatbestand festnageln möchte. Da
sich meine Ausführungen lediglich an das gegebene Material halten
sollen, so können sie dementsprechend keine vollständige Darstellung
hypnotischer Zustände geben.
I.
Zur Psychologie der hypnotischen Zustände.
I. Was ist Hypnose?
Die erste Frage, die uns immer wieder vorgelegt wird, lautet
„Was ist Hypnose?", und wir selbst sind darüber noch lange nicht
einig. Zwei Meinungen stehen sich in dieser Frage gegenüber. Die
Einen plagen sich mit spitzfindigen, dem unbefangenen Leser oft ge-
künstelt erscheinenden Definitionen, und wollen mit ihnen beweisen, dass
die hypnotischen Zustände etwas vom normalen, physiologischen Ge-
schehen Abweichendes sind. Sie machen eine scharfe Trennung zwischen
Hypnose und dem gewöhnlichen Schlaf, der ihnen so wesentlich ver-
schieden vom hypnotischen dünkt, dass sie sogar wie Döllken^) beide
') A. DöllkeB, Beiträge zur Physiologie der Hypnose. Cfr. d. ßd. IV, pag. 66.
24 ^f \ Marcinowski.
Zustände sich mischen lassen können, ohne dass eine wesentliche Ver-
schmelzung eintritt.
Die Anderen sehen in solchen Bildern nur Uebergänge zum Schlaf,
üebergänge, die nur durch gewisse quantitative Unterschiede bedingt sind.
Ich bekenne mich zur zweiten Partei und zwar speciell zu den
Lehren, wie sie in den letzten Jahren von Vogt vertreten sind. Für
uns ist Schlaf und Hypnose nur durch den Grad der Tiefe und der
Ausdehnung der Schlafhemmung unterschieden. Je nachdem man nun
mehr die Schlafhemmung oder mehr das Wachbleiben ins Auge fasst,
spricht man von partiellem Schlaf oder partiellem Wachsein, resp. von
eingeengtem Bewusstsein. Letzteres kommt dem Zustande concentrirter
Aufmerksamkeit im Wachen am nächsten, der uns auch für alles ao-
dere blind und taub werden lässt (Typus des zerstreuten Gelehrten).
Gemeinsam ist beiden nahe verwandten Zuständen die grössere Leistungs-
fähigkeit der psychischen Ejräfte auf dem Funkt, auf welchem sie
concentrirt sind.
Dies beides, den Vergleich der Hypnose mit dem gewöhnlichen
Schlaf und den Werth des eingeengten Bewusstseins will ich zunächst
an der Hand meiner Protokolle durchgehen.
Wenn wir die Hypnose nun aber mit Schlaf im gewissen Sinne identi-
ficiren wollen, so fehlt uns zum vollgiltigen Beweise vor Allem eine
genügende Erklärung des Schlafes selbst. Die Ooincidenz desselben
mit einem mehr weniger schwankenden Grad von Gehimanämie ist
eigentlich das Einzige, was man sicher davon weiss. Woher stammt
das Dunkle in dieser Frage? Warum sind alle, auch die zutreffendsten
Lösungen immer noch unbefriedigend ? Ich sehe den Grund davon
darin, dass man bei der Aufstellung von Schlaftheorien meist nur den
bewussten Inhalt der Fsyche in Rechnung gezogen hat. Eine wirklich
befriedigende Theorie ist aber deshalb so schwierig, weil das, was wir
als den Besitzstand unseres Bewustseins ansehen, nur ein ganz kleiner
Bruchtheil von dem vollen Inhalt dessen ist, was wir in unserem ganzen
Leben percipirt und als Erinnerungsbilder aufgespeichert haben, die
nur unterhalb der Schwelle unseres Bewusstseins ruhen, gelegentlich
spontan auftauchen, oder auch durch zielbewusst hervorgerufene Hyper-
mnesie dazu veranlasst werden können, die aber immer ein integrirender
Bestandtheil unserer sogen. Psyche bleiben und an der Gestaltung unserer
psychischen Persönlichkeit auch aus dem Unter- und Unbewussten heraus
theilnehmen.*)
^) Cfr. KraDkengeschichte Frl. E. (folgt in Abschnitt 7) und viele public. Ana-
lysen z. B. die Freu duschen Fälle von Hysterie etc.
Zur Psychologie der hypnotischen Zustände. 26
Ja noch weiter zurück liegt die Aetiologie unserer Zustände.
Sie können Wirkungen von Ursachen darstellen, die y o r Beginn unserer
persönlichen Existenz wirksam wurden, denn diese ist nur ein kleines
Glied in einem grossen, continuirlichen Lebensprocess. Um so schwieriger
muss uns die Erforschung eines Zustandes sein, je mehr er in so uralten
Trieben seine Wurzeln hat und uns bereits als Reflex') vererbt und
überliefert worden ist, wie der Schlaf.
Erst mit dem Augenblicke, wo derselbe aufhört^ reiner Reflex-
act zu sein, beginnt die Möglichkeit, die Hypnose mit ihm zu ver-
gleichen. Sein Eintritt ist in erster Linie ein gewohnheitsmässiger.
Gewohnheit aber ist eine Einübung, eine Bahnung, deren Componenten
schliesslich unter die Schwelle des Bewussten hinabsinken und von da
aus wirken. Man vergleiche auch, was Forel in seiner Schlussbe-
merkung zu der Bleuler 'scheu Selbstbeobachtung sagt. *^) Dort schreibt
er der unterbewussten Grosshimthätigkeit eine sehr grosse Rolle
bei den Suggestionswirkungen zu. Den Mechanismus solcher durch
viel tausendfache Wiederholungen gefestigter Gewohnheiten zu erkennen,
ist natürlich um so schwerer, je tiefer er unter die Schwelle des Be-
wusstseins heruntergesunken ist, wenn man auch hoffen darf, dass er
hier beim Problem des Schlafes nicht so unzugänglich sein wird, ^ie
es rein somato-physiologische Functionen unseres Körpers sind.
Viel Unklarheiten haben auch die verschiedenen Bewerthungen
der Erschöpfungszustände in die Schlaftheorien gebracht, und oft zu
einseitiger Ueberschätzung der Ermüdung geführt. Mir scheint dieselbe
nur einer der vielen Wege zu sein, die nach Rom führen, und ich kann
in ihr lediglich einen der verschiedenen Associationscomplexe erblicken,
die im Rahmen der Gewohnheit zur Schlafvorstellung hinführen und
dieselbe reflexartig auslösen. Dasselbe gilt auch für andere zu Gehim-
anämie führenden Zustände wie Verdauungsmüdigkeit, protahirte warme
Bäder, hydropathische Einpackungen etc.
Die hypnotischen Zustände knüpfen nun so eng an diesen Vor-
stellungscomplex des Einschlafens an, dass wir uns ohne denselben eine
Hypnose überhaupt nicht recht denken können. Schon daraus sollte
man die im Grunde bestehende Identität beider Zustände scbliessen,
die ich mir so vorzustellen geneigt bin, dass ich Hypnose und Som-
nambulismus als specielle Tbeilerscheinungen allgemeiner Schlafzustände
*) Cfr. Vogt, Reflectorischer Schlaf der Neugeborenen. Spont. Somnamb.
L d. Hypn., Bd. VI, pag. 91.
•) Cfr. Forel. Der Hypnotismua, III. Aufl., pag 222.
26 I^r. Marcinowski.
auffasse. Ich vergleiche nach den an mir gemachten Erfahrungen die
Hypnose mit einem, in di e Länge gezogenen, aher meist unvoll-
ständigen i. e. partiellen Einschlafen, welches sich nach den
persönlichen Vorstellungen gestaltet, die Jeder mitbringt, — eine De-
finition, welche das partielle Wachbleiben irgend welcher psychischer
oder anderer Fnnctionen in sich schliesst
2. Die Bolle der Sinnesreize in der Uypnose.
Eine Vorstellung wird nun um so kräftiger wirken, je weniger sie
auf Gegenvorstellungen stösst, und je weniger die Aufmerksamkeit von
ihr abgelenkt wird. Beides betrifft mit die wichtigsten Kunstgriffe bei
der geschickten Einleitung einer Hypnose. Bestimmte Gruppen von
Gegenvorstellungen vermeidet man am besten durch Entfernen alles
der gewünschten Situation Widersprechenden, also durch Berücksich-
tigung allgemeiner Schlafgewohnheiten wie Lage, Femhalten von äusseren
Reizen und durch Hervorrufen von entsprechenden Erinnerungsbildern.
So wirkte es entschieden bahnend für die Erziehung der Hypnose,
dass V. mich auf ein Ruhebett legte, mich zudeckte, das Zimmer ver-
dunkelte etc.^), ferner, dass er mich an meinen gewohnten Mittagsschlaf
vor Tisch erinnerte.*) Leider konnten wir den Strassenlärm , der so
störend in meinen Versuchen war, nicht in gleicher Weise ausschalten.
Wie hinderlich er schliesslich wurde, geht aus einer grossen Zahl von
Anmerkungen im Protokoll hervor. Ich habe speciell für die akustischen
Eindrücke eine ganze Skala aufstellen können, die von der absoluten
Unterdrückung jeder akustischen Empfindung, bis zur unangenehmsten
Hyperakusis reicht.
a. Nichtshörend, „enteudre", tiefer Schlaf mit Amnesie. Vergl.
Protokoll Frl. E. (folgt in Abschnitt 7).
b. Nichthinhörend, „ecouter", gänzliches Ignoriren und Unter-
drücken akustischer Reize bei vollständig anderweitig absorbirter
Aufmerksamkeit, so während der Traumzustände in V. 6 (pag. 15)
oder bei VII. 3 (pag. 18).
c. Gleichgiltigkeit gegen dunkel zum Bewusstsein
kommende Reize, so bei V. 3 u. 4 (pag. 14); auch der
Stimme des Hypnotiseurs gegenüber VI. 2 (pag. 16), oder bei
VII. 2 (pag. 17), wo sich dieser Zustand am typischsten markirte.
^) Cfr. pag. 5.
«) Cfr. III. Sitzung, pag. 12.
Zar Psychologie dar hypnotischeD Zustande. 27
d. Hin und wieder wird die Aufmerksamkeit passiy gefesselt,
schwankender Zustand zwischen dunkel bewasstem und he-
wuBstem Hören; so bei V. 4 u. 5 (pag. 14) und bei III. 4
(pag. 12), wo nur die ganzen lauten Geräusche eine Bolle
spielen, — oder auch bei IV. 3 (pag. 13), wo ich den Versuch
machte, die Geräusche actiy unter die Reizschwelle hinabzu-
drücken.
e.] Alles hörend, gleichgiltig dagegen V. 3 (pag. 14) u. IX. 1 (pag. 20).
f. — — RuhedagegenbewahrtI.4(pag.lO)u.IX.2(pag.21).
g. — — dadurch abgelenkt und gestört III. 3 (pag. 12)
[ u. VI. 4 (pag. 16).
h. — — dadurch geärgert II. 1 (pag. 10) u. VIII. 3 (pag. 19).
i. — — der Unmuth äussert sich durch emotionelle Aus-
' drucksbewegungen VIII. 3 u. X. Schluss (pag. 23).
Diese Hyperakusis war merkwürdiger Weise durchaus nicht die
Folge einer momentanen Indisposition, sie findet sich direct neben den
ergiebigsten Versuchen. VIII. 3.
Nächst den akustischen Reizen waren körperliche Unbequem-
lichkeiten am störendsten, besonders wenn es sich um Vorkommnisse
handelte, die man reflectorisch oder bewusst mit Abwehrbewegungen
zu beantworten pflegt, die hier in der Hypnose unterdrückt wurden,
um keinen Widerspruch mit der ertheilten Ruhesuggestion aufkommen
zu lassen (cfr. das Jucken an der l^ase in X. 2, ,den schmerzhaften
Wadenkrampf in VI. 2, ferner verschiedene Störungen durch Sekret-
ansammlung im Nasenrachenraum bei Rückenlage im Stadium einer
acuten Rhinitis).
Dasselbe gilt von der Empfindlichkeit gegen Licht (II.); grelles
Sonnenlicht stört hier, wie es auch im Schlaf stört. Namentlich war
mir der Wechsel von hell und dunkel sehr peinlich, als Wolken ab-
wechselnd vor der Sonne herzogen.
Das Abstumpfen gegen die Sinneseindrücke ist erst ein Symptom
des eingeengten Bewusstseins, sobald die Aufmerksamkeit auf etwas
anderes concentrirt ist, oder in noch höherem Maasse erst das Zeichen
starker Vertiefung der Schlafhemmung, in der diese Einengung schliess-
lich so weit getrieben ist, dass so gut wie nichts mehr wach bleibt,
d. h. allgemeiner tiefer Schlaf eintritt. Immer aber fordert die Ge-
wohnheit ihre Rechte, und ungewohnten Reizen gegenüber tritt die
Schlafbemmting event. nicht auf.
28 ^F* MarciDOwski.
Analog zu diesen Erfahrungen war nach kurzer Zeit die Ange-
wöhnung an die hier stets gleich bleibende Situation des Hypnotisirt-
werdens eine so starke, die Bahnung durch die öftere Widerholung eine
so glatte geworden, dass ich vor der IX. Sitzung ohne ertheilte Sug-
gestion in Hypnose zu sinken drohte, nur weil ich mich bereits einige
Minuten in der entsprechenden Lage und theilweise unter dem Ein-
drucke derselben Sinnesreize befand. Auf der anderen Seite sind
bereits ganz kleine Abweichungen vom gewohnten Turnus störend, eine
andere Körperhaltung und dadurch bedingte ungewohnte visuelle Ein-
drücke y. 3 (pag. 13) genügen bereits, um das Einschlummern zu ver-
hindern; ja das Fehlen der gewohnten VerbaUuggestionen beim Lid-
schluss \^. 3 (pag. 16) Hess denselben schon ausbleiben.
3. Der Lidsehluss.
Das Zustandekommen des Lidschlusses ist. ein sehr
verschiedenes und zeigte eine grosse Mannigfaltigkeit. Der bei I. 1
geschilderte Vorgang dürfte als der normale gelten können. Die Zeit-
dauer bis zum völligen Augenschluss ist oft selbst in derselben Sitzung
sehr verschieden. In gut disponirter Stimmung erfolgt derselbe schnell,
und ist um so mehr lustbetont, je schneller er erfolgt (IX. 1 pag. 20).
Eine warme Blutwelle begleitet ihn in der Regel, mit einem tiefen
Athemzug streckt sich der Körper aus. Der Lidschluss soll aber
passiv auftreten; wenn man dem activ nachhilft, so wacht man wieder
mehr auf (L 3 pag. 9) je länger man aber dem Bedürfniss des Augen-
schlusses widerstrebt, desto schneller tritt er ein (IV. 4 pag. 13). Dies kann
sich bis zum Gefühl des Zwanges, ja des Krampfes steigern, (III. wobei
das Gegenarbeiten gegen die Muskelcontraction die letztere natürlich
nur um so mehr zum Bewusstsein bringt). Der noch dazu rechts und
links ungleich starke Krampf des Orbicularis, wie ich ihn in II. 4
notirte, ist eine entschieden abnorme Erscheinung, der wie allen an
Zwang erinnernden und mit activem Widerstand verbundenen Vor-
kommnissen die Lustbetonung vollkommen abgeht. Lustbetont sind
meiner Erfahrung nach nur die spontan auftretenden, mit dem Gefühl
der Passivität verknüpften Ercheinungen , welche mit adäquaten Vor-
stellungen einhergehen, wozu ein Orbicularis kr am pf (U. u. III) sicher
nicht gehört, der auch nicht mit der Idee des Einschlafens associirt
ist ; — es giebt also auch einen Lidschluss in der Hypnose, dem diese
Association eventuell fehlt.
Znr Psychologie der hypnotischen Zastände. 29
4. Da8 Athmeii.
Die zeitlich nächstfolgende Erscheinung betrifft, die Respira*
tion. Dieselbe wurde alsbald nach Eintritt der Hypnose derart lang-
sam und oberflächlich, wie ich es bei Schlafenden nie beobachtet zu
haben glaube (I pag. 8). Das Athembedürfniss war ein ausserordentlich
geringes. Abweichend da^on war es nur der erste Athemzug nach er-
folgtem lidschluss, der unter wohligem Ausstrecke des Körpers recht
behaglich tief zu sein pflegte. Im Uebrigen wurde jede Erregung, z. B.
affectbetonte Träume von lebhafteren Athembewegungen begleitet (V. 5
pag. 14 u. VI pag. 17), genau wie im Wachen, bezw. im gewöhnlichen
Schlaf.
5. Die TrSame.
Dies leitet uns zur Betrachtung der Träume, des Bewusstseins-
inhaltes in der Schlafhemmung. Ich kann hier natürlich nur von
denen sprechen, die ich in den Torliegenden Versuchen erlebt habe.
Ich erwähnte bereits, dass ich zu Wachträumen neige. Dies hängt
damit zusammen, dass ich jahrelang Landpraxis mit weiten Wegen
gehabt habe und auf diesen immer einsamen Wegen mir allerhand aus-
zumalen pflegte, Wissenschaftliches, Novellistisches, Pläne etc., alles
durcheinander. Ich erwähnte auch bereits, dass diese Angewohnheit
mich jetzt in der Arbeit oft störe. Das Auftauchen der Träumereien
ist dabei von theilweise passivem Character, geistige Ermüdung be-
günstigt dasselbe.
Da diese Träumereien oftmals dazu führen, dass ich mein augen-
blickliches Vorhaben vergesse, an Häusern und Strassen vorbei gehe,
wo ich hin wollte, -— Dinge nicht beachte, die mir begegnen etc., so
ist dies wohl bereits als eine gewisse Einengung des Bewusstseins unter
Abstumpfung gegen die Aussenwelt, also als partielle Schlafhemmung
zu bezeichneil.
Diesem Zustand am nächsten liegen die Vorgänge aus der Hypnose
VI 3 (pag. 16), die ich als Gedankenträume ohne visuelle
Bilder bezeichnete; sie gehören ganz oberflächlicher Schlafhemmung
an. Eng daran schliessen sich ähnliche Träume mit erhaltener
Denkthätigkeit und sinnlicher Lebhaftigkeit der visuellen
Bilder in VII und IX. (Messung der Athmungsthätigkeit — Perimeter-
construction.) Der Inhalt erinnert an das bei den Wachträumen erwähnte
Flänemacben, auch empfand ich die Denkthätigkeit als actives Mit-
30 ^' Marcinowski.
arbeiten an der Gestaltung des Traumes und seines logischen Inhalts;
dasselbe wurde zum Theil sogar durch den Widerstand gegen Ablenkungen
recht mühsam (VII. 2 pag. 17). Der Traum selbst trug aber bereits
einen stark phantastischen Character und wurde der Hauptsache nach
immer passiverer Natur ; activ hervorzurufen war derselbe nicht immer
(vergl. VI. 4 mit IX. 1).
Die weiteren Phasen in der Entstehung eines ganz wirren Träumens
finden wir in einer grösseren Anzahl von Hypnosen vertheilt, die ich
hier in entsprechender Reihenfolge gruppiren will. Dieses Träumen
ist nunmehr rein passiver Natur.
Zunächst tritt ein Zustand ein, in dem das Bewusstsein leer
ist. Ihm entspricht der Begriff des „an Nichts denken^ und der visuelle
Eindruck des „schwarzen Nichts" — sit venia verbo — aber hier gilt
es in Bildern sprechen, um sich verständlich zu machen, Bilder übrigens,
die nicht ad hoc construirt wurden, sondern die sich spontan in der
Hypnose aufdrängten und oft die betreffenden Empfindungen recht
treffend wiedergeben (cfr. I. 1, II. 2, 3 u. 4, und V, 5).
Die nächste Phase bilden traumhafte Reflexionen (IV. 3).
Die Gedanken verwirren sich allmählich, verlieren ihren zuerst noch
etwas trägen Character, überstürzen sich und gehen schliesslich in zu-
sammenhangloses Jagen über (II. b. 1, 2). Ganz dunkel tauchen nun
einzelne Traumbilder hin und wieder auf, kaum zuerkennen, visuell
nur eben angedeutet (VI. 2.) Bald vermehren sich die Bilder, werden
erkennbarer, bleiben aber zusammenhanglos und flüchtiger Natur (V. 4),
bis schliesslich ein furchtbares Durcheinander von nunmehr
sinnlich lebhaften Traumbildern da ist (V. 5). Allmählich
lässt die Zahl der Erscheinungen nach und sie gruppiren sich zu einer
zusammenhängenden, fortlaufenden Handlung wenn auch total
unsinnigen Inhalts; der Ablauf bleibt rasend schnell (V. 5).
Dies sind die Träume des oberflächlichen Schlafes, wie
sie V 0 g t ^) als diffuse Dissociation beschrieben hat. Sie sind suggestiver
Beeinflussung zugänglich (die Entstehung der letztgenannten Phase (V. 5)
war von der entsprechenden Suggestion eingeleitet). Diese Traum-
bilder knüpfen häufig an Sinnesreize an (c&. den Hund in I. 4, das
Wagenrollen und Pferdegetrappel in V. 6). Auffallend ist die sinn-
liche Lebhaftigkeit der mit solchen Sinnesreizen associirten und durch
sie geweckten visuellen Begleiterscheinungen.
1) Vogt. Spontane Somnambulie in der Hypnose, Bd. VI, pag. 80.
Zur Psychologie der hypnotischen Zustände. 31
Einen absolut anderen Character zeigen die Traumbilder in V. 6. :
inniger Zusammenhang mit der Persönlichkeit, klare Associationsreihen,
circumscripter begrenzter Inhalt etc. kennzeichnen sie als zur Som-
nambulie oder zum tiefen Schlaf gehörig (cfr. Vogt ibid.). Nur die
Amnesie fehlte wegen der hier abnorm gesteigerten Aufmerksamkeit
auf die Vorgänge.
Uebergänge zwischen den Traumzuständen der oberflächlichen
und der tiefen Schlafhemraung fanden statt in VI. 4 und IX. 2.
Einen kleinen Widerspruch mit Vogt 's Definition der Träume
des oberflächlichen Schlafes, denen er motorische Aensserungeu wohl
— im Interesse scharfer und daher unnatürlicher Trennung — abspricht, *)
habe ich noch an den beobachteten Erscheinungen zu constatiren. Im
Verlauf des Traumes in V. 5 habe ich nämlich gelegentlich Lächeln
producirt und auch beim Ueberfahren des Mannes dem entsprechenden
Affect Ausdruck gegeben, ebenso in VI. 4 (vergleiche auch das bei
den Kespirationsbewegungen Gesagte), Die Sprechbewegungen in V. 6
gehören dagegen bereits der Gruppe der somnambulen Träume an.
6. Nochmals Hypnose and Schlaf.^
Den Vergleich all dieser erwähnten hypnotischen Zustände mit
dem gewöhnlichen Schlafe würde nun Döllken-) als zutreffiend zu-
gestehen, da in ihnen Träume auftraten; das wären dann seine r^JP*
nosen mit Schlaf*. Hypnosen ohne Träume sind nach ihm aber vom
Schlaf ganz wesentlich zu unterscheiden. Ich vermag dieser Darlegung
nicht zu folgen. Ich müsste dann ja oftmals in derselben Sitzung bei
einzelnen Versuchen einmal während der Hypnose geschlafen haben, das
andere Mal lediglich hypnotisirt worden sein. Wenn er im Hinblick
auf die plastische Kraft der Suggestion gesagt hätte, man kann mittels
derselben alle möglichen Zustände produciren und in der Hypnose als
einem Zustand gesteigerter Suggestibilität auch selbst den Schlaf, — so
würde ich diese Anschauung verstehen können. Der Schlaf wird dann
doch wenigstens nicht in einen wesentlichen Gegensatz zur Hypnose
gebracht.
Alles, was Döllken als wesentliche Unterschiede aufführt, kann
ich weder für logisch berechtigt, noch als mit meinen Selbstbeobach-
tungen übereinstimmend erachten. Wenn „Chorea. und Paralysis
agitans^ erst im Schlaf aufhören, so beweist das nur die Vogt 'sehe
1) Ibid. pag. 80.
«) Bd. IV, pag. 89.
32 ^f- Marcisowski.
Anschauung des quantitativen Unterschieds in der Tiefe der Schlaf-
hemmung, aber keinen qualitativen. Eine ^Desorientirnng^ tritt
auch natürlich erst dann ein, wenn die Schlafhemmung ihre Ausdehnung
auch über die betreffenden Centren erstreckt, also der Quantität nach
zunimmt ; auf die Localisation derselben kommt es wohl erst recht nicht
an, die weisst unbegrenzte Combinationen auf. Wenn die Schlaf-
hemmung sich nun so weit ausdehnt, dass an Stelle der Beizstauung
im Centrum, dessen Erregungsfähigkeit selbst abnimmt und schliesslich
aufhört, so ist auch das wieder nur ein quantitativer Unterschied,
der sich in der „Verminderung der Suggestibilität*' und
schliesslich in ihrem „Aufhören^ äussert, das „R apportv er-
hält niss^ ist damit aufgehoben. Also auch diese beiden Dinge sind
mit der Vogt' sehen Theorie erklärt. Ich habe nicht die Absicht,
auch noch nicht die genügenden Unterlagen, die Frage nach dem ver-
meintlichen „Unterschied zwischen Schlaf und Hypnose hier erschöpfend"
zu behandeln. Ich wollte nur die meiner Meinung nach richtige und
klare Auffassung Vogt 's den Erörterungen Döllkens gegenüber
stellen. Letzterer wollte „aus seinen Erfahrungen den Nachweis
bringen, dass es eine Form von Hypnose giebt, welche nicht Schlaf ist,"
er hat aber m. E. nur erwiesen, dass es eine Form von Hypnose giebt,
welche noch nicht Schlaf ist (Schlaf im Sinne des Laien gebraucht).
Uebrigens sollte man doch sehr vorsichtig sein in der Verwerthung
subjectiver Aeussenmgen von Hypnotisirten. Wenn Döllken von
solchen die Ansicht gehört hat, dass die Empfindungen in der Hypnose
nicht an Schlaf erinnerten, so darf man nicht vergessen, dass es erstens
eine sehr geringe Zahl von Menschen giebt, die durch ihre Vorbildung
befähigt sind, hier ihrer Meinung über das Thema einen sachlich
correcten Ausdruck zu geben; dazu gehören psychologische Kenntnisse
und dialektische Schulung. Zweitens aber giebt es sehr Viele, die
den Döllken 'sehen Versuchspersonen entgegengesetzte Angaben
machen. Das wird wohl wesentlich mit vom Fragesteller abhängen,
und nicht frei von Suggestion sein, ganz abgesehen von der jeweiligen
Form der Hypnose. Solche Aeusserungen haben m. E. nach keinen
Werth.
7. Die gesteigerte Fähigkeit der Selbstbeobachtang im eingeengten
Bewusstsein.
Doch nun zurück zu meinen eingenen Beobachtungen, bei denen
für mich eine der eigenthümlichsten Thatsachen die war, dass ich im
Zar Psychologie der hypnotisohen Zustände. 33
Staode war, sie überhaupt zu machen, — dass ich bei allen Vorkomm«
Dissen der klare Beobachter bleiben konnte, ja sogar viel schärfer sab,
als im Wachen. Der Vergleich mit einem Zuschauer war insgemein
zutreflFend (V. 6).
Es handelte sich also um eine Erhaltung der vollen Kritik selbst
schlafabnlichen Zuständen gegenüber. Dieselbe Hess erst nach, als
die SchlafhemmuDg auch die bis dahin wachen Centren ergriff. Durch
meine Tendenz, die Vorgänge scharf zu beobachten, wurde bewirkt,
dass dies erst sehr spät einzutreten begann (VIII. 3 pag. 19). Erst
im Verlauf des X. 2. Versuches wurde die psychische Energie aus-
gesprochen träge imd bei IX. 2 ist psychische im Gregensatz zur soma-
tischen Schlafhemmung angedeutet ; dass es vorerst überhaupt zu keiner
tiefen Somnambulie kam, fand neben der Hyperakusis seinen Grund
hierin.
So widersprechend es unserem gewöhnlichen Denken zunächst
erscheint, dass man sich selbst in einem solchen Zustand beobachten,
ja noch schärfer beobachten kann, so einleuchtend wird uns der Process,
wenn wir diese Thatsache an der Hand unserer Definition betrachten.
Es handelt sich ja um ein partielles Einschlafen, und ein par-
tielles Wachbleiben. Hier speciell gelangten die somatischen Func-
tionen eher zur Kühe, als die intellectuellen. Wie weit diese somatische
Schlafhemmung bei erhaltener Kritik gehen kann, haben wir in VII. 2 u. 3
und Vm. 2 gesehen, wo ich meinen Körper bleischwer, wie einen
fremden daliegen fühlte. Auf der anderen Seite demonstrirte dieser
Zustand in klarer Weise, wie ein einzelner Theil des Körpers, mein
linker Arm, partiell wach sein und fanctioniren konnte, während der
übrige Körper in tiefer Schlaf hemmung gefesselt dalag (VII. 3 u. VIII. 2).
Ich glaube, man kann mit kunstvoll ersonnenen Experimenten keine
klareren Beispiele herstellen, um die Thatsachen des partiellen Wach-
seins und der partiellen Schlafhemmung, und mit ihr die Möglichkeit
einer erhaltenen wachen Kritik zu illustriren, als diese ungekünstelten,
ohne Zuthun von selbst producirten Resultate darstellen.
Vergegenwärtigen wir uns den Mechanismus dieser Vorgänge, wie
er von Vogt beschrieben worden ist, so wird uns klar, warum die
erhaltene Kritik so scharf ist. Die Reizenergie trifft auf ein bestimmtes
Centrum, und gleitet im Wachen von da in alle möglichen Bahnen
weiter. Ist der Reiz stark genug, so richtet sich die Aufmerksamkeit
auf ihn, erst passiv, später activ. Dabei concentrirt, verengt sich be-
reits das Bewusstsein auf dieses Gentrum, eine Menge Associations-
Zeitsohrift f&r Hypnotitmiis ete. IX. 3
34 ^' Marcinowski.
bahnen werden ausgeschaltet, nur einige wenige bleiben in Function^
und werden demgemäss desto lebhafter angesprochen.
Dies ist aufmerksame Denkarbeit im Wachen. Nun engt sich
durch die auftretende Scfalafhemmung das Bewusstsein immer mehr
ein, die Reizenergie, die vorher gewissermassen das Centrum nur passirte^
staut sich darin, die Beize summiren sich, kumuliren, und das führt
dazu, dass die Reizschwelle selbst wesentlich herabgesetzt und folglich
derselbe Reiz als ein stärkerer empfunden wird. Deshalb sind die
visuellen Begleiterscheinungen von Sinnesreizen so sinnlich lebhaft, wie
der Hund in I. 4, deshalb sind die Erinnerungsbilder von dem in
diesem Zustand Vorgefallenen so viel deutlicher, als gleichwerthige
Erinnerungsbilder aus dem Wachen (I. Schlussbemerkung). Die sinn-
liche Lebhaftigkeit ist eben der Ausdruck für eine stärkere Eknpfindung,
und diese kann demselben Reiz gegenüber nur durch Herabsetzung
des Schwellenwertes zustande kommen. Auch die starke Hyperakusis
findet hierin ihre Erklärung, sowie auch die Zunahme der sinnlichen
Lebhaftigkeit der Traumbilder bei zunehmender Tiefe der Schlaf*
hemmung i. e. Einengung.
Noch später kommt es dann, wenn die Hemmung auch auf das
Reizcentrum selbst übergeht, zum Erlahmen der Kritik, auch ein psy-
chischer Schlaf tritt ein (IX. 2), wie ich es hier gegenüber dem
eigenthümlichen somatischen bezeichnet habe. Das Gentrum selbst
wird immer weniger erregbar, Gleichgültigkeit tritt an Stelle der Auf-
merksamkeit; schliesslich hört die Anspruchsfahigkeit ganz auf, es ist
tiefer, totaler Schlaf eingetreten.
Unter den Erscheinungen, die mir im Zustande des eingeengten
Bewusstseins besonders klar wurden, spielte die Durchsichtigkeit
der associativen Verknüpfungen, der Mechanismus der
Entstehung, Entwickelung und des Ablaufs von Ge-
dankenreihen eine grosse Rolle. Von den hierauf bezüglichen Be-
obachtungen habe ich nur sehr wenige in den ProtocoUen ausgeführt.
Es ist auch schwierig, dieselben in einer für jeden Dritten klaren Form
zu Papier zu bringen, ohne dabei durch die weitgehende Detaillirung
zu ermüden. Deshalb bringe ich für obige Sätze auch nicht so viel
Belege, als es bei der Wichtigkeit dieser augenblicklich so actiren
Frage mein Wunsch ist. Zur Illustration kann ich daher nur auf
einzelne gröbere Aufzeichnungen hinweisen, wie auf die Träume in
y. 6 und IX. S, wo ich Beispiele von solchen, der Form, dem Inhalt
oder zufalligen Kleinigkeiten nach assocürten Bilderreihen angabt
Zur Psychologie der hypnotischen Zustände. 35
feiBer an V. 5, wo die Vorstellungsreihen an Sinnesreize anknüpfen,
(Wagenrollen, Pferdegetrappel) und Ton ihnen ihren Ausgang nehmen.
A. Organempflndmigeii.
Zn solchen Sinnesreizen gehören indirect auch dieOrganempfin-
dangen. So rief z. B. die rein muskuläre Unruhe im Oesicht die
Idee des Lächelns wach (I. 2). Ich neige mich der Ansicht zu, daas
dieses Lächeln, welches so viele Autoren erwähnen, fast immer falsch
gedeutet, d. h. als wirkliches Lächeln aufgefasst worden ist Dies ist
um so wahrscheinlicher, als sich leichte Muskelunruhe zu Beginn vieler
Hypnosen einzustellen pflegt, ein gewisser Beizzustand, welcher der
ErBchlaffiuig vorauf gebt (IX. 1). Diese Unruhe ist manchmal als
emotionelle aufzufassen, und erinnert dann an analoge Verhältnisse des
wachen Zustandes ^) ; meist aber schien sie rein motorischer Natur zu
sein wie bei L Diese leisen Spasmen nahmen aber auch gelegentlich
einen heftigeren Character an, es traten isolirte Zuckungen auf (II. 2,
VI. 2), die tonische Contraction des Orbicularis in II. 4 u. III, sowie
das ZähneUappem (VT) war direct als krampfhaft zu bezeichnen.
Ebenso wie diese Beizerscheinungen war auch der ElrschlaflPungs-
znstand der Muskulatur klar zu beobachten. Ich fühlte genau, dass
mein Gresichtsausdruck schlaff wurde, meine Wangen herunter hingen,
(L 3), ich empfand das völlige, hingegossene Daliegen (I. u. VI. 3). Dieser
Erschlaffungszustand hatte, wie mehrfach erwähnt, stets ein Lustgefühl
zur Begleitung, und ging schliesslich in diesen eigenthümlichen, ato-
mschen Zustand über, den ich als somatischen Schlaf bezeichnet habe.
Sein Gegenstück, die Katalepsie, habe ich nicht kennen gelernt
Ebenfalls der Beobachtung zugängig bis in feine Nuancen hinein
waren auch die Vorgänge in der glatten Muskulatur der Blutgefässe
(IX., 1). Auch hier spielen sowohl Spasmen und Kältegefühl, als auch
ErscblafFung und Wärmeempfindung eine Bolle (II. VII. VIH. IX).
Die congestive Wärme begleitet viele Erscheinungen und ist lust-
betont; sie kann eine grosse Intensität erreichen (X. 1) und ist im
Allgemeinen um so stärker, je tiefer die Schlafhemmung wird (VIII).
Möglicherweise liegt das darin begründet, — das Verhältniss ist natür-
lich wechselseitig aufzufassen — dass mit dem Blutstrom nach den
weit offenen Hautgefässen, welche bekanntlich eine grosse Capacität
besitzen (^/s der Gesanmitblutmasse), die Oehimanämie und mit dieser
die Tiefe der Schlafhemmung zunimmt. Man kommt dabei unwill-
*) VcrgL II. a. pag. 10 Mitte n. III. 1—3.
5*
3$ Dr. Marcinowski.
kürlich in die Versuchung, in dem Zustand der Vasomotoren und ihrem
wechselnden Spiele einen Schlüssel zu suchen für die mannigfachen
Bäthsel der Schlafzustände. Indess sind die blosse Hyper- und Anämie
des Hirnes oder einzelner Provinzen desselben denn doch zu rohe Dinge,
als dass sie so subtilen Vorgängen gegenüber zur Erklärung hinreichten.
Nach der Hypnose stellt sich manchmal ein leichtes Frösteln ein,
also ein Spasmus der Gefasse in der Haut (VTI), den ich auch von
anderen Personen her kenne und gelegentlich nach zu langem Mittags-
schlaf beobachtet habe, eine Nachwirkung übrigens, die sich suggestiv
sehr leicht beeinflussbar erwies.
Die Form, in welcher die Erschlaffung auftrat, war sehr ver-
schieden je nach der Stimmung. Bei I war schon vorher eine gewisse
Wärme der Haut zu constatiren, welche so intensiv war, dass sie die
Empfindung der aufgelegten Stirnhand des Hypnotiseurs übertönte.
In n. a traten die Wärmewellen conform mit der allgemeinen Unruhe
unregelmässig und springend auf, und waren von abnormer Intensität;
in Vii. Vni. u. IX. dagegen war bei ruhiger Stimmung die Form
der peristaltischen Ausdehnung des Phänomens schön zu beobachten.
Die Verschärfang der Beobachtungsfähigkeit Organempfindungen
gegenüber fiel bei der Constatirung der Bulbusstellung in I. ^ und
der Bulbusbewegungen IX. 1 um so mehr auf, da sie mir vorher im
Wachen nicht gelungen war. Alle diese Beobachtungen drängten sich
passiv auf, ohne Anstrengung meinerseits.
B. Die Willensftassemngeii.
Die Fähigkeit, zu beobachten, wurde naturgemäss durch Uebung
gesteigert, was sich z. B. darin aussprach, dass meine Protokolle un-
absichtlich immer ausfuhrlicher wurden.
Dabei wurde mir der Mechanismus der Willensäusserungen, vom
Auftauchen des Motivs bis zur Umsetzung des Impulses in die Aus-
führung immer klarer ; der träge Ablauf des ganzen Vorganges ( VIH. 2
u. X. 2), das auseinander und gleichsam in die Länge Gezogene desselben
liess die einzelnen Componenten sehr gut differenziren. Auch hier spielten
Organempfindungen am motorischen Apparat eine Rolle und dienten
mir stellenweise als Anhalt zur Beurtheilung meines Zustandes (Messung
der Schlaftiefe an dem Grad der activen Bewegungsfahigkeit des rechten
Armes in X. 2). Diese Vorgänge sind wohl um so beweisender für die
Möglichkeit derartiger Beobachtungen, als ich sie völlig unbeabsichtigt
producirte und ohne eingehendere Kenntniss von Publicationen wie der
SelbstbeobachtuDgen in der Hypnose. 27
Vogt 's über die psychologische Experimentahnethode Bd. lY d. Z. etc; ;
die erhöhte Fähigkeit zur SelbstbeobachtuDg im Zustand des eingeengten
Bewnsstseins bezw, in der Hypnose erscheint mir somit durch meine
Beobachtungen von Neuem erhärtet.
Die Details im Protokoll IV. 4 u. X. bedürfen hier keiner weiteren
Erläuterung. Ich habe darin angedeutet, einen wie complicirten Process
eine Willensäusserung darstellt. Zugleich tauchen eine Menge psycho-
logischer Fragen auf, die mit dem Begriff des Willens zusammen
hängen, wohl einem der heiss umstrittensten Begriffe unseres Denkens
überhaupt. Die Discussion hierüber erscheint an diesem Platz um so
weniger unwichtig, als gerade die Vorstellungen, die jeder damit Ter«
knüpft, dem Hypnotiseur oft grosse Schwierigkeiten bereiten können,
und nicht zum wenigsten die Ursache von vielen Anfeindungen bilden,
welche das Hypnotisiren als eine Gefahr, als Willensberaubung u. dergl.
hinstellen. Die hypnotischen Zustände scheinen nun in der That geeignet
zu sein, auf dem Wege der Selbstbeobachtung mehr Klarheit in die mit
diesem Begriffe verbundenen Vorstellungscompleze zu bringen. Das
was ich bis jetzt an der Hand meiner Protokolle hierüber vorbringe,
kann natürlich lediglich die Anregung zu genaueren systematischen
Studien geben wollen, und will keineswegs bereits als Resultat gelten.
Interessant wäre es da z. B. festzustellen, wie weit zurück sich eine
Handlung in ihre einzelnen Componenten und Motivirungen auflösen lässt,
festzustellen, worin eigentlich das Wollen besteht, sowie die bis zur Läh-
mung und gänzlichem Fehlen jedes Willens fortschreitende Schwächung
des Wollens zu beobachten. Des Weiteren käme hierbei als besondere
Abart des Willens das Widerstreben, der Widerstand und der Kampf
zwischen verschiedenen Motiven in Frage. All diese Phasen von Willens-
äusserungen wurden in den wenigen Sitzungen beobachtet und müssen
sich sehr wohl einem systematischen Studium zugänglich machen lassen.
Immer aber wird man sich dabei vergegenwärtigen müssen, dass die
psychische Persönlichkeit keine einheitliche Grösse darstellt, sondern
einem vielgliedrigen Parlament gleicht, dessen Beschlüsse uns erst nach
manchem Für und Wider und vielen im Dunkeln liegenden Motivirungen
und Schiebungen als Wille imponirt.
Wie sich eine Willensäusserung in einzelne Componenten zerlegen
lässt, habe ich in X. 2 genauer beschrieben. Diese Eintheilung ent-
spricht nun nicht etwa einer philosophischen Betrachtung, sondern giebt
ohne weitere Kritik das wieder, was sich nur als beobachtet aufge-
drängt hat. Hier tauchte die zu Grunde liegende Idee auf als das Be-
38 I^r. Marcinowski.
dtirfDiss, eine körperliche Störung zu beseitigen, so wie sie auch bei
anderen entsprechenden Gelegenheiten an Organempfindungen anknüpfte
(cfr. VI. 3, wo ich die Hände löste und bei Seite legte). Das Bedürfhiss
zur Prüfung, ob denn wirklich die Bewegungsfahigkeit eingeschlafen sei,
tauchte auch gelegentlich als Folge einer leisen Unruhe in der oder
jener Muskelgruppe auf; dieselbe weckt den Zweifel an der bestehenden
Schlafhemmung und mit ihm die Idee und das Bedürfniss zur Prüfung.
Auf solche auftauchende Idee reagirt jetzt ein anderer Bezirk der
psychischen Persönlichkeit mit einem Willensakt, der sich noch weiterhin
in kleine ünterabtheilungen zerlegen lässt. Das, was wir nun aber ge-
meinhin als Willen bezeichnen, ist erst in dem Augenblick vorhanden,
wo das psychische Geschehen mit dem Gefühl der Activität verbunden
auftritt.^) Dies Gefühl lässt sich schwer definiren, ist aber durch das
Wort „Activität^ m. E. sehr gut ausgedrückt. Das passiv meine Auf-
merksamkeit anregende Jucken (cfr. X. 2, pag. 22) und das Bedür&iss,
das Störende zu entfernen, ist etwas, ich möchte sagen, Unpersönliches,
dem die active Bejahung mit dem „ich will es wegwischen" als eine
Person gegenübertritt, ein Handelndes einem Geschehen gegen-
über. Hier gibt es keine sprunglosen Uebergänge, hier sind Gegensätze
vorhanden, wie schon von anderer Seite constatirt wurde. Diese Acti-
vität lässt ihre nähere Motivirung nun meist unbewusst und fuhrt da-
durch zur Fiction der Willensfreiheit. Die Form des Willens, d. h.
warum man sich im gegebenen Falle gerade so und nicht anders ent-
scheidet, ist die gesetzmässige Reaction des Individuums auf die gegebene
Gelegenheitsursache, das Resultat von tausendfachen bewussten und
imbewussten Ursachen und Ereignissen, welche den momentanen Vor-
stellungsinhalt ausmachen. Wie sehr die auftretende Willens form
von dem jeweiligen Vorstellungsinhalt absolut abhängig ist, kam oft
jrecht gut zum Ausdruck, und liess die Motivirung derselben bis zu einem
gewissen Grade erkennen ; sei es, dass es sich z. B. um eine Situation
handelt, welche dem speciellen Vorstellungscomplexe widerspricht und
deshalb beseitigt wird (VI. 3), oder dass es zum activen Vervollständigen
einer Situation kommt, welche dem Vorstellungsinhalt adäquat ist Sehr
bald aber liess sich bei zunehmender Tiefe der Schlafhemmung eine
immer grössere Trägheit des Ablaufs der Willensthätigkeit beobachten,
die schliesslich zu einer völligen Lähmung des Willens führte, für welchen
Znstand ich auf das Bild mit der Kegelkugel hinweisen möchte, das
') Cfr. Vogt, Normalpsychologische Einleitnng ,in die Psychopathologie der
Hysterie. Bd. VIU. d. Z., pag. 223.
Selbstbeobachtangen in der Hypnose. 39
sich mir während der Hypnose aufgedrängt hat (X. 3 pag. 2S). Eigen-
thämlich war bei ähnlichen Situationen der Kampf mit dem Wider-
spruch, der in dem Bewusstsein lag, wollen zu können, und doch nicht
SU wollen, — zu wissen, Widerstand leisten zu können, und es doch
nicht zu thun (VI). Die Vogt 'sehe Technik will es zum unantast-
baren Bewusstseinsinhalt werden lassen, dass der Bestand des eignen
Willens des Hypnotisirten ein gesicherter bleibt. Diese Idee ?erwickelte
mich in die angedeuteten Widerspräche, sobald die Schlafhemmung auf
die Willensbethätigung selbst übergriff. In X. 2 war der Willensprocess
ein so träger, das Bedürfniss zu wollen ein so geringes geworden, dass
es nur noch zur Andeutung des Willens, nicht aber zur Ausführung
kam. Das, „ich kann wohl, wenn ich nur energisch wollte^, was ich mir
dabei innerlich sagte, war nichts als eine Entschuldigung yot mir selbst
für mein als energielos empfundenes Nichtwolien. Der grösste Theil aller
Vorgänge in der Hypnose war aber jedenfalls ohne alle als integrirender
Bestandtheil des Wollens hingestellte Activitätsemp findung, und diejenigen
Handlungen, welche spontan, oder sogar in gewissem Sinne zwangs-
weise auftraten, zeichneten sich durch das gänzliche Fehlen ron
Wollen aus, und fanden ihre Motivirung statt dessen in einem un-
erklärt aufwachendem Bedürfniss, welches sich gelegentlich bi» zum un-
widerstehlichen Trieb steigert — ohne Actiyität, ohne Willen.
Unerklärt muss ich auch die Beobachtung lassen, die sich Jedem
im Wachen so oft aufdringt, dass die active Concentration sehr oft
nicht zum Ziele führt, und dasselbe um so weniger erreicht, je mehr
man danach strebt, — wie beim Suchen nach einem momentan entfallenen
Namen etc. Das in8ensi?e Wollen, der lebhafte Wunsch, in tiefere
Hypnose zu gelangen, ist sehr oft das grösste Hindemiss dazu, und ein
ander Mal gelingt die Hypnose im Handumdrehen und zu grösster Ver-
wunderung ist selbst Andeutung von Amnesie ?orhanden (IX. 1 pag. 20).
Andererseits fähren Organempfindungen und motorische Unruhe,
sobald sie Formen annehmen, die die Psyche aus ihrem trägen Zu-
stande aufrütteln, zu heftigem Widerstreben; so in m, wo der Lid-
krampf auftrat. Aber auch hier, schon zu Beginn der Hypnose, war
der WiUe nicht mehr stark genug, er erlahmte unter dem G-efühl der
Anstrengung, die es kostete, gegen den Krampf des Muskels anzu-
kämpfen, und die den Gedanken des „gezwungen seins" in mir wachrief.
Es sind dies ja Vorgänge, die wir im täglichen Leben so oft beobachten,
und worauf Furcht und Muth beruhen; der Vorstellungsinhalt lähmt
die Thatkraft, wenn er "Momente enthält, welche ein Nichtgelingen etc.
40 ^^- Marcinowski.
nahe legen. Auch bei dem in VI geschilderten Zähneklappern glaube
ich, dass es sich um einen recht mangelhaften Widerstand dagegen
handelte, um ein „sich gehen lassen'' dem Zustand gegenüber, der mir
als Zwang imponirte. Ich glaubte, diesen krampfhaften Zuständen eben*
sowenig widerstehen zu können, wie beim krampfhaften Lidschluss (III).
Der YorstellungsiDhalt bleibt eben immer wieder der maassgebende Facto)r
in der Gestaltung des Wollens, und darauf basirt ja schliesslich jeder
Einfluss, den Dinge imd Personen auf uns haben können, wie unsere
Suggestion slehre in so grossem Maasse dargethan hat. Hierauf basirt
auch die Möglichkeit, den Willen, bezw. seine Schwäche oder Stärke
zum Gegenstand der Erziehung oder psycho-therapeutischer Bemühungen
machen zu können. Eine Willensfreiheit im philosophischen Sinne
brauchen wir aber dazu nicht, so sehr wir auch ihre Fiction bei unseren
Patienten in technischer Hinsicht zu berücksichtigen haben, üebrigens
betrifft das Regeln der Pädagogik, die auch von Nichtdeterministen an-
erkannt worden sind. Auch hat die Lehre von der Bahnung durch
öfteres Auftauchen desselben Yorstellungsinhaltes längst volksthümliche
Formen angenommen, — das Sprichwort „ce n'est que le premier pas
qui coüte'^ besagt nichts anderes, als z. B. die Thatsache, dass in VIII.
das Lösen der gefalteten Hände ohne den starken Kampf, also leichter
Yor sich ging, da es durch die Erinnerung an eine identische Situation
(VI. 3) bedingt war. Auch Kälte des linken Armes, sein partielles Wach-
bloiben wiederholte sich in VIII. 2, ja selbst im Wachen (pag. 19) etc.
Ebenso wie Vorstellungen bahnend wirken, können sie auch beab-
sichtigte Wirkungen hemmen, so beim Streichen (I. 2), wo meine vor-
gefasste Meinung Vogt 's Absicht zuwiderlief, oder bei Lidschluss in
VIII. 1, wo ein dunkeles Erinnerungsbild ausreichte, um die Suggestions-
wirkung zu paralysiren.
Diese Vorgänge weisen für das Verständniss eine gewisse Durchsich-
tigkeit auf, die aber sofort aufhört, sobald es sich um mehr oder weniger
zwangsweise auftretende Zustände handelt, deren Ursachen viel tiefer
im Unbewussten zu suchen sind, und gegen welche wir unsere Ohnmacht
sehr bald einsehen. Am ausgesprochendsten war dieses Ohnmachts-
gefühl gegenüber der Schlafhemmung selber, aber erst mit dem
Moment, wo ich wach sein wollte (III. 6) ; während der Hypnose selbst
hatte ich niemals den Zweifel, sofort wach sein zu können, sobald ich
es wollte, wie überhaupt das Gefühl des Beeinflusstseins fast nie dem
wirklichen Grad der Schlafhemmung entsprach (VI. 6). Wiederholt ist
es so gewesen, dass das Aufwachen aus vermeintlich ganz oberfläch*
Selbstbeobachtungen in der Hypnose. 41
lieber Hypnose ein unvollständiges war und mir erst hinterher (Ende VI)
deren Tiefe zum Bewusstsein kam^ und zwar auf dem Wege eines
logischen Schlusses, nicht durch entsprechendes Empfinden. Dies führt
uns zur Betrachtung des Aufwachens aus der Hypnose.
*
C. Das Erwachen.
Auch hier treffen wir auf Schritt und Tritt auf dieselben Ver-
hältnisse, die uns vom gewöhnlichen Schlaf her bekannt sind. Aus
oberflächlicher Hypnose erfolgte das Aufwachen schnell und leicht, lag
zum Theil noch völlig im Bereich spontaner Entschliessung (I. u. III.).
Aus tieferer Hypnose kam die Wirkung des Kommandos träge zu
Stande, ich fühlte mich benommen und behaglich faul (IX. 1). Bei
noch tieferer Schlafhemmung wurde das Aufwachen immer langsamer,
das Kommando musste mehrmals wiederholt werden, das gedankenfaule
Daliegen war noch ausgesprochener (VI. 4). Zur Beseitigung dieser
Benommenheit war sogar oft eine Desuggestionirung im Wachen noth-
wendig (III. 6), wobei der lebhafte akustische Reiz, auf welchem das
Kommando zum Aufwachen beruht, durch Druck der Schläfengegend
mit den fest aufgelegten Händen und plötzliches Loslassen bei Be-
endigung des Wach-Kommandos verstärkt wurde. Diese Desuggestio-
nirung bezog sich nicht nur auf das allgemeine Erwachen, sondern auch
auf bestehen gebliebene partielle Schlafhemmungen, so z. B. auf den
unangenehmen, mit Kältegefühl verbundenen Contractionszustaud der
Hautgefässe, der wunderbarer Weise durch Frottiren allein nicht be-
seitigt wurde ; es war eine verbale Suggestion dazu nothwendig (VII. 3
pag. 18) — ein Beweis für die unbewusste, oder jedenfalls unempfundene
3tarke Abhängigkeit aller somatischen Functionen von psychischen Centren.
Das unvollkommene Aufwachen war in Folge dieser Abhängigkeit
besonders ausgesprochen, wo ich die Schlafhemmung ohne Kommando
spontan durchbrochen hatte (III. 6). Die Folge war, dass ich zunächst
auf dem Sopha, dann sogar mitten in der Stube aufs Neue von der
Schlafhemmung übermannt wurde. Zudem gesellte sich ein unangenehmer
Kopfschmerz als Folge hinzu, den ich sonst ebenso wenig wie irgend
einen anderen unangenehmen Folgezustand nach den zahlreichen
Hypnosen kennen gelernt habe.
>
D. Die Analysen eansaler Beziehungen.
' Bei der Erklärung dieser Folgezustände, sowie der Motivirung des
unvollkommenen Aufwachens versagte die von mir erreichte Steigerung
49 Dr. Maroinowaki.
der Fähigkeit zur Selbstbeobachtung in der Hypnose. Aber bisweilen
drängte sich jedoch eine dunkelbewussteldee gleichsam als Wegweiser auf.
Hierzu rechne ich die mir nachträglich klar gewordene Motivirung meines
Verhaltens den Streichungen gegenüber (I. 2), femer die Beziehungen
des stark verlangsamten Lidschlusses in YIII. 1 zu der am Abend vorher
selbst vorgenommenen Hypnose, und vor allem die eigenthümliche
Störung meiner ganzen psychophysischen Constellation, die sich bei der
II. Sitzung und in der Folge geltend gemacht hat. Ich wies sofort
auf die ungewohnte Form des vorangegangenen Nachtschlafes hin, ohne
dafür einen Grund angeben zu können, warum darin eine Erklärung
für diese Complication liegen solle. Das Abweichende in der Schlaf-
form war auch keineswegs so ausgeprägt gewesen, dass es sich mir
unter allen Umständen als auffallend hätte aufdrängen müssen; schon
in dem Umstand, dass es dies that, erblicke ich jetzt, — hinterher
— einen Beweis dafür, dass meine Vermuthung, dass Traumerlebnisse
dieser Nacht die Störung verursachten, richtig war. Für die Traum-
vorgänge selbst war ich völlig amnestisch, nicht aber für deren Be-
ziehungen. Es müssen sich in der Nacht vorher unangenehme Dinge
in meiner Vorstellungswelt abgespielt haben, welche unterhalb der
Schwelle des Bewusstseins recapitulirt wurden, als V o g t mich hypno-
tisiren wollte, und nun ohne die Amnesie zu durchbrechen, zu schein-
bar unmotivirter hochgradiger Erregung führten, die für mich einen
rein körperlichen Character hatte, da mir das ihr zu Grunde liegende
seelische Substrat momentan nicht zugänglich war.
In analoger Weise ist wohl auch bereits das Herzklopfen und die
ganze Erregung vor den ersten Hypnosen als eine Empfindung zu be-
trachten, welche aus dem Unbewussten heraus ihre Motivirung findet,
(cfr. Vogt Bd. VI, pag. 83.) Auch der Kopfschmerz am 5. Tage ist
als das Residium eines unangenehmen somnambulen Traumes aufzu-
fassen, für den Amnesie bestand. Ich bin überzeugt davon, dass der-
selbe zu beseitigen gewesen wäre, wenn es gelungen wäre, die Amnesie
für das causale Moment zu durchbrechen.
Wenn diese Amnesie bei mir nicht beseitigt wurde, so muss be-
merkt werden, dass das gamicht in der Absicht des Experimentirens
lag. Wir wollten nur eine „gewöhnliche" Hypnose erzielen, Zustände,
die dem gewöhnlichen Einschlafen glichen, aber nicht das von Vogt
beschriebene für psychologische Analysen geeignetere systematische
partielle Wachsein. Es war nur mein grosses Interesse an den auf-
tretenden Phänomenen, welches die von Vogt erstrebten Hypnosen so
Selbstbßobachtongen in der Uypnose. 43
umgestalteten, dass sie eine gewisse Aehnlichkeit mit dem Vogt 'sehen
j^Versuchsstadium'^ bekamen.
Statt dessen möchte ich mir erlauben, hier ein Beispiel aus der
Praxis anzuführen, welches die Möglichkeit und den practischen Werth
Y(m analytischem Vorgehen in der Hypnose belegen soll.
Neigung zq somnambulen Träumen, ständige Wiederholung eines
solchen unter starker Affectbetonung, patholog. Folgezustand:
glaubt Schwindsacbt zu haben. Heilung durch Hypnose.
FrL £., 21 Jahre alt, nervengesund ; Anamnese ohne Belang. Leichte Anämie.
Von Jugend auf Neigung zu somnambulen Träumen und Sprechen im Schlaf; ist im
Schlaf öfters über alles Mögliche ausgefragt worden ; es besteht fär diese Vorgänge
▼oUkomznene Amnesie.
Wahrend einer Periode freundschaftlichen Verkehrs in meiner Familie kommt
es gelegentlich an den Tag, dass dies sonst sehr verständige und ruhige Mädchen
seit Jahren unter der Idee leidet, schwindsüchtig zu sein, und glaubt, nicht lange
leben zu können. Um ihre Angehörigen nicht zu ängstigen, hat sie sich fast nie
darüber geäussert. Ausser anämischen Magenbeschwerden klagt sie nur über Sehmerz
in d^ linken Brust (Gegend des linken Oberlappens), der sie oft Nachts aufweckt.
Dabei sind keinerlei objective Symptome, Husten oder Catarrh etc., je zu eruiren
gewesen. Nach dem Zustandekommen dieser so ständig quälenden Angst, welehe
ihr im Grunde so heiteres Gemüth oft schwer bedrückt, g^ebt sie an, dass in der
Verwandtschaft yiel Tubereulose herrsche und dass im Hause der Eltern viel von
der Erblichkeit solcher Zustände und Dispositionen die Kede war.
Das war sehr wenig zur Erklärung einer so quälenden und jahrelang fest-
sitaenden Idee. Alle Versuche, sie durch Vemunftsgründe zu überzeugen, der Hin-
weis auf die Unmöglichkeit, dass jahrelang eine Phthise mit Schmerzen einher gehen
könne, ohne auch noch andere, einer so schweren Entzündung entsprechende ob-
jectiTC Erscheinungen zu setzen, scheiterten an der abweisenden Antwort, ich könnte
ihr doch mit aller Logik die Schmerzen nicht wegdisputiren, und die Angst, die sie
beherrsche, könne sie nicht unterdrücken ; sie thäte es weiss Gott von Herzen gerne,
wenn sie dazu im Stande wäre. Während ihrer Pensionszeit wäre eine liebe Freundin
▼on ihr an Lungenschwindsucht gestorben ; sie habe sie noch mit pflegen helfen, und
könne seit der Zeit den Gedanken nicht los werden« dass ihr ein ähnliches Schicksal
bevorstehe.
Wir beschliessen darauf auf meinen Ratb, einen Versuch mit Hypnose zu
machen, um diese Angst zu beseitigen. Patientin ist sehr ungläubig und erwartet
nicht das Geringste daTon.
Die Hypnose wird nach Vogt's sog. fractionirter Methode eingeleitet. Gleich
in der ersten Sitzung wurde beim 3. Versuch tiefe Hypnose mit Amnesie erreicht
Suggestion der Beruhigung und des Aufhörens der Angst in Verbindung mit ein«
dringlicher logischer Ueberredung. Die Hypnose wurde als sehr wohlthuend em-
pfanden und erweckte lebhaftes Interesse in der Patientin. Der Erfolg war aber
ansser einer gewissen Beruhigung zunächst nur gering. In den folgenden Sitzungen
gefingt es nun sehr leicht, die Patientin dazu zu bringen, sich in der Hypnose aus-
fragen zu lassen, wie im Schlafe. Bereits beim 3. Male gingen die immer klareren
44 Dr. Marcinowski.
Angaben dahin, dass die Schmerzen hauptsächlich Nachts auftraten, wenn Patientin
unter starker Affectbetonung aufwachte. Die Afifeetbetonung wird als Folge ängsti-
gender Träume erkannt, welche seit dem Tode der Freundin auftreten. Bei näherem
Nachforschen werden nun auch die Beziehungen des Schmerzes zu dem Trauminhalt
aufgedeckt, die Amnesie für den letzteren Schritt für Schritt beseitigt. Es ergiebt
sich schliesslich, dass die Schmerzen genau dieselbe Localisation zeigten, wie bei
der verstorbenen Freundin, welche wochenlang gerade darüber geklagt hatte. Das
Ende des unglücklichen Mädchens hatte seiner Zeit einen sehr tiefen Eindruck ge-
macht, die Pflege etc. mit ihren Strapazen in einer reizempfönglichen Entwickelungs-
periode war dazu gekommen, und im Anschluss daran kam ein Traum von besonderer
.Lebhaftigkeit — Patientin neigte dazu — zu Stande, in welchem sie sich selbst,
— anknüpfend an die häuslichen Erörterungen über Heredität — in die Situation
der kranken Freundin versetzt sah. Seit dieser Zeit war der Schlaf stets unruhig,
und wenn ihr auch der Inhalt dieser ängstlichen Störungen unbekannt blieb, so er-
kannte sie denselben nunmehr deutlich als ständige Wiederholungen desselben Traumes.
Es war bereits in der 3. Sitzung gelungen, unterstützt durch Streichungen,
zunächst den Schmerz zu beseitigen, und dann, anknüpfend an die starke Lust-
betonung und Rnheempflndung in der Hypnose traumlosen, ungestörten Nachtschlaf
mit analogen Empfindungen zu befehlen und zu erzielen. Nachdem die Genese der
Angst aufgeklärt war, zeigte sich Patientin auch plötzlich für logische Zerlegung
des ganzen Zustandes empfänglich, die entsprechende Aufklärung wurde aber prin-
cipiell zunächst nur in Hypnose gegeben. Die Wirkung war eine überraschende,
der Schmerz trat nicht mehr auf. der Schlaf war von bisher nicht gekannter £iv
quickung gefolgt und völlig traumlos, die Angst vollkommen verschwunden. Patientin
konnte sich nicht genug darüber wundem, dass sie über Alles ohne quälende Em-
pfindung sprechen konnte, ihre Dankbarkelt war überschwenglich. Zur Sicherung dea
Resultates wurde sie noch ein 5. und 6. Mal hypnotisirt, jedes Mal unter mühe-
losem Erreichen tiefen Somnambulismus und völliger Amnesie für alle Vorgänge in
der Hypnose einschliesslich meiner oben näher bezeichneten logischen Erörterungen
über ihren Zustand.
6 Wochen danach erkundigte ich mich nach dem erreichten Resultat und
erhielt folgende Antwort: „Deinem Mann theile bitte mit, dass ich ihm zu grossem
Dank verpflichtet bin, da er mir geholfen hat. Ich fühle immer mehr, dass er
Recht gehabt hat. Ich schlafe jetzt immer ausgezeichnet und kann ganz ruhig
an die Sache denken, ohne dass sie mich im Mindesten aufregt. Ich bin ein
ganz anderer Mensch, seit ich von dem Angstgefühl befreit bin. Hoffentlich bleibt
das so und kehrt nie wieder."
Ich antwortete ihr hierauf und gab ihr in meinen Zeilen noch einmal mit den
in der Hypnose gebrauchten Worten eine kurze Erklänmg ihres Zustandes, zugleich
die Anweisung, diese Zeilen ungestört und allein zu lesen und sich vorher die
ganze Situation unserer hypnotischen Sitzungen recht lebhaft in Erinnerung zu
rufen. Das solle sie thun, sobald ihr irgend ein Zweifel an der Richtigkeit meiner
Behauptung oder der Dauer der erreichten Heilung auftauche. Dann solle sie
meine Zeilen laut lesen und dabei an meine Worte denken ; so werde sie vor Rück-
HUIen stets gesichert sein. — Bis jetzt hat das alles seine Schuldigkeit gethan, und
ich glaube, dass die Art dieser „schriftlichen Suggestion^ sehr wohl geeignet sein
wird, einen Schutz für das Mädchen zu bUden.
Selbstbeobachtungen in der Hypnose. 45
Hier gelang es neben einer Anzahl Gelegenheitsursachen für eine
YoistelluDg, welche das Mädchen schwer deprimirte, einen Traum als
den Hauptstörenfiried zu ermitteln, eine Beziehung, welche erst im hyp-
notischen Zustand klar wurde. Der Umstand, dass in der Verwandt-
schaft tuberculöse Erkrankungen vorgekommen waren, dass davon und
Ton der Erblichkeit dieser Verhältnisse öfters in der Familie die Rede
gewesen war, die relative Zartheit des jugendlichen, etwas chlorotischen
Mädchens, die tödtliche Erkrankung einer lieben Freundin an Schwind-
sucht, das alles zusammen ist noch nicht genug, um eine Jahre laug
andauernde Angst vor ähnlichem Ende in dieser Intensität hervorzu-
rufen. Ein Hauptargument war für sie der seit Jahren bestehende
Schmerz in der linken Brust, der sie oft Nachts störte, so dass sie
darüber aufwachte. Die ganze Schilderung weckte sofort den Verdacht,
dass es sich um keine normale Erscheinung handelte, und sehr bald
Hess sich auf dem Wege einfachster Analyse während der Hypnose
der Zusammenhang feststellen, dass die zur Nacht auftretenden Schmerzen
und die Angst vor Schwindsucht die Folge eines sich ständig wieder-
holenden Traumes waren, der aus der Zeit der Erkrankung ihrer
Freundin herstammte, welche an genau derselben Stelle der Brust den
schmerzhaften Sitz des Leidens gehabt hatte. Derartige Beispiele sind
schon oft beobachtet worden und die Entstehung mancher Phobie etc.
wurde auf ähnlichem Wege analysirt und was noch wichtiger ist, —
aucli beseitigt. Bei Frl. E. gelang es in wenigen Sitzungen, eine voll-
ständige Heilung zu erzielen.
Die Hypnose hat nicht blos einen Werth als Zustand, in dem sich
derartige Erscheinungen vermöge der erhöhten Fähigkeit zur Selbst-
beobachtung analysiren lassen, sondern hat auch die Eigenschaft, dass in
ihr krankhaft fixierte Ideen in ganz anderem Maasse der logischen Auf-
losung zugänglich sind als im Wachen, bei nicht eingeengtem Bewusstsein.
Es ist das das, was Vogt die essentielle Wirkung der Hypnose ge-
nannt hat. ^) Auf diese Art gelangt der pathologische Gedankengang
zu correcter Bewusstseinsbeleuchtung und findet in dieser eine Correctur.
Aber die Möglichkeit, diese Correctur veranlassen zu können, gewinnt
miem sehr oft erst aus dem Material, welches uns die Analyse in die
Hand giebt
In gleicher Weise gestaltet sich die Ueberwindung von Störungen
und Schwierigkeiten, wie sie im Verlauf der Hypnose selbst auftreten
') Cfr. Vogt' 8 Krankengeschichte des an „inneren Pollationen** leidenden
Studenten in Brodmann, Znr Methodik der hypnotischen Behandlung. Diese
ZeitBchr., Bd. Vn, pag. 31.
46 ^r. Marcinowski.
(I. 2 Streichungen VIII. Lidschluss). Dabei scheint mir aber ein Ver-
halten mit zu spielen, welches dem ,,Abreagiren^^ Freuds^) sehr ähn-
lich sieht. Die Störung nämlich, welche zur Aufdeckung ihrer un«
bewussten Motivirung durch Analyse Veranlassung gab, ist beseitigt^
sobald die Analyse gelungen ist (VIII. 1).
8. Die OefajLlstone in der Hypnose.
Es erübrigt nur noch, den Gefühlstönen einige Beachtung zu
schenken, deren ich bereits mehrfach an entsprechender Stelle gedacht
habe. In ihrer Schilderung finde ich bei den von Wetterstrand
publicirten Selbstbeobachtungen (Wetter Strand, Fall II) das Zu-
treffendste, was ich je darüber gelesen habe. Der Mann malt die Lust-
betonung seiner hypnotischen Zustände vorzüglich aus ; seine Schilderong
ist ein Gedicht, welches wie Siegfrieds Waldweben anmuthet, in welchem
das gedankenfaule, behaglich einlullende Hindämmern die Stimmung
und Empfindung lustbetonter Hypnose so trefflich wiedergiebt, dass ich
keine besseren Worte hierfür finden kann (vergl. 1. 1 und X. 1). Dies be-
trifft Empfindungen in der Hypnose im Allgemeinen. Im Spedellen
erscheint mir diese Lustbetonung an alle Vorgänge geknüpft, welche
eine Lösung und Hingabe darstellten, so an den Lidschluss, soweit er
nicht als Krampf auftrat und dadurch unangenehme Gefühle weckte,
dann an das tiefere Sinken in Schlummer, das sich bei mir zu der in
II. und III. geschilderten wellenförmigen Curve gestaltete. Femer waren
es die Erschlaffungszustände der Muskulatur, insbesondere der Gefas»-
muskeln, welche von stärkeren Lustgefühlen begleitet waren. Die In-
tensität der Lustbetonung war proportional der Intensität der Erschlaffung
sowie der Schnelligkeit ihres Eintritts.
Im Gegensatz dazu waren alle mit Zwang und Widerstreben yer-
bundenen Vorkommnisse unlustbetont, wie ich bereits an anderer Stelle
gesagt habe. Am schärfsten war die Unlust bei dem Symptom der
Ueberempfindlichkeit gegen Geräusche ausgeprägt (X. Schluss). Beim
Versuch, Katalepsie hervorzurufen (VII. 3) hatte ich dagegen keine den
Schilderungen anderer Autoren entsprechende Empfindung; die ganze
Sache liess mich mehr wie in dem I. Falle von Selbstbeobachtung bei.
Wetterstrand höchst gleichgiltig. Auf diesen Versuch komme ich
nunmehr im zweiten Theil meines Aufsatzes zu sprechen, welcher das-
jenige beleuchten soll, was wir. in technischer Hinsicht aus meinen Selbst-
beobachtungen für Fingerzeige für unser Verhalten als Hypnotiseure
entnehmen können. (Schluss folgt.)
') Breaer und Freud, Studien über Hysterie.
Zur Kasuistik der liypnotisclien Beliandiung der Epilepsie.
Von
Dr. W. Hllger.
In den Jahren 1896 — 99 habe ich 7 an genuiner Epilepsie lei-
dende Patienten der hypnotischen Behandlung unterworfen. Eine son-
stige specifische Behandlung fand nicht statt mit einer einzigen Aus-
nahme, welche in Ejrankengeschichte 11 ausdrücklich erwähnt ist.
I. Die Arbeiterin Marie Po., 22 Jahre alt, ohne bemerkenswerthe erbliche Be-
lastung (1 Schwester der Matter litt zeitweise an starken Kopfschmerzen, die
Grossmntter yäterlicherseits litt an „Gicht**) trat am 26. I. 1896 in meine
Behandlung.
Die Krämpfe, welche seit Dezember 1894 also etwas über 1 Jahr sich gezeigt
haben, werden von der Familie mit einer Verbrennung in Zusammenhang gebracht,
welche die Patientin erlitten hat. Die Mutter beschreibt die Anfälle als starke
Zuckungen, welche in der Nacht auftreten und etwa 6 Minuten lang dauern und
Ton starkem üebelbefinden am Morgen gefolgt sind. £ine zweite Kategorie yon
Anfallen besteht in dem Auftreten von Schwindel und Geistesabwesenheit am
Tage. An die letzteren Anfälle hat Patientin nachher Erinnerung, an die ersteren
nicht. Ich beobachtete später selbst während Anfällen der ersteren Art, dass die
Pupillen nicht auf Belichtung reagirten. (Notiz über Anfall am 19. I. 1897: Sie
ist bewttsstlos, schlägt mit den Armen, die Pupillen erweitem und verengern sich
synchrom, fast rhythmisch. Notiz über Anfall am 3. HI. 1897: Keine Pupillen-
reaktion während des Anfalls, nach dem Anfall gute Keaktion.)
Patientin, welche sehr chlorotisch war und an erschwertem Stuhl und mangel-
haftem Appetit litt, wurde Tom 26. I. bis 16. 4. 1896 in 20 zweistündigen Sitzungen,
in welchen sie somnambul war (Amnesie), hypnotisirt und bekam ausserdem täglich
1 Würfel Hämoglobin. Der Stuhl und Appetit besserten sich, die KrampfanföUe traten
wahrend dieser Behandlungszeit nur allwöchentlich auf, während sie vorher etwa
4 mal in der Woche aufgetreten waren. — Trotzdem verliess Patientin die Be-
handlung, machte eine Kneipp^che Kur etc. durch, die Anfälle nahmen an
Zahl zo.
48 W. HUger.
Am 29. XII. 1896 kam sie wieder in meine Behandlang, ich Hess sie Morgens
und Nachmittags mehrere Stunden in Hypnose schlafen, vom 27. I. 1897 ab wurde
sie ständig im Bette gehalten und schlief dauernd ausser den Essenszeiten, dabei
allgemeine Körpermassage. Später, von Anfang Mai ab, lag sie nur die Hälfte
des Tages in Hypnose, die andere Hälfte benutzte sie zu kleinen Beschäftigungen etc.
Bei dieser über 5 Monate ausgedehnten ausgiebigen hypnotischen Behandlung,
welche mit guter Ernährung verbunden war, zeigte sich eine Besserung der An-
fiUle. Die starken Convulsionen. welche in der Zeit ihrer Kneipp'schen Kur oft
4 mal am Tage aufgetreten waren, wurden wieder seltener und blieben bis zu
11 Tagen weg. Die kleinen Anfälle traten in derselben Weise zurück.
Schliesslich brach sie aber die Behandlung wieder ab, weil sie zu Hause bei
ihren kleinen und kleinsten Geschwistern unentbehrlich war.
Sie blieb dann eine Zeitlang gebessert, die Mutter gab im Dezember 1897 an,
dass gelegentlich die AnHille 3 Wochen ausgeblieben seien, später wurden die An-
fälle aber wieder häufiger (mit Exacerbationen zur Zeit der Menstruation) und im
Oktober 1898 fertigte ich ihr ein Invaliden-Attest aus. welches sie wegen dauernder
Erwerbsunfähigkeit von mir erbat. Im April 1899 traf ich sie mit ihrer Mutter.
Sie hat wieder alle Tage Anfalle, ist abgemagert und machte mit ihren blassen,
eingefallenen starren Zügen einen traurigen Eindruck.
Da sie während der Anfälle Worte von sich gab (Notiz vom 2. IV. 1897 : „Nicht
doch", „lass das", „wo ist denn Karl?" [ihr Bruder]) so versuchte ich im Anschlues
an die F r e u d ^ sehen Veröffentlichungen nachher in der Hypnose nach psychischen
Traumen (unter Anderem sexuellen Attentaten) zu fahnden und psychische Vorgänge,
welche mit den Anfällen in Verbindung stehen könnten oder während der Anfälle
statthätten, zu reproduciren. Sie antwortete aber auf jede Frage verneinend.
II. Der Arbeiter Gustav Bo.. geboren zu D., wohnhaft zu M.-S., trat am
2. Sept. 1896, damals 21 Jahre bei mir in Behandlung.
Ich kannte ihn seit etwa 6 Jahren als Epileptiker, er kam jetzt zu mir, weil
er durch seine Krankheit gänzlich arbeitsunfähig sei.
Er ist der Sohn eines Landarbeiters, der nach Aussage seiner Frau, der
Mutter des Patienten, stets ein braver, nüchterner, fleissiger Mann gewesen ist,
bis 1881 stets gesund war, dann an „Asthma" litt und daran 1882 starb. Ueber
die Eltern des Vatei-s ist nichts bekannt, von einer Schwester des Vaters weiss die
Mutter nor, dass nichts bemerkenswerthes vorliegt, ein Bruder des Vaters war
unfleissig und hat einen Sohn der träge ist und Anfälle von Jähzorn hat, im Uebrigen
sind sämmtliche Geschwister (noch 3 Brüder) des Vaters ihr als körperlich und
geistig gesunde Leute bekannt und ebenso deren zahlreiche Kinder und sämmt-
liche Enkelkinder.
Die Mutter ist eine gesunde ruhige Frau, sie giebt an, dass ihre Eltern sowohl,
wie ihre 4 Geschwister sämmtlich stets nervengesund gewesen sind, ebenso die
Kinder und Enkelkinder dieser Geschwister.
Die Geschwister des Patienten sind mir bekannt, von denselben litt 1 Bruder
an Knochencaries (ist ausgeheilt), eine Schwester an migräneartigem Kopfschmerz,
alle übrigen sind körperlich und geistig gesund, ebenso deren Kinder.
Die Mutter des Patienten hat vor seiner Geburt 6 mal geboren und 3 mal
Fehlgeburten gehabt, keine Todtgeburten. Die Kinder, auch Patient nicht, haben
sieht an Ausschlägen gelitten.
Zor KMoiitik der hypnoÜBchen Behandlung der Epilepgie. 49
Hit filei etc. hat weder Patient noch seine Eltern jemali zu thun gehabt.
Von Kinderkrankheiten werden nur Mafem berichtet, hat keine Zahnkrämpfe
oder dergl. gehabt.
KopfyerletKungen werden in Abrede gestellt. —
Die Krankheit, wegen derer Patient zu mir kommt, wird von den Angehörigen
nrnckgeföhrt auf eine starke Gemüthserschütterung durch Sehreck, welche Patient
im Alter von 8 Jahren erfahren hat. In Rücksicht auf spätere nothwendige Er-
örterungen gebe ich den Vorgang nach Schilderung der Mutter und des Bruders
Karl ausfuhrlich wieder. U. wurde mit seinem Bruder Karl in den Keller ge-
schickt, um dort Kartoffel zu holen. Ein Mitbewohner des Hauses, Heine mit
Namen, war um diese Zeit in einem Verschlage des Kellers beschäftigt und machte
sich den yJSchen"y die ahnungslosen Kinder mit tiefer Bassstimme zu erschrecken.
Der Bruder fiel mit der Lampe in der Hand zu Boden, G. kam dann, wie seine
Mutter erzählt, nach oben gestürzt, in höchster Erregung, umklammerte die Knie
einer Nachbarin und schrie: „Es sitzt wer im Keller, der macht uns zu graulen.**
Die Mutter suchte ihn zu beruhigen, auch der Heine gab sich darin Mühe und
stellte sich später sehr freundschaftlich zu dem kleinen G. Nach Vt oder höchstens
1 Monat bemerkte die Mutter, dass er gelegentlich es „in den Kopf kriegte**, er lehnte
sich z. B. starr an die Wand, stöhnte, als wolle er etwas sagen und „könne es nicht hoch
kriegen**, fäaste die Umstehenden an, fiel bei späteren Anfällen auch hin, bekam vom
14. Lebensjahr dann immer häufiger Anfalle und y. 16. Lebensjahr ab traten oft 4 — 6 An-
falle täglich auf, sodass ein Anfall in den andern überging. Die längste Pause zwischen den
Anfalle war gelegentlich 8 Tage, nach einer solchen Pause traten die Anfälle aber dann
besonders heftig au£ Die Anfalle traten theils urplötzlich auf, wie es scheint, ohne Aura,
theils gab er vor dem Anfall kurze Laute von sich, theils ging denselben eine Ver-
wirrung Toraus, in welcher er auf die Strasse lief, die Kinder mit seinem ausgezogenen
Bock schlug, auch wohl seine Mutter angriff und sie stiess und zerrte. Nach den
Anfallen war er häufig irre, verlangte von seinen Vorgesetzten auf der Arbeits-
stätte augenblicklich höheren Lohn und wurde dann aus der Arbeit enüassen. —
Die Schilderung welche die Angehörigen von den eigentiichen Convulsionen und
deren Begleiterscheinungen (Bettnässen) machen, weichen in Nichts von dem typischen
Bild des epileptischen Anfalls ab. Er kam öfter nach einem solchen Anfall zu mir
mit zerbissener Zunge, geschwollener Wange, auch einmal einer Fleischwunde, die
er sich beim Sturz aus einer Bodenlucke zugezogen hatte.
Ich erfahre, dass nach den Anfallen häufig, vielleicht fast immer, nachher dem
Patiraten von dem Anfall erzählt worden ist, und wie mir die Mutter mittheilt,
ist öfter in der Familie nach dem Ablauf eines Anfalles in Gegenwart des Patienten
die R&dß davon gewesen, dass, wenn jener Schreck mit dem Heine nicht gewesen
wäre, er auch keine AnfäUe haben würde.
Ich habe dann während der Behandlung solche Anfalle beobachtet und gebe
meine kurzen Notizen hierüber wieder:
Anfall 17. XII. 1896. 10 Uhr starker Schrei, bewusstlos. Klonische Zuckungen
ober den ganzen Körper. Pupillen bewegen sich unregelmässig.
AnfaU 16.11. 1897. Pupillen contrahiren sich nicht auf Licht, bewegen sich
Tiebnehr unabhängig vom Licht und dehnen sich bei einem Hustenstoss weit aus.
Blutiger Schleim aus dem Munde.
Anfall 17. II. 1897. Unfreiwilliger Urinabgang, Durchnässung des Ruhebettes.
Zeitschrift für Hypnotismns ete. IX. ^
60 W. Hilger.
Anfall 14. XI. 1898. Ich werde gerufen, weil man in der Kammer, in welcher
er liegt, die Laute „Au'' „Au" hat ausstossen hören. Finde ihn im Goma. Stertorösei
Athmen mit Schaum vor dem Munde, C3rano9e. Pupillen reagiren nicht auf Licht,
sind ungleich, werden während der Belichtung weit und yerengem sich wieder ohne
Einfluss der Belichtung. Später (nach etwa 5 Minuten) wieder Reaction der Pupillen,
auch Goigunctivalreflex, gesteigerter Patellarreflex, kein Fussklonus, kein Oremaster-
reflex. — Er reagirt dann wieder auf Anrede, antwortet aber Sinnloses.
Ich fuge hier noch das Wesentliche über den Status somaticus hinzu, welches
ich den Notizen vom 23. III. 1899 entnehme.
Sehr wohl gebauter Körper, keine Degenerationszeichen (als einzige »Ab-
normität" findet sich eine starke Ausbildung des Protub. occipital. externa) starker
Knochenbau, besonders starker Gesichtsschädel, guter Haarwuchs, tadellose Zähne,
sehr kräftige Muskulatur. 2 kleine, nicht angewachsene Narben auf dem Scheitel,
Percussion des Schädels etwas empfindlich. Narben der Zunge, Narben am Knie.
Sonst nichts Abnormes (Herz normal, Urin kein Eiweiss, kein Zucker etc., Re-
flexe normal, Ophthalmoskopischer Befund normal etc.). Nach allen diesen Daten
dürfte die Diagnose „genuine Epilepsie" wohl gesichert sein und bei der nicht sehr
starken erblichen Belastung (ein etwas abnormer Onkel und Vetter — die Krank-
heit des Vaters war wohl eine rein somatische) der äusseren Schädlichkeit (Schreck)
eine wesentliche Bedeutung in der Aetiolog^e zuzumessen sein.
Die Behandlung des Patienten, welche, wie erwähnt, am 2. IX. 1896 begonnen
wurde, war nun bis zum October 1896, also zwei Jahre hindurch, eine rein psycho-
therapeutische. — Patient hatte gleich in der ersten Sitzung einen tiefen Schlaf
mit Amnesie beim Erwachen. Ich benutzte diesen Somnambulismus zur Analyse
des Bewusstseinszustandes, über deren Resultat ich am Schlüsse dieser Mittheilong
berichten mochte und zur Anwendung des Dauerschlafes. Patient hat 8 Monate
hindurch (yom 2. IX. 1896 bis 1. V. 1897) tägUch von 24 Stunden 18 V« Stunden
geschlafen. Er kam Morgens gegen 8 Uhr zu mir und schlief bis 1 Uhr, ass dann
zu Mittag, ging etwas spazieren etc., legte sich um 3 Uhr Nachmittags wieder hin
und schlief bis Abends 9 Uhr. Sonntags schlief er nur bis 1 Uhr hier. Dabei
schlief er die Nächte zu Hause, etwa von 11 Uhr Abends bis Vt*? Uhr Morgens.
Er fühlte sich bei diesem Dauerschlaf sehr wohl, lächelte in Hypnose behaglich
(gelegentliche, beim Liegen auftretende Kopfsohmerzen und Leibschmerzen liessen
sich leicht wegsuggeriren) und erklärte im Wachzustande, dass er sich wie neu-
geboren fühle.
Es konnte dann auch eine wesentliche Besserung constatirt werden. Vom
2. IX. 1896 bis 24. IX. 1896 hatte Patient allerdings noch 8 starke Anfälle. Dann kommt
aber eine Pause bis zum 27. X. 1896. Von da ab traten die Anfälle in grösseren
Pausen auf. So am 27. X., 28. X., 31. X. 1896 je ein Anfall, dann am 13. XI. 1896
ein rudimentärer Anfall, am 17. XII. 1896, am 16. 11. und 17. 11. 1897, am 23. UI.
1897, am 21. IV. 1897, also mit Pausen von 1 bis 2 Monaten. Am 1. V. 1897
war er dann nicht mehr zu halten, er trat in Arbeit und kam nicht zur Behand-
lung. Er hatte dann vom 1. V. bis 14. V. allnächtlich Anfälle, blieb aber dann
frei bis Anfang Juli, wo er in einer Nacht 3 Anfälle hatte. Dann eine Pause bis
16. X. 1897, also über V4 Jahr. Auch der Gharacter der Anfälle war ein anderer
geworden. Während die früheren gehäuften Anfälle häufig am Tage auftraten und
eine schwere Reaction zurückliessen, kamen jetzt die Anfälle nur des Nachts. Seine
Zur Kasuistik der hypnotisehen BehandlaDg der Epilepsie. 5I
Matter bemerkte, wie er Nachts kurze Attacken bekam, er selbst stand aber stets
am Morgen aof, fühlte sich wohl« klagte nicht über Schwache, nicht einmal aber
Kopfacfamersen und ging, als wenn überhaupt nichts passirt sei, an seine Arbeit.
Er war hierdurch in Stand gesetzt, seine Angehörigen auskönmilich zu ernähren. —
Auf mein Drangen kam er des Sonntags Morgens wieder zu mir zur Behandlung, wobei
er immer wieder Ausreden hatte, den einen oder anderen Sonntag nicht zu kommen.
Er hatte dann wieder eine Attacke am S6. XU. 1897, also nach zweimonatlicher
Pause und Ton da ab wieder allmonatlioh bis zum März 1808, wo er im Ganzen
10 nachtliche Anfalle hatte. Nachdem der April 1896 keine Anfalle angewiesen
hatte, traten am 16. V. und am 19. V. 1886 je 1 Anfall und zwar zur Tageszeit auf.
Es zeigte sich aber hierbei kein postepileptisches Irresein, er war 1 Stunde nach
dem Anfall wieder bei Bewusstsein, schlief in der kommenden Nacht gut und ging
am anderen Tage wie gewöhnlich an seine Arbeit. Ich setzte nun durch, dass er
auch an gewöhnlichen Werktagen Abends nach der Arbeit zur Hypnose zu mir
kam und an solchen Werktagen, wo er keine Arbeit hatte, wieder den ganzen Tag
hier schlief, wobei er auch immer wieder gelegentlich Ausreden hatte, wegzubleiben.
Am 14. VL 1896 trat wieder 1 An£ül auf der Arbeitsstiitte auf, ebenfalls am 1. VIII.
1898 nnd 2. YIII. 1808 und 2. X. 1898 (Juli und September 1898 waren anfallsfre^.
Vom 8. X. 1898 bekommt er dann täglich (Abends) 3 g £al. brom. hat aber am
14. XI. 1896 hier einen (oben beschriebenen) Anfall, ebenso am 26. XIL 1896,
26. XU. 1898, 11. I. 1899, 12. H. 1899, 16. U. 1899, 17. IL 1899 (s. unten) unter
denen wieder mehrere am Tage auftraten. Dann war der März wieder anfiülsfrei,
und wurden seit 16. HI. 1899 täglich 4,6 g £al. brom. und seit 28. HI. 1899 täg-
lich 6,0 g Terabreioht. — Die hypnotische Behandlung blieb auch bei dieser Medi-
cation dieselbe, Patient kam Abends zu einer 2 — 3 stündigen Hypnose, wobei es
allerdings immer wieder zu bedauern war, dass er häufig unpünktlich war. Er war eben
offenbar lieber Abends nach der Arbeit in seiner, wie es scheint sehr behaglichen
Häuslichkeit nnd unter seinen Angehörigen, bei denen er jetzt, wo er der Ernährer
ist, eine Bolle spielt, wie bei mir zum Schlafe auf seiner einsamen Bodenkammer.
Abgesehen von einer yorübergehenden Arbeitslosigkeit nach dem Anfall am
11. L 1899, der wieder auf der Arbeitsstätte stattfand, ist er also seit Beendigung
des Dauerschlafes (vom 1. V. 1897 ab — ako £s8t 2 Jahre) stets erwerbsfähig ge-
wesen und hat seinen Posten als Handlanger mit Fleiss und Ausdauer yersehen. —
Schon bei Beginn der Behandlung merkte man eine Hebung seiner Psyche.
Am 1. XL 1896 finde ich die Aussage seiner Mutter notirt : „man könne gar nicht
sagen, wie sehr er sich geändert habe, immer artig, recht fidel und spasshafb**.
„So hoch möchte er springen**.
In der That erschien er frischer, selbstbewusster, war in der Erzählung seiner
Erlebnisse geordneter und das lebhaftere Mienenspiel liess ihn intelligenter er-
scheinen.
Zur Ergänzung des Status fuge ich hinzu: Er ist (Status Tom März 1899) ein
sehr guter Kopfrechner, behält vierstellige Zahlen sehr gut, seine . Schulkenntnisse
sind ihm zum Theil noch sehr gut präsent, während er sich im Allgemeinen in
einem engen VorsteUungskreise bewegt. Er ist gutmüthig, gegen sdne Angehörigen
sehr sorglich und sogar liebevoll zu nennen, mir gegentiber sehr folgsam, während
er den Dienstboten gegenüber leicht gereizt und heftig wird, dabei wird er ge-
legentlich bei einer Luge ertappt und verstieg sich sogar nachweislich einmal mit
4*
62 W. Hilger.
Beihülfe Beiner Mutter zu einer kleinen Veruntreuung Ton ihm auTertrautem Haus-
haltungsmaterial. — Zur unbedingten Abstinenz von jeglichem Alcohol, den er
übrigens nie besonders geliebt hatte, habe ich ihn seit Beginn der Behandlung mit
Erfolg angehalten — ebenso wurde er durch Anhaltung zur Sparsamkeit, Sauber^
keit etc. günstig beeinflusst und namentlich durch hypnotische Suggestion stets
prompt von seinen häufigen fieirathsgedanken abgebracht.
Im lebhaften Gegensatze zu dem vollständig negativen ftesultat, welches der
Versuch einer „Analyse" bei der Patientin Marie Po. ergab, stehen die Angaben,
welche Patient Bo. mir bei dem Versuch einer Analyse gemacht hat. Wollte man
diese seine Angaben ohne Weiteres verwerthen, so müsste man annehmen, dass er
vor und während der Anfälle eine lebhafte geistige Thätigkeit gehabt hat, in
welcher die Eindrücke der Gegenwart mit Hallucinationen aus der Vergangenheit
vermischt auftraten und dass er für alles dieses eine deutliche Erinnerung bewahrt
hat, die er wenigstens in der Hypnose zu reproduciren im Stande sei. Da diese
seine Angaben für die Beurtheilung des Falles von Interesse sein dürften und
namentlich auch einen casuistischen Beitrag für die Anwendung der Analyse bieten,
so sei es mir gestattet, dieselben hier wiederzugeben. Ich muss gestehen, dass ich
dem Inhalte derselben zimächst ohne genügende Kritik gegenüber! stand und erst
später zu einer mir befi:iedigend erscheinenden Erklärung gekommen bin. Leider
habe ich vor der ersten Analyse (am 2. IX. 1896) versäumt, dieselben Fragen im
Wachzustande an ihn zu richten, habe dies aber später nachholen können und
werde über das Ergebniss berichten. Uebrigens war ein „Hineinfragen*' bei der
„Analyse*' schon deshalb ausgeschlossen, weil ich damals über seine Vergangenheit
nur ganz wenig orientirt war und die Geschichte eines psychischen Traums, soviel
ich mich erinnere, überhaupt nicht kannte. Ich habe die Aussagen des Patienten
und meine Fragestellung nicht stenographirt, aber schon während der Sitzung und
zum Theil sofort nach der Sitzung niedergeschrieben. Man wird bemerken, dass
diese Wiedergabe durch Auslassung einiger von mir gestellter Fragen gekürzt ist.
Ebenso unterlasse ich die Wiedergabe einer Erinnerung aus dem postepileptischen
Verwirrungsstadium. Er giebt bei dieser „Erinnerung" auf meine Anfrage sogleich
an, dass ihm das später erzählt sei.
Hypnose am 2. IX. 1896. Patient schläft (wie oben schon angegeben som-
nambul). Er bekommt die Suggestion : „ „kann sprechen, schläft aber weiter, soll e9
zählen, wie er einen Anfall bekommt** **. „Ist vom Schrecken gekommen, ich sass in
der Schule in Diesdorf**. „„Ganz deutlich ?** ** „Ja, in der vierten Bank, rechts
war der Ofen, der Schullehrer vor mir, Otto Fricke las in der ersten Bank von
Karl dem Grossen**. „„Was? ganz genau!**** »Wie er regiert hat — ** „„Auch,
wie er Wein gepflanzt hat?**** „Ja, das kam nachher. Da schlug ich mit beiden
Fäusten auf die Bank, der Lehrer kam auf mich zu mit dem Stocke und sagte, ich
solle das sein lassen, darauf prügelte er mich, ich schlug dann immer noch mehr.
Die Prügel fühlte ich nicht — ** nn^ch denke, es ist vom Schrecken gekommen?** **
„Ja — ich wurde mit meinem Bruder — dem Harmonika-Mann ^) in den Keller ge-
schickt, da machte uns Jemand gratden. Der arbeitete an einer Bucht**. *) „ „Sehen
Sie ihn jetzt ganz deutlich?*"* „Ja, — ** „»Was hat er für einen Rock an?***'
') Arbeitet jetzt in einer Harmonika-Fabrik.
*) Kellerverschlag.
Zur Eaaoiftik der hypnotxichen Bedeatong der Hysterie. 63
„Einen schwarzen". „ „Wo stand die Lampe etc. etc. ?^ '^ — „Er klopfte an die Baoht
und fnfgte: Könnt ihr anch beten? Da erschraken wir so — ich schlag mir die
Knochen kurz und klein und mein Bruder wurde bewusstlos — **. „ n^^^ ^^Am dann
der Anfall?'''' „ — Es war umgekehrt — mein Bruder schlug sich kaput und ich
wurde bewusstlos, die Lampe liess ich vorher auf den Boden fallen, mein Vater
und meine Mutter kamen und mein Vater sagte su dem Mann — Heine hiess er —
„was haben Sie nun gemacht?** Der Mann meinte, das sei nicht so schlimm, er
habe uns nur graulen gemacht und gesagt: könnt ihr beten? — — Als ich
oben war, bekam ich Krämpfe, da rief mein Vater den Mann von oben (oberes
Stockwerk) herunter und zeigte auf mich ; der Mann sagte : das würde sich wohl
wieder geben, je älter ich würde. — Mein Bruder legte sich damals hin und bekam
eine schlimme Hüfte'*.
„„Wie kam denn nun der zweite Anfall von Schrecken?"" „Der Mann kam
in die Schule". „ „Sehen Sie ihn, wo steht er?" " „Er steht an der Thüre, nachher
kommt er herein, stellt sich neben den Lehrer und firagt, was ich gethan habe,
der Lehrer sagt es ihm, da sagt er, das kommt vom Schrecken, ich habe ihn
graulen gemacht, da sagt der Lehrer, das hätte er doch besser nicht thun sollen,
solche jungen Kinder, ^) da sagt er, das werde vorübergehen, je älter ich werde. —
Dann lag ich noch 2 Stunden mit dem Kopf auf dem Pult und wurde von 2 Jungen
nach Hause gebracht. Heine ging mit und ging dann weg, er ging zu seiner
Frau. Diese sagte, dass er das doch besser nicht gethan hätte". „„Sahen Sie wie
er za Hause war?"" „Ja, ich ging mit. Nachher kam der Lehrer und erzählte
das meinem Vater, dass ich solchen Anfall gehabt hatte, mein Vater erzählte ihm,
dass das vom Graulen gekommen sei — wir wären in den Keller gegangen u. s. w."
„,^un sehen Sie wieder einen Anfall. Welchen?"" „Bei Fölsche in der
Fabrik". „„Wie ist das?"" „Ich arbeite mit meinem Bruder an der Maschine,
da sage ich zu meinem Bruder, mir ist so sonderbar, da sagt er, gehe hinauf, ich
gehe hinauf, da kommt der Anfall, ich fieille den Fahrstuhl hinunter, unten in die
Maschine, die wird noch rechtzeitig abgestellt". „„Sehen Sie das deutlich.""
„Ja", „„Sehen Sie das Loch, ist es rund oder viereckig?*"* „Viereckig" — —
wie ich daliege, kommt Herr Fölsche". „„Was sagt er?"** „Man müsse mich ent-
lassen und dann hat er in allen Fabriken rundgeschickt, sie sollten mich nicht an-
nehmen". „„Ist denn sonst Niemand da?**** „Doch, der Heizer". „Wer noch?"*'
„Heine". „Was thut er?**** „Er spricht mit Herrn Fölsche, das komme vom
Graulen etc., dann geht er weg". „„Wie geht er?**'* „Er geht das Bahngeleise
entlang, über den üebeigang zum Schlachthaus, dann kann ich ihn nicht mehr
sehen. Nachher erzählt mir Herr Fölsche von dem Anfall". „„Auch von Heine?****
„Ja". „„Was denn?**** „Dass er dagewesen ist und gesagt hat, das kommt vom
Graulen".
Ich gehe in dieser ersten Sitzung noch mehrere Anfälle durch — immer
findet sich die sinnlich lebhafte Vorstellung des Erzählten und immer auch diese
Hallncination des Heine. Er erzählt später (ebenfalls in der ersten Sitzung), dass
er vor dem Anfall den Heine im Keller versteckt gesehen habe und bejaht die
Frage, ob er denn vor allen Anfallen den Heine so versteckt gesehen habe. „„Wie
Sie bei Fölsche den Anfall gehabt haben auch?***' „Ja, ich sagte zu meinem
^) Ausruf des Mitleids.
54 W. flilger.
Brnder, siehBt da den da unten nicht, der macht uns granlen, mein Brnder sag^,
komme oben — da sah ich Heine immer im Keller und nachher kam er herauf**. —
Hier war ja nun ein Anhaltepunkt, um die Richtigkeit seiner Angaben zu con-
trolliren. Es stellte sich dabei heraus, dass der Bruder sich zwar des Anfalls er-
innerte, nicht aber irgend welcher Aeusserungen, welche Patient vorher gethan
hatte und in Bezug auf die Aeusserung „Siehst du den da unten etc.'' meint der
Bruder direct, das habe sich Patient wohl zusammengereimt. Auch der mir be-
kannte Fabrikbesitzer stellt eine derartige Aeusserung, wie er sie gethan haben
solle, direct in Abrede und ist Herr Fölsche (nach Mittheilung des Bruders) bei
dem hier geschilderten Anfall überhaupt nicht zugegen gewesen, sondern erst bei
einem zweiten Anfall, der sich erst am Nachmittage ereignete. Uebrigens erzählt
der Bruder auch das Erlebniss im Eartofifelkeller etwas anders wie Patient.
Ich habe dann bei späteren Anfällen immer sorgfältiger die Aussagen des
Patienten mit den Aussagen seiner Umgebung yerglichen, dabei stellten sich stets
Widersprüche heraus. Z. B. Anfall am 26. XII. 1898: Die Matter berichtet, Patient
hat auf 3 Stühlen ausgestreckt am Nachmittag geschlafen. Da hat er einen An&ll
bekommen, ist aber nicht von den Stühlen heruntergefallen. Patient macht in Hyp-
nose dann die ausführliche Angabe, dass er von den Stühlen gefallen sei, dass ihn
seine Mutter und seine Schwester wieder aufgerichtet habe etc.. und nur in einem
Punkte trifft er das Richtige, dass ein Umstehender (sein Schwager) gesagt habe:
„wir wollen ihn liegen lassen, bis der Anfall vorüber ist".
Es war mir vergönnt, am 17. II. 1899 das Stadium nach einem Anfall zu be-
obachten und in demselben mit dem Patienten einen Versuch anzustellen, der für
die Frage, ob heilbare oder unheilbare Amnesie von Wichtigkeit und für meine
Stellungnahme zu dieser Frage im vorliegenden Fall entscheidend war.
Am 16. n. 1899 (s. oben) hatte er einen Anfall gehabt, bei d^m er sich
leicht am Finger verletzte und einen kleinen Verband erhielt, am Nachmittag des
17. IL auch einen Anfall und am Abend (nach der Hypnose) wurde ich wieder
gerufen, er sei im Keller beim Kohlenholen hingefallen. Wie ich hinzukam, war
der Anfall gerade vorüber. Ich rede ihn an, er macht einen anbesinnlichen Ein-
druck, wie Jemand der aus der Narkose erwacht. Ich frage: „„Nun was ist
denn?"** — Er sagt nichts. — »»Nun stehen Sie anf.*'^ Er erhebt sich. „„Was
haben Sie denn da?*'*' (sein Verband an der Hand) — „Wo ich mich doch ge-
stossen habe." — nn^<^ kommen Sie einmal endlich wieder regelmässig zur Be-
handlung.*'*' „Bin ich denn heute nicht gekommen?*' — „„Ja aber länger müssen
Sie kommen."'' — „Ja, wenn ich bis 7 oder 8 Uhr hier schlafe, dann kann ich zu
Hause nicht schlafen." — Ich beruhige ihn dann etwas, sage, er werde schon
immer gut schlafen und fahre fort: „„Nun gebe ich Frl. G. (welche anwesend
war) eine Mark für Sie, die sollen Sie morgen von ihr abfordern."" Er lächelt. —
„„Also was sollen Sie thun?"" — ;,Von Frl. Ü-. die Mark abfordern."
Eine Prüfung der Pupillenreaktion ergiebt Trägheit derselben. — Er wird
dann von seiner Mutter abgeholt, ist störrisch als dieselbe ihm den Weg nach
Hause zeigen will.
Am 18. IL 1899 kommt er zur Behandlung, er kommt und geht, ohne nach
dem Gelde zu fragen.
Am Nachmittage kommt er wieder, fragt ebenfalls nicht nach der Mark, ich
rede ihn dann an:
Zar Kunifltik der bypnotischen Behandlang der Epilepsie. 66
Waehcastand. nn^^ war denn goftem?'"'*) — „Nichte." — „„Haben
Sie sieh ganz wohl befunden?'"'' Ja.** „„Waren Sie denn nicht hier?«''' „Ja."
„„Was haben Sie denn gestern hier gemacht?"" „Geschlafen." „„Sonst nichts? —
Na, Sie sind doch auch sonst hier thätig gewesen!"" „Ja." „»Was haben Sie
denn gemacht?"" „Kohlen geholt nnd Stiefel geputzt."*) „„Wann sind Sie denn
nach Hanse gegangen?"" — „Um Vt?.*") — „„Erinnern Sie sich denn gar nichts
mehr sonst yon gestern?"" — „Nein." — „„Nun füllt es Ihnen wieder ein."" —
Schweigt. „Ich weiss nichts mehr."
Hypnose. Ich lege die Hand auf seine Süme: „„Nun fällt es Ihnen ein,
wss gestern war, nun erzählen Sie einmal?"" — „Ich weiss nichts." Ich wecke
ihn nnd gehe im Wachznstande weiter.
Wachzustand. „„Nun was war denn gestern, denken Sie mal den Tag
über nach, was gestern war, Sie sind den Morgen aufgestanden und hierher ge-
kommen?"" — „Ja nnd Nachmittag wieder gekommen." — n»Was war denn am
Nachmittag?"" — „Das weiss ich nicht." — „„Ist denn gestern hier nichts passirt?"" —
„Nein."
Hypnose: „„Nun können Sie sagen, was gestern Nachmittag passirt ist?""
— „Da habe ich den Anfall gehabt." Ich wecke ihn, er ist amnestisch für
diese Unterhaltung in der Hypnose, ich gehe im Wachzustand weiter.
Wachzustand. „„Was ist denn gestern Abend passirt?"" — Schweigt. —
„„Nun können Sie sagen, was gestern Abend passirt ist?"" Schweigt. „„Erzählen
Sie einmal?"" — „Zehne?" (er hat mich nicht recht verstanden). „„Erzählen Sie
einmal, was gestern Abend passirt ist?"" — Schweigt. — „„Ueberlegen Sie einmal,
was gestern Nachmittag war, Sie sind herunter gekommen, was haben Sie denn
unten gemacht?"" — Schweigt. — nn^^^ ^^^^ ®* Ihnen wieder ein?"" —
Schweigt.
Hypnose. „„Ueberlegen Sie einmal, was gestern Abend passirt ist?"" —
„Ich habe den Anfall gekriegt" — nn^^i nun wissen Sie es ganz genau, nun
sagen Sie es."" Wecke ihn.
Wachzustand. „„Na, was war denn gestern Abend?"" — Schweigt erst,
dann: „Weiter weiss ich nichts." — »»Was denn?"" — „Dass ich den AuüeJI ge-
kriegt habe." — »»Wo haben Sie denn den Anfall gekriegt?"" — n^^nf dem
Boden. ***) — »«Und sonst noch wo?"" — „Nein." — ««Na, ich bin doch dabeige-
wesen."" — Schweigt. — »»Nun können Sie es sagen, wo ich dabei gewesen bin!"" —
„Unten im Hause."*) — „»Wo denn?"" .,In der Stube." — „„In welcher Stube?""
— Schweigt. ,Jn der yorderen Stube." — „„In welcher vorderen Stube?"" „Die
nach der Strasse hinaus geht." — „„Entsinnen Sie sich ganz deutlich?"" — „Die
^) Diese ganze Unterredung ist von mir stenographirt und wortgetreu wieder-
gegeben. Ich liess ihn nach Mnleitung derselben auf dem Sopha hinlegen und
wechselte wie angegeben mit Wachzustand und Hypnose ab, um möglichst genau
festzustellen, wie weit der Wachzustand für eine etwaige Behebung der Amnesie
genügen würde.
*) Seine gewöhnliche Verrichtung Abends nach der Hypnose.
*) Thatsächlich war es 9 Uhr, als er am Abend des 17. II. mit seiner Mutter
'v^egRUig.
*) Er meint die Bodenkammer, in welcher er gewöhnlich hypnotisirt wird. Er
rath offenbar und zwar falsch.
') Auch hier räth er wieder und zwar falsch.
56 W. Hilger.
erste." — „„Welche erste?"** — „Wenn Sie hier vons Hans herein gehen."*)*) —
„„Wissen Sie denn ganz deutlich, wie Sie da lagen?"" — n«^*-** "~ nn^^^ ^■^
denn dabei?"" — „Fräulein, die Köchin.« *) — „„Sonst keiner?"" „Und die Mutter.««
— „„Sonst noch Einer?"" — „Fräulein G. und hier Herr Dr." — »n^^^ ^^ ^'^^^
das?"" — „Hinten in der Stube."*) — „„In welcher hinten in der Stube?"" — „In
der geraden Linie." — „„In welcher geraden Linie?"" — „Da war die Stube." —
„„Wo haben Sie denn gelegen? Auf dem Fussboden?"" — Schweigt — später
„Ja." — nn^o denn mit dem Kopf?"" — n^^' (zeigt nach rechts), mit den
Beinen da (zeigt nach links)." — nn^i^^^ ^^ ^^ dßiai nachher gewesen? Habe ich
dann was gesagt, oder was gethan?"" — „Nein." — „„Habe ich einem was ge-
geben für Sie?"" — „Nein." — „„Habe ich nicht Fräul. O. etwas gegeben für
Sie?"" Schweigt. -- „n^ta habe ich Fräul. G. gegeben für Sie? Nun fallt es
Ihnen wieder ein, wo der Anfall gewesen ist?"" — i*'^^^ ^®™ Boden!"
Hypnose. „„Nun fällt Ihnen ein, wo der Anfall gewesen ist?"" — „Ich
weiss nicht." — »n^°° drücke ich recht stark, dann wissen Sie es wieder."" —
„Unten in der Stube." — nnUnd was war denn nachher?"" — „Nachher bin ich
wieder munter geworden und angestanden." — „„Habe ich denn was gesagt, oder
was gethan?"" — „Sie haben was gethan.*' — »n^^ hv^;}e ich denn gethan?"" —
„Sie haben mich von meinem Leiden gerettet.** — „„Habe ich denn £inem was
gegeben für Sie?"" — „Fräulein G.*' — „„Ja was denn?"" — „Was zum Ein-
nehmen.** — „„Sie schlafen doch ganz fest?"" — „Ja.** — Ich suggerire mit Erfolg
Katalepsie und Anästhesie des Armes (äussert geringen Schmerz bei starkem Nadel-
stich), wecke ihn, er ist vollkommen amnestisch für die Unterredung.
Wachzustand. „„Nun wissen Sie auch, was ich Fräul. G. gegeben habe?****
— Schüttelt mit dem Kopf. Ich erzähle ihm dann den ganzen Vorgang: „„Ich
habe Sie im Keller gesprochen und habe ihnen gesagt, dass Sie pünktlicher kommen
sollten etc. etc., Sie haben gesagt etc. etc., und habe Fräul. G. etwas gegeben für
Sie und gesagt, Sie sollten Sich das morgen geben lassen.** ** — „Ich soll mich das
geben lassen/* — »u^Sk, was wars, unten im Keller wars, bei den Kohlen?**** —
„Da habe ich mit den Füssen getreten und mit den Händen geschlagen.** — „„Und
was habe ich Fräul. G. gegeben?"" — „Weiter weiss ich nichts.**
Hypnose. .,„Nun fällt es Ihnen wieder ein, was ich FräuL G. gegeben
habe?**** — „Was für mich zum Einnehmen." — «^f^un fällt Ihnen wieder ein,
was ich Ihnen eben erzählt habe?'*** — „Dass ich wieder gesund werde und kann
gut schlafen,** — i,f,Und was habe ich Fräul. G. gegeben?**** — r»^*" ^um Ein-
nehmen.** Wecke ihn. Er ist auch für diese Unterredung amnestisch.
In einer nochmaligen Hypnose gebe ich ihm die posthypnotische Suggestion,
eine Lampe auf meinen Tisch zu stellen. Er thut dies im Wachzustande und zeigt
sich dabei amnestisch für die Suggestion.
Am andern Tage 19. II 1899 erinnert er sich (im Wachzustande) dieser Vor-
nahme Tom 18. U. 1899, es gelingt aber auch an diesem Tage weder im Wach-
zustande, noch in Hypnose die Amnesie für die erwähnten Vorgänge vom 17. IL
1899 zu beheben.
^) Er beschreibt also eine ganz bestimmte Stube, meine Wohnstube, welche
gleich am Hauseingange liegt.
*) Er hat diese Stuben gelegentlich betreten, irgend ein Anfall in denselben
ist aber mit Sicherheit auszuschliessen.
') Auch hier räth er wieder und zwar falsch.
Zur Kasuistik der hypnotischen Behandlung der Epilepsie. 67
Kommen wir nun auf die oben mitgetheilten „ Analysen'' znrticki so war jene
Aeussemng des Schwagers, „wir wollen ihn liegen lassen etc.** das einzige, was von
dem Patienten der Wirklichkeit entsprechend wiedergegeben wurden. Die An-
gehörigen Tersichem, dem Patienten diese Aeusserung nicht wieder erzählt zu
haben. Andererseits ist eine solche Aeusserung doch wieder so natürlich und nahe-
liegend, dass ich nicht glaube, auf Grund derselben meine Beurtheilung der vor-
liegenden Frage ändern zu sollen. Ich sehe yielmehr auf Grund des vorliegenden
Materials in den Aussagen des Patienten Bo. Erinnerungstäusohungen, die bei
seinem keineswegs wahrheitsliebenden Character wohl besonders leicht auftreten
konnten und dadurch stets neue Nahrung erhielten, dass ihm nachweislich von
seiner Umgebung fast immer nach den Anfällen die Details derselben erzählt
wurden und auch das Erlebniss mit dem Heine immer wieder als Ursache der
ganzen Erkrankung hingestellt wurde.
In Bezug auf die Frage, wie weit er im Wachzustande über „Erinnerungen"
aus der Zeit früherer Anfalle Angaben machen konnte, beobachtete ich, dass er am
16. IX. 1896 im Wachzustande keine Aussagen machen konnte, dagegen sogleich
in der Hypnose die ausgiebigsten Mittheilungen machte, während er am 14. IX.
1896 aucli im Wachzustande seine ganze Erzählung von Heine etc. producirte.
Ich schloss natürlich an die „Analysen** die Suggestion, dass er jetzt an der-
gleichen gar nicht mehr zu denken brauche, alles das vergessen werde etc. — In
der Hypnose nach dem Anfall am 9. IX. 1896 gab er dann an, er habe (während
des Anfalls) zu seinem Bruder gesagt, sie hätten nur älter sein sollen, dann hätten
sie den Heine tüchtig „verhauen** und später in der Hypnose am 26. XII. 1899
antwortete er auf meine Frage: „„Wo war denn Heine?**'* „Heine, welcher
Heine?!" Br hatte ihn also thatsächlich vergessen.
Ich möchte hier der Meinung Ausdruck geben, dass auch dieser Suggestion
eine gewisse Bedeutung bei der Behandlung zuzuschreiben sei, denn sie schaltete
doet bei dem Patienten eine störende Gedankenreihe aus, mag dieselbe nun direct
von dena Erlebniss oder von den Erzählungen der Angehörigen abzuleiten sein —
und also auch der „Analyse**, so wenig dieselbe auch einer Analyse von hysterischen
Zuständen an die Seite gestellt werden darf.
TTT- Arbeiter Friedrich W. zu S., 25 Jahre alt, consultirte mich am 19. X.
1896. Character der Krämpfe: Plötzliches Hinfallen (z. B. auf dem Perron der
Pferdebahn), Bewusstlosigkeit, Amnesie (weiss nicht, dass hinfiel und wie nach
Hause gekommen), gelegentlich Zungenbiss. Weiss keine Belastung anzugeben,
keine Gelegenheitsursache. Als AbnormiIÄt wird ein sehr starker Patellarreflex
mit Erschütterung des ganzen Körpers constatirt — sonst nichts Abnormes.
Die Hypnose gelingt, er ist fast somnambul, hat jedenfalls nach dem Erwachen
keine Erinnerung an eine Unterredung in der Hypnose. Er giebt in Hypnose auf
Befiragen an, dass er vor dem Anfall und während desselben Feuerflammen, die
er auch als Gespenster bezeichnet, sieht. Es blieb dies die einzige Sitzung, er
blieb dann aus der Behandlung weg.
IV. Arbeiter (in einer Zuckerraffinerie) H. zu S., 24^/2 Jahr alt, kam am
23. IX. 1897 in meine Behandlung. Mutter war epileptisch. Er hat leichte und
schwere Anfälle, erstere mit Schwindel und Geistesabwesenheit, letztere mit Um-
fallen und Zungenbiss. Hat bis zum zweiten Lebensjahre Krämpfe gehabt und
jetzt seit 4 Jahren wieder.
68 W. Hilgcr.
Hypnose 24. IX. 1897. (Notiz: er hallucinirt sehr). Er giebt an, während
eines Anfalls zu einem Mitarbeiter gesagt zu haben: „Wo soll ich denn die Kläre
(Symp) hernehmen"' — vor dem Anfall hat Jemand Kläre verschüttet und er hat
sich geärgert „über die Schweinerei".
2. Fernerer Anfall : Er hat am Patemosterwerk Reinigung vorgenommen. Die
Mädchen auf der Etage darüber haben auch reine gemacht und haben seine
Maschine bespritzt, da hat er Anfall bekommen und im Anfall gesehen, wie Wasser
gespritzt wurde.
3. Fernerer Anfall : Es hat ihm Jemand gesagt, deine Braut ist ja im Kranken-
hause, sie hat sich verbrannt. Da hat er im Anfall die Braut im Krankenhanse
gesehen (obgleich sie gar nicht im Krankenhause war) und sie hat ihm Vorwürfe
gemacht, weshalb er sie nicht besuche.
4. Fernerer Anfall: Seine Bauswirthin hat ihm gesagt, sie köime heute kein
Mittagbrot kochen, er solle sich Kaffee kochen — da hat er in der Fabrik Anfall
bekommen und nach dem Anfall in die Säle hineingerufen : „Mittag" — obgleich
es noch viel Zeit vor Mittag war (Controle dieser Aussagen fehlt).
Behandlung: Er schlief täglich zwei Stunden in Hypnose. Ein Mitarbeiter
gab (am 4. X. 97) an, dass er jetzt lustig und munter sei, während er früher tief-
sinnig gewesen sei.
Vom 12. X. 1897 ab konnte er nur alle 2 Tage kommen. Am 8. XI. 1897
erfahre ich, dass er unsolide gewesen ist. — Die Behandlung wird abgebrochen —
eine bemerkenswerthe Abnahme der Anfälle ist nicht notirt.
V. Herr Ba. aus D., 31 Jahre alt, tritt in Behandlang sm 31. XII. 1897.
Schwere convergente und gleichartige Belastung. Als Kind schon Anfälle gehabt,
die Anfölle wurden stärker seit dem 16. Lebensjahre. Häufigkeit der Anfälle:
Alle IVf — 2 Monate. Ich beobachte Anfälle mit Zungenbiss und Durchnässung
seines Ruhebettes.
Er gelebt an, nach den Anfällen „Bilder** zu sehen, die er auch als Kind
„gehabt** hat (sieht seine verstorbene Mutter), er wird davon erschreckt.
In der Hypnose theilt er später noch mehrere Schreckbilder mit : Beerdigung,
wie er solche auf dem Lande gesehen hat, eine Leiche, weissgekleidet, mit rothen
Backen, Schlangen in seinem Arm (Gefühl, als wenn der Arm platzen würde), ein
Posten, der ihn beobachtet, eine Maus, alles dies hat ihn mit unerklärlicher Angst
erfüllt. Er erzählt diese Eindrücke sehr ausführlich, während er vor der Hypnose
und auch zunächst in der Hypnose angab, „ich kann das so gar nicht sagen, aber
S--4 Stunden nach dem Anfall, da hätte ich es gekonnt**.
Der Grad der Hypnose ist schwer anzugeben, die Amnesie konnte nicht sicher
constaürt werden, wohl aber gelegentlich das Fehlen derselben, und habe ich auch
den Eindruck, dass er bei Befolgung der Suggestion der Katalepsie sein Bewusst-
sein mitwirken liess. Man würde also wohl nur von leichter Hypotaxie sprechen
können. Er wurde 6 Wochen hindurch täglich 6 Stimden (Sonntags etwa 3 Stunden)
hypnotisirt. Es gelang, seinen obstipirten Stuhl zu regeln mit Hülfe von suggerirtem
„Pulver** (Aqua fontana), Verbalsuggestion, Faradisation und Reiben des Abdomens
— die Anfälle wurden nicht beeinflnsst.
VI. Arbeiterin Charlotte B. zu S., 27 Jahre alt, kam am 17. I. 1898 in meine
Behandlung ; Mutter ist Potatrix und Verbrecherin. Patientin leidet an Anfällen seit
Zar Xasuistik der hypnotischen Behandlung der Epilepsie.
59
10 Jahren. Charaoter der AnfiUle (nach der Beschreibung ihrer Hanswirthin):
Plotdieh starrer Blick, sofortiges Hinfallen, Bewusstlosigkeit, CouTulsionen, Schaum
vor Mund, Zungenbiss. Dauer des Anfalls V4 Stunde, dann 1 Stunde lang Ver-
wiimng. Häufigkeit der Anfalle: Alle 4 Wochen. £s gelingt nicht, eine Hypnose
lu endelen, welche einen leichten Grad von Somnolenz überschritte. — Nachdem
de einige Tage rar Behandlung gekommen ist^ auch während dieser Zeit einen
Anfall gehabt hat, bleibt sie weg.
Vll. Alma Oe., Oekonomentochter aus Z., 22 Jahre alt, kommt am 1. VI.
1898 in meine Behandlung. Keine hereditäre Belastung zu eruiren. Die Anfälle
bestehen seit dem 12. Lebenqahre, waren früher viel schlimmer (Conyulsionen.
Sehaum Tor dem Mund, Zungenbiss, Urinabgang), jetzt, nach Angabe der Stief-
mutter, tritt nur kurze Bewusstlosigkeit auf mit Umfallen, kurzer Absence, nachher
Amnesie (zwei solcher Anfalle wurden auch von mir beobachtet). Häufigkeit der
Anfälle: Etwa alle 8 Tage. Die Untersuchung ergiebt keine Abnormitäten. Die
Menstruation bleibt häufig aus. Grad der Hypnose: Leichte Hypotaxie.
Sie wird 5 Wochen hindurch in täglich 2 hypnotischen Sitzungen (jede zu
2 Standen) behandelt.
Der Eintritt der Menstruation wird suggerirt, aber ohne greifbaren Erfolg,
da dieselbe erst nach 3 Vt wöchentlicher Behandlung eintritt.
Die Anfalle werden nicht beinflnsst.
Kach einem Anfall am 14. VI. 1898 mache ich den Versuch einer Analyse. Sie
giebt an, sich im SohlafiEimmmer (in der Wohnung ihrer Tante) aufs Bett gelegt
und die Tante gerufen zu haben. — Sie sagt bei dieser Gelegenheit, dass sie bei
einem früheren Anfall (an meiner Wohnung) auch nach mir gerufen habe, ich hätte
es aber nicht gehört (ich war nicht zugegen als der Anfall begann und kam erst
iIHiter hinzu). Dabei hat sie keine Erscheinungen gehabt, sie hat nur gefühlt, wie
es ihr in der Brust so hoch kam.
Ich £Ei88e die wesentlichen Punkte zusammen:
'S
1
<
•«3
0
2
0
a
S
an
a
1
Dauer der
Erkrankung
Schwere der
Anfalle
Häufigkeit
der Anfälle
Grad der
Hypnose
Dauer der
Hypnosen
am Tage ; im
Ganzen :
Dauer der
Behandlang
Resultat der
Behandlung
L
22
9
Arbei-
sehr
1 Jahr
leicht
meist
Som-
4 Monate
6 Monate
Besserung
terin
genug
und
tätlich
mehrere
namb.
lang 7—8
mittel-
Stunden,
1
schwer
Male
später
4 Standen
n. !22
1
</
Arbeiter
gering
13 Jahre
sehr
schwer
täglich
Som-
namb.
6 Monate
lang 11
Stunden,
später
1-2-3
2Vi Jahre
wesent-
liche
Besserung
.
Stunden
60
W. Hilger.
1
s
o
09
p
08
bo
P
1
Dauer der
Erkrankung
Schwere der
Anfälle
Häufigkeit
der Anfälle
Grad der
Hypnose
Dauer der
Hypnosen
am Tage; im
Ganzen :
Dauer der
Behandlung
Resultat der
Behandlung
nr.
26
0^
Arbeiter
0 oder
gering
—
—
—
Fast
Som-
namb.
—
—
IV.
24V,
o^
Arbeiter
schwer
gleich-
artig
4 Jahre
schwer
etwa
2 mal
wöchentl.
Som-
namb.
2 Stunden
2Vs Honate
0
V.
31
o^
Fabrik-
Besitzer-
Sohn
sehr
schwer
con-
yerff.
und
gleich-
artig
seit
Kindheit
schwer
alle
1 2Mon.
Hypo-
taxie
5 Stunden
6 Wochen
0
VI.
27
9
Arbei-
terin
schwer
17 Jahre
schwer
aUe
4 Wochen
Som-
nolenz
2 Stunden
einige Tage
0
VII.
22
9
Oeko-
nomen-
Tochter
0 oder
gering
10 Jahre
mittel-
schwer
alle
Woche
Hypo-
taxie
4 Stunden
3Vi Wochen
0
Wir sehen in den Fällen I und II die Thatsache erhärtet, dass
die hypnotische Behandlung im Stande ist, das Krankheitsbild der ge-
nuinen Epilepsie im günstigen Sinne zu beeinflussen.
In Bezug auf die Frage, ob eine psychische Thätigkeit vor, während
und nach den Anfallen reproducirt werden kaun, fand ich folgendes:
Fall I. Die Patientin giebt kurze Ausrufe (Fragen, Ausrufe der
Abwehr) während des Anfalles von sich. Es gelingt in somnambuler
Hypnose nicht, einen psychischen Process, der diesen Ausrufen zu
Gnmde läge, zu reproduciren. Auch alle sonstigen Versuche, die An-
fälle auf psychische Traumen zurückzuführen oder überhaupt mit psy-
chischen Vorgängen in Verbindung zu bringen oder psychische Vor-
gänge während derselben nachzuweisen, sind vergeblich.
Fall n. Patient wird in somnambuler Hypnose aufgefordert, zu
erzählen, wie er einen Anfall bekommt. Er antwortet : „ist von Schrecken
gekommen^ und theilt die Geschichte eines psychischen Traumas mit,
welches er in seiner Jugend erlitten. Er beschreibt Erlebnisse vor,
während uud nach den Anfallen, die er in sinnlicher Lebhaftigkeit
wieder vor sich sieht. Diese Scenen sind mit Hallucinationen aus der
Scene des psychischen Traumas vermischt Ich forsche dann bei seinen
Zur Kasuistik der hypnotischen Behandlungf der Epilepsie. 61
Angehörigen und sonstigen Zeugen jener Anfalle nach und constatire,
dass jene Scenen sich nicht so ereignet haben, wie er sie dargestellt
hat. Nur einmal ist eine gleichgültige Aussage eines dem Anfalle bei-
wohnenden Verwandten richtig wiedergegeben. Schliesslich constatire
ich bei einem von mir selbst beobachteten Anfalle eine absolut unheil-
bare Amnesie.
Fall m. Patient giebt in fast somnambuler Hypnose eine Dar-
stellung Ton optischen Erscheinungen, die bei ihm vor und während
des Anfalles auftreten.
Fall ly . Patient erzählt in somnambuler Hypnose psychische Ein-
wirkungen, welche jedesmal den Anfällen vorhergegangen sind. Er
giebt an, im Anfall Hallucinationen gehabt zu haben, welche mit diesen
Einwirkungen im Zusammenhang stehen und nach dem Anfall motorische
Entladungen, die ebenfalls aus diesen Einwirkungen resultiren. Eine
Controle dieser Angaben liegt nicht vor.
Fall y. Patient theilt in hypotaktischer Hypnose Schreckbilder
mit, welche ihn nach den Anfällen gequält haben.
Fall yi. Keine EnquMe vorgenommen.
Fall yil. Patientin macht in hypotaktischer Hypnose die Mit-
theilung, dass und wo der Anfall stattgefunden. Sie kann femer nur
angeben, „dass es ihr in der Brust so hoch kam^.
Diese Resultate sprechen, soweit sie positiv verwerthbar sind, gegen
die Annahme der Heilbarkeit der Amnesie bei genuiner Epilepsie.
Referate und Besprechimgen.
Q. W.PatridCf Some Pecaliarities of the Secondary Personality.
Psychol. Rev. V. Nr. 6. 1898.
Der Verf. beschreibt automatische Aeusserongen (automatic utterances) dreier
von ihm untersuchter sogenannter Medien. Die Arbeit verdient Beachtung wegen
der Tendenz, aus welcher er derartige Erscheinungen zu erklären versucht. Seine
Forderungen lassen sich dahin zusammenfassen, dass man nicht immer wieder die
sogenannten berühmten Fälle untersuchen soll (P. denkt wohl besonders an den in
letzter Zeit viel besprochenen Fall der Mrs. Piper; vergl. Rieh. Hodgsen, A
further Record of Observations of Certain Phenomena ofTraiice,
Proceedings of the Society for Psychical Research Part XTCXTTT, Vol. XIII, Feb. 1898
u. a.), sondern dass man eine grössere Anzahl möglichst einfacher Fälle stndiren sollte,
um, da doch bei allen sich ungefähr die gleichen Merkmale zeigen, auf diese Weise
eine Erklärung für die complicirteren zu gewinnen. Es dürfte daran erinnert
werden, dass in Amerika dem Studium dieser Erscheinungen in letzter Zeit viel-
fache Beachtung geschenkt worden ist (vergl. Hariow Qale, Psychical Re-
search in American Dniv er siti es, Proceedings etc. Part XXXIII, VoLXIIL
Feb. 1898).
Diese sich eigentlich immer wiederholenden Merkmale sind nach Patrick
unter anderem: suggestibility , fluency, absence of reasoning power, exalted or
heightened memory, exalted power of constructive imagination, a tendency to vul-
garity or mild profanity, the profession of „spirit** identity and of supematural
knowledge, a certain faculty of lucky or supematural perception .... which . . we
may call a kind of brilliant intuition**. Es muss ferner hervorgehoben werden, dass
P. alle telepathischen und spiritistischen Erklärungs weisen ausdrücklich verwirft. Er
scheint der von Mr. Podmore gegebenen Erklärung zuzuneigen (Studies in
Psychical Research, London, Kegan Paul, Trench, Trübner & Co. New York,
S. P. Putman's Sons 1897. pp. 458. Eine Besprechung dieser Arbeit von Andrew
Lang befindet sich in dem oben erwähnten Februarhefte der Proceedings etc.
p. 604) : ''One cannot indeed fall to be impressed by the similarity of these traits
to what we know or conjecture about the primitive mind." P. spricht hier mit
Podmore von ''instances of survival or reversion'* und sagt zum Schluss, ohne
eine bestimmte Theorie aufstellen, sondern vielmehr nur den Weg einer Unter-
Keferate uad Befprechongen. 63
luchnngBinethodik zeigen sa wollen : ^Still other peooliaritieB suggest the sune
theory. such aa the extreme niggestibility and motor force of ideas, marlu ofaato-
matinn and of the hypnotic Btatei and at the same time characteiistio of the child
and taYage mind. In dose relation to this is the peculiar intimate oonneotion
between ideas and organic, natritive and eircnlatory proeesses, best shown in
hypnosiB, and common to this group of phenomena. In view of saoh facta as
these, certain of the more simple physiological theories of double personality gain
oonsiderable plausibility, such, for instanoe, as the revival of disosed and outgrown
brain tracts, partieularly perhaps those of the leas specialized hemisphere. The
frequent appearance in automatic writing of Spiegelschrift, which occurs also
among children, lends some support to this yiew."
So sehr ich einerseits mit der henrorgehobenen allgemeinen Tendenz meines
Freundes Patrick einverstanden bin, so schwer wird es mir andererseits, in diesen
und ähnlichen Ausführungen eine wirkliche Erklärung der in Rede stehenden Er-
scheinungen oder auch nur den Weg zu einer solchen erblicken zu können. Mir scheint
vielmehr, dass eine genaue Prüfung des allgemeinen psychischen Zustandes der be-
treffenden Medien auf Orund der Functionen des normalen Bewusstseins und ihrer
gesetzmiissigen Beziehungen die erste Bedingung und der Ausgangspunkt für den
Erklärungsversuch dieser Erscheinungen sein müsste. Mir scheint weiter, dass die
wissenschaftliche Behandlung der Hypnose, wie sie namentlich auch von den Heraus-
gebern dieser Zeitschrift betrieben wird, auf die berichteten Erscheinungen einiges
Licht werfen dürfte. Ob dies bisher in hinreichendem Maasse geschehen ist, scheint
mir einigermaassen zweifelhaft. Patrick wie auch Hodgson und andere er-
^^fanen die Hypnose, ohne sie aber, wie mir scheint, erschöpfend auszunutzen. Ich
glaube, es bedarf hiezu eines geübten und erprobten Spezialisten. Fassen wir
mit Wandt die Suggestion auf als „Association mit gleichzeitiger Verengerung
des Bewusstseins auf die durch die Association angeregten Vorstellungen (Hypno*
tismus u. Suggestion, Phil. St. Bd. 8) und nehmen wir weiter an, dass schon der blosse
Vorsatz oder das Verlangen, ein solches Experiment anstellen zu wollen, im Sinne
einer Suggestion oder Autosuggestion wirken kaim, so wird schon dadurch der
hypnotische Zustand bei diesen Personen in mehr oder minder hohem Grade hervor-
gerufen. Die einseitige Richtung der Aufmerksamkeit auf bestimmte, in irgend
einer Weise zu Stande gekommene abnorme Vorstellungsgruppen täuscht dann leicht
das vor, was Patrick und auch vor ihm andere eine secundäre Persönlichkeit nennen.
Die Annahme einer solchen scheint mir daher unnöthig. Wie leicht in der Hypnose
Vorstellungsreihen wachgerufen werden können, die im normalen Zustande ver-
gessen sind, ist bekannt. Es ist hierbei gleich, ob diese Vorstellungen ursprünglich
in der Hypnose suggerirt oder sonstwie durch das normale oder anormale Be-
wusstsein erworben wurden. Besonders der 3. der unten näher beschriebenen Fälle
Patrick's scheint mir durch die Annahme einer (vielleicht nur partiellen) Hyp-
nose durchaus erklärlich. P. giebt an, dass Henry W. leicht zu hypnotisiren war.
Es ist auffallend, wie oft , Jjaton'' (der Name des angeblichen Geistes) auf das letzte
Wort der Frage reagirt. Vielfach durchkreuzen sich die suggerirten Vorstellungen
und ihre Theile mit solchen, die gleich anfangs vorhanden waren. Henry W. ist
schon früher einmal hypnotisirt worden. Man erfährt nicht, was in diesem Zustande
mit ihm geschehen ist. Eine Verwandte von ihm war Spiritistin. Es ist wahr-
scheinlich, dass, obwohl er selber nicht Spiritist ist und keine spiritistische Litte-
64 Aeferate und Besprechungen.
ratur- liest, doch aus jener Zeit Vorstellungen in ihm latent sind, die im Zustande
des automatischen Schreibens leicht geweckt werden. Patrick koimte nichts
über den angenommenen Namen Laton erfahren. Trotzdem dürften die constant
wiederkehrenden Vorstellungen ursprünglich auf' eine nicht mehr zu ermittelnde Weise
mit diesem Namen associirt gewesen sein. Man vermisst in Fatrick's Bericht
nähere Angaben über den Zustand des Henry W. während des Experimentes. War
er sich dessen, was er las, klar bewusst? Wie schlug er das Blatt um, wenn er
mit der einen Hand schrieb und in der andern das Buch hielt?
um auf die übrigen beiden Fälle eingehen zu können, müssten die Angaben
etwas ausführlicher sein. Alle 3 Fälle mögen nachstehend kurz beschrieben
werden :
Der erste Fall betrifft ein weibliches Medium, das P. in einer kleinen Stadt
des Westens der Vereinigten Staaten fand. P. ist sicher, dass diese Frau keine
Betrügerin war. Sie gerieth zeitweise „into a trance^'. Nach dem Erwachen ist
sie sich der Aeusserungen, die sie in diesem Zustande gethan, nicht mehr bewusst.
Sie nimmt in demselben die Persönlichkeit eines Quäkerarztes oder eines kleinen
Mädchens Emma an. Beide Persönlichkeiten gaben an, Oeister verstorbener Men-
schen mit übernatürlichem Wissen begabt zu sein. Verf. unterhielt sich eine
Stunde lang mit „Emma^^ Diese erkannte den W^ohnort und die Beschäftigung
des Verfassers.
Der 2. Fall Patrick's betrifft eine automatische Schreiberin. Sie gab während
des automatischen Schreibens an, von dem Geiste ihrer verstorbenen Mutter be-
seelt zu sein. Auf Patrick's Frage schrieb sie correct, dass er 3 Schwestern und
2 Brüder habe, dass die Brüder beide jünger seien als er und dass eine der
Schwestern jünger, die beiden anderen aber älter seien als er. Beim Schreiben der
Namen der Schwestern wurde anfangs ein Versehen gemacht, das aber später
verbessert wurde.
Der 3. Fall des Verf. betrifft einen seiner Studenten, Henry W., der ebenfalls,
wie schon oben bemerkt, ein automatischer Schreiber war. Er behauptete, auto-
matisch schreibend, der Geist eines gewissen Bart Laton zu sein. Um in den Zu-
stand des automatischen Schreibens zu gerathen, vertiefte sich die Versuchsperson
in ein interessantes Buch oder in eine Zeitung, während die rechte Hand auf einem
Tische ruhte und auf die gestellten Fragen hier die Antworten niederschrieb.
Dr. F. Kiesow -Turin.
EtUenburg, Ä.j üeber Arbeitscuren (Beschäftigungscuren) bei
Nervenkranken. Die Therapie der Gegenwart. 1899, 1.
Der Verfasser warnt vor den allzu grossen Hoffnungen, die neuerdings an die
Behandlung Nervenkranker durch Erziehung zur Arbeit, wie sie durch die bekannten
Anregungen Moebius' mehr als früher in der psychischen Therapie zur Discussion
gestellt worden ist, geknüpft werden. Trotz seiner sceptischen Haltung erkönnt
Eulenburg die Bestrebungen und Erfolge des Ingenieurs Grohmann, der in
Zürich unter den Anspielen Forel's ein in diesen Blättern schon eingehender ge-
würdigtes Beschäftigungsinstitut gründete, rückhaltslos an. Nur rechnet er die
Erfolge des Laien Grohmann mehr dessen pädagogischem Geschick und auf-
opferungsvollen Hingabe als der Curspecialität selbst zu.
G r o t j ah n- Berlin.
Kritische Bemerkungen über den gegenwartigen Stand der Lehre
vom Hypnotismus.
Von
Dr. philos. Leo Hlrschlaff, Arzt in Berlin.
(2. FortBotzang.)
Wir kommen zum theoretischen Theile unserer Ausführungen. Der
erste Punkt, der uns hier beschäftigen soll, ist der alte Streit zwischen
der Schule Charcot's und der Schule von Nancy. Seitdem Del-
boeuf auf dem 1892 er Congresse für experimentelle Psychologie in
London den paradoxen Ausspruch gethan : ,,11 n'y a pas d'hypnotisme,
il n'y a qua de la Suggestion'', schien es längere Zeit, als wäre der
Streit endgültig zu Gunsten der Nancyer Schule entschieden. In der
neueren Literatur jedoch tauchen allmählich wieder Stimmen auf, die
die physiologische Auffassung Charcot's aufs Neue zu beleben und
zu vertheidigen suchen. Während Bergmann ^^^) im Sinne der
Nancyer Schule die Hypnose als einen passiven Ruhezustand des Ge-
hirns bezeichnet und nur einen graduellen Unterschied der Suggestiv-
Phänomene gegen die Erscheinungen des normalen Wachzustandes gelten
iässt, wenden Voisin^**) und Schaf f er ^^*) sich zum Theil wieder
der somatischen Auffassung Charcot's zu. Voisin beschreibt einen
Fall Yon hysterisch-epileptischen Convulsionen, den er ohne Hülfe der
Schlaf Suggestion, nur mit Hülfe des rotirenden Spiegels von Luys
hypnotisirte ; doch ist nicht abzusehen, warum die Autosuggestion des
Schlafes bei diesem Verfahren ausgeschlossen sein sollte. Eine syste-
matische Untersuchung über die physischen Erscheinungen in der
Hypnose hat S c ha ff er veranstaltet. Er findet als constantes Symptom
der Hypnose eine sensomusculäre Uebererregbarkeit, die er ebenso wie
Zeitschrift für HypnotismuB etc. IX. ^
66 Leo Hirschlaff.
die Suggestibilität als eine Theilerscheinung der Hypnose aufhsst. Auf
diese Weise versucht er, den Gegensatz zwischen den beiden Schulen
zu Yermittehi. Auch wir glauben, dass nicht Alles, was in der Hypnose
beobachtet wird, rein psychisch durch Suggestion zu Stande kommt,
sondern dass dabei physiologische Momente mitwirken, die von der
Suggestion relativ unabhängig sind. Auch der Eintritt der Hypnose
kann nach unserer Meinung ohne ausdrückliches, bewusstes Auftreten
einer Schlafsuggestion oder Autosuggestion sich vollziehen, wie auch
Vogt bei der später zu besprechenden Theorie des Schlafes gegen
Li^beault und Delboeuf bestätigt.
Es folgen einige bemerkenswerthe Untersuchungen über die physio-
logischen und psycho-physiologischen Erscheinungen der Hypnose. Zu
diesem Kapitel hat Döllken^^^) in erster Reihe einige treffliche Bei-
träge geleistet. Er fand in der Hypnose eine Abnahme der Perceptions-
fähigkeit der verschiedenen Sinne in bestimmter Reihenfolge; zuletzt
wurden stets das Grehör und das Empfindungsvermögen der Haut beein-
trächtigt Im Ganzen stellten sich die physiologischen Veränderungen in der
tiefen Hypnose folgendermaassen dar: 1. Das Auge war nach oben gerollt
in Convergenzstellung ; die Pupillen mittelweit, auf Lichteinfall und Acco-
modation langsamer reagirend als sonst; anscheinend fand sich concentrische
Einengung des Gesichtsfeldes; der Augenspiegelbefund war negativ;
die Bewegungen der Augen normal; Sehschwäche bis zur Amaurose.
2. Die Prüfung des Gehörorganes ergab eine Herabsetzung der Gehör-
schärfe. 3. Das Gleiche liess sich bei der G^ruchsprüfung feststellen.
4. Die Untersuchung des Tastsinnes der Haut ergab eine Herabminde»
rung der Empfindlichkeit des Berührungssiunes, ebenso der Schnelligkeit
der Localisation, und einen um 1 — 5 cm grösseren Irrthum bei der
Localisation als in der Norm; ferner Hypalgesie^ Thermhypästhesie,
Lageempfindung der Glieder häufig aufgehoben, nach Besinnen dagegen
vorhanden ; ebenso liess sich bei der Sensibilitätsprüfung durch Lenkung
und Concentration der Aufmerksamkeit die Perceptionsfähigkeit schon
nach 30—60 Secunden steigern. 5. Die Bewegungen in der Hypnose
waren träger als im Wachzustande. Auch eine Erschwerung des
Sprechens wurde vereinzelt in der Hypnose beobachtet. Bei plötzlichem
Eintritt der Hypnose oder plötzlichem Tieferwerden derselben zeigte
sich ein subjectives Hitzegefühl, dessen Grund wir allerdings in einer
accidentellen Autosuggestion erblicken. Derartige Autosuggestionen
dürften sich nach unserer Meinung nie vermeiden lassen, wo ein sub-
jectiv-wissentliches Verfahren der Beobachtung angewendet wird und
Kiitisdie Bemerkungen über d. gegen wärt. Stand d. Lehre ▼. Hypnoiismus. 67
acherlieh zum Theil angewendet werden mtiss. So verdankt z. B.
DöUken einen Theil seiner Beobachtungen dem Umstände, dass er
•eine Hypnotiker bittet, alles Besondere, was sie fühlen oder bemerken,
in oder nach der Hypnose ihm^ mitzntheilen. Wir meinen, dass die
anf diese Weise gewonnenen Beobachtungen einer sehr strengen Kritik
bedürfBn, besonders wenn sie sich auf den Gansalzusamroenhang zweier
Encheinongen beziehen. Eine weitere, werthyoUe Beobachtung yon
Döliken betrifft die Erscheinungen, die als Folge einer suggerirten
Anästhesie irgend eines Sinnesgebietes auftreten. Es fand sich dabei
stets auf der gleichen Seite: 1. Aufhebung des Schmerz*, Tast- und
Temperatursinnes; 2. Verminderung bis Aufhebung des Kniephänomens
bei erschlaffter Musculatur; Unfähigkeit, feinere Bewegungen auszu-
fahren; 4. Gehstörungen; 5. Muskelkraft =» 0 am Dynamometer; con«
oentrische Einengung des Gesichtsfeldes ; 7. Hypacousie ; 8. Hyposmie ;
9. Lageempfindung der Glieder undeutlich bis aufgehoben. Aehnliche
Beobachtungen sind schon früher von y. B e c h t e r e w und L a n n e g r ä c e
yeröffentlicht worden.
Crocqfils^^^) hat den Nachweis erbracht, dass die Stärke der
Abnahme jeder Form der Sensibilität und der Ideenassociation im ge-
raden Verhältnisse zur Tiefe der Hypnose steht. BramwelP^^ hat
Zeitscfaätzungsyersuche an Hypnotisirten yeranstaltet : die Suggestion,
nach 4335 oder 11470 Minuten ein Kreuz auf ein yorliegendes Blatt
Papier zu machen, realisirte sich stets, gleichyiel ob die Kopfrechnung
gestattet oder imterdrückt wurde, mit einem Fehler, der 5 Minuten
nicht überstieg. Bei Gelegenheit anderer Experimente gelang es dem-
selben Forscher, die Zahl und Spannung des Pulses zu beeinflussen,
die Unterschiedsempfindlichkeit der einzelnen Sinne deutlich zu steigern
und die Fähigkeit der Zeitschätzung, ebenso wie das Gedächtniss er-
heblich zu vermehren, y. Bechterew ^^^) prüfte die Dauer einfacher
psychischer Vorgänge in der Hypnose bei Hysterischen und fand die
einfache Beactionszeit und die Erkennungszeit verlängert, die Zeit des
Bechnens mit einfachen Zahlen dagegen verkürzt; durch Suggestion
gelang es ihm, eine Verkürzung der Beactionszeiten herbeizuführen,
unsere eigenen Erfahrungen stimmen mit diesen Versuchsergebnissen
nicht überein. Wir fanden keine Veränderung der einfachen psychischen
Vorgänge in der Hypnose — ein unwissentliches Versuchsverfahren
vorausgesetzt; — auch gelang es uns nie, durch speciell darauf ge-
richtete Suggestionen eine Verändenmg zu erzielen. Doch sind unsere
Experimente in dieser Beziehung noch nicht völlig abgeschlossen.
68 1^60 Hirschlaff.
Patrizi^^^) hatte das seltene Glück, mit einem Knaben experimen-
tiren zu können, der eine Schädelö£fnung zeigte. Er studirte die
Beziehungen der Aufmerksamkeitscurve zur Curve der Yolumschwan-
kungen des Gehirns. Die Aufmerksamkeitscurye wurde in der Weise
erzeugt, dass längere 2jeit hintereinander in Pausen von 2 Secunden
einfache Schallreactionen ausgeführt und graphisch gemessen wurden.
Das Ergebniss der Untersuchungen wird dahin ausgesprochen, dass
zwischen den Schwankungen der specifischen Activität der Hirnzellen,
wie sie in den angegebenen Aufmerksamkeitsversuchen zum Ausdruck
gelangen, und den Schwankungen der Circulation im Gehirn, wie sie
den Volumenveränderungen desselben zu Grunde liegen, ein gesetz-
mässiger Zusammenhang nicht ezistirt.
Zur Auffassung der Träume hat Vogt^*^) einige werthvoUe Bei-
träge geliefert. Während F o r e 1 ein ununterbrochenes Träumen während
des Schlafes annimmt, behauptet Vogt, dass dies nicht der Fall sein
könne, da zur Entstehung der Träume eine üngleichmässigkeit der
centralen Erregbarkeit noth wendig sei; diese könne bei manchen Per-
sonen nicht zu Stande kommen, da sie sofort tief einschlafen. Vogt
unterscheidet mit Li^beault 2 Arten yon Träumen: 1. diejenigen des
oberflächlichen, 2. die des tiefen Schlafes. Den Träumen des ober-
flächlichen Schlafes liegt nach Vogt 's Theorie, die wir weiter unten
näher kennen lernen werden, eine di£fuse Herabsetzung der centralen
Erregbarkeit zu Grunde. Die auftretenden Erinnerungsbilder haben
die Intensität von Emfindungen, daher ist der Träumende kritiklos;
ferner ist der Inhalt dieser Träume unlogisch und unzusammenhängend
mit der Persönlichkeit, ev. ihr entgegengesetzt. Die Träume des tiefen
Schlafes, die Vogt zur Erklärung der früher erwähnten Erscheinung
der spontanen Somnambulie in der Hypnose heranzieht, zeichnen sich
dagegen durch Amnesie und motorische Aeusserungen aus. Ihnen liegt
ein einseitig eingeengter Bewusstseinszustand zu Grunde ; sie sind logisch
und Ton der Persönlichkeit des Träumenden abhängig. Die motorischen
Aeusserungen dieser Träume können in 3 Formen in die Erscheinung
treten: 1) als einfache Ausdrucksbewegungen, 2) als sprachliche Aeusse-
rungen, 3) als complicirte Handlungen. Wir können dieser Classi-
fication der Träume nach Vogt im Allgemeinen beistimmen, ohne
jedoch einen so scharfen unterschied in Bezug auf den Zusammenhang
der Träume mit der Persönlichkeit des Träumenden finden zu können :
auch in den Träumen der tiefsten Somnambulhypnose haben wir aus-
nahmsweise Erscheinungen angetrofien, die der Persönlichkeit der be-
KritiBche BemerknngeQ über d. gegenwärt. Stand d. Lehre v. Hypnotismoi. 69
treffeDden EraDken zweifellos eDtgegen gesetzt wareo, ohne dass es sich
am hysterische Symptome handelte.
Zwei Selbstbeoba(5htungen während des hypnotischen Zu Standes sind
yon Wetterstrand^^^) veröffentlicht worden; sie schliessen sich den
Beobachtungen an, die bisher von Obersteiner, Bleuler, Tatzel,
Vogt und Brodmann yeröffentlicht worden sind. Im ersten Falle
handelte es sich um einen Neurastheniker, der 3 Monate lang täglich
eine halbe Stunde lang hypnotisirt und dadurch tod seinen Beschwerden
geheilt wurde, die in Angtszuständen, Grübelsucht, Misstraueu, Un-
schlüssigkeit und Willensschwäche bestanden. Seine Beobachtungen
über die Hypnose stellen sich folgendermaassen dar : er fühlte, dass er
schlief; er hörte die fremden Stimmen und hörte sie doch wieder nicht;
er fühlte, dass er während des Schlafes eine grössere Macht über sich
hatte, als er geglaubt; dadurch trat eine Zunahme der Energie und
ein Gefühl von Glück und Kraft ein; die Suggestionen, die Wetter-
strand gab, wiederholte sich der Patient fortwährend in der Hypnose;
alle Experimente misslangen; als yornehmlichstes Resultat der wieder-
holten Hypnosen empfand und bezeichnet der Patient die Stärkung
seines Willens. Diese Beobachtung ist yorzüglich geeignet, die Be-
denken derer zu zerstreuen, die von wiederholten Hypnotisirungen eine
Schwächung des Willens befürchten. Auch in dem zweiten Falle der
We tters t ran d' sehen Veröffentlichung gab der Patient an, zu wissen,
dass er schlief, obwohl er den Zustand lieber als eine stille Ruhe, denn
als wirklichen Schlaf bezeichnen wollte ; als besondere Annehmlichkeit
des Zustandes empfand er, dass keine peinigenden Gedanken, keine
unangenehmen Phantasien und unklaren Seelenäusserungen, wie sonst
im wachen Zustande, vorhanden waren; auch ihm prägten sich die
Worte des Hypnotiseurs so fest ein, dass er auch im Wachzustande
öfters daran erinnert wurde, unsere persönlichen Erfahrungen an
Hypnotisirten, die ihre Beobachtungen über den hypnotischen Zustand
uns .unaufgefordert mittheilten, stimmen mit den gegebenen Schilderungen
Töllig überein.
Um die Theorie der Hypnose zu ergründen, hat man den hypno-
tischen Zustand seit Längerem in Parallele gesetzt zu dem natürlichen
Schlafe. Auch in der neueren Literatur ist die Frage nach der Iden-
tität Yon Schlaf und Hypnose mehrfach behandelt worden. Während
Forel beide Zustände im Wesentlichen für identisch hielt und Andere,
wie Kraepelin, Moll, Bernheim und Delboeuf mindestens eine
nahe Verwandtschaft zwischen ihnen gelten lassen wollten, behauptet
70 Leo Hinchlaff.
Döllken^ dasB Schlaf und Hypnose piincipiell yon einander
schieden seien : im Schlafe bestehe Desorientining über Zeit und Raum^
dagegen in der Hypnose nicht; in der Hypnose dagegen sei Rapport
und gesteigerte Suggestibilität, femer eine grössere Passivität als im
Schlafe, eine Verlangsamung des Ideenablaufes und eine geringere
Gefuhlsbetonung der Wahrnehmungen zu constatiren; endlich sei ea
möglich, die Personen nach Belieben in Schlaf oder Hypnose zu ver-
setzen. Auch Max Hirsch ^^^) spricht sich für eine Verschiedenheit
des natürlichen und künstlichen Schlafes aus, weil im normalen Schlafe
die Aufmerksamkeit gleichmässig yertheilt, in der Hypnose dagegen
einseitig concentrirt sei. Li6beault^^^) und Vogt dagegen plai-
diren für eine Identification beider Zustände. Li6beault giebt zwar
zu, dass kleine unterschiede zwischen beiden vorhanden seien, wie z. B.
das Fehlen des Schlafbedürfnisses bei der Hypnose, sowie die ilr-
scheinungen des Rapportes und der Katalepsie; indessen überwiegen
nach ihm die Aehnlichkeiten, die er in der Verlangsamung bis zum
Aufhören der Denkthätigkeit und der Bewegung, sowie in der Un-
empfindlichkeit für Sinnesreize, dem Augenschluss und der Entstehung
aus der Schlafvorstellung erblickt, zumal da beide Zustände in einander
übergeführt werden können. Vogt anerkennt im gleichen Sinne nur
einen quantitativen Unterschied zwischen dem natürlichen und künst-
lichen Schlafe, die nach ihm beide, wie wir später sehen werden, in
einer Herabsetzung der Erregbarkeit der Hirnrinde bestehen. Nach seiner
Meinung ist der Mechanismus des Schlafes stets der nämliche, gleich-
viel wie derselbe ausgelöst wird ; der Rapport bildet keinen specifischen
Unterschied zwischen der Hypnose und dem Schlafe; im spontanen
Schlafe können ebenso wie in der Hypnose somnambule Bewusstseina-
zustände eintreten, die in eine Hypnose übergeführt werden können.
Auch das Argument MolTs, dass in der Hypnose abnorme Bewe-
gungen, wie sie bei Chorea, Athetose etc. sich vorfinden, nicht auf-
hören, während dieselben Bewegungen im natürlichen Schlafe sistiren,
wird von Vogt auf Grund mehrerer Beobachtungen widerlegt Endlich
wird von Vogt noch die plethysmographische Untersuchung ins Feld
geführt, die für das Einschlafen beim spontanen Schlafe die gleiche
characteristische Ourve zeigt wie bei der Hypnose. In dieser Hinsicht
hat Bfirillon^**) im Vereine mit Verdin in einem Falle von trau-
matischer Neurose die Untersuchungen V ogt's in Bezug auf die Pula-^
Athmungs- und Herzstosscurve bestätigt. Im Uebrigen leugnet auch
Vogt nicht die Verschiedenheiten der beiden Schlafzustände in Bezug
Krititclie Bemorknngeii über d. geganwärt. Stand d. Lehre v. Hypnotismoi. 71
auf Tiefe und AusdehDung der SchlafhemmuBg» Schnelligkeit des Ein-
tietens und begleitende Sensationen; aber er hält diese Unterschiede
f&r secundärer und rein quantitativer Natur. Nach unserer Meinung
mit unrecht. Denn wenn man sich an die klinische Beobachtung hält,
kann es nach unserem Dafürhalten keinem Zweifel unterliegen, dass
die Zustände des spontanen und des sog. provocirten Schlafes so weit
Ton einander yerschieden sind, dass eine qualitative Identification uns
unmöglich erscheint. Diese klinische Verschiedenheit erstreckt sich auf
alle 3 Phasen des Schlafvorganges : das Einschlafen, den Schlafzustand
selbst und das Erwachen. Das Einschlafen beim natürlichen Schlafe
geht mehr oder minder langsam von Statten, bei der Hypnose dagegen
nicht selten blitzartig schnell, auf den einfachen, suggestiven Befehl.
Der Zustand während des spontanen Schlafes ist durch eine gänzliche
Aufhebung des Bewusstseins ausgezeichnet, die sich später als Des-
orientirung über Baum und Zeit, Unbeeioflussbarkeit durch äussere
Beize und die Empfindung einer einfachen Lücke in der Bewusstseins-
kette offenbart; während der Hypnotisirte sicherlich bei Bewusstsein
ist, wenn dieses auch noch so sehr eingeschränkt sein sollte; ebenso
wie er über Baum und Zeit orientirt bleibt, durch äussere Beize be-
einfiussbar ist und trotz eventueller Amnesie mindestens die nachträg-
Uche Empfindung hat, dass etwas mit ihm vorgegangen ist, auf dessen
Einzelheiten er sich freilich nicht sogleich besinnen kann. Endlich
erfolgt das Erwachen aus dem spontanen Schlafe langsam und allmähUch,
während man die tiefste Somnambulhypnose durch das einfache Wort:
Wach! im Augenblick in den Wachzustand überführen kann. Diese
Unterschiede werden besonders in die Augen fallend, wenn man G-e-
legenheit hat, den spontanen Schlaf und den sonmambulen Zustand
bei einer und derselben Person zu beobachten. Dabei leugnen auch
wir keineswegs, dass zwischen beiden Zuständen manche, allerdings
mehr nebensächliche Beziehungen obwalten, unter denen die die Hypnose
meist begleitende Müdigkeit vielleicht die auffallendste sein dürfte.
Auch lassen sich manche üebergangsformen zwischen dem natürlichen
Schlafe und der Hypnose beobachten, die die Auffassung v. Schrenck-
Notzing's^'^) berechtigt erscheinen lassen, wenn er die hypnotischen
Zustande 1) in solche ohne Schlaf, 2) in solche mit Schlafillusion, 3) in
solche mit wirklichem Schlafe eintbeilt. Indessen glauben wir, dass
die Schlafahnüchkeit der Hypnose ein mehr accidenteUes Symptom, um
nicht zu sagen, eine suggestive Theilerscheinung des hypnotischen Zu-
standes sei, der sehr wohl auch, wie wir uns experimentell überzeugt
72 Leo Hinchlaff.
haben, aus dem ErscheinuBgscomplez fortgelassen werden kann, ohne
dass der Zustand aufhört, die characteristischen Kennzeichen der Hy-
pnose darzubieten; denn diese characteristischen Zeichen sind, wie wir
ausführen werden, wesentlich psychischer Natur. Ob es therapeutisch
zweckmässig ist, die psychische Zustandsänderung, die wir mit dem
Namen der Hypnose belegen, auf dem Wege der Suggestion bezw.
Autosuggestion mit denjenigen physiologischen Symptomen zu com-
biniren, die eine gewisse, mehr oder minder weitgehende Schlafahnlich-
keit repräsentiren, ist eine Frage, die hier nicht zur Erörterung steht,
die wir aber nicht ohne Einschränkungen bejahen möchten.
Die soeben gegebene Ausfuhrung leitet uns ungezwungen über zur
Theorie des Schlafes und der Hypnose. Wir referiren zunächst etwas
ausführlicher die Ansichten der Autoren über diesen Punkt, obwohl
sie in der Mehrzahl mehr interessante Speculationen und geistvolle
Hypothesen, als wahrhaft brauchbare und der filritik Stand haltende
Theorien darstellen. Eine psychologische Theorie des Schlafes stellt
LiSbeault^^*) auf. Er erklärt den Schlaf, im Gregensatze zum
activeu Wachzustande, als einen passiven Seelenzustand, in dem eine
Bewusstseinsspaltung nach 2 Richtungen hin stattfindet: 1) am Träg-
heitspole, wo die Aufmerksamkeit auf die Schlafvorstellung concentrirt
ist; 2) am Thätigkeitspole, wo die Aufmerksamkeit in verminderter
und ungeordneter Weise sich im Intellectuellen und Sinnlichen bethätigt.
Je tiefer der Schlaf ist, desto mehr büsst der Geist des Schlafenden
nach Liebeault die Fähigkeit ein, über genügend reflectorische Auf-
merksamkeit zu verfügen, um logisch denken und mit der gleichen
Schärfe und Willenskraft handeln zu können wie im Wachleben.
Während des — künstlichen oder natürlichen — Schlafes strömt die
Aufmerksamkeit aus allen Centren und Nerven auf den centralen Sitz
der Schlafvorstellung zu, während sie beim Erwachen zu den sensiblen
Nerven - Endapparaten zurückkehrt und zugleich das Erinnerungs-
bild des Erwachens erweckt Die psychischen Erscheinungen beim
Einschlafen verlaufen also in centripetaler, beim Erwachen in centri-
fugaler Richtung. Das Erwachen erfolgt, wenn die Aufmerksamkeit
den Weg in unser Gedächtniss und unsere Sinne gefunden hat. Diese
psychologische Theorie von der ungleichen Vertheilung der Denkthätig-
keiten auf 2 einander entgegengesetzte Pole findet eine physiologische
Analogie in dem Hinweis auf die einander entgegengesetzte Function
der Hirn- und Rückenmarkscentren, gerade so wie auch den psychischen
Vorgängen physiologische „Himdynamismen" parallel laufen. Zur
Kritische Bemerkungen über d. gegenwärt. Stand d. Lehre v. Uypnotismui. 73
Kritik dieser psychologischen Theorie haben wir zu bemerken, dass sie
▼or Allem der psychologischen Beobachtung widerspricht. Denn 1) existirt
im Schlafe niemals^ in der Hypnose aber überaus selten im Bewusstsein
eine Schlaf Vorstellung ; 3) ist die Aufmerksamkeit weder im Schlafe,
noch in der Hypnose yermindert und in ungeordneter Weise thätig, da
sie vielmehr im Schlafe gänzlich cessirt und in der Hypnose gesteigert
und concentrirt ist, wenn auch in einseitiger, durch die Suggestion be-
stimmter Richtung; nicht einmal die reflectorische Aufmerksamkeit
braucht in der Hypnose vermindert zu sein, obwohl wir im Allgemeinen
aus Zweckmässigkeitsgründen bestrebt sein werden, dies durch specielle
Suggestion zu erreichen. Die ganze „Theorie^ stellt daher nichts weiter
dar als eine unglückliche, den Thatsachen der Beobachtung wider-
sprechende Verbildlichung einer auch für sich selbst verkehrten, physio-
logischen Hypothese; denn warum im Schlafe die Himdynamismen
centripetal, im Erwachen dagegen centrifugal verlaufen sollen, muss
bis auf weiteren Beweis dahingestellt bleiben. Der Begriff der Bewusst-
seinsspaltung endlich, die womöglich noch ins „Unbewusste^ verlegt
werden soll, gehört nicht in eine wissenschaftliche Discussion.
Nach dieser .,psychologischen^' Theorie mögen uns eine Reihe
physiologischer Theorien beschäftigen. In erster Reihe ist hier Land-
mann^^^ zu nennen, obwohl wir uns vorbehalten müssen, eine aus-
führlichere Darstellung seiner Anschauungen erst bei der Besprechung
der Theorie der Hysterie zu bringen. Er behauptet, dass die Vorstel-
lungen von den subcorticalen Ganglienzellen, das sämmtliche Bewusstsein
dagegen von den Grosshim-Rindenzellen gebildet werde : eine vollständige
Hypnose sei daher bedingt durch eine künstlich herbeigeführte Functions-
unfahigkeit (Anämie) der sämmtlichen subcorticalen Ganglien und Him-
rindenzellen tmd beruhe auf einer Unthätigkeit der verbindenden Nerven-
faden. Die Kritik dieser Theorie soll später an dem bezeichneten Orte
erfolgen ; hier genüge die Bemerkung, dass der Nachweis einer Anämie
des Gehirns im Schlafe zur Zeit noch nicht einwandsfrei erbracht ist
und dass selbst mit diesem Nachweise das Problem noch nicht erledigt
sein kann, wenn nicht zugleich der Beweis geführt wird, dass die Him-
ämie die primäre Ursache und nicht ein secundäres Begleitsymptom
des Schlafes ist.
Auf den neuesten Forschungsergebnissen der Histologie des Central-
nervensystems basirt die Theorie des spontanen und hypnotischen
Schlafes von van de Lanoitte. ^'^) Nach Golgi und Ramon y
Cajal stehen die Nervenzellen untereinander nicht durch Continuität in
74 J^®o Hinchlaff.
Verbindung^ sondern durch einfache Contiguität der Endverzweigungen
der Achsencylinder einer Nervenzelle mit Protoplasmafortsätzen einer
anderen ; Lockerung oder Lösung des Contactes der Endbäumchen be-
dingt daher Hemmung oder Ausfall der Leitungsfähigkeit. Nun
beruhen alle Leistungen der Nervenelemente auf Schwingungen oder
Strömungen, deren Fortpflanzung sich nach Art der electrischen In-
duction Tollzieht. Es liegt daher die Annahme nahe, dass die functio-
nellen Störungen des Nervensystems, unter Anderem auch die Hypnose
und der normale Schlaf, auf einer Erschwerung oder Unterbrechung
dieser Contactübertragung, also auf einer Unmöglichkeit der Ableitung
von Reizen beruhen, die ihre physiologisch-anatomische Ursache in der
Verkürzung resp. gänzlichen Vernichtung der unter normalen Verhältr
nissen den Contact herstellenden feinsten Endverzweigungen der Neu-
rone hat. Diese Annahme ist leicht zu rechtfertigen, wenn man bedenkt,
dass die Nervenzellen nichts weiter als Amöben sind, die ihre Pseudo-
podien ausstrecken oder zurückziehen. Die Verläogerung resp. Aus-
sendung solcher fingerförmiger Fortsätze würde die Uebertragung des
nervösen Erregungsvorganges von einem Neuron auf ein anderes
erleichtem, eine lebhaftere Thätigkeit der Nervenfunctionen auslösen, die
sich auf motorischem Gebiete zu erhöhter Keflexerregbarkeit, Krämpfen,
Contracturen und Convulsionen, auf sensiblem Gebiete zu Parästhesien,
tityperästhesieu und Neuralgien, auf psychischem Gebiete endlich zu
hypomauischen, maniakalischen und deliranten Zufallen steigern kann;
während umgekehrt eine Zurückziehung dieser Bamificationen die
Lockerung und Verminderung der Communicationen zwischen den
Nervenelementen, in Folge dessen eine Erschwerung oder Aufhebung
der nervösen Leistungen verursacht, z. B. Anästhesien, Paresen und
psychische Hemmungen. Thee, Ca£fee, Tabak, Alcohol würde demnach
direct den Amöboismus der sich berührenden nervösen Endorgane
steigern, Morphin dagegen die Contactverbindungen lockern. Wie
Curare ausschliesslich die Endverzweigungen der motorischen Nerven
beeioflusst, so kann man annehmen, dass z. B. das Strychnin durch
Wirkung auf den oberflächlichen Contact der Nervenzellen- Veräste-
lungen die Veränderung der Reflexerregbarkeit hervorbringt: ebenso
könnten psychische Momente im Sinne eines Reizanstosses oder einer
Concentration der psychischen Thätigkeit auf ein einziges Geistesgebiet
wirken und die functionellen Zustände des Nervensystems verändern.
In diesem Sinne sollen die Suggestionen und der hypnotische Zustand
wirken. Nach van de Lanoitte wäre demnach der Hypnotismus
Kritisdie Bemerkungen über d. gegenwärt. SUnd d. Lehre t. Hypnoiismuf. 75
m Stande, ein Ausstrecken oder Zurückziehen der Protoplaemafort-
satze zu erzeugen, dadurch Hemmungscentren zu schaffen, krankhafte
Bahnen zu unterdrücken und unterbrochene Verbindungen wieder an-
zuknüpfen, kurz, die nervöse Induction herzustellen oder aufzuheben,
wo sie abnorm war, und in Folge dessen Contracturen, Lähmungen
und Schmerzen zum Verschwinden zu bringeo. Bevor wir auf eine
Sjritik dieser Theorie eingehen, müssen wir einer gleichen „histologischen**
Schlafilieorie Erwähnung thun, die von Pupin^^*) aufgestellt worden
ist. Auch nach ihm sind alle functionellen Leistungen der Nerven-
elemente an die Contactstellen, articulations, derselben zu verlegen;
die Endverzweigungen der Frotoplasmafortsätze der Nervenzellen sind
im Wachzustande in beständiger amöboider Bewegung. Im Schlafe
dagegen findet eine Erschwerung oder Aufhebung der Reizübertragung
statt, dadurch, dass die Protoplasmaverzweigungen den Contact mit den
Endbäumchen des benachbarten Achsencylinders aufgeben oder lockern,
indem sie entweder seitlich abweichen oder, nach Analogie der Tentakel
niederer Organismen, durch Contraction sich zurückziehen oder ver-
kürzen. Dieses Auseinanderweichen der Endverästelungen zweier Neu-
rone bewirkt eine Lücke in der Bahn, die so gross werden kann, dass
eine Erregungswelle dieselbe nicht mehr zu überspringen im Stande ist :
das nervöse Element kommt zur Ruhe, es schläft. Wie jedoch bei
hoher Spannung ein electrischer Strom trotz grossen Abstandes Funken
zwischen den beiden Polen übertreten lässt^ so vermag auch hier ein
stärkerer Reiz die Distanz zu überwinden ; der Erregungsvorgang dringt
bis zum Gehirn vor und verursacht dort entweder Unterbrechung des
Schlafes oder die Entstehung von Träumen. Die Localisation dieser
Functionshemmung sind die Verbindungen zwischen den peripheren
und centralen sensitiven Neuronen, aber auch innerhalb der Grosshim-
centren selbst, in den höheren Associationsbahnen. Die Entstehung
des Schlafes wird demnach von Pupin zurückgeführt: 1) auf Er-
schöpfung oder Ermüdung der nervösen Elemente; S) auf das Fern-
halten äusserer Reize. Nicht das Gehirn allein, sondern fast alle
Neurone schlafen; es giebt nicht nur einen Schlaf, sondern so viele
{»artielle Schlafzustände, als es Arten von Neuronen giebt.
Wir haben mit Absicht diese histologischen Speculationen in
breiterer Ausführlichkeit dargestellt, um zu zeigen, wie vortrefflich eine
Theorie allen Thatsachen, deren Elrklärung man von ihr erwarten darf,
gerecht werden kann, trotzdem die Theorie selbst auf einer nachweislich
falschen Grundlage aufbaut. Diese Erscheinung darf freilich nicht
76 Leo Hirschlaff.
wunder nehmen, wenn man bedenkt, dass an eine Theorie der nervösen
Functionen, die auf alle Beobachtungsthatsachen zugeschnitten sein
soll, im Grunde genommen nur eine einzige Forderung zu stellen ist:
d. i. zu erklären, auf welche Weise eine quantitative Veränderung —
Erleichterung oder Erschwerung, fiahnung oder Hemmung — der ner-
vösen Functionen zu Stande kommen kann. Zu diesem Behufe bieten
sich nun der wilden Speculation vielerlei Möglichkeiten dar. Man
könnte z. B. annehmen, dass die Erregungswelle, das Neurokym, nicht
einmal, sondern mehrfach in den Nervenbahnen hin- und herläuft, und
zwar je grösser der Reiz, desto häufiger und schneller, während im
Zustande der Ermüdung etwa eine chemische Veränderung der Nerven-
Substanz im Sinne eines Zäher- oder Kiebrigerwerdens derselben ein«
tritt, wodurch die Nervenwelle aufgebalten,' gehemmt werden muss.
Man könnte femer die Hypothese aufstellen, dass nach Art der Muskel-
contraction auch die Nervenfasern die Fähigkeit haben, an- und abzu-
schwellen, um auf diese Weise die Erscheinung der Bahnung und
Hemmung zu erklären. Man könnte endlich auf die Blut- und Lymph-
gefässe recurriren, .die die Nervenbahnen begleiten; ja, selbst die
Schmidt-Lantermann' sehen Einkerbungen könnten zu dem Zwecke
herhalten, indem man ihnen zumij^thet, sich nach Art der Veneuklappen
aufzublähen und dadurch die Nervenwelle aufzuhalten; oder die von
Engelmann entdeckten, an der Stelle der Ranvier'aehen Schnür-
ringe befindlichen, winzigen Discontinuitäten des Achsencylinders, die
sich nach dem Bedarfe und der Phantasie eines speculativen Kopfes
yergrössern oder verkleinern könnten. Warum sind alle diese Hypo-
thesen werthlos? Weil sie des Beweises ermangeln. Der gleiche Vor-
wurf trifft aber auch für die „histologische^^ Schlaftheorie von yan de
Lanoitte und Pupin zu. Zwar sind amöboide Bewegungen der
dendritischen Verzweigungen der Ganglienzellen auch von einigen
Histologen behauptet worden. Indessen ist es unvorsichtig, auf solche
mit grosser Vorsicht aufzunehmenden Behauptungen hin weittragende
Theorien zu gründen, zumal wenn man bedenkt, dass nach einer alten
neurologischen Erfahrung die maximale Lebensdauer derartiger histo-
logischer Hypothesen die Zeitdauer von 5 Jahren nicht überschreitet.
Aber selbst angenommen, dass wirklich derartige amöboide Bewegungen
nicht in das grosse Beich der Phantasie gehören, so dürfte schon eine
einfache Ueberlegung zeigen, dass für die Theorie der nervösen Func-
tionen hiermit nichts gewonnen ist. Die amöboiden Bewegungen der
Leucocyten des Blutes, die man unter dem Mikroskop bei geeigneter
Kritische BemerkuDgen über d. gegenwäri. Stand d. Lehre v. Hypnotismui. 77
VersuchsanordnuDg direct beobachten kann, ermüden den Beobachter
durch die ausserordentliche Langsamkeit, mit der sie von Statten gehen.
Wenn aber dies schon in dem leicht beweglichen Blute stattfindet,
um wieTiel mehr erschwert müssen diese Bewegungen erst im Gehirne
sein, dessen Consistenz doch beträchtlich grösser ist als die des Blutes.
Daher ist ein so flottes Umherkrabbeln und Durcheinanderkriechen der
Protoplasmafortsätze, wie esvandeLanoitte und Pupin behaupten
und wie es zur EIrklärung der Erscheinungen nothwendig wäre, sicher-
lich nur in einer besonders beyorzugten Phantasie möglich. Um das
Unglück vollständig zumachen, hatHeld^'®) auf Grund neuer Färbe-
methoden den Nachweis erbracht, dass beim neugeborenen Hunde zwar
da, wo die Endverzweigungen eines Achsencylinders und der Proto«
plasmaleib der Zellen zusammentreten, sich zuerst eine deutUche De-
marcationslinie findet, die aber im Laufe Ton einigen Tagen der Elnt-
wickelung yerschwindet, so dass dann ein continuirlicher Uebergang
zwischen beiden, also eine Verwachsung der Neurone unter einander
stattfindet; eine Behauptung, die übrigens von Dogiel, Arnold,
Wagner u. A. bestätigt wird. Wohin kommen wir, wenn wir den
ephemeren Behauptungen der Histologen auf dem Fusse folgend
psychologische Constructionen ins Blaue hinein errichten ? Wir halten
es für forderlicher, gar keine Theorie aufzustellen, als sich in billigen
imd unbegründeten Speculationen zu ergehen, die nur den einen Vor-
zug haben, dass sie noch leichter zu widerlegen als aufzustellen sind.
Nicht yiel günstiger steht es um die Auffassimg, die Schleich ^^^)
als eine „Psychopbysik des natürlichen und künstlichen Schlafes^ preist.
Schleich bekämpft den unreellen, rein phantastischen Hemmungs-
mechanismus, mit dem überall gearbeitet wird. Er schreibt der Neuro-
gUa die Rolle eines Isolationsmechanismus zu, deren active Function
in der Hemmung der electroiden Spannung der Acbsencylinder u. s. f.
liegt. Die Actionsfähigkeit dieses Isolirapparates beruht auf einer
wechselnden Plasmafüllung der Neuroglia- Protoplasmamasse. Die
Mooszellen der Neuroglia, die die AchsencyUnder umspinnen, wie die
Seidenfaden die electrischen Drähte, stehen in Verbindung mit den
perivasculären Lymphträumen der Hirngefasse, femer mit tieferen sym-
pathischen Centren, durch die Vermittlung der Vasomotoren der Hirn-
gefasse. Daher der Einfluss der BlutfüUe auf die Grosshimfunction,
der sich bei Schleich genau entgegengesetzt darstellt, als es der ge-
wöhnlichen Annahme entspricht; eine Erscheinung, die nur dadurch
ermöglicht wird, dass Thatsachen in dieser Beziehung noch nicht
78 I<«o Hinchkff.
bekannt sind. Nach Schleich bewirkt demnach Hyperämie stärkere
Plasmafullimg der isolirenden Nearogtiaplasinazellen , daher stärkere
Isolation, also Hemmung, i. e. Gliaaction; Anämie dagegen erzeugt
Neurogliaschwächung, verminderte Isolation, ungehemmte tlrregungs-
fahigkeit der Ganglien, Vermehrung der Associationen etc. Schleich
fasst daher den natürlichen Schlaf auf „als einen durch Anpassung
oder Vererbung erlernten Mechanismus der Hemmung zwecks Aus-
schaltung des läsibeln, jüngsten, bildungs-, wachsthums- und schonungs-
bedürftigsten Theiles der Grosshirnrinde. Er tritt ein, wenn yon den
Centren des schon definitiv regulirten, mehr vegetativen Lebens auf
dem Wege des Keflexes die Neuroglia in Action versetzt wird. Das
geschieht einmal periodisch und ist eine dem Organismus von aussen
aufgezwungene Nothwendigkeit (Eintritt der Nacht, Fehlen des Sonnen-
lichtes), oder aber er stellt sich atypisch ein, wenn dieser Reflex auf
andere Weise zur Auslösung gelangt (Uebermüdung, Hypnose, Störungen
der Gefass- und Nervenfunction etc.). Der Schlafende tritt damit
zurück in einen Zustand, in welchem eine Vorperiode psychischer
Fähigkeiten den einzigen Bestand des Bewusstseins ausmachte, und so
dürfte man den Schlaf, die Hypnose und den Somnambulisums auf-
fassen als ein periodisches Zurücksinken in frühere Daseinsperioden.
Nach dieser Anschauung enthalten sowohl der künstliche Schlaf, wie
die cataleptischen Zustände, sowie die somnambulischen Actionen der
Hypnose nichts Räthselhaftes mehr: es spielt sich eben Alles im Unter*
bewusstsein ab.^ Damit ist der rettende Anker gefunden: statt einer
Erklärung oder eines Beweises ein darwinistisches Schlagwort; und was
sich dann noch nicht fügen will, kommt ins ünterbewusstsein. Zur
Kritik der Sohle ich'schen Schlaftheorie lässt sich nicht viel sagen.
Der Atavismus und das Ünterbewusstsein sind 2 Begriffe, mit denen
sich schlechthin Alles und noch einiges mehr erklären lässt: ihre An-
wendung in der Wissenschaft sollte daher als grober Unfug gerügt
werden. Werden die cataleptischen Erscheinungen der Hypnose etwa
dadurch weniger räthselhaft, dadurch dass sie sich in einem unmöglichen
Ünterbewusstsein abspielen? Ist denn jede Verminderung der psy-
chischen Functionen, mag sie nun dauernd oder vorübergehend sein,
blos deswegen schon eine Erscheinung des Atavismus, ein Zurück-
sioken in frühere Daseinsperioden, weil sich die Entwickelung der
Menschheit naturgemäss von einer niederen zu einer höheren Stufe
vollzogen hat? Wo steckt die Logik in dem Schlüsse: Früher war die
Menschheit geistig und seelisch minder entwickelt; heutzutage tritt ein
fritUehe Bemerkungen über d. gegenwart. Stand d. Lehre v. Hypnotismui. 79
periodischer Wechsel zwischen dem yollbewnssten Wachsein und dem
SchlafzüStande ein, in dem die Thätigkeit der Seele Torübergehend
itiht: also pendelt unser Dasein zwischen der früheren und der jetzigen
Daseinsperiode hin und her? Es ist schade, dass soviel Qeist an so
nichtige Dinge verschwendet wirft.
Um nicht eintönig zu wirken, besprechen wir nunmehr der Ab-
wechslung halber eine physiologische Theorie, die von Krampf*')
aufgestellt worden ist. Dieser Autor erklärt die Hypnose durch primitive
Gontraction der Carotis int. oder durch Erhöhung der nervösen Activität
in dem Plexus carot. int. und secundäre Erweiterung der A. carot. ext.
und A. vertebr. in Folge des Collateralkreislaufes. Die motorischen und
seeretorischen Phänomene des hypnotischen Schlafes kommen dadurch
zu Stande, dass die erweiterten Halsarterien auf die benachbarten Nerven
[III, rV, yil(?)] drücken. Ausserdem soll das Rückenmark mehr Blut
erhalten, besonders durch die Aa. spinales post., welche dann direct
auf die hinteren, sensibeln Wurzeln des Rückenmarks drücken. Diese
Erregung pflanzt sich dann in den Verzweigungen der Wurzeln ent-
sprechend fort und ruft einen Reflextonus in den vorderen, motorischen
Wurzeln hervor, der sich in Catalepsie äussert. Die Catalepsie ent-
steht also durch Erhöhung der nervösen Energie in den motorischen
Vorderhomganglien, bewirkt durch Zufluss arteriellen Blutes. Zum
Beweise dieser Theorie dient der magere Hinweis, dass alle Methoden
des Hypnotisirens geeignet seien, die Erregung des Plex. carot. int.
hervorzurufen. Dieser Beweis scheint uns gänzlich unzureichend. Ab-
gesehen davon, dass eine rein physiologische Theorie, wie sie hier vor-
liegt, niemals geeignet sein kann, die Erscheinungen der Hypnose zu
erklären, da diese auf psychischem Wege ausgelöst werden, ist die
Hypothese, aufdieKrarup seine Anschauung stützt, zweifellos falsch.
Wenn auch die Halsarterien und die Aa. spinales post. sich noch so
sehr erweitem, — was zudem noch des Nachweises bedürfte — , so
könnte doch niemals dadurch ein Druck auf die Nerven bezw. die
sensibeln Wurzeln des Rückenmarks hervorgerufen werden, da die Ge-
fasse in der lockeren Umgebung, in der sie liegen, genügend Spielraum
haben, sich auszudehnen, ohne dass die Nerven dadurch gedrückt
werden. Aber selbst wenn dies der Fall sein sollte, was wir für aus-
geschlossen halten, entspricht es der Erfahrung, dass durch einfachen
Druck auf den in. IV. und Vll Gehimnerven die motorischen und
seeretorischen Phänomene des hypnotischen Schlafes ausgelöst werden
können?
80 L^o Hinichlaff.
Die beiden folgenden Theorien beschäftigen sich mehr mit einer
psychologischen Analyse des hypnotischen Zustandes, als mit einer Er-
klärung desselben ; eine Beschäftigung, die weit fruchtbarere Ergebnisse
zeitigt, als die planlose Speculation. Döllken characterisirt die
Hypnose als eine willkürliche ReduoMon der Sinnesthätigkeit und der
associativeu Tbätigkeit auf ein Minimum (Einengung des Bewusatseins),
wobei aber nicht eine vollständige Ausschaltung dieser Thätigkeiten
stattfindet. Physiologische Bedingung für das Zustandekommen dieses
Ereignisses ist eine relative Himanämie, die vorwiegend die Binde und
die corticalen Bahnen betrifft. Aus dieser Anämie resultirt ein be-
stimmter Tonus der Nervengebilde, welcher sie befähigt, bei Reizen,
die weit unter dem Schwellenwerth der Norm liegen, isolirt in einen
Zustand der besseren Ernährung und Functionsfahigkeit zu gerathen.
Grund der Amnesie ist der Unterschied in der Erregbarkeit der Nerven-
gebilde gegen die Norm oder aber die geringen, associativen Ver-
knüpfungen der Reize. Aufwachen erfolgt durch successive oder
' plötzliche Reizung aller Sinnescentren, entweder direct oder auf associa-
tivem Wege, wodurch der normale Tonus in den Hirnelementen wieder-
hergestellt wird. Ohne auf die physiologische Seite dieser Theorie
einzugehen, die uns ebenso unbewiesen und unbeweisbar scheint, wie
in den vorher erörterten Fällen, scheint uns die psychologische Analyse
Döllken 's auf dem richtigen Wege zu sein, wie wir sogleich Ge-
legenheit haben werden, näher zu begründen. Daher polemisirt er mit
Recht gegen die Auffassung Jendrassik's, der lediglich in der Auf*
hebung oder Einschränkung der associativen Tbätigkeit des Gehirns,
sowie gegen diejenige Wundt's, der in der einseitigen Richtung der
passiven Aufmerksamkeit und in der Functionshemmung der bei den
Willens- und Aufinerksamkeitsvorgängen wirksamen Centralgebiete und
Erregbarkeitssteigerung der Sinnescentren das Wesen der Hypnose
erblickt.
Nach BramwelP^^) ist die Hypnose kein Monoideismus, wie
man allgemein seit längerer Zeit anzunehmen pflegt, sondern ein Poly-
Ydeismus, ein erweitertes Bewusstsein, weil gleichzeitig eine Reihe von
Suggestionen sich realisiren können. Dieser Behauptung müssen wir
beipflichten, obwohl wir die Begründung Bramwell's ablehnen, wo-
nach das Bewusstsein in der Hypnose auf das umfangreichere Unter-
bewusstsein ausgedehnt ist. Wir meinen vielmehr, da wir ein Unter-
bewusstsein nicht kennen, dass sich das Bewusstsein in der Hypnose
genau so verhalte, wie das Bewusstsein im Wachzustande. Ob der
Kritiscba Bemerkungen über d. gegenwart. Stand d. Lehre y. Hypnotismus. 81
UmfiaDg des BeeleDlebens in der Hypnose eingeschränkt ist oder nicht,
hangt übrigens von dem Belieben des Hypnotiseurs ab, kann also nicht
zur WesensbestinuDung der Hypnose herangezogen werden. Die Be«
merkang Bramwells, dass nicht die Suggestionen das Wesen deb
Hypnotismns bilden, sondern Tielmehr die Annahme, die Realisirung
derselben, halten auch wir für zutreffend, im G-egensatze zur herrschenden
Anschauung, die den Begriff der Suggestion zu weit fasst und in Folge
dessen alle Erscheinungen der hypnotischen Phänomenologie mit diesem
Schlagworte erklärt zu haben glaubt.
Die Yortrefflichsten Ausführungen über das Wesen des Hypnotis*
mus verdanken wir Vogt^^), dessen theoretische Darlegungen wir
hier leider nur kurz besprechen können. Vogt geht von den Lehren
der modernen wissenschaftlichen Psychologie aus, indem er sich auf
den Standpunkt des psychophysischen Parallelismus mit geschlossener
physischer Causalität stellt, den Münsterberg^*^) in mustergiltiger
Weise entwickelt hat. Er stellt zunächst den Begriff der Constellation fest,
als den Gesammtmecfaanismus aller centralen Leitungen und Erregbar-
keitsverhältnisse : diese Constellation, von der die Stärke und deshalb
das Bewasstwerden der centralen Erregungen abhängig ißt, ist die
Besultante aller bisherigen bewussten EJrregungen des Centralnerven-
sjstems, aber auch aller unbewussten und nutritiven Beeinflussungen.
Den von der Norm abweichenden Zustand der Constellation bezeichnet
er als Dissodation, wobei eine Steigerung oder Herabsetzung der Er-
r^barkeit gewisser Centren stattfinden kann. Die Möglichkeit einer
solchen Veränderung beruht darauf, dass die in der Grosshimrinde
anlangenden nervösen Erregungen, Neurokyme, dort als functionelle
Reize wirken und den Stoffwechsel in den centralen Elementen steigern ;
in diesem gesteigerten Stoffwechsel besteht nämlich der materielle
Parallelvorgang der psychischen Erscheinungen. Die physiologische
Bedingung einer jeden solchen Steigerung des centralen Stoffumsatzes
ist eine örtliche Zunahme der Stoffzufuhr, eine functionelle Hyperämie,
die aber nicht in einer Aenderung der Gesammtblutzufuhr besteht,
sondern in der günstigsten Verteilung des Blutes, unter der der Che-
mismus der nervösen Elemente des Gehirns am besten zu Stande kommt
Diese Stoffzufuhr geschieht durch Veränderung der Zellen der.Capillaren
und durch Veränderung des Blutdruckes. Indessen sind die vasomo-
torischen Veränderungen als solche nicht genügend zur Erklärung des
Zustandekommens der psychischen Vorgänge; sie sind nur secundär
wirkende Momente, während die primären Ursachen in den neurody-
Zeitflchrift fOr Hypnotiamas eio. DL 6
82 -l^eo Hinchlaff.
namischen Veränderungen, i. e. der Zuleitung und Ableitung der Neu-
rokyme zu den verschiedenen Centren gesucht werden müssen, die nach
.dem Wundt'schen Principe der Compensation der Functionen, d. h.
derFunctionshemmung eines bestimmten Centralgebietes durch Functions-
. Steigerung anderer in Wechselbeziehung stehender Gebiete erfolgen.
Die von der normalen Constellation abweichende Dissociation kann
.sich nun einmal als einseitige Bahnung repräsentiren, wie z. B. bei
dem Zustande der Kritiklosigkeit gegenüber Wahnideen und Hallu-
cinatioDen; oder aber als Herabsetzung der Erregbarkeit, i. e. Hem-
.qiung. Eine solche Hemmung im normalen Zustande stets nutritiver
.Art, kaun beruhen 1) auf Erschöpfung, wobei die Dissimilation die
Assimilation überschritten hat und nun Mangel an zersetzbarem Stoff
statthat, wobei es nicht nöthig ist, eine Intozication daneben anzu-
. nehmen; 2) auf Herabsetzung der StofiEzufuhr oder Anämie, die auf
.einen primären vasomotorischen Befiex zurückzuführen ist, wie z. B.
bei Ermüdung und Schlaf. Die Hemmung .äussert sich durch ver-
langsamte Fortpflanzung der Neurokyme; sie führt ferner durch Aus-
fall von einzelnen Elementen zur Vereinfachung der nervösen Vorgänge,
.zur Montonie^ Ideenflucht und illusionären ümdeutung der Empfindungen.
Jedoch findet bei der Hemmung zugleich eine Steigerung der Erregung
in den einmal erregten Elementen statt und zwar 1) da die Zuleitung
stärker, weil beschränkter ist; 2) wegen der Hemmung in der Ab-
leitung, wodurch eine Stauung der fonctionellen Reize in dem Centrum
.herbeigeführt wird, dem sie einmal zugeleitet worden. Diese Stauung
ist die Ursache des Nicht- Erwecktwerdens der Gegenvorstellungen,
sowie der sinnlichen Lebhaftigkeit der Erinnerungsbilder, also auch
der Kritiklosigkeit im Traume etc. Die auf diese vorausgeschickten
Darlegungen gegründete Schlaftheorie Vogts lautet nun folgender-
massen: „Die beim Einschlafen auftretenden neurodynamischen Vorgänge
werden von den Centren ausgelöst, denen ihrer Erregbarkeit ent-
sprechend die ankommenden Neurokyme dann zugeleitet werden, wenn
die Grosshimrinde in ihrer Erregbarkeit durch Erschöpfung herabgesetzt
ist. Ein erstes solches Centrum ist das ßeflexcentrum für die Schliess-
ung des M. orbicul. oculi. Den Beginn dieser reflectorischen Contraction
empfinden wir als Schwere in den Augen.^' Dazu kommt ein vasomo-
torisches Centrum, dessen Erregung zunehmende Anämie des Gross-
hirns bewirkt; es ist in der MeduUa oblong, gelegen und die voit ihm
aus erzeugte Anämie ist die eigentliche Ursache des Schlafes. Die
reflectorischen Erscheinungen, die den Schlaf herbeiführen, bringen
Kritische Bemerkungen über d. gegenwärt. Stand d. Lehre v. Hypnotismus. 83
dann gewisse EmpfinäHngöH hervor, die wir als die des Müdeseins und
des Einschlafens bezeichnen und ' die einen motorischen Character an
sich tragen, d. h. die Fähigkeit haben, die ihnen zu Grunde liegenden
Bewegungen auszulösen; sie associiren sich ausserdem mit der BegrifijB-
Torstellung des Schlafes. Das Yerhältniss zwischen der Wirkung der
- Schlaf Yorstellung und derjenigen der Beflexcentren des Schlafes stellt
sich Vogt als ein wechselseitiges vor, nach Analogie der bahnenden
Beeinflussung subcorticaler Beflexvorgänge durch corticale Erregungen,
die Exn er im Thierexperiment nachgewiesen hat. „Das Auskleiden, das
Schlafzimmer etc.. erregen die Schlafvorstellung und wirken deshalb
bahnend auf die Reflexcentren des Schlafes ein. Die beginnende
Thätigkeit der Seflexcentren erregt ihrerseits wieder die Schlafv9rstel-
lang u. 8. w.; so tritt eine . bahnende Wechselwirkung ein, wodurch
der Reiz allmählich verstärkt wird. Wenn wir ohne Erschöpfung ein-
schlafen, so geschieht es immer auf Grund associativer Verknüpfungen,
wobei uns sogar die Schlafvorstellung nicht direct bewusst zu werden
braucht; unbewusst i^t sie aber immer im Spiel.^^ Wie der normale
Schlaf, so verhält sich auch der hypnotische und der hysterische Schlaf,
die in ihrem Wesen von Vogt identificirt werden. Das Erwachen
erfolgt dadurch, dass die Erschöpfung des Grosshirns nachlässt und in
Folge dessen seine Erregbarkeit zunimmt. Daher werden die Neuro-
kyme wieder dahin geleitet, dem Schlafcentrum wird ein Theil der
Energie entzogen. Durch diese stärker werdenden Erregungen wird
dann auch das Centrum für functionelle Hyperämie im Grosshim
stärker gereizt und die Schlafanämie beseitigt. Auf ähnlichem Wege
erklärt sich die Erscheinung der hypnotischen und hysterischen Kata-
lepsie, bei der ein Glied eine ihm passiv gegebene Stellung beibehält.
Für gewöhnich wird ein kleiner Theil jener nervösen Energie, die eine
jedesmalige Lage und Haltung eines Körpertheiles im Centrum des
Muskelsinnes erregt, nur in die motorische Bahn übergeführt, während
der grössere Theil anderweitig abgeleitet wird. Bei einem gewissen
Grade der Herabsetzung der Erregbarkeit der Grosshimrinde dagegen
können die anlangenden Neurokyme nur noch an der Stelle der
directen Endigung der centripetaleu Bahn eine Erregung hervorrufen,
aber nicht mehr auf die Associationsbahnen irradiiren. Die Aeusserung
des Muskelsinnes in einer motorischen Bewegung muss dann aber eine
sehr starke sein, da die ganze zugeführte Reizenergie an Ort und
Stelle bleibt: daher die Fixation der passiven Stellung. Auch die
hysterischen und suggestiven Anästhesien fügen sich diesem Erklärungs-
6*
34 Leo -HinchlaC
princip; sie beruhen nach Vogt auf einer Herabsetzung der Erregbar*
keit der betreffenden Centren, bedingt durch Anämie, sind also als
ein partieller Schlaf aufzufassen. Ebenso ist die Realisation der post-
hypnotischen Saggestionen, sowie die schon früher erörterte Erschei-
nung der spontanen Somnambnlie in der Hypnose auf einen partiellen,
systematischen Schlaf- bezw. Wachzustand zurückzufahren. In dieser
Beziehung unterscheidet Vogt 3 Zustände, die er als ein systematisirtes,
localisirtes und allgemeines partielles Erwachen resp. partiellen Schlaf
bezeichnet. Beim systematisirten partiellen Erwachen ist nur ein
einzelner Vorstellungscomplex geweckt, wie z. B. in den eben an-
geführten Beispielen; beim localisirten partiellen Erwachen ist ein
einzelnes Rindencentrum geweckt; das allgemeine partielle Wachsein end-
lich ist von diffasem Character, wie es z. B. bei übermüdeten Personen
zur Beobachtung gelangt. Sind beim partiellen Erwachen die gewed^ten
Bewusstseinselemente vollständig wach,- so sind sie wegen der Ein-
schränkung des Bewusstseinsumfanges zugleich abnorm stark erregt,
und es entsteht das Bild des eingeengten Bewusstseins. Inwiefern
dieser Zustand des eingeengten Bewusstseins geeignet ist, für eine
hypnotische Experimentalpsychologie verwertet zu werden, soll uns erst
am Schlüsse unserer Darlegungen beschäftigen. (Schluss folgt)
Zur Kasuistik der Agrapliie.
Von
Prof. Blnswanger-Jena.
Auf dem Gebiete des aphasischen Symptomcomplezes ist die Frage
über die fdnctionelle Bedeutang und aoatomische Loealisation der
Schreibstörungen noch eine offenstehende. Ich sehe im Hinblick auf
die zahlreichen neueren zusammenfassenden Bearbeitungen der Aphasie,
es mögen hier nur diejenigen Ton Y. Monakow, Miralli^, Bastian
und Ziehen genannt werden, sowie im Hinblick auf das erschöpfende
fieferat von O. Vogt in dieser Zeitschrift (Ig. 1897), von einer ein-
gehenderen Darstellung der strittigen Punkte ab. Es genügt für den
TOiliegenden Zweck, darauf hinzuweisen, dass auch bei dem Studium
der agraphischen resp. dysgraphischei) Störungen die Vermengung ana-
tomischer und functioneller Betrachtungsweise das wesentlichste Hinder«
Biss der Verständigung ist. Am Deutlichsten tritt dies zu Tage, wenn
wir die Discussion über die „transcortical^-bedingten Störungen der
Sprache ins Auge fassen.
Die nachstehende Beobachtung ist nicht geeignet, zur Unterlage
der anatomischen Würdigung der Schreibstörungen zu dienen, indem
sie wegen der Ausdehnung und der Beschaffenheit der Himerkrankung
eine genauere Localisätion dieser Störungen nicht zulässt. Sie vermag
aber über das functioneUe Verhältniss zwischen motorischer und sen-
sorischer Aphasie resp. Agraphie Licht zu verbreiten. Sie ist femer
ein Beitrag zur Lösung der Frage, ob die Schreibstörungen in einem
directen AbhSngigkeitsverhältniss zu den Störungen der Sprachbewe*
gongen stehen. Es wird bekanntlich von manchen Forschem behauptet,
dass die Schreibbewegungen, soweit nicht sensorielle Störungen in
86 Prof. Binswanger.
Frage kommen, mit den motorischen Sprachstönmgen eng zusammen-
hängen. Allerdings ist zuzugeben, dass die gesammten intensiveren
Störungen in der Bildung des inneren Wortes die schriftliche Aas-
drucksfahigkeit stets beeinträchtigen. Doch [ist auch Folgendes zu
berücksichtigen: Bei den Culturmenschen ist der schriftliche Ausdruck
des Wortes immer eine „nachträgliche'' Errungenschaft ^)y welche den
bereits bestehenden Besitz von Wortklangbildem, Wortlautbildern und
optischen Buchstabenbildem zur Voraussetzung hat. Es wird daher
dieser spätere Erwerb nur für ein ursprüngliches Abhängigkeits-
verhältniss der corticalen Sprechbewegungen und Schreibbewegungen
verwerthet werden können, wälirend bei steigender Hebung die
Schreibbewegungen eine immer grössere Selbstständigkeit erringen und
sich von den Sprechbewegungen emancipiren werden. Dies wird auch
dadurch bewiesen, dass gebildete Patienten mit motorischer Aphasie
sich leichter schriftlich als mündlich ausdrücken können, (von Mo-
nakow hat auf diese Thatsache aufmerksam gemacht) selbst wenn sie
bei rechtsseitiger Hemiplegie die linke Hand zum Schreiben nehmen
müssen. Die Gegner der Annahme eines eigenen graphischen Centrums
erklären dies daraus, dass selbst bei ganz completer Wortstummfaeit
die innere Wortbildung . auch mit Bücksicht auf die Lautcomponente
nie so radical aufgehoben sei, diass für den Wegfall der Sprechmus*
kulatur nicht noch ein gewisser Ersatz durch Muskelgruppen in anderen
Extremitäten möglich wäre. Es geschehe dies unter Benützung der
optischen Erinnerungsbilder für die Buchstaben, die mit Wortlauten
und -Klängen assocürt werden (v. Monakow). Diese Beweisführung
ist kaun\ zu widerlegen für die vorstehend angeführten Fälle. Sie wird
aber unzureichend für solöhe Beobachtungen, bei welchen die Schreib*
Störung resp. totale Ägraphie die wesentlichste Functionsstörung ist^
während die motorische Aphasie relativ unbedeutend ist und sensorielle
Sprachstörungen fehlen. Der hier mit2utheilende Krankheitsfall gehört
in diese Kategorie. Er ist deshalb geeignet, jdie Discussion über die
functionelle Bedeutung der Ägraphie von Näuem anzuregen und zuir
wiederholten Prüfung der von Wer nicke, DÄj6rine, Miralli6^
V. Monakow über die Functionen der Sprach- und Schreibcentfen ge-
äusserten Ansichten aufzumuntern.
Ist der relativ selbstständige Ausfall der cortico - motorischen
Sehreibbewegungen klinisch erwiesen, so kann man der Ägraphie den
*) Wir sehen hier selbstverständlich von den Taubatummen ah.
Zar KasuiBÜk der Agffaphie. 87
Character einer eigentlichen Bewegungsstörung nicht mehr absprechen,'
80 kann man die Agraphie nicht mehr als eine Störung gewisser asso«
ciativer Erregungen auffassen, die lediglich durch Vermittelung der
Werkstätte der Wortbildung dem Centrum für die Schreibmechanik
(Armregion) zufliessen. y. M o n a k o w stützt gegenth eilige Ansichten auf
die Beobachtungen, in welchen der Agraphische, welcher nicht hemi-
plegisch ist und nicht gleichzeitig an einer corticalen Sehstörung leidet/
fast immer richtig copiren oder doch mindestens die ihm zur Abschrift
Torgelegten Worte abzeichnen kann. y. Monakow zieht femer die
schon yon Wernicke, Döjörine u. A. ins Feld geführte Thatsache
heran, dass Patienten mit incompleter motorischer Aphasie und rechts-'
seitiger Monoplegie doch noch eyentuell mit dem Fuss und bei rechts-
seitiger Hemiplegie mit der linken Hand schreiben können. Er schliesst
aas solchen Erfahrungen, dass ein Verlust der kinästhetischen Empfin-
dungen für die Schreibbewegungen selbst dann nicht angenommen
werden kann, wenn bei motorischer Intactheit der rechten Hand'
Aphasische ausser Stande sind, auch nur einen einzigen Buchstaben
mit dieser zu schreiben. Er lehnt es auch ab, in diesen Fällen die
totale Agraphie mit der Unfähigkeit, die optischen Erinnerungsbildei'
der Buchstaben in die Schreibmechanik umzusetzen, zu erklären, yiel-
mehr beruhe die Störung darauf, dass der Patient zunächst die Laut-
und Klangbilder der Worte innerlich nicht genügend wecken und sief
nicht in einzelne Buchstaben zergliedern könne. Der Kern der Störung
bei der Agraphie sei immer in der Beeinträchtigung der inneren
Wortbildung zu suchen, die Schreibstörung beruhe also in einer ge-
störten Umsetzung yon Wortklängen resp. Wortlauten in die Schreib-
bewegun'gsbilder : Die Fehler beim Schreiben seien in letzter Linie
entweder Laut- oder E[langfehler. Diese ganze Beweisführung y. Mo-
nakow's ist für unsere Beobachtung nicht yerwerthbar; sie besitzt
nur dann eine Bedeutung zur Erklärung der agraphischen resp. dys-
graphischen Störungen, wenn Letztere Begleiterscheinungen aus-
geprägter und präyalirender Störungen der Wortklang- resp. Wortlaut-
bildung sind. Tritt die Agraphie als yorherrschende, ja fast ausschliess-
liche Störung auf, so werden wir nicht umhin können, sie als eigentliche
Bewegungsstörung aufzufassen, welche aus dem Verlust der kinästheti-
schen Empfindungen für die Schreibbewegungen resp. der Schreibbe-
wegungsyorstellungen resultirt. — Wir heben heryor, dass wir bei all
diesen Deductionen nur die functionelle Bedeutung des Schreibens im
Auge haben. Es sind deshalb hier noch einige Bemerkungen über das
98 Frof- BinawBBger.
functionelle Centrum, der Schreibbewegungen am Platze. Dieses Centram
]ßt ein fimctionelleSy indem es innerhalb der grossen Gruppe der Fioger-
resp. Handbewegungen ganz bestimmte , zum Zweck des Schreibens
coordinirte InnervatioDen umfasst, deren Mannigfaltigkeit und Exactheit
¥on Aem Grade der Uebung abhängt. In wie weit dieses Centrum,
welches ganz bestimmte Associationen von Bewegungsimpulsen umüasst,
eine bestimmte anatomisch distincte Zellgruppe innerhalb der corticalen
äand- und Fingerregion besitzt, muss bei dem Mangel einwandsfreier
piakro- und mikroskopischer Leichenbefunde dahin gestellt bleiben. ^)
Die Möglichkeit halten wir theoretisch für gegeben, da sich ja
auch ein von den übrigen optischen Erinnerungsbildern getrenntes
visuelles Schriftzeichencentrum entwickelt hat. Die Entwickelung eines
besonderen Wortlautcentrums in der Broca'schen Region kann eben-
falls als Beweis gelten, indem sich innerhalb des grossen cortice -
motorischen Gebietes für Lippen-, Zungen-, Gaumen- etc. Bewegungen
ein besonderer Coordinationsmechanismus für diecomplicirtenBewegungs-
Yorgänge des sprachlichen Ausdrucks herausgebildet hat. ^)
Bei dieser Auffassung ist die Anschauung fast selbstverständlich,
dass bei gleich sorgfältiger Ausbildung und Uebung von Schreib-
bewegungen mittels der Füsse resp. Zehen sich auch ein corticales
Schreibcentrum in der motorischen Fussregion functionell und vielleicht
auch anatomisch herausbilden kann. ^)
Auch die Fähigkeit mit der Schreibmaschine zu schreiben, wird
unter Aufwendung grösserer oder geringerer Mühe durch Uebung
erworben. Diese Art der Schreibbewegungen hat weniger Berührungs-
punkte mit derjenigen des gewöhnlichen Schreibens, als mit dem
*) Es ist neuerdings von Edler (Tgl. Y ogt a. a. 0.) aus gewissen individuellen
£igenthtimlicbkeiten, welche jeder Schrift zukommen, der Schlnss gezogen werden,
dftss in der Nachbarschaft der corticalen Centren für Bewegung der rechten Hand
9pecielle Zellen für die specifische Schrift der rechten Hand dienen. Der Grrnnd,
warum bisher keine specielle Erkrankung nachgewiesen wurde, liegt vielleicht darin,
dass die Zellen räumlich kein specielles Centrimi bilden. Zerstörung dieses Centrums
führt nach Edler nicht Agraphie, sondern nur den Verlust der characteristisch
geübten Handschrift herbei.
*) Freilich ist das Schriftcentrum ein den ursprünglichen motorischen und
sensoriellen corticalen Sprachcentren an Bedeutung und Constanz nachstehendes
Centram, das sicherlich individuell viel grösseren Schwankungen hinsichtlich der
Vervollkommnung unterliegt als die Ersteren.
*) Die Frage, ob zu den Coordinationsmechanismen der Schreibbewegungen
bestimmte Bewegungsvorstellnngen zugehörig sind und ob die willkürlichen Schreib-
bewegungen einer primären Erregung der Schreibbewegungsvorstellungen ent-
springen, besitzt mehr eine theoretische als practische Bedeutung.
Zur KMuistik der Agraphie. 89
Elavierspiel nach Noten, welches eine äusserst innige associati?e Yer-
kDÜpfung von Gesichts-, Bewegungs* und Gehör?orstellungen voraussetzt.
Bei denjenigen Personen, welche es im Schreiben mit der Schreib-
maschine zu einer grossen Fertigkeit resp. Vollkommenheit gebracht
haben, werden wir ebenfalls eine Art fonctionelles Oentram, das auf
fein coordinirte Bewegungen abgestimmt ist, annehmen müssen.
Wir lassen nunmehr die Krankengeschichte, welche Veranlassung
zu diesem Aufsatze gegeben hat, folgen.
Julitts Fletsch, BürgermeiBter, geboren am 3. 11. 1861, Btammte aas ge-
rander Familie und soll weder als Kind noch später krank gewesen sein. Er war
seit 1879 yerheirathet und besass 2 gesunde Kinder. Potus gering. Ueber syphilitische
Infection ist nichts bekannt.
Nach Angabe seiner Frau wurden bei ihm Anfang April 1898 psychische
Veränderungen bemerkbar; er wurde yergesslich, machte Fehler beim Wiegen, las
eine Kirchenrechnung falsch vor, schrieb verkehrte Bemerkungen auf die von ihm
auszufertigenden Steuerzettel und gab, zur Bede gestellt, an, dass er schwindlig im
Kopfe sei. Gegen Mitte April wurde die Sprache schlechter, schleppender, das
Benehmen theilnahmlos, stumpf, der Gang taumelig, besonders beim Treppensteigen.
Schliesslich sprach er spontan gar nicht mehr, gab auf Fragen verkehrte Antworten,
sass oft stundenlang mit auf die Hände gestütztem Kopfe da, ass aber mit Appetit
und schlief gut.
Am 16. IV. 1898 wurde Patient von Herrn CoUegen Ziehen in der Sprech-^
stunde untersucht und folgender Status aufgenommen:
K. PupiUe > L.
Augenhintergrund normal (ohne Erweiterung!).
Gaomenhebung L. ^ R.
Sämmtliche Facialis- und Hypoglossus-Innervationen L. erheblich stärker.
Schädel vor und über dem L. Ohr diffus percussionsempfindlich.
Sehen intact.
Hörweite für Uhrticken L. 50, R. 25 cm.
Nelkenöl L. stärker gerochen.
Dynamometrisch R. 52 ^ L. 54 ^
Patellar- ]
Achillessehnen- > Reflexe symmetrisch, nicht gesteigert.
Anconänssehnen- j
Kein Romberg.
Wortverständniss absolut intact. Bezeichnung gesehener Gegenstände
Uhr? richtig bezeichnet.
Kette? richtig bezeichnet.
Federhalter? nicht bezeichnet.
Aermel? = „Muskel^.
Farben und Zahlen richtig bezeichnet.
7x8? „5ß".
18 -|- 9? nicht gerechnet.
90 Prof. J^inswanger.
4X6? „24".
6 + 3? „9".
6 + 7? „weiss nicht mehr".
Datum? „1897 — 98 — December — es geht immer nicht heraus."
Schrift :
„Jema" statt Jena.
,,Leipeig'' statt Leipzig.
^jSchOnborn'* statt Schönborn.
Pferd richtig geschrieben.
Lesen: Auslassungen und phantastische Umgestaltungen, z. B.
Text: Den Anblick ebenso zahlreicher Massen der — .
Gelesen: „Den zahlreichen Rückblick der — "
Als Fietsch etwa 3 Wochen spater (9. V. 1898) in die hiesige Klinik auf-
genommen wurde, liess sich der folgende Befund erheben:
lieber mittelgrosser, hagerer Mann mit blassen Schleimhäuten und einem
Gewicht von 70 kg.
Geringe Arteriosclerose.
An den Lungen vereinzelte katarrhalische Geräusche hörbar j geringer Husten-
reiz; zuweilen tiefe Inspirationen.
Herztöne dumpf; Puls 68, regelmässig.
Urin frei von fiiweiss und Zucker.
Leistendrüsen etwas verdickt ; an Brust, Bauch und Rücken mehrere pigmen-'
tirte Warzen.
Pupillen mittelweit, R. > L.; R. Lichtreaction ziemlich prompt und aus-
giebig, L. langsamer und weniger ausgiebig; accommodative Reaction beiderseits
vorhanden.
Beiderseits ausgeprägte Stauungspapille, links in stärkerem Maasse; R. Papille
grau, vergrössert, nicht scharf begrenzt, leicht vorgewölbt; Gefässe von mittlerer
Füllung; L. Papille ebenfalls vergrössert, vorgewölbt, nicht scharf begrenzt, grau-
roth; Gefässe etwas geschlängelt; in der Umgebung der Papille mehrere kleine
Blutungen.
Stimrunzeln symmetrisch.
Miindfacialis-Innervationen in Ruhe und bei activen Bewegungen R. wesentlich
schwächer als L. ; das Gaumensegel wird L. besser gehoben ; die Zunge weicht stark
nach R. ab.
Armbewegungen nicht atactisch ; kein Tremor ; keine auffallende Herabsetzung
der groben Kraft der Hände; dynamometrische Leistung R. 65 ^ L. 66^; dagegen
fällt es auf, dass der Kranke bei spontanen Bewegungen fast nur die linke Hand
benutzt, z. B. kratzt er sich mit der linken Hand hinter dem rechten Ohr; auf-
gefordert, mit der rechten Hand allein einen Hemdienknopf aufzumachen, versucht
er dies, lässt aber bald ermüdet die Hand sinken und Öffnet den Knopf ziemlich
geschickt mit der linken Hand allein; auch beim Zuknöpfen, das er erst mit beiden
Händen versucht, benutzt er schliesslich nur die linke Hand. Kleine Handbewe-
gungen, wie Fingerspreizen, Faustmachen, Daumenbewegangen etc. sind ungestört.
Beinbewegungen nicht deutlich atactisch; ganz schweriällig und langsam, zu-
weilen etwas schwankend; geringes Romberg'sches Schwanken.
Sämmtliche Haut- und Sehnenreflexe symmetrisch und von gewöhnlicher Stärke
Zur Kasuistik der Agraphie. $1-
Leichte Steigerung der mechanischen Mnskelerregbarkeit.
.. Prüfung der Berührungsempfindlichkeit wegen des psychischen Zustandes des
Kranken nicht ausitihrbar; Schmerzempfindlichkeit und Muskelsinn anscheinend
erhalten.
Lebhafte Schmerzreaction tritt ein bei Druck auf die Supraorbital-» Schläfen-,
Occipital-, Infraorbital- und Mental-Punkte und zwar L. erheblich stärker als R.;
druckempfindlich ist femer die ganze, etwa dem Ursprünge des Musculus temporalis
der L. Seite entsprechende Gegend und hier wieder besonders ein Punkt der Linea
semicircularis, der senkrecht über der Mitte des Jochbogens liegt, und ein solcher
senkrecht über dem Kiefergelenk ungefähr in der flöhe der Augenbraue. Angeblich
spontan keine Kopfschmerzen.
Geruch symmetrisch.
Gesichtsfeld erhalten (Fingerprüfung).
Gehör: Uhrticken beiderseits in ca. IVa m gehört.
Spracharticulätion ohne deutliche Störung.
In psychischer Hinsicht fallt zunächst der traumhafte, leere Gesichtsausdruck
auf; der Kranke erwacht gleichsam bei energischer Anrede und sieht dann gleich--
giltig, oft etwas lächelnd vor sich hin, während er für gewöhnlich stumpfsinnig
und theilnahmlos im Bette sitzt. Seine Antworten erfolgen langsam, wenn über-
haupt, und oft erst nach eindringlicher Wiederholung der Frage und sind theila^
richtig, theils verkehrt. Seine Aufmerksamkeit erlahmt ungemein rasch. Allerlei
Anffordernngen befolgt er Anfangs richtige giebt aber bald durch Mienenspiel und
Intezjeetionen sein Missbehagen über die ihn anstrengenden Untersuchungen zu
erkmiben und gähnt dann oft. Feinere Prüfungen der Sinnesempfindungen sind
daher nicht durchführbar. Vorgesetzte Speisen nimmt er spontan zu sich, wobei
sich zeigt, dass sein Schluckyermögen ungestört ist ; er besudelt sich aber oft beim
Essen und verunreinigt sich auch häufig mit Urin und Koth. Bei der Aufnahme ist
er weder örtlich noch zeitlich orientirt, glaubt in seinem Wohnorte Schönborn zu
sein, weiss das Datum nicht, erkennt den Arzt nicht als solchen und macht einen '
sehr gehemmten Eindruck. Einen vorgehaltenen Löffel bezeichnet er richtig, ein
Schlüsselbund dagegen nicht; erst beim Bassein mit den Schlüsseln nennt er das
richtige Wort. Aufgefordert, die Schlüssel (7) zu zählen, zählt er bis 3. Weitere
Antworten sind dann nicht mehr von ihm zu verlangen. Bei einer Untersuchung
am 10. y. 1898 weiss er, dass er in Jena ist.
Ein vorgehaltener Bleistift wird richtig erkannt und bezeichnet.
. (Uhr?) Findet das Wort nicht, macht verlegene Aeusserungen, z. B. „es ist
ein schönes Ding".
(Ist es eine Uhr?) „Nein."
Pat. kann die Uhr auch nicht bezeichnen, als ihm dieselbe ans Ohr gehalten
und in die Hand gegeben wird.
(S^ichholz?) Wird richtig bezeichnet. Auf die Frage, was man damit mache,
zündet er dasselbe, allerdings langsam, an der ihm gereichten Streichholzschachtel an.
(Schlüssel?) Wird richtig bezeichnet. Beim Vorlegen einer Anzahl von Streich-
hölzchen, die er zählen soll, zählt er bis 6, spielt dabei mit den Hölzchen, zählt
aber schliesslich auf eine erneute Aufforderung bis 20.
(7 X 8?) = 66.
(7 X 18?) -
92 Prof. Binswanger.
Er liest, indem er ganze Worte nnd Sätze anslant) die einzelnen Worte richtig.
11. V. Bei der Aufforderung) seinen Namen zu schreiben, nimmt Fat. die
Feder zur Hand, macht yerlegene, rathiose, schreibähnliche Bewegungen. Bei dem
ersten Schreibversuch resultiren Zeichen, die an seinen Namen erinnern, ein Theil
eines grossen lateinischen F, femer ein schlechtes lateinisches i, dann folgen noch
einige sinnlose Striche. Ein zweiter und dritter Ansatz zum Schreiben ergiebt nur
nnleserliche, Buchstaben vollständig unähnliche Striche; ebendenselben Erfolg hat
die Aufforderung, die Zahlen ], 2, 3, 4 u. s. w. zu schreiben. Als ihm das .Wort
,iJena" dictirt wird, macht er ein grosses lateinisches M. Die Copie des vorgeschrie-
benen Wortes „Jena^ ist unvollständig, indem zwar ein richtiges J geschrieben
wird, welchem aber nur unleserliche Hieroglyphen folgen. Ein vorgezeichnetes
Dreieck kann er nicht nachzeichnen, auch nicht mit der linken Hand.
Federhalter und Papier bezeichnet Pat. richtig, ein Tintenfass nicht, erkennt
es aber, nachdem ihm das Wort vorgesagt ist. Einen blauen Actendeckel nennt
er „grau"; ein weisses Blatt Papier kann er der Farbe nach nicht bezeichnen.
Ist es grün? „Nein.^ Ist es roth? „Nein".
n « gelb? „ „ „ blau?
„ „ schwarz? „ „ „ weiss? „
Nachdem er einige Minuten ausgeruht hatte, antwortet er auf die Frage:
„Welche Farbe hat es denn?" „Weiss." Ein braunes Brett bezeichnet er richtig.
12. y. Ist ärgerlich, dass er nicht schreiben kann; früher habe er es doch
gekonnt.
Schriftlichen Aufforderungen, z. B. die rechte Hand hochzuheben, kommt er
richtig nach. Sucht aus mehreren vorgelegten Gegenständen Uhr und Scliiüssel
richtig aus, benannte Streichhölzer als Schlüssel, Schlüssel richtig, Bleistift gar
nicht. Gähnte oft.
Kann seinen Namen aus vorgelegten Buchstabentäfelchen nicht zusammensetzen :
erst „Fetichs" dann „Fitesch".
Als er „Jena" zusammensetzen soll, bringt er erst „Jean" heraus, entdeckt
aber, au&nerksam gemacht, es sei falsch, seinen Fehler und berichtigt ihn. „Hai"
bringt er nicht fertig; bei mehreren Versuchen immer „Mia".
16. V. Pat. ist heute stärker benommen, kommt aber allen AuffordBrungen nach.
17. V. Pat. benennt, vorgezeigte Objecto wie folgt:
(Schlüssel?) „Schlüssel." (Uhr?) „Uhr."
(Bleistift?) — (Ist es ein Bleistift?) „Ja."
(Blumen?) „Blumen." (Messer?) —
(Glas?) „Glas." (Geldbeutel?) „Geldbeutel."
(Cigarre?) „Cigarre." (Streichholzschachtel?) —
(Ist es eine Streichholzsehachtel?) „Ja freilich."
(Streichholz?) „Streichholz." (Buch?) „Buch."
(Thermometer?) — (Tisch?) „Wenn ich nur auf den Namen
kommen könnte."
(Stiefel?) „Stiefel." . (Handtuch?) —
(Fenster?) — (Ist es ein Fenster?) „Ja."
(Spiegel?) — (Ist es ein Spiegel?) „Ja."
(Flasche?) — (Ist es eine Flasche?) „Ja."
(Cigarrenetui ?) „Cigarrenetui."
Zur KMuiftik der Agraphie. 98
Pat bejaht äbrigens nur, wenn ihm der richtige Gegenstand genannt wird
sonst verneint er oder giebt gar keine Antwort. £r ist im Stande, alle Worte zu
wiederholen.
Am Nachmittag desselben Tages wird Pat. in der Klinik vorgestellt.
(Name?) „Ich heisee Alfred Fietsch.''
(Alter?) „27 Jahre", „47 Jahre.«
Athmet tief, kratzt sich bei weiteren Fragen mit der linken Hand.
(GeburUtag?) „21. Febr. 18. . und 13 . . . nee 18 nicht.«
(Beruf?) „Landwirth.«
(Seit wann hier?) „Na, ich weiis nicht.«
(1 Monat?) „So lange ist e» noch nicht.«
(Staat ?) „Sachsen-Weimar. «
(Haus?) „Das weiss ich nicht.«
(Stadt?) „Ja . . . Ja . . .«
(Arzt?) „Ja . . . Doctor.«
(Uhr?) „ühr.« —
(Bleistift?) „— Blei.«
(Kreide?) „Kreide.«
(Federhalter ?) „Stuhlfeder. «
(Stecknadel?) „Das ist eine Himmelserscheinung« (sieht dabei zum
Fenster hinaus).
(Schlässel?) „Schlüssel«
Fat. klagt jetzt Öfter, dass es ihm schlecht gehe, weiss aber nicht anzugeben,
warum.
20. y. 98. Zweite klinische Vorstellung:
Zunge deviirt nach r. — Händedruck 1. > r. —
' Gang schwankend nach r. und 1.
Greift aus vorgelegten Gegenständen den Schlüssel heraus.
(Kreide?) „Das ist Kreide.«
(Schlüssel?) — (wird ihm in die Hand gegeben, dreht ihn herum,
besieht ihn).
(Ist es ein Schlüssel?) „Ja.«
(Sagen Sie Schlüssel !) „Na, na . . .«
Als Diagnose wird gestellt ein Tumor in der Gegend des Schreibcentrums.
Vorliegender Fall spricht gegen die Dejerine' sehen Auffassungen, wohl aber, da
die Agraphie eine totale ist, die vorhandenen Andeutungen von motor. Aphasie
aber mehr als Hemmnngs- resp. Ermüdungssymptome aufzufassen sind, während
sensorische Aphasie überhaupt auszuschliessen ist, für die Annahme eines besonderen
Schreibcentrums.
24. V. 98. Operation in Aethemarcose (Geh. Med.-Rath Riedel): Eröffnung
des Schädels. Nach der Eröffnung der Dura starker Prolaps der sehr weichen und
bruchigen Gehimmasse. Die Hirnrinde war in der Form erhalten. Die Hirn-
substanz ist so weich, dass ein eingestochener Troicard durch sein eigenes Gewicht
tiefer einsinkt Kein Abfluss von Flüssigkeit. Puls 160. Die Operation wird ab-
gebrochen, da sich kein Anhaltspunkt für den Sitz des Tumors ergiebt. Verband.
Temperatur Abends 38*^; Puls 132, unregelmässig; Facialisparese rechts stärker
.94 ^i^^> Binawanger.
als links. Grobe motoriBche Kraft der Extremitäten rechts yiel. geringer; Pupillen
rechts grösser als links, fast lichtstarr; rechts etwas reagirend. ^
25. y. Temperatur 37 ^ Puls 144; starke Schleimabsonderung, «itriger Aus-
wurf; links hinten in der Umgebung des Schulterblattwinkels handtelUrgrosse
Dämpfung; rechts hinten oben Hasselgeräusche. Motorische Sprachstörung stärker.
Patient macht unwillige Abwehrbewegungen, als er aufgefordert wird, Gegenstände
zu bezeichnen, er erkennt anscheinend Buch, Uhr und Schlüssel nicht; letzteren
doch schliesslich richtig. Abends Temperatur 39,1; Puls 152.
26. V. Temperatur 37,2; Puls 140; die Sprache besteht nur noch in einem
unverständlichen Gemurmel, aus dem gelegentlich, noch Ja" zu verstehen ist.
27. V. Temperatur 37,3; Puls 128. Abends 37,7; Puls 104. Patient isst gut.
hustet weniger; Gang viel sicherer.
28. y. yerband Wechsel; grosser gangränöser Prolaps. Entfernung einiger
loser Fetzen. Abends 37,6; Puls 104.
29. V. Temperatur 37,6; Puls 108; Patient schläft viel
30. y. Nachts stärkerer Husten; Verband sang^uinolent durchtränkt. Tempe-
ratur 37,7; Puls 124. Abends 38,9; Puls 112.
31. y. Verbandwechsel; Athmung beschleunigt. Temperatur 39,3; Abends
39,0; Puls 124.
1. yi. Athmung stark beschleunigt^ stertorös. Abends •39,0; Puls 144;
Athmung 48; inspiratorische Dyspnoe; links hinten etwas Knistern.
2. VI. Temperatur 39,6; Puls 176, sehr klein, Athmung 68. 12 Uhr Mittag
Exitus letalis.
Scction (5Va Stunden post mortem) von Herrn Geheimrath Müller.
Die Obduction ergab, abgesehen von einer diffusen eitrigen Meningitis
cerebro-spinalis an Basis und Convexität, folgenden Befund:
Rechte Halbkugel annähernd normal gewölbt ; die linke im StirntKeil deutlich
eingesunken, entsprechend der vorderen Hälfte der III. Stirnwindung und dem
Fuss der beiden vorderen Central Windungen aus einer umfangreichen Lücke der
Pia in Gestalt eines rothgrauen, ü6elriechendcn, fast breiig weichen Tumors vor-
gewölbt.
Linke Seitenkammer beträchtlich erweitert, ihr Ependym trüb, leicht grau
verfärbt, auf der tiefsten Stelle dünner, röthlich grauer Eiter. Der rechte Gyrus
fornicat. in seiner vorderen Hälfte leicht eingebuchtet. Das Balkenknie mehrfach
punktförmig sugillirt, weich, leicht gelb verfärbt. Die Windungen der medialen
Fläche der rechten Halbkugel durchweg deutlich. Die vordere Hälfte des linken
Gyr. fornicat. über die Mittellinie weggreifend; das Marklager weich, gelblich grau
verfärbt. Knie und Rostrum des Balkens gruppenweise punktförmig sugillirt. Das
Marklager der linken Halbkugel hinten massig fest, nach vorne zunehmend weicher
als normal. Das ganze Stimhirn wnrd bis auf eine durchschnittlich 10 mm dicke
Schicht der orbitalen und der vorderen Fläche eingenommen von einer umfäng-
lichen, dünnen, röthlich gelben Eiter enthaltenden, ringsum von theils gelblicher,
theils röthlich grauer, zottiger, weicher Gehirnsubstanz umgebenen Höhle, w^elche
nach aussen entsprechend dem hinteren Ende der dritten Stirnwindung frei aus-
mündet. Die Seitenkammer auch rückwärts erweitert. Plexus grauweiss getrübt,
eitrig infiltrirt, das Ependym matt glänzend, gegen den mit der Seitenkammer
Zur KasaiBtik der Agrapbie. 96
eommanicirenden Zeratörungsherd hin flach alcerirt. Die Himsubstaiu; in der Um-
gebung der Lücke kranzförmig von feinen Blutaustritten besetzt.
Von den Stammganglien der Sehhügel erhalten, bleich, ebenso der innere
Linsenkem und innere Kapsel. Das Tordere Ende des äusseren Linsenkerns, die
vordere Hälfte des Claustrums und die Inselwindungen sind zerstört. Die Mark-
substanz des unteren Stimhirns bis an das vordere £nde bräunlich gelb, etwas
weich, zerstreute kleinere Blutaustritte führend. Das Unterhorn ist erweitert, das
Ependym trübe, vereinzelte kleine Blutaustritte aufweisend. Plexus bis an das
vordere Ende grau weiss getrübt. Die mikroskopische Untersuchung des in Formol
gehärteten Gehirns ergab ein Gliosarkom, welches im Centrum erweicht und
eitrig eingeschmolzen war und in der Umgebung zahlreiche Blutaustritte und
Nekrosen und im gesunden Oewebe kleine Metastasen zeigte.
Bei der Analyse der klinischen Symptome auf dem Gebiete der
Sprache resp. der Schrift ist vor Allem der psychische Zustand des
Patienten zu berücksichtigen. £s geht aus der Krankengeschichte
hervor, dass allgemeine intellectuelle Störungen das Krankheitsbild
eröffneten und ausgeprägte Herdsymptome sich erst nachher einstellten.
Am Auffälligsten waren die Schwerbesinulichkeit^ Vergesslichkeit, die
rasche Ermüdbarkeit bis zur völligen geistigen Abstumpfung. Neben
der Denkhemmung tritt aber schon frühzeitig ein gewisser Grad von
Incohärenz und vielleicht auch schon von Urtheilsschwächung hervor.
All diese Symptome deuten darauf hin, dass schwere Schädigungen
der gesammten geistigen Leistungen vorhanden waren, welche je nach
dem Grade der Erholung resp. der Ermüdung des Patienten grossen
Schwankungen . unterlagen. Ein Bild von den besonderen Störungen
der Sprache resp. der Schrift war deshalb nur bei längerer Beobach-
tung des Kranken und öfters wiederholten Untersuchungen, die sich
immer nur auf ganz kurze Zeit erstrecken konnten und bei beginnender
Ermüdung ausgesetzt werden mussten, zu gewinnen. Wir erwähnen
hier nur der einer Prüfung (am 10. V. 1898) : Anfänglich war Patient
über Ort und Zeit vollständig orientirt, erkannte auch einen ihm vor-
gehaltenen Gegenstand und bezeichnete denselben richtig. Dann aber
konnten für einen anderen Gegenstand (Uhr) augenscheinlich die ver-
schiedenen Partial Vorstellungen (optische, acustische, tactile) nicht n^ehr
erweckt werden. Es fiel daher selbstverständlich der sprachliche oder
schriftliche Ausdruck für diese Objectvorstellungen aus. Eine kurze
Erholungspause genügte aber, um sowobl das Sprachverständniss als
auch den sprachlichen Ausdruck sowie relativ complicirtere intellectuelle
Leistungen wieder zu ermöglichen. Auch die Lesestörungen, welche
die grösate Aehnlichkeit mit denjenigen bei diffusen Hirnrinden-
96 Frot' Binswanger.
erkrankungen (progrefisher Paralyse) darboten, sind auf diese allge^
meinen Schädigungen der intellectuellen Leistungs&higkeit zu beziehen.
Wie das angezogene Beispiel lehrt, waren die Störungen des
s|nrächlichen Ausdrucks zum grossen Theil als Ermüdungs- resp.
Hemmungssymptome aufzufassen. Ausser letzteren Symptomen waren
Schreibstörungen vorhanden, welche nur als Ausfallssymptome gedeutelt
werden können. Während bei der ersten Untersuchung (16. IV. 98)
nur relativ geringfügige dysgraphische Störungen zu constatiren waren,
fand sich am 11. Y. eine fast vollständige Agraphie vor: der Patient
konnte die Anfangsbuchstaben seines Namens in plumper, unvollständiger
Weise spontan schreiben, alle weiteren Schreibversuche ergaben nur
sinnlose Striche. Auch das Schreiben von Zahlen misslang. Beim
Schreiben einzelner Worte nach Diktat zeichnete Patient ein lateinisches
M, als ihm das Wort „Jena^ dictirt wurde. Auch das Copiren war
fast völlig aufgehoben, indem vom Wort „Jena^^ nur der Anfangs-
buchstabe J geschrieben wurde. Ebenso misslang das Nachzeichnen
eines einfachen Dreiecks sowohl mit der rechten wie mit der linken
Hand. Oass diese Schreibstörungen ausser Zusammenhang mit Lese-
störungen stehen, beweist der erste Versuch am 13. V., bei welchem
Patient eine schriftliche Aufforderung zu einer Handlung ganz prompt
befolgte. Die Unfähigkeit, seinen Namen aus den ihm vorgelegten
Buchstaben, richtig zusammenzusetzen, glauben wir auf die Erschwerung
der psychischen Functionen, vor Allem auf die rasche Ermüdbarkeit
des Kranken zurückfähren zu müssen und zwar deshalb, weil bei einem
späteren Versuche Patient das Wort Jena fehlerfrei zusammensetzte.
Auch bei diesem Versuche hatte der £ranke das Wort Jena zunächst
nicht richtig zusammengesetzt, dann aber als ihm gesagt wurde, „es
sei falsch^, sich auf die richtige Form der Zusammensetzung besonnen.
Es kann somit keinem Zweifel unterliegen, dass in vorstehender
Beobachtung das wesentlichste, ja fast ausschliessliche stabile Ausfalls*
Symptom die Schreibstörung war. Dass die Störungen des sprachlichen
Ausdrucks nur Theilerscheinungen der transcorticalen Leitungserschwer-
ungen darstellen, geht u. A. aus den Sprachproben vom 17. V. hervor,
bei welchen Patienten ihm vorgelegte Gegenstände prompt und richtig
bezeichnete, wenn es ihm gelang, die optischen Erinnerungsbilder der
vorgelegten Objecte wieder zu erwecken. Die sprachliche Bezeichnung
fiel meist dann aus, wenn er die gezeigten Gegenstände nicht wieder
erkennen konnte. Vereinzelt gelang die Erweckimg der zugehörigen
optischen Partialvorstellungen , während die Leitung zum acustischen
Zur Kasuistik der Agraphie. 97
Sprachceutrum versagte: Patient erkannte einen GegenstJCnd (z. B. einen
Tisch), konnte ihn aber sprachlich nicht bezeichnen. Es hiindeltc sich
hier um eine wahre transcorticale, sensorielle, aphasische Störung. In
anderen Fällen konnte Patient nicht einmal durch Betasten der Gegen-
stände das zugehörige Wortklangbild und Wortlautbild reproduciren.
Bs spricht dies deutlich für das Vorhandensein transcorticaler Stcirungeu
zwischen den Erinnerungsbildern und dem ncustischen resp. motorischen
Sprachcentrum. Bemerkenswerth ist, dass eine Schädigung des Sprach-
yerständnisses niemals beobachtet wurde, dass also m. a. W. die Object-
Torstellungen immer bei Erregung des acustischen Sprachcentrums
erweckt werden konnten. Auch in den Fällen, in welchen eine Er-
weckung der Objectbegriffe durch Erweckuug der tactilen resp. optischen
Partialvorstellungen unmöglich war, gelang es durch Benennung des
(iegenstandes sofort, dio Objectvorstellung wachzurufen. Bei diesem
Befunde ist es selbstTerständlich, dass das Spontansprechen und das
Nachsprechen im ausgeruhten Zustande keine Störung aufwies, während
mit dem Eintritt der Ermüdung paraphasische Störungen in beiden
Fällen eintraten.
Diese Beispiele genügen wohl, um den früherhin ausgesprochenen
Satz zu rechtfertigen, dass die Störungen des sprachlichen Ausdrucks
vorzugsweise als Ermüdungserscheinungen aufzufassen waren.
Eine anatomische himlocalisatorische Würdigung des Falles ist,
wie wir schon Eingangs erwähnten, unmöglich. Es ist an dem Hirn-
präparate durchaus nicht mehr festzustellen, welchen Sitz und Umfang
das Gliosarcom im Marklager des Stirulappens gehabt hat, äa die con-
secutive Eiterung eine weitgreifende Zerstörung verursacht hatte. Nur
das Eine lässt sich auch jetzt noch erkennen, dass der Kranklieits-
process das Marklager der vorderen Centralwindungen nach hinten hin
nicht überschritten hat, dass also eine materielle Läsion der sensoriellen
Antheile der Sprachfunctionen auszuschliessen ist.
^♦jiUchrift für Hypnoti.smus etc. IX.
Literaturzusammenstellung
über
die Psychologie und Psychopathologie der vita sexualis
von
Dr. Freiherrn yon Schrenck-Notzing - M ü n c h e n.
(3. Fortsetzung.)
Wie in der ersten Fortsetzung dieses Referates (vergl. Band YIII
Heft I dieser Zeitschrift) ausgeführt wurde, sind die bahnbrechenden Arbeiten
V. Krafft-Ebing's auf dem Gebiete der Psychopathia sexualis in den
letzten 2 Jahrzehnten (1877 — 1899) vielfach beeinflusst worden durch
die frühere und gleichzeitige Literatur über den Gegenstand. Es erschien
deswegen angezeigt, die aus der ersten Hälfte dieser Zeitperiode (1877 — 1887)
stammenden Arbeiten zu referiren, bevor die zahlreichen grundlegenden
Studien dieses Gelehrten Gegenstand der Erörterung werden konnten.
Wenn v. Krafft-Ebing kein anderes Verdienst für die medicinische
Wissenschaft sich erworben hätte, als die Erschliessung eines so zu sagen
neuen Wissenszweiges, wie sie seine Arbeiten über die Psychopathia sexualis
darstellen, sein Name bliebe für alle Zukunft untrennbar verknüpft mit
der Geschichte der Psychologie und Psychopathologie des Sexuallebens.
Ihm ist es hauptsächlich zu danken, dass die bis dahin mit heiliger Scheu
als „noli me tangere" betrachteten psychosexuellen Vorgänge einer wissen-
schaftlichen Erkenntniss und naturwissenschaftlichen Anschauung näher ge-
rückt wurden. Die Ideen und Anregungen, welche von seinen Schriften aus-
gingen, haben das geistige Leben unserer Zeit nachhaltig beeinflusst; erst
durch seine Arbeiten konnten die seelischen Probleme solcher Enterbten
des Liebesglücks Verständniss und richtige Beurtheilung finden. Deswegen
bieten aber auch die Werke Krafft-Ebing's Interesse ebensowohl für
den Ethiker, den Aesthetiker, wie für den Geisthchen, den Juristen und
Arzt! Kein Wunder, wenn die Psychopathia sexualis trotz heftigster Be-
fehdung von Seiten der Collegen 10 Auflagen erlebte. Wie schon oben
betont wurde, ist der Schaden, den ein solches Werk wegen seines porno-
graphischen Interesses bei dem Laienpublikum stiften kann, verschwindend
zu dem ungeheuren Nutzen der dadurch verbreiteten Erkenntniss und
Aufklärung.
Psychologie und Psychopathologie der vita sexualis. 99
Im Nachfolgenden geben wir unter AuBlassuung unwesentlicher oasu-
iBtificher Beiträge eine Ueb ersieht über Krafft-Ebing's Studien auf diesem
Gebiet: 1877 erschien der erste Aufsatz v. K rafft- Ebing's „Ueber ge-
wisse Anomalien des Geschlechtstriebes^ im Archiv für Psychiatrie Bd. YII
8. 291. Die ersten Arbeiten dieses Autors wurden 10 Jahre später in einem
Bande zusammengefasst, der unter dem Titel „Psychopathia sexualis** (Stutt-
gart, Enke) erschien und in den Jahren 1886 — 1898 10 Auflagen erlebte,
die jedesmal umgearbeitet und dem jeweiligen Stande des Wissens angepasst
wurden. Weitere Arbeiten desselben Verfassers sind folgende: ,,Neue
Forschungen auf dem Gebiete der Psychopathia sexualis' ', 1. Auflage 1890,
2. 1891 (Stuttgart, Enke). ^^^^i' Conträrsexuale vor dem Strafrichter'',
1. Auflage 1894, 2. 1895 (Leipzig, Deuticke); „lieber Irresein durch
Onanie bei Männern*^, Allgem. Zeitschr. tür Psychiatrie 1874, S. 425; „üeber
psychosexuales Zwitterthum**, Internat. Centralbl. für die Physiologie und
Pathologie der Harn- und Sexualorgane, Bd. I, Heft 2; „Neurosen und
Psychosen durch sexuelle Abstinenz **, Jahrbücher für Psychiatrie, Bd. VIEE,
S. 1 u. 2 ; „Bemerkungen über geschlechtliche Hörigkeit^, Jahrbücher für
Psychiatrie, Bd. X, Heft 2 u. 3; „TT eher Eifersuchtswahn beim Manne",
Jahrbücher für Psychiatrie, Bd. X, Heft 2 u. 3{ n^^^ Aetiologie der con-
trären Sexualempfindung", Jahrbücher für Psychiatrie, Bd. XII, Heft 3;
„Zur Erklärung der conträren Sexualempfindimg'', Jahrbücher für Psy-
chiatrie, Bd. XIII, Heft 1 ; „lieber Zoophilia erotica, Bestialität und Zoo-
erastie^, Zeitschr. für Psychiatrie, Bd. 50; „lieber Unzucht mit Kindern und
Paedophilia erotica". Friedreich 's Blätter für gerichtl. Medicin 1895; „lieber
das Zustandekommen der Wollustempfindung und deren Mangel (Anaphro-
disie) beim sexuellen Act", Intern. Centralbl. für die Physiologie und
Pathologie der Harn- und Sexualorgane, Bd. 11, S. 3 u. 4. Ein Theil dieser
in Zeit43chriften zerstreuten Artikel kam unter Hinzufugung Heuer Beiträge
(so „Zum Sadismus", „Zum Fetischismus", „Heber Hyperaesthesia sexualis"
u. A.) zum Abdruck in dem lY. Heft von Krafft-Ebing's „Arbeiten
aus dem Gesammtgebiet der Psychiatrie und Neuropathologie" (Leipzig,
Barth 1899).
Die hier im Einzelnen aufgeführten Bausteine zu den Forschungen des
Wiener Gelehrten sind in den neueren Auflagen der Psychopathia sexualis
eingehend berücksichtigt, so dass eine Beschreibung des Inhaltes dieses
Hauptwerkes, sowie seiner Denkschrift: „Der Conträrsexuale", und der 1899
in dem III. Bande der „Arbeiten aus dem Gesammtgebiet der Psychiatrie"
erschienenen Aufsätze für den Zweck dieser Arbeit und, um die Anschau-
ungen des Verfassers kennen zu lernen, vollkommen ausreicht.
Die 10. (1898 erschienene) verbesserte und theilweise vermehrte Auf-
lage der Psychopathia sexualis ist in 5 Abschnitte eingetheilt.
Der erste enthält Fragmente einerPsychologiedes Sexual-
lebens. Verfasser bezeichnet darin das Geschlechtsleben als einen ge-
waltigen Factor im individuellen und socialen Dasein, als den mächstigsten
Impuls zur Bethätigung der Kräfte, zur Erwerbung von Besitz, zur Er-
weckung altruistischer Gefühle, Er verfolgt darauf die Entwicklungs-
pfaasen, durch welche im Laufe der Culturentwicklung der Menschheit das
IQO V. Schrenck-Notzing.
Geschlechtsleben bis zur heutigen Sitte und Gesittung hindurch gegangen
ist. Die Versittlichung des sexuellen Verkehrs erfuhr einen mächtigen Im-
puls durch das Chrlstenthum, indem es das Weib auf gleiche sociale Stufe
mit dem Manne erhob und zur monogamen Ehe führte. Indessen weist
V. Krafft-Ebing darauf hin, dass auch die Polygamie, welche im alten
Testament anerkannt sei, auch im neuen nirgends ausdrücklich aufgehoben
werde, so dass thatsächlich ohne Einwendungen der Kirche christliche
Fürsten, wie z. B. die merowingischen Könige Chlotar I., Charibert I.,
Pippin I. und viele vornehme Pranken in Polygamie gelebt hätten
Die psychologisch bedeutsamste Epoche für das Geschlechtsleben ist die
Puberitätsentwickelung. „Jene anfangs dunklen unverständlichen Dränge,
entstanden aus Empfindungen, welche bisher unentwickelte Organe im Be-
wusstsein wachriefen, gehen mit einer mächtigen Erregung des Gefühlslebens
einher." Der fremdartige Gefühlsinhalt objectivirt sich dann oft in den nahe-
liegenden Gebieten der Heligion und Poesie, in allen möglichen Schwärme-
reien (wollüstiger Mystik) etc. Die Beziehungen zwischen dem religiösen
und sexuellen Fühlen zeigen sich in den brünstigen Handlungen mancher
Nonnen, in den Orgien gewisser Secten und auch in den Krankengeschichten
der religiös Wahnsinnigen. Auch die Selbstpeinigungsacte , die XJnter-
werfungsopfer, wie sie in allen B/oligionen angetroffen werden, können einen
geschlechtlichen Character bekommen. „Die religiöse Schwärmerei führt
mitunter zur Ekstase, einem Zustand, in dem das Bewusstsein derart von
psychischen Lustgefühlen präoccupirt ist, dass die Vorstellung einer etwa
erduldeten Misshandlung nur ohne ihre Schmerzqualität percipirt werden kann.*^
Auch für die Weckung ästhetischer Gefühle zeigt sich der sexuelle
Factor einfiussreich. Die Wärme der Phantasie wird durch das Feuer sinn-
licher Liebe erhalten. Daher begreift sich, dass die grossen Dichter und
Künstler sinnliche Naturen sind. „Indessen bleibt bei aller Ethik, deren
die Liebe bedarf, um sich zu ihrer wahren und reinen Gestalt zu erheben,
ihre stärkste Wurzel die Sinnlichkeit. Platonische Liebe ist ein Unding,
eine Selbsttäuschung, eine falsche Bezeichnung für verwandte Gefühle. "^
Auch auf das lebhaftere geschlechtliche Bedürfniss des Mannes weist
V. Krafft-Ebing hin gegenüber dem Weibe. „Dem mächtigen Drange
der Natur folgend ist er stürmisch und aggressiv in seiner Liebeswerbung.
Gleichwohl füllt das Gebot der Natur nicht sein ganzes psychisches Dasein
aus. Ist sein Verlangen erfüllt, so tritt seine Liebe temporär hinter anderen
vitalen und socialen Interessen ziu*ück.'^ Schliesslich folgen noch Bemer-
kungen über den „physiologischen Fetischismus".
Der zweiteAbschnitt beschäftigt sich mit den physiologischen
Thatsachen, welche dem Geschlechtsleben zu Grunde liegen. Dieselben
sind hinreichend bekannt, so dass wir nicht näher darauf eingehen. Für
Libido und Potenz sind auch hereditäre Einflüsse maassgebend; beim Weib
ist die Libido sexualis postmenstrual nach v. Krafft-Ebing am gross ten.
Die anatomisch - physiologischen Vorgänge (Hyperämie, Spermabereitung,
Ovulation) lösen in der Hirnrinde sexuelle VorsteDungen , Bilder und
Dränge aus. Verfasser geht dann auf den Vorgang der Erection und
Ejaculation näher ein. Er nimmt ferner für gewisse pathologische Fälle
Psychologie und Psychopathologie der vita aexualis. 101
einen Zusammenhang der Gerachswahmehmnngen mit dem Oeschlechtssinn
an, wie er ja bei Thieren unzweifelhaft besteht. Dmb namentlich auch
durch Keizung der Nerven der Gesässgegend (Züchtigung, Geisselung) die
libido sexualis erregt werden kann, unterliegt keinem Zweifel und ist auch
▼om Heferenten vielfach bestätigt worden. Die Geschichte der Flagellanten
im 13. bis 15. Jahrhundert bietet fttr diese Thatsache merkwürdige Bei-
spiele. Was die vom Verfasser besprochenen erogenen Zonen beim Manne
betrifft, so sind dieselben nicht nur, wie v. Krafft-Ebing meint, auf die
Haut der äusseren Genitalien beschränkt, sondern auch die Haut des Dammes,
der Anus, die Brustwarzen, Lippen und Zungenschleirahaut sind bei vielen
Männern erogen ; in manchen selteneren Fällen kann die ganze Epidermis
diese Function übernehmen.
Der Schluss dieses Abschnittes wird durch die Darstellung der Actes
der Cohabitation gebildet.
Das dritte Kapitel enthält die allgemeine Neuro- und
Psychopathologie des Geschlechtslebens.
Auf die peripheren und spinalen Neurosen, weiche in allen Lehrbüchern
der sexuellen Neurasthenie behandelt sind, soll an dieser Stelle nicht ein-
gegangen werden. Dagegen unterscheidet v. Krafft-Ebing bei den
cerebral bedingten Neurosen 1. die Paradoxie (Sexualtrieb ausserhalb der
Zeit anatomisch-physiologischer Vorgänge, im Kindes- und Greisenalter z. B.
bei der Dementia senilis), 2. die An aesthesia sexualis (fehlender Ge-
schlechtstrieb, als angeborene oder erworbene Anomalie z. B. in Folge von
Castration, 3. die, Hyperästhesie (vennehrter Trieb, Satyriasis, Nympho-
manie), 4. die Parästhesie (Erregbarkeit des Sexuallebens durch inadä-
quate, also perverse Reize).
Die an Anaesthesia sexualis leidenden Individuen sind nach v. Krafft-
Ebing wohl immer degenerative Existenzen; als eine mildere Form dieses
Znstandes betrachtet er die „naturae frigidae** mit geringer Neigung oder
Abneigung gegen den Sexualverkehr ohne sexuelles Aequivalent und dem
Mangel jeder wollüstigen Erregung beim Coitus. Diese Fälle sind wohl
beim weiblichen Geschlecht viel häufiger, als v. Krafft-Ebing anzu-
nehmen scheint und nicht immer von Neuropathie begleitet. Es giebt
Autoren, welche den Procentsatz frigider Frauen auf 4ü ^ q schätzen und
Referent glaubt, dass diese Ziffer für die angelsächsische Bevölkerung sich
nicht weit von der Wahrheit entfernt. Dabei ist natürlich Klima, Rasse,
Abstammung zu berücksichtigen. Für die Beurtheilung der ganzen Frauen-
emancipation erscheint eingehende Erwägung dieses Punktes wichtig. Viel-
fach bleiben weibliche Personen sexuell unempfindlich, weil die betreffenden
männlichen Partner das sexuelle Fühlen der Frau nicht richtig zu ent-
wickeln verstehen, sind also nur scheinbare natui'ae frigidae!
Der krankhaft gesteigerte Geschlechtstrieb ist gewöhnlich
mit einer neuropathischen Constitution verbunden. Er kann die Gewalt
einer organischen Nöthigung gewinnen und die Willensfreiheit ernstlich ge-
fährden. Die Nichtbefriedigung des Dranges ist häufig mit Angstgefühlen
verknüpft (Nothzucht, Bestialität). Casuistik weist zahlreiche hierhergehörige
Fälle auf.
102 ▼• Schrenck-Notzing.
Den wichtigsten Theil des Werkes bilden die Aosfahrongen über die
Parästhesie der Geschlechtsemp findung (Perversion des Ge-
schlechtstriebes). Als pervers bezeichnet v. Krafft-Ebing jede
Aeusserung des Geschlechtstriebes, die nicht den Zwecken der Natur, alse
der Fortpflanzung entspricht. Die Perversität des geschlechtlichen Handelns
ist von der Perversion des Geschlechtstriebes zu unterscheiden. Die per-
verse Handlung kann lasterhaft sein, nicht bedingt durch die Krankhaftig-
keit der Persönlichkeit.
Die erste grosse Gruppe dieser Klasse umfasst geschlechtliche
ffeigungen zu Personen des anderen Geschlechtes in per-
verser Bethätigung des Triebes.
Dazu gehört in erster Linie die Verbindung von Grausamkeit und
Wollust; Fälle in denen die geschlechtliche Erregung an die Ausübung
activer Gewaltthätigkeit gebunden ist, bezeichnet v. Krafft-Ebing als
Sadismus; solche dagegen, bei denen umgekehrt die geschlechtliche
Befriedigung durch Brdrddung von Misshandlungen und Demüthigungen er-
folgt, als Masochismus. Auf das Unzulängliche dieser nach den Boman-
schriftstellern ,, Marquis de Sade" und ,, Sacher Masoch** gebildeten Bezeich-
nungen wurde vom Referenten in seinen Arbeiten wiederholt aufmerksam
gemacht. Wir kommen auf diesen wichtigen Punkt noch im Verlauf des
Referates zurück.
Liebe und Zorn suchen nach Krafft-Ebing ihren Gegenstand auf,
wollen sich seiner bemächtigen und entladen sich naturgemäss in einer
körperlichen Einwirkung auf denselben ; beide versetzen di^ psychomotorische
Sphäre in heftigste Erregung und gelangen mittels dieser Erregung zu ihrer
normalen Aeusserung. Der Exaltationszustand wollüstiger Aufregung er-
zeugt den Drang, gegen das Object, welches den Beiz hervorruft, in der
intensivsten Art zu reagiren. Die scheinbar feindseligen und sinnlosen
Acte sieht der Verfasser in diesem Sinne als psychische Mitbewegungen
an. Um aber eine starke Wirkung auszuüben, ist das stärkste Mittel die
Zufügung von Schmerz. Daher kann es in solchen Fällen zur Misshand-
lung, zur Verwundung und sogar zur Tödtung des Opfers kommen. Dazu
kommt, dass der Mann im Verkehr des Geschlechtes überhaupt die active
aggressive Bolle übernimmt (Erobern, Besiegen des Weibes). Es handelt sich
also beim Sadisimus um eine pathologische Steigerung der Begleiterschei-
nungen der psychischen vita sexualis ins Maasslose.
Beim „Masochismus^ wird das Individuum in seinem geschlecht-.
liehen Fühlen und Denken von der Vorstellung beherrscht, dem Willen
einer Person des anderen Geschlechtes vollkommen und unbedingt unter-
worfen zu sein, von dieser Person herrisch behandelt, gedemüthigt und miss-
handelt zu werden. Diese Vorstellung wird mit Wollust betont.
Während der Sadismus als eine pathologische Steigerung des männ-
lichen Geschlechtscharacters in seinem psychischen Beiwerk angesehen werden
kann, stellt der Masochismus eine krankhafte Ausartung weiblicher specifischer
Eigenthümlichkeit dar. „Im Masochismus entsteht eine Ekstase, in der die
steigende Fluth einer einzigen Empfindung jeden von der geliebten Person
kommenden Einfluss begierig verschlingt und mit Wollust überschwemmt.**
Psychologie und Psychopathologie der vita sexualis. 103
Die Abhängigkeit eines Individuums von einem anderen des entgegen-
gesetzten G^chlechtes kann in manchen Fällen bis zum Verlust jedes selbst-
standigen Willens gehen, bis zu einer Abhängigkeit, welche den beherrschten
Theil zu Handlungen und Duldungen zwingt, die schwere Opfer am eigenen
Interesse bedeuten. Diese durch ein geringes Maass von Willenskraft gegen-
über dem unabhängigen Theil gekennzeichnete abnorme Abhäugigheit eines
Menschen von einem anderen des entgegengesetzten Oeschlechtes bezeichnet
V. Krafft-Ebing als „geschlechtliche Hörigkeit*'. Zu den Er-
scheinungen der Q-eschlechtshörigkeit gehören die unbedingte Nachgiebig-
keit gegen die Launen der Qattin, Eheschliessungen mit notorischen Dirnen,
Aufopferung von Vermögen, Stellung und Familie einer Hetäre zu Liebe,
die mit Misshandlungen verbundene Abhängigkeit der Frostituirten vom
Zuhälter, der Frauendienst des Mittelalters etc. „Wenn die Vorstellung des
Tyrannisirt- Werdens lange mit der lustbetonten Verstellung des geliebten
Wesens eng associirt war, so geht endlich die Lustbetonung auf die Tyrannei
selbst über und es ist Perversion eingetreten. '^ Es giebt also nach
V. Krafft-Ebing in Folge associirender Gewohnheit erworbenen und
originären als Product der Vererbung auftretenden Masochismus. Der
perverse Trieb kann sich schliesslich auf rein symbolische die Unterwer^ug
ausdrückende Handlungen richten, v. Krafft-Ebing stellt es direct in
Abrede, dass die passive Flagellation der Kern der Sache sei. Es findet
bei der Schmerzerduldung eine Uebercompensation des physischen Schmerzes
durch psychische Lust statt (Hallucination körperlicher Wollust).
Das Umgekehrte, nämlich die Begierde starker Einwirkung und schranken-
loser Unterwerfung der consors, erscheint beim Sadismus als wesentlichster
Pmikt. Es handelt sich also lediglich um active und passive Unterwerfung,
wobei die Art des Ausdrucks der Ferversion nebensächlich wird.
,. Sadismus und Masochismus sind (entgegen der Auffassung Binet's
und des Verfassers) nur in dem Sinne Resultate von Associationen, in dem
alle complictrteren Erscheinungen des Seelenlebens Associationen sind. ^ Sie
sind nicht nach v. Krafft-Ebing das Resultat zufälliger Association,
sondern das Resultat präformirter bestimmter Bedingungen.' So kann der
Anblick von Frügelscenen u. dgl. eine vorhandene pathologische Association
ans ihrer Latenz wecken, nicht aber eine solche neu entstehen lassen.
Wenn Sadismus und Masochismus bei einem Individuum auftreten, so
ist es lediglich die Vorstellung der Unterwerfung, welche activ und passiv
den Kern des Gelüstes bildet. Beide perversen Richtungen des Geschlechts-
triebes betrachtet v. Krafft-Ebing als Grundformen psychosexualer
Perveraion.
Wir haben die Theorie des Verfassers ausführlich wiedergegeben, ob»
wohl wir dieselbe durchaus nicht als zureichende Erklärung für alle derar-
tigen Fälle ansehen.
Am bezeichnendsten für den Zusammenhang von Wollust und Grausam-
keit sind die terminalen Formen des Sadismus, wie sie sich im Lustmord,
in der Schändung und Zerstückelung der Leichen zeigen. Dahin gehört
auch das Blutigstechen, Besudeln weiblicher Personen, die Knabengeisselung
(durch wollüstige Erzieher), sadistische Handlungen an Thieren etc. Eine
lOi . , V. Schrenck-Notzing.
TJebergangsgruppe zu dem MasochiBmus stellen die Fuss- und Schuhfeti-
Bchisten dar^ insofern das Treten mit Füssen dabei eine Kolle spielt. Ebenso
reebnet der Verfasser dazu: ekelhafte, Selbstdemütbigung involvirende Gfe-
lüste, wie z. B. das Geniessen von Kotb, Urin und Menstrualblut, das Lecken
an den Dejectionen, Geschwüren der Kranken etc.
Diesen Trieb zum Ekelhaften nennt v. Krafft-Ebing: ^Koprolagnie*^ .
Eine weitere wichtige Klasse perverser Triebbethätigung bietet der
Fetischismus dar. „Unter Fetisch pflegt man", wie v. Kr äfft- Ebing
bemerkt, „Gegenstände oderTheile oder blosse Eigenschaften von Gegenstän-
den zu verstehen, die vermöge associativer Beziehungen zu einer lebhafte
Gefühle bezw. wichtiges Interesse hervorrufenden GesammtvorsteUung oder
Gesammtpersönlichkeit eine Art Zauber („fetisso^ portugiesisch) bilden, minde-
stens einen sehr tiefen, dem äusseren Zeichen (Symbol, Fetisch) an und für
sich nicht zukommenden, weil individuell eigenartig betonten Eindruck be-
wirken."
Die individuelle Werthschätzung bis zur Schwärmerei nennt man Feti-
schismus. Der erotische Fetischismus kann physiologisch sein, insofern in
der Liebe bestimmte aus der Gesammterscheinung genommene Theile und
Eigenschaften eine besondere Anziehungskraft üben.
Für den einen ist der blosse Körper, für den anderen die blosse Seele
ein Fetisch. Alle Theile einer weiblichen Erscheinung, besonders Haare,
Augen, Figur, Füsse und Stimme können zum Fetisch werden.
Der Fetischismus eroticus ist von dem Augenblick an als pathologisch
aufzufassen, wo ein vom Gesammtbilde der Person des anderen Geschlechtes
losgelöster Theileindruck alles sexuelle Interesse auf sich concentrirt, so dass
die anderen Eindrücke daneben verblassen, und die conditio sine qua non
für die geschlechtliche Potenz darstellt. Daneben kommen natürlich Ueber-
gangsformen vor, bei denen ein Coitus ohne Anwesenheit des Fetisch nicht
befriedigt.
Zur Erklärung dieser eigenthümlichen Verirrung zieht v. Kr äff t-
Ebing die Associationslehre Bin et 's heran. Hiernach ist nämlich im
Leben jedes Fetischisten ein Ereigniss anzunehmen, welches die Betonung
gerade dieses einzigen Eindruckes mit Wollustgefühlen determinirt hat. In
der Hegel fällt dieses Ereigniss in die Jugend, in das Erwachen der vita
sexual is. Dasselbe föllt mit irgend einem sexuellen Theileindruck zusammen
und stempelt diesen für die Dauer des ganzen Lebens zum Hauptgegenstand
des sexuellen Interesses. Oft wird die Gelegenheit, bei welcher die Asso-
ciation entstanden ist, vergessen, nur das Besultat bleibt der Association
bewusst. Originär ist hier nur der allgemein zur Psychopathie disponirte
Character, die sexuelle Hyperästhesie solcher Individuen. Die bekannt ge-
wordenen Hauptfälle dieser Perversion betreffen zunächst Theile des weib-
lichen Körpers. So giebt es Hand-, Fuss-, Schuhfetischisten, Kleidungs-
fetischisten (für Taschentücher, Schürzen, Frauenröcke). Eine wichtige Gruppe
stellen die Haarfetischisten und Zopfabschneider dar wegen ihrer Conflicte
mit dem Gesetz. Sehr häufig onaniren die Fetischisten beim Anblick ihres
Fetisch. Beim Stoff-Fetischismus spielen Pelzwerk, Sammt und Seide eine
hervorragende Kolle (Sacher Masoch). Der Thierfetisohismus wird von
Psychologie and Psychopathologie der vita sexual is. I(i5
Y. Krafft-Ebing auch als Zoophilia erotica bezeichnet. So erklärt sich
mitimter die auffallende Vorliebe mancher Personen für Hunde und Katzen.
Der ganze Abschnitt ist von einer reichhaltigen Casuistik begleitet, auf
welche hier nicht näher eingegangen werden kann.
Den letzten Theil dieses Abschnittes nehmen die ausführlichen und
social, forensisch und psychologisch gleich wichtigen Darlegungen über
homosexuale oder conträre Geschlechtsempfindung ein. Die-
selbe betrifft Individuen, welche trotz anatomischer und physiologischer
Normalität in ihrer psychosexualen Persönlichkeit die ihrem Oeschlecht
entgegengesetzte Sexualempfindung darbieten. Nach v. Krafft-Ebing
trittdiese perverse Sexualität mit sich entwickelndem Geschlechtsleben spontan,
ohne äussere Anlässe zu Tage, als individuelle Erscheinungsform einer
abnormen Artung der vita sexualis, oder sie entwickelt sich nach einem
Terlaof in normalen Bahnen auf Grund schädlicher Einflüsse und erscheint
dann als erworbene Form. Die Entstehung dieser Erscheinung ist noch
rätbselhaft und unaufgeklärt.
Somit theilt v. K r a f f t - E b i n g die Verkehrung der Geschlechtsempfin-
dung in 2 Gruppen:
a) die erworbene krankhafte conträre Sexualempfindung,
b) die angeborene krankhafte conträre Sexualempfindung.
Er unterscheidet in dem Umwandlungsprocess der Geschlechtsempfin-
dmig 4 Stadien:
I. Stufe: Einfache Yerkehrung der Geschlechtsempfin-
dung. Patient ist noch in activer Rolle und empfindet den Drang
zum eignen Geschlecht als Verirrung.
IL Stufe: E vi ratio und Defeminatio. Wandlung des Characters,
der Gefühle und Neigungen im Sinne einer weiblich fühlenden
Persönlichkeit,
m. Stufe : XJebergang zur Metamorphosis sexualis para-
n o i c a. Das körperliche Empfinden ist im Sinne der Transmutatio
sexus umgestaltet.
IV. Stufe: Metamorphosis sexualis paranoica. Wahn der
Geschlechtsverwaltung.
Voraussetzung zur Entwickelung der Homosexualität ist ein neuropa-
tbisches Nervensystem. Dasselbe kann ebensowohl erworben, als angeboren
Bein. Zu der veranlagendenTJrsache, der neuropatliischen Belastung,
muss noch nach v. Krafft-Ebing die veranlassende Ursache treten,
damit die conträre Sexualempfindung in die Erscheinung treten kann. Als
erworbene krankhafte Erscheinung kommt sie nach dem genannten Autor
selten vor.
Die erworbene conträre Sexualempfindung durchläuft dieselben Stufen,
wie die angeborene. In der Entwickelung sind folgende Formen zu unter-
scheiden (v. Krafft-Ebing):
1. Bei vorwaltender homosexueller Empfindung bestehen Spuren hetero-
sexualer (psychosexuale Hermaphrodisie).
2. Es besteht nur Neigung zum eigenen Geschlecht (H o m o s e x u a l i-
tät), Horror feminae (beschränkt auf die vita sexualis).
106 V. Schrenck-Notzing.
B. Das ganze psychische Sein (der Charakter) ist der abnormen Ge«
schlechtsempfindong entsprechend geartet (Effeminatio und
Viraginität).
4. Die Körperform nähert sich derjenigen, welcher die abnorme Ge-
schlechtsempfindnng entspricht. Nirgends jedoch wirkliche Herma-
phrodisie. (Androgynie und Gynandrie.) Weiblicher Typus
(breite Hüften, runde Formen, reichliche Fettentwickelung, fehlende
spärliche Bartentwickelung, weibliche Gesichtszüge, feiner Teint^
Fistelstimme); beim Manne (Mammabiidung mit Milchentwickelung
in der Pubertät).
Als wichtigste Ursachen für erworbene conträre Sexualempfindung
sind nach den genannten Quellen zu bezeichnen: TJebermässige Onanie,
welche Character, Triebleben und Nervensystem schädigt, zur mutuellen
Masturbation führt, und Furcht vor Schwängerung und Ansteckung, Weiber-
mangel etc.
Wenn die Verkehriing der Geschlechtsempfindung als Theilerscheinung
eines „neuropsychopathischen Zustandest, der hereditär bedingt ist, auftritt,
so sind folgende Zeichen nach v. Kr äfft- E hing's Lehre massgebend:
a) Vorzeitiges Erwachen des Geschlechtstriebes.
b) Schwärmerische Exaltation , zwingende Stärke des Triebes und
sexuelle Hyperästhesie.
c) Functionelle und anatomische Entartungszeichen.
d) Neurosen (Hysterie, Neurasthenie, epileptoide Zustände), reizbare
Schwäche des Lendenmarks.
e) Psychische Anomalien (originäre Verschrobenheit und schlechter
Intellect bei einseitiger hervorragender Begabung) bis zu Schwach-
sinn und moralischem Irresein.
f) Neurosen, Psychosen und Degenerationszeichen in der Ascendenz.
„Das vererbende Moment ist die erworbene krankhafte Neigung zum
eigenen Geschlecht, die sich beim Descendenten als angeborene krankhafte
Erscheinung vorfindet." Gestützt wird diese Hypothese durch die That-
sache, dass auch seelische Eigenschaften und Gebrechen sich vererben können,
und dass Conträrsexuale mitunter Kinder zeugen.
Die am häufigsten vorkommenden geschlechtlichen Handlungen, wodurch
derartige Lidividuen Befriedigung finden, sind: Coitus inter femora, in
anum, in os, mutuelle, psychische und tactile Onanie, einfache Liebkosungen,
Exhibition. Erzwungener Verkehr mit dem Weibe greift an, während in-
adäquate homosexuelle Practiken voll befriedigen.
Gewöhnlich besteht keine Inclination zu unreifen Personen.
Zur Erklärung der angeborenen Homosexualität hat v. Krafft-Ebing
neuerdings die zuerst von Ulrichs und später (1883) von Chevalier
aufgestellte Hypothese einer pathologisch partiellen Entwickelung der dem
zur Entwickelung gelangenden Geschlecht entgegengesetzte Anlage von Centren
im Embryo herangezogen. Diese Anschauung geht wie schon bei Be-
sprechung der Arbeiten von TJlrichs erwähnt wurde, .von der ursprüng-
lich bisexuellen Anlage im Embryo aus. Es entwickelt sich daraus ein
monosexuales Individuum, und die anatomische Anlagen des entgegengesetzten
Psychologie und Pi'ycliopathologic der vita sexualis. ]07
Oeschlechts treten zurück. Diese caract^res sexuels latente Darwin^B
können unter gewissen umständen Bedeutung gewinnen und nach Chevalier
und V. Krafft-Ebing Erscheinungen conträrer Sexualität hervorrufen.
Yer&sser fügt eine ausfuhrliche Darlegung der in Betracht kommenden
anatomischen Verhältnisse bei.
Diese Ausnahmen vom Gesetz der homologen Geschlechtsentwicklung
werden nach dem Verfasser durch klinische und anthropologische Beobach-
tungen gestützt (Eunuchenthum, Klimax präcox etc.).
Gegenüber der in der letzten Fortsetzung ausführlich erörterten und
auch vom Referenten in^ seinen Schriften vertretenen Theorie von Bin et
macht V. Kra ff t-Ebing geltend, dass psychologische Kräfte zur Erklärung
einer solchen schwer degenerativen Erscheinung nicht ausreichen. Hier-
gegen drängt sich die Frage auf: Sind denn etwa schwere Fälle von Feti-
schismus weniger degenerativ, als solche conträrer Sexualempfindung? Und
doch reicht das associative Erklärungsprincip dem Verfasser zur Erklärung
dieser Anomalie — immer in Voraussetzung eines durch erbliche Belastung
widerstandsunfähigen Nervensystems — vollkommen aus!
Referent konnte Fälle von Fetischismus beobachten, die an Schwere
des Krankheitszustandes in keiner Weise sich von den schweren Fällen
conträrer Bexualempfindung unterschieden und im Sinne v. Krafft-
Ebing's genau so als degenerativ imponirten, wie manche Beobachtungen
von Masochismus und Homosexualität. Warum sollte also beim Zustande-
kommen der conträren Sexualempfindung und des Sadismus nicht dasselbe
möglich sein, was beim Fetischismus möglich ist! Denn der Unterschied
besteht ja nur im Inhalt, im Gegenstand des sexuellen Interesses, nicht in
der Form der Erkrankung.
Die den geistreichen und anregenden Ausführungen v. Krafft-Ebing's
beigefügte, übrigens in der 10. Auflage seines Werkes beschränkte Casuistik
kann nach der Meinung des Referenten nicht als ein hinreichender Beweis
erachtet werden für das Angeborensein der geschlechtlichen Geschmacks-
richtung; ebenso unzulänglich erscheinen die Mittheilungen über die be-
hauptete körperliche Transformation (Androgynie). Näheres hierüber bei
Besprechung der Arbeiten des Referenten.
Den Abschnitt schliessen Bemerkungen über die Diagnose, Prognose
und Therapie der conträren Sexualempfindung ab. Die Aufgaben der Be-
handlung bestehen in Bekämpfung der Onanie und anderen, die Vita sexu-
alis schädigenden Momenten, ferner in Beseitigung der neuropathischen Be-
gleitsymptome und endlich liegt der Schwerpunkt der Aufgabe in der
psychischen, eventuell hypnotisch-suggestiven Bekämpfung der conträren
Empfindungsweise und der Förderung heterosexualer Gefühle und Impulse.
Die Erfolge des Verfassers sind in diesem Sinne sehr befriedigend auch in
angeborenen Fällen. Aber nach v. K r äfft- B hing beweisen solche Hei-
lungen nichts gegen die Annahme des originären Bedingtsein der conträren
Sexual empfindung. Man ist also gezwungen anzunehmen, dass die Suggestion
im Stande ist, angeborene psychosexuelle Anomalien zu beseitigen — oder
die angeborene Determination des Inhalts der geschlechtlichen Triebrichtung
in Frage zu stellen. Letztere Annahme ist offenbar die einfachere.
108 ▼• Sclircnck-Notzing.
Der 4. Abschnitt des "Werkes umfasst die specielle Pathologie,
nämlich die Erscheinungen des krankhaften Sexuallebens in verschiedenen
Formen und Zuständen geistiger Störung. In gedrängter Kürze
bespricht der Autor die Störungen des Sexuallebens bei psychischen Ent-
wickelungshemmungen^ erworbenen geistigen Schwächezuständen (nach Psycho-
sen, Apoplexie, Kopfverletzung, durch Lues, Dementia paralytica), bei Epi-
lepsie, im periodischen Irresein bei der Manie (Satyriasis und Nymphomanie),
Melancholie, Hysterie und der Paranoia.
Der 5. und letzte Theil des Buches erörtert ausführlich das
krankhafte Sexualleben vor dem Crim'inalforum. Derselbe
ist für den Gerichtsexperten von höchstem Werthe und man wird es nicht
in Abrede stellen können, dass gerade die Verbreitung dieses Theiles der
V. Kr äff t-E hingesehen Forschungen auf die öffentliche und richterliche
Beurtheilung der krankhaften Sexualvergehen mildernd und aufklärend ge-
wirkt hat. Gerade in den schwierigen Grenzfällen zweifelhafter Zurech-
nungsfähigkeit dürfte kaum je eine Freisprechung erzielt worden sein, ohne
dass von Seiten der Vertheidigung und Sachverständigen die autoritativen
Darlegungen des Verfassers benützt wurden ! Schon dieser eine Punkt zeigt
den ungeheuren Nutzen einer sorgfältigen psychologischen Analyse der Vita
sexualis, wie sie durch die Psychopathia sexualis dargethan wird.
Die Criminalstatistik ergiebt eine traurige Thatsache, dass die sexuellen
Delikte eine fortschreitende Zunahme aufweisen. Zur Beurtheilung der-
selben sind neuro- und psychopathische Bedingungen vielfach ausschlag-
gebend. Auf die krankhafte Bedeutung vieler solcher monströser Hand-
lungen ist man erst in neuerer Zeit aufmerksam geworden. Aber ein per-
verser Act cutspricht nicht immer einer Perversion der Empfindung, und
diese Perversion muss als krankhaft erwiesen werden. Die Entscheidung
liegt also in der Zurückführung der That auf die psychologischen Motive
(Abnormitäten des Vorstellens und Fühlens) und in der Begründung jener
elementaren Anomalieen als Theilerscheinung eines neuropsychopathischen
Gesammtzustandes. Diese psychopathischen Zustände können zu Sittlich-
keitsverbrechen führen und zugleich die Bedingungen der Zurechnungs-
fähigkeit aufheben, wenn 1. sittliche oder rechtliche Gegenvorstellungen (zur
Beherrschung des eventuell gesteigerten Geschlechtstriebes) entweder nie
erworben wurden oder durch Krankheit in Verlust geriethen, 2. wenn das
Bewusstsein getrübt und der psychische Mechanismus gestört ist, so dass die
etwa vorhandenen Gegenvorstellungen nicht wirksam werden konnten, 3. wenn
der Sexualtrieb pervers und unwiderstehlich ist.
Uebergehend zu den einzelnen Formen der Sittlichkeitsdelicte bespricht
Verfasser zunächst das Exhibitioniren (gröbliche Verletzung des öffent-
lichen Anstände 8 durch Demonstration der Genitalien), welches häufig als
impulsive Handlung und im Dämmerzustand (Epilepsie) vorkommt. Eine
besondere Varietät der Exhibitionisten stellen die Frotteurs dar, welche
öffentlich (z. B. im Gedränge) ihre Genitalien an anderen Personen zu reiben
oder zu pressen suchen. Von grösster Bedeutung für die forensische Praxis
sind die Nothzucht und der Lustmord; diese Verbrechen kommen vor
als impulsive Acte bei Imbecillen und Sadisten. Ebenso sind Körperver*
Psychologie und Psycboj>atholoßie der vita scxuaiis. 109
letznng, Sachbeschädiguug, Thierqnälerei auf Grund von Sadibmus möglich,
ferner Kanb und Diebstahl in Folge von FetischismuB (Diebstähle von Taschen-
tüchern, Beschädigung von Damentoiletten). Wichtig ist auch die Unzucht
mit Kindern, oft eine Folge der Paedophi^lia erotica. Bei dieser Krank-
heitsform handelt es sich um belastete Individuen, um ein primäres Auf-
treten der Neigung zu unreifen Personen des anderen Geschlechtes und um
unzüchtige Betastung und Onanisirung der Opfer. Es folgen dann weitere
Bemerkungen über Thierschänduug. Unter Bestialität versteht
Yerfasser die nicht pathologischen Fälle dieser Art, während er für die
krankhaften die Bezeichnung „Zooerastie'^ angeführt hat. Auch diese
Yenrrung hält der Autor für originär und stellt sie im Punkte des Zu-
standekommens der conträren Sexualempfindung gleich. Eine diesbezügliche
Beobachtung (Nr. 202) würde im Gegensatz zu dieser Auffassung ein
geradezu typisches Beispiel abgeben für die Associationstheorie Binet's
und des Referenten ! Warum kann denn diese Theorie die Zooerastie nicht
ebenso gut erklären wie den Fetischismus? Und andererseits liegt für die
originäre Anlage dieser Verirrung kein anderer Grund vor als ihre Uner-
klärlichkeit! Es folgen dann Ausführungen über die Zurechnungs-
fähigkeit Conträr-Sexualer. v. Krafft-Ebing plädirt mit vollem
Kecht für Abschaffung der Bestrafung homosexueller Acte, soweit sie nicht
an Kindern und in der Oeffentlichkeit begangen werden, aus Gründen, die
hinlänglich bekannt bind und von ihm in seiner Broschüre „Der Conträrsexuale
vor dem Strafrichter*' noch ausführlich erörtert sind. Dieses Kapitel
schliesst mit kurzen Bemerkungen über Amor lesbicus, Nekrophilie
und Incest.
Die Vorzüge des v. Krafft-Ebing' sehen Werkes bestehen in der
klaren Gliederung und klinischen Gruppirung des reichhaltigen Materials,
in der treffenden und bereits in der Wissenschaft eingebürgerten Ter-
minologie, sowie in der knappen, präcisen Form der Darstellung. Ebenso
übertrifil das Werk alle seine Vorgänger auf dem gleichen Gebiet in der
Feinheit psychologischer Analyse sowohl für die theoretischen wie für die
casuistischen Theile, in der Fülle anregender Ideen, in der liberalen, vor-
nehmen und humanen Auffassung dieser heiklen Fragen.
Als Nachtheile dagegen sind eine gewisse Ungleichheit in der Behand-
lung des Stoffes und eine zu einseitige theoretische Bearbeitung desselben
(ungenügende Begründung und Ueberschätzung der Erblichkeitsthcorie) an-
zuführen. Doch mag die zukünftige Forschung auch weitgehende Modi-
ficationen den Aufstellungen des geistreichen Verfassers angedeihen lassen,
sein Verdienst um diesen Wissenszweig wird dadurch kaum verkleinert!
Einzelne Pimkte seines Hauptwerkes hat v. Krafft-Ebing in beson-
deren Arbeiten weiter ausgeführt. So giebt die 2. Auflage seiner Schrift:
„D er Conträr sexuale vor dem Strafrichter,** die bereits erörterten
Ansichten des Verfassers in grösserer Vollständigkeit wieder. Er geht
liier besonders auf die B«chtsprechung anderer Staaten, auf die historische
Entwickelung der Frage, sowie das Inconsequente der Bechtspraxis ein.
Angefügt sind die oben erwähnten Abhandlungen zur Aetiologie
und zur Erklärung der conträren Sexualempfindung. In einer
1]0 V. Schrenck-Notzing.
Casuistik von 50 Fällen wird der Nachweis einer schweren erblichen Be-
lastung geführt und gezeigt, dass die ersten Eegungen der conträren Sexaal-
empfindung in den meisten Fällen sehr frühzeitig, zwischen dem 5. und 15.
Lebensjahre, auftreten und zwar« in der E.egel viel früher, als der Beginn
der Masturbation. v. Krafft-Ebing glaubt mit diesem Nachweis die
gegentheiligen Behauptungen Heyne rt 's und des Referenten zu widerlegen.
Nun ist aber vom Beferenten dieThatsache einer hereditären neuro-
oder psychopathischen Belastung überhaupt niemals bezweifelt,
sondern in der Mehrzahl der eigenen Beobachtungen bestätigt worden; da-
gegen wurde mit schwerwiegenden Argumenten bezweifelt, dass in der Mehr-
zahl der Fälle die hereditäre Belastung für Art und Inhalt der krankhaften
sexuellen Triebrichtung maassgebend sei ! Es wurde also unter voller Aner-
kennung einer erblichen neuropathischen Frädisposition das häufige Vor-
kommen einer angeborenen Determination des sexuellen Empfindens auf
bestimmte Objecte in Abrede gestellt, sondern für den Inhalt, für
das Object der psychosexuellen Zwangsempfindung sind in der Regel zu-
fällige schädliche Gelegenheitsursachen, an welche das geschwächte Associa-
tions vermögen, die leichte Bestimmbarkeit des Trieblebens anknüpfen, ver-
antwortlich zu machen. Es ist ein weiterer Irrthum, vorauszusetzen, dass
diese Schädlichkeit in allen Fällen in mutueller Onanie oder solitärer Mastur-
bation mit homosexuellen Vorstellungen bestehen müsse. Es genügt, wie
ich an anderer Stelle nachgewiesen habe, das Zusanmienfallen, die Gleich-
zeitigkeit geschlechtlicher Erregung mit gewissen Sinneseindrücken. Die
aus den körperlichen Sexual Vorgängen resultirenden lustbetonten Orgaii-
empfindungen, welche bei belasteten Individuen abnorm früh auftreten können
(schon im 5. Lebensjahr), werden in Folge der TJnkenntniss der Individuen
auf gleichzeitige Sinneseindrücke, also falsch bezogen und in diesem Sinne
gedeutet. Die Beziehung zwischen gleichzeitiger Object-
und Körperempfindung führt zu einer inhaltlichen Störung
der Urtheilsassociation, und wenn in der Widerstandsun-
fähigkeit des Nervensystems, in der fehlenden Oorrectur
weitere günstige Vorbedingungen geboten sind, s o kann sich
dieselbe zu einer bleibenden Zwangsempfindung entwickeln
und schliesslich das ganze GeschlechtsTeben beherrschen.
AVenn man aber, wie v. K r a f f t - B b i n g es in der vorliegenden Arbeit gethau
hat, den zeitlichen Unterschied zwischen dem Auftreten der ersten conträr-
sexuellen Empfindung und dem Beginn der ersten Masturbation in 50 Fällen
tabellarisch festzustellen sucht, so ist doch wohl die grosse Unzuverlässig*
keit des Gedächtnisses für eine soweit in die Kinderzeit zurückreichende
genaue zeitliche Localisation zu berücksichtigen. Solche Angaben können
doch nur einen relativen AVerth beanspruchen, wenn die Fehlerquellen rück-
wirkender Erinnerungsfalschung und unbewusster Deutung im Sinne einer
vorgefadsteu Meinung nicht durch Aussagen dritter unabhängiger Personen
ausgeschlossen sind. Für einen wissenschaftlichen Beweis von solcher Trag-
weite, wie derjenige der angeborenen Präformation sexueller Geschmacke-
richtungen, dürften sie kaum ernsthaft ins Gewicht fallen können.
Wie schon oben erwähnt, hat v. Krafft-Ebing im IV. Heft seiner
Psychologie und Psychopathologie der vita scxualis. Hl
Arbeiten aus dem Gesammtgebiet der Psychiatrie und Neuropathologie
kürzlicb (1899) eine weitere Serie von früheren Aufsätzen über die
Psycho- und Neuropathia sexualis gesammelt und herausgegeben.
Die ersten 2 Abhandlungen beschäftigen sich mit dem Thema der
„Unzucht mit Kindern und der Pae dophilia erotica**. Zu den
3 Klassen nicht kranker Personen, welche solche Vergehen sich zu
Schulden kommen lassen, rechnet der Verfasser 1. Wüstlinge, welche für
ihre sexuelle Potenz ein neues Stimulans nöthig haben, 2. jugendliche
Masturbanten mit psychischer Impotenz, die im unzüchtigen Contact mit
kleinen Mädchen ein Aequivalent für den ihnen uomöglichen Goitus suchen
und 3. lascive Dienstmägde, Bonnen, weibliche und männliche Verwandte,
welche die ihnen anvertrauten Kinder sexuell missbrauchen. Die patho-
logischen Fälle betreffen Individuen mit geistigen Defect- und Entartungs-
zuständen sowie mit erworbener Geiste^chwäche (Dementia senilis). Die
Paedophilia erotica kommt in gleicher Weise bei homosexuell wie bei hetero-
sexuell empfindenden Personen vor. Der krankhafte Gharacter dieser Hand-
lungen wird durch eine Oasuistik von 8 ausführlichen Beobachtungen treffend
illustrirt.
Die 3 nächsten Aufsätze sind dem Masochismus und Sadismus
gewidmet. In dem ersten derselben iliacht der Verfasser Front gegen die
vom Referenten für die Verbindung von Wollust und Grausamkeit vorge-
schlagene Bezeichnung „Algolagnie" (von äkyog = Schmerz und hdyvog =
geschlechtlich erregt, Sadismus = active Algolagnie, MasochLsmus = passive
Algolagnie). Er führt hiergegen solche Fälle an, in denen die Flagellation
von Masochisten perhorrescirt wird und bei welchen die Vorstellung der
Demüthigung die Hauptrolle spielt, v. Krafft-Ebing glaubt, dass bei
solchen Personen die Bezeichnung „Algolagnie^ nicht statthaft sei, höchstens
könnte man von „ideeller Algolagnie" sprechen; denn solche Individuen
würden gründlich enttäuscht sein, weil das Mittel (die Züchtigung) den
Zweck nicht erreiche. Dagegen ist der Umstand geltend zu machen, dass
die schönfärbende und übertreibende Phantasie niemals durch die Wirklich-
keit übertroffen wird. Zahlreiche Patienten dieser Art, Conträrsexuale,
Masturbanten und besonders Algol agnisten werden enttäuscht, sobald sie die
Producte ihrer Einbildungskraft zu realisiren versuchen. Sie erleben sozu-
sagen in ihren traumhaften Schwärmereien sexuelle Orgien, und werden
durch die Wirklichkeit ernüchtert. Natürlich haben alle diese Personen
ihr sehr variirendes individuelles System von Vorstellungen; dass oft sehr
complicirte Bedingungen zu erfüllen sind, um dieses System in die Wirk-
lichkeit zu iibersetzen, dafür giebt ja gerade die Kraf ft-Ebing'sche
Oasuistik Beispiele in hinreichender Zahl. Der Unterschied der activen
und passiven Bolle ist in den Romanen von Marquis de Sade und Sacher
Masoch nicht in der Weise durchgeführt, dass sie zu einer Gegenüberstellung
dieser Schriftsteller berechtigte. Eine solche ist vielmehr willkürlich und
wenn die Namen eine gewisse Verbreitung gefunden haben, so geschah es wohl
nur, weil der erste wissenschaftliche Bearbeiter des Gebietes v. Krafft-
Ebing sie in dieser Weise anwendete. Immerhin sind sachliche Be-
zeichnungen in der Wissenschaft durchaus nicht zu entbehren und
112 v« Schrenck-Notzing.
jedenfalls solchen Benennungen vorzuziehen, die nach Schriftstellern gebildet
sind, denen eine wissenschaftliche Bearbeitung der Sache ganz fem lag.
Femer sind diese sexuellen Yerirrungen historisch viel älter als Marquis
de Sade und Sacher Masoch. Und ausserdem giebt es Fälle, wo keine
dieser Bezeichnungen passend erscheint, trotzdem es sich um Schmerz- Wollust
handelt. Die Fälle von Selbstverstümmelung und Autoflagellant ismus sind
passender als „onanistischeAlgolagnie'', die geschlechtliche Erregung
beim Anblick von Frügelscenen als ,,vi8uelleAlgolagnie" zn bezeichnen.
Man kann ebenso von einer „zoophilen", „bestialen*', und ,,nekro-
phileu" Algolagnie sprechen, je nachdem das Object der Misshandlung zum
Zwecke sexueller Erregung ein Thier oder eine Leiche ist. Schliesslich giebt
es eine Klasse von Fällen, bei denen der Schmerz ohne jede Nebenbedeutung
und phantastische Ausschmückung um seiner selbst willen eine Rolle spielt,
ohne Bücksicht auf active oder passive Bethätigung ! Es triffi; kein einziges
der characteristischen Merkmale des Sadismus und Masochismus zu ; man ist also
schon vom Standpunkt der Logik berechtigt, diese Klasse „Algolagnie*^ zu
benennen. Die typischen Fälle von Sadismus, Masochismus würden der ideellen
oder „symbolischen Algolagnie** beizuzählen sein. Selbst wenn man
die unwissenschaftlichen Bezeichnungen „Sadismus** und „Masochismus**
beibehalten würde, könnte man den treffenderen, umfassenderen imd den
üblichen Regeln der wissenschaftlichen Terminologie entsprechenden Aus-
druck „Algolagnie** nicht umgehen ; Sadismus und Masochismus wären nur
besondere, aber durchaus nicht die einzigen Formen der Algolagnie. Eine
Anzahl interessanter Beobachtungen des Autors beschliesst diese Qruppe
von Abhandlungen.
Es folgen dann ein ganz kurier Aufsatz über „Fetischismus** sowie
als an 5. Stelle eine Abhandlung „TJeber Anaesthesia sexualis con-
genita**, an 6. über „Hyperaesthesia sexualis**. Daran schliesst
sich eine interessante Mittheilung über ,,Die Castratio virorum**.
Ein Patient, welcher an Neurasthenia sexualis ex masturbatione nimia litt,
Hess bei sich die Castratio completa vornehmen, wurde aber dadurch weder
von seinen Pollutionen noch von seiner libido geheilt. Später trat bei
ihm an Stelle der Masturbation Coitus mit Erectionsdauer bis zu 10 Minuten
und abschliessender Ejaculation (Prostatasecret) mit grossem Wollustgefühl.
Der 7. Aufsatz beschäftigt sich mit dem Zustandekommen der
Wollustempfindung und deren Mangel beim sexuellen Act.
Den SchlusB dieser Sammlung bildet ein gerichtliches Gutachten über ein
V on dem Techniker Paul Gassen erfundenes Instrument zur
Behebung der Impotenz, genannt Erector. Dasselbe spricht sieb
im günstigen Sinne für das besagte Instrument aus und wurde von Gassen
zu Reclamez wecken in Flugschriften, Zeitungsannoncen etc. benützt, trotz
des energischen Protestes von Seiten K rafft-Ebing's. TJebrigens sind die
Meinungen über die Wirksamkeit des Erectors getheilt. Mit vollem Recht
warnt Krafft-Ebing davor, über solche Fragen sich gutachtlich vor Ge-
richt zu äussern, da die missbränchliche Verwendung derselben zu Reclame-
zwecken wenigstens in Deutschland gesetzlich nicht verhindert werden kann.
Zusammenstellung der Literatur über Hysterie seit dem Jahre 1896.
(4. FortaeizuDg.) ')
74. Unverricht, Myoclonie. — Ealenburg's Keal-Encyclopädie der gesammten
Heilkunde, Ün. Auflage 1898, XVI. Bd., pag. 269—284.
In der Torliegenden Neubearbeitung der Myoclonie finden sich dieselben An-
schauungen wieder, welche Verf. schon früher in der bekannten Monographie yer-
treten hatte. £r umgrenzt das Gebiet der Myoclonie sehr enge und scheidet eine
Reihe Ton anderen Autoren früher dem Symptombilde der Myoclonie eingereihter
Beobachtungen streng aus demselben aus, insbesondere ist er bestrebt, alle hyste-
rischen KrampfTonnen, welche zugestandenermaassen in ihrer äusseren Erscheinungs-
weise häufig eine gewisse Aehnlichkeit mit der Myoclonie haben, aus dieser zu
eliminiren.
Im Princip anerkennt er die von Friedreich zuerst gezeichneten Krankheit«^
zuge des Paramyoclonus multiplex als Grundform an, „nach welcher wir die Myoclonie
als eine selbstständige von den übrigen motorischen Neurosen unterschiedene
Affection abtrennen". Er tritt für die Eigenartigkeit und Selbstständigkeit des
Erankheitsbildes des Paramyoclonus multiplex ein, nur dass er dasselbe mit einem
anderen Namen (Myoclonie) belegt und ihm einige neue aus der eigenen £r^
fahrung stammende symptomatische Characterzüge hinzufügt.
Die klinischen Merkmale der Myoclonie sind nach seinen, das Friedreich' sehe
Bild ergänzenden Beobachtungen folgende:
1. Betheiligung functionell nicht zusammengehöriger einzelner Muskeln oder
auch Muskelgruppen an blitzartig ablaufenden clonischen Zuckungen ohne locomo-
torischen Effect. „Ganz willkürlich und regellos springt bald dieser bald jener
Muskel herror."
2. Ungleichmässigkeit und Unregelmässigkeit der Zuckungen.
3. Symmetrisches Befallensein der Muskeln in der Mehrzahl der Fälle.
4. Beeinflussung durch äussere Momente:
a) Unterbrechung der Zuckungen im Schlaf, ausgenommen vereinzelte sehr
schwere Fälle;
») Vgl. Bd. VI, pag. 290, Bd. VII, pag. 172 u. 342 und Bd. VHI, pag. 12.
Zeitschrift fär Hypnotismus etc. IX. 8
114 Zasammensiellimg der Literatar über Hysterie.
b) der besänftigende fiinfluss der Willensanstrengang ;
c) der steigernde Einfluss seelischer Erregungen;
d) der steigernde Einfluss der Anspannung der Aufinerksamkeit auf einen
bestimmten Körperiheil;
e) der steigernde Einflnss sensibler Reize.
Zam Unterschiede Ton Friedreich giebt er eine gelegentliche Betheiligong
der Gesichts-, Hals- und Rumpfinuskulatur an den myoclonischen Zuckungen zu
und Tor Allem hebt er den ungünstigen Verlauf und die durchaus infauste Prognose
der Erkrankung hervor.
Differentialdiagnostisch bespricht er im Einzelnen die Beziehungen der Myodonie
zur Hysterie, zur Chorea, zur Chorea electrica, zum Tic conyulsif und zur Maladie
des tics.
Die letzteren beiden Formen haben nach U. überhaupt klinisch und sympto-
matologisch überhaupt keine Aehnlichkeit mit Myoclonie und schliessen sich daher
von selbst aus diesem Krankheitsbilde aus. Von der Chorea unterscheidet sich
die Myoclonie hauptsächlich durch das Befallensein synergisch nicht zusammen
arbeitender Muskelgruppen.
Bezüglich der als Chorea electrica beschriebenen Bilder giebt er ap, dass einige
Fälle mit jener Myoclonie übereinstimmen und xmzweifelhaft in das Gebiet derselben
gehören; sie bilden „gewissermaassen eine Uebergangsstufe zur Myoclonie".
Am meisten umstritten ist die Abgrenzung von der Hysterie, hatten doch
Autoritäten wie M Ob ins und Strümpell den Myoclonus nur als eine ünterform
der Hysterie bezeichnet.
Verf. hebt als untrügliches . differentialdiagnostisches Merkmal die „Unnach-
ahmbarkeit der myoclonischen Zuckungen^ hervor. Während die hysterischen
Muskelactionen alle den willkürlichen Bewegungen ähneln und auch willkürlich
nachgemacht werden können, während alle hysterischen Krämpfe ihre Entstehung
aus der Willenssphäre ohne Weiteres erkennen lassen, ist bei dem myoclonischen
Krampf jeder Willenseinfluss ausgeschlossen. Verf. schreibt : „Wenn wir bei einem
Menschen einen Rectus abdominis isolirt sich contrahiren sehen oder nur eine
Portion des Stemocleidomastoideus oder isolirte Zuckungen im Sartorius, so werden
wir mit gut begründetem Recht den hysterischen Character der Zuckungen aus-
schliessen können."
In diesem Punkte befindet sich Verf. entschieden im Irrthum; es sei nur auf
die neuerdings vielfach studirten isolirten Augenmuskellähmungen und Contracturen
auf hysterischer Basis hingewiesen, ganz zu geschweigen von anderen, der Unver-
richt' sehen Auffassung widerstreitenden Thatsachen.
Die Myoclonie ist also, nach Unverricht, als eine völlig selbstständige
functionelle Nervenkrankheit, und den übrigen motorischen Neurosen gegenüber- und
gleichzustellen; sie beruht wahrscheinlich, wie schrn Friedreich angenommen
hatte, auf einer Erkrankimg der Ganglienzellen der grauen Vordersäulen des Rücken-
marks und ist von durchaus ungünstiger Prognose. Palliativ kann vorübergehend
durch Chloral und Brom genützt werden. Brodmann- Jena.
75. Wollenherg, Chorea, Paralysis agitans, Paramyoclonus mul-
tiplex (Myoclonie). Nothnagels Handbuch, XU. Band. 1898.
Das was Verf. unter dem Kapitel Chorea und Paralysis agitans abhandelt,
Ztiflammensiellung der Literatur über Hysterie. US
interessirt an dieser Stelle nicht; dagegen dürfte eine Besprechung der Myodonie
und der „choreiformen Zastände*', welche Verf. in einer Unterabtheilung beleuchtet^
am Platze sein.
Unter dem Begriff der „choreiformen Zustände*' werden von Wollen-
berg eine Reihe heterogener Krankheitsbilder zusammecgefasst, welche das eine
Gemeinsame haben, dass bei ihnen choreatische Bewegungen Torkommen; sie sind
jedoch nur als eine gelegentliche Complication der eigentlichen Grunderkrankung
aufzufassen.
Hieiiier gehören:
1. die Chorea posthemiplegica ;
2. die choreatischen Bewegungen nach cerebraler Kinderlähmung;
3. die Chorea hysterica;
4. die Chorea electrica, welche theils unter die rhythmische Chorea der Hysterie,
theils unter die sog. „Dubini*sche Krankheit ** zu subsumiren ist.
Für die Diagnose der hysterischen Chorea ist von Wichtigkeit die Beeinfluss-
barkeit durch hypnotische Suggestionen. Verf. theilt 2 Fälle hysterischer Chorea
mit, die er durch Hypnose zur Heilung brachte.
In der Bearbeitung des Paramyoclonus multiplex bringt Verf. zunächst
in knapper, prägnanter Ausführung . eine historische Uebersicht über die Wand-
lungen in der Lehre von der Myoclonie.
Persönlich bekennt sich Verf. einerseits als einen Gegner jener Auffassung,
welche die Kyoclonie einfach in der Hysterie aufgehen lassen möchte, obwohl er
zugesteht^ dass ein grosser Theil der als Paramyoclonus beschriebenen Fälle that-
sächiich zur Hysterie gehört; andererseits kann er sich auch nicht jenen Autoren
anschliessen, welche die Myoclonie auf Grund eines einzelnen Symptoms zu einem
Krankheitsbilde sui generis stempeln wollen; man kann nach seiner Ansicht „von
einem Symptomcomplex, wie er zum Begriff eines Krankheitsbildes gehört, nicht
sprechen, sondern nur von einem Symptom der myoclonischen Zuckung", welches
allerdings ein oft sehr characteristisches Muskelspiel darbiete.
Verf. formuUrt seine Anschauung über das Wesen der genannten Erkrankung
in folgendem Satze: „In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle scheint die sog.
Myoclonie nichts mehr zu sein als eine besondere Form der ticartigen Erkrankungen,
die sich wie diese auf dem Boden einer degenerativen Anlage entwickelt."
£s berührt eigenthümlich, dass Verf. in diesem Zusammenhang (pag. 174) die
Chorea electrica kurzweg mit den myoclonischen Zuständen identificirt, während er
an anderer Stelle (pag. 98) dieselbe theils zur Hysterie rechnet, theils einer in-
fectiösen Erkrankung zuweist. Der Widerspruch, in den sich Verf. verwickelt, mag
ein Beweis dafür sein, wie wenig Klarheit noch in dem bunten Wirrwar gekünstelter
Krankheitsbilder herrscht. Brodmann -Jena.
76. Jules Soury, Les Myoclonie s. Physiologie pathologique. — Annales
medico-psychologiques 1897. V, pag. 399—422.
Der Character der Abhandlung ist ein vorwiegend kritisch referirender ; alle
bedeutenderen auf die Myoclonie und verwandte Gebiete bezüglichen Arbeiten
werden eingehend durchgesprochen und der Standpunkt der betr. Verfasser kritisch
beleuchtet; insbesondere erfährt auch die von den deutschen Autoren vielfach
nebensächlich behandelte oder ganz vernachlässigte physiologische bezw. physiologisch-
8*
2X6 Zusammenstellung der Literatur über Hysterie.
][>athologi6che Seite der Frage eine gebührende Würdigung. — Um Wiederholungen
zu vermeiden, können im Referat nur grundlegende Gesichtspunkte Berücksichtigung
finden.
Verf. bespricht zunächst das Verhältniss der myoklonischen Erscheinungen zur
Epilepsie. Er geht aus von den Studien Rüssel Reynold's, welche die merk*
würdige Thatsache ergeben haben, ,,da8s fast drei Viertel der Epileptiker in ihren
interparoxystischen Zeiten, unter irgend einer Form, an motorischen Störungen
leiden*'. In den Zwischenräumen, welche die Anfälle yon einander trennen, können
bei ein und demselben Individuum Zittern, Gonvulsionen, tonische und clonische
Spasmen vorhanden sein. Am häufigsten sind es clonische Zuckungen, die ihrer
Intensität nach sehr schwanken und bald nur in leichten, kaum merklichen Muskel-
contractionen, bald in heftigen Erschütterungen des ganzen Körpers bestehen.
B r e 8 1 e r fusst auf diese Veröffentlichungen und constatirt (wie ünverricht)
an eigenen Beobachtungen die Coezistenz der Myoclonie und der Epilepsie. Die
Hysterie ist (im Gegensatz zuMÖbius, Strümpell, Hirt, Fit res) von der
Myoclonie stricte zu trennen. Er bezeichnet die mit Epilepsie combinirte Myoclonie
als spinale Epilepsie, d. h. als eine Erkrankung der motorischen Neurone erster
Ordnung auf der Grundlage einer „epileptischen Veränderung".
Bötticher unterscheidet 2 Typen und rubricirt den einen, die Fried-
reich'sche Krankheit, unter die Hysterie, den anderen, die Myoclonie nach Ün-
verricht, unter die Chorea Huntington.
Lemoine rechnet den Paramyodonus zur Ghoreafamilie und stellt ihn an
die Seite der Chorea electrica und der maladie des tics als ein „Syndrom mit
schwankenden Symptomen". Andererseits betont er aber auch die prädisponirende
Rolle der Neurasthenie und das Vorkommen psychischer Begleiterscheinungen; er
neigt dazu, den Paramyodonus der hysterischen und neurasthenischcn Neurose zu
nähern.
Ziehen hat ebenfalls eine Vereinigung der einzelnen verwandten Bilder
versucht, andererseits aber auch wieder auf eine reinliche Scheidung heterogener
Dinge Bedacht genommen. Er fasst unter dem Begriff der selbstständigen Myoclonie
zusammen: den Paramyodonus multiplex, die Chorea electrica, den Tic convulsii
und das essentielle convulsive Zittern namentlich neurasthenischer Personen bei
starken Schmerzreizen, Fieber, Frost etc. Von der selbstständigen Myoclonie zu
trennen sind: a) reflectorisch ausgelöste myoclonische Zuckungen, wie der salta-
torische Refiexkrampf und die clonischen Krämpfe in Amputationsstümpfen ; b) die
symptomatischen Myoclonien der Neurosen (Neurasthenie, Hysterie, Epilepsie).
Brissaud besteht im Gegensatz zu Ziehen auf einer principiellen Ausein-
anderhaltung der clonisch-spastischen Zustände (spasmes cloniques) von den Tics.
Die ersteren seien ein reflectorischer Act und spinalen Ursprungs, die letzteren ein
cortical cerebraler Act und damit eine psychische Erkrankung, welche dem Einfluss
des Willens unterliegt.
Dass dem nicht immer so ist, beweist Soury an Beobachtungen, bei denen
Combinationen von myoclonischen Erscheinungen mit psychischen Störungen be-
standen. Es geht daraus hervor, wie wenig eine localisatorische Erklärung der
Erkrankung bislang noch durchführbar ist.
Bezüglich der Pathogenese erörtert Soury all die widerstreitenden corticalen
(Raymond, Minkowski, Grawitz u. A.) und die spinalen Theorien des Myo-
Zusammexutellaiig der Literatur über Hysterie. , \\^
olonna (Friedreioh, Unverricht, Bresler) und erwähnt such die gänzlich
unhaltbare muskuläre Theorie von Popoff. Ihrer Originalität halber sei die
spinale Theorie Vanlaires besonders angeführt, der die eigentliche Ursache des
liyoclonus in einer excessiven, durch periphere Reize ausgelösten resp. unterhaltenen
Erregbarkeit der sensitiven Elemente des Rückenmarks sieht.
Verf. selbst schliesst sich dem yermlttelnden Standpunkte Lugaro's an,
welcher die verschiedenen physiologischen Hypothesen zu vereinigen sucht. Er
betrachtet die clonischen Bewegungsformen „als pathognomonisch für eine specielle
Alteration des Centralnervensystems'^. Doch ist dieser Zustand weit davon entfernt,
immer nur die Folge einer Uebererregbarkeit des Rückenmarks zu sein, denn
gerade bei einem Falle Lugaro 's waren die Reflexe, die ja doch einen Maassstab
für die JSrregbarkeitsverhältnisse des Rückenmarks abgaben, nichts weniger als ge-
steigert. Die functlonelle Schädigung der nervösen Elemente bei der Myoclonie
besteht, ausser der Plötzlichkeit der motorischen Entladung, darin, dass diese vor
sich gebt, ohne durch Reize, welche normaler Weise den motorischen Antrieb
geben, ausgelöst zu sein.
Der innere Zustand der Nervenelemente kann ein sehr verschiedener sein:
^Bald handelt es sich um eine angeborene Disposition wie bei der familiären
Myoclonie; bald um eine, an die Existenz einer Neurose geknüpfte eigenartige
dynamische Störung, wie in den der Hysterie, der Neurasthenie und der Epilepsie
assocürten Myoclonien; bald um die Wirkung abnormer in den Haushalt einge-
führter Stoffe, wie bei jenen Formen der Myoclonie, welche im Verlaufe von chro-
nischen Intoxicationen oder Infectionen (acutes Delirium) ausbrechen; bald endlich
am eine dynamische Störung als Ausfiuss einer organischen Erkrankung anderer
Nervenelemente, z. B. bei den Myodonien, die im Gefolge der Tabes dorsalis der
disseminirten Sclerose etc. auftreten."
Die Myoclonie ist demnach nicht eine wesentliche und selbstständige Er-
krankung des Nervensystems, sie ist ein Symptom und zwar das Symptom oder
der Ausdruck jenes auf den verschiedenartigsten Schädlichkeiten beruhenden krank-
haften inneren Zustandes der Neurone, der sich in clonischen Entladungen kund-
giebt und den Lugaro „neuroclonischen Zustand'' (6tat neuroclonique) nennt.
Der Sitz dieser Erkrankung, resp. der Ursprung der myodonischen Erschei-
nungen ist kein einheitlicher, sondern muss in jedem Einzelfalle bestimmt werden.
„1. Wenn die Myoclonie sich manifestirt durch fibrilläre Zuckungen isolirter
Muskelbündel wie bei dem fibrillären Zittern der Neurastheniker, bei der Chorea
fibrillaris, in dem reinen Paramyoclonus nach Friedreich muss sie als symptomatisch
betrachtet werden für den neuroclonischen Zustand der motorischen Protoneurone,
der Zellen der Vorderhömer, unter deren Einfluss die Muskelbündel stehen.
2. Wenn Myoclonie Zuckungen coordinirter Muskelgruppen erzeugt, wie bei
der Chorea electrica, bei dem gewöhnUchen Tic, so ist der neuroclonische Zustand
auf eine Erkrankung der subcorticalen motorischen Elemente zweiter Ordnung
zurückzuführen, welche grosse Gruppen directer motorischer Neurone unter ihrer
Herrschaft haben.
3. Endlich, wenn die clonischen Bewegungen den Cbaracter wirklicher psy-
iihischer Acte haben, wie bei der maladie des tics, so entspringen sie einem neuro-
clonischen Zustande der psychomotorischen Neurone der Hirnrinde.^
Zum Schlüsse zieht Verf. einen Vergleich zwischen den geschilderten myo-
118 Zasammenstellong der Literatur über Hysterie.
cloniBchen ErscheiDungen und einer fleihe psychischer Anomalien und kommt zu
dem Schlüsse, dass die impulsiven Handlungen, die fixen Ideen, die Obsessionen mit
jenen auf eine Stufe zu stellen seien. Beide seien im Grunde genommen „nur ver-
schiedene functionelle Manifestationen ein und desselben elementaren Zustandes der
Nervenzellen — jenes neuroclonischen Zustandes der Neurone*', deren verschiedene
physiologische Function (in dem einen Falle rein psychische, in dem anderen rein
somatische Erscheinungen) sich lediglich aus der Verschiedenheit der anatomischen
Verknüpfung erkläre.
Mit diesen letzteren Ausführungen scheint Verf. in jenes von Gefahrdungen
nicht ganz freie Fahrwasser wissenschaftlicher Verallgemeinerungen gerathen zu
sein, in dem man die moderne Forschung sich so häufig bewegen sieht.
£ ;* o dm a n n - Jena.
77. Bresler, UeberSpinalepilepsie. Neurolog. Gentralbl. 1896, pag. 1015.
Obwohl die vorstehende Arbeit mit der Hysterie sich nur ganz vorübergehend
beschäftigt, mag sie in diesem Zusammenhang aus differentialdiagnostischen Gründen
kurz Erwähnung finden.
Verf. will unter „Spinalepiiepsie^ jene Fälle epileptischer Neurose zusammen-
fassen, bei welchen die „epileptische Veränderung^ (Nothnagel) auch zuerst oder
vorzugsweise sich im Rückenmark etablirt und erst nachträglich auf das Gehirn
übergeht.
Er beschreibt nun 2 den Unv er rieh tischen Beobachtungen „familiärer
Myoclonie" durchaus analoge Fälle. Hier wie dort lag eine Complication mit
Epilepsie vor; hier wie dort entwickelte sich das eine Mal zuerst die typische
Epilepsie und dann erst traten myoclonische Erscheinungen auf, das andere Mal
wurde der Ausbruch des ersten epileptischen Anfalles von mehrtägigen myoclo*
nischen Zuckungen eingeleitet. Späterhin traten bei sämmtlichen Fällen die epilep-
tischen Anfälle im Krankheitsbilde ganz zurück gegenüber den Symptomen der
Myodonie.
Indem Verf. ätiologisch die Möglichkeit einer psychischen Infection ausschliesst
und in dem Nachweis epileptischer Anfälle eine differentialdiagnostische Stütze für
die nicht hysterische Natur der Zuckungen zu haben glaubt, tritt er für die noso-
logische Einheit des myoclonischen Symptombildes mit der Epilepsie ein. Wo
Myoclonie mit Epilepsie combinirt ist, handle es sich um eine epileptische Myo-
donie oder Spinalepilepsie, die als „eine durch die epileptische Veränderung be-
dingte „Erkrankung der motorischen Neurone erster Ordnung^ auf-
zufassen ist. — Die Frage, ob die ungemischte Myoclonie auch eine Neurose epi-
leptischer Natur ist, lässt Verf. offen, glaubt aber, dass es späterhin gelingen werde,
auch bei Fällen „reiner Myoclonie" die epüeptische Veränderung des Kückenmarks
nachzuweisen, während alle zweifelhaften Fälle unter der Hysterie, Chorea und
maladie des tics unterzubringen seien. Br od mann -Jena.
78. Baymondy Leyons sur les maladies du Systeme nerveux 1896.
Le^on XXIX u. XXX. Des Myoclonies, pag. 661 — 691.
Im Anschluss an die klinische Analyse eines Elrankheitsfalles, der eine Oom-
bination von Paramyoclonus multiplex (im Sinne Friedreich' s), choreatischen
Bewegungen und gewöhnlichem Tremor darbot, bespricht Verf. alle einschlägigen
ZuBammenstellang der Literatur über Hysterie. 119
besonders die differentialdiagnostischen Fragen. Sein Standpunkt ist wohl der-
jenige der meisten französischen Autoren; er verdient daher kurz gekennzeichnet
zu werden.
Verf. tritt zunächst dem Bestreben entgegen, den Paramyodonus multiplex
als eine motorische Neurose sni generis von den übrigen functionellen Krampf-
zustiinden völlig abzusondern. £r sucht im Gegentheil eine nosographische und
ätiologische Vereinigung der verschiedenen Gombinationen und Modalitäten von
Krampferscheinungen untpr einen gemeinsamen Sammelbegriff anzubahnen.
Wie schon Ziehen') 1888 unter dem gemeinsamen Namen der „Myoclonie**
eine Reihe mit clonischen Muskelkrämpfen verlaufender Symptombilder zusammen-
&stte, so sucht auch Verf. nach einem generellen Merkmal für die nicht zu den
grossen motorischen Neurosen gehörenden clonisch-spastischen Zustände.
Als solches Merkmal anerkennt er die neuro- resp. psychopathische Disposition.
Jene Zustände sind alle der Ausdruck resp. das firzeugniss einer degenerativen
Veranlagung. Sie lassen sich streng genommen weder klinisch noch ätiologisch von
einander trennen, denn sie bieten zahllose Combinaüonen und Uebergangsformen
dar, bestehen häufig neben einander, entwickeln sich ans einander und entstehen
nnr auf dem Boden schwerer neuropathischer Prädisposition.
Als Sammelname für die hierher zu rechnenden Symptombilder schlägt Verf.
die Bezeichnung Myoclonie vor. £r subsumirt diesem Krankheitsbegriffe 6 sympto«
matologisch verschiedene Formen:
1. Das fibrilläre Zittern, das sich namentlich bei Neurasthenikern, häufig auf
einige Muskelbündel beschränkt, findet.
2. Den Paramyodonus multiplex — ausgezeichnet durch convulsivische Stösse
in einem isolirten Muskel ohne locomotorischen Effect.
3. Die sog. „Chorea fibrillaris'^ — mit 2 zu identificiren.
4. Die Chorea electrica (Henoch, Bergeron), durch coordinirte Bewegungs-
formen characterisirt.
5. Den Facialistic.
6. Die Tickerkrankheity welche in 2 Formen verlaufen kann, einer leichteren
ohne und einer schwereren mit psychischen Störungen (Echolalie, Koprolalie, fixe
Ideen).
Bezüglich der Pathogenese tritt Verf. für die corticale und subcorticale
Theorie der Myoclonien ein.
Hysterische Krampfformen schliesst Verf, principiell aus dem Krankheitsbild
der Myoclonie aus und er trennt daher die Chorea rhythmica und den Spasmus
saltatorins, sowie die gewöhnlichen Formen des Tremors von derselben ab. Er ver-
wahrt sich ausdrücklich dagegen, die Myoclonie zur Hysterie zu rechnen, obwohl
er anerkennt, dass myodonische Erscheinungen häufig mit den grossen Neurosen
aus einer Quelle, der erblichen Degeneration, entspringen und daher mit diesen
combinirt sein können.
Die Prognose ist bei dem degenerativen Character der Krankheit ungünstig.
SymiKomatiscbe Erfolge sind durch Suggestion, aber auch nur durch diese, zu er-
zielen. Brodmann- Jena.
') Ziehen, Ueber Myodonus und Myoclonie. Arch. f. Psych. XIX, pag. 416.
130 Zusammenstellung der Literatur über Hysterie.
79. Boettiger, Zum Wesen der Myoclonie (Paramyoclonus multi-
plex). — Berl. klin. Wochenschr. 1896, Nr. 7.
Verf. discutirt die Differentialdiagnose zwischen Chorea chronica einerseits
und Chorea minor und Paramyoclonus andererseits. Seine Untersuchungen gipfeln
in dem Schlüsse, „dass die von Unverrlcht unter dem Namen der Myoclonie
beschriebenen Falle keine eigenartigen Krankheitsbilder darstellen, sondern sich
mit dem bekannten Bilde der Chorea chronica progessiya decken.*' Diese beiden
Krankheiten (chron. Chorea und Myoclonie) seien nicht nur nahe verwandt, wie
MÖbius und Gowers annahmen, sondern völlig identisch.
Verf. dürfte mit dieser Auffassung des Wesens der Myoclonie ziemlich Isolirt
dastehen. Daraus, dass sich bei der chronischen Chorea in gleicher Weise wie
beim Paramyoclonus blitzartige clonische Zuckungen in einzelnen, gelegentlich auch
in symmetrisch gelegenen Muskeln nachweisen lassen, kann doch nicht die Wesens-
gleichheit dieser völlig verschiedenen Symptombilder abgeleitet werden.
Brod mann- Jena.
80. Stembo, Ein Fall von Paramyoclonus multiplex mit Zwangs-
bewegungen. Berl. klin. Wochenschr. 1896, Nr. 44.
Der eigenthümliche vom Verf. mitgetheilte Fall bildet eine Bestätigung der
von den Franzosen vertretenen Anschauungen. Es giebt Combinationen von clo-
nischen Krampferscheinungen mit allen möglichen, den rein degenerativen Zuständen
zugehörenden psychischen Störungen. Hier handelt es sich um die Verbindung
einer dem Paramyoclonus am nächsten stehenden Krampfform mit Zwangsirresein
in der Form der Koprolalie, wie sie bei der Mehrzahl der maladie des tics con
vulsifs, einer typischen Krankheitsform der Degeneres, regelmässig vorkommt.
Trotzdem alle anderen Symptome der Hysterie fehlen, glaubt Verf. den Fall
der Hysterie zurechnen zu dürfen, im Besonderen der Hysterie monosymptomatique
von Pitres. (Sollte es sich, nach den vorhandenen Cardinalsymptomen zu schliessen,
nicht vielmehr um eine einfache maladie des tics handeln? Ref.).
Brodmann- Jena.
81. Schüttey Ein Fall von Paramyoclonus multiplex bei einem
Unfallkranken. Neurol. Ceutralbl. 1897, 1.
Bei einem Unfallkranken entwickeln sich auf dem Boden einer traumatischen
l^eurose allmählich (nach 5 Jahren) clonische Zustände, welche Verf. als Paramyo-
clonus multiplex auffasst. Verf. sieht in diesem Zusammentreffen einen Beleg dafür,
„dass Paramyoclonus und Hysterie zusammengehören**, während es doch für jeden
vorurtheilslosen Beobachter viel näher läge, anzunehmen, dass die Hysterie, wie et
so häufig geschieht, ihre Symptome auch in diesem Falle einer anderen Krankheits-
form entlehnt hat, dass also die myodonischen Zuckungen nur als Symptom zu
der Hysterie in Beziehung stehen.
Etwas gewagt klingt auch die Behauptung, dass die hereditäre Disposition bei
dem Paramyoclonus überhaupt keine Rolle spiele (als ob die Hysterie von Hereditäts-
fragen völlig unberührt bliebe!); ebenso gewagt das Unterfangen, den klinischen
Symptomcomplex einer traumatischen Neurose einfach mit dem Begriff der Hysterie
zu verschmelzen. Brodmann -Jena.
Zu8ammen8t«Uang der Literatur über Hysterie. 121
82. SchüHze, Vortrag auf der Versammlung sndwestd. Neurologen.
Man 1897. Ref. im Neurol. Cbl. 1897.
L Chorea-, Poly- und Monoclonien.
Verf. bringt den Paramyoclonus in Beziehung zum Tic conTulsif, den er all
yUyodonie" den Polyclonieen gegenüberstellt. Mit der Hysterie habe der eigent-
liche Paramyoclonus nichts zu thun. Die Ton Unverricht als Myoclonie be*
schriebenen Fälle gehören nach seiner Ansicht zur Chorea hereditarea (Hunting-
ton Gh.).
II. Myotonie bei Magenektasie.
Da in dem mitgeteilten Falle eine anderweitige ätiologische Ursache für da«
Auftreten der myotonischen Erscheinungen nicht auffindbar war, bringt Verf. die-
selben in causale Verbindung mit einer bestehenden Magenektasie. £r verweist
zur Stutze seiner Anschauung darauf, dass auch schon Kussmaul Fälle von Muskel-
krämpfen bei Magenektasie beschrieben habe.
83. Hoffmann^ Demonstration eines Falles von Paramyoclonus
multiplex auf hysterischer Basis. Deutsche med. Wochenschr. 1896. V. B.
Per Inhalt des Vortrags ist durch den Titel erschöpft.
84. V, HÖsslifif Neuropathologische Mittheilungen : EinFallyonMyoclonie.
Heilung durch Arsenikbehandlung. Münch. m. W. 1896. 12.
Vermuthlich eine Suggestivheilung hysterischer Krampferscheinungen.
85. KrewcTy Ein Fall von Paramyoclonus multiplex. Deutsche Zeit-
schr. f. Nervenheilk. 1896. IX.
Der Fall ist ohne besonderes Interesse. Brodmann- Jena.
86. V. Krafft-Ebing, Heber eine typische, an Paralysis agitans er-
innernde Form von hysterischem Schütteltremor. Wiener klinische
Wochenschr., 1898, Nr. 49, 1113.
Die Hysterie kann nicht nur organische Erkrankungen, sie kann auch Neurosen
vortäuschen. Unter den letzteren nennt Verf. auf Orund seiner Erfahrungen Tetanie,
Vertigo epileptica, Jakson-Epilepsie, Athetose, Chorea, Myoclonie, Tic convulsif und
Paralysis agitans.
Verf. reiht seinen früheren Beobachtungen 5 weitere Fälle von hysterischer
Zittemeorose an, welche ganz dem Bilde der Parkinson'schen Krankheit (Paralysis
agitans) entsprachen.
Sämmtliche Fälle betreflfen jugendliche weibliche Individuen, welche körper-
liche Stigmata der hysterischen Neurose vermissen lassen und im Anschluss an ein
Trauma (mechanischer oder psychischer Schok; nur einmal Infectionskrankheit) all-
mählich an mehr oder weniger ausgebreitetem grobschlägigen Zittern erkrankten.
„Die Entstehung der Zittemeurose ist eine allmähliche. Die corticale Bedeutung
des Zitterns ergiebt sich aus seinem Zurücktreten in voller psychischer Buhe und
im Schlafen, aus seinet bedeutenden Steigerung bei Intention, namentlich aber bei
Emotion."
Als differentialdiagnostisches Merkmal hebt Verf. hervor, dass bei Paralysis
agitans Intention geradezu beruhigend auf den Tremor wirkt und Gemtithserregungen
kaum einen Einfluss auf die Intensität des Zittern ausüben, zum Mindesten die
Frequenz der Oscülationen nicht steigern. Characteristisch für den hysterischen
122 Zusammenstellung der Literatur über Hysterie.
Schüttelkrampf ist ferner „der polymorphe, in Intensität und Extensität überaus
wechselnde Character des Zitterns, während die Qualität und der Ort derselben bei
Paralysis agitans durch lange Zeit ganz unverändert sind''. Ausserdem sind die
Zittererscheinungen der Paralysis agitans langsam progredient und unaufhaltsem,
„während die hysterische Zittemeurose bei allem Polymorphismus und grosser
regionärer Wandelbarkeit, wesentlich recht stationär bleibt", yor Allem aber, wenn
auch nicht immer heilbar, so doch suggestiv beeinflussbar ist.
Von den übrigen Nebensymptomen der Paralysis agitans kann die motorische
Schwäche der Glieder durch eine hysterische Amyosthenie und der Rigor durch
Diath^se de contracture vorgetäuscht werden. Der psychische Ursprung dieser
Erscheinungen ist jedoch leicht nachweisbar. Brodmann -Jena.
87. Bre$ler, Beitrag zur Lehre von der Maladie des Tics convul-
sifs (mimische Krampfheurose). Neurolog. Gentralbl. 1896.
Im Anschluss an die Mittheilung einer recht dürftig geführten Kranken-
geschichte, welche gar nichts Neues bietet, macht Verf. einige psychologische Be-
merkungen über den Entstehungsmechanismus der eigenartigen Krankheitsform der
Tickerkrankheit, im Speciellen ihrer einzelnen Hauptsymptome. Indem er behauptet,
dass die bei derselben vorkommenden Zuckungen ebenso wie die Störungen auf
psychischem Gebiete lediglich Ausdrucksbewegungen seien, nämlich der mimische
resp. sprachliche Ausdruck einer auf einen peinlichen Affect bezüglichen Abwehraction,
kennzeichnet er das Leiden als eine „ Abwehrneurose " und stellt dasselbe mit den
von Breuer und Freud unter gleichem Namen beschriebenen Neurosen (Hysterie
und Zwangsvorstellungen) auf eine Stufe. Ob Verf. damit zur Klärung des Krank-
heitsbildes etwas beigetragen hat, ist sehr zweifelhaft. Unzweifelhaft dagegen ist
es, dass die Bereicherung unserer neuropathologischen Nomenclatur mit einer
neuen Bezeichnung „mimische Krampfheurose'' durchaus überflüssig ist.
Brodmann- Jena.
91. RichtcTj Die Bedeutung der sensibel-sensoriellen Störungen
bei Hysterie und Epilepsie und ihr Verhalten zu den Anfällen.
Arch. f. Psychiatr. XXXI H. 3.
Gestützt auf ein recht ansehnliches Material (128 Fälle: 71 Hysterische, 49
Epileptische und 8 Hystero-Epileptische) unternimmt Verf. den Versuch, die bisher
allgemein anerkannte pathogn ostische Bedeutung sensibler und sensorieller Störungen
für die Diagnose der Hysterie resp. Epilepsie zu widerlegen.
Er fand 1. bei Hysterie
Sensibilitätsstörungen überhaupt in 59 von 71 Fällen = 83 %
Hemihypästhesie in 40,8 „
Fleckweise Anästhesie in 33,8 „
Allgemeine Hypästhesie, bes. Hypalgesie in 8,4 „
2. bei Epilepsie
Sensibilitätsstörungen überhaupt in 31 von 49 Fäll0n = 63%
Hemihypästhesie in 10,2 „
Fleckweise Hypästhesie in 40,6 „
Allgemeine Hypalgesie und Hypästhesie in 12,2 „
Das grösste Gewicht legt Verf. in seinen Untersuchungen auf die Feststellung
der diagnostischen Verwerthbarkeit der concentrischen Gesiehtsfeldeinengung. Die
ZusammeDBtelluDg der Literatur über Hysterie. 123
Franxosen haben diese« Symptom bekanntlich als ein „Stigma der Hysterie'' auf-
gefasst und Mo blas bezeichnete es noch nenerdings als ein „constantes Symptom
der traumatischen Neurose''. Verf. dagegen legt der conc. GF£. nur die Bedeutung
einer Ansdrackserscheinung gewisser psychischer und nervöser Störungen der betr.
Kranken bei. „Bas Vorhandensein von psychischen und affectiyen Anomalien bei
Hysterie in Form von Keizbarkeit, Launenhaftigkeit, Unaufmerksamkeit, leichter
£rmudbarkeit, Unruhe etc. von allgemeinen nervösen Beschwerden wie Kopfdruck,
Schwindel, Zittern, Flimmern, Nebelsehen** . . . kurz das subjective Verhalten der
Kranken bei der Untersuchung sei am meisten geeignet, die Gesichtsfeldgrösse zu
beeinflussen.
In der That ist es dem Verf. gelungen, durch psychische Einwirkung auf die
Patienten während der Untersuchung das Gesichtsfeld in der grösseren Zahl der
Falle auf die normale oder annähernd normale Ausdehnung zu bringen. Nur bei
24 von 71 Hysterischen mit anfänglicher conc. GFB. vermochte er in Folge der
vorherrschenden psychischen und Stimmungsanomalien (Willensschwäche, Apathie,
Angst, Launenhaftigkeit) trotz aller Bemühungen und Beeinflussungen keinen nor«
malen Gesichtsfeldumfang herzustellen.
Aehnlich verhält es sich mit den übrigen „hysterischen*' Gesichtefeldanoraalien,
der Dyschromatopsie, dem Förster sehen Verscbiebungstypus und dem Wilbrand-
flchen Ermndungstjrpus. Dem subjectiven Verhalten der Patienten kann daher,
so folgert Verf., bei der perimetrischen Untersuchung nicht sorgsam genug Rech-
nung getragen werden.
Verf. bringt eine Reihe instructiver Krankengeschichten zum Beleg seiner
Anschauungen bei. Zum Referate eignen sich dieselben nicht, wir wollen uns da*
her darauf beschränken, die beherzigenswertben Schlusssätze des Verf. im Wort«
laut zu citiren.
1. Die concentrische Gesichtsfeldeinengung der Hysterischen und Epileptischen
ist in der Regel eine Folge subjectiver nervöser Beschwerden und psychischer
Störungen.
2. Anfalle bewirken durch Steigerung genannter Erscheinungen eine grössere
Einschränkung des Gesichtsfeldes.
3. Durch psychische Einwirkung auf die Kranken bei der perimetrischen
Untersuchung gelingt es in der Regel, jene Erscheinungen in den Hintergrund zu
drängen und damit ein normales Gesichtsfeld zu erzielen.
4. Eine objectiv unabhängig von den genannten Krankheitszeichen stehende
concentrische Gesichtsfeldeinengung ist unter meinen Fällen (128) nicht beobachtet.
5. Die Gesichtsfelder für Farben sind in ihrer Lage auch bei Hysterischen
meistens nicht geändert.
6. Ein vorübergehender Wechsel in der Reihe der Farbenwahmehmung ist
bei einem und demselben Falle beobachtet.
7. Keine Form von Sensibilitätsstörungen, auch die Hemianästhesie hat bei
Hysterie und Epilepsie a priori eine differential-diagnostische Bedeutung.
8. Ein gesetzmässiges Auftreten von Anästhesie nach den Anfällen bei Hysterie
ist nicht constatirt, sensible Störungen pflegen im Allgemeinen mit Verschlimmerung
und Besserung des Allgemeinzustandes aufzutreten und zu schwinden.
9. Sensible Störungen nach epileptischen Anföllen treten regellos auf; die*
selben sind selten und ohne Bestand.
124 ZasammenstelluDg der Literatur über Hysterie.
Ref. möchte hier doch die Frage anknüpfen, ob die Tom Verf. erzielten Re-
sultate, speciell die Erweiterung der Gesichtsfeldgrenzen und die Farbenverschiebung
nicht vielleicht als Product einer consequenten und zweckmässigen Wachsuggestion
aufzufassen sein dürften. Eine solche VermuUiung liegt um so naher, als man ja
vielfach auch die hysterischen Gesichtsfeldveränderungen und Sensibilitätsstömngen
kurzerhand als autosuggestiv entstanden zu erklären versucht. Der hohe Procent-
satz von Beeinflussungen durch den Verf. erklärt sich sehr einfach durch die an
Bich gesteigerte Suggestibilität bei Hysterischen. Brodmann -Jena.
89. König y Ueber epileptische und hysterische Krämpfe bei
gelähmten und nicht gelähmten idiotischen Kindern. Monatsschr. für
Psych, u. Neurol. IV. 1, 1898, pag. 285.
Verf. hat an der Irrenanstalt zu Dalidorf statistische Untersuchungen über
das Vorkommen von epileptischen und hysterischen Elräropfen bei Idioten ange-
stellt. Er kommt an der Hand eines sehr umfangreichen 3faterials, das er längere
Jahre hindurch sorgfältig beobachtete, zu dem Schlüsse, dass die Epilepsie im
Gegensatz zur Hysterie bei derartigen Kranken sehr häufig sei. Epileptische An-
fälle mit all den zahllosen Varietäten vom vollentwickelten Anfall bis zum einfachen
Vertigoanfall wurden in 76% der Kinder mit infantilen Hirnlähmungen beobachtet.
Epileptische Anfälle bei nicht gelähmten Kindern sind seltener (der Proceni-
satz ist in der Arbeit leider nicht angegeben. Ref.), sie unterscheiden sich aber nicht
principiell von denen gelähmter Kinder, nur dass einseitige Krämpfe entschieden
2U den Ausnahmen gehören.
Hysterische Anfälle bei gelähmten wie nicht gelähmten Idioten kamen „in
aehr beschränkter Anzahl" zur Beobachtung. Verf. hebt ausdrücklich hervor, dass
er concentrische Gesichtsfeldeinengung und typische „grande hysterie" je nur einmal
unter seinem Material zu beobachten Gelegenheit hatte. Leider fehlen auch hier
procentuelle Angaben.
Zum Schlüsse tritt Verf. der Frage nahe, wie sich die epileptischen Anfölle der
cerebralen Kinderlähmungen von denen gewöhnUcher Epileptiker unterscheiden ; er
meint, dass die Unterschiede mehr in der geringeren Häufigkeit bezw. geringeren
Intensität des Vorkommens gewisser Symptome, vor Allem dem Zurücktreten der
psychischen Erscheinungen und „der Seltenheit des brutalen Anfalles*^ liegen.
Der grösste Theil der verdienstlichen Arbeit besteht aus einer Reihe scharf
formulirter Thesen und statistischer Zusammenstellungen, welche im Referat nicht
wiedergegeben werden können. Es sei deshalb auf das Original verwiesen.
Brodmann- Jena.
90. V. Krafft'Ehing, Das Irresein der Hysterischen. — Lehrbuch der
Psychiatrie. 6. Auflage, 1897, pag. 487.
Die bei der Hysterie constant vorkommenden psychischen Anomalien sollen
hier in der Darstellung, wie sie v. Krafft-Ebing giebt, in gedrängter Uebersicht
gekennzeichnet werden.
Wenn wir von jenen elementaren Störungen absehen, welche als sog. „hyste-
rischer Character" einen integrirenden Bestandtheil der hysterischen Neurose aus-
machen und deren Grunderscheinungen, nach t. Krafft-Ebing, „das labile Gleich-
gewicht der psychischen Functionen, die enorm leichte Anspruchsfähigkeit und die
Zusammenstellung der Literatur über Hysterie. 126
ungewöhnlich intensiye Reaction der Psyche und der rasche Wechsel der Erregungen
reizbare Schwäche)'' sind, so lassen sich noch 3 Typen von Zustandsbildem des
(hysterischen Irreseins auseinanderhalten:
1. Transitorische Irreseinszustände. Dieselben haben vorwiegend
das Gepräge des Deliriums, dauern Stunden bis Tage, das Bewusstsein ist auf tiefer
Traumstufe, die Erinnerung fehlend oder summarisch. Verf. unterscheidet folgende
ktiniache Varietäten:
a) Heftige Angstzustände mit getrübtem Bewusstsein (analog dem petit mal
der Epileptiker).
b) Hysteroepileptische Delirien mit aufgehobenem Bewusstsein und totaler
Amnesie (grand mal der Epileptiker).
c) Ekstatisch- visionäre Zustande mit tiefem Traumzustand, häufig Visionen und
Katalpsie. Summarische Erinnerung.
d) Moriaartige Zustände — praeparoxysmel — Amnesie.
e) Dämmerzustände mit zwangsmässiger erleichterter Aeproduction von Er-
lebtem und Gelesenem. Logorrhoisches Delirium mit traumhaftem Bewusstsein und
summarischer Erinnerung.
Verf. fugt zur Illustration dieser Typen 3 eigene Beobachtungen an:
Fall 1. Hysterismus. Ekstase/urtige Exaltationszustände neben angstvollen
deliranten.
Fall 2 Hysterische Exaltationszustände mit zwangsmässiger erleichterter Re-
production.
Fall 3. Hysterismus nach Nothzucht. Anfälle von hysteroepileptischem,
schreckhaftem, hallucinatorischem Delirium.
2. Protrahirte Zustände von hysterischem Delirium. Dieselben
sind auch als hysterischer hallucinatorischer Wahnsinn beschrieben, bestehen in
einem äusserst wechselvollen Bilde, das zwischen Verwirrtheit, Dämmerzustand,
Ekstase und Stupor hin- und herschwankt, einen typisch remittirenden und exacer-
birenden Verlauf zeigt und immer mit Genesung endet. Verf. schiebt einen classischen
Fall ein.
3. Die eigentlichen hysterischen Psychosen lassen wieder eine ziemlich
scharfe Scheidung in 2 Typen zu, „je nachdem sie auf dem Boden einer einfachen
nicht constitutione!! veranlagten, etwa erworbenen hysterischen Neurose stehen oder
Durchgangs- bezw. Zustandsbilder einer hysterischen Degeneration darstellen."
Unter die erste Gruppe sind die Psychoneurosen (Melancholie und Manie) zu
rechnen, welche durch die Zumischung und allegorische Verwerthung von Sym-
ptomen der hysterischen Neurose ein bestimmtes klinisches Gepräge erhalten.
Zur zweiten (degenerativen) Gruppe gehören die degenerativen Krankheitsbilder:
a) der Folie raisonnante,
b) der Moral nisanity und
c) der Paranoia.
Auch die hysterische Paranoia weist bestimmte Gharacterzüge in ihrer Sym-
ptomatologie und in ihrem Verlaufe auf, der sie von der gewölmlichen Form der
primären Paranoia unterscheidet. Auffallend ist der typisch remittirende Verlauf,
wobei Exacerbationen häufig mit menstrualen Vorgängen zusammenfallen, femer
die massenhafte Verwerthung hysterischer Sensationen zu entsprechender allegorischer
Wahnbildung, die Häufigkeit von Gesichtshallucinationen, die vorwiegende Be-
126 ZuBammenstellang der Literatur über Hysterie.
theiligung der sexuellen Sphäre, schliesslich die Häufigkeit, mit welcher die Wahn-
ideen an delirante episodische hysterische Zustände anknüpfen.
Brodmann- Jena.
91. Krtiepelinj Das hysterische Irresein. — Psychiatrie. 5. Auflage,
1896, pag. 728.
Unter dem Kapitel der allgemeinen Neurosen fasst Kraepelin jene Gruppe
von Krankheitszuständen zusammen,* welche „mit mehr oder weniger ausgeprägten
nervösenFunctionsstörungen einhergehen*' und rechnet dazu das epileptische,
das hysterische Irresein und die Schreckneurose. „Gemeinsam ist diesen Gestaltungen
des Irreseins'' — so schreibt Kraepelin — , „dasswir es überall mit dauernd krank-
hafter Verarbeitung der Lebensreize zu thun habend gemeinsam ist ihnen femer
das Auftreten mehr vorübergehender, eigenartiger Krankheitsäusserungen bald auf
körperlichem, bald auf psychischem Gebiete.''
Die krankhaften Seelenzustände der Hysterischen, mit denen wir uns hier
ausschliesslich beschäftigen können, haben, so führt Verf. aus, ihre eigentliche
Grundlage höchst wahrscheinlich in dem Gebiete der Gefühle. Daher schreibt er
auch den Schwankungen der Stimmung einen maassgebenden Einfluss beim Zustande-
kommen aller dieser Störungen zu. „Sie sind es, welche in hohem Grade das
Denken und Handeln der Kranken bestimmen. Ihr Einfluss ist weit stärker, als
derjenige der vernünftigen CTeberlegung oder der sittlichen Grundsätze.*'
Auf dieser zu lebhaften Gefühlsbetonung und gesteigerten gemüthlichen Erreg-
barkeit entspringt jene Veränderung der gesammten psychischen Persönlichkeit,
welche der Hysterie eigenthümlich ist. Die Neigung zu hypochondrischen Klagen,
das erhöhte Selbstgefühl, die ausserordentliche Beeinflussbarkeit des Willens und
die dazu im Widerspruch stehende Eigenwilligkeit, der Mangel an Einheitlichkeit
und innerer Festigkeit, welcher in jener Unruhe und Unstetigkeit hysterischer
Personen ihren Ausdruck findet, die oft in bemerkenswerthem Gegensatz zu der
stark betonten Kränklichkeit und Hülfsbedürftigkeit der Kranken steht.
Auf der allgemeinen hysterischen Grundlage entwickeln sich ausserdem sehr
häufig vorübergehende psychische Störungen, die sog. Dämmerzustände, d. h.
„kurze oder länger dauernde Anfälle von Bewusstseinstrübung, welche sich entweder
allein einstellen oder an Krampfanfälle anschliessend auch häufig durch solche ab-
geschnitten oder unterbrochen werden."
Die Dämmerzustände können in protahirtere Schlafanfälle übergehen, wo-
bei die Kranken längere oder kürzere Zeit in einem Scheinschlaf liegen, oder es
stellt sich eine stärkere Bewusstseinstrübung verbunden mit massenhaften
Sinnestäuschungen (Verzückungen, himmlische Visionen) ein oder schliesslich
es kommt zu einer „eigen thümlichen läppischen Erregung" (Moria) mit
vorwiegend heiterer, ausgelassener Stimmung, schnippischen Redensarten, Verkennung^
der Umgebung und Neigung zu thÖrichten muthwilligen Streichen. Eine Ueber-
gangsform zu den Dämmerzuständen stellen die Erscheinungen des Nachtwandeins
oder Somnambulismus dar. Dem Somnambulismus verwandt sind die auch bei
Tage, gewöhnlich im Anschluss an einen Krampfanfall sich einstellenden Lach-
und Weinkrämpfen. Die Kranken machen hier ganz den Eindruck von Nacht-
wandlern.
Schliesslich kommen im Verlaufe der Hysterie auch mehr abgegrenzte
ZuBammenstellang der Literatur über Hysterie. 127
psychische Störungen zur Beobachtung, die nur Erscheinungsform des Grund-
leidens zu sein scheinen. Verfasser unterscheidet 2 Bilder: eine traurige oder
ängstliche Verstimmung mit unbestimmten Verfolgungs- oder Versündigungs-
ideen und zweitens rasch vorübergehende Aufregungszustände mit vorwiegend
zorniger Gereiztheit, Schimpfanfällen, Neigung zu zerstören etc. Von den eigent-
lichen periodischen Geistesstörungen sind die hysterischen Psychosen streng zu
scheiden, obwohl sie sich nicht selten in Zwischenräumen, namentlich im Anschluss
an die Menses einstellen; sie haben einen unregelmässigen Verlauf; den Aufregungen
fehlen die manischen Zeichen der Ideenflucht und des Bewegungsdranges, den Ver-
stimmungen die allgemeine psychische Henunnng.
Von der Hysterie im vorgezeichneten Sinne trennt Kraepelin die sog.
Schreckneurose als ein eigenartiges Krankheitsbild ab, dessen scharfe Umgrenzung
unmöglich sei, das aber in seinen Aeusserungen vielfach Berührungspunkte mit den
Formen des Entartungsirreseins darbiete.
Obwohl Verf. die psychische Entstehungsweise der Schreckneurose rückhaltlos
anerkennt, tritt er doch im Gegensatz zu jener Schule (Gharcot, Möbius), welche
dieses Symptombild einfach der Hysterie zurechnen will. Die Westphal'sche
Lehre, welche die Schreckneurose unter Betonung gelegentlicher objectiver Befunde
auf schleichende organische Veränderungen im Gentralnervensystem zurückfuhrt,
ist heutzutage fast ganz aufgegeben.
Gegenüber Möbius, der die Krankheitserscheinungen der Schreckneurose,
gestützt auf die Thatsache, dass sie sich lediglich durch Vorstellungen erklären
lassen, als rein hysterische bezeichnet, betont Verf., dass die ,fPsychogenie^ nicht
allein der Hysterie, sondern auch anderen Formen des Entartugsirreseins eigen-
thümlich sei. Die Erscheinungsform der durch Schreckwirkung entstehenden psy-
chischen Störungen sei sehr wesentlich durch die Eigenart der persönlichen Ver-
anlagung bestimmt.
Klinisch unterscheidet sich die Schreckneurose von der Hysterie durch die
Einförmigkeit der Krankheitszeichen. E^ fehlen, sagt Kraepelin, „durchaus der
sprunghafte Wechsel der Erscheinungen, die Launenhaftigkeit, der ausgeprägte
Stimmungswechsel, die Unternehmungslust der Hysterischen."
Die Schreckneurose ist ausgezeichnet auf psychischem Gebiete hauptsächlich
durch traurige Stimmung mit ängstlichen Befürchtungen der verschiedensten Art.
durch Unfähigkeit zu jeder geistigen Anstrengung und durch gesteigerte gemüth-
iche Erregbarkeit ; körperlich weist sie ein Heer nervöser Beschwerden auf, welche
durch ihr regelloses Auftreten und durch den verschlimmernden Einfluss gemüth-
licher Erregung ihre psychische Entstehungsweise verrathen. Brodmann -Jena.
92. Ddbriickj Die Hysterie. Gerichtliche Psychopathologie. ^) Leipzig 1897.
pag. 159.
In dem vorliegenden Lehrbuch finden die forensisch-psychiatrischen Beziehungen
der Hysterie eine ausgezeichnete Besprechung; es sei deshalb auf die Haupt-
gesichtspunkte kurz hingewiesen.
Verf. bezeichnet als wesentliche Merkmale der Hysterie gewisse elementare
Veränderungen des Seelenlebens, welche das Handeln des Betreffenden dauernd
beeinflussen; als solche nennt er „eine abnorme Neigung zu Autosuggestionen, ver-
*) Vgl. die Besprechung des Buches: diese Ztschr., Bd. 8, pag. 54 fil
128 ZusammenstelluDg der Literatar über Hysterie.
bunden mit abnormer Suggestibilität für krankhafte, bizarre Erscheinungen^, femer
„ein Doppelbewusstsein von Vorstellung und Gegenvorstellung: Pseudologia phan-
tastica im weiteren Sinne des Wortes".
Auf dieser krankhaften Grundlage erwachsen die verschiedenartigsten psychi-
schen Störungen, welche Gegenstand forensischer Beurtheilung werden kennen.
Man beobachtet eine acute deliriöse Geistesstörung, wie bei der
Epilepsie. Dieselbe kann sehr variable Formen und Intensitätsgrade annehmen;
entweder kommt es zu jenen hochgradigen Bewusstseinstrübungen , die den epi-
leptischen ähnlich sind — religiöse Delirien mit himmlischen Visionen und mit
Krampf anfallen sind am häufigsten — ,
oder es besteht eine Art Dämmerzustand mit relativer Klarheit des Bewusst-
seins, zwecklosem Umherreisen und Neigung zu allerlei theils mehr, theils weniger
bewussten und i*affinirt ausgeführten Schwindeleien.
Schliesslich wird bei Hysterie eine Verdoppelung oder auch Verdreifachung
der Persönlichkeit beobachtet, in dem Sinne, dass „die Kranken sich in gewissen,
mitunter periodisch wiederkehrenden Zeitabschnitten für eine andere ganz be-
stimmte Persönlichkeit halten, als solche verhältnissmässig geordnet handeln, sieh
an Alles erinnern, was sie in solchen Zuständen gethan haben — um in den
Zwischenzeiten von alledem gar nichts zu wissen".
Gewisse Kennzeichen lassen alle diese der Hysterie eigenthümlichen Zustände
von der Epilepsie meist abgrenzen. Verf. meint: „Das Bewusstsein ist nur getrübt ;
für Wahnideen und Sinnestäuschungen besteht vielfach halbe Einsicht. Das
ganze Bild hat im Gegensatz zu dem sehr ernsten, schaurigen epileptischen Delirium
einen mehr theatralischen Gharacter."
Auch die Verbrechen unterscheiden sich von den epileptischen, indem es sich
nicht um brutale Gewaltthätigkeiten, Mord etc«, sondern meist um Schwindeleien,
Diebstahl, falsche Anschuldigungen etc. handelt.
Wichtiger als solche vorübergehende Störungen sind für den forensischen
Psychiater die dauernden psychischen Anomalien der Hysterischen, welche
sich je nach ihrer Intensität bald noch völlig innerhalb der physiologischen Breite
halten, bald schwere Geistesstörungen darstellen. Am meisten ausgeprägt ist jene
krankhafte Cbaracterveränderung, welche sich hauptsächlich in einer Neigung zur
oft phantastischen Lüge kundgiebt. Eine scharfe Grenze zwischen bewusster Lüge
und pathologischer Erinnerungsverfalschung ist dabei ebensowenig zu ziehen wie
zwischen jenen willkürlichen Zuthaten. d. h. den simulirten und nicht simulirten
Krankheitserscheinungen der Hysterischen.
Für die gerichtsärztliche Beurtheilung hat, nach Ansicht des Verf., eine solche
Abgrenzung auch keinen practischen Werth. Er meint, es komme nicht darauf an,
festzustellen, wie viel Bewusstsein der Lüge beim einzelnen Verbrechen nachweisbar
ist, sondern darauf, „inwieweit die Bestimmbarkeit des Willens durch Vorstellungen
überhaupt der Norm entspricht^. Nicht der Antheil der Lüge an der Pseudologia
phan tastica ist bei einer eingeklagten Handlung durch den Gutachter festzustellen,
sondern die gesammte Persönlichkeit des Verbrechers muss beurtheilt werden, „wie
viel und in welcher Art er im Allgemeinen schwindelt auf Grund seiner patho-
logischen Constitution". An Stelle der Bestrafung wird sich dann bei vielen
Kranken eine dauernde Internirung in einer Anstalt empfehlen.
Brodmann-Jena.
Zur Kritik der iiypnotisciien Teciinilc.
Von
Theodor yan Straaten.
(Ans 0. Vogtes Neurologischem Institat.)
Die folgenden AusführuDgen stellen eine kritische Besprechung
einer Beihe Ton Ideen dar, die seit einigen Jahren von O. Vogt ver-
treten werden, und thefls Yon ihm und K. Brodmann yeröffentlicht,
theilweise aber von ersterem in seinen noch ungedruckten Vorträgen
behandelt worden sind. Die Kritik stützt sich auf Experimente j die
0. Vogt theils am VerÜGisser, theils an Frau L. Bosse ausgeführt
hat VerÜBisser glaubt zur Zeit, wo O. Vogt die Experimente mit ihm
Tomahm, durch sein bisheriges Studium der einschlägigen Literatur
nicht irgendwie derartig voreingenommen gewesen zu sein, dass er nicht
eine unbefangene Versuchsperson hätte abgeben können. Frau L. B o s s e
war zwar in der willkürlichen Erzielung einer beliebigen Ausdehnung
und Tiefe der ^chlafhenmiung eingeübt , nicht aber darüber orientirt,
was der Experimentator durch seine Versuche beweisen wollte, noch
welches Besultat er von seinen Suggestionen erwartete.
Dabei stützt sich die Kritik nur auf eigne Selbstbeobachtung.
Verfasser schliesst sich in der Werthschätzung der Selbstbeobachtung
für die Vertiefung der Lehre von den hypnotischen Bewusstseinszu-
ständen, und den daraus abzuleitenden technischen Folgerungen, durch-
aus den in den letzten Jahren von 0. Vogt vertretenen Anschauungen
an. Wenn er sich auch mit diesem Autor der möglichen subjektiven
Fehlerquellen dieser Methode bewusst ist, so sieht auch er doch einzig
in ihr die Möglichkeit einer wirklichen Vertiefung der Lehre der
Hypnose.
2^itTClirift fUr HypnotlBmus etc. IX. d
130 ^^^ Straaten.
Es sind speciell drei Punkte, zu denen wir im folgenden auf Grund
der mitgetheilten Experimente Stellung nehmen wollen.
Die erste Frage ist die nach der Gestaltung der therapeu-
tischen Hypnose, (der sogenannten Tiefe), die zweite ist die nach
der Methodik, die gewünschte Gestalt der Hypnose zu erreichen, die
dritteist die nach Erzielung autosuggestiver Bewusstseins-
zustände.
I. Von der Gestaltung der therapeutischen Hypnose.
Wie K. Brodmann ausgeführt hat. wendet O. Vogt die hypno-
tischen Zustände zu drei verschiedenen direct oder indirect therapeu-
tischen Zwecken an. 1. um die psychische Beeinflussbarkeit des
Patienten zu steigern, 2. um einen kräftigenden, resp. den Ausbruch
gewisser nervöser An&Ue verhindernden Schlafzustand zu schaffen,
3. um eine im Wachsein nicht erreichbare Psychoanalyse psychogener
pathologischer Erscheinungen zu ermöglichen.
Die verschiedenen Zwecke erfordern nun auch eine verschiedene
Gestaltung der hypnotischen Zustände.
Von den meisten Autoren ist jedoch die Präge nach der Gestaltung
der therapeutisch zu verwendenden hypnotischen Zustände nur in Bezug
auf eine Art ihrer Anwendung, nämlich nur in Bezug auf die Steigerung
der psychischen Beeinflussbarkeit, und . selbst diese Frage nur in dem
engeren Sinne der Steigerung der Suggestibilität, und nicht in dem
weiteren Rahmen der Steigerung jeglicher Form psychischer Beeinfluss-
barkeit behandelt worden.
In Bezug auf diese Frage war die Antwort der Autoren insofern
auch eine wenig präzise, als sie sich in die Schlagwörter der tiefen
und der oberflächlichen Hypnose concentrirte ^), ohne aber den Begriff
der Hypnose scharf zu präcisiren.
In den folgenden Ausführungen werden wir uns in ähnlicher Weise
beschränken. Wir wollen nur, untersuchen , welche Form hypnotischer
Zustände für die Steigerung der psychischen Beeinflussbarkeit am ge-
eignetsten ist
Mit Forel, Wetterstrand und Anderen ist Vogt") stets für
die Ueberlegenheit der tiefen Hypnose eingetreten. Aber er hat dabei
■t ■
*) Vgl. Brodmann, Zur Methodik der hypnotischen Behandlung. 2. Forts.
Diese Ztschr., Bd. VII, pag. 24flf.
') Vgl. Bericht vom intemat. Congrress f. Psychologie. 1896, pag. 363. Dis-
cussion.
Zur Kritik der hypnotischen Technik. 131
nicht unterlassen , den Begriff der Hypnose so zu definiren , dass auch
andere Autoren seine Anschauungen von vornherein anerkannt haben
vürden, wenn sie in derselben scharfen Weise den Begriff der Hypnose
angewandt hätten. Vogt bezeichnet nicht jeden suggestiv ausgelösten
Schlafzustand, nicht jeden durch eine affectlose Zielvorstellung hervor-
gerufenen hypnotischen Bewusstseinszustand als Hypnose, sondern nur
jene durch affectlose Zielvorstellangen ausgelösten Schlaf zustände, die
eben speciell jenes Moment in ausgeprägtem Maasse zeigen, das von
jeher als die eigenthümlichste Erscheinung der Hypnose aufgefasst
worden ist : das Rapportverhältniss. Das will sagen, dass Vogt unter
der Hypnose nur jene hypnotischen Schlafzustände versteht, die jeder
^it ein ganz beliebiges circumscriptes Erwecken von Seiten des Hypno-
tiseurs ermöglichen.
Die tiefsten derartigen Zustände sind also bezüglich Ausdehnung
und Tiefe der Schlafhemmung durchaus nicht identisch mit einem tiefen
allgemeinen Schlaf, sondern stellen eine sehr ausgedehnte tiefe Schiaf-
hemmung bei einem in seiner Ausdehnung durchaus vom Experimen-
tator abhängigen sehr circumscripten Wachsein dar. Nur in diesem
Sinne hat Vogt den Satz aufgestellt, dass die Suggestibilität propor-
tional der Tiefe der Hypnose zunimmt Unsere Stellungnahme zu dieser
Frage stützt sich auf die folgenden Experimente. —
Diesen nunmehr zu schildernden Experimehten liegt folgender
Gedankengang zu Grunde: Zunächst sollte festgestellt werden, bei
welcher Tiefe des suggestiven Schlafes eine Suggestion den stärksten
momentanen Einfluss auf das Bewusstsein der hypnotisirten Ver-
sachsperson hatte. Zu diesem Zwecke wurde unter ganz gleichen zeit-
hchen Bedingungen dieselbe Traumsuggestion bei immer tiefer werdendem
Schlafzustande wiederholt, und hierbei die Lebhaftigkeit der durch die
Suggestion ausgelösten Traumbilder festgestellt. An diese Frage schloss sich
dann eine zweite an, nämlich die, ob ein proportionales Verhältniss zwischen
der Intensität der momentanen Einwirkung einer Suggestion und der-
jenigen ihrer weiterenNachwirkung auf das Bewusstsein besteht oder
nicht. Zu diesem Zwecke wurde in ähnlicher Versuchsanwendung wie
bei der ersten Reihe von Experimenten in verschieden tiefen Hypnosen
derselbe affectbetonte Traum suggerirt und dann neben der Att, wie sich
die Suggestion realisirt hatte, gleichzeitig die Intensität der Nachwirkung
dieses Traumes für das Wachsein festgestellt. Wir urtheilen im Folgenden
nur auf Grund zweier Versuchsreihen. In diesen ist, wie eben angedeutet,
die ganze Zeit des Experimentes derselbe Traum suggerirt worden. Man
9*
132 YAQ Straaten.
könute nun die Frage aufwerfen, ob das Suggeriren desselben Traum-
Inhaltes nicht allmählich, sei es bahnend, sei es abstumpfend, wirkte,
und so das Resultat der Versuchsreihe beeinflusste.
Zur Entscheidung dieser Frage haben wir eine grosse Reihe der
mannigfaltigsten und wechelnsten Träume in den verschieden tiefen
Graden der Hypnose suggerirt. Wir haben niemals im wesentlichen
Grade das Moment der Bahnung oder Hemmung nachweisen können,
sondern stets ein ähnliches proportionales Yerhältniss zwischen Intensität
des Traumes und Tiefe des hypnotischen Zustandes feststellen können,
wie aus den unten mitgetheilten Versuchsreihen hervorgeht. Ebensa
soll hervorgehoben werden, dass verschiedene Versuchspersonen die
gleiche gesetzmässige Reaction zeigten, wie sie die folgenden Experi-
mente aufweisen. Nur ein secundärer individueller Unterschied zeigte
sich in dem Grade der grössten Intensität, indem eine solche Stärke
von Ausdrucks- und Mitbewegungen, wie sie bei unten geschilderten
somnambulen Träumen sich zeigte, nicht zu constatiren war. Das hängt
aber zusammen mit dem Grade der Tendenz der betreffenden Versuchs-
person zu somnambulen Träumen in ihrem normalen Nachtschlaf. Um
auch dem Einwände zu begegnen, dass eine Ermüdung der Versuchs-
person durch die einander folgenden Experimente die Resultate störend
hätte beeinflussen können, wurden die Experimente in zweckmässigen
Intervallen durch Pausen unterbrochen, die von der Versuchsperson
durch einen tiefen erquickenden Schlaf ausgefüllt wurden.
Wir wenden uns nunmehr den Experimenten zu.
I. ' Versuchsreihe.
1. Versuch:
Frau B. liegt auf einer Chaise longue bequem hingestreckt und wird von
Dr. y. aufgefordert, sich in einen Zustand oberflächlicher Hypnose zu versetzen.
Verf. führt das Protokoll.
Dr. V.: „Wie unterscheidet sich dieser Zustand vom Wachen V" — Fr. B.:
„Muss mich erst beobachten. Dadurch, dass ich eine grosse Tendenz zum Augen-
schluss habe, mich ausgeruht fühle.** Dr. V.: „Mehr ausruhend oder ausgeruht?"
Fr. 6.: „Anfangs ausruhend, und nachdem ich eine Zeit lang gelegen habe, mehr
ausgeruht.", Dr. V.: „Hören Sie die Geräusche noch ebenso lebhaft?" Fr. B.:
„Ebenso, wie im Wachen." Dr. V.: „Wie ist das Denken?" Fr. B.: „Ganz un-
gehemmt."
Dr. V. : „Sie werden jetzt träumen : Sie fahren mit Ihrem Mann Velocipcd
ins Kosenthai. — Jetzt fahren Sie gerade aus. — Jetzt biegen Sie rechts herum.
— Jetzt machen Sie einen Kreis. — Jetzt steigen Sie ab. — Halt, 1, 2, 3."
Zur Kritik der hypnotischen Technik. 133
Bern.: Die Suggestionen beziehen sich auf einen in ähnlicher Form früher
spontan aufgetretenen Traum. Die erste Suggestion „Sie fahren Kosenthai*'
dauert 5, die anderen 3 Secunden. Die einzelnen Suggestionen wurden in Zwischen-
räumen von je 10 Secunden gegeben.
Nach dem Erwachen erklärt Fr. £.: „Ich habe mich direct zur Vorstellung
des Traumes zwingen müssen. Als Sie sagten „Jetzt träumen Sie", habe ich mich
dazu in Positur gelegt. — Als Sie sagten „Jetzt fahren Sie", da kam mir die Vor-
stellung, dass ich nicht träume. Darauf sah ich mich im Geiste etwas lebhafter
als im Wachen ins Rosenthal fahren, es war aber nicht sinnlich lebhaft, die Sug-
gestion rief nicht die Vorstellung eines gegenwärtigen Geschehens hervor, sondern
war Ton der Idee begleitet, dass es ein Erinnerungsbild aus früherer Zeit war.
Bei der zweiten Suggestion sah ich einen Weg, den ich früher öfters gefahren
bin, etwas lebhafter als die Situation der 1. Suggestion. Es handelt sich dabei
nach meiner Ansicht nicht um ein leichter erregbares Erinnerungsbild, da mir die
Vorstellung, die durch die erste Suggestion hervorgerufen wurde, ebenso geläufig
ist, sondern ich habe den Eindruck, dass es sich um eine stärkere Concentration
meiner Aufmerksamkeit auf die Suggestion handelt. Dieser Grad von Lebhaftigkeit
der suggestiv hervorgerufenen Situationsbilder blieb bei den folgenden Suggestionen
bestehen."
Dr. V.: „Haben Sie noch volle Kritik gehabt? Wussten Sie noch, dass Sie
hier lagen?" Fr. B.: „Ich erinnere mich dessen nicht bei dieser zweiten Suggestion,
während ich mich erinnere, bei der ersten noch die Vorstellung meiner wirklichen
gegenwärtigen Situation gehabt zu haben.
Dagegen war ich mir beWusst, dass es sich nur um suggerirte Traumbilder
handelte. Ich kritisirte sie und constatirte, dass sie noch durchaus nicht mein Be-
wQsstsein derart gefangen nahmen, wie dies bei wirklichen Träumen der Fall ist.
Als die Suggestion : „Jetzt biegen Sie nach rechts herum," kam, bin ich nach
rechts herübergefahren, bei der nächsten Suggestion bin ich von rechts nach links
im Kreis herumgefahren, bin dann der folgenden Suggestion entsprechend abge-
stiegen und stehen geblieben. Ich musste mich zu den Suggestionen zwingen. Im
Moment, wo ich mich nicht gezwungen hätte, wäre mir das Bild entschwunden."
Bem. : Es wird nun versucht, die Suggestion : „Jetzt steigen Sie ab" im Wachsein
bei AugenschluBs zu geben. Fr. B. soll sich bemühen, das Bild wie im leichten
Schlummerzustand 10 Secunden lang festzuhalten. Fr. B. unterbricht nach 8 See.
den Versuch, und erklärt, nicht dazu im Stande zu sein. Sie kann sich die Situation
kaum vorstellen. Die Situation war ihr vollständig schattenhaft.
Fr. ß. wird jetzt zur schärferen Analysirung des vorangegangenen Experimentes
in dem von Vogt als systematisches partielles Wachsein beschriebenen und von
uns weiterhin kurz als „Versuchsstadium" bezeichneten Bewusstseinszustand versetzt.
Versuchsstadium:
Fr. B. geht nun Alles noch einmal kritisch durch. Sie constatirt zunächst,
dass die erste Suggestion sich nur in der Weise realisirt hat, dass sie sich allein
und nicht zusammen mit ihrem Manne gesehen hat. Sie erklärt dies daraus, dass
sie nicht im Stande war, sich eine so complexe Suggestion vorzustellen, sondern die
ganze Aufioaerksamkeit nöthig hatte, sich ihr eigenes Bild vorzustellen. Sie fährt
dann fort: „Bei den Worten „Ins Rosenthal" stellte ich mir speciell eine Brücke
vor, die ich zu überschreiten habe, um ins Kosenthal zu gelangen. Es war diese
134 ^<^^ Straaten.
Vorstellung aber ebenso schwach wie die des Fahretis ins Rosenthal." Nunmehr
bemerkt sie: „Ich muss sehr vorsichtig sein in der Beurtheilang der Traumbilder^
weil ich im gegenwärtigen Yersuchsstadium mir die Situationen lebhafter vorstellen
kann als im vorhergehenden • Schlummerzustande. Ich möchte auf weitere Bemer-
kungen verzichten, da ich einer absoluten Treue der gegenwärtigen Erinnerung für
die vorhergegangenen Suggestionen nicht sicher bin.*^
2. Versuch:
Fr. ß, wird aufgefordert, sich in einen etwas tieferen Zustand zu versetzen.
Der Gedanke, dass experimentirt w^ird, stört sie vorläufig. Nach einer kurzen Zeit
giebt sie mit der Hand das Zeichen, dass sie sich in dem gewünschten Zustand
befindet.
Dr. V.: „Sie werden jetzt träumen: Sie fahren mit Ihrem Manne Velociped
ins Rosenthal. — Jetzt fahren Sie gerade aus. — Jetzt biegen Sie rechts herum.
„Jetzt machen Sie einen Kreis. — Jetzt steigen Sie ab. — Halt, 1, 2, 3."
Fr. B. (Im Wachzustande): „Bei der ersten Suggestion sah ich Weg und
Brücke mit derselben Lebhaftigkeit, wie die deutlicheren Situationen des ersten
Traumes. Auch war die Situation insofern complexer, als ich meinen Kann an
meiner Seite fahren sah. Bei der zweiten Suggestion sah ich den betrefienden Weg
mit derselben Lebhaftigkeit vor mir, wie beim ersten Mal. Bei der dritten Sug-
gestion tritt das Bild des Weges noch lebhafter hervor. Das Bild des Mannes
verschwindet. Es taucht das Erinnerungsbild der Armbewegung auf."
Als die vierte Suggestion erfolgt, sieht sich Fr. B. auf der rechten Wegseite
an dem Graben entlang fahren, befindet sich dann plötzlich auf der linken Seite,
um den Kreis zu machen. Es besteht eine Lücke in der Erinnerung für die Be-
wegung von rechts nach links. Die Kritik war vollständig verschwunden. Bei der
Ausführung der Kreisbewegung Empfindung im rechten Arm. Beim Beginn der
Suggestion des Absteigens kehrte die Kritik zurück, aber sie sieht am Schluss
ziemlich lebhaft das Bild ihres Mannes, und hat die Empfindung des Absteigens.
Versuchsstadium:
Fr. B.: „Bei der Suggestion „Jetzt biegen Sie" etc. wurden die Situationen
lebhafter. Die Kritik war nur ii^ Momente, wo die Suggestionen gesprochen wurden,
vorhanden, aber war dann sofort wieder ganz aufgehoben. — Um mich noch besser
erinnern zu können, muss ich noch tiefer hineinkommen" (Bern.: d. h. das circum-
scripte Bewusstsein muss noch mehr eingeengt werden). Dr. V. gpiebt entsprechende
Suggestion. Fr. B. fahrt dann fort: „Indem ich auf Ihre Suggestionen achtete,
fuhr ich nicht, im Augenblick darauf wurden die Situationen wieder lebhaft, und
die Idee, dass es ein Traum sei, verschwand.
Bei der Suggestion des Absteigens hatte ich das Empfinden des Absteigens
und auf den Bodenkommens. Ich habe den Traum noch weiter gesponnen: Nach-
dem ich abgestiegen war, wandte ich mich nach meinem Mann um. Ich sah ihn
mit einem anderen Herrn H. an mir vorüber huschen. — Ich muss noch tiefer
einschlafen, um die Situation mir wieder klar vorstellen zu können." — Nach ent-
sprechender Suggestion :
„Ich sah meinen Mann und H. sinnlich lebhaft zusammenradeln. Der Um-
stand, dass ich diese beiden Herren zusammen sah, kommt daher, dass ich heute
morgen eine von diesen beiden unterzeichnete Karte erhielt."
Zur Kritik der hyptiotiaehen Technik. 135
Dr. V.: „äatten Sie such Gefühle während des Trtumes?' — Fr. B.: ^^leh
mms mich erst wieder in einen tiefen Schlafzustand venetzen. -^ Ich hatte im
Anfang Ihren Suggeetionen gegenüber noch ein geringes Aetiritätsgefüh]. Dann
entsinne ich mich eines angenehmen Gefühls, während ich auf der rechten Weg-
seite einherfohr.'' Dr. y.: „Angenehm oder heiter?'' Fr. B.: „Beides zugleich, aber
das angenehme war vorherrschend. Für die anderen kann ich nieht knehr bürgen.
Bei dem Fahren im Kreise hatte ich ein ängstliches Gefühl, bin aber zweifelhaft.^
3. Versuch.
Dr. y. : y.Nan kommen Sie gleich tiefer hinein« ganz schön tief.*' (Dr. y. hebt
Fr. B.'s Arm, leichte Katalepsie.) „Sie werden jetzt tränmen : Sie fahren mit Ihrem
3Iann yelocnped ins RosenthaL — Jetzt fahren Sie grade aus. — Jetzt biegen Sie
rechts hemm. — Jetzt machen Sie einen Kreis. — Jetzt steigen Sie ab. — Halt,
1, 2, 3." (Keine Ausdrucksbewegungen.)
Fr. B. : „Traum war sehr lebhaft und Kritik ganz verschwunden.*'
Dr. V.: „War der Schlaf tiefer, als das letzte Mal?« Fr. B.: »Ja«. Dr. y.:
„Woraus schliessen Sie das?" Fr. B.: „Als der Arm gehoben wurde, Hess ich mich
dadurch nicht stören und hatte die Umgebung fast vergessen. Ich brauchte mich
zum Traum nicht zu zwingen. Bei der ersten Suggestion sah ich sinnlich lebhaft
meinen Mann, die Strasse, die Brücke, auch Sonnenschein. Das Bild war viel
complexer. Ich hatte dann die Absicht, einen anderen Weg einzuschlagen, wobei
ich eine Reflexion hatte, deren ich mich nicht entsinne. Aber ich fuhr doch gerade
aas mit ihm, entsprechend der Suggestion, er zu meiner rechten. Ich hatte ein
susgesprochen heiteres Gefühl. Bei der dritten Suggestion fuhr ich wieder auf die
rechte Wegseite, sah Wiese, Sonnenschein, Strasse sehr lebhaft, überhaupt mehr
Details, hatte vollständig die yorstellung eines gegenwärtigen Geschehens. Habe
aber bei jeder Suggestion auf Sie gehört, nicht selbstständig weiter geträumt. Bei
der vierten Suggestion war ich mir klar bewusst, dass ich nach der linken Seite
der Strasse herüberfiihr, hatte aber dabei die Reflexion, dass ich das letzte Mal
nicht so hernbergefahren bin. Bei der Ausführung des Kreises fuhr ich langsam,
am damit nicht früher fertig zu sein, als die nächste Suggestion eintrat. Als dann
die Suggestion erfolgte, vollendete ich dann meinen Kreis, und stieg ab, während
ich meinen Mann weiterfahren sah."
yersuchsstadium:
„Bei der ersten Suggestion habe ich die beiden Räder auf die Strasse fuhren
sehen. Ich hatte dann beim Fahren schwache Empfindungen in Armen und Beinen.
Als ich bei der zweiten Suggestion die Absicht hatte, einen anderen Weg einzu-
schlagen, trat zugleich die Reflexion auf, dass dieser doch nieht der gegebenen
Soggestion entspräche. Während dieser Reflexion war mir das Bild des Mannes
verschwunden, die Lebhaftigkeit der Traumbilder nahm ab. Als ich dann der
folgenden Suggestion entsprechend auf der rechten Wegseite fuhr, hatte ich das
Gefahl der Activität, indem ich sehr aufmerksam mich hütete, in den Graben zu
fahren. Als ich am ScUuss meinen Mann weiter fahren sah, kam mir der Gedanke,
das hast Du hinzugeträumt, wurde dann wach und verlor die Situation.*'
4. yersuch.
Dr. y. : „Tief einschlafen, immer tiefer hineinkommen, ordentlich tief hinein-
kommen.*' -^ (Ausgesprochene Katalepsie.)
Dr. y.: «Jetzt werden Sie träumen: Sie fahren mit Ihrem Mann yelociped
136 "^^ Straaten.
ins Ex>BenthaL — Jetzt fifthren Sie gerade aus. — Jetzt biegen Sie rechts herom. —
Jetzt machen Sie einen Kreis. — Jetzt steigen Sie ab. «^ Halt 1, 2, 3.*^
Während der ganzen Zeit Katalepsie, keine Ausdmcksbewegongen.
Fr. £.: „Ich habe noch tiefer geschlafen, als das letzte Mal Habe zeitweise
nicht auf Ihre Suggestion geachtet. Bei der ersten Suggestion befiand ich mich
wieder in derselben Situation wie voriges Mal. Der Sonnenschein fehlte. Die
Situation war insofern complexer, als ich mit meinem Mann lebhaft plauderte. Die
Brücke erinnere ich mich nicht gesehen zu haben, auf den We^ habe ich wenig
geachtet. Bei der Suggestion „Jetzt fahren Sie rechts herum'S befanden, wir uns
einer Karre gegenüber, an der mein Mann links vorbeifuhr, während ich nach
rechts ausbog. Bei der Suggestion , Jetzt machen Sie einen Kreis", hatte ich die
Kritik wieder erworben, indem ich mich für einen Augenblick meiner gegenwärtigen
Situation bewusst wurde. Aber in demselben Moment hielt mich das Traumbild
wieder gefangen, ich vollendete aber nicht den Kreis, sondern machte den Bogen
nur zur Hälfte. Ich stieg dann ab, um nach meinem Mann mich umzusehen.^' (Ab-
steigen anders motivirt.)
y er Suchsstadium.
Fr. B.: „Als Sie meinen Arm hochhoben, stellte sich bei mir eine gewisse
Aengstlichkeit ein, die veranlasst war durch die Vorstellung, das Experiment würde
nicht gelingen. Dieses Aengstlichkeitsgefuhl verschwand, als Sie die erste Suggestion
gegeben hatten. Das Bild beim Moment des Aufsteigens war noch etwas ver-
schwommen. Nachher beim Plaudern war es vollkommen lebhaft. Ich erinnere
mich jetzt, die Brücke gesehen zu haben, habe aber wenig darauf geachtet. Die
zweite Suggestion habe ich gar nicht beachtet, sondern bin spontan gradeaus gefahren,
auch der Suggestion „Jetzt biegen Sie rechts herum" habe ich insofern keine Be-
achtung geschenkt, als ich diesen Act schon ausgeführt hatte, bevor die darauf
hinzielende Suggestion erfolgt war. Das Hindemiss, das uns in den Weg kam, rief
bei mir die Reflexion hervor, dass dies nicht in den Traum hineingehöre. Diese
Reflexion trat nur ganz momentan auf. Im nächsten Augenblick befand ich mich
wieder mitten in der Situation des Traumes. Beim Fahren des Kreises hatte ich
die gegenwärtige Situation vollkommen verloren," — Dr. V.: „Wie waren die ein-
zelnen Details?*^ Fr. B. : „Die einzelnen Details waren lebhafter als das vorige Mal
und die Zahl der Details war eine grössere. **
5. Versuch.
Dr. V.: „Nun noch etwas tiefer hineinkommen, wie das letzte Mal. Noch
immer tiefer.*' — (Ausgesprochene Katalepsie.)
Dr. V.: „Jetzt werden Sie tränmen: Sie fahren mit Ihrem Manne Velociped
ins Rosenthal. — Jetzt fahren Sie grade aus. — Jetzt biegen Sie rechts hemm. —
Jetzt machen Sie einen Kreis. — Jetzt steigen Sie ab. — Halt 1, 2, 3.
(Während der ganzen Zeit ausgesprochene Katalepsie. Bei der zweiten und
dritten Suggestion starkes Stimrunzeln, wie bei Anstrengung, das sich bei der
vierten Suggestion noch steigert, und von etwas keuchendem Athmen begleitet ist.)
Dr. V.: „Nun, wie war es?**
Fr. B.: „Bei der ersten Suggestion nahm das Radfahren meine ganze Auf-
merksamkeit in Anspruch, weil es wehte, und meine Röcke von dem Winde auf-
geweht wurden. Dabei hatte ich ein Gefühl des Aergers. Auf den Weg war ich
nicht aufmerksam, auf die Suggestion habe ich nicht geachtet.*^
Zur Kritik der hypnotischen Technik. 137
„Ich falir meinem Mann davon, weil ich ärgerlich anf ihn war, ohne auf den
Weg SU achten. Dann fuhr ich auf der rechten Wegseite entlang, unter An-
strengung versuchend, meinen vom Winde aufgewehten Rock herunter zu halten.
Bei der Suggestion „Jetzt machen Sie einen Kreis^, wurde ich etwas mehr wach.
Ich war mir bewusst, die Suggestion gehört zu haben. loh wurde aber vom Traam-
bild gefangen gehalten, machte den Kreis und stieg ab. Damit verschwand das
Traumbild."
Versuch SB tadium.
„Ich weiss jetzt, warum ich anf meinen Manji ärgerlich war« Nämlich, weil es
io langsam mit den Vorbereitungen ging. Die zweite Suggestion „grade aus'' etc.
habe ich ganz überhört. Auch die dritte Suggestion machte keinen tiefen Eindruck.
Nur die letzte wurde mir, wie ich schon sagte, mehr bewusst."
Dr. V.: „Wenn Sie nun diesen Traum nach Lebhaftigkeit, Kritik und Com-
plexitat mit dem vorigen vergleichen, finden Sie da einen Unterschied?*'
Fr. B.: „Die Kritik hatte ich vollständig verloren. Ich hatte vollständig die
Vorstellung eines gegenwärtigen Geschehens. Nur bei der Suggestion des Kreis-
fahrens wurde ich mir momentan bewusst, dass ich eine Suggestion erhielt. Die
Complexität des Bildes war eine etwas geringere, weil ich ganz von dem Gefühl des
Aergers in Anspruch gekommen war. Ich hatte in noch höherem Maasse die
Empfindung der Bein- und Armbewegung, fühlte mich vom Wind und Sonne
sehr genirt."
£. Versuch.
Dr. V. : „Nun noch tiefer einschlafen. Ganz schön tief. Noch immer tiefer." —
(Katalepsie.)
Dr. V.: „Jetzt werden Sie tzünmen: Sie fahren mit Ihrem Manne Velociped
ins Rosenthal. — Jetzt fahren Sie gerade aus. — Jetzt biegen Sie rechts herum. —
Jetzt machen Sie einen Kreis. — Jetzt steigen Sie ab. — Halt, 1, 2, 3."
Lebhafte Affectausdrücke wechselnder Art, lebhaftes Lachen, namentlich
bei den letzten Suggestionen, schwache Mitbewegung in den Beinen, ganz schwache
Mitbewegong in den Armen, während der vierten Suggestion zweimaliges Berühren
der Stirn mit der rechten Hand. (Dieses von Dr. V. dictirt.)
Dr. V.: n^un, wie war es?"
Fr. B.: „Weiss mich nicht so gut des Traumes zu entsinnen. Bei xler ersten
Suggestion hatte ich ein lebhaftes Gefühl der Freude beim Fahren, habe viel ge-
plaudert. Die Suggestion „Gradeaus fahren" habe ich überhört, kann mich auch
nicht entsinnen, dass ich nach rechts gefahren bin. Als ich den Kreis machte, muss
ich zweimal von einer Fliege auf der' Stirn gestochen worden sein. Deshalb wischte
ich mit der Hand an der Stirn. — Dr. V.: „Wissen Sie das genau?** Fr. B.: ,,Es
wurde mir das durch das Diktat ins Gedächthiss zurück gerufen. Dann habe ich
sehr lachen müssen, weil ich meinen Mann mit dem Rade stürzen sah. Ich wurde
aber für einen Moment durch ein Gefühl von Unruhe unterbrochen. Dann musste
ich wieder lachen."
Versuchsstadium.
Fr. B. : „Ich hatte ein ausgesprochen heiteres Gefühl". Dr. V. : „ Wussten Sie.
dass Sie Bewegungen gemacht haben ?" Fr. B. : „Darüber bin ich im Zweifel, weil
ich beim Diktat hörte, dass ich welche gemacht hatte." Dr. V.: „Wie waren die
Empfindungen?" Fr. B. : „Sehr lebhaft. Ich ging ganz in der Situation auf."
138 van Straaten.
Dr. V.: „War dieser Traum im Vergleich mit dem vorhergehenden lebhafter?*'
Fr. B. : „Ja, das äusserte sich Tor Allem in den sehr lebhaften Empfindungen. Den
Kreis habe ich im Bogen von rechts nach links gemacht, um nach Hause zurück-
zukehren. Der ganze Traum bestand diesmal mehr aus einem Gefiige. Die Suggestionen
wurden nur in den Traum yerwoben. Das Gefühl, unter dem £influ8s der Suggestionen
zu träumen, fehlte vollständig. Das Hinstürzen meines Mannes war für mein Auge
sehr lebhaft. Während ich Anfangs darüber lachte, wurde ich für einen Augen-
blick ängstlich und unruhig, weil er eine Bewegung machte, aus der ich schloss,
es sei ihm ein Unglück passirt.. Ich befand mich bis zum Schluss vollständig in
der Situation des Traumes."
7. Versuch.
Dr. V. : „Tief hineinkommen, noch immer tiefer" (V. hebt Fr. B.'s Arm.
Die anfänglich schwache Katalepsie wird nach einigen Bewegungen etwas ge-
steigert.) Dr. V. : „Jetzt werden Sie träumen : Sie fahren mit Ihrem Mann Velociped
ins Kosenthal. — Jetzt fahren Sie grade aus. — Jetzt biegen Sie rechts herum. —
Jetzt machen Sie einen Kreis. — Jetzt steigen Sie ab. Halt, 1, 2, 3."
Lebhafter Affectausdruck (Lachen) während der ersten zwei Suggestionen.
Bei der zweiten Suggestion Auftreten von Mitbewegungen in den Armen. Linker
Arm wird vorgehalten. Bei der dritten Suggestion Stirnrunzeln wie bei An-
strengung, das bei der vierten Suggestion durch eine Ruckbewegung des Körpers
abgebrochen wird. Bei der letzten Suggestion Bewegung des Absteigens an-
gedeutet.
Fr. B. : „Ich habe tiefer geschlafen als das vorige Mal. Es besteht tbeil weise
Amnesie, muss sehr scharf nachdenken. Der Anfang des Traumes fällt mir nicht
ein. Als ich den Kreis machen wollte, musste ich erst Jemanden vorbeipassiren
lassen. Dann machte ich ihn erst fertig. Die Situation bei dem Kreismachen ist
mir noch sehr lebhaft. Vom Absteigen ist mir nur noch eine dunkle Erinnerung
geblieben. Ich bin nicht ganz sicher, ob ich beim Absteigen im Traum eine Be-
wegung mit dem Körper gemacht habe. Ich glaube, dass ich während des Fahrens
den rechten Arm herunter hängen Hess, und mit dem linken gefahren bin."
Versuchsstadium:
* „Bei der ersten Suggestion war mir die Situation sehr lebhaft, ebenso lebhaft,
als am Schluss des letzten Males beim Hinstürzen meines Mannes. Ich habe vor
Vergnügen gelacht, dann fuhr ich, um meinen Mann zu necken, meinem Mann
voraus, musste stark treten, wurde danji beim Fahren auf der rechten Wegseite
etwas wacher, fuhr langsamer; bin dann einen Moment wie stehen geblieben. Die
Lebhaftigkeit während des Langsamerfahrens war die gleiche wie vorher." Dr. V.:
„Haben Sie viel gesehen?" Fr. B.: „Ich sah nur auf den Weg. — Auf die Sug-
gestionen habe ich gamicht geachtet. Während ich stehen blieb, fühlte ich mich
noch wacher, wurde aber durch die nächste Suggestion wieder mitten in die Situa-
tion hineinversetzt. Als ich den Bogen machte, wobei ich Jemanden passiren lassen
musste, machte ich dabei eine starke Bewegung, die ich auch mit dem Körper an-
gedeutet habe.'*
8. Versuch.
Dr. V.: „Suchen Sie ganz tief hineinzukommen, ganz schön ruhig werden,
schön tief schlafen " (Katalepsie noch schwach angedeutet.)
Dr. V.: „Jetzt werden Sie träumen: Sie fahren mit Ihrem Mann Velociped
Zur Kritik der hypnotischen Technik. 139
ins Rosenthal. — Jetzt fahren 6ie grade aus. — Jetzt biegen Sie rechts herum. —
Jetzt machen Sie einen Kreis. — Jetzt steigen Sie ab. — Halt, 1, 2, 8."
Anfänglich mittelstarke Mitbewegung mit den Armen, dann auch mit den
Beinen.
Dr. V.: „Nun, wie ist es gewesen?*^ Fr. B.: ,,Ich habe tief geschlafen, ich muss
erst wieder scharf nachdenken. £8 ist mir noch erinnerlich, die Wiese zu meiner
rechten, und die rechte Wegseite gesehen zu haben. ** Dr. V. : „Lebhaft in fir-
innerung?" Fr. B. : „Sehr schwach". Dr. V.: „Was wissen Sie sonst noch?**
Fr. ß.: „Nichts mehr«.
Versuchsstadium:
Dr. V. : „Versetzen Sie sich jetzt in ein tiefes Versuchsstadinm und denken Sie
scharf nach !« Fr. B. : „Ich war mit meinem Mann zusammen, habe auch genau
Weg und Brücke gesehen.*' Dr. V. : „Wie lebhaft im Vergleich zum letzten Mal ?*•
Fr. B. : „Entsinne mich dessen noch nicht." Dr. V.: „Denken Sie scharf nach."
Fr. B. : „Es scheint mir ebenso lebhaft als das letzte Mal, vielleicht noch etwas
lebhafter. Ich fuhr dann geradeaus auf die rechte Wegseite, erinnere mich nur
sehr schwach, die Suggestionen gehört zu haben." Dr. V.: „Wie war die Kritik?"
Fr. B.: „Es war vollständiger Kritikmangel vorhanden. Den Kreis machte ich nicht
wie vorher, links herum, sondern rechts herum. Dabei kam mir die fteflexion, dass ich
auf diese Weise in die Wiese gelangen wurde, aber ich sah gleich darauf, dass es
mir doch gelungen war. Als ich abstieg, habe ich, wie ich mich jetzt entsinne, die
Bewegung mit dem Körper angedeutet. Auch glaube ich im Traum gdnickt zu
haben, wobei mir die Idee kam, dies würde notirt. Sonstiger Bewegungen bin ich
mir nicht bewusst." Dr. V.: „Noch tiefer in das Versuchsstadium hineinkommen."
Fr. B.: „Ich habe noch mit der rechten Hand eine Bewegung gemacht, wobei ich
die Idee hatte, dass ich nicht ganz herumkommen könne. Dabei kam mir noch
die Idee, dass es nur ein Traum sei. Im Anfang machte ich Beinbewegungen, bei
denen ich das Gefühl der Anstrengung hatte. Ich hatte überhaupt mehr Tendenz
zur Bewegung."
9. Versuch:
Dr. V.: „Granz tief schlafen, immer tiefer." — Katalepsie fehlt.
Dr. V.: „Jetzt werden Sie träumen: Sie fahren mit Ihrem Mann Velociped
ins Rosenthal. — Jetzt fahren Sie gerade aus. — Jetzt biegen Sie rechts herum. —
Jetzt machen Sie einen Kreis. — Jetzt steigen Sie ab. — Halt, 1, 2, 3."
Während der ersten drei Suggestionen sehr lebhafte Mitbewegungen von Arm
und Beinen. Die Bewegungen finden in der dritten Suggestion durch eine heftigere
Körperbewegung Ihren Abschluss. Dr. V.: „Wie ist es gewesen?" Fr. B. sinnt
längere Zeit nach und sagt dann: „Ich habe mit dem rechten Fuss eine Kreis-
bewegung gemacht. Ich hatte, als ich erwachte, eine entsprechende Empfindung im
Fuss, wodurch ich daran erinnert wurde. Das ist Alles, was ich noch weiss."
Versuchsstadium:
Fr. B. : „Es machte mir anfangs Spass, meinem Manne voran zu fahren. Dabei
muss ich gelacht haben, weiss mich dessen aber nicht zu entsinnen.'* Dr. V. : „Sich
noch tiefer ins Versuchsstadium versetzen!" Fr. B.: „Ich weiss es nicht sicher."
Dr. V.: „Wie ging es nun weiter?" „Ich fuhr sehr rasch auf die rechte Wegseite,
und weU ich sehr rasch vorwärts kam, machte ich den Kreis sehr früh, und weil
ich dabei Angst hatte, vom Wege abzukommen, so machte ich eine anstrengende
140 ^^^ Straaten.
Bewegung, die ich auch in Wirklichkeit mit dem Körper zum Ausdruck gebracht
habe. — Sprang dann ab, zu sehen, wo mein Mann geblieben war.
Im tiefen Schlaf habe ich Sie wohl noch sprechen hören, aber ich weiss nicht,
was Sie gesprochen haben." Dr. V.: „Wissen Sie, wodurch der Traum entstanden
ist?" Fr. B.: „Ich habe wohl noch die erste Suggestion gehört und verstanden,
von da ab habe ich ohne Bewusstwerden ihrer Suggestionen weiter geträumt. Der
Traum spielte sich rascher ab, als Ihre Suggestionen. Ich war schon abgestiegen,
da hörte ich noch Ihre beiden letzten Suggestionen, aber Sie machten auf mich
gar keinen Eindruck. Sie riefen bei mir nichts hervor.
10. Versuch.
Dr. V.: „Noch tiefer einschlafen, als das letzte Mal. Noch immer tiefer." —
(Atonie.)
Dr. V.: „Jetzt werden Sie träumen: Sie fahren mit Ihrem Mann Velociped
ins Rosenthal. — Jetzt fahren Sie grade aus. — Jetzt biegen Sie rechts herum. —
Jetzt machen Sie einen Kreis. — Jetzt steigen Sie ab. — Halt, 1, 2, 3."
Während der ersten 3 Suggestionen geringe Mitbewegung mit dem Fasse.
Dt, V.: „Wie war es diesmal?"
Fr. B.: „Ich weiss nichts. Es besteht vollkommene Amnesie.*'
Versuchsstadium:
Fr. B.: „Die Traumbilder waren nur im Anfang noch lebhaft. Gegen Ende
, nahmen Sie an Lebhaftigkeit ab. Es bestand nur noch Kritik im Anfang. Die Bilder
waren nicht zusammenhängend. Mit den gegebenen Suggestionen tauchten sie auf
und verschwanden wieder. Am Ende träumte ich, ich sei abgefallen, und als ich
Ihre Suggestionen des Absteigens hörte, da wurde mir das falsche derselben im
Verhältniss zu meiner Situation bewusst.'*
11. Versuch.
Dr. V.: „Nun ganz tief hineinkommen. Immer tiefer." — Atonie.
Dr. V.: „Jetzt werden Sie träumen: Sie fahren mit Ihrem Mann Velociped
ins Rosenthal. — Jetzt fahren Sie gerade aus. — Jetzt biegen Sie rechts herum. —
Jetzt machen Sie einen Kreis. — Jetzt steigen Sie ab. — Halt, 1, 2, 3." Erst
nach wiederholtem 1, 2, 3 Erwachen. Keine Bewegungen.
Dr. V.: „Wie war es."
Fr. B. nach einigem angestrengten Nachdenken : „Es besteht absolute Amnesie."
Versuchsstadium.
Dr. V.: „Wie war der Schlaf?" Fr. B.: „Noch tiefer, aU das letzte Mal."
Dr. V.: „Habe ich Ihnen Suggestionen gegeben?" Fr. B.: „Ich vermuthe es. Ic|^
muss noch tiefer ins Versuchsstadium hineinkommen. Als Sie meine Hand er-
griffen (zum Feststellen des Muskeltonus) träumte ich, mein Hund hätte mich ge-
bissen. Dadurch wurde ich etwas aufgeweckt. Ich schlief aber gleich wieder ein.
Von Ihrer ersten Suggestion hat sich nichts realisirt. Ihre Suggestion störte mich
nur, ich erfasste sie nicht. Die zweite Suggestion realisirte sich insofern nicht, als
ich mit meinem Mann Arm in Arm ging. Bei der folgenden Suggestion wichen
wir einem Wagen aus, indem wir rechts gingen. Bei der nächsten Suggestion
machte mein Hund auf dem Wege einen Kreis. Die Traumbilder hatten an Leb-
haftigkeit eingebüsst. Kritik fehlte vollständig."
12. Versuch.
Dr. V. : „Jetzt ganz tief hineinkommen, tief schlafen." — Atonie.
Zur Kritik der hypDOÜBChen Technik. 141
Dr. V.: „Jetzt werden Sie träumen: Sie fahren mit Ihrem Kann Velociped
ins Jäosenthal. — Jetzt fahren Sie grade aus. — Jetzt biegen Sie rechts herum. —
Jetzt machen Sie einen Kreis. — Jetzt steigen Sie ab. — Halt, 1, 2, 3. — 1, 2, S."
Es ist eine etwa zehnfache Wiederholung von 1, 2, 3 nöthig, bevor ein £rwachen
auftritt. Keine Ausdrucksbewegungen, — Rapportverhältniss aufgehoben. Krst
nach wiederholtem Anrufen Öffnet Fr. B. die Augen und ist wach.'
Dr. V.: ,,Nun, haben Sie was geträumt?"
Fr. B. : „Ich kann mich dessen nicht entsinnen. Ich habe fest geschlafen, be-
sonders gegen Schluss.**
Versuchsstadium:
Fr. B.: „Ich habe sprechen hören, habe aber nicht auf die Worte gehört, sie
waren mir lästig." Dr. V.: „Wussten Sie, dass ich die Worte sprach?" Fr. B.:
glch war mir nicht klar darüber." Dr. V. : „Hatten Sie noch Kritik meinen Worten
gegenüber?" Fr. B.: „Während ich das vorletzte Mal noch wenige Worte capirt
und gut aufgefasst habe, war es hier nur das Wort Velociped, wobei ich mir ein
Dreirad vorstellte. Träume habe ich nicht gehabt.'*
Wir haben eine Reihe von 12 Versuchen vor uns, bei denen von
Mal zu Mal der Schlaf an Tiefe zugenommen hat. Bei den letzten
Versuchen 11 und 12 war das Erwecken direct erschwert. Bei dem
5. Versuche begannen Ausdrucksbewegungen, zu denen sich im 6. Ver-
suche Mitbewegungen hinzugesellten. Im 9. Versuche zeigten diese
Bewegungen ihren Gipfelpunkt, um im 10. Versuche bereits wieder
schwächer aufzutreten, und im 11. zu verschwinden. Im 6. Versuche
zeigt sich im ausgeprägten Maasse bereits eine Amnesie. In der 9»
Hypnose existirt für das Traumbild eine vollständige Amnesie. Es ist
nur der zufällige Umstand einer Nachempfindung im rechten Fuss, der
die Fortexistenz eines ganz isolirten Erinnerungsbildes bedingt. Für
die späteren Hypnosen herrscht eine vollständige Anmesie. Aus den
subjectiven Angaben der Versuchsperson ergiebt sich, wenn wir die des
Wachbewusstseins und die des eingeengten ßewusstseins vereinigen, dass
die Suggestionen bis gegen die 9. Hypnose hin immer intensivere
Wirkungen ausgelöst haben, um in der 9. Hypnose ihre höchste Intensität
zu erreichen. Von da an lässt die Intensität der suggestiven Folge-
wirkung nach, um in dem 12. Versuche vollständig zu erlöschen. Da-
bei ist zu constatiren, dass parallel der Zunahme der Intensität des
Traumes bis zur 9. Hypnose die Kritik abnimmt, dass also jenes Wechsel-
Terhältniss zwischen Intensität einer Bewusstseinserscheinung und Mangel
der Kritik ihr gegenüber besteht, worauf O.Vogt bereits in Forel's
Hypuotismus ^) aufinerksam gemacht hat. Wir wollen auf die theo-
*) Forel, Hypnotismus, 3. Aufl., pag. 122.
142 vfti^ Straaten.
retische Deutung in unserem Zusammenhange nicht eingehen, da wir
hier empirische Fragen im Auge haben. Von der 10. Hypnose an
nimmt nun etwa nicht die Ej*itik wieder zu, sondern trotz weiterhin
brachliegender Elritik zeigt die Intensität der suggestiven Folgewirkung
eine sich vermehrende Abnahme. Es handelt sich um die Ausbildung
eines allgemeinen Schlafes, indem ein beliebig partielles Wecken durch
die Worte des Experimentators nicht mehr möglich ist, wie auch das
allgemeine Wecken erschwert ist, mit anderen Worten, die Schlafhemmung
hat so zugenommen, dass auch das Rapportverhältniss dadurch gestört
worden ist.
Wir kommen so zu dem Resultat, dass die momentane Einwirkung^
von Suggestionen dann am intensivsten ist, wenn die Schlafhemmung
bei erhaltenem Rapportverhältniss die grösste Tiefe erreicht hat, das
heisst, wenn wir den Zustand erzielt haben, den 0. Vogt stets als den
tiefsten Grad der Hypnose bezeichnet hat. Bei dem 9. Versuch sehen
wir diesen Zustand erreicht. Die jenseits dieses Versuches auftretenden
Schlafhemmungen entfernen sich in ihrem Charakter insofern von diesem
Zustande der tiefsten Hypnose, als unter dem Einflüsse noch allge-
meinerer Schlafheromung das Rapportverhältniss Noth leidet, das heisst
ein dem tiefen Nachtschlaf entsprechender Zustand geschaffen ist. Wer
diesen Zustand für die tiefste Hypnose hält, der mag freilich für die
Ueberlegenheit der oberflächlicheren Stadien eintreten. Aber wie ist
es möglich, dort noch von Hypnose zu reden, wo wir einen dem tiefen
Nachtschlaf entsprechenden Zustand geschaffen haben.?
Wir möchten noch auf einen Punkt aufmerksam machen. Wir
haben gleichzeitig bei jedem Versuch der Hypnose den Grad der Kata-
lepsie festgestellt. Wie 0. Vogt in einer anderen Arbeit nachgewiesen
hat, zeigt die Zunahme des Muskeltonus und der Uebergang in die
Atonie eine ähnliche Curve wie die Zunahme und weiterhin die Ab-
nahme der Suggestibilität bei Vertiefung der Schlafhemmung. ^) Diese
Curve lässt sich auch hier nachweisen. Bereits im Versuche 3 ist eine
leichte Katalepsie vorhanden. Diese nimmt bei Versuch 4 an Intensität
zu, steigert sich noch in Versuch 5; sie steigert sich noch weiter, um
in Versuch 7 bereits wieder abzunehmen. In Versuch 9 ist sie bereits
nicht mehr nachweisbar. In diesem Falle blieb also die Erregbarkeit
für Worte länger erhalten als die durch den Muskelsinn. In anderen
Fällen beobachtet man das Gegentheil. Bei allen derartigen zeitlichen
^) Ueber die Xatur der suggerirten Anästhesie, Bd. VII. p. 338.
Zur Kritik der hypnotischen Technik. 143
Differenzen muss ein der Suggestibrlität analoges Verhältniss der Kata-
lepsie gegenüber der zunehmenden Schlaftiefe festgehalten werden.
Es ist dies eine praktisch wichtige Thatsache, weil wir aus dem
Muskeltonus ungefähr auf die Tiefe der Schlafhemmung schliessen
können.
Es handelt sich selbst?erständlich in diesen Fällen um die soge-
nannte passive Katalepsie, dass heisst, um eine Katalepsie, die nicht
etwa durch eine entsprechende Zielvorstellung hervorgerufen wird.
Schliesslich wollen wir noch bemerken, dass der gewisse Grad der
Emancipation von den Suggestionen, wie er im 9. Versuch vorliegt,
durchaus atypisch ist und nichts Characteristisches enthält. Wir haben
Parallelversuche vorgenommen, wo bei einem entsprechenden Grade
von Schlafhemmung der Traum sich vollständig entsprechend den
Suggestionen in stärkster Intensität realisirte, und hinterher eine voll-
ständige Amnesie existirte. Wir hatten aber bereits im Voraus die
vorstehende Versuchsreihe zur Veröifentlichung bestimmt und haben
auch daran festgehalten, um zu zeigen, wie sehr wir entfernt sind, unsere
Resultate zu schematisiren.
II. Yersnchsreihe.
Fr. B. liegt auf einer Chaiselongue ausgestreckt. Dr. V. reicht ihr einen Teller
mit einem Stück einer Ananasfrucht. Das Riechen der Ananas ruft bei Fr. B.
einen grossen Appetit hervor, und ein sehr starkes angenehmes und ausgesprochen
heiteres Gefühl.
1. Versuch.
Fr. ß. wird aufgefordert, die Augen zu schliessen, aber ganz wach zu bleiben.
Br. V.: „Stellen Sie sich vor, dass eine Spinne (ein der Fr. B. sehr unangenehmes
Thier) über die Ananas läuft." — Ananas wird zum Riechen vorgehalten. — Fr. B. :
„Der Appetit und das heitere Gefühl haben nicht gelitten. Das angenehme Gefühl
ist weniger stark ausgeprägt. *• Dr. V.: „Wie lebhaft war die Vorstellung?-* Fr. B.;
„Nicht etwa sinnlich lebhaft, ohne Farben, aber doch so lebhaft, dass sie von un-
angenehmen Organempfindungen begleitet war.'^
2. Versuch.
Fr. B. versetzt sich in einen oberflächlichen Schlaf.
Dr. V.: „Jetzt träumen Sie, dass über die Ananas eine Spinne läuft." Halt,
1, 2, 3. — Ananas wird zum Riechen vorgehalten. Fr. B. : „Bin so gut wie gar
nicht beeinflusst. Das Verlangen nach der Ananas ist das gleiche. Das angenehme
Gefühl war etwas geringer, wie beim allerersten Mal." Dr. V.: .,Wie war Ihr Zu-
itand?'* Fr. B.: „Es war ein leichter Schlummer." Dr. V.: „War die Lebhaftig-
keit der Vorstellung grösser als das letzte Mal ?** Fr. B. : ..Die Vorstellung war
ntensivcr." Fr. B. hat die Idee, dass die Wiederholung desselben Traumes er-
müdend wirken und der Traum weniger lebhaft auftreten würde.
144 ^Ai^ Straaten.
Wiederholung des Verauchs. Dr. V. bittet Fr. B. sich in denselben leichten
Schlummerzustaud zu versetzen, und suggerirt das Schwinden dieser störenden Idee.
Dr. y.: „Jetzt werden Sie träumen, dass über die Ananas eine Spinne läuft.*'
Halt, 1, 2, 3.'' Ananas zum Riechen vorgehalten.
Fr. B.: ,,Der Appetit hat sich etwas verringert, das angenehme G-efnhl ist
etwas geringer, etwa wie beim Augenschluss im wachen Zustand. Das heitere
Gefühl hat einem deprimirenden Gefühl Platz gemacht." Dr. V.: „Wie war der
Traum?'* Fr. B.: „Die Ananas war schwach sinnlich lebhaft. Die Spinne nicht,
sie war rein vorgestellt. Die Empfindung des Ekels, besonders in der Magengegend,
stärker ausgesprochen. Der Traum war noch nicht passiv. Die Kritik verlor ich
nur in dem Momente, wo ich mir die Spinne über die Ananas laufend vorstellte.
Die auftretenden Organempfindungen gaben mir die Idee, dass es in Wirklichkeit
nicht der Fall war.*'
3. Versuch.
Fr. B. wird aufgefordert sich in ein etwas tieferes Schla£stadium zu versetzen.
Dr. V. : „Jetzt werden Sie träumen, dass über die Ananas eine Spinne läuft.**
Fr. B. unterbricht den Versuch: .Jch wurde durch die Furcht gestört, dass
der Versuch nicht gelingen würde. Ich war ängstlich, dass der Traum zu affect-
betont sein, durch diese Affectbetonung die Schlafhemmung sich steigern und so
das oberflächliche Schlafstadium in eine tiefe Schlafhemmung übergeführt werden
würde.**
Dr. V. fordert nun Fr. B. auf, sich noch einmal in das gewünschte Schla&tadium
zu versetzen.
Dr. V.: „Jetzt werden Sie träumen, dass über die Ananas eine Spinne läuft.
Halt, 1, 2, 3.** Ananas zum Eiechen vorgehalten.
Fr. B. : ,,Der Appetit ist noch mehr beeinträchtigt. Die Verstimmung ist noch
stärker, das angenehme Gefühl hat noch mehr gelitten. Die Schlafhemmung war
grösser als die erste. Die Traumvorstellung war mehr passiv. Die Vorstellung der
Spinne war sinnlich lebhafter als die der Ananas. Die Spinne sah ich an der
Ananas saugen. Farben unterschied ich nicht, ich sah Alles grau in grau. Ich hatte
meine Situation vergessen, und war auch nicht von der Vorstellung beherrscht,
dass es ein suggerirter Traum war.'*
4. Versuch.
Fr. B. versetzt sich in einen noch tieferen Schlafzustand.
Dr. V.: „Jetzt träumen Sie, dass über die Ananas eine Spinne läuft. Halt^
1, 2, 3.»
Ausdrucksbewegung des Ekels während der Suggestion. Apanas zum Riechen
vorgehalten.
Fr. B. : „Der Appetit noch stärker herabgesetzt, nur noch Verlangen, die
Ananas zu riechen, dabei noch ein angenehmes Gefühl, aber mit Organempfinduugen
des Ekels verbunden.
Die Traumvorstellung war lebhafter. Ich unterschied noch keine Farben, aber
die Zeichnung der Gegenstände trat deutlicher hervor. Jedoch ist (die Vorstellung
der Spinne noch nicht so lebhaft, dass ich sie klassificiren könnte. Die Traum-
vorstellung war passiver wie das letzte 3Ial." Dr. V.: „Haben Sie Bewegungen
gemacht?*' Fr. B.: „Ich glaube keine gemacht zu haben. \ßT, B. bittet, sich ins
Zur Kritik der hypnotiscben Technik. 146
Venoehtatadiaxn Tertetzen zu dürfen). Fr. B. : „Ich habe den Mund Terzogfen and
die Stirn gerunzelt.*'
5. Versuch.
Tieferes Schlafstadium.
Dr. V.: „Jetzt träumen Sie, dass über die Ananas eine Spinne läuft. Halt,
1, 2, 3.-
Aasdrueksbewegung des Ekels im G^esicht. Abwebrbewegung mit dem rechten
Arm und Ausweichbewegung mit dem ganzen Körper.
Ananas zum Riechen vorgehalten.
Fr. ß. verspürt eine directe Neigung zum Erbrechen. Wtirgbewegungen treten
auf. Verstimmung stärker. Der süasliche Geruch der Ananas verursacht noch ein
angenehmes Gefühl, wenn Fr. B. denselben von der Vorstellung der Ananas trennt.
Fr. B. : .^Sobald ich aber den Geruch mit der Vorstellung der Ananas vereinige,
ist mir der Geruch der Ananas unangenehm.^ Dr. V. : „Hatten Sie dabei eine Zwischen-
Yorstellung?*' Fr. B.: „Ich vermuthe, dass eine vorhanden war, weiss sie aber nicht.''
Fr. B. versetzt sich in das Versachsstadium. Sie findet gleich, dass es die Vorstellung
der Spinne war, die sie mit der Vorstellung der Ananas verband, und zwar speciell in
der Situation des vorhergegangenen Traumes. Ein Corrigiren dieses Erinnerungs-
bildes ruft in ihr die ursprüngliche Gefühlsbe tonung gegenüber der Ananas hervor.
Der Schlaf war tiefer als das letzte Mal. Der Traum war von einer grösseren
Lebhaftigkeit. Fr. B. hatte die Situation fast ganz vergessen, hat den Traum zeit-
weilig für wahr gehalten. Das BUd war noch deutlicher, entbehrte aber, soweit sie
sich im wachen Zustande erinnern kann, der Farben. Sie ist sich bewusst, mit dem
Arm eine Bewegung ausgeführt zn haben, wurde dabei etwas wacher, hatte dabei
f^ einen Moment eine Vorstellung von ihrer gegenwärtigen Situation. Die In-
tensität der Organempfindungen war grösser. Fr, B. hat seit dem letzten Traum
einen leichten Kopfschmerz.
Versuchsstadium:
Fr. B. hat im Anschluss an die Suggestion eine detaillirte Situation gesehen.
Sie sah die Spinne auf der Ananas, diese auf einem Teller, der auf einem Thee*
hrett stand. Das Theebrett stand auf einem Tisch des Arbeitszimmers, unter dem
Kronleuchter. Sie fahrt fort: „Ich sollte nun hmgehen, den Teller fortzunehmen,
und machte eine Abwehrbewegung mit dem Arm. Die Farben besassen noch nicht
die Intensität der Wirklichkeit, aber die Farbe der Spinne war mir lebhafter als
die Form. Mit der Abwehrbewegung war auch eine starke Ausdrucksbewegung
im Gesicht verbunden.''
6. Versuch.
Dr. V. : „Versetzen Sie Sich in ein noch tieferes Schlafstadium. Immer tiefer
hineinkommen etc. — Sie träumen jetzt, dass über die Ananas eine Spinne läuft.
Halt, 1, 2, 3 **
Sehr starke Ausdrucksbewegung des Abscheus, Andeutung einer fliehenden
Bewegung.
Ananas wird zum Riechen vorgehalten. Es besteht gänzlicher Appetitmangel.
Fr. B. empfindet einen ausgesprochenen Ekel vor der Ananas, ist sehr stark ver-
stimmt Der Geruch von der Ananas getrennt ist schwach unangenehm. Zwischen-
vorstellung zwischen dem Geruch und der Ananas kommen ihr nicht zum Bewusstsein.
Im Versuchsstadium kommen ihr als Zwischenvorstellungren zwischen Geruch
Zeitschrift für Hypnotismns etc. IX. ^0
146 van Straaten.
«nd Ekel die Ananas und die Spinne zum Bewusstsein. Die Vorstellung^ der
Ananas trennt sie nicht mehr von der Spinne.
Es besteht starker Kopfschmerz. Von dem Traum hat Er. B. im wachen Zu-
stand keine Erinnerung. Die Schlaftiefe war grösser als das vorige Mal.
Yersuchsstadium:
Er. B. : „T>er Traum war sinnlich lebhaft. Die Situation war analog der im
vorhergehenden Traum. Die Farben waren noch lebhafter. Ich habe den Traum
noch weiter gesponnen. Ich wollte mich zwingen, den Teller wegzunehmen. Die
Spinne kam auf mich zu, ^obei ich dann eine Abwehrbewegung machte. Zugleich
hatte ich ein ausgesprochenes Angstgefühl. Die Gestalt der Spinne war ganz
deutlich. Der Kopfschmerz hat jetzt etwas nachgelassen."
7. Versuch.
Dr. V. : „Schön tief hineinkommen, immer noch tiefer schlafen. — Jeitzt
träumen Sie: dass über die Ananas eine Spinne läuft — Halt, 1. 2, 3.**
Geringe Ausdrucksbewegungen. Ananas zum Riechen vorgesetzt.
Er. B. : „Das Riechen giebt mir ein schwach angenehmes Gefühl. Essen möchte
ich die Erucht nicht. 3Ieine Stimmung ist eine gleichgültige. Bin weder heiter
noch verstimmt." Dr. V.: „Haben Sie nicht geträumt?" Er. B. : ,.Ich entsinne
mich nicht."
Versuchsstadium:
Er. B. : „Ich habe noch tiefer geschlafen als das letzte Mal. Die Traum-
votstellung war weniger intenaiv. Schwach sinnlich lebhaft. Keine Farbe. Wenig
Bewegung. Situation weniger complex. ' Die Traumbilder tauchten nur für einen
Moment auf, und waren unzusammenhängend, hielten mich nicht gefangen. Die
Ekelempfindung war sehr schwach. Ich spürte eine geringe Contraction der Ge-
sichtsmusculatur.
8. Versuch.
Dr. V.: .,Nun sehr tief einschlafen. Noch immer tiefer hineinkommen, noch
immer mehr. — Sie träumen jetzt, dass über die Ananas eine Spinne läuft. Halt,
1, 2, 3."
Keine Ausdrucksbewegungen. Ananas zum Riechen vorgehalten.
Er. B.: „Geruch ist mir direct angenehm. Ich habe Appetit, die Ananas zu
essen. Geringe Heiterkeit vorhanden. Dr. V.: „Haben Sie geträumt?" Er. B.:
„Nein, ich entsinne mich nicht."
Versuchsstadium:
Fr. B.: j.Der Schlaf war tief. Ich habe nur die Wörter Ananas und Spinne
gehört, aber diese Wörter haben kein Traumbild ausgelöst. Von der Spinne habe
ich nur einen Schatten gesehen, aber nicht mit der Ananas combinirt. Bei dem
Wort Ananas sah ich eine ganze Ananas. Eine Organempfindung des Ekels wurde
nicht ausgelöst.
Die zweite Versuchsreihe zeigt im Wesentlichen dieselben Verhält-
nisse, wie die erste. AVir sehen bis zum Schluss zunehmeode Vertiefung
des Zustandes. Bei dem 4. Versuch beginnen Ausdrucksbeweguogen,
die im 6. Versuch ihren Gipfelpunkt erreichen, im 7. Versuch noch
angedeutet sind; und im 8. Versuch fehlen. Die Amnesie ist im 5.
Zur Kritik dar hypnotischen Technik. 147
Yersticbe partiell yorhanden, und ist seit dem 6. Versuch eine voll-
ständige. Die Lebhaftigkeit der ausgelösten Tiaumbilder nimmt bis
zum 6. Versuch zu, erreicht hier ihren Gipfelpunkt ^ um im 8. Ver-
such einen vollständigen Nullpunkt zu erreichen. Der bi» zum 6. Ver-
such zunehmende Mangel an Kritik gegenüber den Traumbildern Hess
nicht etwa bei den weiteren Versuchen nach. Es bandelt sich also bis
zum 6. Versuch um Vertiefung des Schlafzustandes bei erhaltenem
fiapportverhältniss, yon da an unter gleichzeitigem Verlust des Bapport-
yerbältnisses.
Was nun die Nachwirkung dieses affectbetonten Traumes anbe-
langt, so constatiren wir hier eine yoUständige Proportionalität zwischen
der Intensität des Auftretens und seiner Nachwirkung. Bei dem 6.
Versuch, wo der Traum einerseits am lebhaftesten gewesen war, andrer^
seits im Wachsein eine yoUständige Amnesie für denselben besteht, ist
der durch den Geruch der Ananas ausgelöste Ekel am intensivsten.
Das also, was schon aus theoretischen Gründen als wahrscheinlich
angesehen werden konnte, ist auch empirisch durch ein derartiges Ex-
periment bewiesen: Die Pr(^ortionalität zwischen momentaner Inr
tensität der Suggestivwirkung und der Dauer ihrer Nachwirkung.
Die Intensität einer Suggestivwirkung und damit also
auch die Nachhaltigkeit ihrer Folgewirkung ist aber am
intensivsten, wenn sie in dem Zustand gegeben wird,
den wir eben mit O. Vogt als tiefste Hypnose bezeichnen,
nämlich als tiefsten Schlaf bei erhaltenem Rapportver-
hältniss.
U. Die Methodik zur Erreichung der gewünschten
Gestalt der Hypnose.
Im zweiten Theil wollen wir uns mit der Frage beschäftigen, wie
man am besten eine möglichst tiefe Hypnose erzielen kann, d. b. einen
möglichst tiefen Schlaf mit Erhaltung des Rapportverhältnisses. Zu
diesem Zweck hat mich 0. V o g t in verschiedener Weise hypnotisirt. Ich
lasse die einzelnen Protokolle wörtlich folgen, und werde den einzelnen
die epikritischen Bemerkungen folgen lassen. Die wörtliche Aufführung
der Protokolle soll daneben den Zweck haben, einen Einblick in 0. V o g t 's
Methode zu gewähren, die vor Allem auch deshalb eine absolute Ab-
hängigkeit der Ausdehnung und der Tiefe der Schlafhemmung von den
Verbalsuggestionen erstrebt, weil man auf diese Weise in den Stand
10*
148 ^*^ Straateo.
gesetot wird, die für jeden einzelnen Fall gewünschte Gestaltung der
Schlafbemmung zu erzielen.
Gerade in diesen Worten fasst O. Vogt neuerdings die Forderung zu-
sammen, die er an die hypnotiscdie Technik stellt. Er sucht die Mög-
lidikeit einer nicht nur dem IndiTiduuxh, sondern auch den jedesmaligen
durch die momentane Bedingungen geschaffenen Anfordemngen des
Individuumä entsprechenden Tiefe und Ausdehnung der Schlafh^mmung
zu erstreben. Diesem Zweck kann natürlich ausschliesslich die Yerbal-
suggestion dienen. O. Vogt ist deshalb immer mehr noch von der
Anwendung der sogenannten physikalischen Methode zurückgegangen.
Dazu muss noch her?orgehoben werden, dass es darauf ankommt,
dass nicht nur Verbalsuggestionen gegeben werden, die suggestive
Folgewirkungen haben, sondern dass diese Verbalsu^gestionen von dem
zu hypnotisirenden so assimüirt und realisirt werden, wie es dem
Wunsche des Experimentators entspricht. <
Wir kommen nun zu den Experimenten, die im Ganzen 7 Sitzungen
umfassen :
1. Hypnose.
Verf. ist auf einer Chaiselongue bequem hingestreckt und von einer dünnen
Decke bedeckt. Neben Dr. V. und einem Protokollanten befindet sich Niemand
im Zimmer. Die einzelnen Hypnosen dauerten 1 — 2 Minuten. Dr. V. legt seine
rechte Hand auf Verf.'8 Stirn und spricht in langsamer Weise Folgendes : „Nun
sehen Sie gerade aus. — Ganz allmtihlich werden Sie unter meiner fiand eine
Wärme fühlen. — Die Wärme geht allmählich auf die Augenlider tiber. — Fühlen
Sie schon etwas?" Verf. fühlt einen Reiz an den Augen. — Dr. V.: „Dieser Reiz
wird nun zunehmen und führt zum Augenschluss. Sie fühlen als ob Ihnen die
Augen zugedrückt würden. — Sie werden ganz schön ruhig werden. — Ganz schön
ruhig. — Die Augenlider werden immer schwerer, der Aügenspalt wird immer
enger. Sie merken schon, wie der Augenspalt enger wird, nicht wahr?" — Verf:
„Ja." — Dr. V. : „Immer enger wird der Augenspalt, die Augenlider werden von unten
nach oben, und von oben nach miten gezogen. Es kommt eine behagliche Rahe über
Sie, immer mehr. Die Augenlider werden sich immer mehr zusammenkrampfen,
und der Widerstand gegen den Augenschluss schwindet immer mehr." — Es tritt
Augenschluss ein. — Dr. V. fährt fort : „Das nächste Mal werden Ihnen die Augen
nun noch schwerer und Sie werden noch ruhiger werden. Jetzt zahle ich bis 3
Dann machen Sie die Augen wieder auf. 1 — 2 — 3."
Verf. giebt Folgendes zu Protokoll : „Zunächst empfand ich ein geringes Wärme-
gefühl und Schwere in der Stirne, dann ein Kitzelgefuhl in den Augen. Ich be-
obachtete im Anschluss an Ihre diesem Reize angeknüpfte Suggestion eine Asso-
ciation mit einer in Ihrem Vortrage gemachten Remerküng über Ausnutzung ge-
wisser subjectiver Erscheinungen zur Erzielung der Hypnose." — Dr. V.: „Haben
Sie vor dem Augenschluss etwas üxirt, oder haben Sie gleichgültig vor sich hin
Zur Kritik der hypttotiiohen Technik. 149
gesehen?'' «- Verf.: „Ich habe ziemlich g1elch|piltig aar Decke geechaut, ohino
einen bestiipmten Punkt zu &dren. Ich bemeriLte, wie mir die Decke allmählieh
ondentlicher worde, and wie zu gleicher Zeit die £mpfindang .der Schwere in d^
Augenlidem auftrat and zunahm. Obwohl ich die Uebeneagung hatte, dais ich
die Aagen noch offen halten konnte, so gab ich der Kmpfindnng der Schwere ia
den Augenlidem willig nach und schloaB die Augen.
Eine geringe Unruhe, die ich anfänglich hatte, wurde durch die dagegen ger
richteten Saggestionen aufgehoben. Es stellte sich das Gefühl der Behaglichkeit
ein, wae nach dem Lidschluss stäiker wurde, und zugleich hatte ich die Neigung
tiefer zu athmen." — Dr. V.: „Wie stand es mit Ihrer Indifferenz, hatten Sie ein
spontanes Sichgehenlatsen oder hatten Sie noch ein ausgeprägtes Interesee am Yor»
gang?*' Verf.: „Ich verfolgte den Vorgang mit Interesse, verspürte aber gegen
Ende eine Abnahme desselben.'* Dr. V.: „Wie würden Sie die Hypnose nennen?**
^loh würde sie einen oberflächlichen Schlummerzustand. nennen.**
2. Hypnose.
Dr. y. legt seine Hand wieder auf Verf.s Sürn und giebt dann folgende
Suggestionen: „Jetzt werden Sie wieder Wärme unter meiner HAnd fühlen. —
„Sehen Sie, ihr Blick wird schon wieder trüber, die Decke wird Ihnen immer
verschwommener, und nun wird die Wärme wieder auf die Augenlider übergehen,
und ganz alimählich werden sich die Augenlider mehr und mehr zusammenziehen.
^ Sie empfinden ein Kitzelgefühl in den Augen, das sich immer mehr verstärkt,
und Ihnen die Augen zusammenzieht. — Immer mehr. — ' So (im Moment des
Angenschlusses), immer fester ziehen sie sich zusammen, immer mehr, und allmäh-
lich kommt auch wieder eine behagliche Kühe über Sie; es wird. Ihpen so. wohl,
so behaglich. Sie kommen mehr und mehr in eine behagliche Kühe hinein. — Sie
werden immer gleichgültiger, lassen Sich immer mehr gehen, die Selbstbeobachtung
bort immer mehr auf, und macht einer Neigutig zur Kühe Platz. — Immer mehr
kommen Sie in eine behagliche Knhe. — Sie vergessen allmählich Alles, was um
Sie her vorgeht, es kommt ein völliges Entspannen des ganzen Körpers über Sie. —
Sie werden immer träger und müder. Immer weniger denken Sie an sich, immer
mehr vergessen Sie Sich selbst und Sie werden immer ruhiger. — Nun werden Sie
Ton Mal zu Mal tiefer in die H3rpnose kommen. Immer tiefer. — Nun zähle ich
bis 3. Dann wachen Sie auf. 1 — 2 -r- 3.**
Dr. V.: „Wie war es?**
Verf.: „Da sich die erste Suggestion der Wärme nicht sofort reallsirte, trat
in mir die Vorstellung auf, dass ich diesmal nicht zu beeinflussen sei. D^s mir
die Decke nicht verschwommen erschien, verstärkte mich in dieser. Meinung. Als
ich aber einen Augenblick nach erfolgter Suggestion nochmals hinschaute, sah ich,
dass sich diese Suggestion doch realisirt hatte, und zugleich trat eine Tendenz zum
Augenschluss ein. Während der Suggestionen der Kühe und der Gleichgültigkeit
•torte mich der Gedanke, dass es nicht gut möglich sei, sich selbst zu vergessen,
während man sich beobachten soll. Hierauf folgte Ihre Suggestion von dem Ver-
sehwinden der Selbstbeobachtung. Diese Suggestion machte durch den Umstand,
diss sie gerade in diesem Moment gegeben wurde, einen tiefen Eindruck auf mich
und reallsirte sich sofort.** Dr. V.: „Wie war Ihr Schlummer? War er tiefer oder
•benso tief, wie das letzte Mal?** Verf.: „Er .war tieier." Dr. V.: „Wie war ee
otit dem Straräenlärm ?** Verf.: „Ich. erinnere mich nicht, ihn gehört zu haben.
150 ^^^^ 8traaten.
Auch meiner Situation war ich mir nicht mehr bewusst. Von der Soggestion an,
dass die Selbstbeobachtung schwinden würde, war für Ihre Worte leichte Amnesie
da. Der Gesammtzustand war angenehm." Dr. V.: „Wenn Sie das Einschlafen in
der Hypnose mit dem gewöhnlichen Einschlafen vergleichen, beobachten Sie dann
irgend einen Unterschied zwischen beiden ?** Verf.: „Nein, das Gefühl der behag-
lichen Ruhe und die Abschwächung des Bewusstseins entspricht ToUständig dem
Zustande beim gewöhnlichen Einschlafen.^
3. Hypnose.
Dr. y. legt' wieder die Hand auf Verf.s Stirn und giebt folgende Suggestionen:
„Jetzt geht es noch yiel schneller. Sie haben noch grössere Tendenz zum Augen-
Bchluss. Sie kommen sehr schön zur Ruhe, immer mehr. Die Selbstbeobachtung
lässt nach. Jede störende Ursache schwindet. Sie kommen immer mehr zur Ruhe
und es kommt eine wohlige Behaglichkeit über Sie. Sie haben ganz das Gefühl
des normalen Einschlafens. Sie kommen immer mehr in ein seliges Sichselbst-
vergessen und werden immer ruhiger. Sie werden durch Nichts gestört und dieser
Zustand ist Ihnen so angenehm, so behaglich. Sie kommen immer tiefer hinein,
immer tiefer in einen angenehmen Schlummerzustand. Nichts stört Sie, Sie werden
immer ruhiger. Nun vertieft sich ihr Zustand das nächste Mal noch mehr. Nun
zähle ich bis -3, dann machen Sie die Augen auf. 1 — 2 — 3."
Dr. V.: „Wie war es?" Verf.: „Gleich nach Augenschluss trat die Vorstellung
meiner Situation und der Umgebung auf. Besonders lebhaft war mir das Bild von
Fr. B., wie sie am Titehe sitzend Aufzeichnungen machte. Ich glaube, dass meine
Aufmerksamkeit deshalb auf Fr. B. gelenkt wurde, weil ich das Kratzen ihrer Feder
hörte." Dr. V.: „Wie war es mit dem Strassenlärm?" „Misine Aufmerksamkeit
^urde von Fr. B. durch den Strassenlärm abgelenkt, den ich als unangenehm em-
pfand, und der mich an einem tiefem Einschlafen hinderte. Gegen Schluss wurde
ich gegen den Lärm gleichgültiger, ich kam in ein Stadium der behaglichen Ruhe."
Dr. V. : „Hatte sich Ihr Zustand im Ganzen vertieft im Vergleich mit dem letzten
Male?" Verf.: „Ich glaube nicht." „Ich muss noch hinzufügen, dass. ich merkte,
wie Sie gegen Schluss leiser sprachen." Dr. V.: „Sehr viel leiser?" Verf.: „All-
mählich leiser, die Stinmie nahm immer mehr ab." (Abnahme der Sensibilität, da
Dr. V. in Wahrheit nicht so leise gesprochen hatte.) Dr. V. : „Wie waren die Ge-
danken, springend oder stetig?" Verf.: „Die Gedanken waren stetig." Dr. V.:
„Wie war ihre Intensität?" Verf.: „Gegen Schluss constatirte ich eine Abnahme."
Dr. V.: „Hatten Sie schon lebhaftere Traumbilder?" Verf.: „Nein."
4. Hypnose.
Dr. V.: „So — entsprechend dem Sachverhalt — diesmal sind Ihnen die
Augen schon von selber zugefallen. Sehen Sie, Sie kommen immer mehr hinein.
Nun kommt eine angenehme Gleichgültigkeit gegen Alles, was Sie umgiebt, über
Sie. Sie haben das Gefühl der Ruhe und der Müdigkeit. Immer schwerer wird
diese Müdigkeit, immer tiefer wird die Ruhe. Immer tiefere Müdigkeit kommt
über Sie. Meine Angaben haften immer weniger bei Ihnen, immer weniger. Sie
werden einfach müde, Sie werden ganz gleichgültig, ebenso gleichgültig wie Abends
vor dem Einschlafen. Es kommt ein angenehmer seliger Schlummer über Sie, ganz
von selbst, ganz ohne dass Sie etwas dazu thun. Ihr Schlummer wird immer
tiefer, mehr und mehr; immer tiefer. Die Sinne schwinden mehr und mehr. Immer
mehr kommt ein seliges Vergessen über Sie. Sie werden gleichgültig gegen den
Zur Kritik der hypnotischen Technik. 151
liSnn aaf der Strasse. Meine Worte wirken nicht störend auf Sie. Sie hören Alles
wie aus weiter Feme, immer leiser, und Sie kommen immer tiefer zur Ruhe, immer
tiefer, mehr und mehr. Sie empfinden mehr und mehr ein spontanes Sichgehen-
Iftssen, eine tiefe, behagliehe, selige Ruhe. Jetzt zähle ich bis 3. Dann machen Sie
die Augen wieder auf. 1 — 2 — 3."
Verf. : „Ich stand von Anfang an unter dem Einflüsse der Suggestionen. Ich
hatte ganz das Geföhl, als ob ich schlief, aber ohne vollständige Bewusstseinsauf-
lösung. Der Zustand entsprach vollständig den gegebenen Suggestionen. Am
Schlnss war ich entschieden tiefer. Ich hatte während der Hypnose etwas Herz-
klopfen." Dr. V.: „Erinnern Sie Sich noch meiner Suggestionen?" „Ich erinnere
mich nicht mehr des Wortlauts." „Wodurch sind Sie erwacht?" Verf.: „Sie sagten
„Zähle bis 3, dann sind Sie wach.'' Dr. V.: „Haben Sie das wirklich gehört oder
haben Sie es sich nur gedacht?" Verf.: „Das hab' ich mir wohl nur gedacht. Ich
erinnere mich aber 3 gehört zu haben."
5. Hypnose.
Dr. V.: „Jetzt kommen Sie immer tiefer hinein, immer mehr zur Ruhe.
Immer mehr Schlaf senkt sich auf Sie. Sie merken, dass der Schlaf tiefer wird.
Sie haben das Gefühl, auf dem Wege zu sein, tiefer hineinzukommen. Immer
mehr Tergessen Sie Sich selber. Immer mehr verfallen Sie in einen tiefen Schlaf.
Kehr und mehr vergessen Sie Sich. Immer tiefer kommen Sie hinein. Sie haben
immer weniger Bewusstsein von Ihrer Umgebung, von Ihrem Ich, bis sie ganz ein-
schlafen. Immer tieferes Sichselbstvergessen kommt über Sie. Immer seligerer
Schlaf senkt sich auf Sie. Immer weniger wissen Sie von Sich, ohne Ihr Zuthun
kommt immer mehr Schlaf über Sie. Jetzt zähle ich bis 3. Dann werden Sie
wach. 1 — 2 — 3."
Zeitdauer der Hypnose: 2 Min. 32 See.
Verf. : „Während der Hypnose hatte ich Herzklopfen, was meine Auünerksam-
keit von den Suggestionen ablenkte. Indem ich darüber nachdachte, was die Ur-
sache sein könnte,, fiel mir ein, dass ich schon beim Herkommen des Hypnotisirens
wegen unruhig war und Herzklopfen bekam. Für das gegenwärtige Herzklopfen
fand ich keinen Grund. Der Zustand war oberflächlicher und ich hatte das Gefühl
von Unruhe. Ich würde den Gesammtzustand einen unruhigen oberflächlichen
Schlaf nennen. Das Bewusstsein war gegen Ende verdunkelt. Nur war meine Auf-
merksamkeit noch schwach auf das Aufwecken gerichtet, und ich kann mich der
Art des Aufweckens entsinnen." (112 Pulsschläge.)
6. Hypnose.
„So, jetzt werden Sie ganz tief hineinkommen. Das Herzklopfen schwindet
immer mehr und an seine Stelle tritt ein wohliges, angenehmes Gefühl der Behag-
fidikeit. Es kommt eine völlige selige Ruhe über Sie. Sie fühlen keine Aengstlich-
keit, kein Herzklopfen, keine Unruhe. Es ist Ihnen so wohl, so ruhig. Immer
ruhiger werden Sie, immer ruhiger. Der Zustand wird immer behaglicher. Sie
fahlen Sich so wohl, so behaglich. Immer mehr senkt sich wohlthuender Schlaf auf
%. Nichts stört Sie mehr, und es kommt ein richtig behagliches Wohlbehagen
über Sie, ein angenehmer Schlaf. Sie geben Sich diesem Schlaf immer mehr hin.
Immer weniger denken Sie an Sich. Nun zähle ich bis 3. Dann machen Sie die
Augen auf. 1 — 2 — 3."
Zeitdauer der Hypnose: 3 Min. 26 See. Puls 92.
X52 ^"^ Straaten.
Verf. : „Von Ihrer Saggestion betreffend das Schwinden des Herzklopfens ist mir
die Erinnerung bewahrt. Ich habe darauf deutlich das rasche Verschwinden des
Herzklopfens verspürt. Unter diesem Eindruck kam ich rasch in einen tiefen
Schlafzustandy den ich von allen für den tieüsten halte. Es war ein völliges Selbst*
vergessen vorhanden."
Einige Bemerkungen allgemeinerer Art, äie sich nicht ausschliess-
lich auf die Erfahrungen der ersten Sitzung stützen, sondern sich zum
Theil auch auf Beobachtungen beziehen, die ich in späteren Sitzungen
gemacht habe, möchte ich gleich im Anfang erwähnen.
Ich hatte häufiger Gelegenheit gehabt, O. Vogt bypnotisik-en zu
sehen. Die prompte Erzielung hypnotischer Zustände der yerschie-
densten Grade bei einer Anzahl Personen hatten mich von 0. Vogt's
Autorität auf dem Gebiete des Hypnotismus überzeugt, und so trat
ich denn nut der Erwartung an die Versuche, dass, wenn ich überhaupt
zu hypnotisiren sei, es Q. Vogt gelingen müsse. Die Idee, dass der
Hypnotiseur nicht die nöthige Gewandtheit besitzt, ist mächtig genug,
die gegebenen Suggestionen unwirksam zu machen. Das habe ich
in O. Vogt's Poliklinik beobachtet. Eine Frau, die längere Zeit von
0. Vogt h}^notisch behandelt worden war, wurde von einem Collegen,
der die Methodik beherrschte, hypnotisirt. Es gelang ihm erst nach
mehreren Versuchen eine Hypotaxie zu erzielen. Ein tieferes Schlaf-
stadium konnte nicht erreicht werden, weil die Frau die Idee hatte,
dass dieser Arzt es nicht verstand. Sie war leicht hypnotisirbar, imd
wurde von mir, nachdem sie erfahren hatte, dass ich in Ö. Vogt's
Poliklinik schon häufig die Hypnose angewandt katte, mit Leichtigkeit
in tiefe Hypnose versetzt. Daraus geht für uns hervor, dass der Arzt,
der sich des Hypnotismus zu Heilzwecken bedient, seinen Patienten
die nöthige Achtung vor seinem Können beibringen muss.
Auf die Wichtigkeit günstiger physikalischer Bedingungen ist schon
häufig aufmerksam gemacht worden.
Ich wurde in einem behaglich warmen Zimmer hypnotisirt. Jedoch
durch eine zu grosse Wärme wurde in Folge des damit verbundenen
Unbehagens die Hypnose einige Male störend beeinflusst, woraus folgt,
dass man auch solche nebensächlich erscheinenden Dinge, wie Tempe-
ratur^ zu berücksichtigen hat. Ferner lag ich auf ein^r sehr bequemen
Chaiselongue. Ich habe mich davon überzeugt, dass eine zufällig ein-
genommene unbequeme Lage auch störend wirken kann, indem dadurch
häufig ' die Aufmerksamkeit von den Suggestionen abgelenkt wird.
Eine Patientin erklärte mir nach einer Hypnose, die Suggestionen
hätten nicht auf sie einwirken können, weil sie. in ihrer Aufmerksamkeit
Zur Kritik der hypnotischen Technik. 153
häufiger durch einen unbequem sitzenden Kragen geistört worden sei.
Es ist rielleioht nicht unwichtig, den Patienten in dieser Hinsicht
möglichst entgegenzukommen.
Ein Zimmer, wohin der Lärm der Strasse nicht dringen kann, ist
ohne Zweifel das passendste für hypnotische Experimente oder Be-
handlung. Das Zimmer, in dem ich bypnotisirt wurde, war dem öe-
räusch der Strasse in m&ssigem Grade ausgesetzt. Aber trotzdem ich
sehr empfindlich gegen Lärm von jeher gewesen bin, so gelangen die
Experimente doch, weil O. V ogt durch. seine Suggestionen die störenden
Eindrücke in ihrer Wirkung herabzusetzen resp. aufzuheben verstand.
Ausser O. Vogt und Frau B. nahm Niemand an der Hypnose
Theil. Durch ihre Gegenwart wurde meine Ungezwungenheit in keiner
Weise beeinträchtigt. Ich würde es aber als sehr unangenehm empfunden
haben, wenn sich im Zimmer noch eine Person aufgehalten hätte, die
etwa durch ihr Gebahren ein Misstrauen den hypnotischen Experimenten
gegenüber gezeigt hätte, oder bei dem ich ein Misstrauen ?ermuthet
hätte. Es hätte mich zu sehr geärgert, für einen Betrüger angesehen
za werden, als dasa ich die nöthige Buhe für die Experimente be-
wahrt hätte.
Dass schon ein auffalliges Zuschauen eines Dritten genügt, um
die Hypnose zu stören, habe ich in der Poliklinik beobachtet. Ich hatte
schon mehrere Male bei einem 12jährigeD Mädchen tiefe Hypnose er*
zielt. Als dasselbe nun einmal beim Hypnotisiren von einem Dritten
aufmerksam beobachtet wurde, konnte ich nur Hypotaxie erzielen. Ein
tieferes Stadium war trotz aller Sorgfalt nicht zu erzielen. Das £ind
Terrieth eine gewisse Beunruhigung. Als ich es nun noch einmal
hypnotifiirte, nachdem der Betrefifende sich entfernt hatte, war es mir
leicht, wiederum tiefe Hypnose zu erzielen.
Es erscheint mir aus diesem Grunde zweifelhaft, dass. sich der
Hypnotismus für klinische Demonstrationen eignet, wenigstens soweit
es sich nicht um dafür eingeübte Personen handelt.
Wie aus den Experimenten hervorgeht, wurden bei mir die Sug-
gestionen stets in der Form freundlicher Versicherung ihres baldigen
Eintritts gegeben. Befehlsform wurde nicht angewandt. Diese würde
mich persönlich unangenehm berührt haben, und hätte meine Opposition
hmiusgefordert. Wenn ich mich hypnotisiren lasse, so geschieht es
doch mit meinem Willen. Ich bedarf dazu nur der Anleitung des
Hypnotiseurs, indem er durch seine Suggestionen bei mir die Schlaf-
Vorstellung weeken soll. Ein Befehlen hat da doch eigentlich keinen Sinn.
.'354 van Straaten.
DemoDStTatioiien hatten auf mich wohl nur suggestiven EinflusSy
während sie für voreingenommene Menschen den grossen Werth haben,
dass mit einem Schlage die Vorurtheile, die durch den Missbrauch des
Hypnotismus und den Kraftspruch von Autoritäten entstanden sind,
beseitigt werden.
Was uun die 1. Sitzung speciell betrifft, so verfolgen die Suggestionen
der ersten Hypnose den Zweck, den Augenschluss herbeizuführen, und
ein Gefühl der Behaglichkeit und B.uhe zu schaffen. Dieses geschieht
zum Theil mit geschickter Ausnutzung von bei mir auftretenden sub-
jectiven Empfindungen. Nachdem ich 0. Y ogt mitgetheilt hatte, dass
ich an meinen Augen ein Kitzelgefühl hatte, knüpft er daran die
Suggestion, dass sich der Reiz vermehren würde. Meine dabei auf-
tauchende Erinnerung an eine früher gemachte Bemerkung O. Vogt's
über die Ausnutzung subjectiver Erscheinungen vereitelte zwar diese
Suggestion, während sich aber die Suggestion, dass meine Lidspalte
allmählich enger würde, realisirt, nachdem O. Vogt mich darauf
aufmerksam gemacht hatte, dass eine Verengung schon eingetreten war.
Die Suggestionen der zweiten Hypnose sind schon zum Theil auf
die Herbeiführung eines Scblafzustandes berechnet. Es wird auch schon
ein tieferer Zustand erzielt.
Die Eigenart der Methode O. Vogt's kommt in dieser Hypnose
schon mehr zur Geltung, weil er durch das Examen nach der 1. Hypnose
erfahren hatte, welche Erscheinungen sich in dieser Hypnose eingestellt
hatten. Diese Erscheinungen, Verschleierung des Blickes, Kitzelgefiihl
in den Augen, Schwinden der Selbstbeobachtung, werden, da ihr Ein-
treten sehr wahrscheinlich ist, geschickt verwendet. Die Suggestion
des Schwindens der Selbstbeobachtung realisirte sich deshalb so intensiv,
weil sie im Momente gegeben wurde, wo mich der Gedanke störte,
dass die Selbstbeobachtung beim schwindenden Bewusstsein an Schärfe
abnehmen müsse. Die Idee, dass O. Vogt diese Beflexion ahnte, rief
einen grossen Eindruck auf mich hervor, und erhöhte meine Suggesti-
bilität in nicht geringem Maasse.
Aus diesen Thatsachen gdit für unsere Methode hervor, dass der
Hypnotiseur durch eine feine Beobachtung objectiver Erscheinungen,
durch ein genaues Eingehen auf subjective Erscheinungen des zu
Hypnotisirenden bestrebt sein muss, geeignetes Material für seine
Suggestionen zu sammeln ; mit einem Worte, der Hjrpnotiseur muss sich
ganz genau den individuellen Tendenzen des zu Hypnotisirenden an-
passen. Wir können daraus gleich den Schluss ziehen, dass die Verbal-
Zur Kritik der hypnotiechen Technik. 156
saggestioii, so gehandhabt, nie zur Schablone werden kann, dajss sie
femer eine gute psychologische Schulung Toraussetzt, und dass sie, was
sehr wichtig ist, die Garantie bietet, dass unangenehme Zufalle, die ja
nur durch autosuggestive Associationen oder gemüthliche Erregungen
entstehen können, vermieden werden.
Auch die Suggestionen der 3. Hypnose suchen eine Vertiefung des
Schlafes zu erstreben. Ihr Inhalt entspricht im Wesentlichen dem der
Torhergehenden Hypnose, und knüpft wieder an meine individuellen Ten-
denzen und Befürchtungen an. Als störendes Moment ist der Strassen-
lärm zu erwähnen. Wenn derselbe auch nicht intensiver war, wie
vorher, so wirkte er deshalb störend, weil die Aufmerksamkeit sich
speciell auf ihn lenkte, was durch die Frage nach dem Lärm beim
Examiniren der zweiten Hypnose bedingt war. Dasselbe Verhalten
habe ich bei einigen Patienten in O. Vogt's Poliklinik beobachtet.
Nach einigen Hypnosen erkundigte ich mich danach, ob sie den Lärm
auf der Strasse gehört hätten. Sie antworteten, der wäre ihnen nicht
aufgefallen, oder sie hätten ihn nicht gehört etc. Wenn ich dann nach
der folgenden Hypnose sie wieder examinirte, so erklärten sie, sie hätten
nicht so gut einschlafen können, weil der Lärm gestört hätte, oder weil
der Lärm ihre Aufmerksamkeit abgelenkt hätte etc.
Hier entdecken wir also einen Nachtheil des Examinirens. In
diesem Falle ist er sehr gering. Aber er ist doch geeignet, uns in Betreff
des Fragens wichtige Fingerzeige zu geben. Wir müssen unsere Fragen
derartig stellen, dass die Aufmerksamkeit des zu Hypnotisirenden nicht
auf störend wirkende Dinge gelenkt wird, dass in ihm durch dieselben
nicht nachtheilig wirkende Autosuggestionen wachgerufen werden.
Daraus erkennen wir, mit wie viel Tact und Vorsicht das Examiniren
zu geschehen hat.
Während in der 4. Hypnose unter weiterer Anwendung auf Ver-
tiefung des Schlafzustandes hinzielender Suggestionen ein sehr tiefes
Schlafstadium hervorgebracht wird, ist die Schlafhemmung in der
5. Hypnose eine weniger ausgedehnte, und der Schlaf gewinnt durch
eine Eigenthümlichkeit , nämlich durch das während der Hypnose
auftretende Herzklopfen und die damit verbundene Unruhe einen
unruhigen Character. Hier zeigt sich nun so recht, wie nothwendig
das Examiniren ist. Wäre 0. Vogt diese Erscheinung verborgen ge-
blieben, so hätten sich auf Grund von Autosuggestionen das Herz-
klopfen und die Unruhe in folgenden Hypnosen sehr wahrscheinlich
wiederholt, sie hätten stärkere Grade annehmen, und eine Menge
156 vi^n Straaten.
anderer uDaDgenehmer Eracheiniingen im Gefolge haben können. —
0. Vogt ist aber auf Qrund der Mittheilung tod dem Herzklopfen
in der Lage^ durch geeignete Suggestionen in der folgenden Hypnose
das Herz zu beruhigen und die Unruhe zu beseitigen. Der hypnotische
Zustand erlangt nach wenigen Suggestionen eine derartige Tiefe, dasa
Amnesie auftritt. Dieser Erfolg ist wohl dadurch bewirkt, dass die
Realisation der gegen das Herzklopfen und die Unruhe gerichteten
Suggestionen meine Suggestibilitlit stark steigerte. Demnach kann dem
Hypnotiseur das Auftreten von harmlosen Organempfindungen etc., wenn
er in der Lage ist, dies zeitig genug zu merken, willkommen sein.
II. Sitzung.
1. Hypnose.
Dr. V.: „So, nun fühlen Sie wieder eine Wärme unter meiner Hand. Diese
Wärme geht allmählich auf die Augenlider über. Nun empfinden Sie eine Schwere
in den Augenlidern. Ihr Blick wird trübe, Sie sehen immer undeutlicher. Immer
schwerer werden Ihre Augenlider, immer schwerer. Immer mehr ziehen sich die
Augenlider zusammen, immer mehr, und es kommt eine behagliche Ruhe über Sie.
Ihr Herz wird immer ruhiger (Auflegen der Hand auf das Herz). Die Athmung
wird immer ruhiger. (Suggestion sofort realisirt, merkliche Verlangsaraung des
Athemholens.) Ihr Herz wird immer ruhiger, das Herzklopfen lässt mehr und
mehr nach. Sie kommen immer mehr zur Ruhe. Das Herzklopfen lässt ganx
schön nach, Sie werden immer ruhiger.^ (Längere Pause.) Hierauf leiser: „So,
jetzt kommen Sie immer mehr zur Ruhe, es kommt eine selige, behagliche Schläfrig-
keit über Sie, eine völlige Gleichgültigkeit gegen Alles, Ihre Selbstbeobachtung hört
auf, Sie fühlen von Ihrem Herzen nichts. Sie kommen ganz schön zur Ruhe."
(Pause.) „Nun zähle ich bis 3. Dann sind Sie wach. 1 — 2 — 3."
Dr. V.: „Nun» wie war es?"
Verf.: „Nachdem Sie durch Ihre Suggestionen den Augenschluss hervor-
gerufen hatten, suchte ich die Augen wieder zu öffnen, wie ich mir vor der Hypnose
vorgenommen hatte. Je mehr ich versuchte, um so krampfhafter contrahirte sich
der Musculus orbicularis. Ich stand dann sofort von ferneren Versuchen ab. Am
Anfang der Hypnose hatte ich auch Herzklopfen ; nach Ihrer Suggestion, dass das
Herzklopfen aufhören würde, hörte dasselbe auf; ich fühlte mich, dann sehr be-
haglich. Meine Aufmerksamkeit wurde dann gleich auf das Ciavierspielen (in der
Etage über dem Versuchszimmer) gelenkt. Ich empfand das Clavierspielen als
sehr störend und unangenehm. .Gegen Ende der Hypnose wurde ich gegen das
Spielen gleichgiltiger. Ich kam tiefer in den Schlaf hinein." Dr. V.: „Haben Sie
noch meine Worte gehört?" Verf.: „Ich weiss, wie Sie mlcli aufgeweckt haben."
Dr. V.: „Was habe ich vorher gesagt?" „Daran erinnere ich mich nicht mehr ganz
deutlich. Ich glaube, Sie haben gesagt, ich würde tiefer hineinkommen, ich würde
gegen alle Geräusche gleichgiltiger." (Dr. V. bemerkt, dass er die Geräusche gar nicht
erwähnt habe. Fr. B. liest Verf. den Passus über die Gleichgiltigkeit vor.) Verf. :
„Jetzt erinnere ich mich deutlich, dass ich Ihre Suggestionen bezüglich der Gleich-
giltigkeit auf die Geräusche bezogen habe. Daraufhin realisirte sich die Suggestion
Zur Kritik der hypnotnchen Technik. 157
in Begebung aof die Geräusche and das Klavlenpielen." Dr. V.: „Waren Sie be-
vatstkw?" Verf.: „Hein Bewmstsein war gegen das Ende stark verdunkelt, ich
war gegen Alles indifferent. "
2. Hypnose:
Dr. V.: nSo, nun lassen Sie nur die Augen mögliehst lange auf. Sehen Sie,
es geht noch schneller. Nun werden Sie gegen Geräusche noch indifferenter werden,
and es kommt eine selige Ruhe über Sie, ein so behaglicher Schlummeri der immer
mehr zunimmt, Sie Alles vergessen macht, und Sie in richtigen Schlaf überfuhrt,
immer tiefer kommen Sie hinein. Der Zustand nähert sich immer mehr dem ge-
wöhnlichen tiefen Nachtschlaf. Nun zähle ich bis 3, dann machen Sie die Augen
wieder auf. 1. 2, 3..—. 1^ 2, 3. — h 2, 3. — 1, 2, 3. — 1. 2, 3." Beim 2. Mal
Augen offen, ohne vc^lständiges Krwachen. Beim 6. Mal gana wach.)
Dr. V.: „Nun, wie war es?"
Verf.: „Ich gerieth rasch in einen tiefen Schlafzostand. Es trat zwar eine
Vorstellung meiner Situation in mir auf. Die Vorstellung nahm aber an Lebhaitig-
keit immer mehr ab, und verschwand, ohne von einer anderen abgelöst zu werden."
3. Hypnose: „So, nun lassen Sie die Augen möglichst lange auf. So, nun
fiUen Sie Ihnen schon fest zu. Immer mehr zieht es die Augentider zusammen.
Immer mehr. Sie kommen ganz tief hinein. Ihre Sinne schwinden Ihnen voll-
ständig, ihre Ueberempfindlichkeit gegen die Geräusche schwindet ganz; die
existiren einfach nicht mehr für Sie. Sie schliessen Sich ganz von der Aussenwelt
ab. £s ist^ als wären für Sie keine Geräusche mehr da. Immer tiefer kommen
Sie hinein. Sie geben Sich voll und ganz einer angenehmen Gleichgiltigkeit hin.
Sie kommen immer tiefer hinein. So, immer mehr werden Sie hineinkommen."
(Pause.) Immer mehr, immer . tiefer. (Störung des Versuches durch zweimaliges
Klopfen an der Thüre.) Nun zähle ich bis 3, dann machen Sie die Augen auf.
1, 2, 3. — 1. 2, 3." Zeitdauer der Hypnose : 3 Min. 15 See.
Verf.: „Der Zustand war auch diesmal ein sehr tiefer. Ich habe wohl noch
Klavierspielen gehört, war aber vollkommen gleichgiltig dagegen^ Ebenso gegen
Klopfen an der Thür und Rauschen von Kleidern. Das fesselte mein Interesse in
keiner Weise." t
4. Hypnose:
Dr. V. : „So, nun fallen Ihnen die Augen noch viel schneller zu. Nun kommt
immer mehr Gleichgiltigkeit gegen alle Geräusche über Sie. Lassen Sie Sich ein-
fach gehen. Gerade dieser Indifferentismus ist der erste Schritt zum Schlaf. Der
Schlaf kommt einfach. Sie beobachten Sich nicht mehr. Sie vergessen Sich mehr
und mehr. Der S<^laf senkt sich einfach über Sie. Ohne dass Sie daran denken.
Immer mehr kommen Sie zur Kühe. Immer mehr. Und Sie kommen allmählich
in einen tiefen Nachtschlaf: Nichts stört Sie mehr. Sie schlafen einfach, vergessen
Sich Yollständig. Nun zähle ich bis S. Dann machen Sie die Augen wieder auf.
1. 2. 3." (Zeitdauer: 4 Min. 15 See.)
Verf.: ,,Ich be£and mich in einem ziemlich tiefen Schlafzustand. Durch das
Ciatierspielen wurde ich nur im Anfang gestört. Später war ich vollkommen in-
different dagegen. Ich bin durch eine Eigenthümlichkeit gestört worden, nämlich
dadarch, dass meine Aufmerksamkeit auf das Ticken Ihrer Uhr gelenkt wurde,
das ich ganz deutlich hörte." Dr. V.: ^Hören Sie das Ticken jetzt noch?" Verf.
mach scharfem Hinhorchen) : „Nein, jetzt nicht." (Die Uhr ging in derselben Ent-
158 ^Ai^ Straaten.
HBrnnng^ unter denselben Umständen weiter.) Dr. Y.: „Hörten Sie das Ticken wie
im Traum oder mehr wie in Ueberempfindlichkeit?^ Yerf»: „lieber den Unterschied
bin ich mir nicht klar. — Meine Aufmerksamkeit concentrirte sich derart auf das
Ticken, dass ich den Wortlaut und den Inhalt der gegen Ende der Hypnose ge-
gebenen Suggestionen nicht kenne.^
5. Hypnose.
Dr. V.: ^So, nun wird es noch schneller gehen. Es wird Ihnen unter meiner
Hand wieder warm werden. Die Augen fallen Ihnen wieder zu. So, ganz fest.
Sie kommen immer tiefer hinein. Sie werden so angenehm ruhig werden, durch
nichts gestört werden. (Dr. V. hebt Verf.s linken Arm hoch.) Sie kommen immer
mehr zur Ruhe. Qanz schön kommen Sie zur Ruhe. (Dr. V. legt seine Hand auf
Yerf.s Herz.) Immer tiefer kommen Sie hinein. So, immer tiefer, ganz schön.
(Arm kataleptisch). Immer mehr kommen Sie hinein. Ganz schön. Immer mehr.
(Tiefe Respirationen des Yerf.s). Ganz schön kommen Sie zur Ruhe. Sie athmen
immer gleichmässiger. Immer mehr w^ird nun die Athmung ruhig und Sie werden
so schön ruhig. Ihre Athmung wird noch immer ruhiger werden. Sie kommen
noch immer tiefer hinein. So jetzt schlafen Sie immer mehr. Sie empfinden immer
weniger jede Störung. (Arm sinkt allmählich). Immer mehr kommen Sie zur
Ruhe. (Arm wird beim Emporheben wieder steif). Immer mehr noch zur Ruhe.
(Arm steifer.) Sie versinken in seligen Schlummer. Sie kommen noch immer
tiefer hinein. Ganz schön tief. (Dr. Y. öfihet Yerf.s Hand, die Finger bleiben in
gegebener Stellung.) Immer mehr noch kommen Sie hinein, ganz schon tief
kommen Sie zur Ruhe. Immer mehr kommt eine selige Ruhe über Sie. (Arm
schlaifer, liegt auf Dr. Y.'s Knie auf.) Immer tiefer noch kommen Sie hinein.
Ganz schön, immer tiefer noch kommen Sie hinein. (Arm schlaff, sinkt beim Auf-
heben schlaff herab.) Nun zähle ich bis 3, dann machen Sie die Augen wieder
auf. 1. 2. 3."
(Zeitdauer der Hypnose: 7 Min. Katalepsie 1 Min. nach Beginn der Hypnose,
Ende der 6. Min vorbei).
Dr. Y.: „Nun, wie war es?" Yerf.: „Ich befand mich bald in Hypnose. Dann
ergriffen Sie meine Hand und hoben meinen Arm empor." Dr. Y.: „Wie lange
hielt ich den Arm?" Yerf.: „Etwa ■/, der Zeit." Dr. Y.: „Haben Sie, als ich den
Arm emporgehoben habe, eine Idee, eine Yorstellung angeschlossen?" „Ich w^ar
neugierig zu beobachten, was mit meinem Arm jetzt passiren würde, und ich fühlte,
dass mein Arm und meine Hand in jeder gegebenen Stellung verharrte.", Dr. V.:
„Hatten Sie einen Moment die Yorstellung, dass Katalepsie eintreten würde?" Yerl:
„Ich bin mir keiner Autosuggestion bewusst, dass mein Arm steif werden mnsste."
Dr. Y.: „Sind Sie eingeschlafen, als der Arm sank oder wurden Sie wacher?"
Yerf.: „Gegen Schluss kam ich tiefer in die Hypnose." Dr. Y. : „Haben Sie den
Arm auf der Decke gefühlt, als er Ihnen zum Schluss niedersank ?" Yerf.: „Nein.*
Dr. Y.: „Wie war es mit der gesteigerten Respiration?" Yerf.: „Dieselbe wurde
wohl durch das Gefühl der Behaglichkeit und ein starkes Lustgefühl erregt." Dr. V. :
„Wie war Ihr Zustand am Schluss?" Yerf.: „Es ist mir nichts vom Schluss be-
wusst." Dr. Y.: „Wie sind Sie geweckt worden?" Yerf.: „Ich vermute mit 1, 2, 3.
— Ich habe fast das Gefühl, als ob ich einen Traum gehabt hätte. Ich finde aber
kein Thema dafür."
Bem. : Etwa 1 Stunde nach der Sitzung erinnerte ich mich, dass ich bei der
Zur Kritik der hypnotischen Technik. 159
Beobftohtung der auftretenden Katalepsie ein starkes Lustgefühl über das Gelingen
derselben hatte, und es wurde mir klar, dass ich einen Irrthum begangen hatte,
indem ich glaubte, geträumt zu haben. Zu dieser Vermuthung kam ich auf
Grand der wiederholten Erfahrung, dass, wenn ich beim £rwachen aus dem ge-
wöhnlichen Schlaf ein Lustgefühl hatte, dasselbe meist auf angenehme Träume
zoruckzufuhren war, deren ich mich nach einigem Nachdenken entsinnen könnte«
In der ersten Hypnose versuchte ich; nach Augenschluss die Angen
wieder zu öffnen. Es gelingt mir nicht; der Musculus orbicularis coü-
txahirte sich krampfhaft. Das psychologische Zuständekommen dieses
Phänomens berührt unser Thema nicht weiter. Es verdient aber des«
halb hier erwähnt zu werden, weil es als ein untrügliches Zeichen
hypnotischer Beeinflussung auf den Hypnotisirten eine die Suggestibilität
erhöhende Wirkung ausübt, und die Realisation der folgenden Sug-
gestionen erleichtert. Aus dieser Beobachtung könnte man nun leicht
den Schluss ziehen, dass solche Phänomene im Interesse der Steigerung
der Suggestibilität erzielt werden müssten, etwa in der Art: ,,Ihre
Augen sind jetzt fest geschlossen, Sie können sie jetzt nicht mehr auf-
machen. Je mehr Sie es versuchen, um so mehr ziehen sich die
Augenlider fest zusammen." Oder man könnte nach Augenschluss
einen Arm emporheben und erklären: „Der Arm ist jetzt ganz steif,
Sie können ihn nicht mehr bewegen." Diese Methode birgt einige
Gefahren in sich. Bealisirt sich eine so auffällige Suggestion nicht,
so wird die Suggestibilität eher beeinträchtigt als gefördert. Würde
der Hypnotiseur die Augen zuhalten, oder das Bewegen des Armes
erschweren, so liegt die Gefahr nahe, dass dies vom Patienten gemerkt
und für plumpen Betrug gehalten wird. Manche werden fernerhin beim
Hervorrufen solcher Phänomene das Empfinden haben, dass diese nur
durch eine gewaltige Schwächung ihrer Willenskraft zu Stande kommen
können. Da nun aber die Ansicht, dass durch das Hypnotisiren die
Willenskraft geschwächt wird, allgemein noch sehr verbreitet ist, und
zu einer gewissen Scheu vor dem Hypnotisiren Veranlassung gegeben
bat, so sollte man sie nicht noch mehr durch derartige Experimente
provociren. Nur da, wo von Seiten des Patienten ein Zweifel an
seiner Beeinflussbarkeit besteht, würde dieses Mittel anzuwenden sein.
Als ein die Hypnose störendes Moment tritt wieder Herzklopfen
auf. Da es aber zeitig bemerkt wird, so wurde es durch mehrfache
Suggestionen beseitigt, und so durch Realisation dieser Suggestion die
Suggestibilität noch mehr gesteigert.
Beachtenswerth ist noch, dass ich die Suggestion der Gleichgiltig-
keit, meinem Bedürfhiss, dem störenden Einfiuss des Klavierspielens
160 v&Q Straaten.
Entrückt zu werden ^ eDtsprechend so auslege, als wenn sie speciell
gegen das Klavierspielen gerichtet wäre. Man glaubt fast, hieraus
schliessen zu müssen, dass es empfehlenswerth sei, die Suggestionen
möglichst allgemein zu formuliren, wenigstens im Anfang, wo man mit
den individuellen Eigenheiten des zu Hypnotisirenden nocht nicht ver-
traut ist, um denselben so Gelegenheit zu geben, die Suggestionen,
seinem Bedilrfniss entsprechend anzupassen. In vielen Fällen, besonders
bei Hysterischen ist es aber wünschenswerth, den Autosuggestionen
möglichst wenig Baum zu geben, damit die Hypnose die beabsichtigte
Bichtung nicht einbüsst
In den beiden folgenden Hypnosen sehen wir unter der Einwirkung
auf Vertiefung des Schlaüzustandes hinzielender Suggestionen, eine
grössere Vertiefung des Schlafes eintreten. Es besteht ein völliger
Indifferentismus gegen die Greräusche.
In der 5. Hypnose trat trotz ihrer langen Dauer erst gegen Ende
derselben eine tiefere Schlaf hemmung auf. Wenn ich diese Beob-
achtung mit denen der 3. Sitzung vergleiche, so neige ich dazu, dafür
die Hervorrufung der Katalepsie verantwortlich zu machen.
Wenn auch nicht direct zu unserem Thema gehörig, wollen mr
doch noch 2 Punkte kurz berühren.
Es ist interessant, zu c^onstatiren, wie in der 4. Hypnose neben
der ausgedehnten Schlafhemmung speciell für das Ticken der Uhr ein
Wachsein besteht, und nun in Folge dieses partiellen Wachseins eine
derartige Ueberempfindlichkeit für das Ticken der Uhr vorhanden ist^
dass ich es deutlich wahrnehme, während ich im Wachen gar nicht
dazu im Stande war.
Was die Katalepsie der 5. Hypnose anbelangt, so bin ich mir
absolut nicht bewusst, das Zustandekommen derselben irgend wie durch
die Idee, oder die Erwartung ihres Eintritts oder Befürchtung ihres
Nichteintritts beeinflusst zu haben. Es handelt sich also um Bern-
heim's passive Katalepsie. Sie trat mit zunehmender Schlaf hemmung
auf, und verschwand, als diese noch wesentlich mehr zunahm. Es ist
das ja ein Verhalten, wie es den mir damals noch nicht bekannten
zahlreichen Beobachtungen 0. Vogt's entspricht, ohne in seiner
Isolirtheit besondere Beweiskraft zu haben.
III. Sitzung.
1. Hypnose.
Dr. V.: „So, nun werden Sie schön zur Ruhe kommen. Die Augenlider &llen
Ihnen immer mehr zu. Ganz schön, immer mehr. Immer fester schliessen sieh die
Die Kritik der hypnotischen Technik. 151
Augen. Nun kommen Sie ganz schön anir Ruhe. Vergessen Sich immer mehr.
Immer tiefer kommen Sie hinein in einen angenehmen Schlaf. Nichts stört Sie
mehr. Sie werden durch keine Geräusche gestört. Sie kommen einfach in einen
seligen behaglichen Schlaf. Immer mehr vergessen Sie Sich. Immer mehr nimmt
der Schlaf zu, immer mehr Terstärkt sich der Schlaf. Sie schlafen ganz schön ein.
Sie kommen mehr und mehr zur Buhe (Saggesttonen zunehmend leiser gegeben),
werden durch nichts gestört. Ganz und gar vergessen Sie Sich. Immer mehr
kommen Sie hinein. (Pause.) Immer mehr Müdigkeit senkt sich auf Sie. (Arm
wiederholt emporgehoben.) Immer mehr Schlaf kommt über Sie. (Arm wurde
kataleptisch.) Immer mehr kommen Sie hinein. (Arm beginnt zu erschlaffen.)
Immer fester, immer tiefer wird der Schlummer, immer tiefer die Ruhe. Sie
kommen vollständig in einen behaglichen Schlaf; immer mehr kommen Sie zur
Rohe. (Bisherige Zeitdauer 4'/« Min. Immer mehr kommen Sie hinein, immer
tiefer. Ganz tief kommen Sie hinein. Ihr Zustand vertieft sich immer mehr. Sie
kommen in einen ganz tiefen Schlaf. (Pause.) Immer tiefer werden Sie hinein-
kommen. Immer mehr. (£s wird 2 Mal an die Thür geklopft. Der darauf wieder
emporgehobene Arm zeigt von Neuem Katalepsie. £r beginnt aber bald wieder
zu erschlaffen. Darauf Sprechen im Nebenzimmer. Jetzt wieder Katalepsie des
Armes. Die Schlafsuggestionen gehen während der Zeit weiter. Es wird im All-
gemeinen die Katalepsie am linken Arm geprüft; wiederholt werden aber kurze
Pröfdngen am rechten Arm vorgenommen. Hierbei zeigte sich die Katalepsie
rechts weniger ausgeprägt.) Immer mehr kommen Sie hinein. £s kommt immer
mehr Schlaf über Sie. Nichts stört Sie mehr. (Pause.) Arm senkt sich. Arm
liegt auf Dr. Vogts Arm auf, leicht steif. Hand senkt sich, tiefes Aufathmen. Arm
schlaff. (15 Min. 16 See.) Nun zähle ich bis 3. Dann machen Sie die Augen auf.
1^2 — 3. 1 — 2 — 3." Zeitdauer 17 Min.
Dr. V.: „Nun wie war es?"
Verf.: „Ich erinnere mich der Art des Weckens; was Sie kurz vorher gesagt
haben, weiss ich nicht. Ich merkte wieder, dass Sie meinen linken Arm ergriffen,
ihn emporhoben, und dass sich eine Katalepsie einstellte. Ich wunderte mich, dass
der Arm in dieser für ihn nicht ganz bequemen Stellung nicht müde wurde."
Dr. V.: „Haben Sie in beiden Armen was gemerkt?" Verf.: „Ich hatte das Ge-
fühl, als ob der rechte Arm nicht so steif war." Dr. V.: „Und als Ihr Arm
herunter fiel, wurde da Ihr Zustand tiefer oder oberflächlicher?" Verf.: „Ich kam
tiefer hinein." Dr. V.: „Wie li^ der Arm, als er heruntergesunken war?" Verf.
giebt eine Li^e an, die der Arm einige Zeit vor dem fraglichen Zeitpunkt ein-
genommen hat. Die Endlage ist ihm nicht bewusst. Dr. V.: „Habe ich Ihren
Arm wieder in die Höhe gehoben?" Verf.: „Ist mir nicht bewusst." Dr. V.:
„Wie oft habe ich Ihren rechten Arm angefasst?" Verf. : „Zwei Mal." (In Wirklich-
keit dreimal.) Dr. V.: „Haben Sie auch das Klopfen gehört?" Verf.: „Ja, das
habe ich gehört, ich wurde etwas wacher dadurch.*^
2. Hypnose.
Dr. V. : ^So, nun kommen Sie wieder zur Ruhe, ganz schön. Die Augenlider werden
Urnen immer schwerer. Sie kommen immer mehr zur Ruhe. Immer tiefer kommen
Sie hinein. Sie empfinden ein Aufhören aller Selbstbeobachtung. Auf nichts achten
Sic mehr. Immer mehr kommen Sie in einen tiefen Schlaf, in eine angenehme
Behaglichkeit und Ruhe. Immer tiefer kommen Sie hinein in ein seliges Selbst-
Z«it!»chrift für Hypnotismus etc. IX. 11
162 ^^^ Straaten.
yergessen. Immer mehr kommen Sie zur Rahe. Immer mehr Rübe und Müdig-
keit senkt sich auf Sie. Ganz schön. Immer mehr kommen Sie zur Ruhe. Ganz
tief kommen Sie hinein. (Arm schlaff.) Immer mehr Ruhe kommt über Sie.
(3^/2 Min.) Immer mehr Müdigkeit senkt sich auf Sie. So, immer mehr noch. Sie
kommen immer mehr noch in einen tiefen behaglichen Schlummer. (Beide Arme
kataleptisch« 4 Min. 20 See.) Immer mehr kommen Sie hinein, immer mehr noch
zur Ruhe. Sie lassen den Schlaf einfach an Sich herankommen, über Sich ergehen,
noch immer mehr. (Arme kataleptisch. Pause.) — Immer mehr kommen Sie zur
Ruhe. Ganz schön. (Arme schlaffer.) Immer mehr seliges Selbstvergessen kommt
über Sie. Immer tiefer, immer mehr noch kommen Sie hinein, immer mehr ver-
lieren Sie Ihr Bewusstsein. Immer tiefer kommen Sie hinein, immer mehr werden
Sie allgemein einschlafen. Kein Affect, keine Aengstlichkeit stört Sie. Sie schlafen
immer mehr und mehr ein, immer tiefer. (15 Min. 10 See.) Nun zähle ich bis 3.
Dann machen Sie die Augen auf. X — 2 — 3.^
Zeitdauer der Hypnose: 17 Min.
Dr. V.: n^^^f ^iö ^^ ®* diesmal?"
Verf. : „Zunächst haben Sie meinen linken Arm, dann meinen rechten empor«
gehoben. Sie blieben in der ihnen gegebenen Lage stehen. Dann haben Sie die
Lage etwas gewechselt." Dr. Y.: „Haben Sie einen Unterschied zwischen beiden
Armen gespürt, waren Sie gleich steif?" Verf. : „Der linke Arm war steifer." Dr. V. ;
„Haben Sie hierfür eine Idee, eine Vorstellung gehabt?" Verf.: „Ich hatte für
einen Moment die Idee, der Grund könnte darin liegen, dass ich als Linkser
grössere Muskelkraft im linken Arm habe. Ich erkannte aber sofort, dass dieser
Grund hinföilig sei. — Dr. V.: „Was geschah nun weiter?" Verf.: „Die Arme
senkten sich, ich bin aber meiner Sache nicht sicher." Dr. V.: „Hat sich die
Hypnose vertieft?" Verf.: „Gegen Ende war sie tief," Dr. V.: „Nachdem die
Arme heruntergesunken waren, wie haben Sie da gelegen?" „Verf.: „Ich weiss
nicht, wie sie gelegen haben." Dr. V.: „Wie sind Sie aufgewacht?" Verf.: „Wieder
mit 1, 2, 3. Sie weckten mich mit den Worten: Jetzt zähle ich bis 3 etc. Von
den vorhergehenden Suggestionen weiss ich nichts."
Die Suggestionen als solche sollten den Zweck haben, den Schlaf
möglichst zu vertiefen. Das, was erreicht worden ist, unterscheidet
sich nicht wesentlich von dem tiefen Grad, der in der vorhergehenden
Sitzung erreicht wurde, und dabei haben diese Hypnosen die 4- bis
5 fache Zeit von denen der zweiten Sitzung, mit Ausnahme der letzten
Hypnose, gedauert. Nach der gewöhnlichen Art und Weise, wo bei
geschicktem Vorgehen sich die Hypnosen von Sitzung zu Sitzung yer-
tiefen, hätte ein tieferer Schlafzustand erreicht werden müssen. Der
Grund, warum dieses Zie nicht erreicht worden ist, ergiebt sich, glaube
ich, aus meinem Bewusstseinsinhalt. Ich bin gegen die äusseren Ge-
räusche im V7esentlichen indifferent geworden, auch gegen die ein-
förmigen, fast immer dieselben Worte wiederholenden Suggestionen
bin ich so gleichgiltig, dass für sie eine ausgeprägtere Amnesie besteht,
dagegen erhalten die Erscheinungen der Katalepsie während der
Zur Kritik der hypnotischen Technik. 163
Hypnose mein Bewusstsein beschäftigt. Ich hatte den Eindruck, dass
diese BescbäftigUDg mich am tieferen Einschlafen hinderte. Erst im
Momente, wo die Katalepsie schwand, wurde auch mein Bewusstsein
leerer, und kam ich tiefer hinein. Wenn nun auch das Schwinden
der Katalepsie als solcher als ein Ausdruck zunehmender Schlaftiefe
aufzufassen ist, so glaube ich doch, dass die wesentliche Zunahme der
Schlaftiefe nach dem Schwinden der Katalepsie nicht nur auf die fort-
schreitende Vertiefung der Schlafhemmung, sondern zum Theil auch
auf das Schwinden einer meine Aufmerksamkeit anziehenden Erscheinung
zurückzuführen ist. Für unsere Methode wäre daraus zu folgern, dass
wir alle die Experimente wie Katalepsie und ähnliche, soweit sie nicht
ganz speciell indicirte sind, als die Erzielung tiefer Schlafzustände be-
hindernd zu vermeiden haben.
Als eine nebensächliche Einzelheit sei übrigens aus dieser Ver-
suchsreihe noch hervorgehoben, dass parallel einem allgemeinen Wach-
werden, wie es in der zweiten Hypnose durch Klopfen und Sprechen
im Nebenzimmer ^rfolgt, auch die Atonie wieder in Katalepsie über-
ging, eine Erscheinung, die ja den von 0. Vogt behaupteten Paralle-
lismus bestätigt.
IV. Sitzung.
1. Hypnose.
Dr. V.: „So, nun lassen Sie die Augen möglichst lange auf. Nun fühlen Sie
eine leichte Wärme unter meiner Hand, nicht sehr warm, da Ihre Stirne sehr heiss
ist. So, nun fallen Ihnen die Augen zu. Sie werden gegen die Musik gleichgiltig.
Dir Herz schlägt langsam, Sie werden vollständig gleichgiltig. Eine vollständige
Indifferenz, eine wohlige selige Ruhe kommt über Sie. Jetzt immer mehr. Immer
mehr kommen Sie zur Buhe. Ganz tief kommen Sie hinein. Sie vergessen Sich
immer mehr, immer gleichgiltiger werden Sie. Jetzt werde ich Sie wecken und
das nächste Mal kommen Sie tiefer hinein. Nun zähle ich bis 3. Dann machen
Sie die Augen auf. 1,2,3. Zeitdauer: 1 Min. 27 See. Verf. : „Der Schlummerznstand
M^ar massig tief. Als das Auffallendste gilt mir eine vollständige Gleichgiltigkeit
gegenüber dem Klavierspielen. Ich war stets sehr empfindlich gegen derartige
Störungen beim Studiren oder Einschlafen. Dr. V.: „Haben Sie vielleicht noch
die Psychologie der Suggestionen betreffend Interessantes auszusagen, z. B. ob ich
Fehler gemacht habe.** Verf.: „Es ist mir nichts derartiges zum Bewusstsein
gekommen."
2. Hypnose.
Br. V. : „So, nun kommen Sie ganz schön hinein. Ihre Augen werden immer
schwerer. Die Augenlider fallen Ihnen ganz fest zu, ganz fest. Diesmal kommen Sic
tiefer hinein. Sie werden ganz gleichgiltig. Ihre Gedanken beschäftigen Sie nicht
Qiehr so intensiv. Sie bleiben bei einem Gedanken hängen, der blasst auch immer
ttehr ab. So nähern Sie Sich immer mehr einer ßewusstlosigkeit. — Immer mehi*
11*
X64 ^^^ Straaten.
kommen Sie in den Zustand des normalen Einschlafens. Immer mehr kommen Sie
zur Ruhe. Immer tiefer. Sie schliessen Sich immer mehr ab, verg^essen Sich immer
mehr. So kommen Sie in einen tiefen, wohligen Schlaf. Nun zähle ich bis 3,
dann machen Sie die Augen wieder auf. 1, 2, 3."
Verf.: „Ich kam ziemlich rasch in einen Schlummerzustand. Ich gab mir die
Vorstellung, dass ich zu Hause im Bett läge und kam so tiefer hinein. Augen-
blicklich ist mir nicht klar bewusst, wie Sie mich geweckt haben. Ich wurde
etwas von dem Gedanken beunruhigt, die Experimente würden nicht gelingen."
3. Hypnose.
Dr. y : „So, nun kommen Sie wieder ganz schön hinein. Sie sind ganz frei von
jeglicher Aengstlichkeit. So, mehr und mehr werden Sie jetzt hineinkommen in ein
vollständiges Vergessen, in eine grosse Gleichgiltigkeit. Sie haben nicht die Idee,
es würde nicht gehen. Solche Gedanken schwinden vollständig. Indessen kommt
eine selige Ruhe über Sie und dieser behagliche Zustand nimmt Sie vollständig
gefangen. Sie vergessen die Situation um Sich herum. (Pause.) Immer mehr
kommen Sie hinein, immer mehr zur Ruhe. Nichts mehr von störenden Ideen be-
herrscht Sie, dass Sie nicht tiefer hineinkommen können u. s. w. Sie werden ganz
frei von dieser Aengstlichkeit sein. Nun zähle ich bis 3. Dann machen Sie die
Augen auf. 1, 2, 3. 1, 2, 3. 1. 2, 3. (Erfolgloses Zählen.) Nun zähle ich noch-
mals bis 3. Dann werden Sie vollständig aufwachen, ganz ^ch und frisch sein. —
1, 2, 3. 1, 2, 3. (Erfolglos.) Also jetzt zähle ich bis 3, oann gehen Ihnen die
Augen wieder auf und Sie werden ganz frisch und wach sein, 1, 2, 3. (Erfolg-
loses Zählen. — Atonie des linken Armes. Linker Arm wird 5 Mal gehoben in
2 Min. 5 See. Dann werden in 50 See. 14 Bewegungen mit dem linken Arm vor-
genommen.) Nun zähle ich bis 3, dann werden Sie ganz schön aufwachen. 1. 2, 3.
(Erfolgloses Zählen, Arm kataleptisch, Athmung tief. Dr. V. legt seine Hand auf
Verf.s Stirn.) Dr. V.: „So, nun fühlen Sie die Wärme unter meiner Hand. Nun
zähle ich bis 3, dann sind Sie wach. 1, 2, 3. (Pause.) So. nun werden Sie ganz
schön mit mir sprechen können. Oeffnen Sie den Mund. (Realisirt sich.) Strecken
Sie die Zunge vor, so, nun ziehen Sie sie wieder zurück. Warum wachen Sie nicht
auf?" Verf.: „Ich möchte weiter schlafen." Dr. V.: „Ist das der einzige Grund?"
Verf.: „Ich glaube, es ist unmöglich für mich, wach zu werden, da ich keinen Impuls
dazu habe. Ich will nicht aufwachen." Dr. V. : „Warum entspricht es nicht Ihrem
Willen?" (Keine Antwort.) „Warum entspricht es nicht Ihrem Willen? Wie?"-
Verf.: „Ich liege hier so behaglich." Dr. V.: „Wo liegen Sie denn? (Keine Ant-
wort.) „Wo liegen Sie denn? Wie?" Verf.: „Im Sprechzimmer." Dr. V.: „Ist
es Ihnen leicht, auf meine Fragen zu antworten?" Verf.: „Ja, sehr leicht." Dr. V.:
„Hören Sie die Geräusche von dranssen?" Verf.: „Ja." Dr. V.: „Können Sie Sich
nicht ganz dagegen abschliessen?" Verf.: „Nein, nicht gänzlich. Ich höre noch
ein dumpfes Rollen." Dr. V.: „Stellen Sie Sich mal etwas vor, z. B. das Gesicht
Ihry Frau. Sehen Sie sie lebhafter als im Wachen oder constatiren Sie keinen
Untetschied?" Verf.: „Ich sehe Sie jetzt entschieden lebhafter." Dr. V.: „So, nun
wachen Sie bitte auf. 1, 2. 3." — Erwachen erfolgt. 10 3Iin. 19 See. Dr. V.: „Wie
stellen Sie Sich jetzt im Wachen das Gesicht Ihrer Frau vor, lebhafter als in der
Hypnose ?" Verf. : „Ich stelle es mir jetzt auch noch klar vor, viel klarer, als wie ich es
heute Morgen that." Dr. V. : „Wissen Sie über den ganzen Zustand der Hypnose noch
etwas?" Verf.: „Sie versuchten mich zu wecken. Dabei legten Sie Ihre Hand
Zur Kritik der hypnotischen Technik. 165
auf meine Stirn und zählten bis 3. (Verf. weiss von den früheren Weck versuchen
nicht«, der Versuch, bei dem Dr. V. die Hand ihm auf die Stirn iegt, ist der erste
ihm bewuflste.) Dr. V.: ,^Warum sind Sie dann nicht aufgewacht?" Verf.: „Ich
fühlte mich so sehr behaglich und Ihre Suggestion machte auf mich keinen Ein-
druck." Dr. V.: „Wissen Sie, wa« ich mit Ihnen machte?" Verf.: „Sie haben
meinen Arm hin- und herbewegt." Dr. V.: „Und als er kataleptisch wurde, trat
da ein Unterschied in der Schlaftiefe auf?" Verf.: „Ich hatte das Gefühl, als
wurde ich wacher." Dr. V. : „Haben Sie Ihren Körper gefühlt oder hatten Sie nur
Bewusstsein von Ihrem Geiste?" Verf.: „Ich habe an meinen Körper gar nicht
gedacht.*'
4. Hypnose.
„So, nun werden Ihnen die Augen ganz schon schwer. Die Augenlider werden
ganz schön zusammengezogen. Sie haben selber den Willen, tiefer und fester ein-
zuschlafen. Gleichzeitig werden Sie von keinem Gefühl der Unsicherheit oder
Furcht, dass es nicht gehen könnte, bedrückt. Immer mehr entsteht ein tiefer
Schlal Sie haben den Willen, tief und fest einzuschlafen, wie Sie es jetzt immer
Abends gemacht haben. (Pause.) Immer mehr stellen Sie Ihre Aufmerksamkeit
in den Dienst der einen Idee, in tiefen Schlaf zu kommen. Sie haben keine
Aengstlichkeit, keine Unruhe mehr. Nun zähle ich bis 3. Dann gehen Ihnen die
Augen wieder auf, itfdem Sie selber den Willen haben, wieder aufzuwachen."
1, 2, 3. 1, 2, 3."
Zeitdauer: 4 Min. 6 See.
Verf.: „Ich hatte den Willen, fest einzuschlafen." Dr. V.: „Wie hat sich dieser
WUie geäussert, wie trat er auf?" „In der Form, dass ich mich abzuschliessen
versuchte gegen alles Störende, gegen Vorstellungen, Gedanken, Empfindungen.
Ich unterdrückte Sie, wurde immer indifferenter dagegen und kam so mit Leichtig-
keit in ein tieferes Stadium. — Von dem Aufwecken ist mir noch bewusst, dass
ich mit meinem Willen aufwachen sollte. Von den Suggestionen ist mir nur noch
bewusst, dass ich mit meinem Willen einschlafen würde und kein Gefühl von Un-
sicherheit und Furcht dabei hätte. Die anderen habe ich nicht mehr aufgefasst."
Im Gegensatz zur dritten Sitzung sind diesmal Experimente wie
die Feststellung der Katalepsie vollständig fortgelassen. Die 3 ersten
Hypnosen verfolgen dasselbe Princip. Es werden Suggestionen einfach
in der Form der ruhigen Versicherung ihres baldigen Eintritts gegeben,
und in ähnlicher Weise gewisse störende Momente wie Herzklopfen
und die störende Idee des Nichtgelingens unterdrückt. Auf diese Weise
wird in der dritten Hypnose ein so tiefer Schlafzustand geschaffen,
dass sogar das Rapportverhältniss verloren geht. Diese Form ruhiger
Versicherung unt^r Anpassung an individuelle Eigenthümlichkeiten, so-
wie die dabei erfolgende zunehmende Vertiefung der Hypnose kann
als der eigentliche Typus des Vogt' sehen Verfahrens aufgefasst
werden. Es ist in wenigen Minuten ein tiefer Schlafzustand erreicht;
während bei der 3. Sitzung in einer unverhältnissmässig längeren Zeit
eine solche Tiefe nicht erreicht wurde.
166 van Straaten.
Als Complication der 3. Hypnose tritt dann Verlust des sogenannten
Rapportverhältnisses auf; das heisst, ein Erwecken durch die eingeübte
Form „1, 2, 3" gelingt nicht. Der weitere Verlauf der Hypnose zeigt
O. Vogt 's Verfahren, das EApportverhältniss wiederherzustellen. Er
ruft zunächst durch Erregung des Muskelsinns ein ganz partielles Er-
wecken hervor (Eintritt der Katalepsie), dehnt dieses Wachsein dann
allmählich soweit aus, dass er sich mit mir unterhalten kann, und so
die wenigstens zur Zeit bestehende Ursache des Nichterwachens fest-
stellt. Nachdem O. Vogt dann noch diesen Zustand zu einem psycho-
logischen Experiment ausgenutzt hat, erweckt er mich, indem er sich
meiner Anschauung von der Ursache des Nichterwachens anpasst, und
mich deshalb bittet, zu erwachen.
Es sei als psychologisch wichtig nebenbei bemerkt, dass ich mir
ein visuelles Erinnerungsbild während der Hypnose wesentlich lebhafter
vorstellen konnte, wie im Wachen, und auch einen Teil dieser Leb-
haftigkeit noch im Wachen reproduciren konnte.
Au die Erfahrung nun der dritten Hypnose, dass es dem Verf.
angenehm erscheint, die Realisation von Suggestionen abhängig von
seinem Willen zu wissen, knüpft 0. Vogt in der 4. Hypnose an, indem
er die Suggestion eines autosuggestiv entstehenden Schlafes giebt, wie
Verf. ihn bereits weiter unten folgenden Erörterungen zu Folge an
sich beobachtet hatte. Es wurde ein ziemlich tiefer Schlafzustand
erzielt. Der Versuch möge vor Allem zeigen, in welcher Form man
sich individuellen Wünschen anpassen kann und unter Umständen an-
passen muss.
V. Sitzung.
1. Hypnose:
Dr. V. (spricht auf Bitte des Protokollanten die Suggestionen langsamer aus
als bisher): „So, jetzt werden Sie ganz schön hineinkommen. Nun wird es Ihnen
ganz schön warm unter meiner Hand. ' Und diese Wärme nimmt immer mehr zu.
Nun fallen Ihnen die Augen immer mehr zu. So. immer mehr. So, ganz fest
fallen Ihnen die Augen zu, dass sie sich ordentlich zusammenkrampfen. Immer
mehr kommen Sie hinein. Sie schliessen Sich von Allem ab, indem immer
mehr in Ihrem ßewusstsein die Idee verschwindet. Sie könnten nicht in tiefen
Nachtschlaf verfallen. Sie sind jetzt auf dem besten Wege zdm tiefen Nacht-
schlaf und dieser Zustand nimmt jetzt immer mehr zu. Sie kommen mehr
und mehr hinein. Immer mehr kommen Sie hinein. Immer mehr. Immer
tieferem festeren Schlaf nähern Sie Sich jetzt mehr und mehr, diesem behaglichen
molligen Zustande, der Sie mehr und mehr zum tiefen Nachtschlafe fuhrt. Nun
werden Sie das nächste Mal noch tiefer hineinkommen. Sie werden mehr und mehr
Sich dem tiefen bewusstlosen Schlafe nähern, der angenehm auf Sie einwirkt. Ich
Zur Kritik der hypnotischen Technik. 167
werde jetzt einen Moment die Hypnose unterbrechen. Ich zähle bis 3, dann machea
Sie die Augen auf. 1, 2, 3." (Zeitdauer 2 Min. 54 See.)
Verf. : „Ich fühlte mich wenig beeinfiusst. Ich habe alle Suggestionen gehört
Qod verstanden. Gegen Ende kam ich etwas tiefer hinein, und hatte das Bestreben,
weiter zu ruhen."
2. Hypnose:
Dr. y.: „SOf diesmal werden Sie allmählich mehr hineinkommen. Mehr und
mehr senkt sich der Schlaf über Sie. Immer tiefer kommen Sie hinein. Inuner
mehr ist Ihnen, als wenn Sie im Bett lägen. Sie schlafen einfach mehr und mehr
ein. geradeso wie Abends, wenn Sie Sich zu Bett legen. Sie vergessen Sich mehr
ond mehr. Ihr ganzes Ichbewasstsein schwindet. Immer mehr nimmt der Schlaf
za. Eine richtige vollständige Schläfrigkeit übermannt Sie. Und dieser Schlaf ist
80 behaglich, dass Sie nur den einen Wunsch haben, Sich ihm ganz imd gar
hingeben zu können. (Pause.) Immer mehr kommen Sie hinein. Immer mehr
nähern Sie Sich diesem tiefen Schlafe. Sie vergossen Sich ganz, hören auch nicht
mehr auf meine Worte. Sie werden durch Nichts mehr gestört. Immer mehr
kommen Sie hinein. Sie haben gar nicht mehr die Idee, dass es nicht gehen
konnte. Sie werden vollkommen gleichgiltig und kommen immer tiefer hinein.
Bas nächste Mal kommen Sie noch tiefer hinein, nun zähle ich bis 3, dann machen
Sie die Augen auf. 1, 2, 3.'' (Zeitdauer 8 Min. 5 See.)
Verf.: ,.Ich war wohl um ein Geringes tiefer, als das letzte Mal. Die Ge-
raasche hörte ich gerade so laut, wie im Wachen, nur als ich zum Schluss eine
dagegen gerichtete Suggestion hörte, nahmen sie meine Aufmerksamkeit weniger
in Anspruch, als bis dahin. (Es ist keine Suggestion gegen den Lärm gegeben.
Die Suggestion, „Sie werden durch Nichts mehr gestört, wurde auf den Lärm be-
zogen.) Dann wurde ich wohl noch dadurch am tieferen Einschlafen gestört, dass
ich Vergleiche anstellte zwischen den Suggestionen, die Sie mir gaben, und meinen
abendlichen Autosuggestionen. Femer störte mich etwas der Druck Ihrer Hand.
Dann hatte ich auch noch das Gefühl, dass es nicht gelingen v;ürde." Dr. V.:
„Weshalb?" Verf.: „Ich weiss es nicht, ich habe keinen bewussten Grund dafür."
3. Hypnose:
Dr. V.: „So, jetzt kommen Sie immer mehr hinein. Immer mehr. Immer
tiefer. £s wird Ihnen so richtig behaglich zu Muthe. Sie können Sich zunächst
ganz schon auf das concentriren, was ich Sie jetzt fragen werde: Weshalb sind
Sie hente nicht tiefer hineingekommen? Sie können Sich jetzt ganz schön darauf
hin beobachten. Nun, was finden Sie ? (Schweigen.) Nun kommen Sie tiefer hinein,
dass Sie nichts mehr stört. Ihre Augen schliessen sich immer mehr zu. Immer
mehr können Sie Sich beobachten, immer mehr concentriren. Nun, finden Sie etwas?
Wie?" Verf. : „Ich habe das Gefühl der Verlegenheit, weil ich noch keinen Grund
weiss, und habe in Folge dessen Herzklopfen bekommen." Dr. V. : „So, nun werden
Sie schön ruhig. Das Herzklopfen lässt ganz schön nach. Das wird vollständig
wieder verschwinden." (Das Herzklopfen hört auf.) „So, nun können Sie Sich noch
inmier besser concentriren. Sie werden Sich jetzt der Sache so richtig hingeben
können." Verf.: ,.Jetzt fällt es mir ein. Ich hatte das Gefühl, dass Sie nicht mit
der ganzen Aufmerksamkeit suggerirten. Das hat mich schon in der ersten Hypnose
beschäftigt." Dr. V.: „Weshalb hatten Sie das Gefühl?" Verf.: „Weil Sie einige
'Male unsicher im Ausdruck waren." Dr. V.: „Wie das?** Verf.: „Sie zögerten
158 van Straaten.
einige Male mit dem AussprecheD/^ Dr. V.: ,fDta war icein Zögern. Ich habe
bloB langsamer gesprochen, weil Fran Bosse beim Nachschreiben nicht so rasch
mitkommen konnte. Das will ich jetzt vermeiden. So, jetzt werden Sie mal sehen,
dasB es besser geht. (Suggestionen in rascherem Tempo gegeben und so entschie-
dener klingend.) Immer gleichgiltiger werden Sie gegen meine Worte. Sie schliessen
Sich immer mehr ab, und es kommt jetzt ein so seliger Schlaf über Sie. Dieser
Schlaf nimmt nun immer mehr zu. Und es senkt sich ein so seliges Gefühl von
Müdigkeit auf Sie. Sie geben Sich dem so ganz hin. Sie lassen Sich einfach gehen.
Keine Empfindung, kein Gefühl stört Sie mehr. Sie kommen immer mehr in einen
Zustand wie beim tiefen Nachtschlaf. Und dieser Zustand nimmt immer mehr an
Tiefe zu. So, jetzt mehr und mehr. Sie schliessen Sich mehr und mehr ab. So,
jetzt zähle ich bis 3, dann machen Sie die Augen wieder auf. 1, 2, 3."
Zeitdauer: 9 Min. 35 See.
Dr. V.: „Als Sie Sich in der Hypnose beobachteten, konnten Sie da besser
nachdenken, als im Wachen?** Verf.: „Ja, viel schärfer." Dr. V.: „Inwiefern
schärfer?'' Verf.: „Ich konnte in der Hypnose die Suggestionen und die Eindrücke
der vorigen Hypnose besser ins Gedächtniss zurückrufen.^ Dr. V.: „Hatten Sie,
JUS Sie den Grund fanden, die Vorstellung, das ist der Grund ?" Verl : „Ich habe
die sichere Gewissheit, dass es der Grund war." Dr. V.: „Wie war die Schlaftiefe
gegen Ende hin?^ Verf.: „Ich war auf dem besten Wege einzuschlafen, hatte
keine störenden Vorstellungen und Gedanken. Ich hatte auch den Eindruck, dass
Ihre Suggestionen temperamentvoller gegeben wurden, und dass sie so besser auf
mich einwirkten."
4. Hypnose.
Dr. V. (lebhaft gegebene Suggestionen): „So, jetzt werden Sie Sich immer
mehr der Ruhe hingeben. So, immer mehr. Ihre Augenlider schliessen sich immer
fester zu. Immer mehr Müdigkeit senkt sich auf Sie. Immer tiefer kommen Sie
hinein, Sie vergessen Sich mehr und mehr. So, immer mehr. Es konmit jetzt eine
so mollige, behagliche Ruhe über Sie. Sie schlafen gerade so ein, wie Abends beim
Zubettegehen. Ihr ganzes Ichbewusstsein schwindet. Sie vergessen die ganze
Situation, und es ist Ihnen gerade so zu Mute, wie Abends beim Einschlafen. Immer
mehr und mehr kommen Sie zur Ruhe. Immer tiefer kommen Sie hinein. (Pause.)
Immer mehr werden Sie jetzt einschlafen. Der Schlaf nimmt immer mehr zu, ver-
tieft sich mehr und mehr. Sie haben keine Idee mehr, nicht schlafen zu können.
Sie fühlen, wie meine Worte auf Sie einwirken. (Pause.) Sie haben das Gefühl,
tiefer hineinzukommen. Immer mehr nimmt die Müdigkeit zu. Jetzt zahle ich bis
3, dann werden Sie Ihre Augen öffnen. 1, 2, 3. 1, 2, 3.'* Zeitdauer 6 Min. 1 See.
Verf.: „Ich habe mich in einem massig tiefen Schlafzustand befunden, in dem die
Bilder von mehreren Personen auftauchten. Die Lebhaftigkeit derselben war ver-
schieden. Einige waren sehr klar und deutlich, fast als wenn ich sie leibhaflig^
gesehen hätte, andere waren aber sehr verschwommen." Dr. V. : „Hörten Sie noch
Geräusche?" Verf.: „Ich erinnere mich nicht, welche gehört zu haben." Dr. V.
„Haben Sie meine Suggestionen gehört?" Verf.: „Ich habe sie wohl gehört, aber
nicht aufgefasst. weil mich meine Bilder zu lebhaft beschäftigten."
Die Suggestionen, die in den verschiedenen Hypnosen der fünften
Sitzung gegeben wurden, unterscheiden sich inhaltlich nicht weiter«
Zur Kritik der hypnot.'sohen Technik. 169
Die ganze Zeit hiDdarch sind Suggestionen gegeben, die sicher geeignet
waren, einen tiefen Zustand zu erzielen. Sie passten sich durchaus
meinen individuellen Tendenzen und Befürchtungen an.
Das, was die Suggestionen der ersten 2 Hypnosen im Gegensatz
zu der 3. und 4. Hypnose characterisirt, ist der Umstand, dass sie zur
Erleichterung des Protokollirens etwas zögernd gegeben wurden. Eiü
solches Zögern macht den Eindruck der Unsicherheit, und es ist inter-
essant, in welcher Weise ich in der zweiten Hypnose darauf reagire,
ohne mir der in der Unsicherheit gelegenen Ursache klar bewusst zu
werden.
Ich bin während dieser Hypnose in einen Zustand gerathen, in
dem ich durch Dinge mich stark belästigt fiihle, die mich nie gestört
hatten, resp. nicht in so intensivem Grade. Das Geräusch auf der
Strasse ärgert mich in einer auffallend empfindlichen Weise.
Ich hatte schon häufiger stärkere Geräusche während der Hypnosen
gehört, ohne in dem Maasse durch dieselbe belästigt zu werden. Wie
sehr ich nach einer Suggestion verlange, die mich gegen das Geräusch
indifferent macht, zeigt der Umstand, dass ich die Suggestion „Sie
werden durch nichts gestärkt," direet auf den Lärm beziehe. Daraus
erkennt man zugleich, dass ich den guten Willen hatte, einzuschlafen.
Mich genirt femer der Druck von O. Yogt's Hand. Dies ist sehr
bezeichnend für meine momentane Empfindlichkeit, f^erner komme
ich noch auf den Gedanken, Vergleiche anzustellen zwischen 0. Vogt's
Suggestionen und meinen Autosuggestionen, die ich mir zu jener Zeit
Abends gab zur Herbeiführung hypnotischer Zustände. Ich befinde
mich in einem Zustande, wo ich keinen Ruhepunkt finde.
Die dritte Hypnose zeigt tms, wie man derartig nicht klar
bewusste störende Momente, in diesem f^alle die Unsicherheit in der
Aussprache der Suggestionen, im eingeengten Bewusstsein durch die
Selbstbeobachtung aufdecken kann, um sie so weiterhin zu beseitigen
oder zu vermeiden.
Dass mich die Unsicherheit in dem Aussprechen der Suggestionen
genirte, wird jeder erklärlich finden, der jemals die Rede eines un-
sicheren Redners gehört hat. Der Zuhörer ist in solchen Fällen häufig
noch beunruhigter als der Redner selbst.
Wir sehen also, dass ein Hypnotiseur, der sich der Verbal-
suggestionen bedient, nur dann auf einen durchschlagenden Erfolg
rechnen kann, wenn er im Stande ist, bei einer Fülle gutgewählter
Ausdrücke und Redewendungen mit voller Sicherheit seine Suggestionen
170 ^*ö Straaten.
geben zu können. Ein grosser Theil der Misserfolge bei Anfängern
ist ganz sicher darauf zurückzuführen, dass ihnen sozusagen der nöthige
Schneid im Suggeriren abgeht. Das habe ich in der Poliklinik einmaJ
beobachten können. Eine Patientin, die schon längere Zeit von 0. Vogt
hypnotisirt worden war, wurde, da sie leicht zu hypnotisiren war, von
einem Anfänger hypnotisirt. Die Frau gerieth nur in einen ober-
flächlichen hypnotischen Zustand. Die Heilsuggestionen machten gar
keinen Eindruck. Sie hatte sich während der Hypnose unruhig gefühlt
und war sehr unbefriedigt. AJs ich mich nach den Gründen bei ihr
erkundigte, erzählte sie mir, das unsichere Sprechen des Hypnotiseurs
w^äre daran Schuld gewesen. "Wer gute Erfolge erzielen will, bedarf
längerer Uebung im Suggeriren. Ablesen der Suggestionen oder Aus-
wendiglernen derselben, was beides schon vorgeschlagen ist, kann die
CJebung nicht ersetzen.
VI. Sitzung.
1. Hypnose.
Dr. V. (die Suggestionen werden in lebhafter Sprechweise gegeben) : „So, nun
fällen Ihnen die Augen ganz schön zu. Sie kommen ganz schön hinein. Es be-
herrscht Sie nur noch die Idee, tief hineinzukommen. Sie haben ganz das ü^efiihl,
wie Abends, wo Sie gar nichts stört. Sie lassen Sich mehr und mehr von der
Müdigkeit gefanf^en nehmen. Immer mehr kommen Sie hinein, Sie vergessen Sich
immer mehr. Nichts mehr stört Sie. Ihre Gedanken machen keinen Eindruck
mehr auf Sie und Sie schlafen ebenso leicht ein wie Abends. Nichts stört Sie
mehr. Sie fühlen Sich so wohlig, so behaglich, so mollig. Das nimmt immer mehr
zu. Nun zähle ich bis 3. Dann machen Sie die Augen wieder auf, und das
nächste Mal werden Sie noch tiefer hineinkommen. 1, 2, 3. 1, 2, 3." Zeitdauer:
5 Min. 55 See.
Verf.: „Ich befand mich in einem angenehmen Schlummerzustand, in welchem
sich mir ein Bild aufgedrängt hat, das mich für den grössten Theil der Hypnose
beherrschte. Es war ein bestimmtes Zimmer mit einer neuen Zimmereinrichtung.
Ich habe mir das Zimmer mit der neuen Einrichtung ausgestattet vorgestellt.
Dr. V.: „War es lebhafter als im Wachen?« Verf.: „Ja." Dr. V.: „Haben Sie
gewusst. dass Sie hier lagen?« Verf.: „Ich glaube nicht, dass ich daran gedacht
habe, aber andrerseits war die Vorstellung des Zimmers auch nicht so lebhaft, dass
ich geglaubt hätte, wirklich darin zu sein. Manchmal fiel mir das Bild auseinander,
so dass ich Mühe hatte, es wieder zusammenzustellen." Dr. V.: „Wie waren die
Farben?" Verf.: „Die Farben waren etwas verschwommen, aber fast so, als ob ich
das Zimmer gesehen hätte." Dr. V.: „Haben Sie meine Worte gehört?" Verf.: „Ja,
aber ihr Eindruck war nicht derartig, dass dadurch das Bild verwischt worden sei."
2. Hypnose.
Dr. V.: „So, nun wird Ihnen wieder ganz schwer in den Augenlidern. Nun
fallen Ihnen die Augen schön zu. Immer fester. So, jetzt kommen wieder Traum-
bilder in Ihr Bewusstsein. die Sie mit Intensität fesseln. Sie vergessen dabei voll»
Zur Kritik der hypnotischen Technik. IJ\
ständig das. was Sic umgriebt. Xun lassen die Traumbilder nach, es bleibt nur
ein Bild haften, das auch allmählich an Intensität nachlässt. So, und nun kommen
Sie mehr und mehr in richtijjren Schlaf. Das ist der Weg, der Sie in den richtigen
Schlaf einfuhrt. Immer mehr kommen Sie hinein. Immer mehr vergessen Sie Sich.
Ihre Aufmerksamkeit wird mehr und mehr getrübt. Die Vorstellungen blassen
immer mehr und mehr ab, und schliesslich liegen Sie im tiefen traumlosen Schlafe
da. Ganz allmählich tritt der Schlaf auf. (Pause.) Immer mehr kommen Sie
hinein. Immer tiefer kommen Sie zur Ruhe. Immer tiefer. Nun zähle ich bis 3,
dann gehen Ihnen die Augen wieder auf und das nächste Mal kommen Sie dann
noch tiefer hinein. 1, 2, 3.** Zeitdauer: 3 Min. 55 See.
Verf.: „Durch Ihre Suggestionen wurde ich auf ein Traumbild gelenkt. Das
hat mich dann auch allmählich verlassen. Ich bin durch Zucken im linken Bein
und durch B erzklopfen gestört worden; für das Herzklopfen kann ich keinen
Grand anführen.« Dr. V.: „Wie war die Schlaftiefe?" Verf.: „Nicht grösser wie
das Yorige Mal." Dr. V.: „Wodurch sind Sie geweckt worden?" Verf.: „Durch
1, 2. 3."
3. Hypnose.
Dr. V.: „Nun lassen Sie die Augen möglichst lange auf. Die Augenlider
fallen Ihnen mit aller Gewalt zu. Versuchen Sie nur, sie aufzumachen, es geht
trotzdem nicht. (£in Oefinen erfolgt nicht.) Und es übermannt Sie eine so wohlige
Bindigkeit, alle Aengstlichkeit schwindet, alles Herzklopfen lässt nach. Sie iiihlen
einfach immer mehr eine zunehmende Schläfrigkeit. Immer mehr lässt das Herz-
klopfen nach. Immer mehr kommen Sie zur Ruhe. Immer tiefer. Immer mehr
vergessen Sie Sich. So, immer mehr. Immer mehr Schlaf senkt sich über Sie, so
richtiger Schlaf, richtiger molliger Schlaf. Der ist Ihnen so angenehm und Sie
fühlen, wie er tiefer wird, und immer mehr zunimmt. Nun zähle ich bis 3. Dann
machen Sie die Augen auf. 1, 2, 3. 1, 2. 3." Zeitdauer: 2 Min. 24 See.
Verf.: „Ich fühle mich noch furchtbar schläfrig."
4. Hypnose:
Dr. V.: ,,Mit aller Macht fallen Ihnen jetzt wieder die Augen zu. Mit aller
^cht bricht jetzt der Schlaf über Sie herein, ganz gehörig. So, jetzt. Immer
mehr, immer tiefer. So, jetzt. Immer mehr Schlaf. Sie haben das Verlangen, in
tiefen Schlaf zu kommen. Sie werden ganz und gar vom Schlaf übermannt. So,
immer tiefer, immer mehr. Jetzt gehen Ihnen die Augen wieder auf. 1, 2, 3."
Zeitdauer 1 Min. Kurz dauerndes Oeffnen der Augen.
5. Hypnose:
Augen spontan geschlossen. Dr. V.: „So, immer mehr, immer tiefer. Sie
sind so schläfrig. Immer mehr, immer mehr. Sie werden ganz ruhig. Immer mehr«
Es ist Ihnen so behaglich. Gar nichts stört Sie. So, immer mehr. Schöner,
wohliger Schlaf senkt sich auf Sie. Immer mehr kommen Sie hinein. Immer mehr.
Immer tiefer. So, jetzt kommen Sie gehörig hinein. Immer tiefer. Sie vergessen
Sich vollständig. Immer tiefer. Immer mehr noch. VoUständiger Schlaf über-
mannt Sie. Immer tiefer, ganz gehörig. Nun zähle ich bis 3, dann machen Sie
die Augen auf. 1, 2, 3. 1, 2, 3. 1, 2, 3." Zeitdauer: 2 Min. 5 See.
Verf.: ,.Ich bin jetzt wieder etwas mehr wach wie zwischen der 4. und 5.
Hypnose." Dr. V.: „Wie war der Schlaf?" Verf.: ,,Es war ein mit grossem
Mädigkeitsgelühl gepaarter Schlaf.'*
]72 van Straaten.
6. Hypnose:
Dr. V.: „So, immer mehr kommen Sie hinein. Jetzt kommt wieder dieselbe
Müdigkeit über Sie. Ihre Augenlider ziehen sich krampfhaft zusammen. Ganz
furchtbar müde werden Sie. Ganz furchtbar müde. Ganz gehörig müde. Sie
fühlen Sich dabei so richtig schläfrig. So, immer mehr. Ganz schön. Ganz tief.
So, nun zähle ich bis 3, dann machen Sie die Augen auf. 1, 2, 3. 1, 2. 3.'* Zeit-
dauer: 0 Min. 52 See.
Verf. : „Diesmal war das Schlafstadium ein sehr tiefes. In dieser Sitzung sind
die Schlafstadien im Ganzen tiefer, der Schlaf ist schwerer.'^ Dr. V.: „Haben Sie
dafür einen Grund?'' Verf.: .,Ich kann es mir nicht anders denken, als dass Ihre
Suggestionen dies bedingen." Dr, V.: „Waren denn meine Suggestionen anders?"
Verf.: .,Sie wurden mit mehr Leidenschaft, mit mehr Feuer gegeben."
7. Hypnose:
Die Suggestionen werden diesmal mit fast überstürzender Schnelligkeit ge-
geben. Dr. V.: „So, nun werden Sie todtmüde. Die Augenlider schliessen sich
krampfhaft zusammen. Sie kommen immer tiefer hinein, Sie kommen immer tiefer
hinein, und es wird Ihnen so selig, so mollig zu Muthe, so ganz gehörig. Immer
tiefer, immer mehr. So, jetzt mehr und mehr. So, jetzt senkt sich die Müdigkeit
nur so auf Sie. Immer mehr krampft es die Augenlider zu. Immer tiefer. Hit
aller Macht kommen Sie hinein. So, jetzt, jetzt. Immer mehr. So, jetzt. Sie
fühlen kein Herzklopfen. Sie kommen in richtigen, tiefen Schlaf. Immer mehr.
Immer tiefer. Immer mehr seliger Schlaf senkt sich auf Sie. So, immer mehr.
Immer tiefer kommen Sie hinein. I<]un zähle ich bis 3. Dann machen Sie die
Augen auf. 1, 2, 3.'^ Zeitdauer: 1 Min. 27 See.
Verf.: „Ich war weniger müde als vorher, auch war die Schlaftiefe nicht so
gross. Ich hatte das Empfinden, dass Sie zu rasch sprachen und das störte mich.**
8. H y p n o s e.
Dr. V.: „So, nun behalten Sie nur so lange, als wie Sie können, die Augen
auf. Immer fester fallen Sie Ihnen zu. Nun kommt ordentlich Müdigkeit über
Sie. So, nun kommen Sie ganz anders hinein. Immer schwerere Müdigkeit senkt
sich über Sie. Immer mehr, immer mehr. So, nun wieder so schwere Müdigkeit,
wie vorhin. So, jetzt kommt sie immer mehr. Immer mehr Ruhe überkommt Sie.
Immer mehr ordentlich schwere Müdigkeit. Nun zähle ich bis 3, dann machen Sie
die Augen auf. 1, 2, 3.*^ Zeitdauer 1 Min. 30 See.
Verf.: „Ich bin sehr müde."
9. Hypnose.
Dr. V.: „So, nun überkommt Sie wieder die Müdigkeit. So, nun kommen
Sie mehr hinein. So, jetzt immer mehr. Immer mehr. So, jetzt wirke ich
wieder so richtig auf Sie ein. So, jetzt. Immer mehr. Immer mehr. £s über-
mannt Sie einfach die Müdigkeit. Die Müdigkeit senkt sich nur so auf Sie. Mit
aller Macht kommen Sie in den Schlaf hinein. Nun zähle ich bis 3. Dann machen
Sie die Augen auf und kommen das nächste Mal noch tiefer hinein. 1, 2, 3.*^
Zeitdauer: 54 See.
Verf.: „Bin noch sehr müde."
10. Hypnose.
Dr. V.: „So nun kommen Sie immer mehr hinein. Immer mehr. Sie werden
todmüde. Sie kommen ordentlich hinein. Immer mehr, immer mehr senkt sich
Zar Kritik der hypnotischen Technik. 173
der Schlaf, die Schlafhemmung auf Sie. Immer schläfriger werden Sie. Sie yer-
gessen Sich immer mehr. Immer tiefer kommen Sie hinein. So jetzt. Immer mehr.
Nun zähle ich bis 3. Dann machen Sie die Augen wieder auf. 1, 2, 3. 1, 2, 3.*'
Zeitdauer: 1 Min. 6 See. «
Verf.: ^^Bin so todmüde, möchte die Augen am liebsten nicht aufmachen. Ich
befand mich in einem tieferen Schlafstadium, wie das letzte Mal.''
11. Hypnose.
Dr. V. : „So, nun kommen Sie immer tiefer hinein. Immer mehr. Die Müdig-
keit nimmt immer mehr zu, dass Sie so richtig schön einschlafen. Ganz todmüde
werden Sie. Sie yergessen Sich immer mehr. Die Blüdigkeit bringt Sie immer
mehr in wirklichen angenehmen Schlaf. Nun zahle ich bis 3, dann machen Sie die
Augen auf. 1, 2, 3.** Zeitdauer: 1 Min. 49 See.
Verf.: „Ich fühle mich etwas leichter. **
Dr. V.: „Uaben Sie geschlafen?^ Verf.: „Nein, aber ich war auf dem bestem
Wege.«
12. Hypnose.
Dr. y. : „So, nun lassen Sie die Augen möglichst lange auf. So, nun schliessen
sich die Augen wieder fest zu. Immer mehr kommt Müdigkeit und Ruhe über
Sie und damit dann auch richtiger Schlaf. Die Müdigkeit senkt sich immer mehr
und mehr auf Sie. Sie vergessen Sich ganz, bis Sie schliesslich einschlafen. Immer
mehr, immer tiefer. So, jetzt mehr und mehr. Immer mehr schlafen Sie ein.
Immer mehr übermannt Sie behaglicher Schlaf, so richtig wohliger Schlaf, dabei
ist kein (jefühl von Schwere vorhanden, es ist einfach ein behaglicher molliger
Schlaf mit angenehmen Erwachen. Nun zähle ich bis 3. Dann sind Sie wieder
wach. 1, 2, 3. 1, 2, 3. 1, 2, 3," Zeitdauer: 1 Min. 36 See.
Verf.: .,Ich habe ziemlich fest geschlafen. Der Schlaf war ganz anderer Art.
Mir ist so ruhig und behaglich zu Muthe. Vorher fühlte ich in der Hypnose und
nach derselben eine fast unüberwindliche Müdigkeit. Dieser Zustand war geradezu
unangenehm. Ich war so furchtbar müde, dass ich mich kaum regen mochte.
Dr. V.: rtWaren die Zustände gleich tief?" Verf.: „Dieser letzte war wohl tiefer."
13. Hypnose.
Dr. V.: ,.So, nun schliessen Sie die Augen wieder. Nun senkt sich behag-
licher Schlaf auf Sie, ganz wie der letzte. Es wird Ihnen so richtig wohl zu Muthe.
Nichts unangenehmes ist dabei, es ist ein richtig wohliger Schlafzustand, wie er
Ihnen erwünscht und willkommen ist. Mehr und mehr. Immer mehr kommen
Sie hinein. Immer mehr senkt sich mollige Schläfrigkeit auf Sie. Immer mehr
richtiges tiefes Vergessen. Alle Selbstbeobachtung, alles Interesse hört auf.
Sie werden ganz gleichgültig. Immer tiefer und tiefer kommen Sie hinein. Sie
schlafen immer tiefer ein. Das ist ein so schönes, seliges Gefühl. Immer mehr und
mehr. Immer tiefer. Es ist Ihnen so behaglich zu Muthe, es ist ein so seliges
Sichselbstvergessen, dem Sie Sich ganz und gar hingeben. Nun zähle ich bis 3.
^m machen Sie die Augen auf. 1, 2, 3. 1, 2, 3." Zeitdauer: 2 Min. 27 See.
Dr. V.; „Wie war es jetzt?" Verf.: „Ich befand mich in einem tiefen ange-
Mhmen Schlaf. Ich war wohl zum Schluss bewusstlos. Ich weiss nicht, wie ich
|[eweckt worden bin."
174 van Straaten.
Bezüglich des Inhaltes unterscheiden sich in dieser Sitzung die
Suggestionen von 1 — 10 von den 3 letzten. In den ersten 10 Hypnosen
wird darauf Werth gelegt, dass mich eine übermannende Schläfrigkeit
und Müdigkeit befallen, die mich zum Schlaf zwingen. Die Suggestionen
realisiren sich sehr intensiv, aber der daraus resultirende Schlaf war
mir ein durchaus unangenehmer. In den letzten Versuchen wurde auf
eine angenehme Gestaltung des Schlafes mehr Nachdruck gelegt. Bei
anscheinend sonst gleichen Bedingungen erzielte die zweite Form nicht
nur einen subjectiv angenehmeren, sondern gleichzeitig auch einen
tieferen Schlaf. Ich habe in der 13. Hypnose, obwohl diese Hypnose
nur 2 Min. 24 See. dauerte, direct geschlafen.
Was nun die Betonung der Suggestionen anbelangt, so wurde sie
die ganze Zeit hindurch mit grosser Lebhaftigkeit und grossem Eifer
gegeben. Sie contrastiren darin ebenso, wie in ihren Resultaten voll-
ständig zu den ersten Hypnosen der 5. Sitzung. Absichtlich hat
O. Vogt in der 7. Hypnose die Lebhaftigkeit so gesteigert, dass sich
die Suggestionen sozusagen überstürzten. Diese übertriebene Lebhaftig-
keit zeitigte entschieden ein wenig gutes Resultat. Die grosse Wichtig-
keit der Betonung zeigt uns diese Sitzung also in frappanter Weise.
TU. Sitzung.
1. Hypnose:
Dr. V.: „So, nun sehen Sie mich an. Nun wird Ihnen wieder warm unter
meiner Hand. Nun fallen Ihnen die Augenlider zu, und es kommt ordentliche
Müdigkeit über Sie, nicht unangenehme, sondern wohlige 3Iüdigkeit. Immer mehr.
Mit aller Macht kommt sie. Immer mehr. Immer stärker. Immer mehr nimmt
sie zu. Immer tiefer kommen Sie hinein. Dieses Mal ist es Ihnen gar nicht un-
angenehm zu Muthe, es ist eine so wohlige Müdigkeit, die Sie übermannt, in die
Sie immer tiefer hineinsinken. Das ist eine so angenehme Müdigkeit, die Sie
überkommt. Nun zähle ich bis 3, dann gehen Ihre Augen wieder auf. 1, 2, 3.''
Zeitdauer: 1 Min. 22 See.
Verf.: „Ich wurde rasch von einer angenehmen Müdigkeit ergriffen. Ich
möchte diese Art mit der Müdigkeit vergleichen, wie sie sich mitunter nach der
Mahlzeit einstellt. Die Schlaftiefe war gering.**
2. Hypnose:
Dr. V. : „Nun kommt noch mehr Ruhe über Sie, und Sie kommen noch mehr
hinein. Immer mehr kommen Sie zur Ruhe. Immer mehr senkt sich Ruhe über Sie.
Immer tiefer kommen Sie hinein. So, mehr und mehr. So, ganz schön kommen Sie
hinein, ganz schön kommen Sie zur Ruhe. Immer tiefer. So, mehr und mehr senkt sich
Müdigkeit, wohlige behagliche Müdigkeit, ein angenehmes Gefühl des Yergessens auf
Sie. So, immer tiefer. So, immer mehr. 0, so schöne wohlige Müdigkeit kommt mit
aller Macht über Sie. Nun zähle ich bis 3, dann machen Sie die Augen auf, und
das nächste Mal kommen Sie noch mehr hinein. 1, 2, 3.'* Zeitdauer : 1 Min. 22 See.
Zur Kritik der hypnotischen Technik. 175
Verf.: .,Ich glaube nicht, dass ich tiefer wie vorhin war. Ich habe die Ge-
räosche aaf der Strasse und das Ticken der Uhr gehört. Der Zustand war sehr
angenehm.
3. Hypnose.
Dr. V. : ,,Nun kommen Sie ganz schön hinein. Die Müdigkeit kommt einfacli
über Sie, eine so selige Müdigkeit. Ehe Sie Sich versehen, werden Sie so müde,
dass Sie nicht mehr auf meine Worte achten können. Sie kümmern Sich immer
weniger um sie, und lassen Sich in einen behaglichen Schlaf hineinlullen. Immer
mehr. Mit aller flacht kommen Sie jetzt hinein. So jetzt, Ihr Athem verlangsamt
sich, eine so selige behagliche Müdigkeit tritt jetzt mit aller Macht auf, ohne dass
Sie etwas daza thun, und diese Müdigkeit senkt Sie immer mehr hinein. Immer
mehr konmien Sie hinein, immer tiefer, und es kommt ein so seliger Schlummer
aber Sie, der immer mehr zunimmt. Immer tiefer, immer mehr. So, und das
nächste Mal kommen Sie noch tiefer hinein. Nun zähle ich bis 3. Dann machen
Sie die Augen wieder auf. 1, 2, 3/' Zeitdauer: 3 Min. 37 See.
Verf.: „Das Gefühl einer behaglichen Müdigkeit war stark ausgesprochen.
Am Schlaf hat nicht viel gefehlt; ich war in einem tieferen Schlafstadium als das
letzte Mal.*'
4. Hypnose.
Verf. schliesst die Augen, die er kaum ofien halten konnte. Dr. V.: „Immer
mehr kommen Sie hinein in einen richtigen seligen Schlaf. Mit aller 3Iacht senkt
er sich auf Sie, und Sie fühlen Sich so selig, nichts hindert Sie mehr, tiefer ein-
zuschlafen; es ist ein seliges Selbstvergessen. Immer mehr kommen Sie hinein.
Immer tiefer hinein. So, immer mehr hinein. Immer mehr hinein in ein richtiges
seliges Sichselbstvergessen, in einen so richtig schönen Schlaf. Nichts mehr hindert
Sie, und Sie hal>en das Gefühl hinterher, ganz fest geschlafen zu haben. Dieser
Schlaf erquickt Sie genau so. wie ein tiefer Nachtschlaf. Immer tiefer hinein.
Immer tiefer. (Pause.) Immer mehr. Nun zähle ich bis 3. Dann machen Sie die
Augen wieder auf. 1, 2, 3. 1, 2, 3.** Zeitdauer: 3 Min. 42 See.
Verf.: „Das Gefühl der Müdigkeit, das ich noch beim Einschlafen verspürte
war nicht so stark ausgesprochen. Der Schlaf war tiefer und sehr erquickend,
Ich war noch bewusstlos." Dr. V.: „Was war noch im Bewusstsein?*' Verf.:
.Jm Moment habe ich nur eine summarische Erinnerung, dass ich nicht bewusstlos
war. bin aber für den Inhalt amnestisch. Es fiel mir auf, dass bei zunehmender
Schlaftiefe die Respiration oberflächlicher wurde.'*
5. Hypnose.
,,Nun kommen Sie noch mehr hinein. Immer mehr Müdigkeit senkt sich auf
Sie. Sie schliessen die Augenlider fest zu, und es kommt eine richtige mollige
Müdigkeit über Sie, eine richtig behagliche Müdigkeit. Immer tiefer und tiefer
kommen Sie hinein. Sie vergessen Sich mehr und mehr. Immer schönere Müdig-
keit kommt über Si<>, mehr und mehr, tiefer und tiefer. Immer mehr. Immer
tiefere Müdigkeit senkt sich auf Sie. So, immer tiefer kommen Sie hinein. Immer
mehr vergessen Sie Sich. Ihr Bewusstsein wird immer leerer, mehr und mehr
kommen Sie in einen Schlafzustand. Immer mehr kommt ein Schlafzustand zum
Ausdruck. (Pause.) Immer mehr vergessen Sie Sich. Immer tiefer, immer tiefer.
(Pause.) Immer mehr vergessen Sie Sich. Immer mehr. Durch nichts lassen Sie
]^76 '^^^ Straaten.
Sich störeD. Sie kommen ganz tief hinein. Nun zähle ich bia 3. Dann machen
Sie die Augen auf. 1, 2, 3. 1, 2, 3. 1, 2, 3. (Laut: 1, 2. 3.) Zeitdauer: 6 Min. 15 See
„Verf.: „Ich bin noch aehr schläfrig." Dr. V.: „1, 2, 3. 1, 2, 3." Verf.:
„Ich glaube, dass ich gut geschlafen habe." Dr. V.: „Wissen Sie noch etwas?"
Verf.: ,Jch kam sehr rasch in einen tiefen Schlaf und weiss nichts mehr."
An die Erfahrung der letzten Hypnose der 6. Sitzung anknüpfend,
sind hier in lebhaftem, aber nicht zu schnellem Tempo Suggestionen
für ein behagliches Einschlafen gegeben. Dieselben erzielen in der
5. Hypnose eine vollständige Amnesie.
Man könnte hier nun die Frage auf werfen, ob in diesen Fällen
nicht schliesslich ein allgemeiner tiefer Schlaf hervorgerufen wäre, und
nicht etwa ein Schlaf mit Rapportverhältniss, das heisst, eine tiefe
Hypnose. Sehen wir doch in der 3. Hypnose der 4. Sitzung, dass sich
wenigstens die Suggestion des Erweckens nicht mehr ohne Weiteres
realisirte. Hier ist nun vom Standpunkt der Vogt 'sehen Methodik
Folgendes zu erwidern: Es ist jedenfalls unvergleichlich leichter, aus
dem suggestiv hervorgerufenen tiefen allgemeinen Schlaf eine Hypnose
zu schaffen, wie aus dem normalen Wachsein. Die Methodik zur Er-
reichung dieses Ziels haben wir in jener obigen 3. Sitzung bei der
Wiederherstellung des Rapportverhältnisses kennen gelernt. Es kam
uns aber bei unseren Versuchen auf die methodisch wichtige Frage
zunächst an, in welcher Weise man am leichtesten durch Verbal-
suggestion einen tiefen Schlaf hervorruft, ohne speciell darauf zu achten,
ob er die Unterart der tiefen Hypnose oder die eines tiefen allgemeinen
Schlafes darstellte.
Die specielle Frage nach der möglichst besten Art und Weise,
eine tiefe Hypnose zu erzielen, ist eben im Wesentlichen gelöst, wenn
suggestiv überhaupt nur eine tiefe Schlafhemmung erzielt wurde.
(Schluss folgt.)
Selbstbeobachtungen in der Hypnose.
£ine Studie von
Dr. Harclnowskl, Ding. Arzt am Inselbade bei Paderborn.
IL
Zur Technik der hypnotischen Suggestionen.
A. Allgemeine Bemerkungen.
Wohl Jeder, der sich mit vorliegendem Thema beschäftigt, hat es
gelegentlich empfunden, ein wie misslich Ding es ist, sich auf seinen
Instinct, sein feines Taktgefühl verlassen zu müssen, wenn man den
krausen Gedankengängen eines Patienten nachspürt. Und doch ist ims die
Erkenntniss derselben nöthig, wenn anders wir einen wirksamen Einfluss
auf die Vorstellungswelt unserer Kranken gewinnen wollen. Der jeweilige
Vorstellungsinhalt beherrscht den Menschen; den ersteren günstig be-
einflussen heisst in den meisten Fällen, den letzteren seiner Heilung
entgegen führen. Wie könnten wir da einen besseren Wegweiser finden,
um das verworrene Knäuel von hindernden Autosuggestionen zu ent-
wirren, als das Studium der psychischen Vorgänge an der Hand von
Selbstbeobachtungen ! Von diesem Gedanken war ich ausgegangen und
bin nun am Schluss meiner Arbeit darüber erstaunt, dass eine
Menge anscheinend unbedeutender Kleinigkeiten eine so wichtige Rolle
spielen und die Fragen der Technik zu so complicirten Gebilden ge-
stalten. Es liessen sich da vielleicht eine Menge Regeln aufstellen, was
zu thun, was zu vermeiden wäre, — aber das könnte zu starrem Sche-
matismus ausarten, der gerade hier am wenigsten am Platze ist, wo es
sich um ein ständiges Anschmiegen an das intime Seelenleben des Kranken
handelt. Jeder wird sich da seine eigene Wege bahnen, aber nicht
Zeitschrift für Hypnotismus etc. IX. 12
178 I^r. Marcinowflki.
ohne Nutzen wird man die Pfade studiren, die andere — ihrer per-
sönlichen Natur entsprechend — gegangen sind. Das Ziel hleibt immer
die Beeinflussung des Vorstellungsinhaltes, des massgebendsten Factors
in unserem psychischen Dasein. Die Psychotherapie im weiteren, und
die Hypnotherapie im engeren Sinne kennt eigentlich keine anderen
Ziele, und ihre Technik will nichts Anderes lehren, als vde man dies am
geschicktesten anfangt.
1. Vorbedingungen.
Eine Hauptschwierigkeit stösst dem Hypnotiseur gleich zu Anfang
auf, der Umstand, dass zwei Menschen sich selten von vorne herein so
gut verstehen, dass sich die BegriflFe, welche beide mit den Worten des
Hypnotiseurs verbinden, wenigstens ungefähr decken. Wie will man aber
den Vorstellungsinhalt eines Menschen ummodeln, der einen falsch
versteht? Was nützen die schönsten Suggestionen, wenn sie falsch
assimilirt werden ! Deshalb soll jeder hypnotischen Cur eine belehrende
Vorbereitung vorangehen, denn sonst sind die Begriffe, welche der
Patient mit dem Wort Hypnose verbindet, schon allein im Stande, einen
Wall von Hindernissen gegen unser Bemühen aufzubauen, den zu zer-
stören oft unmöglich ist, — Begriffe übrigens, in welchen der Grund zur
Production pathologischer Zustände liegt, die die Hypnotherapie in
Verinif bringen können, und nur dadurch zu vermeiden sind, dass man
eben vorher Klarheit in die Anschauungen seiner Ej'anken bringt.
Viele sagen einem nun nicht Alles, — um so emsiger muss man fragen
und forschen ; denn selbst wo man des vollen Vertrauens sicher zu sein
glaubt, ruht oft gleichsam auf dem Grunde ein kleines unbeachtetes
Hindemiss, das uns nicht vorwärts kommen lässt. Ich erinnere mich
an eine Dame, welcher die Hypnosen zunächst vorzüglich bekamen, die
aber durch den Gedanken an die dadurch verursachten Kosten gestört
wurde und trotz freundschaftlicher Stellung zu ihrem Arzte, denselben
nicht aufklärte.
Meine Aufzeichnungen bestehen darüber eigentlich überhaupt nur aus
solchen sogenannten Kleinigkeiten, und ihre Besprechung will keines-
wegs eine erschöpfende Abhandlung der technischen Frage darstellen;
sie ist lediglich eine Studie, ein Skizzenbuch mit vielen kleinen Details
aus meinen eignen Hypnosen.
Die eben angedeuteten Vorbereitungen fielen bei mir fort, da
mir z. Z. die Suggestionslehre theoretisch wie praktisch geläufig
war. Die psychophysische Constellation war allso im Allgemeinen als
Zur Technik der hypnotischen Suggestionen. 179
gfonstige gegeben. Nur im Speciellen liess sie manchmal zu wünschen
übrig, und dies lag an Dingen, die man zu vermeiden trachten soll.
Geistige Ermüdung stellt meines Erachtens eine entschiedene
CoDtraindication für die Vornahme hypnotischer Versuche dar, welche
eine gewisse Coucentrationsf&higkeit beanspruchen. Femer soll die all-
gemeine Stimmung eine ruhige sein, man soll Zeit haben, und sich
nicht mit dem Gedanken hinlegen, „wirst du auch um 1 1 Uhr da oder
dort sein können, wie du verabredet hast^ Das war öfters bei mir
der Fall gewesen und hat die Versuche gestört, auch gelegentlich zu
emotioneller Unruhe geführt. Etwas Aehnliches las ich in den Fällen
von Selbstbeobachtung, welche Wetterstand publicirte. Dort war es eine
Einladung zu Mittag gewesen, welche die störende Unruhe hervorrief.
Im Allgemeinen war ich erstaunt, zu constatiren, dass meine ge-
naue Eenntniss von der ganzen Suggestionslehre kein Hindemiss dafür
war, dass sich Suggestionen bei mir prompt erfüllten. Ich erwähne
dies, weil man sehr häufig meint, die ganze Psychotherapie werde sich
in Nichts verflüchtigen , sobald erst alle Welt über ihr Wesen aufgeklärt
sein würde. Nun, dem scheint doch nicht so zu sein, und unsere viel-
geschmähte Arbeit wird nicht so vergänglich sein, als unsere Gegner
meinen, welche Charlatanerie von ernstem, wissenschaftlichen Streben
nicht zu unterscheiden wissen und Hypnose mit Humbug identificiren.
Hat man nun in dem Patienten durch Aussprachen Furcht und
Misstrauen beseitigt, oder wenigstens bis zu einem gewissen Grade unter-
drückt, was am leichtesten wohl durch entsprechende Demonstration
anderer Hypnotisister gelingt, so versucht man den so Vorbereiteten
einzuschläfern.
2. Die Sinnesreize.
Welche Kolle dabei die allgemeinen Schlafgewohnheiten und das
Femhalten von Sinnesreizen spielen, habe ich bereits erwähnt (vgl. p. 26).
Ich betone hier nochmals, dass ich alle diese Nebenumstände als sehr
wesentliche empfunden habe, und ihre bahnende Wirkung nie mehr unter-
schätzen werde. Das in der Hypnose zu Stande kommende Abstumpfen
der Sinnesorgane gegen Reize muss um so mehr unterstützt werden,
als es sich im Beginn derselben häufig — wie früher ausgeführt — um
eine Herabsetzung der Schwellenwerte handelt, die dauernde Störungen
hervorrufen kann, wie die Hyperacusis bei meinen Versuchen. Diese
äusseren Ruhebedingungen habe ich in I. und II. eingehender geschildert,
wie das Verdunkeln des Zimmers, das Vermeiden von Läroi, das Hin-
12*
130 Dr. Marcinowski.
legen und Zudecken etc. Diese Ruhe hat nicht nur den Zweck, die
Vorstellung vom Fernbleiben jeder Störung zu wecken, sondern verhindert
auch die Ablenkung der Aufmerksamkeit von dem Vorhaben des Arztes,
unaufmerksame Menschen sind schwer zu hypnotisiren und Neurasthe-
niker sind wohl deshalb so wenig zu beeinflussen, weil ihnen die Fähig-
keit mangelt, an einer Zielvorstellung festzuhalten, jede gebotene
'Gelegenheit benützend, auf Nebenwege abzuweichen und „irrlichterirend
hin und her^ zu springen. Um so kleiner braucht hier der Reiz zu sein,
der genügt, um zu stören, und um so mehr muss man bedacht sein,
diesen Aeusserlichkeiten Genüge zu thun.
Die meisten Suggestionen sind rein verbale, aber man thut sicher
gut daran, die Wirkung der Worte durch körperliche Momente zu
unterstützen. Vogt legte die Hand auf mein aufgeregtes Herz, und
ich empfand die wohlthuende Wirkung davon; desgleichen auch, wenn
die Hand über momentan aufgeregte oder gespannte Müskelgruppen
hinstreichelte. Auch die Vogt' sehe Manier, eine Hand auf der Stirn
des Hypnotisirten liegen zu lassen, hat etwas ungemein Beruhigendes.
Zugleich giebt diese Manier eine. Handhabe, sofort beim Beginn des
Einschlafens eine Suggestion zu ertheilen, die sich sehr leicht realisirt.
nämlich die der Wärme. Vogt 's Frage ,. jetzt wird Ihnen schon ganz
schön warm unter meiner Hand ; — fühlen Sie das?" lenkt die Aufmerk-
samkeit auf ein sich mit einer gewissen Sicherheit einstellendes Phänomen
hin und zugleich von allerlei störenden Gedankengängen ab. Gleich-
wohl erfordert bereits diese Suggestion eine gewisse Vorsicht, denn
wenn der Hypnotiseur eine feuchte kalte Hand hat, oder der Hypno-
tisirte eine auffallend warme Stirn, so kommt selbst eine eintretende
Congestion nicht zur entsprechenden Empfindung (I. 1.) und dies zu
einem Zeitpunkt, wo von einer intensiven Suggestionswirkung noch
nicht die Rede ist und Erwartung sowohl, wie Kritik sehr lebhaft sind.
Diese Erwartung ist oft in störender Weise gespannt, und deshalb
thut man gut, sie abzulenken oder ihr eine bestimmte Form zu gehen,
d. h. sie mit Vorstellungen zu erfüllen, welche bahnend wirken, wie die
Erinnerung an frühere Hypnosen oder an gewohnte Situationen, wie den
Mittagschlaf (TU. 6.), oder an bestimmte Schlafgewohnheiten. Man erfahrt
solche Dinge durch fortgesetztes Aushorchen, das um so nöthiger ist,
als die Patienten spontan nicht genug Rechenschaft ablegen. Ich selbst
habe eine lange Weile gekämpft, ehe ich Vogt darauf aufmerksam
machte, dass mich die fest aufgelegte Stirnband am bequemen Aus-
strecken hinderte und meine Hypnose deshalb störte, und erst beim
Zar Technik der hypnotischen Suggestionen. 181
U. Male (III. 1.) habe ich um Abhülfe gebeten. Ein andermal war
mir das feste Auflegen der Hand wieder Bedürfnis, ein ßeweiss, mit
welcher Geduld sich der Hypnotiseur den Launen seiner Kracken an*>
passen muss, denen man hierbei am besten jeden Wunsch erfüllt.
Ist allgemeine Beruhigung eingetreten, Muskelspannung wie
Lächeln etc. ausgeglichen, so richtet sich die ganze Kraft der Sugges-
tionen auf den Augenschluss. Ist derselbe in normaler Weise er-:
folgt, so hat man meist gewonnenes Spiel. Aber er muss als echte
SoggestionswirkuDg auftreten, also spontan erfolgen, sonst hat der
Hypnotisirte nicht den erwünschten Eindruck davon, wähnt sich nicht
beeinflnsst, wird durch actives Nachhelfen wieder munterer (I. 3.), und
der Hypnotiseur selbst täuscht sich vollkommen über den Grad seines
Einflusses. Im Gegentheil ist es viel richtiger, den Kranken zu energischer
Gegenwehr gegen die Zusammenziehung des Orbicularis aulzufordem;
denn der Widerstand verstärkt die Empfindung von der beginnenden
Contraction und weckt die Vorstellung von der eingetretenen Sugges-
tionswirkung, welche Vorstellung nun ihrerseits den Gedanken der
Wehrlosigkeit bedingt und den Widerstand lähmt, so dass die Augen-
lider sich nur um so schneller senken. Thun wir dies nicht spontan,
80 fehlt dem Augenschluss auch jenes den ganzen Körper durchrieselnde
Lustgefühl, welches Vielen die Hypnose so lieb macht und einen aus?
gezeichneten Anknüpfungspunkt für allgemeinere Heilsuggestionen bietet
(allgemeines Wohlbehagen etc.)
Der erfolgte Augenschluss bewirkt sofort ein mehr oder weniger
weitgehendes Abschliessen gegen die Aussenwelt, eine grössere allgemeine
Ruhe, ein Umstand, der ängstlichen Gemüthern zur plausiblen Begründung
unseres Vorgehens dienen kann, wenn Jemand, wie es zuweilen vorkommt,
sich scheut, die Augen zu schliessen. Der Augenschluss hat auch deshalb
eine so grosse Bedeutung in der Hypnose, weil er — namentlich dem
Laien — als Zeichen eingetretener Schlafhemmung, sowie das Oeffnen der
Augen als Zeichen des Wachseins gilt. Dass dies Letztere namentlich
durchaus nicht immerzutreffend ist, haben wir am Ende der III. 6. Hypnose
gesehen, wo ich eine recht merkwürdige Figur abgegeben haben muss.
Zugleich lehrt uns der Vorgang, dass man es vermeiden soll, seine
flypnotisirten ohne Befehl spontan die Augen öffnen zu lassen. Der
Kopfschmerz, welchen ich davongetragen hatte, ist noch das Wenigste,
was einem dadurch zustossen kann.
Die meissten Hypnotiseure pflegen nach Vorgang unserer Nancyer
Meister die einzelnen Phasen des Augenschlusses durch Schilderung der-
188 ^^- Marcinowski.
fiielben zu accompagniren. Das habe ich als entschieden richtig em-
pfanden, aber zugleich auch die Nothwendigkeit, dabei scharf zu be-
obachten und keine Dinge zu behaupten, die nicht da sind. Das Ver-
schleiern des Blickes durch Ansammeln der Thränenflüssigkeit bei
mangelndem Lidschlag, ein gewisser starrer Ausdruck im Auge, das
sind Dinge, die man deutlich selber empfindet, und denen der Hypno-
tiseur gleichsam auflauem muss, um sie sofort zur Suggestionirung zu
benutzen. So lange man dabei vorsichtig zu Werke gehen muss, wird
man den Erscheinungen manchmal etwas nachhinken, aber trotz meiner
technischen Kenntnisse haben Sie gelesen, dass ich nicht im Stande
war bei mir selbst zu unterscheiden, ob Vogt bereits suggerirte oder
sich noch referirend verhielt. Zunächst empfand ich mein Percipiren
der ertheilten Suggestion als ein actives, wenn auch die Folgewirkung
bereits spontan auftrat ; später wurde auch das Percipiren passiver und
ich lag da, um verwundert und interessirt das ohne mein Zuthun sich wie
an einem fremden Körper abwickelnde Geschehen zu beobachten.
lieber die Körperhaltung des Hypnotiseurs möchte ich noch ein-
schalten, dass ich es für günstig halte, sich so zu setzen, dass es dem
Kranken einige Mühe macht, seinem Arzt ins Auge zu sehen. Die Hand des
Hypnotiseurs soll der Stirn so aufliegen, dass die Augäpfel des Patienten
mit Anstrengung etwas nach oben gerichtet werden müssen; um so
schneller wird eine Ermüdung eintreten, und mit ihr der Augenschluss.
3. Die Stimme und Sprechweise des Hypnotiseurs.
Dasjenige Sinnesorgan, welches am längsten wach bleibt und das
Rapportverhältniss aufrecht erhält, ist das Grehör. Deshalb sind
störende Geräusche von so grosser Wichtigkeit. Des Weiteren will
ich nun schildern, welche Kegeln ich für die Stimme des Hypnotiseurs,
Form und Inhalt seiner verbalen Suggestionen aus meinen Beobachtungen
abgeleitet habe.
Zunächst ist die laute Stimme als weckender Keiz zu betrachten,
und wenn es auch meist nicht nothwendig ist, so ist es doch natürlich,
sich ihrer zur Desuggestionirung, zum Wachbefehl zu bedienen. Be-
sonders, wenn es sich um ein ungewöhnlich eindringliches Aufwecken
handelt, wie es bei unvollständigem Erwachen und zur Beseitigung
partieller Erscheinungen wie Kopfschmerz, Kältegefühl etc. vorkommt,
unterstützt die laute Stimme wesentlich die Wirkung der verbalen
Suggestion. Auch das plötzUcbe Entfernen der Stirnband beim Wach-
kommando trägt zur Ermunterung bei, und diese Thatsache hat Vogt
Zur Technik der hypnotischen Suggestionen. iLSS
noch ausgiebiger zur Unterstützung der Suggestionen benutzt, wie ich
es in III. b. 3. auf Seite 41 genauer beschrieben habe.
Während dee Einschlummems ist im Gegensatz zum Aufwachen
eine leise und ruhige Sprechweise am Platze. Lautes und lebhaftes
Sprechen des Hypnotiseurs wird da direct als störend empfunden (V. 1),
während eine gewisse Monotonie im Stimmfall, langsames und ruhiges,
oft bis zum Flüstern gedämpftes Zureden etwas ungemein Beruhigendes
und Einlullendes hat. Auf ein geflüstertes Wort mnss man nebenbei
genauer hinhören, als auf ein laut gesprochenes, und dadurch wird die
Aufmerksamkeit wiederum mehr daraufhin concentrirt, von Nebensäch-
lichem und etwaigen Störungen mehr und mehr abgelenkt. (III. 4. u. V. 2.)
4. Form und Inhalt der verbalen Suggestionen.
Analoge Verhältnisse finden wir für den Inhalt der verbalen
Soggestionen zu berücksichtigen. Es ist meinem Empfinden nach
störend und deshalb unangebracht, seine Suggestionen selbst bei Leuten,
ik wie ich der Hypnose nicht als Laien gegenüber stehen, in com-
plicitte Formen und wissenschaftliche Ausdrücke zu kleiden, und diese
Form noch dazu öfter zu wechseln, wie ich es in III. 3 beschrieb und
mehrmals monirte, wenn sich Vogt gewissermaassen im Eifer dazu
hinreissen liess. Der Inhalt der allgemeinen Suggestionen sei im Gegen-
theU in schlichte einfache Worte gekleidet, die sich immer und immer
wieder wiederholen (EE b. 2. und 3 und lU 1 — 4, VI.) Das mag ermüdend
für den Hypnotiseur sein, aber es ist ungemein wirksam, auch hier
einlullend durch seine Monotonie. Die einzelnen Redewendungen ge-
winnen Kraft dadurch, dass sie zur Gewohnheit werden ; wenn sie ein-
mal von Erfolg begleitet waren, so bleiben sie mit der Idee der Wirk-
samkeit associirt, und ihre Anwendung in der nächsten Sitzung ist ver-
möge der Erinnerung hieran von um so eclatanterem Erfolg begleitet. So
wächst der Grad der Beeinflussung durch Summation und Kumuliren
dieser einfachen, sich immer fester einnistenden Vorstellungscomplexe, —
viel mehr, als es durch wechselvolle und geistreiche Fassung der verbalen
Snggestionen möglich ist. In übertragenem Sinne gilt auch hier das
alte : gutta cavat lapidem . Es sind trotz der oben aufgestellten
Begel eine Menge Variationen des einfachsten Themas möglich, in Be-
tonung, Ausdruck und Eindringlichkeit der Bedeweise, das eine Mal
schleppend und gleichsam selbst müde sprechend, das andere Mal immer
dringlicher flüsternd, bis man den Kranken überwunden hat, „über-
wältigt" wie ich mich 11. b pag. 11 ausdrückte.
184 ^* Marcinowaki
An vielen Stellen findet sich bei mir auch die Notiz, dass die
Dauer der Suggestionswirkung von der ständig wiederholten Suggesüons*
ertheilung abhängig ist; blieb letztere aus, so liess die ersterein ober-
flächlicher Hypnose oft nach, und ich wurde munterer.
Ich habe obige Ausführungen fiir um so wesentlicher gehalten, weil
ich femer die Beobachtung machte, dass man sehr bald in eine aus-
gesprochene Abhängigkeit vom Wortlaut der Suggestion geräth. So
wie die ständige Wiederholung der einzelnen Suggestionen zur Ge-
wohnheit wird, die man nicht ohne Störung entbehren kann, wie in VL 3,
wo der Lidchluss ausblieb, so kann auch jedes einzelne Wort Bedeutung
gewinnen. Das macht unser Handeln oft recht mühsam, denn es ver*
langt vom Hypnotiseur eine volle angespannte, concentrirte Hingabe
an seine momentane Aufgabe, die sich durch Routine schwer ersetzen
lässt; es erfordert jenes Anschmiegen an die Ideengänge des Hypno-
tisirten, von dem ich schon mehrfach sprach. Die IX. Sitzung ist ein
gutes Beispiel für das, was ich damit sagen will. Die ganz geringen
Abweichungen vom wirklichen Geschehen, wie sie dort in den Worten
„allmähliche^ und „Zunahme der Wärme^ in ihrem Gegensatz zu
„fluthweise^ und „räumlicher Ausdehnung^ zum Ausdruck kamen, ge-
nügten, um die der Suggestion gegenüber bestehende Neigung zur
Kritik wachzurufen.
Handelt es sich einerseits darum, fehlerhafte Worte beim Hypno-
tiseur zu vermeiden, so muss man andererseits auch damit rechnen,
dass noch so geschickt ertheilte Suggestionen falsch assimilirt werden
können, und so oft anders wirken, als sie gemeint waren. Als Ueber-
gang zu dieser Erscheinung möchte ich auf die Verwirklichung der
Traumsuggestionen in VI. 4 pag. 17 hinweisen. Mehr oder weniger wird
schliesslich jede Suggestion erst noch spontan verarbeitet und dem
jeweiligen Vorstellungsinhalt aogepasst.
Wenn ich von Anschmiegen im Wortlaut rede, so möchte
ich dabei hervorheben, welche Worte mir als besonders gut gewählte in
Erinnerung geblieben sind. Sie betreffen meist die Gefühlstöne, wie
Ruhe, — Frieden, — behaglich faules Daliegen, — wonnig, sich dem
Zustand hinzugeben — immer tiefer sinken — Alles vergessen, — gleich-
gültig werden etc. etc., und geben die einzelnen Empfindungen vorzüg-
lich wieder. Aber man hüte sich, sie anzuwenden, wenn man nicht
zugleich annehmen kann, dass sie auf guten Boden fallen. Nichts ruft
die Kritik mehr wach, als das fehlerhafte Zusammentreffen von lautem
Geräusch mit Gleichgültigkeitssuggestion, von muskulärer Unruhe und
Zur Technik der hypnotiBchen Suggestionen. 186
SpannuDgen mit Saggestionen der Ruhe und des Friedens. Auf der
anderen Seite habe ich bereits so unscheinbare Kleinigkeiten, wie das
Zusammentreffen des Ezspirinms mit den Worten: ^tiefer sinken^ als
bahnend für das Zustandekommen der Wirkung empfunden (Y. 2). Dies
Alles mag Manchem in der That kleinlich erscheinen, aber ich habe an
der Hand persönlicher Empfindungen die Ansicht gewonnen, dass wir
gerade diese kleinen Details beachten müssen, da in ihnen so häufig
der Grund für das Nichtgelingen hypnotischer Versuche liegt.
4. Das fractionirte Verfahren.
Nun wird man allerdings bei den meist üblichen Hypnotisirungs*
methoden sehr bald in. die Verlegenheit gerathen, dass dem Hypnotiseur
die Handhabe dazu zu fehlen scheint, um so subtile Vorgänge in der
Gedankenwelt der Versuchspersonen erkennen und benutzen zu können,
and damit komme ich auf den Punkt zu sprechen, dem zu liebe ich
obige Regeln so betont habe. Ich erwähnte Eingangs, dass meine
Hypnosen sämmtlich nach Vogt's sogen, fractionirten Verfahren
Yorgenommen wurden, welches bekanntlich darin besteht, dass man in
einer Sitzung mehrere kurzdauernde Hypnosen vornimmt, dieselben
jedesmal yerlängernd und vertiefend. Dies Verfahren bietet uns in der That
80 bedeutende Vortheile, dass es wohl in Bälde einen grossen Freundes-
kreis erobert haben wird. Wenn auf das Anschmiegen an die Ideen«»
gänge der Kranken wirklich so grosser Wert zu legen ist, me ich
meine, so giebt uns lediglich dieses Verfahren den Schlüssel zu den-
selben in die Hand.
In den Zwischenpausen zwischen den einzelnen Hypnosen fragt
man den Kranken ganz genau über all seine Empfindungen aus
und kann sich dadurch ein ziemlich genaues und zutreffendes Bild
von seinen Vorstellungen schaffen, die man dann immer weiter zum
Aufbau seiner Suggestionen benutzt, und an welche anknüpfend man
die nächstfolgende Hypnose durch immer schärfer detaillirte Sug-
gestionen verstärken kann, ohne befürchten zu brauchen, damit uner«
wünschte E^itik wach zu rufen und an Autorität einzubüssen, kurz,
das Anschmiegen wird dadurch erst möglich gemacht. Man erhält
Bo auch ein Urtheil über den Grad der erzielten Beeinflussung und
eine Handhabe, denselben beliebig tief zu gestalten. So kommt man
einerseits rascher zum gewünschten Ziel und andererseits ist man leichter
in der Lage, etwa auftauchende pathologische Erscheinungen im Keim
zu ersticken. Der Hauptvortheil des fractionirten Verfahrens liegt also
186 ^' Marcinowski.
darin, dass man die Hypootisirten gewissermaassen in der Hand behält^
Qrad und Art der Beeinflussung immer beherrscht, die Hypnose also
beliebig gestalten kann, während der Patient bei anderen Methoden
leicht entschlüpft, seinen Vorstellungsinhalt unserer Kenntniss entsdeht,
und auf dem Wege der Autosuggestion Zustände producirt, welche
man nicht gewollt und beabsichtigt hat, die therapeutisch werthlos
sind, und die gegebenen Falles einen pathologischen Character annehmen
können, wenn man die Technik nicht genügend beherrscht. In diesem
Sinne stellen meine Versuche gewissermaassen Normalhypnosen dar, wie
sie von Vogt geübt und gelehrt werden. Man übersehe auch nicht,
wie wesentlich man sich die ganze mühsame Arbeit erleichtert, indem
man durch das in jeder Sitzung mehrmals vorgenommene Einschläfern
und Aufwecken den Kranken ganz anders einübt, in ganz anderem
Maasse zu schnellem Gehorchen, zu einem stets anspruchsfahigen Rapport-
verhältniss erzieht, als dies bei den sonst üblichen Hypnotisirungs-
methoden der Fall ist.
Aehnliche Vortheile, wie die Technik aus dem Ausfragen des
flypnotisirten in den Zwischenpausen zwischen den einzelnen Versuchen
zieht, gewinnt man dadurch, dass man seine Hypnotisirten an die Vor-
stellung gewöhnt, dass man im Schlafe sprechen könne. Ist diese
zunächst etwas fremdartige Idee assimilirt, so ergiebt sich daraus
ein Verhältniss, welches' beiden Theilen nützlich wird. Glückt es schon
sehr häufig, durch Analysiren dieser oder jener Störung, die sich be-
merkbar machte, dieselbe in ihrer Genese zu ergründen und dann logisch
zu beseitigen, während die Versuchsperson völlig wach ist, so ist es um
so leichter, solche Störungen zu unterdrücken und sich dem Ideengange
des Kranken anzuschmiegen, wenn man sich in jedem Momente während
der Hypnose selbst Auskunft holen kann. Alle meine Versuche waren
fast durchweg durch dieses. Verhältniss characterisirt, ich gab über alles
spontan Auskunft, was mir aufstiess und was ich für mittheilenswerth
ansah. Ohne diesen Umstand wäre es wohl kaum möglich gewesen, in
diesen Versuchen so — für meinen Zweck — ergiebige Resultate zu
erreichen.
Die Schwierigkeiten, die sich dabei herausstellten, machten die
Sache für mich um so interessanter, und die Technik hat aus den ent-
sprechenden Vorgängen den Schluss zu ziehen, dass nuin durch ein-
j^ehendes Ausfragen in den Zwischenpausen wie während der Hypnose,
event. durch analytisches Vorgehen den Grund der Störung und ihre
Associationen aufdecken muss, um sie dann logisch zersetzen, auflösen und
Zur Technik der hypnotischen Suggestionen. 187
dadurch beseitigen zu können, falls dies nicht schon spontan geschehen
ist, sobald die Analyse fertig vorliegt.
B. Einzelne speeielle Bemerkungen.
1. Der Kopfschmerz.
Nun geben mir noch einige speeielle Suggestionen Gelegenheit
2ur Erörterung technischer Fragen. Am 6. Tage war ich mit Kopf-
schmerzen zu Vogt gekommen und hatte von ihm erwartet, dass er
dieselben beseitigen werde. Dieses gelang nicht, und ich schob sehr
natürlich die Schuld daran Vogt's Verhalten in die Schuhe, der von
Toniherein betont hatte, dass diese Art Kopfschmerzen, welche aus
dem Moi^enschlaf heraus entstehen, schwer zu beeinflussen seien. Ich
empfand diese Worte sofort als eine höchst unangebrachte Zerstörung
meines Glaubens und machte hinterdrein aus meiner Ansicht kein Hehl.
Vogt hielt aber an der Richtigkeit seines Verhaltens fest, und war
der Meinung, dass es viel besser sei, den Misserfolg, wo er wie hier
wahrscheinlich war, Yorherzusageu und dadurch eventuell zu verschulden,
als den Glauben an die Macht und Autorität des Hypnotismus dadurch
KU erschüttern, dass man einen Erfolg yermissen lässt, den man an*
scheinend selber erhofft und erwartet hat. Ich habe mich dieser An-
schauung schliesslich fügen müssen und glaube in der That, dass man
in zweifelhaften Fällen lieber einmal zu vorsichtig sein soll, als dass man
die schon ohnehin oft nöthige Dreistigkeit seiner Suggestionen zuweit treibt
2. Divide et impera.
Bei der Ertheilung specieller Suggestionen stösst man wiederholt
auf Schwierigkeiten, welche sich dadurch beseitigen lassen, dass man
sie gewissermaassen in kleinere Abschnitte zerlegt und Schritt vor Schritt
vorgehend stückweise zur Realisation bringt. Dies Vorgehen ist
ja genügsam bekannt, ich bringe es an dieser Stelle zur Sprache,
da ich seine Wirksamkeit selber deutlich empfunden habe. In der
VII. Sitzung war der linke Arm wach und kalt geworden, und die
Wärme und Schlafsuggestion versagte vollkommen, bis Vogt sich ent-
schloss, dieselbe nach obigem Grundsatze zu ertheilen ; was auf einmal
zu viel war, gelang so in kleinen Abschnitten.
Die ganze Art und Weise, wie man Jemanden einschläfert, indem
man das Einschlummern in viele kleine Phasen zerlegt, ist ja schon an
sich ein solches Vorgehen, von dem man zur Verwirklichung mancher
nicht erfüllter Suggestion noch viel mehr Gebrauch machen sollte, als
in der Literatur angegeben wird.
188 ^i*- Marcinowski.
3. Vorgefasste Meinniigen.
Diese Ueberscbrift umfasst ein grosses Kapitel von Hindernissen,
welche unsere Bemühungen oft gänzlich vereiteln, und Wirkungen her-
vorrufen, welche unseren Absichten direct zuwider laufen. Wenn specielle
Suggestionen auf solche Vorurtheile stossen, so hat man es meist mit
sogen, inadäquaten Vorstellungen zu thun, welche sich die Versuchs-
personen nicht ohne Weiteres aufnöthigen lassen, und an solchem wohl-
gepanzerten Wall von Autosuggestionen prallt dann meist auch die beste
Technik ab.
Auch hier gilt der Anfangs so betonte Satz: kleine Ursachen, grosse
Wirkungen. Wie geringfügig ist das Raisonnement in I. 2, welches —
halb unbewusst — dazu führte, dass die so allgemein geübten Streichungen
mich in dem geschilderten Maasse störten und weckten. Auch in VIII. 2
führen die Streichungen nicht zum beabsichtigten Ziel, und als in VII. 2.
Vogt die specielle Suggestion der Amnesie ertheilte, so entstand aus
dem Gegensatz der beiderseitigen Zielvorstellungen ein aufgeregtes Er-
wachen. Aus der Unüberwindlichkeit solcher vorgefasster Meinungen
zieht die Technik wohl am besten den Schluss, dass man solche Klippen
am richtigsten umsegelt, und keine Kxaft vergeudet, um schliesslich
nur mit seiner Autorität daran so zerschellen. Denn immerhin wird
trotz aller Geschicklichkeit das Resultat das sein, dass der Hypnotisirte
sich noch weniger beeinflusst glaubt, als dies so wie so schon der Fall ist.
Es lag ein merkwürdiger Widerspruch in dem eben erwähnten
Empfinden, dem ich in meinen Protokollen ja wiederholt Ausdruck
gegeben habe. Die Neigung zur Kritik, die wohl jeder in sich verspürt,
kann schon lange einer gewissen Kritikhemmung Platz gemacht haben,
einer Neigung zum für wahr halten des Gehörten, welche durch die zu-
nehmende Trägheit der Gegenvorstellungen zu Stande kommt, — und noch
immer fehlt das volle Empfinden des Beherrschtseins, welches manchmal
erst hinterdrein (III. 5) auf Umwegen zur Erkenntniss gelangt. Diesen
Widerstreit zwischen der Idee wollen zu können und der trotzdem be-
stehenden Willensschlaffheit (IV. 4) allein der Methode Vogt zuschreiben
zu wollen, welcher seinen Patienten gegenüber stets betont, dass der
Bestand ihres persönlichen Willens in jedem Momente gewahrt bleibe,
halte ich für verfehlt, nachdem ich in der Litteratur auch von anderer
Seite die Schilderung ähnlicher Empfindungen gefunden habe. So
schreibt Bleuler in seiner Selbstbeobachtung : „Durch die folgenden
SnggesMonen wurde mein bewusster Gedankeninhalt nicht anders als im
Zur Technik der hypnotischen Suggestionen. 189
Wachen beeinflusst^ dennoch realisirten sich dieselben zum grössten
Theil." ^) Das drückt dasselbe aus, als ich im Sinue habe, die Verwunde-
rung darüber, dass Symptome eingetretener Hypnose da sind, während
kein entsprechendes Empfinden daran im Intellect vorhanden ist, der
sich gepau wie im Wachen zu verhalten scheint.
4. Die suggestive Katalepsie.
Diese und ähnliche Gedankengänge, auch event. missglückte Sug*
gestionen rufen sehr leicht den Wunsch nach gewaltsamer Beein-
flussuDg wach, und so fehlerhaft es sonst ist, ohne Noth Theatercoups
wie die suggestive Katalepsie etc. anzuwenden, hier können solche Dinge
einmal am Platze sein (IV. 3). Ein gefährliches Experiment scheint
mir das allerdings trotzdem zu bleiben, denn nur allzu oft habe ich die
Suggestion der kataleptischen Starre unverwirklicht gefunden oder als
Liebenswürdigkeit der Versuchsperson entlarvt. Die Vorbedingungen
für die Realisation dieser Suggestion waren bei meiner VIL 3 Hypnose
sehr günstige : der Wunsch, sie verwirklicht zu sehen, war wach, die
Empfindungen in VU. 2 legten die Idee des Gelingens sehr nahe, und
doch misslang die Sache so gründlich, wie sonst nichts in meiner ganzen
Versuchsreihe. Woran lag das? Ich weiss es nicht; aber es mahnt
aufs Neue zur Vorsicht mit diesem Experiment, an welchem so manche
Autorität zu Grunde gegangen ist.
Die suggestive Katalepsie als Maassstab für die Tiefe der Hypnose
zu benutzen, wie es fast allgemein geübt wird, muss ich deshalb ent-
schieden bekämpfen. Einmal leistet dies Symptom durchaus nicht das,
was man von ihm erwartet, zweitens braucht man solche Dinge nicht,
wenn man sich des geschilderten fractionirten Verfahrens bedient, welches
uns viel sicherere Wegweiser an die Hand giebt, und drittens soll man
alle Mätzchen und jedem gebildeten Menschen entschieden zum mindesten
unbehagliche Kunststücke vermeiden, welche wir als Schaustellungen
zu sehen gewohnt sind, und welche dem Laien als totale Willens-
beraubung vorschweben. Auch darum sollen wir sie vermeiden, weil
unserem Vorgehen sonst in diesem Sinne Schwierigkeiten und Vorwürfe
erwachen könnten. Keinem Menschen, auch nicht dem Hülfe heischenden
Schwerkranken ist es gleichgültig, ob er sich als Spielball der bizarren
Launen seines Hypnotiseurs zu wähnen hat. '
Vom Standpunkt der Technik aus ist die Vornahme der sug-
gestiven Katalepsie also zu verwerfen als unuöthig und event. schädlich.
*) Forel, flypnotismus, p. 216 f.
j90 ^^' Marcinowski.
Sie v^ird als unangenehmer Zwang empfände d, ist Ton unangenehmeiv
Sensationen begleitet, fuhrt oft zum Aufwachen und nicht zum Vertiefen
des Schlafes, ist also unzweckmässig und schadet durch nicht Kealisiren
der Autorität des Hypnotiseurs viel mehr und viel öfter, als ihr die
verwirklichte Suggestion nützt. fiUerzu kommt die nicht wegzuleugnende
Empfindung des zur Schau gestellt Seins und des Zwanges zu lächer-
lichen Handlungen, welche nur als psychologische Experimente zu-
lässig sind. Wenn wir dies unseren Patienten gegenüber erklären, so
werden wir uns viele Freunde damit werben, welche sich durch die ge-
kennzeichneten Kunststücke von einer Behandlungsart abgestossen fühlen,
die ihnen und vielen anderen von Vorurtheilen Befangenen hätte segens-
reich sein können.
In diesem Sträuben gegen inadäquate Vorstellungen liegt zugleich
der Schutz, den unsere Kranken vor uns finden, und in ihnen die Idee
dieses Geschütztseins gross zu ziehen, halte ich für eine sehr wichtige
technische Maassnahme, denn vielen giebt dies nicht nur die erwünschte
Ruhe, sondern ermöglicht überhaupt erst ihre Hypnotisirung durch Be-
seitigung der schwersten Vorwürfe, welche man der ganzen Hypno-
therapie je machen konnte. Ich glaube — nach meinen allerdings ge-
ringen Erfahrungen — mit Vogt, dass der Versuch, Jemandem eine
allgemein als inadäquat geltende Vorstellung aufzunöthigen, nur dann
glücken wird, wenn sie dem Vorstellungsleben des Hypnotisirten doch,
nicht so ganz fremd ist, wie man annahm. Anderenfalls kommt die
Suggestion überhaupt nicht zur Realisation, sie wird gewissermaassen
unterdrückt, oder es kommt zur Unruhe, zum Widerstreben, zum Auf-
wachen, je nach dem Grad der AflFectbe tonung, in ähnlicher Weise,
wie es bei der mir ertheilten Suggestion der Amnesie der Fall war
(VII. 3). Darum betont Vogt mit so grosser Berechtigung, dass
Niemand gegen seinen Willen hypnotisirt werden könne, und dass jeder
seiner Patienten auch ihm gegenüber in jedem Augenblick zur Aus-
nutzung seines Willens im Stande sei.
Mag dies auch de facto nicht immer ganz zutrefiFend sein, denn
ein gewisses Ohnmachtsgefühl ist stets vorhanden, und aus tiefster
Schlafhemmung wird kein Willensakt uns wecken, wenn dieselbe nicht
erst durch andere Reize oberflächlicher gestaltet worden ist, — jeden-
falls ein ungemein beruhigendes Moment für unsere Patienten in dieser
Willenssuggestion und zur vollen Würdigung der Hypnotherapie als
einer Willensschulung — nicht Willensberaubung — führt diese
Anschauung gewiss.
Referate und Besprechungen.
Knopf, Dr. H. E,, Sprachgymnastische Behandlung eines Falles
Ton chronischer Baibärparalyse. Therapeutische Monatshefte. 1899, 2.
In einem Falle von chronischer Baibärparalyse erzielte der Verfasser durch
eine drei Monate währende sprachgymnastische Behandlung bemerkenswerthe Er-
folge. Vor der Behandlung war die Sprache des Patienten fast unTerständlich,
50 dass er, um sich Tollkommen verständlich machen zu können, eine Schiefertafel
zu Hilfe nehmen musste; insbesondere waren die Vocale stark näselnd und im
Klange fast gleichlautend die Zischlaute und Nasallaute waren ebenfalls nicht
differeneirt, das „B^ von den Gaumenlauten nicht zu unterscheiden. Nach der
Behandlung vermochte der Patient langsam aber durchaus verständlich zu sprechen,
einige Vocale wurden ohne nasalen Beiklang gesprochen. Nur trat leicht Ermtid-
Wkeit ein, und blieb schnelles Sprechen nach wie vor unmöglich. Die sprach-
gymnastische Behandlung hatte noch die günstige Nebenwirkung, dass die Beweg-
lichkeit des Unterkiefers eine grössere wurde, und dieser fast in normaler Weise
nach vom und unten bewegt werden konnte, was vorher nicht möglich war.
Kurz nach der Entlassung aus der ärztlichen Behandlung entzog leider ein
todtlich endender apoplectischer Insult den Patienten der weiteren ärztlichen Be-
obachtung. Jedenfalls ermuntert das Resultat, das Knopf erzielte, zu weiteren
Versuchen mit der sprachgymnastischen Therapie bei der einer ärztlichen Behandlung
im Allgemeinen so unzugänglichen echten chronischen Bulbärparalyse. Wir haben
eben hier wieder einen Beweis dafür, dass zielbewusstes therapeutisches Vorgehen
auch bei schweren organischen Erkrankungen des Centralnervensystems zwar nicht
Heilung, so doch wesentliche functionelle Besserung zur Folge haben kann.
Grotjahn- Berlin.
Bosin, Dr. H., Ueber die compensatorische Uebungstherapie der
Tabes dorsal is. Die Therapie der Gegenwart. 1899, 1.
Die von v. Leyden zuerst empfohlene, von Frenkel und Goldscheider
systematisch ausgebildete Behandlung der Tabes durch zweckmässige gymnastische
lebongen wird vom Verfasser einer Besprechung unterzogen, in der weniger die
theoretischen Erwägungen, auf denen sich diese neue Theorie aufbaut, als Hinweise
ßr die practische Ausführung der Uebungen gegeben werden. Als Richtschnur
192 Referate und Besprechangen.
giebt der Verfasser ungefähr folgende Reihenfolge der Uebungen an: Hebungen,
Seitwärtsbewegungen, Beugungen und Streckungen der unteren Extremitäten in
Rückenlage, Uebereinanderschlagen der Beine, Kreisbewegungen. Berührungen der
Zehen, Hin- und Herrutschen der Füsse auf einem in das Bett gelegten Brett,
Uebungen am M e r k ' sehen Kletterstuhl u. A. m. Die genannten Bewegungen stellen
die leichteren, also etwa für die vorgerückteren Fälle des paraplectischen Stadiums
passenden Uebungen dar. Sie sind zunächst dreimal täglich nur eine Viertelstunde
lang zu machen. Ermüdung des Patienten ist thunlichst zu vermeiden, wie über-
haupt stets der Arzt sich zu vergegenwärtigen hat, dass er nicht wie bei der ge-
w^öhnlichen Gymnastik die Muskelkraft üben, sondern die Ck)ordinat8fahigkeit der
noch intact innervirten Muskeln so steigern will, dass sie die Functionen der
übrigen übernehmen können. Im weiteren Verlaufe der Behandlung werden öeh-
übungen an Barren ähnlichen Apparaten und später auf freier Bahn gemacht, da-
neben in der Rückenlage Treffubungen am Pendel- und Fusskegelapparat. Die
nöthigen Apparate sind von Thamm (Berlin, Karlstrasse) und Maquet (Berlin,
Beuthstrasse) zu beziehen. Auch für die weniger wichtige Gymnastik der oberen
Extremitäten sind recht sinnreiche Apparate angegeben.
Wir vermissen in der Arbeit Rosin 's einen Hinweis auf die eigenartige
Unterstützung, die der compensatorischen Uebungstheorie in geeigneten Fällen aus
der Zuhülfenahme der hypnotischen Suggestivbehandlung erfahren kann.
G r o tj a h n - Berlin.
I
Grassly Dr, Q.^ Die Hansen'sche Lehre vom Bevölkerungsstrom
und die Erneuerung des Gelehrtenstandes, insbesonders in Alt-
bayern. Friedreich'n Blätter für gerichtliche Medicin und Sanitätspolizei.
1899, I.
Die Wissensgebiete der Medicin und der Nationalökonomie, wie überhaupt
die der Biologie und der Sociologie sind nicht so streng von einander zu scheiden,
dass sie nicht mancherlei wichtige Berührungspunkte und ineinander fliessende
Grenzlinien aufwiesen. Es ist daher nur zu billigen, wenn Aerzte wie hier Grassl
auch einmal gesellschaftswissenschaftlichen Fragen ihre Au&nerksamkeit zuwenden,
wie wir ja auch umgekehrt nicht selten Nationalökonomen auf den Pfaden der
Medicin antreffen, z. B. in den Fragen der Bevölkerungslehre, der Massenemährung
u. a. m. Die Ausführungen Grassl's sind im Sinne des von seinen engeren Fach-
genossen durchaus nicht allgemein anerkannten Bevölkerungsstatistikers Hansen
gehalten und suchen in der Veränderung des Verhältnisses der Stadtbevölkerung
zur Landbevölkerung eine Gesetzmässigkeit nachzuweisen, die wir nicht anerkennen
können. Ueber die Ergänzung des Gelehrtenstandes durch vom Lande zugewanderte
Elemente finden w^ir manche treffende Bemerkung. Bedauerlich ist die Neigung
des Verfassers, aus spärlichem Material grossartige Schlussfolgerungen zu ziehen.
Auch die bevölkerungspolitischen Vorschläge, in denen der Verfasser durch künst-
liche Mittel den Zuzug der ländlichen Bevölkerung in die Stadt hemmen will,
wären am besten fortgeblieben. Grotj ahn -Berlin.
Zur Kritik der liypnotisclien Teclinilc.
Von
Theodor yan Straaten.
(Aus O. Vogt's Neurologischein Inititut.)
^Schluss.)
Wir gehen nunmehr zu der Frage nach Erzielung autosuggestiver
Bewusstseinszustände über.
Ich habe eine Reihe von Versuchen gemacht, die geeignet sind,
zur Lösung dieser interessanten Frage beizutragen. Diese Versuche
haben nach meiner Ansicht um so grösseren Werth, als sie ursprüng-
lich nicht den Zweck wissenschaftlicher Verwerthung verfolgten, sondern
aus einem rein practischen Bedürfnisse hervorgegangen waren, wes-
wegen sie umsomehr frei von vorgefassten Meinungen sind. Die
ersten Versuche bestanden in der autosuggestiven Herbeiführung eines
allgemeinen tiefen Schlafes. Sie wurden von mir zur Bekämpfung von
Schlaflosigkeit, an der ich seit ca. Vj^ Jahr litt, veranstaltet. Die Störung
bestand in der Schwierigkeit, einzuschlafen. Es dauerte meistens eine
Stunde, bis ich einschlief. Manchmal noch längere, selten kürzere
Zeit. Ich träumte viel und schlief häufig unruhig, so dass ich mich
Morgens beim Aufwachen noch schläfrig und abgespannt fühlte.
Wachte ich in der Nacht auf, was nicht selten geschah, so hatte ich
ebenfalls oft mit der Schwierigkeit des Einschlafens zu kämpfen.
Diese Versuche sind nun zu drei verschiedenen Zeitperioden ge-
macht worden. Die ersten Versuche fallen in eine Periode, wo ich
mich mit der Lehre vom Hypnotismus nur erst in sehr geringem
Maasse beschäftigt hatte. Von der einschlägigen Literatur war mir
nur ForeTs Lehrbuch bekannt. Die zweite Beihe von Versuchen
wurde zu einer Zeit gemacht, wo ich die grundlegenden Werke studirt
hatte, die Methode O. Vogt 's genauer kennen gelernt und ver-
schiedenen hypnotischen Demonstrationen beigewohnt hatte. Die dritte
Reihe von Versuchen habe ich im Anschlufs an die hypnotischen Ex-
perimente gemacht, die O. Vogt mit mir vorgenommen hat, und die
ich im zweiten Theil meiner Arbeit mitgetheilt habe.
Zeitechrift für Hypnotiainu« ete. IX. 13
194 ^&Q Straaten.
Die Resultate meiner Versuche stehen in entschiedenem Gegen-
satz zu der Anschauung, dass durch den Hypnotismus der Wille ge^
schwächt und die Selbstständigkeit beschränkt wird. Sie bestätigen
im Gegentheil die Ansicht 0. Vogt 's, dass durch den Hypnotismus
eine Erhöhung der Selbstständigkeit und eine Steigerung des Willens
erzielt werden kann.
Ueber die ersten Versuche können wir rasch hinweggehen. An-
geregt durch die Leetüre von PorePs Lehrbuch, versuchte ich auf
Grund Forel's Anschauung, dass der Schlaf als die directe Folge
eines psychischen Vorgangs, einer Autosuggestion zu betrachten sei,
durch bewusste Autosuggestionen Abends im Bett den Schlaf zu er-
zeugen. Diese Versuche habe ich zu wiederholten Malen gemacht.
Sie blieben aber ohne Erfolg. Das Misslingen der Versuche führte ich
auf das mangelhafte Vertrauen zurück, was ich den Autosuggestionen
entgegenbrachte.
Als ich nun während eines Cursus über Psychotherapie bei
0. Vogt 'einen Einblick in 0. Vogt 's Methode gewonnen hatte, und
nachdem uns 0. Vogt Patienten vorgeführt hatte, die durch eine
hypnotische Cur von ihrer Schlaflosigkeit befreit und darauf eingeübt
waren, nach einem Schluck gewöhnlichen Wassers einzuschlafen, drängte
sich mir der Gedanke auf, die einige Monate vorher gemachten Ver-
suche wieder aufzunehmen. Ich bediente mich bei diesen Versuchen
der Suggestionsform, wie ich sie bei den Demonstrationen kennen ge-
lernt hatte. Ich kam jedoch wiederum nicht zum Ziele.
Es folgt nun die dritte Reihe von Versuchen, die, wie ich schon
hervorhob, im Anschluss an die hypnotischen Experimente, die O. Vogt
mit mir vornahm, gemacht wurden.
Den ersten Versuch machte ich nach der dritten Sitzung. Die-
selbe hatte Nachmittags zwischen 4 und 6 stattgefunden. Den Abend
verbrachte ich in gewohnter Weise, und begab mich um die gew^ohnte
Zeit zur Ruhe. Im Bette legte ich mich möglichst bequem auf die rechte
Seite, legte meine rechte Hand auf die Stirn und gab mir mit leise
murmelnder Stimme Suggestionen desselben Inhalts, wie die Sug-
gestionen O. Vogt 's: Wärmeempfindung auf der Stirn, Schwere in den
Augenlidern, Indiflferenz gegen Geräusche, Gefühl von Behaglichkeit
und Ruhe, Müdigkeit und Schläfrigkeit. Ich beobachtete, dass die
Suggestionen der Wärmeempfindung unter meiner Hand, der Schwere
in den Augenlidern uach mehrfacher Wiederholung der Suggestionen
Zur Kritik der hypnotischen Technik. 196
sich realisirten. Durch das Gefühl der Schwere und durch ein ge*
rioges Kitzelgefühl an den Augen wurde die Tendenz zum Augen«
schloss mehr und mehr gesteigert. Derselbe erfolgte. Indem ich nun
mit den Suggestionen: Indifferenz gegen Geräusche, Gefühl von Be-
haglichkeit und Ruhe. Müdigkeit, Schläfrigkeit fortfuhr, dieselben in
verschiedenen Variationen wiederholend, gerieth ich in kurzer Zeit in
einen Zustand von Somnolenz. Während dieses Zustandes wiederholte
ich nunmehr die Suggestionen eines tiefen und traumlosen Schlafes.
Bald wurde ich zu träge, mit den Suggestionen fortzufahren. Ich
fühlte, wie mein Bewusstsein sich immer mehr verdunkelte. Ich ver-
sank dann plötzlich in den Schlaf. Ich schlief die ganze Nacht hin-
durch ununterbrochen. Am Morgen erwachte ich mit dem Gefühl des
Aosgeruhtseins und der Frische. Von Schläfrigkeit und Müdigkeit war
keine Spur vorhanden. Ich war mir nicht bewusst, geträumt zu haben.
Ich hatte Lust, gleich aufzustehen.
Diese Thatsachen hatten meine Erwartungen überstiegen und er-
muthigten mich zu weiteren Versuchen. Den Anreiz dazu empfing ich
aber nicht mehr allein aus dem Bedürfniss, mich von der Schlaflosig-
keit dauernd zu befreien, sondern mich interessirte nun auch, festzu-
stellen, ob wirklich die Suggestionen den Schlaf herbeigeführt hatten,
oder ob diesen Thatsachen andere Momente zu Grunde lagen. Ich
neigte a priori zu der Ansicht, dass die Suggestionen ausschliesslich
den Schlaf herbeigeführt hatten und bei einer genaueren Beurtheilung
meiner Lage kam ich zu dem Schluss, dass in meinen Verhältnissen
und Lebensgewohnheiten sich nichts geändert hatte, was einen Einfiuss
auf meinen Nachtschlaf hätte ausüben können. Glückten nun ausser-
dem zahlreiche Versuche ohne Ausnahme, so glaubte ich den aus-
schliesslichen Einfiuss der Suggestionen für gesichert halten zu dürfen.
Demnach suchte ich an den folgenden 5 Abenden in der oben be-
schriebenen Weise Schlaf zu erzielen. Ich kam jedes Mal in kurzer
Zeit zum Ziel. Bei den 3 letzten Versuchen erfolgte das Einschlafen
in emer Zeit, die ich auf etwa 3—5 Minuten schätze. Ohne Aus-
nähme war der Schlaf ein tiefer und erquickender. Ich erwachte
Morgens ohne eine Spur von Müdigkeit. Ich wurde nur einige Male
durch Lärm auf der Strasse geweckt, verfiel dann aber mit Zuhülfe-
nahme von Suggestionen in kurzer Zeit wieder in Schlaf.
Um nun in den Einfiuss der Suggestionen noch mehr Einblick
zu haben, versuchte ich an den nächsten drei Abenden einzuschlafen,
ohne mir in der angegebenen Weise Suggestionen zu geben. Ich legte
13*
196 Tan Straaten.
mich wiederum möglichst bequem hin und verhielt mich ganz passiv.
Bald tauchten Gedanken auf, die meine Aufmerksamkeit auf sich
lenkten. Unterdrückte ich sie, so traten andere dafür in mein Be-
wusstsein. Ich spürte keine Tendenz zu schlafen und ich fühlte das
Bedürfniss, die Suggestionen in Anspruch zu nehmen, mit Hülfe deren
ich in kurzer Zeit in Schlaf gerieth.
Die Erfolge, die ich jetzt mit meinen Suggestionen hatte, brachte
ich in Zusammenhang mit den Hypnotisirungs versuchen. Diese Idee
führte mich zu folgendem Experiment.
Ich ging wieder zur gewohnten Zeit zur Ruhe, suchte eine mög-
lichst bequeme Lage einzunehmen, legte meine Hand wiederum auf
die Stirn, und gab mir wieder mit leise murmelnder Stimme Sug-
gestionen. Dabei versuchte ich mich im Geiste in die beim Hypnoti-
siren bestehende ^Situation zu versetzen. Ich suchte die Lebhaftigkeit
dieser Vorstellung dadurch zu unterstützen, dass ich bei den Sug-
gestionen die Stimme 0. Vogt's nachahmte. Durch das Hören der
Suggestionen in diesem Tone wurde die Lebhaftigkeit der Vorstellung
auch in hohem Grade angeregt. Das Einschlafen erfolgte dabei in sehr
kurzer Zeit. Ich habe dieses Experiment mehrere Male mit demselben
Erfolg gemacht.
Ich versuchte nunmehr, mich allmählich von den Suggestionen un-
abhängig zu machen. Um dies zu erreichen, sprach ich die Sug-
gestionen nicht mehr, wie ich bisher gethan hatte, mit leise murmelnder
Stimme, sondern nur noch mit kaum vernehmlichem Flüstern, und ging
dann auch bald dazu über, dieselben überhaupt nicht mehr auszu-
sprechen, sondern sie mir nur noch vorzustellen. Mit beiden Arten
hatte ich gleichen Erfolg.
Bei all diesen Versuchen trat nun natürlich der Schlaf nicht jedes
Mal in gleich kurzer Zeit ein, sondern das eine Mal rascher, das andere
Mal langsamer. Einen grossen Einfiuss besass in dieser Hinsicht der
Q^müthszustand. Gemüthserregungen heiterer und angenehmer Art
liessen sich durch Suggestionen leichter beschwichtigen, als solche de-
primirender Art. Letztere stellten insofern dem Einschlafen grössere
Schwierigkeiten entgegen, als es viel schwerer war, sie durch Suggestionen
zu unterdrücken. Ich war jedoch im Stande, selbst bei heftigeren
Erregungen deprimirender Art in kurzer Zeit den Schlaf zu erzeugen.
Ich erwachte eines Nachts mit einem Gefühl von Unruhe, das durch
einen Traum veranlasst war, der gewisse mir unangenehme Dinge zum
Gegenstand gehabt hatte. Indem ich mich im Wachen noch weiter
Zur Kritik der bypnotiichen Technik. 197
hiermit beschäftigte, wiirde das Oeftthl noch mehr gesteigert. Als ich
nun einschlafen wollte, liess mich das peinigende Gefühl nicht zur
Ruhe kommen. Ich lenkte nun meine Suggestionen gegen die Unruhe,
indem ich mir wiederholt die ruhige Versicherung gab, dass die Unruhe
schwinden würde, und einem behaglichen ruhigen Gefühl Platz machen
würde. Ich gerieth bald in einen erquickenden Schlaf.
Ich ging nun dazu über, ohne Benutzung detaillirter Suggestionen
durch einfache Concentration auf die Idee: „Ich werde jetzt ein-
schlafen" mich in einen Schlafzustand zu versetzen. Ich wählte, wie
ich es bisher stets gethan hatte, die zum Einschlafen geeignetste Zeit,
die Zeit des Schlafengehens. Nach einigen Versuchen gelang es mir
ohne Weiteres, diese Idee festzuhalten, ohne dass die einzelnen Partial-
zielvorstellungen, mit denen ich früher das Einschlafen herTorgerufen
hatte, mir bewusst wurden. Ich erzielte so einen Schlaf.
Aus dieser Form hat sich dann im weiteren Verlauf der Modus
entwickelt, nach dem ich jetzt einschlafe. Wenn ich mich jetzt Abends
ins Bett lege, schliesse ich die Augen und schlafe in ganz kurzer Zeit
ein, ohne dass mir die Schlafzielyorstellung irgendwie klarer ins Be-
wusstsein kommt. Nur dann, wenn innere Erregungen drohen, mich
fiir längere Zeit wachzuhalten, bediene ich mich umständlicherer Sug-
gestionen. Solche suggestiv wirkende Zielvorstellungen kommen mir
also für gewöhnlich jetzt nicht mehr oder kaum mehr zum Bewusstsein.
Dass aber ihr physiologisches Correlat doch wirksam ist, scheint mir
aus dem geschilderten stufen weisen Schwinden der Zielvorstellungen aus
dem Bewusstsein zur Genüge hervorzugehen.
Ich habe, wie ersichtlich, bisher von den Versuchen zur Zeit des
Schlafengehens, berichtet. Ich habe ähnliche Versuche aber auch zu
anderen Zeiten gemacht. Da es mir erwünscht war, die Fähigkeit zu
besitzen, die Zeit der Arbeit durch kleine Pausen eines erquickenden
Schlafes zu unterbrechen, so versuchte ich zu verschiedenen Tageszeiten
durch Suggestionen einen Schlafzustand zu erzielen. Zu den ersten
Versuchen wählte ich die Zeit nach dem Mittagessen, später auch Zeit-
punkte, wo ich gerade ein Bedürfniss, mich auszuruhen, verspürte.
Zwar ist es mir nicht gelungen, jedes Mal tiefen Schlaf zu erzeugen,
aber ich war von Anfang an im Stande, Schlafzustände zu erzielen,
die mir ein volles Ausruhen ermöglichten.
Dadurch, dass ich mir die Vorstellungen von dem Eintreten der
einzelnen Phasen des Einschlafens und zwar bei zunehmender Einübung
in immer weniger complexer und bewusster Form, wachrief, gelang es
198 van Straaten.
mir, den Schlaf zu erzielen. Dies war mir nicht möglich gewesen,
weder zu der Zeit, wo ich nur Forel's Lehrbuch kamite, noch zu
einer Zeit, wo ich bereits eine ganze Reihe von Hypnosen gesehen
hatte, und schon in mir genau dieselben Zielvorstellungen hervorrief,
die später wirksam waren. Nachdem ich nun aber hypnolisiit worden
war, nachdem also dieselben Zielvorstellungen von aussen in mir ge-
weckt, eine suggestive Folgewirkung gehabt hatten, gelang es mir nun-
mehr durch wülkürliche Hervorrufung derselben Vorstellungen einen
gleichen Effect zu erzielen. Es fragt sich, worauf diese Aenderung in
der suggestiven Kraft der willkürlich von mir hervorgerufenen Ziel-
vorstellung des Einschlafens zurückzuführen ist. Meiner Ansicht nach
können zwei Factoren in Betracht kommen. Der eine ist der der Ein-
übung, der andere ist der, dass nach glücklich erfolgter Eirzielung
meiner Hypnotisirung durch Fremdsuggestionen mein Glaube an die
Möglichkeit der Autohypnotisirung zugenommen und in Folge dessen
die Zielvorstellung in ihrer suggestiven Folgewirkung durch hemmende
Zweifel weniger gestört wurde. Ich muss, soweit ich durch die Selbst-
beobachtung meines jedesmaligen Bewusstseinsinhaltes diese Frage ent*
scheiden kann, hervorheben^ dass ich entschieden mehr Zweifel dem
Gelingen meiner Versuche bei der ersten Versuchsreihe nach der Leetüre
von ForeTs Lehrbuch, als nach den Vogt 'sehen Demonstrationen
entgegenbrachte. Dagegen habe ich einen Unterschied in meinem Ver-
trauen zum Gelingen zwischen den erfolglosen Bemühungen vor, und
meinen erfolgreichen Versuchen nach meiner Fremdhypnose nicht con-
statiren können. Ich möchte daher diese Frage nicht weiter entscheiden.
Allgemein kann man wohl annehmen, dass beide Factoren in Betracht
kommen. . Wie die Bedeutung jedes einzelnen dabei auch sein mag,
das für uns Wichtige ist der Umstand, dass man nach Erzielung ge-
wisser Bewusstseinszustände durch Fremdsuggestion diese durch Auto-
suggestion wieder hervorrufen kann, während ihre autosuggestive Er-
zielung vor ihrem Erreichen durch Fremdsuggestion eine Unmöglichkeit ist.
Nachdem ich mit der Anwendung von Autosuggestionen zur Er-
reichung des Schlafes Erfolg gehabt hatte, so versuchte ich auch mit
Autosuggestionen gegen andere Störungen anzukämpfen. Ein acuter
Magencatarrh, den ich mir einmal zugezogen hatte, bot mir dazu Ge-
legenheit. Ich erwachte eines Morgens mit den Symptomen: Mattig-
keit, Uebelkeit, Kopfschmerzen. Ich gab mir zunächst die Suggestionen,
dass die Mattigkeit verschwinden würde, dass sie einem Gefühl von
Frische den Platz räumen würde. Unter der Einwirkung in diesem
Zur Kritik der hypnotischen Technik. 199
Sinne häufig wiederholter Zielvorstellungen hatte ich thatsächlich das
Gefühl einer Abnahme der Mattigkeit Ich verliess dann plötzlich das
Bett, machte kalte Uebergiessungen des Kopfes, rieb meinen Körper
kalt ab, und unter der fortwährenden Versicherung, dass die mir da-
durch zu Theil gewordene Erfrischung anhalten würde, dass die Kopf-
schmerzen verschwinden würden, kleidete ich mich rasch an, ffihlte
mich ganz wohl, arbeitete nach dem Frühstück den ganzen Morgen.
Später hatte ich nur ein geringes Gefühl von Mattigkeit.
Auch habe ich verschiedene Male Kopfschmerzen suggestiv be-
seitigt. Ich gehe dabei in folgender Weise vor. Ich trinke ein Glas
Citronenwasser, mit der Versicherung, dass der Kopfschmerz ver-
schwinden wird. In einigen Minuten fühle ich den Schmerz nicht
mehr. Auch andere Störungen, Gefühl von Unruhe, Traurigkeit u. s. w.
kann ich suggestiv beeinflussen.
Sodann habe ich versucht, durch Autosuggestion jenen Zustand zu
schafien, den 0. Vogt den Zustand des eingeengten Bewusstseins
nennt, und der bei mir schon in der dritten Hypnose der fünften Sitzung
hervorgerufen wurde zur Erforschung der Ursache, die mich in der
ersten und zweiten Hypnose dieser Sitzung an dem Einschlafen ge-
hindert hatte. In diesem Zustande konnte ich mich der einzelnen Ein-
drücke der voraufgegangenen Hypnose genauer entsinnen und fand auf
diese Weise den Grund, der mir im Wachsein verborgen geblieben
war. Auch schon in der dritten Hypnose der vierten Sitzung wurde
ich im eingeengten Bewusstsein aufgefordert, mir eine bestimmte
Person vorzustellen. Es war in diesem Zustande die Lebhaftigkeit
des ErinnerungsbUdes klarer als im Wachsein.
Eben jenen Zustand habe ich versucht, durch Autosuggestionen
ZTi schaffen, und in diesem Zustande die Lebhaftigkeit von Vorstel-
lungen geprüft.
Ich will versuchen, jenen Zustand zu beschreiben. In diesem Zu-
stande bin ich mir meiner Situation und meiner Umgebung weniger
klar bewusst. Je tiefer der Zustand ist, um so stärker ist der Grad des
Dunkelbewusstseins. Gegen anhaltende Geräusche bin ich in diesem
Zustande indifferent. Bei plötzlichen Geräuschen werde ich bisweilen
wack, und habe dabei auch genau das Gefühl des Wachwerdens, wie
aus dem Schlafe. Dabei wurde mir auch manchmal inne, dass ich
mich meiner augenblicklichen Situation nicht bewusst gewesen war.
Meine Aufmerksamkeit ist fest auf den Gegenstand gerichtet, von dem
ich mir eine Vorstellung verschaffen will. Jedesmal, wenn ich mir
200 van Straaten.
etwas vorstelle, habe ich dabei ein Gefühl von Spannung, das allmäh-
lich abnimmt, je deutlicher die Vorstellung wird, und mit zunehmender
Deutlichkeit der Vorstellung macht dasselbe allmählich einem Gefühl
des Entspanntseins und einer gewissen Befriedigung Platz. Mit jedem
neuen Gegenstand wiederholt sich derselbe Process. Der Grad der
Tüete des Zustandes ist ein wechselnder. Meist besteht eine Tendenz
zum Wachwerden, so dass ich mich wieder der Suggestionen bedienen
muss, um die gehörige Tiefe zu schaffen ; bisweilen besteht eine Tendenz
zum Einschlafen. Erwache ich aus diesem Schlaf, so finde ich beim
Erwachen die Aufmerksamkeit wieder auf den Gegenstand eingestellt,
den ich vorgenommen hatte.
In diesem Zustande habe ich zu wiederholten Malen Personen,
Thiere, auch complexere Situationen, z. B. Landschafben mir vorzu-
stellen versucht, und stets gefunden, dass die Lebhaftigkeit der Er-
innerungsbilder eine grössere war, als im wachen Zustande. Auch
konnte ich mich in diesem Zustande viel besser der Träume entsinnen,
die ich in der Nacht gehabt hatte, und fand eine Menge Details, die
mir im wachen Zustande nicht eingefallen waren, auch selbst, wenn
ich mich mit aller Schärfe auf den Traum concentrirt hatte.
Wie wir femer nach 0. Vogt wissen, erfahrt die Zunahme oder
Abnahme der Bewusstseinsbeleuchtung einer mit einem Gefühl ver-
bundenen Vorstellung eine proportionale Veränderung der Intensität
des Gefühls. Während ich eine stärkere Gefühlsbetonung im Zustande
des eingeengten Bewusstseins im Allgemeinen bestätigen kann, so
habe ich bisher doch zu wenig darauf mein Augenmerk gerichtet, um
zu einem endgiltigen Urtheil gelangt zu sein.
Mich hat hauptsächlich interessirt, den Zustand des eingeengten
Bewusstseins durch Autosuggestion zu schaffen und in diesem Zustande
die Lebhaftigkeit der Vorstellungen zu prüfen, um durch die ver-
mehrte Lebhaftigkeit derselben die Existenz des eingeengten Bewusst-
seins zu beweisen.
Dabei hatte ich nicht speciell im Auge, gerade jenen Zustand des
systematisch eingeengten Bewusstseins zu schaffen, der in seiner
Graduirung von Schlafhemmung und Wachsein den für psychologische
Selbstbeobachtung geeignetsten Zustand darstellt. Dagegen möchte
ich einen Punkt hervorheben, über den zu urtheilen meine Versuche
mir ermöglichen. Zwischen dem von mir hervorgerufenen eingeengten
Bewusstsein und dem Bewusstseinszustand der gewöhnlichen Concen-
tration der Aufmerksamkeit habe ich einen ganz principiellen genetischen
Zur Kritik der hypnotischen Technik. 201
Gegensatz gefunden. Wenn ich mich entschliesse^ meine Aufmerksam-
keit auf irgend etwas zu richten^ so beobachte ich in meinem Bewusst-
sein als auslösende Zielvorstellung die Idee, mich auf etwas concen-
triren zu wollen. Es lässt sich dann durch Versuche feststellen, dass
diese Idee neben der Concentration der Aufmerksamkeit als zweite
unmittelbare Folge die der Abstumpfung gegen Störungen nach sich
zieht. Ich habe dabei nicht die Idee gehabt, mich gegen diese Störungen
abzuschliessen , sondern meine auf ein bestimmtes Object gerichtete
Anfinerksamkeit hatte unmittelbar diese Abschliessung zur Folge. Wo
Dun stärkere Störungen meine Aufmerksamkeit von dem als Ziel der
Aufmerksamkeit erwählten Object abziehen, tritt nun allerdings die
Idee auf, speciell diese Störungen aus meinem Bewusstsein zu ver-
drängen. Diese Erscheinung ändert aber nichts an dem Thatbestand,
dass die primäre Zielvorstellung die der Concentration auf das dazu
erwählte Object darstellt. Ganz anders bei der Erzielung des ein-
geengten Bewusstseins. Hier ist die primäre Vorstellung die einer
Schlafhemmung, und damit eine Unempfindlichkeit gegen Störung zu
schaffen.
Also, das was bei dem gewöhnlichen concentrirten Arbeiten
höchstens secundär hinzukommt, tritt hier primär auf und hat die
grosse Concentrationsfähigkeit zur secundären Folge.
Damit ist der Gegensatz noch nicht erledigt. Wenn ich mich zu
concentrirter Arbeit entschliesse, enthält die zu dieser Arbeit führende
Zielvorstellung das Moment des Wollens, während bei Erzielung des
eingeengten Bewusstseins ich in mir die Idee wecke, dass diese Schlaf-
vorstellung passiv und spontan auftreten wird.
Bei einer solchen autosuggestiven Erzielung gewisser Bewusstseins-
zustände, wie ich sie beschrieben, handelt es sich um die willkürliche
Hervorrufung suggestiv wirksamer Zielvorstellungen. Ich habe durch
meine active Aufmerksamkeit die Idee hervorgerufen, dass diese oder
jene Erscheinung nunmehr ohne mein weiteres Zuthun auftreten würde.
Es handelt sich um Suggestionen in der strengen Definition, wie sie
0. Vogt giebt. Wenn nun solche Folgewirkungen im Anschluss an
voraufgegangene Fremdsuggestionen nunmehr willkürlich hervorgerufen
werden können, so ist damit der Machtbereich des Willens ausgedehnt.
Hiermit ist dann aber bewiesen, dass Fremdsuggestionen
in der richtigen Form angewandt, durchaus zurWillens-
stärkung führen können und nicht eine Willensschwä-
chung zur Folge zu haben brauchen.
Kritische Bemericungen Ober den gegenwärtigen Stand der Lehre
vom Hypnotismus.
Von
Dr. philos. Leo Hirschlaff, Arzt in Berlin.
(Schluss.)
Wenn wir versuchen, in eine Kritik der von Vogt aufgestellten,
«geistvollen Hypothesen über das Wesen des Schlafes und der hypnoti-
schen Phänomene einzutreten, so können wir uns im Allgemeinen mit
den psychologischen Grundanschauungen einverstanden erklären, von
denen Vogt ausgeht und deren knappe und präcise Darstellung als
ein unbestreitbares Verdienst dieses Autors bezeichnet werden muss, um
so mehr, als gerade bei der Durchsicht der hypnotischen Literatur,
von der wir einen kleinen Abriss gegeben haben, der Eindruck nicht
ausbleiben kann, dass eine schärfere Präcision der psychologischen
Grundbegriffe und eine sorgfaltigere psychologische Durchdringung und
Prüfung der Anschauungen recht häufig am Platze wäre. Gegen den
Aufbau der Vogt 'sehen Theorien im Einzelnen haben wir dagegen
einige Bedenken, deren Darlegung freilich keineswegs das hervor-
ragende Verdienst des Autors um den Fortschritt der hypnotistisohen
Wissenschaft schmälern soll. Diese Bedenken richten sich, indem wir
von allen Kleinigkeiten absehen, vornehmlich gegen folgende 3 Punkte :
1. gegen die Auffassung der Localisation der Bewusstseinsvorgänge im
Gehirn; 2. gegen die Ausdehnung des Begriffes der Suggestion und
die darauf beruhende Beobachtungsmethode Vo g t s ; endlich 3. gegen
seine Meinung über das Wesen des hypnotischen Schlafes und speciell
der partiellen Wachzustände als hypnotischer Zustände. Da die ad 2
und 3 aufgeführten Bedenken sich mehr gegen einige später zu re*
Kritische Bemerkungen über d. gegenwärt. Stand d. Lehre v. Hypnotiimus. 203
ferirende Arbeiten desselben Verfassers beziehen, so beschränken wir
uns an dieser Stelle auf den ersten Einwand, den wir gegen die Auf-
fassung von der Localisation der Bewusstseinsvorgänge im Gehirn er-
heben wollen, lieber diese Frage, die von einschneidender Bedeutung
riebt nur für die Theorie des Schlafes, sondern noch mehr für viele
andere Probleme ist, sind sich die modernen Psychologen noch immer
nicht einig. Während eine grosse Zahl derselben geneigt ist, jede
Einzelvorstellung und -Wahrnehmung, überhaupt jeden psychischen In-
halt in einer besonderen Ganglienzelle der Hirnrinde aufgespeichert zu
denken, gerade so, wie es Vogt thut, wenn er auf den Sitz der
Schlafvorstellung im Gehirn die Neurokyme zuströmen lässt, sind
andere, darunter Wundt und wir selbst der Meinung, dass diese
Hypothese unbewiesen und unzutreffend sei. Indem wir in dieser Be-
ziehung auf Wundt 's ^**) vortreffliche Ausführungen gegen Ziehen
im X. Bande der „Philosophischen Studien" hinweisen, bemerken wir,
dass die Frage der Localisation keineswegs so einfach gelöst
werden kann, wie es der oben erwähnten Anschauung entspricht. Was
wir bisher über die Leistungen des Gehirns wissen, berechtigt uns
wohl zu der Behauptung, dass die Intactheit des Gehirns, speciell der
Hirnrinde, eine wesentliche Bedingung für das Zustandekommen der
geistigen Vorgänge ist, ebenso wie z. B. die Durchlässigkeit der
Ureteren eine nothwendige Bedingung für den normalen Ablauf der
ürinsecretion darstellt. Was aber darüber hinausgeht, ist mehr als
zweifelhaft und experimentell durch nichts bewiesen. »Ja, es ist sogar
im höchsten Maasse unwahrscheinlich, dass eine Localisation der ein-
zelnen Vorstellungen in der Weise statthat, wie es Ziehen, Vogt
nnd viele andere meinen, wonach die Rindenzelle einfach den psychi-
sehen Inhalt in sich birgt. Dagegen spricht schon der ungeheure
Reichthum der Vorstellungen und der Möglichkeiten einer Combination
unter ihnen. Wollte man diese Art der Erklärung zulassen, so wäre
damit jedes Problem der Psychologie gelöst: man hätte nur die Auf-
gabe, die psychische Analyse des betreffenden Vorganges auszuführen,
um dann auf das Spiel der Neurokyme zu verweisen, die zwischen den
Ganglienzellen hin- und hereilen und die Geschäfte der Psyche be-
sorgen. In Wahrheit bietet diese Auffassung nur ein Bild, von dem
wir mit Sicherheit sagen können, dass es in dieser Gestalt nicht zu-
treffend sein kann : unsere Kenntnisse werden dadurch nicht bereichert.
Daher hat Lipps^^^ Recht, wenn er vor der physiologischen Ver-
bildlichung der psychologischen Erkenntnisse warnt.
204 Leo Hirschlaff.
Bevor wir das zweite Bedenken erläutern, das wir gegen die An-
schauungen Vogt 's aufstellen zu müssen glaubten, referiren wir zu-
nächst die Arbeiten, die zur Theorie der Hysterie Beiträge geliefert
haben. In erster Reihe ist hier eine psychologische Studie Land-
mann's^") zu nennen, der die von Pierre Janet"*) aufgestellte
Theorie der Hysterie bekämpft. Jan et und Las^gue hatten den
Geisteszustand der Hysterischen durch Zerstreutheit und Gleichgiltig-
keit gekennzeichnet und die Wurzel der Hysterie in der ,ylch*
Wahrnehmung'' gesucht. Nach ihnen wird das Ich-Bewusstsein ge-
bildet aus den Bewusstseinselementen, die gleichzeitig in der Seele
vorhanden sind. Je beschränkter das Bewusstseinsfeld, desto mehr
gewöhnen sich die Kranken, gewisse Empfindungen unter der Schwelle
des Bewusstseins liegen zu lassen, weil sie sie nicht in das Ichbewusst-
sein au&ehraen können. Die hysterischen Anästhesien entstehen also
nach Jan et dadurch, dass die psychologisch vorhandenen Elementar-
empfindungen zwar erfasst, aber nicht mehr in das Ichbewusstsein aufge-
nommen werden; femer durch Schwäche und Gleichgiltigkeit, wodurch
die Patienten das Interesse und die Aufmerksamkeit für ihre Empfin-
dungen einbüssen. Gegen diese Auffassung wendet sich Land mann,
indem er darauf aufmerksam macht, dass die Analyse der seelischen
Vorgänge 3 Bestandtheile aufzeige, nämlich den Inhalt einer Vorstel-
lung, das Bewusstsein dieses Inhaltes und das Bewusstsein der dabei
stattfindenden Thätigkeit. Die Localisation des Inhaltes der Vorstel-
lungen verlegt Laudmann in die subcorticalen Gehirnganglien, das
Bewusstsein der Vorstellungsinhalte dagegen ebenso wie das Bewusst-
sein der Vorstellungsthätigkeit in die Grosshirnrindenzellen. Der Vor-
stellungsact entsteht also nach ihm normaler Weise dadurch, dass
diejenigen Hirnrindenzellen, von denen der Inhalt der Vorstellungen
bewusst gemacht wird, mit denen verbunden sind, von denen die Vor-
stellungsthätigkeit bewusst gemacht wird. Eine hysterische Anästhesie
kann demnach durch dreierlei Störungen zu Stande kommen: 1. der
Empfindungsinhalt wird nicht bewusst gemacht; dann weiss man, dass
man fühlt, aber nicht, was man fühlt; 2. die Empfindungsthätigkeit
wird nicht bewusst; dann weiss man nicht, dass man fühlt; 3. beide
werden nicht bewusst; dann fehlt jedes Zeichen einer Empfindung.
Mit Hülfe dieser Theorie gelingt es leicht, jede noch so merkwürdige
Erscheinung des hysterischen Symptoraencomplexes zu erklären. Das
Verhalten der Reflexe bei hysterischen Anästhesien, das Verhalten der
Pupillen bei hysterischen Amaurosen, die paradoxen Erscheinungen^
Kritische Bemerkungen über d. gegenwärt. Stand d. Lehre v. Hypnotismui. 206
die bei farbenblinden Hysterischen beobachtet worden sind: dies Alles
bietet der Erklärung nicht die geringsten Schwierigkeiten mehr. Die
Amnesien entstehen durch Unthätigkeit der Nervenfäden, die die Hiro-
rindenzellen untereinander verbinden; die Abulien der Hysterischen
kommen dadurch zu Stande, dass die Bewegungsvorstellungen in den
subcorticalen Gefiihlsganglieu nicht mehr jene Erregung erwecken,
durch welche die motorischen Centren zur Auslösung der Muskel-
contractionen gereizt werden; der normale Wille endlich ist eine psy-
chische Thätigkeit, die darin besteht, dass durch eine Bewegungs-
Vorstellung das Gefühl der Lust zur Auslösung bestimmter Muskel-
thätigkeiten erregt wird. Wir sehen also, dass alle Erscheinungen des
normalen und krankhaften Seelenlebens auf dem Boden der Land-
mann'schen Theorie leicht ihre Erklärung finden; schade freilich, dass
dies nur solange der Fall ist, als man die aufgestellten Hypothesen nicht
mit kritischen Augen mustert. In Wahrheit nämlich ist die vermeint-
liche psychologische Analyse der Seelenacte in die 3 oben erwähnten
Bestandtheile durchaus keine psychologische, sondern vielmehr eine
logische Analyse, deren Bestandtheile sich im Bewusstsein auch bei
schärfster Selbstbeobachtung discret nicht nachweisen lassen. Daher
ist es von vornherein verkehrt, für diese logischen Abstractionen eine
anatomische Localisation im Gehirn zu suchen. Man müsste denn, um
ein analoges Beispiel anzuführen, zur Erklärung des Zustandekommens
der Vorstellung eines Tisches annehmen, dass die Vorstellung eines
drei- oder vierbeinigen Gegenstandes, die Vorstellung einer bestimmten
Farbe und Form, die Vorstellung der Grösse, des Gewichtes etc. im
(rehim besonders localisirt wären und sich vereinigen müssten, um die
Vorstellung des Tisches entstehen zu lassen. Alle diese Eigenschaften
sind in abstracto, rein logisch betrachtet, zweifellos Componenten der
Tiachvorstellung ; in psychologischem Sinne jedoch sind sie es ebenso-
wenig, wie sich in unserer Selbstbeachtuag das Bewusstsein einer
Vorstellung von dem Inhalte oder der Thätigkeit derselben isoliren lässt.
Während Landmann die von Jan et inaugurirte Auffassung der
Hysterie bekämpft, haben Ranschburg und Hajos ^*®) Veranlassung
genommen, die Jan et 'sehe Theorie zu bestätigen. Nach ihren Aus-
führungen sind die hysterischen Anästhesien und Amnesien Folge-
zostände der Einengung des Ichbewusstseins, welche sich auf Grund
einer absoluten oder relativen Verminderung der associativen Energie
einstellt. Im Gegensatze dazu bemerkt Döllken^^^), dass für das
Zustandekommen der Amnesie der Hypnotisirten nicht die Associations-
206 I<«o Hinchlaff.
Störung, sondern vielmehr die Perceptionsverminderung als wesentlich
angesehen werden müsse, da ja sonst auch die Parauoiker amnestisch
sein müssten. Zugleich bezeichnet er als einen Fortschritt in der
Theorie der Hysterie die Erkanntniss, dass dieser Erkrankung nicht
eine allgemeine reizbare Schwäche des Nervensystems, wie früher an-
genommen, zu Grunde liege, sondern vielmehr nur eine Schwäche ge-
wisser Theile, verbunden mit einer compensatorischen Uebererregbarkeit
anderer Theile des Nervensystems, eine Thatsache, auf die auch die
Erscheinung der electiven Suggestibilität zurückzuführen ist. Auch
nach der von Vogt gegebenen, oben ausführlicher dargestellten Theorie
entstehen die hysterischen Anästhesien durch Herabsetzung der Erreg-
barkeit der betreffenden Centren in Folge von Anämie, sind also als
partielle Schlafzustände des Gehinis aufzufassen ; während bei der
Katalepsie eine Stauung der Neurokyme durch Verminderung der corti-
calen Ableitung postulirt wird.
Wir treten nunmehr in die Besprechung des wichtigsten Punktes
der Lehre vom Hypiiotismus ein, von dem die zukünftige Bedeutung
dieser wissenschaftlichen Disciplin fast ganz und gar abhängig ist: wir
meinen die Definition des Begriffes der Suggestion und die Auffassung
ihres eigentlichen Wesens. Der Bedeutung des Gegenstandes ent-
sprechend wollen wir auf diesen Punkt ein wenig ausführlicher ein-
gehen. Eine der wesentlichsten Sünden der Vertreter der hypnotisti-
schen Wissenschaft besteht darin, dass sie den Begriff der Suggestion
zu weit fassen. So definirt, um einige Beispiele herauszugreifen,
Berillon ^**): „La Suggestion est Tart d'utiliser Taptitude que prä-
sente un sujet ä transformer l'idee re^ue en acte"; und er gründet
darauf die Principien einer neuen Suggestiv-Pädagogik , die wir
an anderer Stelle ^**) bereits ausführlicher abgelehnt haben. Stell ^**)
geht von der Auffassung aus, dass die Suggestion nichts weiter sei
„als eine Idee, eine Vorstellung, die in uns durch verschiedene Mittel
seitens der organischen und unorganischen Aussenwelt wachgerufen
wird und die nun den Ausgangspunkt für weitere Denkprocesse für
uns bildet, ohne dass uns dieser ursächliche Zusammenhang stets klar
zum Bewusstsein kommt". Von diesem Standpunkte aus fällt es
natürlich dem Autor leicht, die ganze Entwickelung und Geschichte der
Menschheit, die Wunderthaten Christi ebenso wie die Gewohnheit des
Tabaksgenusses, auf Suggestion zurückzuführen. Auch Tyko Brunn-
berg ^^^), der den Hypnotismus als pädagogisches Hilfsmittel empfiehlt^
erklärt „das ganze psychische Geschehen als eine zusammenhängende
Eritische Bemerkungfen über d. gegenwärt. Stand d. Lehre v. Hypnotismus. 207
Reihe natürlicher Sugge8tionen'^ Jedoch sind die Autoren, die den
Begriff der Suggestion in der Definition bereits so weit fassen, dass
sie die Erzeugung jeder Wahrnehmung oder Vorstellung durch äusseren
Anlass darunter verstehen, immerhin in der Minderzahl. Für nie ist,
wie Lipps mit Recht bemerkt, das Wort Suggestion zu einem schäd-
lichen Modewort geworden. Wir werden freilich unten nachweisen
können, dass auch die grosse Mehrzahl derer, die den Begriff der
Saggestion enger definiren, in Wahrheit doch ihren theoretischen Aus-
führuDgen sowohl wie ihrem practischen Vorgehen einen entschieden zu
weit gefassten Begriff der Suggestion zu Grunde legen.
Das specifische Merkmal, das nach Bergmann^^^) die Suggestion
Ton den gewöhnlichen Vorstellungen unterscheidet, ist der graduelle
Intensitätsunterschied, der zwischen beiden statthat: die suggerirte
Vorstellung wird mit hallucinatorischer Deutlichkeit erblickt. Zum
Beweise dafür, dass die Bealisation der Suggestionen lediglich eine
Folge ihrer aussergewöhnlichen Intensität sei, erinnert Bergmann an
die vorzeitigen Reactioueu im Wachzustande, die auch nichts Anderes
seien als Hallucinationen oder intensive Vorstellungen, die sich in Folge
ihrer Intensität von selbst realisiren. Dabei besteht zwischen der
physiologischen Hallucination, wie sie in der Hypnose hervorgerufen
werden kann, und der pathologischen Hallucination ein bemerkens-
werter Unterschied. Die physiologische Hallucination kommt zu Stande
durch Hervorrufung einer anderen Vorstellung von grosser Intensität
und Deutlichkeit, so dass der richtige Eindruck dadurch zurück-
gedrängt wird; die pathologische Hallucination dagegen resultirt
aus der mangelhaften Function der peripheren Apparate oder aus
Störungen der Apperception. Ein ähnlicher Gedanke scheint auch
Liebe ault^*^) vorzuschweben, wenn er von einer Verstärkung der
Vorstellungen durch Gefühle spricht, gerade wie die Aureole den Kopf,
den sie umgiebt, stärker hervortreten liesse.
Ein anderes Merkmal, das die Suggestion gegenüber anderen
seelischen Vorgängen zu characterisiren geeignet ist, wird von Lichten-
stern^*^) folgendermaassen ausgedrückt: „Suggestion ist die that-
sächliche Hervorrufung eines seelischen oder körperlichen Zustandes
uur durch Hervorbringung der üeberzeugung, dass er bestehe." Wollte
man der von Friedraann^*®) entwickelten Theorie folgen, so wäre
allerdings diese Ueberzeugung die unausbleibliche Folgeerscheinung
der abnormen Intensität der erweckten Vorstellung. Der Definition
▼. Lichtenstern's entspricht ziemlich genau die Definition, die
208 Leo Hirschlafif.
Porel**^) von dem Begriflfe der Suggestion gegeben hat, wenn er
sagt: „Als Suggestion bezeichnet man die Erzeugung ein^r dynamischen
Veränderung im Nervensystem eines Menschen oder in solchen Func-
tionen, die vom Nervensystem abhängen, durch einen anderen Menschen
mittelst Hervorrufung der bewussten oder unbewussten Vorstellung, dass
jene Veränderung stattfindet oder bereits stattgefunden hat oder statt-
finden wird."
Eine ausführliche Untersuchung über den Begriff der Suggestion
verdanken wir Vogt und Lipps. Vogt**^) definirt die Suggestion
als „eine affectlose Zielvorstellung mit abnorm intensiver Folge Wirkung".
Als Zielvorstellung bezeichnet er „die Vorstellung von dem Auftreten
eines ihrem Inhalte nach in der Zielvorstellung enthaltenen psycho-
logischen Vorganges". Die abnorm intensive Folge Wirkung beruht
nicht auf einer starken Gefühlsbetonung, sondern auf dem Object-
inhalt der Zielvorstellung als solcher. Das physiologische Correlat der
Zielvorstellung kann in Folge von Einübung wirken, ohne selbst den
Intensitätsgrad des Bewusstwerdens zu erreichen. Die Zielvorstellung
enthält stets das physiologische Correlat, den Objectinhalt, auf den
sich die Folgewirkung bezieht. Da wo die Zielvorstellungen eine
Hemmung enthalten, ist der Objectinhalt jenes positive Moment, das
entweder durch Absorption oder nach dem Modus der Schlafhemmung
die Negation erzielt. An einer anderen^Stelle giebt Vogt zu, dass
es auch affectstarke Zielvorstellungen und Suggestionen gäbe; doch
seien die affectiven Suggestionen von den einfachen Grefühlswirkungen
zu unterscheiden. Bevor wir diese Auffassung kritisiren, referiren wir
zunächst zwei vortreffliche Arbeiten von Lipps, die dem gleichen
Gegenstande gewidmet sind. In einem Vortrage in der Münchener
Psychologischen Gesellschaft ^'*®) wendet sich Lipps gegen Wundt^*^),
der die Suggestion zurückführt auf eine Einengung des Bewusstseins
auf die durch Association erregten Vorstellungen. Diese Auffassung
verwirft Lipps auf Grund folgender Argumente: 1. es ist nicht
immer eine Einengung vorhanden, sondern manchmal sogar sehr viele
Vorstellungen auf einmal gegeben; 2. alle Vorstellungen werden durch
Associationen erregt ; 3. zwischen passiver und activer Aufmerksamkeit
(die letztere soll bei der Suggestion lahmgelegt sein) besteht kein
Unterschied, da beide Ausfluss unserer Activität sind. Eine Ein-
engung ist bei dem Vorgange der Suggestion nur in dem Sinne vor-
handen, als eine Hemmung, Lähmung, Ausschaltung der Gegenvorstel-
lungen erforderlich ist; aber dies ist nicht eine Einengung des Be-
Kritische fiemerkungen über d. gegen wart. Stand d. Lehre v. Uypnotismus. 209
wusstseins, sondern vielmelir der Erreguugsfabigkeit der potentiell in
OBS gegebenen Vorstellungen oder der Ausstrahlung der erregenden
Wirkaug der associativ verlaufenden Bewegung. Daher definirt Lipps
selbst: „Suggestion ist die Erzeugung eines über das blosse Dasein
einer Vorstellung hinausgehenden psychischen Vorganges in einem In-
<li?iduum seitens einer Person oder eines von jenem Individuum ver-
schiedeneo Objectes, wofern das Zustandekommen der fraglichen psy-
chischen Wirkung unter Bedingungen stattfindet; die nicht als adäquate
bezeichnet werden können". Adäquate Mittel zur Erzeugung eines
Urtheüs sind: Gründe; zur Erzeugung von Empfindungen: sinnliche
Beize; zur Erzeugung von Willensacten : das Bewusstsein vom Werthe
eines Objectes oder Gewohnheit. Dagegen kommt fcei der Suggestion
die psychische Wirkung zu Stande „durch eine in ausserordentlichem
Maasse stattfindende Hemmung oder Lähmung der über die nächste
ipproducirende Wirkung der Suggestion hinausgehenden Vorstellungs-
bewegung". In der diesem Vortrage folgenden Discussion stellt
V. Schrenck-Notzing eine etwas abweichende Definition der Sug-
gestion in folgenden Worten auf: „Suggestion ist Einschränkung der
Associationsthätigkeit auf bestimmte Bewusstseinsinhalte^ lediglich
durch Inanspruchnahme* der Erinnerung und Phantasie, in der Weise,
dass der Einfluss entgegenwirkender Vorstellungs Verbindungen ab-
geschwächt oder aufgehoben wird, woraus sich eine Intensitätssteigerung
des suggerirten Bewusstseinsinhaltes über die Norm ergiebt. Bei In-
dividuen, die im Augenblicke der Erzeugung eines psychischen In-
haltes noch nicht über Gegenvorstellungen verfugen (Thieren, Kindern,
Wilden, Ungebildeten) kennzeichnet sich der betreflfende psychische
Inhalt erst dann als suggerirt, sobald er seine Intensität gegenüber der
erst nachträglich gebildeten, (im Sinne der Correctur und Hemmung)
entgegenwirkenden Vorstellungen in der oben genannten Weise be-
hauptet." In noch ausführlicherer und klassisch grundlegender Weise
hat Lipps seinen oben gekennzeichneten psychologischen Standpunkt
in dieser Frage vertreten in einem Vortrage in der philos.-philol.
Classe der k. b. Academie der Wissenschaften zu München vom
6. März 1897.
Zur Kritik der von Vogt und Lipps aufgestellten Definitionen
des Suggestionsbegriflfes haben wir Folgendes zu bemerken: Wenn
Vogt neben der abnormen Intensität der psychophysischen Vorgänge,
die wir bereits oben als ein Characteristicum der Suggestionen erkannt
haben, das Auftreten einer Zielvorstellung zum Zustandekommen der
Zeitschrift für Hypnotismus etc. IX. 14
210 ^eo Hirachlaff.
Erscheinungen für erforderlich hält, so müssen wir dies aus psycho-
logischen Gründen bestreiten. Es mag wohl vorkommen, dass eine
solche Zielvorstellung ausnahmsweise im Eewusstsein der Hypootisirten
auftritt und zur Realisation der Suggestionen beiträgt; z. B. wenn sich
die Suggestion der Katalepsie verwirklicht, weil der Hypnotisirte in
Folge der Worte des Hypnotiseurs in Aufregung geräth und furchtet,
der Hypnotiseur könne eine so grosse Gewalt über ihn haben, dass er
in der That diese für ihn unangenehme und befremdliche Erscheinung
hervorrufen könne. Aber solche aflfectstarken Suggestionen sind, wie
Vogt selbst bemerkt, selten. Von diesen Ausnahmen abgesehen, giebt
es aber in dem Bewusstsein der Hypnotisirten keine Zielvorstellungen,
ebenso wie wir keine Zielvorstellung in unserem Bewusstsein entdecken
können, wenn wir willkürlich den Arm erheben. Die Annahme, dass
die Zielvorstellungen unbewusst vorhanden sein könnten, müssen wir
ebenfalls ablehnen, da unbewusste Vorstellungen für uns eine contra-
dictio in adjecto sind. Auf dem gleichen Standpunkte scheint übrigens
auch Vogt zu stehen, da er erklärt, „dass die Supposition von unbe-
wussten oder unterbewussten psychischen Erscheinungen zum Zwecke
der Ausfüllung der psychischen Causalreihe unzulässig sei, wenigstens
vom psychologischen Standpunkte aus." Die- Zielvorstellungeu, mit
denen vielfach auch die moderne Psychologie arbeitet, indem mau sie
bei den Willkürbewegungen als einen nothwendigen Bestandtheil hin-
stellt, mögen vielleicht logische Postulate sein: psychologischen Beob-
achtungen entspringen sie nicht.
Das Wesentliche der von Lipps aufgestellten Begriffsbestimmung
der Suggestion scheint uns in den „inadäquaten Bedingungen" gelegen
zu sein, die nach ihm das characteristische Merkmal der Suggestionen
sind. Auch v. Schrenck-Notzing scheint auf das Gleiche hinaus-
zukommen, wenn er von der Abschwächung oder Aufhebung des Ein-
flusses entgegenwirkender Vorstellungsverbindungen spricht. Hiermit
ist in der That ein neuer Factor gegeben, der geeignet sein dürfte, die
Suggestionen von allen anderen Seelen vergangen scharf und präcise
abzugrenzen. Wenn ich einem Wachen sage, er sei ein Hund und
werde auf allen Vieren im Zimmer umherspringen und bellen, so lacht
er mich aus, weil seine ürtheilskraft ihm die betreffenden Gegenvor-
stellungen zur Verfügung stellt und ihm beweist, dass er kein Hund
ist. Sage ich dagegen das Gleiche einer Somnambulhypnotischen, so
wird sich meine Behauptung realisiren. Was ist bei diesem Vorgange
wesentlich? Auf Seiten des Hypnotiseurs die Thatsache, dass die auf-
Kritische Bemerkuojo^en über d. gegenwärt. Stand d. Lehre v. Hypnotismus. 211
gestellte BehauptuDg unmotiTirt und unsinnig, der Wirklichkeit wider-
sprechend ist; auf Seiten der Hypuotisirten, dass sie trotzdem in die
Wirklichkeit übersetzt wird. Diese beiden fiestandtheile sind für das
Zustandekommen einer Suggestion im engeren Sinne erforderlich: eine
unmotivirte und der gegenwärtigen Wirklichkeit widersprechende Be-
hauptung auf der einen und die Annahme und Ausführung derselben
auf der anderen Seite, deren psychische Ursache wir unten erläutern
werden. Nur wenn wir an diesem strengen Begriffe der Suggestion
festhalten, ist dieselbe ein von deu sonstigen seelischen Vorgängen ab-
greozbares Phänomen. Demnach sind fast alle ,,Suggestionen^, die wir
in therapeutischer Beziehung anwenden, überhaupt keine Suggestionen
im strengeren Wortsinne. Wenn wir einem Patienten sagen, er solle
oder werde sich von jetzt an bemühen, eine vernünftige Lebensweise
zu führen, er werde guten Appetit, Schlaf, Stuhlgang haben und sich
Dach dem Erwachen wohl fühlen, so sind das keine eigentlichen Sug-
gestionen, sondern vielmehr Rathschläge, Ermahnungen, Hoffnungen
und Wünsche, die sich auch im wachen Zustande mehr oder weniger
realisiren würden, da sie ja durchaus richtig und motivirt sind. Mur
die experimentellen Suggestionen, vor deren Anwendung wir am An-
fange unserer Arbeit gewarnt haben, sind wirkliche Suggestionen sensu
strictiori. Da wir gesehen haben, dass die Kunst des Hypnotiseurs
darin bestehen muss, seine Heil- „Suggestionen^ möglichst wahrheits-
gemäiss zu motiviren, so können wir die Behauptung rechtfertigen, dass
ein geschickter Hypnotiseur weniger Gebrauch macht von den Sug-
gestionen als vielmehr von psychotherapeutischen Vorstellungen, Rath-
schlägen und Ermahnungen. Fügen wir hinzu, dass die Realisation
der eigentlichen Suggestionen fast ausschliesslich auf die tiefen Som-
nambulhypnosen beschränkt ist, und dass diese tiefen Hypnosen, wie
oben nachgewiesen, aus ethischen Gründen verwerflich sind, so haben
wir unseren Standpunkt in dieser Frage dahin zu präcisiren. dass der
therapeutische Hypnotismus weder von einer eigentlichen Hypnose noch
von wirklichen Suggestionen Gebrauch machen dürfe. Eine eingehendere
Begründung dieses Standpunktes kann erst weiter unten erfolgen.
In guter Uebereinstimmung über die soeben von uns entwickelte
Ansicht über das Wesen der Suggestion stehen die Definitionen, die
William Hirsch^'^*) und Agathon de Potter^*"^) diesem Begriffe
gegeben haben. William Hirsch definirt: „Suggestion ist die Er-
zeugung von Empfindungen, Stimmungen und Vorstellungen, welche sich
/u ihren physiologischen Erregern in einem inadäquaten Verhältniss
14*
212 Leo Hirschlaff.
befindeD. Unter physiologischeD Erregem ist nicht nur der eigentliche,
auslösende Reiz, sondern die gesammten Componenten verstanden, die
das physiologische Correlat einer psychischen Erscheinung in eindeutiger
Weise bestimmen. Eine suggerirte Vorstellung ist daher eine inducirte
WahnvorstelluDg, unterschieden nur durch eine geringere Stabilität."
In ähnlichem Sinne definirt Agathen de Potter: „Die Suggestion^
ist nicht ein Act, durch den eine Idee dem Gehirn eingeführt und von
ihm acceptirt wird, wie Bernheim behauptet hat, sondern das ist
Belehrung und Beweis. Man suggerirt vielmehr falsche oder zweifel-
hafte Ideen, deren Wahrheit möglich, dem Subject aber noch nicht
bewiesen ist." Wir fügen noch einmal hinzu, dass dies wesentlich für
die experimentellen und nur für einen kleineren Theil der therapeu-
tischen Suggestionen Geltung hat, wie oben nachgewiesen.
Bevor wir das Kapitel der Definition der Suggestion verlassen,
müssen wir noch an einen Factor erinnern, der nach unserer Auffassung
für das Wesen derselben characteristisch ist und dessen wir schon früher
Erwähnung gethan haben. Man hat behauptet — und nicht ganz mit
Unrecht — dass für das Wesen der Suggestiv- Phänomene der psychische
Zwang kennzeichnend sei, unter dem sich die Suggestionen dem Gehirn
des Hypnotisirten passiv aufdrängen und sich realisiren. Besonders die
Nancy'er Schule hat diesen passiven Zwang urgirt und darin einen
characteristischen Unterschied vom Wachleben gefunden. Indessen
müssen wir daran festhalten, dass hierin nicht eine durchgängige Eigen-
thümlichkeit der Suggestionen gegeben sein könne. Wir haben oben
den Nachweis erbringen können, dass eine ganze Zahl von Suggestionen
therapeutischer und experimenteller Natur sich im Gegentheile dadurch
characterisirt, dass die Activität der Hypnotisirten, freilich ohne dass
diese sich über diesen Umstand klar zu sein brauchen, zur B.eali8irung
der Suggestionen mit herangezogen wird. Wir hatten gesehen, dass
die Suggestion der Vesication sich nicht in der Weise realisiren kann,
dass das psychophysische Correlat der erweckten Vorstellung eine directe
Wirkung auf die Haut der Hypnotisirten entfaltet, sondern vielmehr
nur unter der Bedingung, dass die active Mithülfe der betreffenden
Versuchsperson nicht unterbunden wird. Wir hatten es wahrscheinlich
gemacht, dass auch bei der Realisirung anderer Suggestionen das
Gleiche stattfände, so bei der Suggestion des Stuhlganges, der Heilung
von Warzen, der Verwandlung der Persönlichkeit etc. Ja, wir können
sogar behaupten, dass diese active Mithülfe der Patienten in den meisten
Fällen unerlässlich und für den Erfolg der Suggestivbehandlung aus-
Kritische fiemerkungen über d. gegenwärt. Staod d. Lehre v. Hypnotismus. 213
schlaggebend ist. Zwar giebt es eine Reibe von Fällen, hauptsächlich
bei SomDambulhypnotischen, bei denen es zur Entfernung eines be-
stehenden Kopfschmerzes, einer Anästhesie oder irgend eines anderen
krankhaften Symptomes genügt, die yöUig unmotivirte Suggestion zu
geben, das betreffende Symptom sei bereits verschwunden oder werde
sofort verschwinden. In den meisten Fällen ist jedoch der Hergang
der, dass wir in der Hypnose die Versicherung geben, es werde all-
mählich eine Besserung der bestimmten Krankheitserscheinungen ein-
treten. Tritt diese Besserung dann nach mehr minder langer Zeit ein,
so glauben wir, dass nicht die Suggestion allein daran schuld sei,
sondern dass dieselbe in das gesammte associative Milieu des Seelen-
lebens Eingang gefunden und alle dort verfügbaren Kräfte in den
Dienst der gegebenen Suggestivvorstellung gebracht habe. Die Ueber-
zeugang, die Hoffnung, der Glaube, dass die Besserung eintreten werde,
wirken dabei zweifellos mit; aber sie wirken nicht so unmittelbar und
ausschliesslich, wie in dem erst erwähnten Falle, den wir als den Typus
einer echten, hypnotischen Suggestion im engeren Sinne bezeichneten.
Im Gegensätze dazu möchten wir in der zweiten Art der Realisation
der gegebenen Heilvorstellung mehr einen psychotherapeutischen Vor-
gang erblicken, da es sich um Factoren handelt, deren Wirksamkeit
nicht an den hypnotischen Zustand als solchen gebunden ist. Wir er*
achten es jedenfalls für geboten, diese beiden Möglichkeiten sowohl in
psychologischer, wie in therapeutischer Hinsicht zu unterscheiden.
Es schliesst sich an diese Erörteioing die Auffassung des Begriffes
der Suggestibilität, über die eine Einigung unter den Autoreu noch
nicht erzielt ist. Bergmann^ ^^) behauptet, die Suggestibilität sei
ein Zustand von gesteigerter Intensität der Vorstellungen, ein Ueber-
schreiten der psychischen Reizschwelle, jenseits deren die Vorstellung
ihren rein psychischen Character verliert und sich rein automatisch
realisirt. Dabei sei es nicht nöthig, wie er behauptet, eine Lähmung
von ürtheil und Willkür anzunehmen, denn es sei eine Fundamental-
eigenschaft des menschlichen Geistes, Vorstellungen von genügender
Intensität unwillkürlich zu objectiviren. Die Suggestibilität sei also
kein specifischer Bewusstseinszustand. V^ogt unterscheidet, was psy-
chologisch von Interesse " ist, die Suggestibilität, das heisst die Fähig-
keit, Saggestionen zu realisireu, von dem Festhalten der suggestiv er-
zengten Constellationsverhältnisse. Döllken^*') erklärt die Sug-
gestibilität mit Jendrassik als eine Zustandsänderung in den
associativen Bahnen und Centren. Denn mit der Beizempfänglichkeit
2U I^eo Hirschlaff.
nehme auch die Möglichkeit ab einer quantitativ normalen Verbindung
der einzelnen Wahrnehmungen und Vorstellungen, ähnlich wie bei der
Ermüdung und dem Genuese von Narcoticis, z. B. Alcohol: die Sinne
functioniren normal, während die Associationen spärlicher geworden
sind. Der Zustand verminderter Empfänglichkeit der Centren in der
Hypnose hat nach Döllken nicht den Character einer Lähmung in
Folge von Vergiftung oder Ermüdung, sondern es handelt sich, wie
Jendrassik nachgewiesen, nur um eine Auf hebuug der Erregbarkeit
der verbindenden Elemente, so dass eine Restitution der Nerven-
elemente nicht stattzufinden brauche. Döllken fugt hinzu, dass nicht
nur die Bahnen in ihrer Erregbarkeit verändert sind, sondern dass
auch der Zelltonus herabgesetzt oder erhöht sei. Li6beault**^
setzt -die Suggestibilität in Parallele zur Willensschwäche; Berillon
behauptet, die Suggestibilität stehe im directen Verhältniss zur in-
tellectuellen Entwickelung des Subjectes, während William Hirsch
den entgegengesetzten Standpunkt vertritt. Diese Gegensätzlichkeit
ist leicht verständlich, wenn man, analog der oben gegebenen Aus-
einandersetzung über das Wesen der Suggestion, auch zwei Arten der
Suggestibilität unterscheidet. In dem einen Falle, der zumeist in den
oberflächlichen und mitteltiefen Hypnosen verwirkUcht ist, ist weder
die Perceptionsfähigkeit der Sinnesorgane, noch die höheren seelischen
Functionen des ürtheilens und Wollens erheblich verändert; häufig
sogar tritt geradezu eine Verschärfung dieser Functionen ein, wie sie
ja auch zur Verwirklichung der Heilvorstellungen meist wünschens-
werth und erforderlich ist. In der tiefen Hypnose dagegen, in der
sich unmotivirte Suggestionen verwirklichen, können sämmtliche an-
gegebenen Functionen vermindert bis aufgehoben sein. Am meisten
characteristisch und als specifisches Merkmal der hppnotischen Suggesti-
bilität im engeren Sinne anzusehen, ist dabei nach unserer Auffassung
die Verminderung der Urtheilsfähigkeit, die Kritiklosigkeit, die in dem
Nichtauftreten der Gegenvorstellungen sich zeigt. Während wir mit
Berillon in der erst erwähnten Art der Suggestibilität im weiteren
Sinne einen normalen und psychologisch leicht verständlichen Vorgang
erblicken, dessen therapeutische Verwerthung wir uns nicht entgehen
lassen sollten, obwohl wir ihn freilich nicht als Suggestibilität an-
erkennen, halten wir die zweite Form der Suggestibilität im engerem
Sinne aus hygienischen und ethischen Gründen für schädlich, in Ueber*
einstimmung mit William Hirsch und Grossmann.
Wir kommen zur Begriffsbestimmung und Eintheilung der hypno*»
Kritisclie Bemerkungen aber d. geg^enwärt. Stand d. Lehre t. Hypnotismuii. 215
tischen Zustände. In dieser Beziehung hat Max Hirsch ^*^) ver-
sucht, die früher üblichen Eintheilungen der Hypnose, die schon Moll
mit zwingenden Gründen abgelehnt hat, durch eine Modification zu
ersetzen. £r unterscheidet 4 Arten und Grade hypnotischer Zustände :
1. die Captivation, d. i. ein Wachzustand, in dem Suggestionen an-
genommen werden; 2. die Somnolenz, ein passiver Ruhezustand des
Gehirns; 3. die Schlafillusion; 4. die Somnambulhypnose. Dagegen
unterscheidet Crocq-fils ^•^), dessen Auffassung wir uns unten an-
schhessen werden, nur 2 Typen des hypnotischen Schlafes: a) den
somnambuloiden Zustand, in dem Bewusstseiu und Sensibilität erhalten
sind; b) den somnambulen Zustand mit Verlust des Bewusstseins und
der Sensibilität, mit Automatismus und Amnesie. Ferrand***) er-
innert an den Unterschied zwischen hypnogenen und narcotischen
Schlafmitteln und gruppirt die hierher gehörigen Erscheinungen
folgend er ro aassen : 1. das hypnotische Stadium, in dem eine Auf-
hebung des Bewusstseins und der Willensthätigkeit in Folge Alteration
der Grosshirnrinde statthaben soll; 2. das narcotische Stadium, indem
ein Verschwinden aller peripheren Reflexe eintritt, weil das Rücken-
mark und die Basalganglien afficirt sind; 3. das lethargische Stadium,
bei dem auch die vitalen Reflexe, Circulation und Respiration, er-
löschen und in Folge dessen Coma und Tod eintritt. Nach D ö 1 1 k e n ^^'j
ist ein Suggestivzustand (v. Schrenck-Notzing) in folgenden Fällen
Torhanden: 1. im Wachbewusstsein ; 2. im Schlaf; 3. in der Hypnose;
4. im natürlichen Somnambulismus; 5. bei hysterischen Zuständen;
6. bei Intoxicationszuständen ; 7. bei Psychosen. Freilich ist hier die
Suggestibilität quantitativ und qualitativ verschieden. Die Hypnose
kann nach Döllken in Schlaf übergehen oder sich mit ihm verbinden,
ebenso wie sie in einen hysterischen Zustand übergehen und sich mit
ihm verbinden kann. Nach Vogt endlich sind hypnotische Zustände
solche, die realisirte affectlose Suggestionen aufweisen; diese wiederum
bestehen, wie wir gesehen haben, in dem Auftreten einer aflFectlosen
Zielvorstellung mit abnorm intensiver Folgewirkung. Wir selbst unter-
scheiden, wenn es auf das Wesen der Sache ankommt, mit Gross -
mann eine oberflächliche und eine tiefe Hypnose. Die oberflächliche
Hypnose unterscheidet sich nach unserer Auffassung in keinem wesent-
lichen Punkte vom Wachzustande. Sie stellt einen Zustand behaglicher
Ruhe dar, der mit mehr oder weniger Müdigkeit und Schläfrigkeit
verbunden sein kann, bei dem aber die höheren Functionen des Seelen-
lebens, speciell das Gedächtniss und das Urtheilsvermögen, unangetastet
216 Leo Hirschlaff.
bleibeu. Zwar können auch in diesem Zustande einzelne, scheinbar
echte Suggestionen gelingen, wie z. B. Anästhesien, Hypotaxien und
andere Hemmungszustände. Indessen ist der Weg, auf dem sich diese
Suggestionen eventuell realisiren, ein anderer als der bei tiefen Hy-
pnosen; es liegt nicht eine directe, zwangsmässige, unwiderstehliche
Wirkung vor, sondern vielmehr eine indirecte Wirkung, zu deren Ent-
stehung die aclive Mithülfe des Hypnotisirten erforderlich ist, indem
er willkürlich seine Au&nerksamkeit concentriert oder ablenkt oder
Aehnliches mehr. Daher gelingen hier nur solche Suggestionen, die
man auch willkürlich im Wachzustände realisiren kann. Denn es ist
leicht möglich, wie bereits oben nachgewiesen, im Wachzustande den
Vorgang der Hypotaxie oder der Unmöglichkeit des Augenschlusses,
sowie anderer Hemmungen an sich selbst jederzeit zu produciren.
Mit anderen Worten : es handelt sich hier nicht um einen eigentlichen
hypnotischen Zustand im engeren Sinne des Wortes, sondern vielmelir
um einen pseudohypnotischen, hypnoiden, somnambuloiden Zustand.
Dass auch dieser Zustand therapeutisch wirksam und werthvoU sein
kann, beweist zunächst in eminentem Maasse die Erfahrung. Aber
auch abgesehen von dieser können wir uns vorstellen, dass in diesem
Zustande eine ganze Zahl therapeutisch wirksamer Momente und Fac-
toren gegeben sei. Als solche mögen Erwähnung finden: I. die Ruhe
des gesammten Organismus, die bei dieser oberflächlichen Hypnose
eintritt und deren wohlthätige Wirkung nicht weiter betont zu werden
braucht; 2. die geistige Concentration, wenn wir so sagen dürfen, die
es ermöglicht, dass die Heilvorstellungen und Ermahnungen, die wir
geben, schärfer aufgefasst und fester gehalten werden, als es im schnellen
Flusse des Wachlebens möglich wäre; 3. der Glaube, die Ueber-
zeugung, dass die Therapie helfen werde, eine Hoffnung, die durch das
Neuartige der Sache wesentlich unterstützt wird u. s. f. Kurzum,
jeder Factor, der bei der hypnotisch-suggestiven Behandlung überhaupt
therapeutische Wirksamkeit besitzt, hat auch in diesem pseudohypno-
tischen Zustande seine Geltung.
Der oberflächlichen Hypnose gegenüber steht die tiefe oder nach
unserer Auffassung die eigentliche Hypnose sensu strictiori. Sie kenn-
zeichnet sich durch eine tiefe Alteration des Seelenlebens. Während
Bewusstsein und Wille, die beiden Functionen, deren Veränderung
durch die Hypnose gewöhnlich behauptet werden, in Wahrheit intact
bleiben oder sogar eine Steigerung erfahren können, wird vielmehr das
Gedächtniss und die Freiheit des Willens, die als eine Wirkung dea
Kritische Bemerkungen über d. gegenwärt. Stand d. Lehre v. Hypnotismus. 217
Urtheilsvermögens aufzufassen ist, mehr oder weniger abgeschwächt
oder aufgehoben. Denn nur die Unterdrückung der im Wachzustande
vorhandenen Kritik ermöglicht die Realisirung der unmotivirten, hy-
pnotischen Suggestionen. Eben aus diesem Grunde aber folgern wir,
dass die tiefe Hypnose zu therapeutischen Zwecken nicht oder nur
ausDabmsweise angewendet werde, zumal die wahrhaft therapeutischen
Factoren derselben auch in der oberflächlichen Hypnose vorhanden
sind. Wir kommen somit zu der paradox erscheinenden, aber im Vor-
hergehenden gerechtfertigten Behauptung : der therapeutische Hypnotis^
mus hat weder von einer eigentlichen Hypnose noch von wirklichen
Suggestionen Gebrauch zu machen ; nur der Experimentator hat es mit
den im strengeren Sinne hypnotischen Phänomenen zu thun. Es wäre
daher nicht unangebracht, wenn man den Namen, den man heute
diesem therapeutischen Verfahren giebt, in einer dem Sinne ent-
sprechenden Weise abänderte. Da in der oberflächlichen Hypnose
von einem Schlafe gar keine Eede sein kann, da die eventuell vor-
handene Müdigkeit und Schläfrigkeit nur ein völlig accidentelles Be-
gleitsymptom ist, während der therapeutische Werth des Zustandes
vielmehr in der Concentration der Aufmerksamkeit zu suchen ist, so
wäre es, schon um der irrthümlichen Auffassung vorzubeugen, denen
die Patienten fast stets unterliegen, entschieden zweckmässiger, von
eüiem Zustande der „Epistasie'' (fj iTtlcnaaig === Aufmerksamkeit) und
von einem „epistatischen^ Heilverfahren zu sprechen. Da jedoch diese
Namen sich- schwerlich einbürgern werden, so ziehen wir es vor, statt
der Hypnose von einem suggestivtherapeutischen und psychotherapeuti-
schen Verfahren zu sprechen. Es wäre zu wünschen, dass die Herren
CoUegen, die der Sache des Hypnotismus zwar nicht feindlich, aber
doch immerhin fremd gegenüberstehen, von dieser Kenntniss Notiz
nehmen wollten; es würden dann viele unzweckmässige Contrasug-
gestionen, die sie den Patienten mit auf den Weg geben, vermieden
werden.
Bevor wir auf Grund der gegebenen Auffassung die Indicationen
der Suggestivtherapie ableiten, möchten wir nicht unterlassen, einiger
hjpnoseähnlicher Zustände Erwähnung zu thun, die in der Literatur
berichtet werden. So spricht Liebeault^^*) von einem „physiologi-
schen Passivzustand^, der unter Umständen im Wachlebeu eintritt.
Er erinnert zu diesem Zwecke an ein Experiment vonDupotet, dem
es gelang, bei wachen Bauern Wasser suggestiv in Rothwein zu ver-
wandeln, und der constatirte, dass diese angebliche Verwandlung trotz
218 Leo flirschlaff.
völligen Wachseins der BetreflFenden 2 Tage lang anhielt Auch die
Fascinationsmethode Braid's soll nach Liebeault auf einem ähn-
lichen Zustande beruhen. Dass wir dieser Auffassung nicht beipflichten
können, geht aus dem vorher Gesagten zur Grenüge hervor. Auf eine
abnorme Abart der Hypnose, wie es deren, nebenbei bemerkt, mehrere
giebt, macht D öl Iken***) aufmerksam. Er hat hysterische Hypnosen
durch blosses Auflegen der Hände bei Verschluss der Sinnesorgane
eintreten sehen; dabei bestand geringere Suggestibilität und allerhand
hysterische Symptome. Auch von anderer Seite, wir nennen nur
Freud und Breuer, sowie Löwenfeld, Brügelmann u. A., ist
gezeigt worden, dass durch die üblichen hypnosigenen Mittel statt
einer normalen Hypnose in einzelnen Fällen ein hysterischer Zustand
erzeugt werden kann. Es wäre hier am Platze, auch der partiellen
Wach- und Schlafzustände zu gedenken, die Vogt aufgestellt und zum
Zwecke experimentalpsychologischer Studien benutzt und empfohlen hat ;
doch sparen wir uns deren Darlegung für den Schluss unserer Arbeit auf.
Die Indicationen des Hypnotismus, der Suggestivbehandlung und
der Psychotherapie sind von drei Gesichtspunkten abhängig: 1. von der
Persönlichkeit des Kranken ; 2. von der Natur der Krankheiten ; 3. von
der Art der anzuwendenden Heilfactoren. Was den ersten Punkt an-
betrifft, so giebt es zweifellos eine ganze Anzahl von Menschen, die
für die Suggestivtherapie (im weiteren Sinne) geradezu prädisponirt
erscheinen. Wir meinen nicht nur diejenigen, die sehr leicht in tiefe
Hypnose zu bringen sind, ohne dass wir mit absoluter Sicherheit schon
jetzt den Grund für diese Thatsache anzugeben vermögen; sondern
vielmehr die bei Weitem grössere Gruppe derjenigen, die für seelische
Eindrücke leicht zugänglich und besonders empfänglicli sind und deren
Empfänglichkeit fast stets auch in der Art ihrer Erkrankung oder
vielmehr in der Art ihrer seelischen Reaction auf ihre Erkrankung
zum Ausdrucke gelangt. Diese Indication ist keineswegs auf functio-
nelle Krankheitszustände beschränkt. Wir würden kein Bedenken
tragen, einen Kranken, von dem wir wissen, dass er leicht in tiefe
Hypnose kommt und in derselben Heilsuggestionen annimmt, bei jeder
auch organischen Erkrankung hypnotisch-suggestiv zu behandeln; denn
als symptomatische Therapie ist die Hypnose auch in solchen Fällen
berufen, Günstiges und WerthvoUes zu leisten, selbst wenn sie nur
dazu dient, die allgemein-hygienischen Suggestionen des Appetits, Stuhl-
gangs, Schlafes, der Stimmung und Schmerzlosigkeit etc. zu realisiren.
Natürlich {sann in diesen Fällen die Hypnose nur ein accidentelles
Kritische Bemerkungflsn über d. gegenwärt. Stand d. Lehre y. Hypnotumos. £19
ünterstützuDgemittel sein, das neben den sonstigen Heilfactoren heran-
gezogen wird. Ebenso bei der zweiten Gruppe derer, bei denen eine
fuDctionelle Complication organischer Leiden vorliegt, wie das, eine
geeignete Seelenbeschaffenheit der Kranken vorausgesetzt, bei jedem
Leiden der Fall sein kann. Auch hier würden wir keinen Anstand
nehmen, die fanctionelle Complication auf psychischem Wege zu be-
kämpfen.
Die zweite der angegebenen Indicationen basirt auf der Natur der
Krankheiten. Hier sind es, Ton den soeben erwähnten Ausnahmefällen
abgesehen, vorzugsweise die functionellen Neiirosen und Psychosen, die
der Suggestivtherapie mit V ortheil unterworfen werden. Dazu gehören,
nm Einiges aufzufuhren, in erster Reihe die Neurasthenie, Hysterie und
Hypochondrie in allen ihren Variationen und Modificationen, sodann
die Melancholie und die Zwangsvorstellungen, die psychosexuellen Er-
krankungen, der Alcoholismus, der Morphinismus, die functionellen
Sprachstörungen, die Enuresis nocturna, die Neuralgien, einzelne
Formen der Chorea und Epilepsie, der Myoclonien u. s. f. Schon aus
dieser Zusammenstellung, die leicht erweitert werden könnte, folgt,
dass die Suggestivtherapie keineswegs, wie behauptet wird, auf die
Hysterie und die hysterischen Erkrankungen beschränkt ist; vielmehr
bieten gerade diese Erkrankungen den Bemühungen der Suggestiv-
Therapeuten nicht selten den grössten Widerstand.
Die letzte der aufgeführten Indicationen leitet sich aus der Natur
der Heilfactoren ab, die wir bei der Suggestivtherapie zur Anwendung
bringen. Es ist genügend betont worden, dass diese Natur eine rein
fanctionelle ist und dass das suggestive Zustandekommen der in der
Literatur berichteten organischen Phänomene im Gegensatze zu den bis-
herigen Anschauungen als eine indirecte Wirkung aufzufassen ist. Ob-
wohl wir an dieser Thatsache festhalten, ist es doch, wae oben aus-
einandergesetzt wurde, möglich, auf suggestiv-therapeutischem Wege
auch organischen Erkrankungen näher zu treten. Je mehr wir in die
Structur der menschlichen Seele Einblick gewinnen werden, um so mehr
wird uns diese Thatsache verständlich erscheinen; sie ist von einem
weit ausschauenden Denker, FriedrichEduardBeneke ^®*^), bereits
vor 60 Jahren vorausgeahnt worden, als er den Versuch machte, alle
Geistes- und Seelenkrankheiten nicht somatisch, sondern psychisch zu
gruppiren und abzuleiten.
Zum Schlüsse unserer Ausführungen möge uns die von Vogt in-
aogurirte „hypnotische Experimentalpsychologie" beschäftigen. Vogt^*®)
220 I^^o Hirsohlafif.
schlägt vor, den Zustand des eingeengten Bewusstseins zu experimental-
psychologiscben Selbstbeobachtungen zu benutzen. Nach seiner Auf-
fassung ist die Suggestion im Stande, das psychologische Experimen-
tiren durch HervorrufuDg von Beobachtungsobjecteu , durch gleich-
massige Gestaltung der psychophysischen Constellation und durch
Hebung der Selbstbeobachtung zu fördern. Er zeigt, dass Beobachtungs-
objecte, die sonst experimentell nicht oder nur schwer erzielbare Be-
wusstseinserscheinungen darstellen , sovde Ausfallserscheinungen auf
suggestivem Wege leicht hervorgerufen werden können, und zwar mit
einer derartigen Feinheit der Graduirung, dass z. B. 22 verschieden
intensive Schmerzabstufungen erzielt werden können. Die psychophysio-
logische Constellation ferner könne gleichmässiger gestaltet werden durch
suggestive Beeinflussung ihrer Bedingungen: einmal durch specielle
Suggestionen und dann durch Schaffung einer auf alle sich nicht am
Experimente betheiligenden Bewusstseinselemente beziehende Schlaf-
hemmung. Die Selbstbeobachtung endlich könne gehoben werden:
1. durch specialisirte Intensitätsverstärkung oder Hemmung; 2. durch
Einengung des Wachseins auf die am Experiment betheiligten Bewusst-
seinselemente. Als geeignete Form der Hypnose zum Experimentiren
empfiehlt Vogt das systematische partielle Wachsein, das für alle zum
Systeme des Experimentes gehörenden Bewusstseinselemente ein volles
Wachsein, für die übrigen aber eine tiefe Schlafhemmung aufweist.
In diesem Zustande hat Vogt an sich selbst und An geeigneten Ver-
suchspersonen experimentirt und eine ganze Reihe interessanter Resultate
zu Tage gefordert. Es gelang ihm u. A. bei der Analyse der Gefühle
ein hedonistisches und ein sthenisches Moment in der Gefühlsbetonung
z. B. bei Tönen voneinander zu trennen, wobei die Versuchspersonen
die einzelnen Töne, die ihnen zur Beobachtung vorgeführt wurden, in
gesetzmässiger Weise analog den Tonhöhen bald erhebend und an-
genehm, bald erschlaffend und unangenehm, oder erschlaffend und an-
genehm, oder hebend und unangenehm fanden u. s. f. Ebenso führte
Vogt eine grosse Zahl von Druck- und Schmerzversuchen aus, bei
denen er suggestiv die Druck- und Schmerzvorstellung stufenweise all-
mählich steigerte und die Gefühlsreihe, die dieser Steigerung entsprach,
analysiren Hess. Auch complexe Gefühle der Angst, Freude, Furcht
wurden auf dem gleichen Wege bearbeitet. Ja, es gelang ihm sogsür,
eine Aufgabe zu lösen, um die die Psychologen bisher vergeblich sich
bemüht haben: die Aufgabe, das Angenehme eines Tones und eines
Geruches miteinander zu vergleichen. Dabei wird zunächst die Er-
Kritische Bemerkungen über d. gegenwärt. Stand d. Lehre v. Hypnotismus. 221
inneruDg an beide Empfindungen bis zur sinnlichen Lebhaftigkeit herror-
gernfeD; dann werden die anderen psychischen Elemente unterdrückt
und die Gefühle isolirt reproducirt und verglichen.
Wir glauben nicht, dass der verdiente Forscher mit diesen Vor-
schlägen auf dem richtigen Wege ist. Die Einwendungen, die wir
gegen die „hypnotische Experimentalpsychologie" im Sinne Vogt 's
m machen haben, können kurz dahin präcisirt werden: 1. Das syste-
matische partielle Wachsein ist kein hypnotischer Zustand. Wenn
schon die oberflächliche Hypnose, die wir zu therapeutischen Zwecken
verwenden und die auf einer difiFusen Hemmung der Hirnrinde beruhen
soll, nach unserer Auffassung keine eigentliche Hypnose, sondern nur
ein somnambuloider Zustand mit Concentration der Aufmerksamkeit
ist, so gilt das mit noch grösserer Berechtigung von dem systematisirten
partiellen Wachsein Vogt 's. Auch hier handelt es sich nur um eine
einfache Concentration der Aufmerksamkeit auf die zu beobachtenden
Bewusstseinsobjecte, ein Zustand, der für die psychologische Selbst-
beobachtung sehr werthvoll ist, der sich aber von dem bisher Be-
kannten in keiner specifischen Weise unterscheidet. Echte Suggestionen,
von denen wir oben gesprochen haben, sind in diesem Zustand nicht
realisirbar. 2. Der Begriff der Suggestion wird von Vogt zu weit
gefasst und die mögliche Wirkung derselben überschätzt. Wenn wir
einem oberflächlich Hypnotisirten sagen, er solle sich jetzt eine Ton-
empfindung von bestimmter Höhe vorstellen, so ist das noch lange
keine Suggestion : das Gleiche kann jederzeit auch im Wachzustande
geschehen, und wenn Vogt glaubt, dass er durch Suggestion Kopf-
schmerz und andere störende Empfindungen, sowie die nicht zum Ex-
perimente gehörigen Bewusstseinselemente unterdrücken könne, so über-
schätzt er die Wirkung seiner Suggestionen. Denn selbst wenn die
von ihm gewünschte Wirkung eintreten sollte, so tritt sie nicht als
eine directe Folge der gegebenen Suggestion ein, sondern das Ver-
suchsobject bemüht sich, wozu eine Hypnose wiederum nicht erforder-
lich ist, seine Aufmerksamkeit von den zu beseitigenden Empfindungen
abzulenken und auf die zu beobachtenden Bewusstseinselemente zu
concentriren, wobei ein affectives Moment, das Interesse an den Be-
obachtungsobjecten, gleichfalls eine Rolle spielt. Von selbst, auf pas-
sivem, zwangsmässigem. psychophysiologischem Wege, ohne actives Zu-
thun der Versuchsperson realisirt sich diese Suggestion in der ober-
flächlichen Hypnose zweifellos nicht. Zudem ist eine gleichmässige
Gestaltung der psychophysischen Constellation auch durch Realisiruug
222 I-eo Hirschlaff.
derartiger Vorstellungen uoch nicht gegeben. Selbst wenn man an-
nimmt, dass die gegebene Suggestion sich — direct oder indirect —
verwirklicht, so kann dies doch nur auf psychischer Seite geschehen,
während die physiologische Grundlage und in Folge dessen auch die
physiologische Wirkung dieser Erscheinungen auf die psychophysische
Oonstellation unbeeinfiusst bleiben muss. Wenn wir einem oberflächlich
Hypnotisirten, der stark übermüdet ist, sagen, die Müdigkeit ver-
schwinde und niiache einem Gefühle des Wohlbehagens und der Frische
Platz, so kann im günstigsten Falle dieser Wunsch auf psychischeia
Gebiete in Erfüllung gehen, insofern das Gefühl der Müdigkeit
schwindet und einem anderen Gefühle weicht; die Müdigkeit selbst
aber, und damit ihre physiologischen Folgen auf die Constellation,
bleiben bestehen. 3. Vogt verkennt das Wesen der Selbstbeobachtung.
Während es wohl möglich ist, die Thatsachen des Bewusstseins durch
Selbstbeobachtung direct zu ergründen, lässt diese Methode, ebenso
wie jede andere Methode, im Stich, sobald es sich darum handelt, die
Causalzusammenhänge zwischen diesen Thatsacheu zu ermitteln. Wie
wir an anderer Stelle^*') nachgewiesen haben, ist die psychologische
Selbstbeobachtung der Natur der Sache nach niemals im Stande,
Causalzusammenhänge festzustellen; dazu gehören Urtheils- und Schluss-
processe, denen die eigenthümliche Evidenz der Selbstbeobachtung ab-
geht. Wenn deshalb Vogt behauptet, die Analyse der Bewusstseins-
erscheinungen im Zustande des eingeengten Wachbewusstseins auf dem
Wege der unmittelbaren Selbstbeobachtung vornehmen zu können, so
verkennt er das Wesen der Selbstbeobachtung, die zu einer derartigen
Analyse als solche überhaupt nicht befähigt ist. Ja sogar, die logische
Reflexion, die zu dieser Aufgabe unerlässlich ist, könnte im Zustande
des eingeengten Bewusstseins nicht einmal ausgeführt werden, wenn es
sich wirklich um einen hypnotischen Zustand im engerenWortsinne handelte^
da ja, wie wir gesehen haben, gerade das ürtheilsvermögen in diesem Zu-
stande gestört ist. Wenn daher Vogt eine ganze Zahl von Beobachtungen
über Causalzusammenhänge veröflentlicht, die er im Zustande des ein-
geengten Wachseins durch directe psychologische Analyse gewonnen haben
will, so ist er in Wahrheit einer Fehlerquelle unterlegen, vor der man
sich bei psychologischen Beobachtungen, zumal auf diesem Gebiete, nicht
genug in Acht nehmen kann; statt der wirklichen Causalzusammen-
hänge hat er eine Reihe von Autosuggestionen erhalten, die er durch die
Art seines Vorgehens bei den Versuchspersonen künstlich gezüchtet hat.
Wir erkennen somit an, dass die Concentration der Aufmerksamkeit
Literatar-Verzeichniss. 223
auch in dem von Vogt angegebecen Zustande des systematischen
partiellen Wachseins, unter Umständen für die psychologische Be-
obachtung sehr geeignet und nothwendig ist, behaupten aber, dass
weder der Zustand, um den es sich handelt, noch die Kräfte und Er-
scheinungen, die darin zur Geltung kommen, in irgend einer specifischeu
Weise von den bisher bekannten Methoden abweichen oder denselben
überlegen sind. Die Bedeutung des Hypnotismus für die Psychologie
liegt nach unserer Auffassung nicht in der Methode der Beobachtung,
die in allen Fällen die gleiche ist, sondern vielmehr in den mit psycho-
logischer Kritik gewonneneu Thatsachen des Seelenlebens, die auf diesem
Gebiete zur Erscheinung kommen und die geeignet sein dürften, auch
anf die normale Structur des Seelenlebens interessante Streiflichter zu
werfen.
Wir sind am Ende unseret kritischen Wanderung. Wir haben
vieles Werthvolle hervorgehoben, vieles Nichtige abgelehnt. Wir er-
heben keinen Anspruch darauf, irgend eine der hierher gehörigen
Fragen gelöst zu haben. Wir haben uns darauf beschränken wollen,
den Weg zu weisen, auf dem diese Fragen einer wissenschaftlichen
Vertiefung in therapeutischer und psychologischer Beziehung fähig und
bedürftig sind.
Literatur- Yerzeiehniss.
(Vergl. die dem Texte beigefügten Zahlen.)
1) Albert Moll: Der Hypnotismus, III. Aufl. Berlin 1895.
2) August Forel: Der Hypnotismus, III. Aufl. Stuttgart 1895.
3) Bern heim: Hypnotisme, Suggestion, Psychotherapie. Paris 1891 u. v. a. m.
4] van Kenterghem und van Eeden: Psychotherapie. Paris 1894.
5) Charles Lloyd-Tuckey: Psychotherapie, übersetzt von Tatzel nach der
m. Aufl. d. Orig. Neuwied 1895.
6) L. Loewenfeld: Lehrbuch der gesammten Psychotherapie mit einer einleiten-
den Darstellung der fiauptthatsachen der medicinischen Psychologie.
7j Stell: Hypnotismus und Suggestion in der Völkerpsychologie. Lpz. 1894.
8j Baldwin: Psychologie der Kinder. Berlin 1898.
9) Pierre Janet: L'automatisme psychologique. Paris 1889.
10) Hans Schmidkunz: Psychologie der Suggestion. Lpz. 1894.
11) Wilhelm Wundt: Studie über Hypnotismus. Lpz. 1886.
12) 31 ax Hirsch: Zur Begrifl'sbestimmung der Hypnose. D. Med. Ztg. 1895. Nr. 91.
13' Wegner: Nervosität u. psychische Heilbehandlung. Ds. Ztsch., Bd. V. 1895.
14) Liebeault: Du sommeil etc. Paris 1866. Neue Aufl. 1889.
224 -Leo Hirschlaff.
15) R. W. Tatzel: Warum wird der Werth des therapeutischen Hypnotismus
noch immer so wenig erkannt? Da. Ztsch., Bd. IV. 1895.
16) Forel: cf. 2.
17) (rrossmann: Die Erfolge der Suggestionstherapie bei organischen Lähmungen
und Paralysen. Vortrag auf der 66. Naturforscherversammlung in Wien 1894.
18) Korbinian ßrodmann: Zur Methodik der hypnotischen Behandlung. Diese
Ztsch., Bd. VI, 1897.
19) A. D ö 1 1 k e n : Beiträge zur Physiologie der Hypnose. Ds. Ztsch., Bd. IV. 1895.
20) Bonjour: cf. Revue de l'hypnot., Bd. X, 1896.
21) Wetterstrand: a) Die Heilung des chron. Morphinismus etc. mit Suggestion
und Hypnose, b) Ueber d. künstlich verlängerten Schlaf, bes. bei d. Be-
handig. d. Hyst.
22) John F. Word: The treatment by Suggestion with and without Hypnosis.
Journal of mental diseases, Bd. XLIU, April 1897.
28) Paul Farez: De l'application de la Suggestion chez les aliSnes. Kev. de Thypn.,
Bd. XII, 1898.
24) L i e b e a u 1 1 : Classification des degres du sommeil provoque. Rev. d. l'hypn.. 1886.
25) Bernheim: De la Suggestion dans l'etat hypnot. etc. Paris 1886.
26) G rossmann: Zur Suggestiv-Behandlung der Gelenkkrankheiten, mit besonderer
Berückslchtigang des chron. Gelenkrheumatismus u. d. Gicht. Ds. Ztsch..
Bd. III, 1894.
27) V. Schrenck-Notzing: cf. Congress für Psychol. 3Iünchen 1896.
28) Hilger: ibid.
29) H. Delius: Erfolge der hypnot.-suggest. Behandig. in d. Praxis. D. Ztsch.,
Bd. V, 1897.
30) W. Brü gelmann: Suggestive Erfahrungen u. Beobachtungen. Ds. Ztsch.,
Bd. IV. 1895.
31) Stadelmann: Einige Bemerkungen zu den suggestiven Erfahrungen u. Be-
obachtungen Brügelmann*s. Ds. Ztsch., Bd. IV, 1895.
32) L. Loewenfeld: Hypnot. od. hyst. Somnambulismus. Ds. Ztsch., Bd. V, 1896.
33) Oscar Vogt: Spontane Somnambulie in der Hypnose. Ds. Ztsch., Bd. VH,
1898.
34) Crocq fils: L'hypnotisme scientifique. Paris 1892.
35) F. Köhler: Experimentelle Studien auf d. Gebiete d. hypnot. Somnambulismus.
36) V. Krafft-Ebing: Experim. Studie auf d. Gebiete d. Hypnot., 2. Aufl. Stutt-
gart 1889.
37) Jolly: Hypnotismus und Hysterie. Münch. med. Wochenschr. 1894, Nr. 13.
38) V. Schrenck-Notzing: cf. Jahresberichte über Hypnot. etc. Rev. de l'hypn.,
Bd. IX, X etc.
0
39) E. Gley: Etüde sur quelques conditions favorisants Phypnose chez les animaux.
L'annee psychol. II. Jahrgang 1896.
40) W a r t h i n : cf. Literatur- üebersicht v. Schrenck-Notzing. Rev. de l'hypn.,
Bd. IX, 1894.
41) C. Ringier: Zur Redaction der Suggestion bei Enuresis nocturna. Ds. Ztschr.,
Bd. VI, 1847.
42) Cullere: L'incontinence d'urine et son traitement par Suggestion. Arch. de
Neurol. 1886, Nr. 7.
Literstar-Yeneiehniss. 225
43) C. fiingier: £uuge Betrachtungen zur SuggeBtiybehandlung. Diese Ztflchr.,
Bd. in, 1894.
44) Tatzel: Diese Ztschr., Bd. IV, 1895.
45) A. Vüisin: Hyst^ro-oatalepsie. Revue de Thypnot., Bd. X, 1895.
46) Stembo: Bemerkungen zur Suggestivtherapie. 1896.
47)Tis8ie: a) Traitement des phobies par la Suggestion et par la gymnastique
m^cale. Rev. de Thypn., Bd. X, 1895. b) Reves proyoquSes dans un but
therapentique. Ibid.
48) Ewald Hecker: Ueber das V erhält niss der psychischen Behandlung im Wach-
zustand zur hypnot. Therapie. Vortrag auf dem Congress 1897.
49) Paul Hanschburg: Beiträge zur Frage der hypnotisch-suggestiven Therapie.
dO) Loewenfeld: cf. 6.
51) Tb. Ziehen: Psychotherapie. Lehrbuch d. allgem. Therapie u. d. therapeut.
Methodik v. Eulenburg und Samuel. Berlin u. Wien 1898.
52) William Hirsch: Was ist Suggestion und Hypnotismus. Berlin 1896.
53) F. Kegnault: Philies et phobies alimentaires. Hev. de l'hypn., Bd. X, 1895.
64) Arie deJong: Ueber Zwangsvorstellungen. Vortrag auf d. Moskauer Congress.
55) Kornfeld und Bikeles: cf. Literaturübersicht v. Schrenck - Notzing.
Rev. de Thypn., Bd. IX, 1894.
56) Forel: Durch Spiritismus erkrankt und durch Hypnotismus geheilt. Ds. Ztsch.,
Bd. in, 1894.
57] ßernheim: De Tattitude cataleptiforme dans la fidvre typhoide et dans cer-
tains etat 8 psychiques. Rev. de l'hypn., Bd. X, 1895/96.
58) J. Milne Bramwell: Personally observed Hypnotic Phaenomena; and what
is Hypnotisme? Proceedings of the Society of Psychical Research Part 31, 1896.
59) £. B 4 r i 1 1 o n : Des Indications de la Suggestion hypnotique en pediatrie. Rev.
de l'hypn., Bd. X, 1895.
60) H. Stadelmann: Der acute Gelenkrheumatismus und dessen psychische Be-
handlung.
61) Bernheim: La therapeutique suggestive dans les affections pulmonaires. Rev.
de rhypn., Bd. X, 1895.
62) E. B6rilion: cf. Revue de l'hypnot., Bd. X, 1895.
63) Schmeltz: Operations chirurgicales faites pendant le sommeil hypnotique.
Rev. de Thypn., Juli 1894.
64) C. Bauer: Aus d. hypnot. Poliklinik d. Herrn Prof. Forel in Zürich. Diese
Ztschr., Bd. V, 1897.
65) C. Ger st er: Ein FaU v. hyster. Contractur, Ds. Ztsch., Bd. lU, 1894.
66) R. V. K rafft -E hing: Zur Suggestiv-Behandlung d. Hyst. gravis.
67) id.: Arbeiten aus d. Gesammtgebiet d. Psychiatrie u. Neuropath.. Heft III,
Leipzig 1898.
68) A. Voisin: Emploi de la Suggestion hypnotique dans certaines formes d'alie-
nation mentale. Paris 1897.
69) Goldscheider: Ueber die Behandlung des Schmerzes. Berl. klin. Wochenschr.
1896, Nr. 3—5.
70) 0. Roaenbach: Nervöse Zustände u. ihre psychische Behandlung. Berlin 1897.
71) Durand de Gros: L^hypnotisme et la morale. Rev. de l'hypn., Bd. X, 1895.
72) Gross mann: Der Process Crynski. Ds. Ztsch., Bd. III, 1894.
Zeitschrift für Hypnotismus etc. IX. 15
22^ Leo Hinchlaff.
73) V. Schrenck-Notzing;: Ueber Saggestion und Erinnerongsialschnng im
Berchtold-Process.
74) W. Frey er: Ein merkwürdiger Fall von Faacination. Berlin 1894.
75) van Velsenr Histoire d'un cas de lethargie. Rev. de Phypn.^ Bd. X, 1896.
76) Stadelmann: Tod durch Vorstellung. Ds. Ztsch., Bd. III, 1894.
77) Oley: cf. 39.
78) Schütz: Der Hypnotismus, Philos. Jahrbuch 1896 u. 1897.
79) Haas: cf. Literaturbericht v. Schrenck-Motzing. R. de l'hypn., IX, 1894.
80) M. Benedikt: Hypnotismus u. Suggestion. Wien 1894.
81) Liebeanlt: Criminelle hypnot. Suggestionen. Gründe u. Thatsachen, welche
für dieselbe sprechen.
82) BSrillon: Les suggestions criminelles envisagees au point de vue des faux
tömoignages suggeres. Rev. de l'hypn., Bd. XI, 1896.
83) 0. Thilo: Zur Behandlung der Grelenkneuralgieen.
84) H. Stadelmann: Der Psychotherapeut. Wnrzburg 1896.
86) Delboeuf: cf. Rev. de Thypn., Bd. XI, 1896.
86) id.: ib.
87) Bonjour: Neue Experimente über den Einfluss der Psyche auf den Körper.
88) E. B^rillon: Ein Fall von Sycosis, 9 Monate ohne Erfolg von Dermatologen
behandelt, durch das zweimalige Gebet einer alten Frau geheilt. Rev. de
rhypn., Bd. X, 1895.
89) C. Liebermeister: Suggestion und Hypnotismus als Heilmittel. Handbuch
von Pentzold u. Stintzing. 1896.
90) Th. Ziehen: cf. 51.
91) W. Brügelmann: cf. 30.
92) F. C. Hansen und Alf. Lehmann: lieber unwillkürliches Flüstern. Eine
kritische und experimentelle Untersuchung der sog. Gedanken- Uebertrag-ung.
Wundt's Philos. Stud., Bd. XI, 1895.
93) V. Schrenck-Notzing: Ein experimenteller u. kritischer Beitrag zur Frage
der suggestiven Hervorrufung circumscripter vasomotorischer Veränderungen
auf der äusseren Haut. Ds. Ztsch., Bd. IV, 1896.
94) E. Berillon: L'hypnotisme et Torthopedie mentale. Paris 1898.
95) S. Freud: Zur Aetiologie der Hysterie. Vortrag im Wiener Verein f. Nenrol.
u. Psychiatrie 1896.
96) H, Stadelmann: Zur Therapie der durch Vorstellungen entstandenen Krank-
heiten. Wiener Congress.
97) E. Sokolowski: Hysterie und hysterisches Irresein. Centralblatt f. Nerven-
heilkunde u. Psychiatrie 1896.
98) Boettiger: lieber Neurasth. u. Hysterie u. d. Beziehungen beider Erkran-
kungen zu einander. Vortrag im ärztl. Verein zu Hamburg am 27. IV. 1897.
99) L. Loowenfeld: Ueber einen Fall v. hyst. Somnambulismus. Ds. Ztschr.
Bd. VI, 1897.
100) Leuch: cf. ds. Ztschr., Bd. VI, 1896.
101) A. Forel: ib.
102) Didier: Kleptomanie u. Hypnotherapie. Halle 1896.
103) O. Vogt: Ds. Ztschr., Bd. VIII, 1899.
105) Sommer: Diagnostik der Geisteskrankheiten. Lpz. 1897.
Literatur- VerzeichnifB. 2S7
106) Tyko Brannberg: Die Bedeutung d. Hypnotismas als pädagogisches Hilfs-
mittel. Ueben. von Tatael. Berlin 1896.
107) Bourdon: Onychopbagie et habitudea automatiques, onanisme etc. Rev. de
l'hypn., Bd. X, 1895.
106) B^rillon: cf. 94 und viele andere Schriften.
109) Crocq fils: L^hypnotiame scientifiqae. Paris 1896.
110) A. Forel: Der fiypnotismus in d. Hochschule. Ds. Ztschr., Bd. IV, 1896.
111) Tst«el: cf. 16.
112) J. Bergmann: Ist die Hypnose ein physiol. Zustand?
113) A. Voisin: cf. Rev. de Thypn., Bd. IX, 1894.
114) C. Schaff er: Saggestion u. Reflex. Jena 1895.
115) A. Döllken: cf. 19.
116) Crocq fils: Etat de la sensibilite et des fonctions intellectuelles chez les
hypnotises. Vortrag auf dem Congress 1894.
117) J. M. Bramwell: On the appreciation of time by somnambules. Congress.
118) V. Bechterew: cf. Literaturbericht v. Schrenck - Notzing. Rev. de
l'hypn., Bd. IX, 1894.
119) M. L. Patrizi: 11 tempo di reazione semplice studiato in rapporto della curva
pletismografica cerebrale. Riv. sperim. di Frenetria vol. 23, 11, 1897.
120) 0. Vogt: Spontane Somnambulie in der Hypnose. Ds. Ztsch., Bd. VI, 1897.
121) Wetterstrand: Selbstbeobachtungen während des hypnot. Zustandes. An-
gaben zweier Patienten. Ds. Ztschr., Bd. IV, 1896.
122) Max Hirsch: üeber Schlaf, Hypnose u. Somnamb. D. medic. Wochenschr.,
1895, Nr. 26.
123) Liebeault: Das Wachen ein activer Seelcnzustand, der Schlaf ein passiver
Seelenzustand. . Ds. Ztschr., Bd. lU, 1894.
124) Berillon: Notice sur Tinstitut psycho-physiologique de Paris. Appendice:
Applications de la methode graphique ä l'^tude de Thypnotisme. Paris 1897.
12Ö) V. Schrenck-Notzing: cf. Döllken 19.
126) Liebeault: cf. 123.
127) Landmann: Ueber fitnctionelle Gehirnstörungen. Eine psycholog. Studie
128) van de Lanoitte: La Suggestion et le fonctionnement du Systeme nerveux.
Rev. de Thypn. 1896.
129) Papin: La theorie histologique du sommeil. Rev. de l'hypn. 1896.
130) Held: (Jeher d. histol. Bau d. Nervenzellen. I. Versammig. mitteldeutscher
Neurol. u. Psychiater in Leipzig 1897. Id.: cf. Arch. f. Anat. u. Physiol.
131) Schleich: Schmerzlose Operationen. Psychophysik des natürl. u. künstl.
Schlafes. IL Aafl. Berlin 1897.
132) K r a r u p : cf. Literaturbericht v. Schrenck-Notzing. Revue de l'hy pnot . ,
Bd. IX, 1894.
133) J. Milne Bramwell: cf. 58.
134) 0. Vogt: Zur Kenntniss des Wesens und der psychol. Bedeutung des Hypno-
tismus. Ds. Ztschr., Bd. V, 1896.
135) Mauste rberg: Aufgaben, Methoden a. Ziele der Psychologie. Berlin 1892.
136) W. Wundt: Philos. Stud., Bd. X.
137) Th. Lipps: Zar Psychologie der Suggestion. Vortrag in d. Psycho!. Gesell-
schaft. Abth. München am 14. I. 1897.
15 «^
\
228 Leo Hirschlaff. Literatur- Verzeichniss.
138) Landmann: cf. 127.
139) Pierre Janet: Der Geisteszustand Hysterischer. Wien u. Lpz. 189d u. a. m.
140) Ranschburg und Hajos: Neue Beiträge zur Psychologie des hysterischen
Geisteszustandes. 1897.
141) A. Döllken: cf. 19.
142) E. Beriilon: cf. 94.
143) L. Hirschlaff: Die angebliche Bedeutung des Hypnotismus für die Päda-
gogik. Ztschr. f. pädag. Psychol. I, 3. Berlin 1899.
144) Stoll: cf. 7.
145) Tyko Brunnberg: cf. 106.
146) Bergmann: cf. 112.
147) Liebeault: cf. 123.
148) V. Lichtenstern: lieber seelische Einwirkungen (Suggestion) im militärischen
Leben. Militärwochenblatt 1896.
149) M. Friedmann: lieber den Wahn. Mannhein 1897.
150) A. Forel: cf. 2.
151) 0. Vogt: Die Zielvorsteliuug der Suggestion. Ds. Ztschr., Bd. V, 1896.
152) Th. Lipps: cf, 137.
153) W. Wundt: cf. 11.
154) William Hirsch: Die menschliche Verantwortlichkeit und die moderne
Suggestionslehre. Berlin 1896.
155) Agathon de Potter: Etüde sur l'hypnotisme. Journal de Neurologie et
d'hypnol 1896.
156) Bergmann: cf. 112.
157) Döllken: cf. 19.
158) Liebeault: cf. 123.
159) E. Befrillon: Des indications de la Suggestion hypnotique en pediatrie. Bev.
de rhypn., Bd. X, 1895.
160) Max Hirsch: cf 12.
161) Crocq fils: cf. 34.
162) Ferrand: La medication hypnogogique. Rev. de l'hypn. 1896.
163) Döllken: cf. 19.
164) Liebeault: p. 123.
165) Friedrich Eduard Beneke: Beiträge zu einer reinseelen wissenschaftlichen
Bearbeitung der Seelenkrankheitskunde. Lpz. 1824 u. Das Verhältniss von
Seele u. Leib. ib. 1826.
166) O. Vogt: Die directe psychologische Experimentalmethode in hypnotischen
Bewusstseinszuständen. Ds. Ztschr., Bd. V, 1897.
167) L. Hirschlaff: lieber das Wesen der Beobachtung und Selbstbeobachtung.
Berlin 1896.
Kurze Bemerkung zu den vorstehenden kritischen Bemerkungen
Hirschlaffs.
Von
Oskar Togt.
Den kritischen Bemerkungen Hirschlaffs hahe ich, wie auch
anderen Arbeiten, die nicht meinen Standpunkt theilten, die Aufnahme
in die von mir redigirte Zeitschrift gestattet. Ich glaube aber speciell
in diesem Falle, wo gerade ein grosser Theil der von mir vertretenen
Lehren angegriffen wird, eine kurze Antwort schuldig zu sein. Ich
muss zunächst gestehen, dass eine ganze Reihe kritischer Bemerkungen,
die der Herr Verfasser angeblich von mir vertretenen Lehren widmet,
durchaus meine Zustimmung haben. Denn der Verfasser hat in einer
ganzen Beihe von Fällen mir Lehren zugeschrieben, die ich niemals
vertreten habe. Wo habe ich z. B. — wie es Ziehen thut —
die einzelnen Vorstellungen in einzelne Ganglienzellen verlegt? Wo
habe ich behauptet, dass man Erschöpfungszustände — denn das ver-
steht Verf. doch wohl unter „starker Uebermüdung" — durch die
Suggestion ihres Verschwindens beseitigen könne? Wo habe ich ferner
erklärt, dass die unmittelbare Selbstbeobachtung Causalanalysen auf-
decken kann? Dass dazu UrÜieil- und Schlussprocesse gehören, habe
ich eingehend erörtert. Dass allerdings diese Schlussfolgerungen bei
meinen Versuchspersonen ausschliesslich Autosuggestionen sein sollten,
ist eine Behauptimg, die, von einem Autor aufgestellt, der nicht meine
flzperimente wiederholt hat, zu einer fruchtbaren Discussion nicht
fuhren kann. Wenn Verfasser weiter behauptet, dass sich mit den Sug-
gestionen, die ich meinen Versuchspersonen im Zustand des eingeengten
Bewusstseins gebe, Willensäusserungen der Versuchspersonen verbänden,
230 Oskar Vogt. Kurze Bemerkimg zu den kritischen Bemerkungen HirschlafiTs.
SO ist das wiederum eine unleugbare Thatsache, auf die ich von Anfang
an aufmerksam gemacht habe. Ob ferner das von mir beschriebene
systematische partielle Wachsein ein hypnotischer Zustand ist oder
nicht, hängt von der Begriffsbestimmung der hypnotischen Zustände ab.
Ich meine aber, dass man da doch der historischen Entwicklung des
Begriffs etwas Rechnung tragen muss. Dass sich übrigens das syste-
matisch eingeengte Bewusstsein genetisch absolut unterscheidet von
einer willkürlichen Concentration der Aufmerksamkeit, kann nur der-
jenige bestreiten, der keine eigenen Erfahrungen auf diesem speciellen
Gebiete hat. Ich verweise speciell auf die Ausführungen in der Arbeit
van Straaten's. ^) Ich stimme mit dem Yerfasser vollständig darin
überein, dass man gegenüber psychologischen Forschungen nicht kritisch
genug sein kann.
Aber wie ich immer wieder betont habe, ist eine Kritik meiner
Angaben nur möglich, wenn man meine Experimente wiederholt. Nie-
manden wird eine vorurtheilsfreie Nachprüfimg meiner Angaben mehr
freuen als mich. Aber eine Exitik, welche diese Bedingungen nicht
erfüllt, scheint mir von keinem wesentlichen Nutzen zu sein.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich noch einem Miss verstand niss
ein für alle Male vorbeugen. Auch derjenige Autor, welcher unter
meinen Anregungen eine Arbeit verfasst, trägt für dieselbe einzig und
allein Verantwortung. Ich vermeide vollständig, bei mir arbeitende
Herren in ihren Schlussfolgerungen oder auch nur in ihrer sprach-
lichen Darstellung zu beeinflussen. So muss ich natürlich auch jede
Verantwortung zurückweisen. Dann muss ich noch einen eigentlich
selbstverständlichen Punkt hervorheben. Die Zeitschrift will auch dem
practischen Arzt practische Belehrungen bringen. Solche Arbeiten
würden heutzutage vollständig ihren Zweck verfehlen, wenn sie in der
Form einer psychologischen Schulsprache abgefasst wären. Sie be-
dürften dann stets eines besonderen Lexikons. Solche Arbeiten be-
tonen ihren speciellen Zweck von vornherein. Daraus mögen dann
aber andere Autoren sofort ersehen, dass solche Arbeiten nicht einen
Rückschluss auf Ausführungen gestatten, die einen mehr theoretischen
Zweck verfolgen.
>) Siehe oben Seite 201.
Casuistische Mittheilungen.
Eine hypnotische Entfettungacur.
Von
Dr. Tatzel - Hünchen.
Der Patient, ein Mann yon 30 Jahren and einem Körpergewicht von 316 Pfund
hatte bereits verschiedene Kuren durchgemacht, deren Erfolge aber nur gering und
Ton kurzer Dauer waren. Er unterzog sich der hypnotischen Kur in der Hoff-
nnng, durch Suggestion die nöthige Energie zu erhalten, eine ihm angemessene
Lebensweise und Diät consequent und dauernd durchfuhren zu können. Es wurde
ihm ein Zettel gegeben mit den genauesten Vorschriften über seine künftige Lebens-
weise; über Diät, körperliche Bewegung, Schlaf u.s. w.; während der vierwöchent-
liehen Kur wurde ihm täglich mit Erfolg suggerirt, dass er jene Vorschriften con-
seqaent und unabweichlich befolgen müsse. In den ersten zwei Wochen zeigte sich
keine Gewichtsabnahme, in den nächsten vierzehn Tagen verlor er fünf Pfund ; seither
ist ein Vierte^ahr verflossen, auch jetzt noch macht sich eine stete, langsame
Abnahme des Körpergewichtes geltend ; nach der letzten erst kürzlich cingetofifenen
Meldung beträgt dieselbe jetzt 40 Pfund. Sicherlich ist bei der consequenten
Durchfuhrung der vorgeschriebenen Lebensweise noch ein weiterer Fortschritt in
der Abnahme des Körpergewichtes zu erwarten bis dann allmählich ein Stillstand
eintreten wird. Dabei fühlt sich der Patient ausserordentlich wohl, viel gesünder
und leistungsfähiger wie früher.
So zeigte sich gerade in der Behandlung solcher Krankheiten, deren Grund-
lage Willensschwäche und Energielosigkeit ist, die ganze Ueberlegenheit der hyp-
notischen Suggestion jeder anderen Therapie gegenüber.
Als characteristisches Gegenstück sei die, in einem der ersten Kurorte von
einem bekannten Arzt ausgeübte Entfettungskur beigefügt. Es soll nur die Massage
geschüdert werden:
„Der Kranke liegt flach auf dem Sopha, mit etwas an den Leib angezogenen
Beinen, um die Bauchmuskulatur zu erschlaffen. Zuerst pufft der Arzt mit ge-
ballter Faust die Magengegend, schwach beginnend und inmier stärkere Puffe ver-
setzend, schliesslich die Faust so tief wie möglich in die Magengrube eindrückend.
232 ^' Tatzel. Casnistische Mittheilnngen.
Dann kommt das Kneifen — der Arzt fasst die fetten Bauchdecken möglichst breit
horizontal zwischen seine beiden Hände und zerquetscht die Fettträubchen derselben
so kräftig, dass braune und blaue Flecke entstehen; dabei wimmern und wehklagen
die Kranken; das ist der schmerzhafteste Theil der Procedur.
Endlich springt der Arzt in ganzer Person auf den Leib des Kranken, so
dass seine beiden Knie tief in die Magengrube hineindrücken und hockt so lange
auf dem Kranken, bis dieser anfangs 5-, später 7-, 10- und zuletzt 20-mal tief Athem
geholt hat.
Die Kur macht auf den Zuschauer einen unheimlichen Eindruck, er glaubt,
die Därme müssten bei dem Knieen zerquetscht und das Herz geschädigt werden;
aber die Kranken gewöhnen sich dran." —
Zusammenstellung der Literatur über Hysterie seit dem Jalire 1896.
(6. Fortsetzung.)
93. G. Diga, Essai snr la eure pr^yentive de l'hysterie feminine
par r^ducation. Paris. Felix Alcan. 1898. 96 S.
Die Arbeit stellt eine Doctorarbeit dar. Dass eine Anfängerin auf dem Gebiet
der Medicin nicht einem solchen Thema vollständig gewachsen ist, war vorauszit-
sehen. So findet man denn auch Sätze wie: „Die Hysterische hat das heisseste
Verlangen, ihr Leiden zu behalten'' (p&?> ^0). Andererseits enthält die Arbeit
einige gute Bemerkungen, wenn dieselben auch sehr allgemein und wenig präcis
gehalten sind.
Verf. will jugendlichen Kranken, „Novizen der Hysterie'', durch erzieherische
£inflasse helfen. Sie bekämpft zunächst eine einseitige Zurückführung der Hysterie
auf eine unabänderliche Heredität. Diese stellt vielfach nur eine Disposition dar,
die dann unter ihr günstigen Bedingungen manifest wird. Zu diesen Bedingungen
gehört eine falsche Erziehung (pag. 19). Die Erziehung hat ein gemüthliches
(rleichgewicht, eine Einheit der Persönlichkeit zu erstreben, sie hat jede Neigung
zur Unwahrheit und zum Theaterspielen zu unterdrücken, nach Kräften immerfort
durch Beschäftigung die Aufmerksamkeit zu fesseln. „Uebergrosses Leiden und
Ueberarbeitong erzeugt vielleicht eine Neurasthenie, aber keine oder fast keine
Hysterie.'' Zunächst ist eine möglichst einheitliche, von ungleichen Eindrücken
freie Erziehung zu erstreben. Als eine die Concentration der Aufmerksamkeit
fesselnde und daher dazu erziehende Beschäftigung wird die mit Mathematik em-
pfohlen. Bei schwerer Nervosität der Mutter ist eine Entfernung aus dem Hause
ZQ fordern. Schliesslich wird zur Vorsicht gemahnt bezüglich des Anhörens und
des Ausübens von Musik. O. Vogt.
94. Sante de Sanctis^ I sogni et il sonno nell' isterismo e nella
epilessia. Hom. D. Alighieri. 1896. 217 S.
Nach einer historischen Einleitung über die Beziehungen der Träume zum
Mystidsmus, über die Methoden der Erforschung der Träume und über die klinische
Bedeutung der Träume, kommt Verf. zu seinen eigenen Studien (pag. 41). Verf.
hat zu seinen Feststellungen ausschliesslich hysterische und epileptische Kranke mit
234 Zusammenstellung der Literatur über Hysterie.
sicherer Diagnose gewählt. Alle zweifelhaften Fälle oder Kranke, die noch andere
krankhafte Erscheinungen hatten, hat er ausgeschlossen. Verf. hat die Kranken
speciell nach ihrem Schlaf und ihren Träunxen gefragt und hat ihre Angaben durch
die Angehörigen und das Wachpersonal prüfen lassen. Dabei versuchte Verf. ein
„Stigmate onirica**, d. h. ein durch bestimmte Eigenthümlichkeiten des Schlafes
characteristisches Moment bei den Hysterischen und ein „Sindrome nottuma** bei
den Epileptikern zn etabliren. Verf. untersuchte 1. die allgemeine Gestaltung des
Schlafes, 2. Häufigkeit der Träume, 3. ihren Inhalt und speciell den üblichen emotio-
nellen Inhalt, 4. die Beziehung zwischen dem Traum- und dem Wachleben in den ver-
schiedenen Stadien der Erkrankung, 5. das Erinnerungsvermögen fiir die Trilnme.
Verf. hat 98 Fälle von Hysterie untersucht: 43 Frauen und 10 Männer der
grossen und 45 Frauen der kleinen Hysterie, femer 45 vom g^and mal, 21 vom
petit mal und 25 ehemalig von Epilepsie befallen gewesene Kranke.
Die Resultate des Verf. sind folgende:
Ebensogut wie bei den Hysterischen ist bei den Epileptischen habituelle
complete Insomnie selten, dabei bei den Letzteren noch seltener als bei den
Ersteren.
Eine periodische complete Insomnie findet sich in beiden Krankheiten,
und zwar speciell bei Personen, die sonst tief schlafen.
Eine partielle Insomnie ist häufig bei der kleinen Hysterie und dem
petit mal, sowie bei den leichteren Schläfern der grande hysterie und des grand mal.
Von den 53 Fällen von grande hysterie waren 21 tiefe, 32 leichte, von
den 45 Fällen von petite hysterie 4 tiefe, 41 leichte, von 45 Fällen des grand
mal 27 tiefe, 18 leichte, von 21 Fällen von petit mal 8 tiefe, 13 leichte
und von 25 Fällen ehemaliger Epilepsie 18 tiefe und 7 leichte Schläfer.
Schlaf w^andeln fand sich bei 1 hysterischen Person; ehemalig war es bei
6 Hysterischen und 4 Epileptischen aufgetreten.
Schlafsprechen war habituell bei 9 Hysterischen und 2 Epileptikern und
episodisch bei 12 Hysterischen und 5 Epileptikern.
Plötzliches Aufschrecken aus dem Schlaf ist beinahe gleich häufig
bei petite hysterie und petit mal ; abnehmend häufig bei grande hysterie, grand mal.
ehemaligen Epileptikern.
Hypnagogische Hallucinationen sind zu constatiren bei der Hallte
der an grande hysterie Leidenden, bei 38 von 45 an petite hysterie Leidenden, bei
6 von 45 an grand mal Leidenden, bei 12 von 21 an petit mal Leidenden und bei
0 von 25 früheren Epileptikern.
Sehr häufiges Alpdrücken bei 6 grande hysterie, bei 0 petite hysterie, bei
10 grand mal und 7 — 8 petit mal, 0 bei den ehemaligen Epileptikern.
Bezüglich der Häufigkeit und des Inhaltes der Träume ist Folgendes
hervorzuheben :
Von den 53 Fällen von grande hysterie waren 35 mittelmässige Träumer,
10 starke Träumer und 8 Nichtträumer. Von den 45 Fällen von petite hysterie
waren 41 starke Träumer und 4 Nichtträumer. Von den 45 Fällen von grand mal
waren 10 starke Träumer, 20 mittelmässige Träumer und 15 Fälle, die fast nicht
träumten. Von den 21 Fällen von petit mal waren 16 starke Träumer, 4 mittelmässige
Träumer, 1 (ein Nachtwandler) träumte gar nicht. Von den 25 ehemaligen Epi-
leptikern träumten 13 sehr selten und 10 nie, blos 2 w^aren starke Träumer.
Zusammenstellung der Literatur über Hysterie. 236
Ungünstig für das Auftreten von Träumen sind ausser dem Torgeschrittenen
Alter und der minderwerthigen Intelligens Längerbesteben der Krankheit und das
Vorbandensein des grossen Anfalles, ipeciell des epileptischen.
Die Häufigkeit und der Inhalt der Träume sind bei Epileptischen mehr als
bei Hysterischen von meteorologischen Bedingungen abhängig.
Die Träume der Epileptiker sind weniger complicirt als die der Hysterischen,
iki den letzteren bandelt es sich um ganze Romane, bei den ersteren sind es
«Panorama" und schnell vorübergehende Visionen.
Bei den Hysterischen herrschen die makrozooskopischen Träume und die des
Gontrastes (zum Wachsein) vor. bei den Epileptikern die erotischen und Träume
grosser Veränderungen am eigenen Körper.
In keinem Fall von Hysterie waren Träume die Ursache der Hysterie, wohl
sber gelegentlich diejenige einzelner Anfalle.
Eine Zunahme der Zahl und der Lebhaftigkeit der Träume in Verbindung
mit anderen Störungen des Schlafes zeigt sich fast immer als eines der ersten
Symptome einer beginnenden Hysterie, speciell der durch innere Momente aus-
gelösten. Verf. bezeichnet diese Erscheinung als „onirisches Stigma" der
Hysterie.
Meist existirt ein proportionales Verhältniss zwischen Schwanken in der
Stärke dieses Stigmas und derjenigen der Gresammterkrankung. Nur in einzelnen
sehr schweren Fällen zeigte sich ein umgekehrt proportionales Verhältniss.
Ein Einfluss der Träume auf die Stimmung des nachfolgenden Tages ist evident.
Auch bei der Epilepsie giebt es ein „nächtliches Syndrom", welches
^em onirischen Stigma der Hysterischen ähnelt, aber sich in einer Reihe aus der
vorstehenden Gegenüberstellung hervorgehender Punkte von diesem unterscheidet.
0. Vogt.
95. Dr. Ernst ßartfij Das hysterische Zwerchfellasthma. Berlin.
Kiin. Wochenschr. 1898, Nr. 42, 43.
Verf. giebt im ersten Theil seiner Abhandlung einen Ueberblick über die je
nach der verschiedenen Localisation der Störung verschiedenen Symptome der Ath-
moiigsstörungen und bespricht dieselben eingehend nach ihrer differenzial-diagnos-
tischen Bedeutung. Er theilt sodann folgenden Fall von hysterischem Zwerchfell-
ssthma — wie er das Symptomenbild zu benennen vorschlägt — mit.
Ein 23 Jahre alter nicht belasteter Unterofficier erkrankte im Mai 1897 an
Athemnoth, nachdem er schon früher einmal nach anstrengendem Commandiren an
14 Tage anhaltender Stimmlosigkeit gelitten hatte. Trotzdem that er seinen Dienst
weiter, bis er sich am 19. April 1898 krank meldete. Bei der Untersuchung wurde
constatirt kein Fieber, keine Cyanose, keine Oedeme, starke Dyspnoe. Auf eine
starke 3 Secunden dauernde mit Hilfe aller auxiliären Inspirationsmuskeln vorge-
nommene Inspiration folgte eine ungefähr ebenso lange mit starker Anstrengung
der Exspiratoren und krampfhaften Zuckungen der Bauchmuskeln verbundene Ex-
spiration, dann eine A-rb Secunden anhaltende Athempause, so dass nur 4 — ^5 Athem-
züge in der Minute zu Stande kamen. Es bestand eine ausserordentlich starke
Blähung beider Lungen, so dass eine Herzdämpfung nicht zu erhalten war, ohne
katarrhalische Erscheinungen, ohne Husten, ohne Auswurf, vesiculares Athmen,
Tiefstand des Zwerchfells auch während der Ausathmung; der Puls war auffallend
236 Zusammenstellung der Literatur über Hysterie.
dünn und schwach gespannt, 84 regelmässig, die Herztöne dumpf und leise. Fat
klagte Schmerzen in Brust und Leib. Auffallend war das Missverhältniss zwischen
den beängstigenden Athmungserscheinungen und dem Verhalten des Kranken, der
ruhig zu seiner Unterhaltung lesend im Bette sass, sich lebhaft aufrichten und be-
wegen konnte, nachts ganz gut ohne Beschwerden mit ruhiger Athmung schlief
Dieses subjectixe Verhalten, der Mangel jeder Veränderung in den Luftwegen,
jeder Oedeme und Gyanose, das Fehlen der Erscheinungen während der Nacht und
der Umstand, dass die Dyspnoe stärker wurde, wenn sich der Kranke beobachtet
sah, veranlassten den Verf., der anfangs wegen der Erscheinungen von Seiten des
Herzens und des Pulses wohl an ein cardiales Asthma gedacht hatte, sehr bald seine
Diagnose auf einen hysterischen tonischen Zwerchfellkrampf zu stellen, obwohl sich
hysterische Stigmata nicht feststellen liessen.
Der Zwerchfellkrampf ging nach zwei Wochen ganz unvermittelt in eine
Zwerchfelllähmung über, zu der sich nach wenigen Tagen clonische Krämpfe der
Bauchmuskeln gesellten. Die Symptome der Lungenblähung und der Herabsetzung
des arteriellen Druckes verschwanden damit, die Athembesch werden bestanden je-
doch weiter und eine sehr hartnäckige Obstipation trat hinzu. „Die Behandlung
bestand neben Faradisirung der Nn. phrenici in dem Unterricht bezw. in dem Ein-
üben der richtigen Athmung.*^
Verf. weist in Anschluss an schien Fall auf den von Wernicke^) beschriebenen
nervösen Athmungstypus hin, den jener auf eine lusufücienz der Nn. phrenici bei
Hysterischen zurückführt und als Asthma phrenicum bezeichnet. Das unter Asthma
phren. zusammengefasste Symptomenbild sei zu erweitem, da Verf. auch seinen Fall
dazu gerechnet wissen will.
Die Entstehung der Erkrankung ist Verf. geneigt auf Ueberanstrengnng zu-
rückzuführen, da auch die fniher aufgetretene Heiserkeit, die nicht allein auf einer
katarrhalischen Entzündung, sondern auch auf ungenügender Adduction der Stimm-
bänder beruhte, nach einer Anstrengung beim Commandiren sich entwickelte. Er
meint, dass bei körperlichen Anstrengungen durch die erhöhten Anforderungen an
die Respirationsthätigkeit eine Parese oder Paralyse des Zwerchfells entstehen kann
„Indem nun immer stärkere Innervationsimpulse nöthig werden, die beabsichtigte
Bewegung auszulösen, kann der Fall eintreten, dass die beabsichtigte Contraction
nicht wieder nachlässt, oder dass der verstärkte Impuls auf die Antagonisten über-
greift und nunmehr gewisse Bewegungen auslöst.** Auf diese Anschauung stützt
sich auch die Therapie, welche „auf der Einübung zeitlich und quantitativ richtig
abgestufter Willensimpulse auf die einzelnen Muskelgruppen" beruht.
Tecklenburg-Leipzig.
96. Ziehen, Hysterie. — Artikel in der Real-Encyclopädie der gesammten
Heükunde. III. Auflage. 1896. S. 302—390.
Aus der vorliegenden umfangreichen Bearbeitung der Hysterie, welche das
gesammte Erfahrungsmaterial über dieses Gebiet in prägnanter und zugleich er-
schöpfender Weise zur Darstellung bringt, sollen hier nur einzelne, grössere Be-
deutung beanspruchende Punkte herausgegriffen werden.
') Wernicke, Die Insufficienz der Nervi phrenici und ihre Behandlung.
3Ionats8chr. f. Psych, und Nervei. 1898, S. 200.
Zusammenstellttngf der Literatur über Hysterie. 237
Verf. bezeichnet die Hysterie als eine chronische, allgemeine func-
tionelle Neurose, d. h. er zählt sie zu jenen Krankheiten des Nerrensystems,
welche nach unseren augenblicklichen pathologisch-anatomischen Kenntnissen nicht
auf einer wahrnehmbaren Verändenuig des Gewebes, sondern auf einer Störung
der Function beruhen/'
Aus der ungemein reichhaltigen Symptomatologie, welche Verf. bis ins kleinste
Detail rerfolgt, sollen nur die Hauptsymptome genannt werden. Zu denselben
rechnet Verf.:
1. Anomalien der Stimmung und des Characters.
2. Krampfanfälle von typbchem Verlauf, innerhalb dessen ein Stadium coordi-
nirter Bewegungen auftritt.
3. Lähmungen theiU mit. theils ohne Contractur.
4. Sensible und sensorische Störungen.
5. Druckpunkte.
Gemeinsam ist allen diesen Hauptsymptomen der Hysterie ein Merkmal, die
Veränderbarkeit durch Vorstellungen, doch kommt demselben keine absolute Be-
deutung zu, da es ja gelegentlich auch bei anderen Krankheiten zu beobachten ist.
Im Allgemeinen klassificirt Verf. die Symptome in 4 Gruppen:
I. Literralläre somatische Symptome.
II. Den hysterischen Anfall.
III. Intervalläre psychische Symptome.
IV. Hysterische Psychosen.
Unter den intervallären psychischen Symptomen bespricht Verf. den ps^xhischen
Zastand der Hysterischen ausserhalb der Krampfanfalle und Tollentwickelten Psy-
chosen in allen seinen elementaren pathologischen Aeusserungen. Ein Hauptgewicht
legt er dabei, wie die Mehrzahl anderer Autoren, auf die Affectstörungen (die
Maasslosigkeit und Labilität der Affecte und die krankhafte Stimmungslage), welche
neben der enormen Suggestibilität den Urquell für den Polymorphismus des hyste-
rischen Krankheitsbildes abgeben.
Die hysterischen Psychosen decken sich im Grunde mit den gleichnamigen
Psychosen nicht hysterischer Individuen, nur dass sie aus der Grunderkrankung
gewisse Characterzüge übernehmen. Verf. unterscheidet die maniakalische Exaltation,
die melancholische Verstimmung und die Paranoiaformen. Den Dämmerzustand
der Uysterischen bezeichnet Verf. als acute hallucinatorische Paranoia.
In den theoretischen Erörterungen über die Natur der fonctionellen Störungen
bei Hysterie und über die sog. hysterische Veränderung des Nervensystems wendet
sich Verf. gegen jede der einzelnen bislang aufgestellten Hypothesen; er pflichtet
keiner in vollem Umfange bei, gesteht aber zu, dass jede einen richtigen Kern
in sich habe. Zweifellos ist nach seiner Ansicht an der von Moebius haupt-
sächlich vertretenen Lehre das eine richtig, dass die hysterischen Symptome
dorch Vorstellungen in ungewöhnlicher Weise beeinflussbar sind. Verf. geht sogar
soweit zu sagen, das einzige Merkmal, welches ganz allgemein den hysterischen
Symptomen zukomme und sonach das Wesen derselben am präcisesten zusammen-
fasse, bleibe die Beeinflussbarkeit durch Vorstellungen. Andererseits entlehnt
Ziehen der Janet' sehen Lehre, welche die Einschränkung des Bewusstseins-
feldes und der psychischen Verknüpfungsfähigkeit als das wesentliche Kennzeichen
der Hysterie betrachtet, einen Grundgedanken, indem er Associationsstörungen bei
238 Zusammenstellung der Literatur über Hysterie.
dem Zustandekommen vieler hysterischer Symptome eine grosse Bolle spielen
lässt: „Normale associative Verknüpfungen functioniren nicht (Afunction). oder
ungenügend (Hypofunction) , während andere in abnormem Grade functioniren
(Hyperfnnction).^ Schliesslich erkennt Verf. neben der Jan et 'sehen Auffassung
auch der Annahme von Charcot eine gewisse Berechtigung zu, welcher mit
Oppenheim geneigt ist, einen primären Ausfall resp. eine primäre abnorme
Intensitätssteigerong einzelner Empfindungen und Vorstellungen für die hysterischen
Symptome verantwortlich zu machen.
Oemäss diesem Vermittlungsstandpunkte schreibt Verf.: „Die einzelnen Sym-
ptome stellen die veischiedensten Abweichungen von den normalen Erregungen
dar, Uebererregungen und Uebererregbarkeit, Herabsetzung der Erregung und der
Erregbarkeit. Ein grosser Theil ist direct auf psychische Veränderungen — hypo-
chondrische Vorstellungen, Association&beschränkungen, primären functionellen Ver-
lust von Vorstellungen und Empfindungen — mit zu beziehen; für einen kleineren
Theil ist ein solcher Zusammenhang nicht nachweisbar.''
Localisatorisch sind die hysterischen Symptome, nach der Ansicht Ziehen *s,
theils auf fiinctionelle Veränderungen der Hirnrinde, theils auf ähnliche Verände-
rungen nicht corticaler Theile des Centralnervensystems zu beziehen.
Brodmann- Jena.
97. Oppenheim^ Die Hysterie. Lehrbuch der Nervenkrankheiten. H. Auf-
lage. 1898.
Im Gegensatz zu anderen Autoren verlegt O. den Ort der hysterischen Ver-
änderung in die Hirnrinde. Er meint, es handle sich bei der Hysterie dem Wesen
nach wahrscheinlich um moleculare Veränderungen im Centralnervensystem, ins-
besondere in der Hirnrinde und zwar um „eine Steigerung der feinen Differenzen
in der Organisation des Gentrainer vensystems, welche schon bei Gesunden ange-
nommen werden müssen, um die Unterschiede in der Erregbarkeit der verschiedenen
Personen, Geschlechter, Racen zu erklären."
Klinisch bezeichnet er die Hysterie als ein „Seelenleiden, welches seinen Aus-
druck nicht in intellectuellen Störungen, sondern in Anomalien des Characters und
der Stimmung findet und sein innerstes Wesen hinter einer fast unbegrenzten Zahl
körperlicher Erscheinungen verbirgt."
Als unabänderlichen Grundzug in dem Geisteszustände der Hysterischen er-
klärt Verf. einerseits die abnorme Reizbarkeit und den jähen Stimmungswechsel,
andererseits die gesteigerte Einbildungskraft oder Beeinflussbarkeit durch Vor-
stellungen.
Anfallsweise auftretende Störungen des Seelenlebens bei Hysterie sind:
1. Angstznstände.
2. Hallucinatorische Delirien.
3. Somnambule und hypnoide Zustände, zu welchen die Katalepsie, die Lethargie,
hysterische Schlafattaquen und der Somnambulismus zählen.
4. Eigentliche Psychosen, welche nur gewisse hysterische Züge in ihrem Ver-
laufe darbieten, eigentlich aber eine Combination von Geistesstörung mit' Hysterie
darstellen. — Zwangsvorstellungen sind nicht zum Bilde der Hysterie zu rechnen,
sondern fallen auf Kosten der gleichzeitig bestehenden psychopathischen Degene-
ration. Brodmann- Jena.
ZnsammenfltelluDg der Literatur über Hysterie. 239
98. Magnanj D^lires dans Tepilepsie et Thyst^rie. Progrds m^dical
1896 in Nr. 16 p. 241.
Verf. stellt den Constitution eilen Geist esstöruogen, welche aof dem Boden
einer speciellen Pradisposition entstehen, die accidentellen gegenüber, d. h.
solche Geistesstörungen, welche pathognonionisch sind für eine ganz bestimmte,
unmittelbar auslösende Ursache (facteur productif), Schritt für Schritt den Schwan-
kungen dieser Ursache folgen, mit ihr entstehen, mit ihr verschwinden und wieder-
kehren, vorübergehend oder dauernd sind, je nachdem die Entstehungsursache
nur einen Moment wirksam bleibt oder die nervösen Centren für immer schädigt.
Zu den accidentellen Geistesstörungen gehören in erster Reihe jene lecundären
pgycbopathischen Zustände, welche aus den Neurosen hervorgehen, insbesondere der
Hysterie und Epilepsie, und welche sich an convulsivische Krisen anschliessen oder
an deren Stelle treten. Sie besitzen stets einen wohlausgeprägten Character, der
ihren specifischen Urspning verräth.
Davon zu trennen sind jene anderen Delirien, welche unabhängig von den
Anfällen der Epilepsie und Hysterie auftreten können. Diese Formen sind ge-
wissermaassen autonom und existiren selbständig neben der Neurose.
1. Die epileptischenGeistesstörungen zerfallen in folgende Unterformen :
a) Postepileptische Delirien. „Jeder paroxys tische Zustand der epileptischen
Nenrose, Krampf oder Vertigoanfall , kann von intellectuellen Störungen gefolgt
iein." Die specitischen Merkmale derselben sind: Automatismus während des An-
falls und consecutive Amnesie für den ganzen Vorgang.
Der Automatismus kennzeichnet sich durch unbewusste, unmotivirte Trieb-
handlungen (Impulsionen), welche entweder nur einige Augenblicke dauern und
z. B. in dem Versuch der Strangulation bestehen oder sich über längere Zeit er-
strecken und zu complicirten Acten, grossen Reisen etc. fähren. Solche Acte
gleichen vollkommen den somnambulen Zuständen mit dem einzigen Unterschiede,
dass die Erinnerung niemals wiederkehrt, obwohl spätere Attaquen sehr häutig die
früheren mit grosser Treue reproduciren.
Alle derartigen Störungen sind nur Theilerscheinungen des epileptischen Irreseins
im Allgemeinen, das entweder ein diffuses oder ein systematisirtes ist.
Die diffuse epileptische Psychose kann unter verschiedenen Formen verlaufen :
einer maniakalischen. melancholischen, stupiden oder extatischen, einer periodischen
oder altemirenden. Hallucinationen sind dabei constant; sie bestimmen vielfach das
Krankheitsbild durch ihren Inhalt und tragen zur Systematisation des Delirs bei.
Eine Art Systematisation besteht auch beim epileptischen Somnambulismus,
welcher sich häufig an einen initialen postparoxysmalen deliranten Zustand an-
9<!hliesst. Der Kranke wird von einer bestimmten fixen Idee, bald mystischen, bald
erotischen, bald persecutorischen . bald expansiven Characters beherrscht und
handelt dementsprechend. Die Dauer beträgt nie über 3 Wochen und es besteht
immer eine totale Amnesie für alles Vorgefallene. Das Delirium ist für den
Kranken ein unbekannter Roman, den er zum ersten Male hört.
b) Die unabhängig von epileptischen Attaquen auftretenden intellectuellen
Störungen sind als Epilepsia larvata (Morel) oder psychische Aequivalente
(Uaudsley) beschrieben worden. Sie hinterlassen eine scharf umschriebene, totale
Bewusstseinslücke im Leben des Patienten und sind eigentlich den postepileptischen
Delirien gleichzustellen.
240 ZiisammeDstellung der Literatur über Hysterie.
c) Präepileptische Delirien, welche unmittelbar dem convulsivischen Anfall
vorangehen sollen, bestreitet Verf. Dieselben sind nichts anderes als eine Steigerang
der habituellen Affectivität der Epileptiker und hinterlassen keine Erinnerungs-
lücken. „Damit ein Delir eine Spur im ßewusstsein zurücklasse, muss das Gehirn
zuerst von einer Entladung betroffen sein. Der Anfall ist die erste Bedingung der
Bewusstlosigkeit und der Amnesie."
d) Dauernde Veränderungen des Geisteszustandes der Epileptiker sind:
a. Die epileptische Cbaracterveränderung, die krankhafte Gemüthsreizbarkeit.
ß. Die epileptische psychische Degeneration, eine völlige Desequilibration der
Geisteskräfte mit Störungen auf allen Gebieten (Intelligenz, Willensthätigkeit und
Sinnesfunctionen) mit intercurrenten Delirien, sowie mit episodischen Syndromen,
bestehend in Zwangsvorstellungen, Triebhandlungen und bewussten Hemmungen.
2. Die psychischen Störungen bei Hysterischen lassen sich eben-
falls in 2 Gruppen unterbringen:
a) in solche, welche nur eine Episode des convulsivischen Anfalles, gewisser-
maassen das Endstadium desselben darstellen, sehr kurz dauern und inhaltlich
durchaus durch die Hallucinationen bestimmt sind. Dies sind die eigentlichen
hysterischen Delirien;
b) in solche, welche ganz unabhängig von den hysterischen Anfällen auftreten.
Aus denselben ist eine Form herauszugreifen, welche die postparoxysmellen Delirien
reproducirt und demnach als ein Aequivalent des hysterischen Anfalls bezeichnet
werden kann. Verf. meint, es könne sich dabei um eine Art rudimentären Anfalls
handeln.
Alle übrigen Formen der hysterischen Psychosen unterscheiden sich in nichts
von den gewöhnlichen Psychosen, „man kann daher bei der Hysterie alle Formen
der Geistesgestörtheit beobachten", sie tragen jedoch, wie Verf. meint, meist das
Kennzeichen einer psychischen Degeneration, sind degenerative Psychosen, wie ja
auch die Hysterie an sich der Ausdruck einer Entartung des Individuums ist.
„Die Hysterie erscheint uns mehr als ein episodischer Zufall, aufgepfropft auf einen
degenerativen Boden." Brodmann- Jena.
99. Raymotid, „Les Delires ambulatoires ou les Fugues". Legons
sur les maladies du Systeme nerveux 1896, Le^on XXXI und XXXII, 591 — 637.
Verf. definirt den Begriff des „Delire ambulatoire" oder der „Fugue" als
eine impulsive, scheinbar zweckvolle Handlung von zusammengesetztem und wohl-
geordnetem Character mit totaler Amnesie. Er versteht darunter jenes den
Franzosen längst bekannte psychopathologische Phänomen, das verschiedentlich
theils als somnambuler Automatismus, als automatisches Herumwandem (antomatiame
ambulatoire), als Dromomanie, Dämmerzustand etc. beschrieben worden ist und
von einer Reihe französischer Autoren als hysterischer Somnambulismus resp. Auto-
matismus dem Krankheitsbilde der Hysterie untergeordnet wurde. Zu deutsch liesse
sich das Symptom am besten als „Wandertrieb" wiedergeben.
Dasselbe besteht darin, dass ein Kranker anscheinend motivlos sich aus seinen
Alltagsverhältnissen entfernt, in einer Art „zweiten Bewusstseins" (etat second)
» längere oder kürzere Zeit (selbst mehrere Monate) umherreist, sich dabei durchaus
zweckmässig benimmt, seiner Umgebung kaum auffällt und dann zum eigenen Er-
staunen plötzlich an einem ganz fremden Orte zu sich kommt ohne auch nur die
Zusammenstellimg der Literatur über Hysterie. 241
geringtie Erinnerung an die Vorgänge der Zwischenzeit, an die Dauer seiner
Reise, an die Veranlassung zu derselben, an sein eigenes Verhalten etc. zu be-
sitzen.
Verf. beschreibt zunächst folgenden Fall:
F., 30jiihriger, intelligenter, tüchtiger Bahnbeamter, aus einer schwer neuro-
pathisch belasteten Familie stammend, bei deren Mitgliedern mehrfach hysterisch
somnambule Zustände, £lrämpfe und selbst Schwachsinn vorgekommen sind, hat
«chwere erschöpfende fieberhafte Tropenkrankheiten durchgemacht, sich in letzter
Zeit geistig sehr überanstrengt, ist durch den Tod seiner ersten Frau gemüthlich
stark erschüttert worden und verfallt nun plötzlich in unmittalbarem Anschluss an
einen geringfügigen, jedoch ungewohnten Alkoholexceas in einen dämmerhaften
Zustand, in dem er für 8 Tage das Bewusstsein seiner selbst verliert, eine Reise
Ton Nancy nach Brüssel unternimmt und hier völlig amnestisch für das Vorge-
fallene aufwacht. Als er wieder zu sich kam, fand er sich auf freiem Felde im
Schnee liegend, völlig erschöpft, mit heftigen Kopf- imd Magenschmerzen; es war
Nacht und mit Mühe konnte er sich einem Strassenbahngleise entlang zu einer
Stadt hinschleppen, wo er erfuhr, dass er sich in Brüssel befände und dass 8 Tage
Terflossen seien seit jenen letzten Ereignissen, die noch in seinem Gedächtnisse
haften geblieben waren. £r erinnert sich, dass er nach längerer, aufreibender geistiger
Thätigkeit eine Arbeit eben fertiggestellt hatte und nun an dem Morgen des be-
wQssten Tages zu seiner Zerstreuung in ein Cafe eintrat, wo er mit einigen Bekannten
Billard spielte, mehrere Glas Bier trank und dann wegging, um mit einem Freunde
zasammen Mittag zu speisen. Er erinnert sich, dass er auf dem Wege zur
Wohnung mitten auf einer Brücke plötzlich von einem intensiven Kopfschmerz be-
iallen ¥nirde. Ort, Zeit und äussere Umstände dieses Vorkommnisses sind ihm
noch genau erinnerlich. Von jenem Augenblick ab jedoch ist die Erinnerung völlig
geschwunden.
Da nachher eine spontane Wiederkehr der Erinnerung eintrat, ergab die
psychologische Analyse genauen Aufschluss über den ganzen Vorgang und damit
einen gewissen Einblick in die Psychogenese und das Wesen des krankhaften
Zustandes.
Körperlich bot der Patient zunächst eine Reihe nervöser Beschwerden (Kopf-
schmerz, allgemeines Gliederzittem, Gefühl von Schwäche und Abgeschlagensein
Abstumpfung des GeschMackes) ; wirkliche hysterische Stigmata (Sensibilitäts-
storangen, Gesichtsfeldeinengung etc.) bestanden nicht. Ob hysterische Krämpfe
den Zustand eingeleitet resp. beendet haben, konnte nicht in Erfahrung gebracht
werden. Ein Hypnoseversuch misslang wegen der Befangenheit und Aengstlichkeit
des Kranken.
Während der Beobachtung im Krankenhause wurde nun zuerst festgestellt,
dass P. im Traume von den Erlebnissen während seiner Flucht redete ; sodann fand
er ein mit einer Adresse in Brüssel versehenes Billet in der Rocktasche ; dieses gab
ihm den Anlass, zunächst nach einem Stützpunkte in seinem Gedächtnisse zu
suchen und die folgenden Nächte kamen ihm, anknüpfend an die auf das Billet
bezüglichen Vorgänge, in einem Zustande natürlichen Halbschlafes immer mehr
Erinnerungen zurück, aus denen er allmählich den Zusammenhang der Gescheh-
nisse reconstruirte. Es stellte sich heraus, dass P. seit Wochen auf Gb'und einer ver-
leumderischen Anschuldigung seitens seines Bruders beständig von dem Gedanken
Zeitschrift für Hypnotismus etc. IX. ^6
248 Zusammenstellung der Literatur über Hysterie.
gequält gewesen war, vor der Polizei fliehen zu müssen. An jenem Tage war unter
dem Einfluss des Alkohols diese Idee mit einer impulsiven Macht über ihn ge-
kommen, yerstärkt Tielleicht durch ganz natürliche Vorwürfe, welche er sich darüber
machte, dass er sich im Zustande der Trunkenheit mit einem Weibe vergangen
hatte. Von dieser Idee getrieben, irrte P. 8 Tage lang umher, fuhr von Ort zu
Ort, wollte sich, aller Mittel bar, in die Fremdenlegion anwerben lassen und wachte
schliesslich, von Hunger und Prost fast erstarrt, unter dem Einfluss der sich ihm
aufdrängenden körperlichen Schmerzen und durch eine enorme Willensanstrengung
aus seinem traumhaften Zustande auf.
Die Analyse des Falles ergab also als treibende Ejaft für die Flucht des F.
mne afiectstarke Vorstellung, eine Suggestion; diese Vorstellung setzte sich in
einem Moment verminderter geistiger Widerstandskraft (Alkohol) in eine impulsive
Handlung um und führte zu einer Art somnambulem Zustande mit nachfolgender
totaler Amnesie.
Verf. wirft nun die Frage auf, unter welches klinisch-ätiologische Krankheits-
bild der Fall zu rechnen sei. Das Vorkommen ähnlicher Zustände ist bekannt:
1. bei Epilepsie und zwar besonders im Anschluss an Anfälle von absences
und vertiges. Gemeinsam ist der epileptischen Fugue mit dem geschilderten
Krankheitsbilde der unwiderstehliche, impulsive Character der Handlung und die
totale Amnesie. Als Unterscheidungsmerkmale sind hervorzuheben: die kürzere
Dauer der epileptischen Fugue, die Beziehung derselben zu anderen epileptischen
Symptomen, welche deren Anfall einleiten oder unterbrechen (vereinzelte Zuckungen,
Zungenbiss, XJrinabgang, sterboröser Schlaf) und schliesslich der ungeordnete, oft
gewaltthätige Character der Triebhandlungen, kurz die ausgeprägtere Dissociation
der geistigen Vorgänge. „Der Epileptiker handelt wie ein Automat
2. Der Wandertrieb der Dege nerirten (Fugue des psychastheniques.
J ane t). Die Handlung entspricht hier einem nicht immer ganz unbewussten Impuls;
der Kranke folgt einem unbestimmten inneren Triebe, ohne zu wissen warum und
ohne demselben zu widerstehen. Es besteht keine Amnesie.
3. Bei Hysterischen sind zweifellos somnambule und automatische Zustände
von traumhaftem Bewusstsein, welche den Kranken zu einer fluchtähnlichen Hand-
lung verleiten, am häufigsten. Oharacterisch für die hysterische Fugue ist a) der
unwiderstehliche Trieb zur Handlung, die Impulsion. b) die Coordination und
Ueberlegung bei allem Handelr, welche auf einen dauernden Rapport mit der Um-
gebung hinweisen, c) das Schwinden der Amnesie im künstlichen Somnambulismus
oder im somnambulen Traum.
Letztere Merkmale trefien bei dem kranken P. alle zu; es handelt sich abo
um einen hysterischen Dämmerzustand. Verf. meint, die hysterische Fugue sei
eine suggerirte Handlung, welche sich während eines hysterischen Somnambulismus
abspiele. Der triebartige Character der Handlung erkläre sich durch die Macht
der Suggestion, die Amnesie durch den Somnambulismus. Mit anderen Worten,
die hysterische Fugue (Dämmerzustand) sei nur die Manifestation einer fixen Idee
auf hysterischer Basis, welche zur Abspaltung einer von dem übrigen Bewusstseins-
inhalte isolirten Vorstellungsreihe, zur Bildung eines sog. „zweiten Bewusstseins''
(etat second) führt, dessen Inhalt mit den Vorgängen des wachen Zustandes ausser
aller associativer Verknüpfung steht und daher von Amnesie gefolgt ist. Der
ZuaammeBBtellnng der Litemior aber Hyiterie. 248
SoiDSAmbiiluniiu schwinde mit der suggfeitiTen Idee und gleichzeitig kehre auch
die £rinnening an daa Vorgefallene wieder.
DifferentialdiagnotÜich hebt Verf. hervor, dasf die fintscheidnng, ob es sich
um einen hysterischen oder epileptischen oder einen psychasthenischen Zustand
handle, anf die pathologische Vergangenheit des Kranken, auf den Character der
Fagne selbst, sowie auf eventuelle Nebenerscheinungen derselben zu stützen sei.
All Hauptmerkmale sind zu beachten:
a) der Grad der Amnesie, welche die hysterische und epileptische Fugue von
den psychasthenischen Impulsionen. Triebhand lungeu unterscheidet;
b) der Grad der Coordination und der Vemänftigkeit in den Handlungen,
welche die Fugues im eigentlichen Sinne, als hysterische Erscheinungen, von den
Abscenceznstanden und dem delire procursif der Epileptiker trennt.
Die Ueberlegung und Ordnung im Handeln, die Entwicklung einer „zweiten
Penonlichkeit" im Sinne eines sich über längere Zeit erstreckenden Doppel-
bewosstseins, sowie endHch die Möglichkeit der Erzeugung des künstlichen Somnam-
bulismus mit Wiedererweckung der verlorenen Erinnerungen bezeichnet Verf. als
beweisend fiir Hysterie. Dieser Complex von Erscheinungen ist nur bei der
typischen Fugue anzutreffen und daher ist dieselbe auch der Hysterie unterzuordnen.
Ob es überhaupt einen epileptischen Somnambulismus giebt, vermag Verf. nicht zu
entscheiden, er möchte es jedoch auf Grund seiner Erfahrung bezweifeln.
Therapeutisch empfiehlt Verf. in allen derartigen Fällen, abgesehen von der
liegen die conatitutionelle Schwäche gerichteten Allgemeinbehandlung eine specielle
Psychotherapie, und zwar die Bekämpfung der triebartigen Motive (idee fixe), im
besonderen bei den Psychasthenikem die Wachsuggestion, bei Hysterischen die
psychoanalytische Erforschung der krankhaften Vorstellungen in der Hypnose.
Im gerichtlich-medicinischen Sinne sind alle während einer Fugue (Dämmer-
nistand) begangenen Handlungen straffrei; die Kranken sind nicht verantwortlich
zu machen für ihr Thun und Lassen und bedürfen der Unterbringung in einem AsyL
£rodmann- Jena.
100. V. Krafft-Ebing, Ueber Dämm er- und Traumzustände. Arbeiten
aus dem Gesammtgebiet der Psychiatrie und Neuropathologie. III. Heft. 1898,
pag. 22—96.
Die Dämmer- und Traumzustände werden vom Verf. definirt als Keactions-
erscheinungen des Bewusstseinsorgans auf unbekannte Veränderungen desselben,
die bei verschiedenen functionellen und organischen Erkrankungen des Gentral-
nervensystems episodisch vorkommen können. Phänomenologisch sind sie den noch
physiologischen Zuständen des Halbschlafes und des Traumes zur Seite zu stellen,
es sind Zustände von traumhafter Bewusstseinstrübung.
Früher waren derartige Zustände nur sicher bekannt in klinischem Zusammen-
hang mit der Epilepsie und sie wurden als „epileptoide" bezeichnet. Verf. selbst
hat in zwei getrennten hier zum Wiederabdruck gelangten Aufsätzen aus den
Jahren 1875 und 1877 eine Reihe interessanter Beobachtungen über epileptisches
Irresein mit Dämmerzuständen veröffentlicht. In einem dritten Aufsatze aas dem Jahre
1898 geht er auf Grund seiner reicheren Erfahrung weiter und beweist, dass solche
Zustände nicht nur bei Epilepsie, sondern auch im Rahmen der Neurasthenie, der
Hysterie, des Alkoholismus, der progressiven Paralyse und der Lues cerebralis vor-
16*
244 Zoflammenstellung der Literatur über Hysterie.
kommen. Ohne die Schwierigkeiten der Aufgabe zu verkennen, unternimmt er den
Versuch, klinisch differenzirende Merkmale der auf der Grundlage der verschiedenen
Grundkrankheiten sich entwickelnden, als Dämmerzustände zu bezeichnenden, Be-
wusstseinsstörungen aufzudecken und dadurch eine differentielle Diagnose der ätio-
logischen Formen zu ermöglichen. Er weist von vornherein darauf hin, dass positive
Stigmata einer bestimmten Neurose nur mit Vorsicht zu verwerthen sind, „da sie
das gleichzeitige Bestehen einer anderen Neurose und deren ausschlaggebende Be-
deutung für das concreto Zustandsbild nicht ausschliessen." Bei der Hysterie
komme die weitere Schwierigkeit dazu, dass sich Dämmer- und Traumzustände
^onosymptomatisch und dauernd als psychische Aequivalente von Hysteria gravis-
Anfällen ausbilden können, während bei Dämmerzuständen aus Alkoholintoxicationen
an die Complication mit Alkoholepilepsie gedacht werden müsse.
Entscheidender für die Diagnostik ist der Nachweis einer bestimmten aus-
lösenden Ursache und zwar 'sprechen palpable occasionelie Momente von cerebral
erschöpfender Wirkimg (Inanition, Surmenage, Agrypnie) für einen neurasthenischen,
psychische Noxen (Affect) für einen hysterischen, und organisch wirkende Noxen,
(Alkohol, innere Stoffwechsel-Vorgänge) mehr für einen epileptischen Dämmerzustand.
Das Schwergewicht der Diagnose muss vorläufig auf das Gesammtkrankheitsbild, auf
Entstehung, Verlauf des Anfalls und die Begleiterscheinungen der betr. Neurose
gelegt werden.
Die epileptische Natur eines Dämmer- oder Traumzustandes lässt sich,
nach Verf., erschliessen aus dem Zusammenhalt mit der Anamnese tmd eventuellen
intervallären Erscheinungen. Die Dämmerzustände selbst sind ausgezeichnet „durch
ganz planlose unmotivirte, bewusstlose Handlungen und in einigen Fällen durch
regelmässig wiederkehrende, expansive, zu Zeiten überwältigende krankhafte Vor-
stellungen. In den Zuständen von Delirium nähern sich die Kranken ekstatischen
und somnambulen Krankheitsbildern. Ihr Bewusstsein ist tief gestört, gestattet
jedoch ein scheinbar bewusstes Handeln und Sprechen."
Verf. publicirt 10 Beobachtungen, bei denen sich als Aequivalente der psy-
chischen Symptomcomplexe des petit mal und grand mal zwei Formen tiefer
Störungen des Bewnsstseins von stunden- bis wochenlanger Dauer finden: theils
protrahirte Analoga der epileptischen Bewusstseiuspausen (absences) und der inter-
paroxysmellen Dämmerzustände, theils Zustände vom Character des Deliriums.
Ausser diesen psychischen Störungen zeigen uns einzelne Fälle gemeine epileptisch
convulsive Anfälle, andere lassen Zeichen einer dauernden Störung im Central-
nervensystem erkennen, wie Kopfweh, Reizbarkeit, ängstliche Träume oder auch
intervalläre motorische Symptome und zwar Neigung zu partiellen tonischen
Krämpfen, Zittern, Nystagmus etc. Eine neuropathische Constitution verräth sich
manchmal schon durch Kinderconvulsionen. Der Ausbruch der Neurose erfolgt ge-
wöhnlich in der Pubertät.
Auf die Schilderung der Fälle im Einzelnen kann hier nicht eingegangen werden.
Die neurasthenischen Dämmerzustände kommen hinsichtlich ihrer
Häufigkeit an zweiter Stelle. Verf. theilt zwei einschlägige Beobachtungen mit.
Im Mittelpunkte des Krankheitsbildes stehen hier jeweils allgemeine nervöse Be-
schwerden, krankhafte Reizbarkeit, Schwindel, Schlaflosigkeit, schwere Träume etc.
Die Erinnerung an die Vorgänge während der Bewusstseinsstörung ist eine lücken-
hafte und summarische. Die Dauer erstreckt sich nur über wenige Tage.
Zusammenftellangf der Literatur iiber Hyiterie. 245
Ver£ rechnet nnter diese Rubrik auch den von Raymond als „transitorische
Hysterie und dMonblement de la personnalit^** beschriebenen Fall ') £r bezeichnet
denselben als einen Dämmerzustand von typisch neurasthenischem Gepräge.
Dämmer- und Traumzustände bei Hysterischen hat Verf. in fünf
Fällen beobachtet. Die Fälle sind, kurz skizzirt, folgende:
1. 14 jähr. Dienstmädchen, früher gesund, zeigt jeweils im Anschluss an Ge-
möthsbewegnngen 3 mal einen psychischen Ausnahmezustand von 4 — 5 Tagen. Sie
ist traumhaft verändert, läuft planlos umher, äussert einseitigen Ideenkreis mit
Vergifiungsideen und Selbstmordtendenz. Die Apperception der Aussenwelt fehlt.
Plötzliches Erwachen wie aus einem Traum. Amnesie. Keine Stigmata hysteriae
während der Anfälle, später links Ovarie. Schwere hysterische Attaquen von epilep-
toidem Character.
2. ISjähr. Spitalwärterin, früher schwere Hysterie, pathologische Lügnerin,
beschuldigt sich plötzlich, ihren Vater mit Chloroform getödtet zu haben, sie ist
traumhaft verloren, desorientirt, ganz auf delirante Vorstellungen concentrirt;
somatisch besteht Analgesia totalis und Glavus. Rasch lucid, 4tägiger Erinnerungs-
defect. Anlass: Liebesaffaire.
3. 22 jähriger, erblich belasteter, nervöser Techniker, erkrankt infolge einer
Oemuthsbewegung an einem tobsuchtsartigen Delirium, zeigt tief getrabtes £e-
wQSstsein, Hemmung, Desorientirtheit. Erwachen plötzlich mit Amnesie. Während
des Delirs keine Stigmata, nachher Hypästhesie. Hypalgesie und concentrische
Gesichtsfeldeinengnng, sowie Hysteria grravis-Anfälle.
4. 16jährige Tabakverkäuferin, gesund, nicht belastet. Nach psychischem
Scbok traumhafter Bewusstseinszustand mit wahnhaften Ideen 12 Tage lang. Dann
Correctur des Wahns, aber dämmerhafter Zustand bleibt 2 Wochen. Nachher nur
ganz summarische Erinnerung. Nie Stigmata hysteriae. Später Entwicklung einer
selbstständigen Melancholie.
5. 26jährige Krankenwärterin, schwer belastet, emotive Natur. Weinkrämpfe,
pathologischer Affect mit Suicidtendenz. Ohne nachweisbare Ursache. Anfall
von transitorischer Geistesstörung mit traumhafter Verfassung, Selbstanklagewahn,
delirantem Ideenkreis, theatralisch affectvollem Gebahren. Scharf umgrenzte
Erinnerungslücke. Dauer 9 Tage.
Bei den vorerwähnten Fällen findet sich als ätiologisches Moment durchwegs
ein psychisches Trauma. Als begünstigenden Umstand für die Entstehung von
Dammer> und Traumzuständen bei Hysterischen bezeichnet Verf. auch die Leichtig-
keit, mit welcher solche Kranke in Autohypnose gelangen. Die Autohypnose kann
sich spontan einstellen unter dem Einfluss bestimmter Sinnesreize oder Vor-
stellungen namentlich im Affect, oder sie ist das Product einer posthypnotischen
S^gestion.
Diagnostisch ist darauf zu achten :
1. dass ein Dämmer- oder Traumzustand Aequivalent eines Hysteria gravis-
Anfalles sein kann und sich dann durch Reizung einer hysterogenen resp. spas-
iDogenen Zone plötzlich coupiren lässt;
2. „dass man auf hypnotischem Wege bei den betreffenden Individuen den-
selben Ausnahmezustand und damit das Gedächtniss für das in Autohypnose
^) Kaymond, Clinique des mal. du syst. nerv. Ref. pag. 240 ff.
246 ZusUmmenstelluiig der Literatur über Hysterie.
Erlebte bervorrofen kann. Ein solches Experiment beweist sicher die autohypno-
tische und damit hysterische Natur eines Dämmer- und Traumsustandes.''
Alkoholische Traumzustände lassen sich, nach Ansicht des Verfassers,
noch nicht mit Sicherheit von hysterischen und epileptischen Aequivalenten (ver-
mittelt durch Alkoholepilepsie) abtrennen.
Es handelt sich dabei ebenfalls um eine Art Traumwachen, eine Art Somnam-
bulismus, „in welchem die Betreffenden anscheinend g^anz bei sich sind, complicirte
Handlungen vollziehen, aber, aus diesem Zustand zu sicl^ gekommen, von allem
Vorgefallenen nicht das Mindeste wissen". Verbrecherische Handlungen sind häufig.
Verf. berichtet über 2 Fälle aus seiner eigenen ErÜBkhrung. Die Diagnose
lässt sich nur per exciusionem stellen. Brod mann- Jena.
101. Ganser^ Ueber einen eigenartigen hysterischen Dämmer-
zustand. Vortrag, gehalten in der Versammlung der mitteldeutschen Psychiater
und Neurologen zu Halle 1897. — Arch. f. Psyohiatr. XXX, S. 633, 1898.
Verf. berichtet über 4 Fälle eines ihm bisher unbekannt gebliebenen psychi-
schen Symptomcomplexes, welche eine Anzahl gemeinsamer Zuge aufweisen und
daher, nach seiner Ansicht, als eine einheitliche Gruppe aufzufassen sein dürften.
Seine Beobachtungen betreffen 4 criminelle Individuen, welche aus der
Untersuchungshaft in die Anstalt überführt worden waren und schon durch diesen
Umstand, abgesehen von der Absonderlichkeit ihres psychischen Verhaltens, zu*
nächst den Verdacht der Simulation erwecken mussten. Bezüglich der persönlichen
Antecedentien sei vorausgeschickt, dass bei sämmtlichen Fällen die psychische
Wirkung einer längeren Untersucüungshaft vorausging; ein Fall hatte viele wirth-
schaftliche Sorgen durchgemacht und war dadurch zum Verbrecher geworden, zwei
andere hatten schwere Kopfverletzungen mit Bewtisstlosigkeit erlitten.
Klinisch boten die Kranken in ihrem äusseren Verhalten sämmtlich ein
Krankheitsbild dar, das dem der acut hallucinatorisch Verwirrten am meisten
ähnlich ist. Abweichend davon war ihre eigenartige Reactionsweise auf Anreden
und ihre sprachliche Ausdrncksweise, welche die gröbsten Widersprüche bei schein-
bar geordneter Perception and vorhandenem Sprachverständniss zu Tage forderte.
Verf. schreibt: „Die auffälligste Erscheinung, welche sie darboten, bestand darin^
dass sie Fragen allerei nfachster Art, die ihnen vorgelegt wurden, nicht richtig su
beantworten vermochten, obwohl sie durch die Art ihrer Antworten kundgaben,
dass sie den Sinn der Fragen ziemlich erfasst hatten." Die Kranken wussten
weder ihre Namen noch ihr Alter anzugeben, über Ort und Zeit waren sie voll-
kommen unorientirt, verkannten die Umgebung, konnten nicht zählen und nicht
rechnen, Fragen wurden vielfach überhört oder nur langsam und wie mit grosser
Zerstreutheit beantwortet, aufgenommene Eindrücke sofort wieder vergessen.
Ueber das Vorleben, die Familie, früher erworbene Kenntnisse wurden durchaus
falsche, widersinnige Angaben gemacht.
Somatisch bestanden in allen Fällen hysterische Stigmata und zwar hyperal-
getische und analgetische Erscheinungen.
Dieses Znstandsbild dauerte wenige Tage, dann trat plötzliche Klärung des
Bewusstseins ein unter gleichzeitigem Verschwinden der Sensibilitätsstörungen.
Das Verhalten war ein völlig geordnetes und unauffälliges, nur dass eine totale
Erinnerungslücke für die ganze Krankheitsepisode zurückblieb, während die
ZiuammeiMtellimg der Ldteratar über Hysterie. 347
Erixmemng fiir die frühere normale Zeit unverändert zurückkehrte. — Bei mehreren
Kranken traten Reddive auf mit analogem psychischem Verhalten.
Verf. bezeichnet den wechselnden Bewusstseinszustand mit Erinnerungsdefecten
als characteristisch für die acute hysterische Geistesstörung. Das Zusammentreffen mit
somatischen Erscheinungen der Hysterie kennzeichne den Oesammtzustand gerade-
20 als hysterischen Dämmerzustand. Brodmann -Jena.
f 102. Binswanger, Ueber einen eigenartigen hysterischen Dämmer-
instand (Oanser). Casuistische lüttheiiung. — Monatsschr. f. Psychatr. u. Neu-
Tol. 1896, Ul. Bd., pag. 176.
Anknüpfend an vorstehende Veröffentlichung Oanser^s berichtet Verf. über
eine ganz analoge Beobachtung aus der psychiatrischen Klinik za Jena. Auch er
bezeichnet die eigenartige paroxystisch auftretende psychische Störung als eine
hysterische imd rechnet sie den Dämmerzuständen zu.
Fall: 24 jähriger Bautechniker, erblich nicht belastet, ohne jegliche krank-
hafte Antecedentien, als fleissiger, nüchterner, ernster Mann bekannt, macht nach
einem mehrtägigen leichten Unwohlsein mit Kopfschmerzen, NahrangsTerweigerung
und allgemeinem Krankheitsgefühl einen ganz unmotiyirten Snicidversuch durch
Strangulation.
Er wird im Bette liegend mit einer Schnur um den Hals aufgefunden und
befindet sich in einer Art stuporösen Zustandes mit allgemeiner motorischer
Heimnnng; er reagirt kaum auf Anreden, ist nur für Augenblicke zu fixiren, ver-
mag seinen Namen, Geburtsjahr etc. nicht anzugeben, ist örtlich und zeitlich völlig
nnonentirt, kennt die einfachsten Begriffe nicht, antwortet auf elementare Fragen
langsam und abgerissen das unsinnigste und widerspruchsvollste Zeug.
Somatisch ist bei der Aufnahme ausser einer Aufhebung des Gaumenreflexes
nichts Besonderes nachweisbar, erst nach 3 Tagen zeigt sich Hypalgesie am ganzen
Körper and Analgesie an den Extremitäten.
Der Verlauf zeigt leichte Schwankungen in dem Bewusstseinszustande ; bald
etwas freier, sprachlich weniger gehemmt, giebt seinen Namen und Aufenthaltsort
richtig an, dann wieder völlig unorientirt, ganz im Unklaren über sich und die
einfachsten Dinge, ohne jede Erinnemng an seine Vergangenheit.
Am sechsten Tage plötzliche völlige Klärung des Bewusstseins mit absoluter
Amnesie für die Zeit seiner Erkrankung. Die Erinnerung schneidet scharf mit
dem Abend jenes Tages ab, an dem er seinen Strahgulationsversuch gemacht haben
muss. Patient weiss aber gar nichts davon, er kann auch keinen Grund dafür an-
geben. Alle Versuche, durch Suggestivfragen Erinnerungsbilder für das Vorge-
fallene zu wecken, sind erfolglos. Fat. weiss nur, dass er die Tage vorher in Folge
sebes Unwohlseins auf dem Zinmier zubrachte und meist zu Bett lag. Von der
Strangulation weiss er nichts. Für die frühere Zeit dagegen besteht ganz intactes
Erinnerungsvermögen.
Verf. erörtert noch die Frage, ob der Dämmerzustand vielleicht durch den
Smcidversuch ausgelöst sein könnte ; er verneint dieselbe jedoch und somit bleibt
der Fall ätiologisch insofern unaufgeklärt, als sich überhaupt nicht die geringsten
Anhaltspunkte für den Ausbruch der hysterischen Psychose nachweisen Hessen.
Brodmann -Jena.
248 ZusammenstelltiDg der Literatur über Hysterie.
103. Bohn, Ein Fall von doppelten Bewusstsein. Inaug.-Diss.
Breslau 1898. 54 Seiten.
Aus den umfangreichen theoretischen Auseinandersetzungen, welche Verf. dem
casuistischen Beitrag vorausschickt, ist Positives nicht zu entnehmen« £r glaubt
die pathologische Zweiheit des Seelenlebens in einem Individuum in 3 Grund-
Symptome :
1. die doppelte psychische Leistung (Doppelvorstellung, Doppelwahmehmung
und Doppelthätigkeit), ^
2. die Spaltung der Persönlichkeit in 2 verschiedene neben einander in
Action tretende psychische Einheiten,
3. den Wechsel der Persönlichkeit, die sowohl als einmalige Unterbrechung
der Persönlichkeit, wie als sog. alternirendes Bevnisstsein zu Tage tritt. Ob Verl
mit dieser schematisirenden Sonderung der Wissenschaft einen besonderen Dienst
geleistet hat, bleibt doch füglich zweifelhaft. Neues ist, wie gesagt, in seinen
Ausfuhrungen ebenso wenig enthalten.
Der Fall ist, kurz skizzirt, der folgende:
22 jähriges Fräulein, von jeher chlorotisch, nervös, an Migräne leidend, hat
seit dem Tode ihres an Paralyse verstorbenen Vaters, den sie bis in die letzten
Krankheitsstadien pflegte, hypnagoge Visionen und Akoasmen, die sich im Laafe
der Zeit zu Wachhallucinationen und zu deliriösen Zuständen steigern.
Es besteht dauernd depressive, melancholische Stimmung und Neigung zum
Alleinsein; dieses führt zu pathologischer Träumerei, zum selbstständigen Auf«*
treten gewisser Vorstellungsreihen und Erinnerungen und schliesslich zur Unter»
brechung der Persönlichkeit mit Sejunction umschriebener Vorstellungsreihen.
Einmal simulirt Pat. eine sehr complicirte Liebesgeschichte mit einem in der
Feme weilenden Bräutigam und führt eine umfangreiche fingirte Correspondenz ;
sie corrigirt schliesslich diese Gedankengänge, in denen sie ganz aufgegangen war;
ein anderes Mal veranstaltet sie CoUecten unter erdichtetem Auftrag und wird
wegen Schwindelei verhaftet, später ins Krankenhaus eingeliefert. Sie hat hier
schwere hysterische Anfälle und hysterische Delirien, lebhafte Halludnationen im
Gebiete der Gesichts-, Gehörs- und Berührungsempfindung, keine Krankheitseinsicht
Heilung nach Wochen. Hochgradige Gedächtnissdefecte.
Den Schluss der Arbeit bilden einige aus der Luft gegrififene, schwächliche
Ausfälle gegen die Hypnose und deren ärztliche Anwendung.
Brodmann -Jena.
104. P. Janetf Hysterische, systematisirte Contractur bei einer
Ekstatischen. — Münchener med. Wochenschr. 1897. pag. 856.
42 Jahre alte Patientin, neuropathische Mutter, litt in der Kindheit an
nervösem Husten, seit ihrem 7. Jahre an hysterischem Erbrechen. Vor 3 Jahren
(am Weihnachtsfeste) erkrankt sie mit heftigen nächtlichen Schmerzen in den
unteren Extremitäten; allmählich entwickelt sich, nach oben bis zum Becken fort-
schreitend, eine starre Extensionscontractur beider Beine, dabei kann Patientin mit
Sicherheit stehen, gehen und sogar Treppen steigen, sie hebt sich dabei aber nur
auf den Fussspitzen, Sohlen und Absatz sind vollständig vom Boden abgehoben.
Objectiver Befund negativ.
Ueber die Entstehung dieser systematisirten Contractur wird bekannt, das»
Zusammaiutellung der Literatar über Hysterie. 249
Patientin Ton Jugend auf exaltirte religiöfe Gefühle hat, zuweilen in eine Art
ebUtiscben Dämmerzustandes verfallt, in Anbetung vor Gott versinkt und sich und
die Umgebung dabei vergisst. In solchen £katasen fühlt sie sich zum Himmel empor*
getragen, ihr Körper wird aufgehoben, sie berührt nur noch mit den Füssen den
Boden und sie glaubt in die Luft zu entschweben. Nach einer mit ähnlichen reli-
giösen Verzückungen verbundenen Andachtsübung am Weihnachtsabend waren die
enten Erscheinungen der Contractur aufgetreten.
E§ handelt sich demnach um einen durch religiöse Ekstase hervorgerufenen
moDoideistiachen Somnambulismus, als eine Art des hysterischen Anfalls, während
dessen eine vorherrschende Vorstellung ohne Wechsel im Vordergrunde des Be-
woBstseins verharrt. Diese Vorstellung führt zu der entsprechenden motorischen
Beaction, welche sich zu einer Dauercontractur , einer psychogenen (hysterischen)
systematisirten Ck>ntractur, fixirt hat. Brodmann- Jena.
106. V, Krafft'Ebing^ Ueber Ecmnesie. Arbeiten aus dem Gesammtgebiete
der Psychiatrie und Neuropathologie. III. Heft pag. 193.
Unter Ecmnesie versteht man seit der eraten Pnblication von Blanc-
Fontenille (1887) einen transitorischen psychischen Ausnahmezustand bei Hyste-
rischen in Form einer periodischen Amnesie, welcher darin besteht, dass der Kranke
in einen früheren Lebensabschnitt zurückversetzt erscheint, denselben nochmals
mit augenscheinlicher Treue durchlebt und dann für die Zeit von der durch-
träumten Episode bis zur Gegenwart temporär amnestisch ist.
Die Dauer eines solchen Zustandes dürfte nicht über Stunden oder Tage be-
tragen; wenn ganz protrahirte Anfälle auftreten, entstehen, nach Ansicht des Ver^
fassers, „Uebergänge zur ,double vie^ insofern die Bewusstseinskreise zweier Be-
wiustseinszustände niemals sich schneiden und jeder derselben sein eigenes Gedächt-
nifis und seinen eigenen Inhalt hat.** Damit begreife sich die Amnesie für die Aus-
nahmezustände.
Spontan erscheine die Ecmnesie im Zusammenhang mit Hysteria gravis-
Insulten, sowie äquivalenten hypnoiden, autohypnotischen oder auch provocirten
hypnotischen u. dgl. Zuständen. Experimentell lasse sie sich durch hypnotische
Saggestionen oder auch durch Reizung bestimmter Stellen der Körperoberfläche
hervorrufen.
Die mitgetheilten Beobachtungen sind folgende:
1. Fall(Blanc-Fontenille).^) 32 Jahre alt es Dienstmädchen, viel kränklich,
nervös, hat nach heftiger Gemüthsbewegung mit 25 Jahren den ersten hysterischen
Krampfanfall. Fortdauer der Anfälle, später seltener, statt dessen Schlafattaquen.
Im Anschluss an die AnfäUe Delirien, welche die Ereignisse der Gemüthsbewegung
zum Inhalt haben und mit absoluter Erinnerungslosigkeit für alle Erlebnisse seit
diesem Zeitpunkt verbunden sind. „Sobald man den deliranten Zustand durch
Compression des linken Ovariums beseitigte, war die Kranke wieder richtig orien-
tirt und die Continuität ihrer Erinnerung hergestellt." Auch nach Schlafattaquen
wurden ganz analoge Zustände von delire ecnmesique, aber mit wandelbarem Inhalt
und verschiedene Lebensepochen repräsentirend, beobachtet.
*) Ätude sur nne forme particulifere de delire hysterique (Delire avec Ecmnesie).
Bordeaux 1887, pag. ÖO.
260 Zasammenstellung der Literatur über Hysterie.
Als besonders merkwürdig hebt Verf. hervor y^die Treue der Reproduction
der rerschiedenen Lebensabschnitte, die die grösste schauspielerische Leistung über-
treffende Natürlichkeit der Darstellung ... die innere Uebereinstimmung und den
Mangel jeglichen Widerspruchs in den Situationen gegenüber den verfänglichsten
Kreuz- und Querfragen seitens der Aerzte". „Dies erstreckte sich soweit, dass Pat.
hemiänästhetisch nur in Episoden ihres Lebens war, wo dieses Symptom schon be-
standen hatte, sonst nicht, und dass auch spasmo- und hypnogene Zonen nur dann
zu finden waren, wenn solche in dem Lebensabschnitt der eben durchträumt
wurde, bereits ausgebildet waren.
Verf. hält diese Reproductionstreue in der Reactivirung vergangener Lebens-
abschnitte für ganz aussergewÖhnliche Gedächtnissleistungen und glaubt sie nur er-
klären zu können durch die Thatsache, „dass das in frühere Lebenszeiten
spontan oder künstlich zurückversetzte Individuum in einem Aus-
nahmezustand III sich befindet, in welchem eine Modification
seines Bewusstseins eingetreten ist, ein Unterbewusstsein, in
welchem Gedächtnissbilder, die dem Oberbewusstsein nie mehr
erreichbar sind, eventuell leicht zugänglich und reproducirbar
werden." Wunderbar bleibe dabei nur, dass eventuell eine Auto- oder Fremd-
saggestion, oder auch nur eine Associationsspur, die bei spontan oder künstlich ge-
schaffenem III. Zustand ins ünterbewusstsein hinabreicht, ganze Reihen von Er-
innerungen zu wecken vermöge.
2. Fall. 17 jähriges Dienstmädchen, aus schwer neuropathischer Familie, mit
12 Jahren schwere Verbrennung durch Petroleumexplosion, 2 Tage nachher erster
hysterischer Anfall; seit Erkrankung ihrer Grossmutter (Gemüthserschütterung)
gehäufte Hysteria gravis-Anfälle , meist Lethargus mit einzelnen Convulsionen,
seltener epileptoide Phase und grand mouvements. Postparoxysmales Delirium von
mehreren Stunden, das sich um ein Erlebniss in ihrem 10. Jahre dreht und Amnesie
hinterlässt.
Hypnose gelingt; nachher' psychischer Ausnahmezustand mit scheinbarer
Lucidität und freiem Associationsspiel innerhalb desselben. Pat. ist in das 10.
Lebensjahr zurückversetzt, benimmt sich ganz entsprechend ihrer angenommenen
Rolle, reproducirt mit allen Einzelheiten den betr. Lebensabschnitt; die Sprache.
Schrift, Geberden, Kenntnisse, Personen etc. werden demselben durchaus angepasst.
„Die Erinnerung und Association war in der ihr erschlossenen Lebensphase
und weiter rückwärts prompt und, wie es scheint, gesteigert. Für alles Reale be-
stand in diesem Zustand aufgehobene Apperception , oder es wurde illusorisch in
die wahnhafte Situation, einbezogen . . ." „Vollständig aus dem Bewusstsein aus-
geschaltet waren alle Vorgänge des Lebens seit dem 10. Jahre. **
Nach etwa 1 Stunde schläft Pat. ein und erwacht dann mit completer Amnesie
zum normalen Bewusstsein. Verf. theilt mit, dass einerseits durch hypnotische
Suggestion dieser psychische Ausnahmezustand künstlich erregt werden konnte und
dass es andererseits möglich war, denselben durch Streichungen der Stirn in
Hypnose und von da in den Wachzustand überzuführen.
Beseitigung der Anfälle gelang für längere Zeit durch Hypnose.
3. Fall. 19 jähriger Commis, wird auf den Strassen herumdämmernd auf-
gegriffen, ist verstört, traurig, macht Selbstanklagen, kurz befindet sich in einem
deliranten Dämmerzustand, der sich nach 6 Tagen plötzlich löst unter Amnesie.
ZnBumneostellang der Literatur über Hysterie. 261
Eb stellt sich heraus, dass er in letzter Zeit viel Aerger und Ueberanstrengnng
l^habt und seines Dienstes entlassen worden war.
Zweimalige Wiederkehr eines ähnlichen Zustandes mit traumhaft delinöser
unrichtiger Eeproduction eines thatsachlichen Erlebnisses. Die Vita ante acta wird
raekwarts gut erinnert, während för die folgenden Ereignisse jegliche Erinnerung
fehlt. Fat. benimmt sich dabei ganz anders wie in luotden Zeiten, ist gereizt, barsch,
klsgt über Kopfweh, wacht mit dunkeln Erinnerungsspuren an die Anfälle auf. —
Ausserdem werden convulsive Hysterieanfälle beobachtet.
Auf die interessanten Ausführungen des Verf. über die Beziehungen dieser
Zustände zu den hypnotischen Bewusstseinsveränderangen einzugehen, wurde hier
zu weit führen. Verf. sucht die Ecmnesie dadurch zu erklären, »dass in dem
psychischen Ausnahmezustand, in welchem sie beobachtet wird, die associative
Tbätigkeit aus der in die Helligkeit des Traumbewusstseins eingestellten Lebens-
episode schrankenlos retrograd möglich ist, während Associationen in die jenseits
hegende Lebenszeit nicht zu Stande kommen können, diese deshalb verdunkelt,
ecmnestisch bleibt". Warum dies der Fall ist, resp. nicht der Fall ist, sagt Verf.
auch nicht. Brodmann- Jena.
106. ^r«fner, Die Znrechnungsfähigkeit der Hysterischen. (Referat
auf der JahresTersammlung deutscher Irrenärzte am 16. Sept. 1896.) — Arch. f.
Psychiatric XXXL 3. 1890.
Unter den schwierigen Problemen, die dem praktischen Psychiater in foro
entgegentreten können, gehört mit zu den schwierigsten die Beurtheilung der Zurech-
nungsfähigkeit Hysterischer. Es ist ein anerkennenswerthes Verdienst des Verfassers,
die dürftige Literatur auf diesem Gebiete um einen werthyollen Beitrag bereichert
zu haben.
Verf. lässt in seiner Arbeit allenthalben einen scharf präcisirten Standpunkt,
der rielleicht nicht allseitig Anklang finden dürfte, erkennen. Es mag daher
zweckmässig erscheinen, die leitenden Gesichtspunkte aus dem übrigen Inhalte
herauszuschälen und sie an die Spitze des Referates zu stellen, da sie auf jeden
Einzelfall Anwendung finden müssen.
Verf. vertritt in erster Reihe den Standpunkt, dass der Psychiater bei der
Beurtheilung der Zurechnungsfähigkeit einer hysterischen Person in einem gegebenen
Augenblicke sich nur von dem jeweiligen Bewusstseinszustande, d. h. dem Vor-
handensein und dem Grade der Bewusstseinstrübung leiten lassen darf
Zweitens hebt er hervor, dass wir unser Augenmerk in zweifelhaften Fällen
immer auf gewisse somatische StÖnmgen, denen für die Diagnose der Hysterie ein
pathognomonischer Werth beizumessen ist, zu richten haben.
Drittens warnt er davor, allgemein giltige Kennzeichen aufzustellen, die bei
der Beurtheilung aller Hysterischen massgebend sein sollen; individuaUsirende
Behandlung des Einzelfalles thue hier mehr noth wie anderswo.
Viertens stellt Verf. — und darin dürfte er den schärfsten Widerspruch bei
seinen FachcoUegen erfahren — unter Hinweis auf die eigenartigen Beziehungen
der hysterischen Geistesanomalien zum heutigen Strafgesetz, das Postulat der ge-
minderten Zurechnungsföhigkeit auf
Im Einzelnen giebt Verf. zunächst einen Ueberblick über die Qualität der
Delicte. die besonders häufig Anlass geben, die Zurechnungsfähigkeit der Hyste-
253 Zasammenstellangr der Literatur über Hysterie.
rischen zu prüfeo. £r weist hin auf die interessante Differenz, welche die Epilep-
tiker und Hysterischen Tor dem Forum darbieten. Die Ersteren stellen bekanntlich
ein Hauptcontingent von Vergehen gewaltthätiger Art, wie Körperverletzung,
Brandstiftung etc., während bei den letzteren Eigenthnmsvergehen characteristisch
sind. Verf. selbst hat unter 26 Fallen von Hysterie, die eine forensische Bedeutung
erlangten, 14 Mal Anklage wegen Diebstahls gefunden.
Die Psychosen, durch welche bei Hysterischen die Zurechnungsfahigkeit
beeinträchtigt resp. aufgehoben werden kann, unterscheidet Verf. in 2 Gruppen:
1. in transitorische Geistesstörungen, d. h. in solche, welche in Beziehung zu
den Anfällen stehen;
2. in dauernde psychische Anomalien.
Was die ersteren (die transitorischen psychischen Störungen bei
Hysterie) betrifit, so ist zunächst auf die grosse Variabilität der Anfülle selbst, sowohl
hinsichtlich ihrer Intensität als Extensität als auch ihrer Häufigkeit hinzuweisen*
S9wie auf die enormen mit dem Anfall häufig parallel gehenden Schwankungen in
dem Verhalten des Bewusstseins. Von dem schweren, durch hochgradige Bewusst-
seinstrübung oder völlige Bewusstlosigkeit ausgezeichneten, von der Epilepsie kaum
zu trennenden Hysteria gravis-Anfalle bis zu den leichtesten, oft kaum wahrnehm-
baren rudimentären Insulten (wenig hervortretende Aenderungen des äusseren
Habitus, Farbenwechsel, vereinzelte mimische Bewegungen, auffallende sprachliche
ßeaction oder im Gegensatz dazu plötzliches Verstummen) sind zahllose Uebergangs-
formen mit ebenso verschiedenem Bewusstseinszustande möglich.
Diese mit dem Anfall direct zusammenhängenden Bewusstseinsanomalien,
welche Gegenstand forensischer Beurthcilung werden können, lassen sich in 5 Gruppen
eintheilen :
a) Psychische Prodromalerscheinungen des hysterischeu Anfalls.
Dieselben sind sehr selten und bestehen häufig in automatischen Handlungen,
welche, wenn sie crimineller Art sind, zur Begutachtung der Zurechnungsfahigkeit
Anlass werden können. Maassgebend für den Gerichtsarzt ist dabei immer die
Entscheidung der Frage, ob das Bewusstsein überhaupt schon getrübt war und in
welchem Grade eine Entscheidung, die sich häufig nur nach dem vorhandenen
Erinnerungsdefect richten kann. Verf. selbst ist der Ueberzeugung , dass eine
totale Amnesie für die hysterische Prodrome nicht vorkomme, dass dagegen ein
retrograder partieller Gedächtnissausfall nach einem hysterischen Anfalle möglich
sei. Immerhin müsse man bei diesbezüglichen Angaben der Patienten, angesichts
der unbestreitbaren Neigung zur Lüge, zur Confabulation, sehr vorsichtig sein.
b) Die postparoxysmellen psychischen Störungen bei Hysterie
besitzen die grösste Bedeutung für den forensischen Psychiater. Sie bieten eben-
falls zahlreiche klinische Formen dar; in ihren schwersten Graden lassen sie sich
kaum von dem grand mal intellectnel der Epileptiker unterscheiden. Es treten
nicht nur Stimmungsanomalien, Sinnestäuschen und Störungen auf motorischen
Gebieten auf, sondern pathologische Umgestaltungen des Bewusstseinsinhaltes mit
Wahnideen und krankhaften Handlungen. In derartigen Fällen dürften wohl kaum
Zweifel an der Unzurechnungsfähigkeit aufkommen. Schwieriger ist die Be-
urthcilung, wenn es sich um intercurrente Irreseinsformen handelt, wo lucidere
Perioden mit Stadien tieferer Bewusstseinstrübung abwechseln. Im Allgemeinen
wird auch hier der Satz Giltigkeit haben, „dass die nachfolgende Amnesie den
ZasammensteUung der Liieratar über Hysterie. 263
Gradmesser fiir die Stärke der Bewusstseinströbung abgiebi^. doch treten aach
iiier, besonders bei periodischem Verlauf der Geistesstorang, dem Begutachter oft
nnäberwindbare Schwierigkeiten entgegen. Ver£ lasst fdr die lucideren Phasen
einen totalen Erinnerungsdefect, wie er von den Kranken oft behauptet wird, nur
dann als glaubhaft gelten, wenn jene intercurrent auftreten und von neuen Exa-
cerbationen gefolgt sind.
c) Als weitere Form der trausitorischen hysterischen Psychose ist der post-
paroxysmelle somnambule Zustand zu nennen. Die Frage, ob wahrend
desselben bestimmte Erinnerungsbilder mit analogen krankhaften Impulsen, welchen
die gleichen strafbaren Handlungen entspringen, Torkommen, lässt Verf. noch offen.
d) .Die Existenz einer sog. hysterischen Moria, als Analogon zu der
epileptischen Moria, ist zweifelhaft. Verf. hat bei juvenilen Individuen nach
leichten Anfallen Krankheitsbilder gesehen, die in einer unbegründeten kindisch
heiteren Stimmung mit Rededrang (Verbigeration) und motorischer Unruhe be-
standen und vielleicht hierher zu rechnen wären.
e) Noch strittiger ist die Frage nach dem Vorkommen hysterischerAequi-
Talente, sog. Dämmerzustände. Jedenfalls wären dieselben nach Ansicht des
Verf. symptomatologisch von epileptischen Aequivalenten nicht zu unterscheiden, und
man hätte nach eventuellen somatischen Begleiterscheinungen der Hysterie zu fahnden.
Als zweite Hauptgruppe der hysterischen Psychosen werden vom Verf. jene
unabhängig von Anfällen und dauernd bestehenden Anomalien des Geisteslebens
zusammengefasst, die man auch kurzweg als hysterisches Temperament be-
zeichnet und die in einem mehr oder weniger starken ethischen Defect, der
Neigung zur Unwahrheit, einer gereizten, boshaften, oft raschem Wechsel unter-
worfenen Stimmung bestehen, vermöge welcher die Kranken vielfach mit dem
Strafgesetz in Coniiict gerathen. Die besondere Schwierigkeit in der Beurtheilung
der Znrechnungsfähigkeit solcher Kranken liegt darin, dass der psychische Status
bei denselben oft in der schroffsten Weise wechselt und dass demnach aus ihren
eigenen Angaben überhaupt gar keine Anhaltepunkte zu gewinnen sind. Die Lust
zu fabnliren wird sie auch in foro zu falschen Aussagen verleiten.
Die Ansicht, dass es sich dabei immer um unbewusste Lügen handelt
(Vibert), theilt Verf. nicht, er giebt aber zu, dass die Sucht zum Lügen ein auf
krankhafter Basis entstandenes Symptom sei, das häufig durch einen — nicht
immer pathologischen — ethischen Defect noch gesteigert werde.
Die praktischen Consequenzen, die Verf. aus diesen Deductionen gezogen hat,
lassen sich dahin zusammenfassen:
Erstlich : es reicht die Feststellung von hysterischen Anföllen allein nicht aus,
einen Angeklagten zu exculpiren. Verf. möchte das Bestehen von Insulten nicht
einmal im Sinne mildernder Umstände verwerthen.
Zweitens: bei den zu den AnTällen in Beziehung stehenden Geistesstörungen
ist der Grad der Bewusstseinstrübung ausschlaggebend für die Begutachtung der
Zurechnungsfähigkeit.
Drittens: bei der hysterischen Characterveränderung wird der stricte Nach-
weis, dass zur Zeit der That eine krankhafte Störung der Geistesthätigkeit im
Sinne des Gesetzes vorlag, meist nicht gelingen, obwohl man die Ueberzeugung
haben kann, dass bei der Ausführung der strafbaren Handlung krankhafte Momente
mitgewirkt haben. Brodmann- Jena.
254 Zusammexutellang der Literatar aber Hysterie.
109. Woüenhergy Die forensische Benrtheilung der Krampfkranken^
insbesondere der Hysterischen (Vortrag im ärzti. Verein Hamburg 29. Nov.
1898). Ref. der Münch. med. Wochenschr. 1898 pag. ie03.
Die geistigen Störungen, welche bei Krampfkranken vorkommen, sind zweck-
mässig in transitorische und habituelle zji scheiden.
Als hysterische transitorische Irreseinsformen kommen haupt-
sächlich in Betracht a) die so oft mit dem Erampfanfall verbundenen Delirien^
b) ^die nicht selten eine schwere Hysterie einleitenden hallucinatorischen Erregungs-
zustände", c) die kurzdauernden traumartigen Bewusstseinsstörungen ; letztere bieten
bei der Hysterie wie bei der £pilepsie der forensischen Beurtheilung oft ganz be-
sondere Schwierigkeiten. Bei Hysterischen können, nach den eigenen Erfahrungen
des Redners, die in solchen Zuständen auftauchenden Vorstellungen nach Art der
posthypnotischen Suggestion auf die Handlungen der betreffenden Individuen auch
nach Rückkehr des normalen Bewusstseins einen bestimmenden Einfluss gewinnen
und Anlass zu strafbaren Handlangen (falsche Anschuldigung, sogar Selbstanklagen
etc.) werden. •
Als habituelle psychische Störungen der Krampfkranken sind bei den
Epileptikern zu nennen jene „unsocialen und gefährlichen Eigenschaften, die den
sog. epileptischen Chaf acter ausmachen''.
Einen „hysterischen Character"* als Analogon zu dem epileptischen giebc es
nicht. Characterveränderangen bei Hysterischen beruhen, wo solche vorhanden
sind, auf der gleichzeitig bestehenden allgemeinen Degeneration als Ausfluss einer
psychopathischen Belastung. Dagegen entspringen aus der hysterischen Disposition
selbst heraus krankhafte Abweichungen des Geisteslebens, wie das „Zurücktreten
des kalt abwägenden Verstandes (Löwenfeld), die Lebhaftigkeit des Gefühls-
lebens und der Phantasie, die erleichterte Entäusserung der Affecte und die sich
daraus ergebende Neigung zu impulsiven, triebartigen Handlungen**, welche bei der
Beurtheilung der habituellen Zurechnungsfähigkeit dieser Personen sehr in Rech-
nung gebracht werden müssen. Die mangelnde Reproductionstreue der Hysterischen
in Folge von Erinnerungsfälschungen, Phantasieproducten, Träumereien und Trug-
wahmehmungen ist bekannt.
Hinsichtlich der Zurechnungsfähigkeit Hysterischer vertritt Redner (im Gegen-
satz zu Fürstner) den Standpunkt, dass das Bestehen schwerer hysterischer
Störungen fast ausnahmslos die Befürwortang einer milderen Beurtheilung recht-
fertige. Auch dann, wenn zur Zeit der Begehung der Strafthat sich noch keine
manifesten Krankheitszeichen darboten, vielmehr erst, gewissermaassen als patho-
logische Reaction auf die Gemüthsbewegungen des Strafverfahrens, nachträglich die
Hysterie offenbar werde, müsse man eine schon vorher bestehende krankhafte An-
lage supponiren. welche eine dauernde Quelle strafbarer Handlungen werden könne.
Man dürfe dann in der Mehrzahl der Fälle die Zurechnungsfähigkeit auch schon
für eine weiter zurückliegende Epoche ausschliessen oder wenigstens das Bestehen
begründeter Zweifel hervorheben.
Hysterische, welche von jeher Anzeichen einer hereditären psychopathischen
Belastung erkennen Hessen, sind nach Ansicht Wollenberg's in allen Fällen
auch retrospectiv zu exculpiren. Brod mann- Jena.
Znsammenstellang der Literatur über Hysterie. 256
110. Vigour<mXf Obsession et impulsion pyromaniaques chez une
degeneree hyst^rique. Annal. med. psych. 1807, V. B. 238—247.
Die Frage, ob es anwiderstehliohe Triebe (impulsions irr^sistibels) bei
Hysterischen giebt, ist noch unentschieden; die einen nehmen die Existenz rein
hysterischer Triebhandlungen an (Ritti und Pitres), die andern setzen dieselben,
wenn sie neben Hysterie bestehen, auf Kosten der gleichzeitig bestehenden
psychischen Degeneration (Colin).
Verf. theilt folgenden Fall mit:
A. G., 19 jahriges Dienstmädchen, erblich belastet, von Kindheit auf bi-
zarrer Character, zu Lügenhaftigkeit und Goquetterie geneigt, zeigte vom 17. Jahre
ftb die ersten auf Hysterie bezüglichen Erscheinungen (Globus, Muskelschwäche und
tinJcsseitigen Mammarschmerz). Sie begeht mit dem 19. Jahre ohne äussere Veran-
lassnng an 3 aufeinander folgenden Tagen in der Behausung ihrer Herrschaft
Brandstiftung. Sie weiss zunächst allen Verdacht von sich abzulenken, macht
sogar selbst Feuerlärm und hilft jedesmal als Erste bei den Löscharbeiten. Zum
Gestandniss gebracht, verwickelt sie sich bezüglich der Motivirung ihrer That in
offenkundige und unlösbare Widersprüche, welche das Gericht veranlassten, eine
Untersuchung des Geisteszustandes der Angeklagten anzuordnen.
Das ärztliche Gutachten erkannte auf Hysterie und beschränkte Verantwort-
lichkeit, mit der Begründung, dass die G. „im Hinblick auf die Neurose, von der
sie befallen sei, sich von der Bedenkliehkeit ihrer Acte keine Rechenschaft geben
konnte und dass bei einer Hysterischen Einflüsse, welche den normalen Geist gar
nicht berührten, zu Gesetzesübertretungen und Verbrechen hintreiben können**.
Aus der Untersuchung der Kranken sind folgende Momente hervorzuheben.
G. ist körperlich gut entwickelt und von gesunder Beschaffenheit; sie bietet eine
Tollständige linksseitige Hemianästhesie der Haut und Schleimhäute für alle
Qualitäten (Berührung, Druck, Schmerz, Temperatur, faradische Ströme, Geschmack,
^Teroch und Gehör) dar; das linke Gesichtsfeld ist concentrisch eingeengt, ohne
Dyschromatopsie zu zeigen, der Muskelsinn an der linken Körperhälfte aufgehoben,
lieber der linken Mamma besteht eine hyperästhetische Zone. Der Pharynxrefiex
ist erhalten. Somnambulismus wurde nicht beobachtet.
Ueber die Motive ihrer Strafthat befragt, schützt die Kranke bald Rache wegen
roher Behandlung vor, bald will sie von Feinden ihrer Dienstherrschaft aufgestachelt
worden sein, bald behauptet sie, sie habe ihren Geliebten durch den Brandschaden
Arbeitsgelegenheit verschaffen wollen, dann wieder beziehtet sie ihren Geliebten als Com-
plicen ; sie beschuldigt ferner eine Reihe von Personen der Mitthäterschaft, erkennt
heute Aussagen, die sie gestern unter Eid abgegeben, als falsch an. kurz sie giebt in
ihrem ganzen Verhalten einen Mangel an zugkräftigen Motiven kund, sie verräth,
dass sie diesen Mangel selbst fühlt und durch neue, offenbar erdichtete und un-
wahre Erklärungsversuche zu verdecken sucht. Erst 6 Monate nach geschehener
That gesteht sie den Anstaltsärzten, dass sie schon seit 2 Jahren dauernd an dem
krankhaften Triebe leide, Feuer anlögen zu müssen und dass sie von diesem Triebe
manchmal, besonders in der Einsamkeit mit solcher Heftigkeit erfasst werde, dass
sie demselben nur durch Flucht in Gesellschaft entrinnen könne. Sie behauptet,
die Brandstiftung unter dem Zwange eines solchen Triebes begangen zu haben, sie
hält den Trieb jedoch selbst nicht für eine ausreichende Erklärung für die Begehung
266 Zusammenstellung der Literatur über Hysterie.
der That. Als körperliche Begleiterscheinungen der zwangsartigen Idee nennt lie
Herzklopfen, Ohrensausen und Eingenommensein des Kopfetf.
Verf. erörtert die Frage, in welchem Verhältniss diese criminelle That resp.
die derselben zu Grunde liegenden impulsiven Handlungen zur Hysterie stehen und
er meint, dass die der Hysterie eigenthümlichen Störungen der Willensthätigkeit
sehr wohl eine Verminderung der Widerstandskraft gegen die krankhaften Triebe
(gesteigerte Suggestibilität) bedingen konnten. Andererseits hebt er hervor, dsu
die Hysterie nur auf dem Boden einer erblichen Entartung er^'achsen sei und dan
die hier vorliegenden Zwangsgedanken und Triebhandlungen (obsessions et im-
pulsions) nur der Ausdruck einer hereditären Degeneration seien. Das gehe schon
aus der Art der krankhaften Triebe hervor, welche bei Degenerirteu dauernd vor-
handen seien, immer dieselbe Form beibehalten und bei einer bestimmten (Gelegen-
heit zur That führen, während die hysterischen Impulsionen sehr variabel seien
und rein zufällig als Ausdruck einer fixen Idee auftreten.
Brodmann- Jena.
Mittheilung.
In seinem neurologischen Institut (Berlin W. Magdeburgetstr. 16)
wird Dr. O. Vogt am 26. IX. 99 zwei vierwöchentliche Aerztecurse
beginnen :
1. Allgemeine Psychotherapie mit normalpsycho-
logischer Einleitung.
2. Hirnanatomischer Demonstrationscurs.
\
Uaber den Ebifluss des Lichtes auf die Icörperliolieii und
psyctiischen Functionen.
Vortrag
gehalten in der psychologischen Gesellschaft za München am 18. Mai 1899
von
Dr. Franz Carl Mttller, Neirenarzt in München.
Das Thema, welches ich heute vor Ihnen zu behandeln die Absicht
habe, liegt etwas abseits von den Fragen, die wir sonst in unserer Ge-
sellschaft erörtern. Sie werden wenig Psychologisches finden, ich ho£fe
aber, dass die spärlichen Andeutungen, die ich ihnen geben kann, Aus-
blicke gestatten, von denen aus später auch für unsere Special Wissen-
schaft reife Früchte erhofft werden können. —
Die Lehre von den Einwirkungen des Lichtes auf den thierischen
Organismus ist zwar eine alte, aber sie hat in jüngster Zeit grosse
Fortschritte gemacht und bedeutsame Forschungsresultate aufzuweisen,
besonders der Amerikaner Kellogg wirkte in dieser Hinsicht bahn-
brechend.
Wie es aber oft zu gehen pflegt, haben sich Laien verfrüht der
Sache angenommen, und so wurde einerseits das Lichtheilverfahren bei
den Fachleuten discreditirt, andererseits von Sachverständigen auf eine
Bahn gedrängt, die für die Folge nichts Gutes versprechen lässt. Wir
wollen sehen, was bisher an fixirten Ergebnissen zu finden ist, und ich
hoffe, Sie über den derzeitigen Stand der Angelegenheit genügend in-
formiren zu können. Vorher aber muss ich einige physikalische Er-
örterungen anstellen, die Manchem wohl etwas weitschweiGg erscheinen
werden, aber dennoch nothweiidig sind.
Alles Lebendige, aber auch das scheinbar Todte in der Natur be-
wegt sich, denn wo Stoff ist, ist Kraft und Kraft ist ohne Bewegung
Zsitniifilt fttr Hypnoüamns eto. IX. 17
258 ^T^^^^ ^T^ MtUer.
nicht denkbar. Nach Yirchow ist das Leben gegenüber den all-
gemeinen BewegungSTorgängen in der Natur zwar etwas Besonderes,
aber es bildet doch keinen diametralen Gegensatz zu denselben,
sondern nur eine besondere Art der Bewegung, welche, von der grossen
Constante der allgemeinen Bewegung abgelöst, neben derselben und in
steter Beziehung zu ihr abläuft. — Es ist bei der strahlenden Wärme,
beim Licht imd bei der Electricität nachgewiesen, dass sich diese
Kräfte in Wellenbewegungen äussern. In ihren Eigenschaf(;en sind die
Wellen sehr verschieden: während das Licht sehr kleine Wellen hat
(die Böntgen-Strahlen yermuthlich die kleinsten), sind die Wellen der
ausstrahlenden Electricität nach Untersuchungen von Heinrich Hertz
theilweise meterlang.
Die Schnelligkeit der Lichtwellen ist kaum fassbar. Yernon
Brys photographirte fliegende Geschosse im 8-miIlionsten Theil einer
Secunde ; in dieser Zeit legte die Eugel einen Weg von ^/^qq Millimeter
zurück. Noch empfindlicher wie die photographische Platte ist die
Netzhaut unseres Auges.
Welche Ej*äfte durch solche Lichteinwirkungen ausgelöst werden
können, zeigt ein von Gautier und He Her unternommener Versuch:
Wasserstoff und Chlor zu gleichen Theilen gemischt bleibt im Dunkeln
monatelang reactionslos — ein einziger Lichtstrahl genügt, um unter
Explosion Chlor-Knallgas zu erzeugen. — Jede Hausfrau weiss, dass
das Licht die organischen Farben bleicht, aber auch die anorganischen
Farben, selbst Edelsteine, wie Smaragd, Chrysopras, bleichen unter
dem kalten, von allen Wärmestrahlen befreiten Licht. — Haben wir nun
die chemischen Wirkungen des Lichtes kurz berührt, so kommen
wir auf den physikalischen Einfluss desselben: Ich möchte daran
erinnern, dass Crystallisationsvorgänge im Lichte leichter vor sich gehen
als im Dunkeln, und wenn man eine Flasche in ein Gefass mit heissem
Wasser hineinstellt, so beschlägt sich hauptsächlich die dem Lichte zu-
gekehrte Seite.
Die Frage, was Licht eigentlich ist, wird durch zwei Hypothesen
beantwortet: Nach Huyghens ist das Weltall von einem ausser-
ordentlich feinen, elastischen, Alles durchdringenden, gewichtslosen
Stoffe, dem Licht-Aether , erfüllt, dessen wellenartige Bewegung wir
als Licht empfinden. Nach Newton entströmt dem leuchtenden Körper
ein feiner Stoff, der mit ungeheuerer Gesch¥dndigkeit in die Umgebung
hinausgeschleudert wird.
üaber den Einflius des Liehies auf die körperlichen a. peychifchen Fanctionen. 269
Die Idchtwellen legen, ohne dass die Wellenlänge irgend welche
Unterschiede machte, in der Secunde einen Weg Ton 42000 geo-
graphischen Meilen zurück. Wenn das Licht durch einen schmalen
Spalt auf ein Prisma fällt, so wird es in ein breites Farbenband —
das sogenannte Spectrum — aufgelöst , das einen kleineren sichtbaren
Qod einen grösseren, an beiden Endpunkten vorhandenen unsichtbaren
Theil enthält. Am meisten in der ursprüoglichen Bahn des weissen
Lichtes yerbleiben die blauen und violetten Strahlen; mehr gebrochen
sind die ultravioletten Strahlen, die wahrscheinlich von einzelnen Thieren,
(Ameisen), aber von den Menschen nicht gesehen werden. Bei den
violetten und ultravioletten Strahlen ist die Wärmeentwickelung sehr
gering, aber die chemische Wirkung sehr gross, weshalb man dieselbeu
auch chemische Lichtstrahlen nennt. Die rothen und infrarothen
Strahlen zeigen starke Wärmeentwickelung und geringe chemische
Potenz. — Uebrigens neigt man in der Physik neuerdings der An-
schauung zu, dass es nur Eine Energie des Lichtäthers giebt, indem
jeder Strahl als Wärme-, als Licht- oder als chemischer Strahl wirken
könne, je nach den Eigenschaften des lichtabsorbirenden Körpers.
Die Wellenlänge der violetten Lichtstrahlen ist geringer als die
derrothen ; während das Roth in der Secunde 420 Billionen Schwingungen
macht, hat das äusserste Violett 790 Billionen. Wie Wärme und
Electricität, so kann auch Licht aufgestapelt werden, auf welcher That-
Sache die Erscheinung der Phosphorescenz beruht. Von Fluor-
escenz sprechen wir, wenn mit dem Aufhören des Lichtreizes die
Wirkung sofort verschwindet ; auch die dunkeln Spectrumstrahlen können
gewisse Körper leuchtend machen — wir heissen diese Erscheinung
Calescenz. —
Nach diesen wohlbekannten Auseinandersetzungen kommen wir auf
den psychischen Einfluss des Lichtes. Vergegenwärtigen Sie sich
unbefangen die Stimmung und Arbeitsfreudigkeit des Menschen an
trüben und an sonnendurchflutheten Tagen ! Welch' gewaltiger unter-
schied ! Dort starre, todtenähnliche Buhe, hier frisch pulsirendes Leben !
Jeder Gesunde hat ein grosses ausgesprochenes Lichtbedürfniss. Wer
aus dem Lichte der Grossstädte heraus in die finsteren Gassen kleiner
Orte verbannt wird, der fühlt sich beklommen. Jedes unserer Feste
wird instinctiv durch Lichtwirkungen verschönert oder überhaupt
möglich gemacht; jedes lebende Wesen drängt sich zum Lichte.
Auch in der Religion sehen wir diesen Drang des Menschen zur
Sonne. Bei den Griechen wurde Helios verehrt, bei den Römern
17*
260 Franz Oarl Müller.
pflegten die yestalischen Jungfrauen das heilige Feuer, bei den Ger-
manen war Baidur, der Lichtgott, einer der beliebtesten Götter.
Millionen von Menschen beten die Sonne als die Spenderin von Licht,
Wärme und Leben an. Menschen, die nach lange dauernder Dunkel-
heit plötzlich dem vollen Sonnenlichte ausgesetzt werden, erfahren eine
starke seelische und körperliche Beeinflussung, wie es andererseits
lichtarme Individuen giebt, die nur wenige Minuten lang helles Licht
vertragen können. Alle geistesfrischen und körperlich gesunden Menschen
lieben das Licht; interessant ist eine Erzählung über Lombroso, der
bei seinen Arbeiten der Sonne von Zimmer zu Zimmer folgt und auf
diese Weise ein wandelndes Arbeitszimmer hat. Am Besten soll er
im vollen Sonnenschein bei weitgeöffueten Fenstern arbeiten können.
Auch in der Thierwelt ist das Liehtbedürfniss deutlich aus-
gesprochen. Die Lisecten fliegen ins Licht, die Vögel rennen sich an
den Fenstern der Leuchtthürme die Köpfe ein, Fische werden vom
Lichte geradezu hypnotisirt.
Ueber den Einfluss des Lichtes auf die Psyche des Menschen giebt
eine amerikanische Statistik interessante Aufschlüsse, indem man nach-
weisen konnte, dass an trüben Tagen um 10 ^^ weniger Arbeit geleistet
wird als an sonnigen. In den lichtarmen Monaten sind Selbstmorde
und Verbrechen häufiger wie im Sommer; dabei ist aber nicht zu ver-
gessen, dass in den sonnigen Monaten die Lebensbedingungen leichter
erfüllt werden als im Winter.
Auch in der Völkerpsychologie spielt das Licht eine Rolle: Im
sonnigen Süden entwickelt sich eine andere Musik, eine andere Malerei
als im trüben Norden. Dort lachender Himmel und lachende Lebens-
lust in sorglosen Gemüthern, hier trübe Wochen und Monate, ernste,
schwermüthige Lebensauff'assung und Neigung zum Grübeln und Philo-
sophiren; dort rascher Ehitschluss und geringe Arbeitslust, hier ernste,
auf Wochen hinaus vorbereitete Arbeit. —
Nicht uninteressant ist die Abneigung einzelner Thierrassen gegen
gewisse Farben: wir erinnern an die Wuth der Stiere und Truthähne
beim Vorhalten rother Tücher.
Dass der Mond auf den Menschen wirkt, ist bekannt : während er
einzelne Individuen beruhigt, erregt er das Nervensystem anderer und
erzeugt einen somnambulen Zustand, dem man den Namen Luna-
tismus gegeben hat. Es wäre noch an die Thatsache zu erinnern,
dass mitunter zwischen den einzelnen Sinnen directe Beziehungen be-
stehen. So berichtet Parville von einem Studenten, der bei hohen Tonen
üeber den Einflnss dea Liohtea auf die kÖrperiichen n. ptycbifohen Funktionen. 961
and bei tiefen Tönen dunkle Farben sah. LiBzt und Bülow
hatten ein Farbengehör und endlich giebt es nach den Untersuchungen
fonEyerson sogar einen Farbengesohmack. üeber alle diese Ver-
haltDisse wurde in unserer Oesellschaft gelegentlich des Vortrages über
andition colorSe schon eingehend discutirt.
Was den Einfluss des Lichtes auf die Pflanzen betrifft, so
brauchen wir nur den Namen ▼. Sachs zu nennen, um die epoche*
machende Entdeckung dieses Forschers auf dem Oebiete des Helio-
tropiamus ins Oedächtniss zurückzurufen. — Bei einer der lichtbedürf-
tigsten Pflanzen, Phycomyces niteus, genügt die Verdunkelung von
einer Stunde, um eine deutliche Wachsthumshemmung zu erzeugen.
Die gelben Strahlen sind von hoher Bedeutung für die Thätigkeit des
Chlorophylls, welches im Dunkeln nicht entwickelt wird, wodurch die
Pflanze eine ihrer Hauptaufgaben im Haushalte der Natur nicht er-
fallen kann ; man spricht iu diesem Falle von etiolirten Pflanzen ; die
Pflanze athmet Sauerstoff aus und Kohlensäure ein. Das Thier ver-
braucht Sauerstoff und producirt Kohlensäure. Eines ist ohne das
andere nicht lebensfähig. Die Kohlensäure der atmosphärischen Luft
wird aber für die Pflanze erst durch das Licht zur Nahrung; ohne
Licht müsste trotz yorhandener Kohlensäure die Pflanze verhungern,
ohne Licht würden die Kräfte nicht frei, welche in den Chlorophyll-
haltigen Zellen die Abtrennung des Sauerstoffes von der Kohlensäure
besorgen und damit die Umwandlung des Kohlenstoffes in organische
Substanz.
Interessant ist auch ein Versuch von C 1 a y t o u , nach dem Bohnen, die
bei matter Beleuchtung wuchsen, in der 4. Generation unfruchtbar waren.
Die Wirksamkeit der verschiedenen Farben ist durch zahlreiche
Versuche bestätigt : gleich grosse Exemplare der Mimosa pudica wuchsen
in derselben Zeit unter rothem Licht 42 cm, unter grünem 15 cm,
unter blauem gar nicht. Aehnlich wie das Tageslicht wirkt das elec-
trische Licht, mit dessen Hülfe man es erreichen kann, dass eine Pflanze
während der 24 Stunden des Tages keine Ruhezeit hat. Es würde zu
weit führen, auf diese interessanten Forschungen näher einzugehen.
In der Thierwelt reagiren schon die niedersten Organismen auf
das Licht. Fliegeneier, Larven entwickeln sich am besten unter blauem,
am schlechtesten unter grünem Lichte. Verstümmelte Glieder wachsen
bei den Amphibien im Lichte rascher nach wie im Dunkeln. Nach
den Untersuchungen von J. Loeb sind auch die Thiere heliotropisch
wie die Pflanzen und zwar positiv und negativ. Hierher gehören auch
262 Franz Carl MüUer.
die AssimilationsTersache. Im Dunkeln gehaltene Hunde schieden um
20% weniger Kohlensäure aus als solche, die dem Lichte ausgesetzt
waren. Wenn weisses Licht ein Thier in einer Zeiteinheit veranlasst,
100 Theile Kohlensäure zu produciren, bringt blaues 122 Theile, grünes
128, gelbes 176, rothes 94, violettes 87. Dass bei dieser Stoffwechsel-
änderung nicht nur die Augen, sondern auch die Haut betheiligt ist,
zeigt der Umstand, dass die Herausnahme der Augen, ja selbst des
Gehirns an den Resultaten wenig änderte.
Diese festgestellte Thatsache veranlasste Koranyi zu der Hypo-
these, dass durch das Licht Muskelreflexe ausgelöst werden, durch
welche die Zersetzungsvorgänge erhöht werden. Anzufügen wäre noch
eine Entdeckung Graffenberger's, wonach das Hämoglobin im
Dunkeln abnimmt.
Wohl am meisten studirt ist der Einfluss des Lichtes auf die
Bacterien. Duclaux, welcher zuerst mit Reinculturen arbeitete, wies
nach, dass das Licht zuerst die Bacterien in ihrem Wachsthum hemmt
und später tödtet. Er bezeichnete in Folge dessen das Licht als das
beste bactericide Mittel, das wir kennen. Ohne auf die grosse Literatur
auf diesem Gebiete näher einzugehen, möchten wir nur die Versuche
Dieudonne's streifen. Directes Sonnenlicht tödtet den Micrococcus
prodigiosus nach spätestens 27« Stunden, zerstreutes Licht erst nach
6 Stunden, electrisches Licht in einer Stärke von 900 Normalkerzen
tödtete nach 9 Stunden, Glühlicht nach 11 Stunden. Was die Farben
anbetrifft, so stellte sich heraus, dass die rothen und gelben Strahlen
des Spectrums den Bacterien unschädlich sind, die grünen leicht ent-
wickelungshemmend, die blauen, violetten und ultravioletten rasch tödtend.
Buchner ging einen Schritt weiter und führte die sogenannte
Selbstreinigung der Flüsse auf die Mithülfe des Lichtes zurück, wobei
er zu dem Besultate kam, die Betheiligung des Sauerstoffes bei diesen
Vorgängen ganz zu leugnen und den Werth der Wärmestrahlen, die
von den Wasserschichten absorbirt werden, als gering zu bezeichnen.
Es ist nur ein Schritt, von diesen Beobachtungen ausgehend den EÜn-
fluss des Lichtes auf inficirte Thiere zu studiren. Mäuse, die mit
Milzbrandculturen geimpft waren, wurden zum Theil im Dunkeln ge-
halten, zum Theil in der Beleuchtung durch eine Glühlampe von
16 Normalkerzen. Die ersteren gingen nach drei Tagen zu Grunde
und hatten zahlreiche Milzbraudbacillen im Blute ; als man die anderen
nach 10 Tagen tödtete, fanden sich im Blute nur Involutionsformen der
Bacillen und an der Impfstelle nur örtliche Veränderungen. Wenn
Ueber den TSinflgi« des Lichtet anf die körperlichen n. piyohisohen Functionen. S68
vir mit diesem Besultate die Wirkung unserer Antiseptica auf die
Timlenten Microorganismen vergleichen, so fiUlt die Entscheidung ohne
Weiteres zu Qunsten des Lichtes aus. Die Sporen der Tetanusbacillen
sind nach 48 stündiger Einwirkung von Sprocentiger Oarbolsäure noch
nicht vernichtet. lOprocentige Schwefelsäure war nach 24 Stunden
wirkungslos. Es ergaben Tetanussporen noch Culturen, nachdem sie
in 4procentiger Borsäurelösung 190 Stunden gelegen hatten, in Spro-
centiger Salicylsäurelösung 48 Stunden, in Jodoformpulver 69 Stunden,
in absolutem Alcohol 150 Stunden, in Aether 139 Stunden, in Spro-
centiger Eisen Vitriollösung 120 Stunden. Sublimat tödtet in einer
Lösung von 1 : 1000 erst nach zwei Stuoden.
Es ist nicht unangebracht, an dieser Stelle einige Worte Raumes
zu citiren. Er sagt: „um so mehr bedarf die Frage nach dem Ein-
fluss des Lichtes auf die pathogenen Bacterien noch einer weiteren Be-
arbeitang, als sie befähigt ist, sowohl unsere hygienischen Maassnahmen
als auch unser therapeutisches Thun zu modificiren." Schon 1829 sagte
Sertürmer: „unsere Wohnungen und Hospitäler werden einst be-
stimmt wie Treibhäuser eingerichtet werden, damit das Licht, selbst
des Mondes und der Sterne, ungehindert zutreten kann." — v. Voit
äussert sich in folgender klarer Weise: „Unzweifelhaft ist im hellen
Sonnenlicht und an heiteren Tagen mit der ganzen Stimmung auch die
Zersetzung im Körper eine andere als bei trübem Himmel. Die Er-
regmigen der Sinnesnerven sind es, welche auf den Stoffwechsel ein-
wirkcD; sei es, dass sie direct das Nervensystem erregen oder dass sie
durch Reflexübertragung auf die Muskeln einwirken, wodurch in letz-
teren die Zersetzung zunimmt. Dabei braucht es nicht immer zu wirk-
lichen MuskelbeweguDgen zu kommen, welche allerdings bei stärkeren
Erregungen der Sinnesnerven zweifellos hervortreten und meist die Ur-
sachen des erhöhten Gaswechsels sind.^
Die Empfindlichkeit des menschlichen Auges ist am grössten für
Strahlen mittlerer Brechbarkeit, sie nimmt gegen das rothe Ende des
SpectFoms eher ab als gegen das blaue. Electrisches Licht steigert die
Sehschärfe, Oaslicht vermindert dieselbe. Auch bei geschlossenen
Augenlidern haben wir noch Farbenempflndungen ; die meisten Menschen
können roth und blau noch unterscheiden. Die Lichtempfindung Hy-
pnotisirter ist nach der Angabe Eulenburg's reducirt; interessant ist
eine Hittheilung von Harless, dass an menschlichen Leichen die
Pupille noch 30 Stunden nach dem Tode reagiren kann — eine Beob-
achtung, die von den Augenäzten als falsch bezeichnet wird. Platen
S64 fVanz Carl MiUl«*.
konnte nachweisen^ dass die Saueistoffaufnahme im Lichte steigt; die
Athmung wird im Dnnkeki oberflächlicher und schneller — ein Indi-
viduum, das im gelben Licht in der Minute 19 Mal geathmet hatte^
athmete im grünen 17 Mal, im rothen nur 15 Mal.
Es wird behauptet, dass die Haarerzeugung im Lichte grösser
sei als im Dunkeln. Wie das Licht auf die unbedeckte Haut wirkt,
wissen wir aus der alltäglichen Erfahrung. Dass dabei nicht die
Sonnenwärme allein maassgebend ist, zeigt der Umstand, dass auch
bei kalter Witterung Leute, die zu vorübergehenden Waffenübungen
einberufen smd, in kurzer 2ieit eine gebräunte Gesichtsfarbe bekommen.
Wie das Sonnenlicht, so wirkt auch das electrische Licht, das bei kurzer
Dauer eine einfache Bräunung, bei längerer den sogenannten elec-
trischen Sonnenstich erzeugt. Arbeiter in Schmiedewerken, in
welchen der electrische Strom zum Zusammenschweissen der Metalle
benutzt wird, werden stundenlang nach der EiowirkuDg des electrischen
Lichtes von heftigen Schmerzen in der Haut heimgesucht Dass dabei
die Wärme eine geringe Rolle spielt, beweist die Thatsache, dass die
Giesser, die sich höheren Temperaturen aussetzen müssen, an dieser
Affection nicht erkranken und dass die Wärmeentwickelung beim
Schweissverfahren gering ist.
Auch den sogenannten Sonnenstich (Lisolation) halten viele
Autoren für eine reine Lichtwirkung und unterstützen diese Annahme
durch die Thatsache, dass der Gletscherbrand auch bei Tempera-
turen unter dem Gefrierpunkte auftritt. Nach den Untersuchungen
von Unna hat die Haut in dem Pigment ein Schutzmittel gegen die
Sonnenstrahlen. Folgerichtig nimmt die Intensität der Hautfarbe vom
Aequator gegen die Pole ab. Ob diese Anschauung nicht das post
hoc mit dem propter hoc verwechselt? Dass aber das Pigment schützt,
das beweist uns ein Versuch von B o w 1 e s. Er bestrich sich vor einer
grösseren Bergpartie einzelne Theile des Gesichts mit brauner Farbe
und zwar mit dem Erfolge, dass das Sonneneczem überall dort fehlte,
wo er gefärbt und ausgesprochen vorhanden war, wo er dies unterlassen
hatte. Dass die Wirkungen des Lichtes sich nicht auf die obersten
Schichten der Haut beschränken, sondern tiefer gehen, beweist nach-
stehendes Experiment: wenn man Chlorsilber, das in kleine Glas-
röhrchen eingeschmolzen ist, mit Hülfe eines Troicarts Thieren unter
die Haut bringt, so schwärzt sich dasselbe bei denjenigen Thieren, die
dem Lichte ausgesetzt werden, und bleibt bei den im Dunkeln gehal-
üebtr den BisfinM dM liehtai auf di« korparlieben n. ptyehiBchen Functionen. 265
teoen unTerMndert. Diese Thatsache wurde durch eine Nachprüfimg
TJibeleisezi's bestätigt.
Noch wäre eine Reihe von Versuchen anzuführen, welche die Be-
deutung des Lichtes beweisen. Winslow fand, dass das Wachsthum
der Kinder in den lichtannen Monaten keine Fortschritte macht.
Kinder, die längere Zeit im Dunkeln gehalten werden, haben gegen-
über solchen, die dem Lichte ausgesetzt sind, eine um 7b GtisA tiefere
Körpertemperatur. Wer dächte dabei nicht au die Yoit'sche Theorie
Yon den durch das Licht ausgelösten Muskelreizen? Wenn neben
fielen Anderen Esmarch das häufige Vorkommen Ton Tuberculose
imd Malaria in bestimmten Districten auf die finsteren Wohnungen be-
zieht, 80 darf man nicht ausser Acht lassen, dass diese Wohnungen
auch audere hygienische Nachtheile haben (Feuchtigkeit, schlechte Ven-
tilation) und wenn Willibald Gebhardt manche Nervenkrankheit
auf das Tragen dunkler Kleider zurückfuhrt, so möchte ich als Nerven-
arzt dazu bemerken, dass derjenige Stand, welcher beruflich sein Leben
lang schwarz gekleidet ist, statistisch die wenigsten Nervenkrankheiten
aufweist
Endlich fuhren einzelne Forscher das endemische Vorkommen des
Cretinismus in einzelnen wenig besonnten Gebirgsthälern auf den Licht-
mangel zurück; dem ist entgegenzuhatten, dass dortselbst chronische
Inzucht herrscht und dass dieser Cretinismus auch im Flachland auf-
tritt, wo einzelne Gemeinden in der Diaspora aus religiösen Gründen
sich von der Verbesserung ihres degenerirten Blutes durch Heirathen
mit sogenannten Fremden fernhalten.
Trotz der vielen Citate habe ich Vieles, was die Literatur enthält,
übergehen müssen, weil die wichtige Frage, wie das Licht auf den
kranken Organismus wirkt, drängt.
Es macht sich in der jüngsten Zeit eine gewisse Lichtbewegung
geltend, die freilich zuerst in Laienki-eisen bemerkbar war. Vornehmes
Igooriren neuer Forschungsresultate, auch wenn sie überraschend
klingen, ist weniger vornehm als thöricht und wem es unter den
Collegen unsympathisch erscheint, sich mit so modernen Dingen, die
noch nicht einmal abgeklärt, viel weniger ausgereift sind, zu beschäf-
tigen, der denke an die autoritativen Worte Hufeland's: „Vier
Himmelsgaben, die man mit Kecht als die Schutzgeister alles Lebenden
bezeichnen kann, giebt es: Luft, Wärme, Licht und Wasser; obenan
aber steht das Licht !^
Schon die alten Römer, mit denen jede gründliche deutsche
266 Franz Carl Müller.
Forschung beginnt, falls sie sich nicht gax auf die Bibel berufen kann,
hätten auf ihren Hausdächem Solarien, in denen sie Sonnenbäder
nahmen, und die römischen Aerzte verordneten dieselben gegen Gicht
und Rheumatismus. Am Ende des vorigen Jahrhunderts beschloss der
italienische Kliniker Loretti sein Lebensstudium über die Tuberkulose
mit dem Ausspruch, dass diese Krankheit nur mit Eisen und Licht sieg-
reich bekämpft werden könnte. Ueberhaupt machte sich schon vor hundert
Jahren eine gewisse Bewegung für die Lichttherapie geltend: Vi 11 et
heilte Wassersüchtige in 14 Tagen durch täglich mehrstündige Be-
sonnung; der sächsische Leibarzt Carus schwärmte für Lichtcuren
bei der Hypochondrie, worunter man damals auch die moderne Neur-
asthenie begriff. Später beschäftigten sich Emmet und Snegireff
mit dem Sonnenlicht und empfahlen dasselbe gegen Uterusblutungen;
Gui Seppe heilte Gelenkentzündungen damit. — In neuester 2jeit war
es vorzugsweise der Schweizer Rickli, ein Laie, der in seinem Buche
(Die atmosphärische Cur) die Vorzüge der Sonnenbäder begeistert
anpries und in Velden (Krain) eine Sonnenbadeanstalt errichtete. Sein
^Schüler war der Arzt Otterbein (Die Heilkraft des Sonnenlichtes)
und diesem folgte eine Reihe anderer „Naturheilkundiger": L ah mann,
Dock, Disqu6, Böhm, Kühner. Die von Lahmann eingeführten
Luftlichtbäder resp. deren Werth wird am besten von dem Erfinder
selbst durch eine von ihm edirte Photographie illustrirt, auf der sich
acht nackte Männer im Freien im Schneegestöber anscheinend sehr
wohl befinden. Es ist bezeichnend, dass der grössere Theil der Ver-
treter der Lichttherapie dem Stande der sogenannten Naturärzte an-
gehört, welche sich dem Laien gegenüber gerne als von der Wissen-
schaft emancipirt hinstellen. Ihre offenkundigen Fehler in den Heil-
bestrebungen, ihre der Logik nicht immer entsprechenden Schlüsse usd
vor Allem ihre Stellungsnahme ge<]^en die Wissenschaft schadeten dem
neuen Heilverfahren in der ärztlichen Welt. Erst der Amerikaner
Kellogg, der einwahdsfrei in einer dem bekannten Hydropathen
Winternitz gewidmeten Jubiläumsschrift für das Lichtheilverfahren
eintrat, gab uns Aerzten den Muth nachzuprüfen — und dies wurde
mit grossem Eifer gethan.
Li erster Linie müssen wir den Fehler vermeiden, der vielfach
gemacht wird und sich durch Heilerfolge der sogenannten Preiluftcur
bei der Tuberculose erklärt. Es wäre unlogisch, daraus, dass vermehrte
Sauerstoffzufuhr der kranken Lunge nützt, das Licht als heilkräftig be-
zeichnen zu wollen. Auch der Glaube vieler Autoren, dass die Sonnen-
lieber den Einfluss dei Lichtes auf die körperlichen u. psychischen Functionen. 267
bäder deshalb nutzbringeod sind, weil sie die Schweissabsonderung er-
höhen und damit infectiöse Stoffe entfernen, ist zum Theil richtig,
aber wir müssen uns hier nur auf die reine Licht'wirkung beschränken
und aus den vorhandenen Veröffentlichungen alles das ausschliessen,
was nnbranchbar und unverstanden ist.
Ich muss an dieser Stelle bedauern, dass die Versuche mit den
einfachen Lichtbädern nur das Eine Resultat ergeben haben, dass sie
auf die Stimmung und auf den Stoffwechsel günstig einwirken. — Viel
interessanter, wenn auch noch nicht einwandsfrei, wäre die Thatsache,
dass an unheilbaren Krankheiten Leidende (Krebs, Gehirnerweichung,
findstadium der Schwindsucht) auch ina lange fortgesetzten Sonnenbade
keine Pigmentvermehrung erfahren, während Heilbare rasch gebräunt
werden. Rickli schreibt das dem Umstände zu, dass bei consumirenden
Krankheiten zu viel rothe Blutkörperchen verbraucht werden, womit die
Hautpigmentirung; unmöglich gemacht wird. Ausgedehnter sind die
mit electrischem Licht gemachten Versuche, auf deren Installirung
man dadurch kam, dass das Sonnenlicht nicht immer im gewünschten
Moment zur Verfugung steht.
Ich muss kurz ein solches electrisches Bad beschreiben : denken
Sie sich einen circa IV2 Meter hohen, an der Innenfläche mit Spiegel-
glas ausgekleideten Kasten von 1 Quadratmeter Grundfläche. Der-
selbe ist innen mit regelmässig angeordneten Glühlampen, ungefähr 60
von je 20 — 25 Kerzenstärke, besetzt und hat oben eine Oeffnung, durch
welche der Kopf des Badenden schaut und vorne eine Eingangsthüre.
Sobald der Euranke in unbekleidetem Zustande auf einem im Kasten
befindlichen Stuhle Platz genommen hat, wird der Stromkreis ge-
schlossen und der Badende allseitig von Licht umflossen. Die Temperatur
im Innern des Kastens steigt langsam ; trotzdem athmet der Badende
ständig frische und kühle Luft, deren Zufluss man durch Oeffnung
eines Fensters erleichtern kann. Statt der Glühlampen nimmt man
auch Bogenlampen und braucht dann deren 4 von je 1000 Normal-
brzen. Das Spectrum des Bogenlichtes ist continuirlicher und hat ein
ununterbrochenes Farbenband, wogegen das Sonnenlicht von den bekannten
Trauenhofe r'schen Linien durchzogen ist. Ein wirklicher Unterschied
zwischen beiden Lichtarten ist aber in der Therapie nicht zu verzeichnen.
Die auffälligste Wirkung dieser Bäder ist die Erhöhung der
Körpertemperatur, mit welcher lebhafte Transpiration verbunden
ist, die rascher und leichter erfolgt als im Dampfkastenbad. Da der
Dampf einen Druck auf die Haut ausübt und damit die Oeffnung der
26g Franz Carl Müller.
Foren erschwert, so findet sich nach solchen Bädern hei schwächlichen
Personen leicht eine gewisse Mattigkeit, die l)ei Lichtbädern ausbleiben
soll. — Wie das electrische Lichtbad auf das Herz wirkt, wissen wir
aus neuen Untersuchungen üibeleisens; der Puls war bei 24 ® R.
unverändert und betrug
zwischen 25 und 30^ K 78 in der Minute,
30 „ 35 0 R B8 „ „
36 „ 40<>R 110 „ „
n 41 n 46<^R 118 „ „
46 „ 480 R 130 „ „
bei 50<> R 142 „ „ „
Es giebt Versuche, in denen man bis auf 60** R. stieg. Magere und
mittelstarke Personen vertragen ohne Beschwerden eine Temperatur
bis zu 43 ** sehr gut. Fette Personen fühlen schon bei 38 ^ eine gewisse
ünbehagUchkeit. Selbstverständlich hat die Schweissabgabe eine Ver-
minderung des Gewichts im Gefolge. Dieselbe beträgt bei 42® und
35 Minuten Dauer im Mittel ein Kilo; bei späteren Bädern ist die
Gewichtsabnahme geringer. Nach dem Bad folgt eine Abkühlung,
dann Ruhe und endlich Massage. Dies zur Technik! —
Kalinczeck (Zur curativen Anwendung des electrischen Licht-
bades, Prager med. Wochenschrift 1898, 23) hat mit Baruch im
Marienbader Neubade Versuche angestellt und herausgefunden, dass
eine starke Schweissproduction erst bei 34*^ R. eintritt. Dies stimmt
mit den Angaben von Winternitz nicht überein, der dies schon bei
27 ^ R. fand. Das subjective Befinden war bis 45 ° 0. nicht unangenehm;
die Gewichtsabnahme schwankte von 200 — 750 Gramm, Puls und Ath-
mung gingen erst jenseits von 45 ^ C. stark in die Höhe.
Von grossem, wissenschaftlichem Literesse ist die scheinbare That-
sache, dass durch Lichtbäder die Zahl der rothen Blutkörper-
chen vermehrt wird. Es ist dies in fast allen Fällen, die in
neuester Zeit beobachtet wurden, constatirt worden, weshalb ich nicht
anstehe, einige sehr ^instructive Beobachtungen Uibeleisen's hier an-
zuführen. Während der normale Mensch in einem Cubikmillimeter
Blut circa 5 Millionen rothe Blutkörperchen hat, finden sich bei der
Bleichsucht oft nur 4, auch 3 Millionen. Da die rothen Blutkörperchen
die Träger des lebenswichtigen Oxyhämoglobins sind, so ist es begreif-
lich, das eine solche Verminderung auch das Gesammtbefinden wesent-
lich beeinträchtigt. Ui beleisen fand bei einer 19jährigen bleich-
süchtigen Dame zu Beginn der Cur 3 200000 rothe Blutkörperchen;
Ueber den Einflosi des Lichtes auf die körperlichen u. piyohischen Functionen. S69
nach dem 6. Lichtbade 4000000; in einem anderen Falle stieg nach
7 Bädern die Zahl von 2 800 000 auf 3 900 000. dabei verminderte sich
die Pulsfrequenz von 125 pro Minute auf die Norm, so dass die
Patientin nach 13 Lichtbädern gesund entlassen werden konnte.
Es ist iu den letzten Jahren eine interessante Beobachtung ge-
macht worden, dass nämlich die Zahl der rothen Blutkörperchen im
Hochgebirge gradatim mit der Erhöhung über dem Meeresspiegel zu-
nimmt und zwar bis zu 7 Millionen, ebenso wie die Erythrocyten nach
Ealtwasser-Proceduren eine starke Vermehrung erfahren. Ein leb-
hafter Streit entbrannte und noch ist die Frage nicht gelöst, ob wir
es mit einer localen oder universellen Vermehrung des Blutfarbstoffes
bei diesen Beobachtungen zu thun haben. Hier ist auch gar nicht der
Platz, auf diese Frage näher einzugehen, da wir nur referiren wollen.
Ich habe vor ca. 10 Jahren ausgedehnte Versuche über den Hämo*
globingehalt des Blutes bei der Neurasthenie gemacht und das Resultat
in meinem „Handbuch der Neurasthenie" veröffentlicht. Dabei ergab
sich, dass viele Nervenschwache hämoglobinarm sind, so dass ich keinen
Anstand nahm, die Modekrankheit unseres Jahrhunderts als eine Blut*
krankheit aufzufassen. Wenn wir die Verhältnisse bei der Bleichsucht
mit meinen Ergebnissen vergleichen, so liegt es nahe, dass ich lebhaft
dafür stimme, auch die Neurastheniker, vorerst freüich nur experimentell,
mit Lichtbädern zu behandeln. Die diesbezüglichen Versuche, welche
ich gemeinschaftlich mit Uibeleisen anstelle, sind noch im Gange,
jedoch noch nicht so weit gediehen, dass irgend ein abschliessendes
ürtheil möglich wäre. —
Kellogg hat ungefähr 40000 Lichtbäder gegeben und kommt
zu folgendem Schlüsse: „Es erwiesen sich dieselben namentlich werth-
ToU bei Fettsucht, Rheumatismus, Zuckerharnruhr,
chronischer Nierenentzündung und bei allen Krankheiten, die
mit Verlangsamung des Stoffwechsels verbunden sind. Es
ist das wirksamste aller schmerzstillenden Mittel und leistet
als Tonicum und Nervinum gute Dienste bei Neurasthenie
und Schwächezuständen des centralen Nervensystems.'^
In einer neueren Arbeit (Das elektrische Lichtbad, med. mod. 1899,
1 u. 2) bezeichnet L H. Kellogg als das einzig wirksame Agens des
electrischen Lichtbades die Hitze. Es wird zwar das Dampfbad, das
russische und römische Bad, das heisse Wasser nicht ganz verdrängen,
aber wegen der Leichtigkeit der Anlage und Unterhaltung, sowie wegen
der Reinlichkeit weiteste Verbreitung finden.
270 ^an« Carl Müller.
B e 1 o w bat im Laufe des heurigen Sommers in seiner Anstalt
in Berlin einem ärztlichen Publikum eine Reihe von licbtbehandelten
Fällen vorgestellt: Neurasthenie, Bronchialasthma, Neural-
gien, Syphilis; Lupusfälle waren nicht daininter. Er gab seine
Beobachtungen in Gemeinschaft mit Kattenbracker heraus, doch
macht die Broschüre den Eiodruck, als sei sie mehr für den Laien
berechnet. Grärtner kritisirte die Below'schen Resultate in einem
Vortrag, den er in der Berliner medicinischen Gesellschaft hielt und
kam zu dem Schlüsse:
1. Es sind die Glühlichtbäder Heissluftbäder, in denen der Orga-
nismus durch gesteigerte Perspiration und Verdunstung des Schweisses
sich abzukühlen und seine Temperatur zu reguliren vermag, während
bei Dampfbädern eine Abkühlung durch Verdunstung des Schweisses
unmöglich ist.
2. Der Kranke hat den Kopf ausserhalb des Kastens und athmet
frische Luft.
Beide Vorzüge haben aber auch die Kastendampfbäder. Gärtner
stimmt mit Behrend darin überein, dass die Behandlung der Syphilis
mit Licht ohne Quecksilber energisch beaufsichtigt werden müsste, weil
dadurch leicht der richtige Augenblick der Behandlung übersehen wird.
Preystadtl hat Entfettungscuren bis zu 45 Pfund ohne Diät-
änderungen und ohne Schädlichkeiten durchgeführt. Gebhardt machte
auf der Naturforscherversammlung in Braunschweig den Vorschlag,
man möge ihn mit Bacterienculturen impfen und er würde im Licht-
kasten alle Schädigungen leicht überwinden. Ersteres wäre ein heroischer
Entschluss, letzteres ist dagegen eine Behauptung, die über den Rahmen
des bis jetzt wissenschaftlich Festgestellten hinausgeht.
Die Naturheilkuude schreckt auch vor dem Ausspruch nicht
zurück, dass Syphilis, die durch Quecksilbercuren verschleppt oder
unterdrückt wurde, durch Lichtbäder geheilt werden könne. Es geht
mit diesem alten Vorwurf wie mit den immer wieder geäusserten Be-
denken über die Impfung. Die Sachverständigen wissen durch Erfah-
rung und Statistik, dass die Syphilis nur durch Quecksilber relativ ge-
heilt werden kann und dass seit der Zwangsimpfung die Pockenfalle auf
ein Minimum reducirt wurden. Trotzdem remonstriren die dii minorum
gegen diese Mittel und haben damit den Beifall der urtheilslosen Menge.
Es ist wahrscheinlich, dass das Sonnenlicht die wunderbaren Wir-
kungen, die es auf das Wachsthum von Pflanzen und Thieren ausübt,
durch die kurzwelligen blauen, violetten und ultravioletten Strahlen
lieber den flinflaii des lichtei auf die körperlicheo u. psychiich«ii Functionen, g? X
▼ennittelt, welche ja auch im Bogenlicfat enthalten sind. Diese An*
nähme veranlasste schon vor sechs Jahren Benedikt Friedländer
zu dem Vorschlage, man solle versuchen, das Bogenlicht in die Therapie
eiDzafiihren. Dies that vor Allem Niels R. Finsen in Kopenhagen,
der bei der Behandlung des Lupus wirklich aufsehenerregende Erfolge
erzielte. Ueber dieselben berichtet neuerdings Sophus Bang in der
Monatsschrift für practische Dermatologie (1899, I).
Die Vorrichtung zur Concentrirung des electrischen Bogenlichtes
ist 80 getroffen, dass die Strahlen zuerst durch zwei Linsen parallel
und dann durch zwei weitere Linsen, zwischen denen sich eine 20 — 30 cm
dicke Wasserschicht bewegt, convergent auf die behandelte Stelle ge-
leitet werden. Die Linsen sind aus Bergcrystall ; damit gelingt es, die
meisten Bacterien im Reagensglas in 2 bis 60 Secunden zu tödten ; da
aber das Blut die Fähigkeit besitzt, die brechbaren Strahlen zu ab-
sorbiren. so muss man die Haut möglichst blutleer machen und dies
gelingt durch Aufdrücken eines Glases, das aus zwei Bergcrystall platten
besteht, zwischen denen gleichfalls kaltes Wasser strömt. — Bang
glaubt, dass bei täglich zweistündiger Application die Behandlung
mindestens 4—6 Monate, unter Umständen aber auch 2 Jahre dauern
kann. Finsen wendet Bogenlampen mit einer Stärke bis zu 80 Am-
peres an und erzeugt kaltes Licht dadurch, dass er das Licht durch
eine blaugefarbte Wasserschicht hindurchtreten lässt; bis zum Ende
1898 hat er 246 Fälle von Lupus behandelt und in 60% anscheinende
Heilung erzielt. Seine Versuche wurden von Sarason nachgeprüft,
desgleichen von Kernig, Eosloffski, Ewald und Q-ebhardt.
Der Amerikaner Thay er hat concentrirtes, also durch eine Linse
gesammeltes Sonnenlicht bei Hautkrebsen verwendet, Andere haben die
Hanttuberculose auch mit einem electrischen Scheinwerfer behandelt,
dessen Lampe eine Stärke von 12 Amperes hatte. Später stellte sich
heraus, dass man gleichzeitig die sogenannte Aquapunctur angewandt
batte, also die Haut mit einem nadelscharfen, unter grosser Gewalt
wirkenden Wasserstrahl reizte und an den Geschwürsenden Granu-
lationen erzielte. Derartige Erfolge auf das Conto der Lichttherapie
setzen zu woUen, ist unwissenschaftlich, denn Heilwirkungen der reinen
Aquapunctur sind den Hydropathen seit Langem bekannt.
Rationell sind überhaupt nur die Versuche Finsen's: er erreichte
Entzündungen der verschiedensten Grade, vom einfachen Erythem bis
zur Blasenbildung und zur starken Anschwellung der Haut Interessant
ist die Heilung der Kahlköpfigkeit durch Licht ; es ist thatsächlich ge-
972 JBVanz Carl MüUw.
lungen, durch directe Bestrahlung nach einigen Wochen, in schwereren
Pällen nach Monaten, kahle Inseln auf dem Kopfe zu behaaren, natür-
lich nur solche, auf denen die Haarwurzeln unversehrt geblieben waren
und nur der Haarschaft einem Pilze zum Opfer gefallen war.
Es giebt Optimisten, auch unter den Aerzten, welche der Liclit-
therapie dieselbe Bedeutung zumessen, wie der Electrotherapie.
Wir haben bisher bei unseren Betrachtungen immer nur auf das
weisse Licht Bezug genommen. Es ist aber naheliegend, dass das
farbige Licht Wirkungen haben kann, die im weissen Licht nur un-
klar zur Beobachtung kommen. Die Wellen des rothen Lichtes machen
in der Secunde 450 Billionen Schwingungen, die des violetten 790
Billionen, also auch für die rein mechanische Auffassung schon ein
gewaltiger Unterschied. Wir wissen, dass roth und gelb den Eindruck
des Freundlichen, Behaglichen, blau den des Kalten, Ernsten macht
Schon im Mittelalter spielte die rothe Farbe eine Bolle in der Pocken-
therapie : man verhängte die Fenster mit rothen Tüchern und in Japan
giebt man den pockenkranken Kindern rothes Spielzeug. Mehr Me-
thode haben die Versuche, das farbige Licht bei Greisteskranken anzu-
wenden. Der Erste, der sich damit beschäftigte, war Ponza; er
«chrieb der rothen Farbe erregende, der blauen und violetten be-
ruhigende Wirkung zu und brachte seine Melancholiker in roth be-
leuchtete, seine Tobsüchtigen in blaue oder violette Zimmer. Seine
1876 herausgegebenen Resultate veranlassten eine Nachprüfung in Eng-
land. Dort brachte man einen schwer Melancholischen in ein mit
gelben Tapeten, gelber Decke und gelbem Fussboden ausgestattetes,
nach Süden gelegenes Zimmer. Sobald die Sonne ins Zimmer schien,
war dasselbe von goldigen Lichtfluthen durchwogt. Einen zweiten
Kranken, der die Nahrung verweigerte, brachte man in ein himmel-
blaues Zimmer; einen Tobsüchtigen schloss man in einen violett be-
leuchteten Baimi ein und in allen drei Fällen soll der Erfolg über-
raschend gewesen sein; ob er dauernd war, ist leider nicht anzugeben.
Zu ähnlichen günstigen Resultaten gelangte Davies, nur fand er, dass
grelle Beleuchtung leicht Kopfschmerzen hervorruft.
So interessant auch diese Versuche sein mögen, so sind sie doch
nicht einwandsfrei, denn wir wissen aus der Erfahrung, wie sehr die
verschiedenen Farben durch das Auge auf das Gemüth wirken. Für
die wissenschaftliche Verwerthung wäre es uöthig, farbige Lichtbäder
auf den Körper wirken zu lassen, ohne dass das Auge betheiligt ist.
Zu diesem Zwecke setzte IJibeleisen zwei Neurastheniker in den
Ueber den Einflosi des Lichtes auf die körperlichen n. psychischen Functionen. 373
rothbelenchteten Lichtkasten. Id diesen beiden Fällen wurde von den
betreffenden Kranken eine günstige, erfrischende Wirkung angegeben.
Wie weit sich dieselbe durch Suggestion erklären lässt und wie weit
sie durch die Beleuchtung allein erzielt worden wäre, muss weiteren
Yenuchen überlassen werden.
Farbiges Licht studirte übrigens schon im Anfange der sechziger
Jahre der amerikanische Qeneral Pleasanton und fand, dass violettes
Licht auf die Entwickelung junger Thlere besser wirkt als gewöhnliches
Licht. Eondratiew studirte an septisch inficirten Thieren und con-
statirte, dass die Sepsis je nach der Farbe des benutzten Lichtes ver-
schieden abläuft: bei Lichtabschluss ist das Fieber geringer, aber die
Entkräftung geht rascher vor sich. Grün entspricht völligem
Lichtmangel, Violett erhöht das Fieber, erhält aber die Kräfte, Roth
kommt dem Violett nahe, Vl^eiss drückt die Temperatur herunter. Der
günstige Verlauf der ganzen Ej*ankheit ist am raschesten in Weiss,
dann folgt Violett, dann Roth und dann G-rün, dann Lichtabschluss.
Eine eigenartige Methode stammt von Babitt, die erChromo-
pathie nennt Er benützt 1 — 2 Liter fassende Gefösse aus blauem,
rothem, grünem Glase, durch die er das Licht concentrirt auf die
kranke Stelle bringt; damit will er Gicht, Rheumatismus, Bronchitis
geheilt haben. Sein Schüler Schmitz erfand einen Apparat, Ther-
mostat, der im Stande ist, Tabes, Sehnervenatrophie, Tuberculose
im letzten Stadium zu bessern. Unter Anderem behauptet er, vom
Sonnenlicht strahlen die feinsten Kräfte aus und diese Feinheit wird
nur durch die ebenfalls der Neuzeit angehörende Entdeckung der
psychomagnetischen Od-Ausstrahlung bei sensitiven und hochorganischen
Menschen übertroffen. Wer das Aetheratomgesetz genau kennt, weiss
auch, dass alle Dinge ihre besonderen Essenzen und Aetheratome aus-
strahlen müssen, gleich Ebbe und Fluth, Pulsion und Repulsion, Ein-
ond Ausathmen, negativer und positiver Polarisation.
* Wir sind nun einerseits in Gebiete gelangt, in die zu folgen der
nüchternen Forschung nicht gut möglich ist, andererseits streiften wir
die Lehre vom 0 d und ich bin überzeugt, dass nach den langen
medicinischen Auseinandersetzungen jetzt jedes psychologische Herz
lauter schlägt. Freiherr von Reichenbach hat mit seiner „Od''
genannten Naturkraft, die zwischen Electricität, Magnetismus, Licht
nnd Wärme steht, begeisterte Anhänger, aber noch mehr absprechende
Richter gefunden. Er experimentirte mit farbigem Lichte und fand,
dass grüne Lichtstrahlen im Stande sind, bei sensitiven Menschen Ohn-
Zcitaelurift fSr Hypnotisnini etc. IX. IB
374 Franz Carl MiUler.
machten und Krämpfe zu erzeugen. Er machte seine Versuche an einem
matten Spectrum des Mondlichtes und liess seine Versuchsobjecte mit einem
Stabe die verschiedenen Farben des Spectrums durchlaufen. Sobald
dieselben auf Grün kamen, fielen sie, entweder, wenn sie hochsensitiv
waren, wie Tom Blitze getroffen nieder oder sie empfanden als stärkere
Naturen widrige Gefühle, die aufhörten, sobald der Stab in eine
andere Farbe kam. Er fand femer, dass positives und negatives Od
auf Metalle, Holz und Wasser verladen werden kann, mit denen man
die stärksten Einwirkungen auf den Menschen auslöst.
In dem ersten Taumel des Entzückens über die Entdeckung der
Röntgen-Strahlen glaubte man, sie mit dem Od identifidren zu
können. Man ist aber bald davon zurückgekommen. Wir wissen, dass
die Böntgen-Strahlen die kleinste Wellenlänge haben, etwa den fünf-
zehnten Theil der ultravioletten Lichtstrahlen. Diese Röntgen-Strahlen
wirken auf Pflanzen nicht heliotropisch und sind dem Insektenauge
sichtbar; sie haben keinen merklichen Einfluss auf die Athmung der
Thiere, verursachen aber eine mehrstündige Erregung. Ried er con-
statirte, dass an ausserhalb des Thierkörpers auf gutem Nährboden be-
findlichen Bacterien durch Bestrahlung mit Röntgen-Iicht die Fort-
entwickelung rasch gestört werden kann, was Bergmann nach seinem
Vortrag auf der letzten Naturforscherversammlung bezweifelt. Heil-
erfolge sahen Sinapius bei der Tuberculose, Despeignes wandte
die Strahlen bei einem Magenkrebs an, der sich verkleinerte; nach
Franzius verzögert sich die ToUwuth, endet schliesslich aber doch
mit dem Tode. Bekannt sind die Veränderungen, die das Böntgen-
Licht auf der Haut hervorruft, aber weniger bekannt ist die That-
sache, dass es sonst normal sehende Menschen giebt, welche die
Knochen einer durchleuchteten Hand nicht sehen können. Ob diese
Böntgen- Strahlen-Blindheit ein Analogen zur Farbenblindheit ist, wage
ich nicht zu unterscheiden.
Aus all dem Gesagten geht hervor, dass die Lichttherapie zweifel-
los eine Zukunft hat, aber um dieselbe auszubilden, bedarf es strenger
und rein wissenschaftlicher Forschungen. Es geht damit wie mit allen
neuen Heilmitteln, die zuerst überschätzt und dann unterschätzt werden.
Es wäre schade, wenn der gute Kern, der in der Sache liegt, durch
die falschen und voreiligen Schlüsse optimistischer Therapeuten zer-
stört würde.
Am Schlüsse meines Vortrages ist es mir eine angenehme Pflicht,
Seiner Excellenz Herrn Generallieutenant Freiherm von Branca fiir
gütige Unterstützung bei Beschaffung der Literatur meinen wärmsten
Dank auszusprechen.
Casuistisehe Beitrage zur Psychotherapie.
Von
Dr. L. Seif, Nervenarzt in München.
Fall 1.
Fiinlein F., 28 Jahr, hereditlir belastet, war schon als Kind reübar, empfind-
lich md laanenhaft. Später nahm dies noch asa. Sehr nervös ist sie erst seit 6
JabTen. nachdem sie durch den plötzlichen. Tod ihres Verlobten schwere GemüthS"
erregimgen durchgemacht hatte. Dorch mehrere Jahre dauernde Zwangsrorstel-
Inngen waren innerhalb eines mehrmonatlichen Anstaltsaufenthaltes im Jahre 1885
Tolbtändig abgeheilt.
Als sie im Februar 1896 in meine Behandlung trat, klagte sie über schlechten
Schliß Appetitlosigkeit, schmerzhaften Druck auf dem Scheitel, Angstgefühle, Herz-
klopfeii, plötzlich auftretende tiefe Verstimmungen und heftige Hustenbeschwerden
in Folge chronischer Bronchitis. Sie bekleidete damals zum ersten Male in ihrem
Leben eine Stelle und zwar als Erzieherin in einer hiesigen Familie, fühlte sich
aber in dieser Stelle recht unglücklich.
Die Behandlung bestand in einfiushen Wasseranwendungen und suggestiv-
therapeutischen Maassnahmen. Es gelang schon in der ersten Sitzung, Sonmam-
bolismus zu erzielen. Schlaff Appetit und Allgemeinbefinden besserten sich nun
zusehends, sie wurde viel heiterer und kam auch ihren beruflichen Verpflichtungen
mit einer gewissen Freudigkeit nach; indes kehrten schon bei ganz geringfügigen
ATilsssen, häufig auch ausserHch unmotivirt, jene oben geklagten plötzlichen Ver-
itimmnngen, Angstgefohle und der Druck auf dem Scheitel trotz dagegen ge-
richteter Suggestionen immer wieder.
Dieses anf&Uende Verhalten, dass ein Theil der krankhaften Erscheinungen
^ Suggestion wich, der andere aber, scheinbar unmotivirt, immer wiederkehrte,
sowie Anregungen, die ich damals aus Breuer und Freud 's Arbeiten über Hysterie
empfimgen, veranlassten mich, im Juni 1896 in tiefer Hypnose mit Hülfe der Hyper-
mnesie eine Psychoanalyse jener Gemüthsveränderungen, über deren inteUectuelles
Substrat etwas auszusagen die Kranke im Wachzustande nicht vermodite, zu ver-
suchen. Das Ergebniss war folgendes:
Vor 10 Jahren, eines Morgens, als sie ausging, stiess sie plötzlich auf der
Strasse auf eine ihr sonst ganz unbekannte Dame, von der sie die Nacht vorher
geträumt hatte. Sie behauptete, nie vorher jene Dame gesehen zu haben. Dieses
eigenthümliche Ereigniss machte sie im ersten Augenblicke ganz verwirrt und be-
18*
276 I^- Seif.
stürzt, doch dachte sie weiter nicht mehr daran, machte ihre Einkäufe, blieb aber,
ohne zu wissen warum, den ganzen Morgen verstimmt. Nachmittags ging sie mit
ihrer Schwester spazieren und wurde dabei plötzlich von einer heftigen Verstim-
mung, Unruhe und einem sehr schmerzhaften Druck auf dem Scheitel befallen und
weinte, ohne dass sie, Ton ihrer Schwester darnach gefragt, den Grund angeben
konnte. Auf meine Frage, was für Gedanken sie sich denn bei jenem zufalligen
Zusammentreffen gemacht habe, erwiderte sie, sie habe in jenem Augenblicke Ye^
rückt zu sein geglaubt. — Während sie mir dies Alles erzählte, kam sie sichtlich
in eine wachsende Unruhe und Erregung und wiederholte mehrmals, „so etwas
könne nur Abnormen passiren, sie müsse abnorm sein". Da das „Abreagiren" kein
Ende nehmen wollte und die Erregung noch zunahm, beruhigte ich sie nun, aaf
alle Einzelheiten ihrer Darstellung eingehend, imd stellte ihr den ganzen Vorfall
als durchaus harmlos und erklärlich dar, und belehrte sie ungeföhr, dass, wie eine
Wunde, solange ein Fremdkörper in ihr stecke, nicht heilen können, so auch ihre
Angst, ihre Verstimmung und ihr Kopfdruck immer wieder habe auftreten müssen,
da jener Schrecken und jene beunruhigenden Gedanken seitdem immer in ihr ge-
steckt hätten; nun aber sei sie darüber ganz klar und beruhigt und damit jenes
Vorkommniss mit allen seinen unangenehmen Folgen ein für allemal überwunden
und sie von jetzt ab also gesund.
Nach dem Erwachen Amnesie und Euphorie. Sie erklärt, sich so behaglich
zu fühlen, wie schon seit Langem nicht mehr. In mehreren folgenden Sitzungen
wurden jene Suggestionen von ihrer nunmehr dauernden Heilung wiederholt und
variirt.
Ich habe das Fräulein seit jener Zeit noch oftmals gesehen und bekomme seit
1 Jahre von ihrer Familie und ihr selbst, da sie von hier fortgezogen ist, von
Zeit zu Zeit Nachrichten.
Sie ist seitdem in ihrem ganzen Wesen viel freier und frischer. Jene tiefen,
langdauemden Gemüthsdepressionen sind verschwunden ; nur sehr selten mehr traten bei
ihr Verstimmungen auf und dann nur von geringer Intensität und Dauer. Aach
der Kopfschmerz kam viel seltener. Die Verstimmungen bei der Erinnerung an
den Tod ihres Verlobten waren in den letzten Jahren leichter geworden; sie
hatten schliesslich unter der Wirkung der Suggestion einer ruhigren Resignation
Platz gemacht.
Soll ich das Gesammtresultat mit wenigen Worten bezeichnen, so kann ich es
nur eine weitgehende Besserung nennen, eine vollständige Heilung ist es nicht, da
nur die Quantität und Frequenz der krankhaften Erscheinungen, nicht aber das
Qualitative, das Hysterische derselben, von der Behandlung beeinflusst wurde.
Nach Breuer und Freud aber hätte man hier eise vollständige
Heilung erwarten sollen, nicht eine bloss symptomatische. Jene
Forscher gingen von der Thatsache aus, dass Gefühle sich isolirt im
Bewusstsein halten können, deren intellectuelles Substrat unter die Be-
wusstseinsschwelle gesunken ist, also unbewusst bleibt. An diese Er-
fahrung knüpften sie ihre neue Therapie der Hysterie : das intellectuelle
Substrat ins Bewusstsein zu heben, und damit den „eingeklemmten
Affect^ abzureagiren.
Gasaiitische Beiträge zur Psychotherftpie. 277
Wenn es nur auch damit immer gethan wäre! Es wäre dies
wirklich ein Wunsch, aufs innigste zu wünschen.
Aber was lehrt die Erfahrung darüber?
Unter den yielen Fällen von Hysterie, die ich seit einer Reihe von
Jahren zu untersuchen und zu behandeln Q-elegenheit hatte, habe ich
yielmals solche von ähnlicher Zusainmensetzung, wie es der oben an-
geführte ist, gesehen.
Die Schwierigkeiten beginnen aber gleich beim Aufdecken des in-
tellectuellen Substrates. Bei dem Rühren an alten, unangenehmen Er»
innerungen sind häufig emotionelle Verschlimmerungen das nächste
Resultat. Es kann da gar nicht genug Vorsicht und Indiridualisirungs-
ktmst angewendet werden.
Dabei will ich hier ganz absehen von der von O. Vogt^) schon
hervorgehobenen schädigenden Wirkung der hierbei angewendeten
WachsQggestion, wie sie Freud angegeben. Eine weitere Schwierig-
keit hat es mit dem Abreagiren. Unser Fall oben zeigte es in
tv-pischer Weise. Ich war nur gezwungen, da des Reagirens kein Ende
wurde, mit der Fremdsuggestion einzugreifen und die Gefiihlsstärke
des unlogischen intellectuellen Substrates durch logische Correctur des
letzteren aufzuheben, was auch gelang.
Beiläufig will ich hier nur erwähnen, dass in manchen schweren
Fällen trotz logischer Correctur des intellectuellen Substrates die
Emotion bestehen bleibt, was m. E. darauf zurückzuführen ist, dass
solchen Falles der Gefühlston der corrigirenden, logischen Gegen-
vorstellungen zu schwach ist, um die an Intensität überlegene Emotion
zu paralysiren.
Dazu kommt noch eine wichtige Thatsache, die die endgiltige Be-
seitigung hysterischer Gefühlsstörungen oft genug zu einer „crux^
macht. Einmal setzt sich durch jahrelange Dauer die Verstimmung in
Folge Einübung immer fester und verbindet sich dann häufig mit
schwer zu beseitigenden Autosuggestionen, ein ander Mal erleidet sie
im Laufe der Zeit durch immer neue Einwirkungen Veränderungen,
dass sie schliesslich, d. h. zur Zeit der Psychoanalyse, ein Totalgefühl
darstellt, in das die jene neuen Einwirkungen begleitenden Gefühle als
Componenten eingegangen sind, deren sämmtliche intellectuelle Elemente
aber zu „heben" unmöglich werden kann.
Eine andere Form der Beseitigung intellectueller Substrate als
') Diese Zeitschrift, Bd. VUI, pag. 352 fif.
278 li. Seif.
die oben besprochene wurde von 0. Vogt in der suggestiven Amnesie,
wie er sie bei seinen Experimenten oft mit Glück anwendete, ange-
geben und von Stadelmann als Vergessenheitssuggestion besonders
empfohlen.
Leider aber haben die Erfahrungen in der Praxis nicht geWten,
was Stadelmann 's Erwartungen versprochen. Der Grund dafür
wird wohl darin zu suchen sein, dass es einmal bei vielen Fällen nicht
gelingt, die Hypnose so weit zu vertiefen, um eine tiefer gehende
Amnesie für das intellectuelle Element mit Erfolg zu suggerireD,
während ein ander Mal wohl die Suggestion gelingt, der Erfolg aber
durch eine die Amnesie auf associativem Wege wieder aufhebende
Einwirkung nur von kürzerer oder längerer Dauer ist.
Das Haupthindemiss aber, eine vollständige Heilung der Hysterie
zu erzielen, liegt m. E. in der der Hysterie eigenthümlichen Disposition^
gelegentlich auf ähnlichem Wege wie bei früheren Störungen immer
wieder ähnliche Störungen zu contrahiren, und in der Unzulänglichkeit
unserer heutigen Mittel, jene Disposition aufzuheben.
Immerhin ist es ein grosses Verdienst von Breuer und Freud,
der Psychotherapie der Hysterie neue Wege gezeigt zu haben, wenn
auch ihre Verallgemeinerungen (auch die über die sexuelle Ursache
der Hysterie) sich als vielfach irrthümlich herausgestellt haben. Ausser
der hypnotischen Suggestion bleibt aber auch dem ganzen übrigen
Rüstzeug der Psychotherapie noch viel dabei zu thun übrig. Ai2sser-
ordentlich viel danken wir aber O. Vogt, der mit seiner ausge-
zeichneten Methode des partiellen systematischen Wachseins das Stadium
der hysterischen Erscheiaungen erst in wissenschaftliche Bahnen ge-
leitet hat und damit es möglich machte, in exacter Weise eine sym-
ptomatische Besserung und Heilung jener Erscheinungen zu erzielen.
Fall 2.
Frau F., 26 Jahr, kam am 30. 14 ov. 1896 zu mir und erzählte mir, sie stamme
Yon neryÖsen Eltern und sei schon als Kind au%eregt, reizbar und unstet gewesen.
Eigentlich krank sei sie erst seit 2 Jahren und zwar seit folgendem Vorfall: Sie
hatte von ihrer Tante das Versprechen erhalten, in die in einigen Tagen statt-
findende Vorstellung der Walküre gehen zu dürfen, mit der hinzugefügten Voraus-
setzung, dass sie nicht vorher unwohl würde. Schon lange von der Sehnsucht er-
füllt, „die Walküre** einmal zu sehen, war sie nun ganz ausser sich vor Freude,
aber auch zugleich von einer gewissen Angst erfüllt, der Theaterbesuch könne
durch das Eintreten der Periode vereitelt werden. Am Tage des Theaterbesuches
trat wirklich die Regel ein, was sie indes der Tante verheimlichte. Sie ging Abends
ins Theater, nachdem sie schon den ganzen Tag über durch das Eintreten der
CMoistiBche Beitrüge zur Fiychoiherapie. 379
in einer zunehmenden Erregung sich befanden hatte. Diese Erregung
schwoll im Theater, wo sie aioh aof der Gallerie unter vielen Menacfaen befand,
plötzlich zu einem heftigen Angstzuatande an, der ron einem furchtbaren den
Athem beklemmenden Druck in der Magengegend, heftigen Kopfschmerzen,
Sehwindel und einem Lähmungsgefuhl im ganzen Körper begleitet war. Dieser
Zustand dauerte nun mehrere Tage, verschwand dann fiir kurze Zeit und zeigte
die Tendenz, immer wieder, länger und heftiger au&utreten. Als neu kam zu
diesen Erscheinungen von jenem Tage an eine Angst yor jeder Berührung mit
Menschen und die Unfähigkeit, ohne Begleitung auf der Strasse zu gehen, was sie
sellMt mit dem Auftreten des Angstzustandes unter den yielen Menschen und mit
der sie auf dem ganzen Heimwege vom Theater begleitenden Angst, bei ihrem
Schwächegefuhle nicht nach Hause zu kommen, erklärte. Ausserdem klagte sie
aber sehr labile Stimmung. In Folge der vielen misslungenen Curen, die 'sie
durchgemacht, hatte sie noch dazu die Autosuggestion, unheilbar zu sein.
Nach einiger Schwierigkeit gelang es, sie in Hypotaxie zu bringen. Das Be-
nilttt der 17 mit ihr vorgenommenen Hypnosen, die immer die obige Tiefe bei-
behielten, war, dass sie jedesmal ruhiger, heiterer und hoffnungsfreudiger von
dannen ging, um dann nach mehr minder kurzer Zeit wieder rückfällig zu werden.
Ich rieth schliesiAich ihrem Manne, der durch seine ungeduldige und ängstliche Art
sngnnstig auf sie wirkte, sie in eine Anstalt zu bringen, nm dort in einem gün-
stigeren Milieu die Behandlung fortsetzen zu lassen. Damit trat sie aus meiner
Behandlung aus. Einige Monate später erzählte mir ihr Mann, sie sei ihm nicht in
die Anstalt gegangen, weil sie sich vor diesem Schritte fürchtete, sie sei aber seit-
dem bedeutend ruhiger, gehe gelegentlich wieder allein aus und in Gesellschaft,
ihre übrigen krankhaften Erscheinungen seien viel milder.
In diesem Falle stand also das intellectuelle Substrat vollständig
klar im Bewusstsein; doch genügte zur Beseitigung der Emotion die
eigene logische Correctur des Substrates ebensowenig wie die durch
die Suggestion versuchte, da die gefühlsstarke und nicht zu über-
windende Autosuggestion der Unheilbarkeit, wie ich oben unter Fall 1
zu begründen suchte, durch ihre grössere Gefühlsintensität überwog.
Erst die mit einem stark negativen Gefühlston verknüpfte Vorstellung
Ton der Anstaltsintemirung und die von dieser ausgelöste lustbetonte
Vorstellung der Freiheit übernahmen die helfende Bolle und vermochten
einigermäassen den hysterischen Erscheinungen das Gleichgewicht zu
halten.
Fall 3.
Frau M., 32 Jahr, schwer belastet (Vater, Mutter und ein Bruder waren geistes-
krank), kam am 14. Mai 1898 wegen heftiger AngBtzustände,'tiefer Verstimmungen und
Schlaflosigkeit in meine Behandlung. Als Ursache dafür gab sie an, sie sei vor
einem Vierteljahre während der Abwesenheit ihres Mannes auf einer Reise des
Nachts plötzlich aus dem Schlafe aufgeschreckt und glaubte in jenem Momente die
Thüre ihres Schlafzimmers sich etwas bewegen zu hören und gleichzeitig sei es ihr
wie eine Vorahnung gewesen, ihr Mann müsse sterben; denn das allein habe „der
n
280 L. Seif.
Geist" mit der Thürbewegung anzeigen wollen. Die Aufregung und Angst, die
sich daran anschlossi nahm noch sehr yiel mehr zu, als ihr Mann am nächsten Tage
mit einem Unwohlsein nach Hause kam, und blieb auch dann noch unyermindert
bestehen, als ihr Mann schon wieder volbtändig hergestellt war. Ihre Krankheits-
einsicht war nur unvollkommen. Mit tiefer Unruhe kam sie immer wieder auf
„ihre unglückselige Eigenschaft der Vorahnung", deren Besitz sie immer unglück-
lich machen werde. Ich versetzte sie in tiefen Schlaf (Somnamb.), in dem sie
durch die das Unlogische ihrer Vorstellungen corrigirenden und andere beruhigende
Suggestionen ihre psychische Ruhe wiederfand. Weitere 10 Sitzungen befestigten
das Erreichte und stellten einen regelmässigen, guten Schlaf wieder her. Sie weiss
sich nun, wie sie mir erst jüngst mittheilte, frei von Vorahnungen und Aberglauben
und ist dauernd wohl geblieben.
Fall 4.
Fräulein H., 21 Jahr, belastet (Vater excentrisch, Mutter hysterisch, Bruder
imbeciU), wurde im Alter von 5 Jahren von einem Dienstmädchen zur Onanie an-
gehalten, der sie von da ab sehr oft sich hingab. Mit 13 Jahren verführte sie ihre
Erzieherin zum sexuellen Verkehr mit dem männlichen Greschlechte. Sie fühlte
sehr häufig mit Abscheu das Entehrende und Schimpfliche ihm Thuns bis zum
taedium vitae und machte, wie mir ihre Mutter mittheüte, drei Selbstmordversuche
mit Aufhängen. Trotzdem gab sie sich immer wieder von Neuem unter dem, wie
sie sagte, zwingenden Drucke ihrer sexuellen Keizbarkeit allen möglichen, oft tief
unter ihr stehenden Männern hin. Vor 3 Jahren bei Gelegenheit einer sie sehr
aufregenden Xneippkur zeigte sie zum ersten Male grosse hysterische Anfälle, Un-
empfindlichkeit der linken Körperhälfte, Schlaflosigkeit, Keizbarkeit und sehr
launenhaftes und impulsives Wesen. Ende vorigen Jahres wurde sie von einem
Studenten guter Hoffnung. Während der ganzen Schwangerschaft war sie von
allen sexuellen Perversitäten ganz frei und auch guten Allgemeinbefindens.
Als ich sie am 1. October 1896, 7 Wochen nach der glücklichen Entbindung
von einem kräftigen Mädchen, besuchte, fand ich sie hochgradig erregt, vor Allem
über die seit 14 Tagen mit furchtbarer Heftigkeit wieder auftretenden sexuellen
Empfindungen und Triebe. Sie onanirte wieder bei Tag und Nacht und war sehr
launenhaft. Auch die grossen Anfälle waren schon mehrere Male wiedergekehrt.
Oftmals äusserte sie die Absicht, sich und ihr Eand zu tödten.
Während der Untersuchung zeigte sie für kurze Zeit Mutismus, ausserdem
grosse motorische und psychische Unruhe. Sie ist gross, schlank, von massigem
Ernährungszustände, Brüste gut entwickelt.
Hysterogene Zonen: Brüste, Jugulum, Epigastrium und linkes Ovaiium.
Die Untersuchung der Sensibilität ergab linksseitige Hemianästhesie und die
mir auch sehen bei anderen Fällen aufgefallene Thatsache, dass bei wiederholter
Prüfung derselben anästhetischen Stelle Berührungs- und Schmerzempfindung all-
mählich ganz zurückkehrte.
Als ich sie einschläferte, zeigte sie sofort die Anfangserscheinungen des hy-
sterischen Anfalles, der aber schon nach wenigen Secunden unter entsprechenden
Suggestionen nachliess und einem tiefen Schlafe (Somnamb.) Platz machte.
Im Ganzen fanden 6 hypnotische Sitzungen statt, unter deren Wirkung, die
durch Wasseranwendungen noch unterstützt wurde, das Befinden der Kranken von
CAsuifliische Beiträge zar Psychotherapie. 281
ÜBg tXL Tag sich hob. Sie wurde immer rnhiger, die Verstimmungen, Mord- nnd
Selbstmordgedanken traten ganz zurück, ebenso auch ihre sexuellen Parästhesien ;
die Anfalle blieben ans. Dagegen beschäftigte sie sich sehr fleissig im Haushalte.
Ein Jahr später noch erzählte mir der Hausarzt, sie befinde sich, abgesehen
Ton gelegentlichen geringeren nervösen Störungen, ganz wohl. Seitdem habe ich
nichts mehr Ton ihr gehört.
Alfi besonders interessant an diesem Falle möchte ich die That-
sache herrorheben, dass während der Gravidität der Verlauf des hysteri-
schen ErscheinnngscomplexeSy speciell der sexuellen Erscheinungen und
der Anfalle, eine Unterbrechung erfuhr, deren Ursache wohl in der
ganzen Umwälzung des Organismus und der damit verbundenen psy-
chischen Veränderung zu suchen sein wird.
Die tägliche Beobachtung ist recht reich an bitteren und trüben
Erfahrungen, wenn oft Aerzte, ausgehend von falschen Verallgemeine-
rungen der eben hervorgehobenen Thatsache, und irregeleitet durch
Teraltete Vorurtheile den Eltern solcher hysterischer Töchter voreilig
den £ath geben, diese zu verheirathen, „dann sei die Hysterie gleich
geheilt^^ Ja, wenn nur nicht die schwere Enttäuächung erst nachkäme !
Fall 5.
Herr F., 38 Jahr, ans gesunder Familie, früher immer gesund, Ton sehr gutem
Enährangszustande, hatte mit 22 Jahren eine Gonorrhoe und linksseitige Orchitis
durchgemacht. Dadurch sehr beunruhigt, wagte er aus Furcht vor Wieder-
insteekung nicht mehr den Coitus auszuüben. Vor einem halben Jahre nun verlobte
er sich und entdeckte dabei alsbald zu seinem grossen Schrecken, dass er sich jedes-
mal in Gegenwart seiner Braut impotent fühlte. Ein guter Freund, Arzt, rieth zu
dem tägUch zweimaligen Gebrauche kalter Sitzbäder, „dann würde es schon gehen".
Als er mich im September 1895 in meiner Sprechstunde besuchte, war er hoch-
gradig erregt und erzählte mir, er sei seit 5 Tagen verheirathet, auf der Hochzeits-
reise and „complet impotenf*. Die sehr schwachen Erectionen erloschen schon ante
portas. Die Untersuchung ergab: linker Hoden verhärtet, rechter ohne abnormen
Befund. Ich stellte nach dem Ergebnisse der psychischen Untersuchung die Diagnose
auf psychische Impotenz und versprach Heilung. Ganz leicht wurde bei ihm Hypo-
taxie mit Amnesie erzielt. Nach 2 Hypnosen, die ich durch Faradisation der Sym-
physen-, Lendenmarks- und Dammgegend unterstützte, bekam er kräftige Erectionen,
worüber er sehr glücklich war. Ich sagte ihm, er wäre nun so weit, dass es ganz
gut ginge, aber er solle noch mit dem Versuche warten. Am nächsten Tage kam
er freudestrahlend, es wäre sehr gut gegangen, aber — trotz lange fortgesetzten
Coitirens sei es zu keiner Ejaculation gekommen. Ich beruhigte ihn darüber noch
in einer letzten Hypnose. Am nächsten Tage musste er heimreisen, da sein Ur-
laub zu Ende war. — Juni 1896 besuchte er mich und erzählte mir, er sei seit
der Behandlung ganz potent, seine Frau im sechsten Monate schwanger. Doch
wollte in den ersten Monaten nach der Behandlung trotz kräftigster Erectionen
nnd vollständiger potentia coeundi keine Ejaculation eintreten (eine neue Bestätigung
382 • L. Seif.
für die schwere, langsame Erregbarkeit des Ejaonlationscentrams !) Erst am Weih-
nachtsabend, wo er sehr yergnügt mit seiner Frau zusammengesessen und durch
Punsch sehr au%eräumt geworden war, bescfaloss zum ersten Male die Ejaeulation
den Beischlaf und seitdem immer.
Fall 6.
Herr G., 56 Jahre alt, trat Ende October 1897 wegen Schlaflosigkeit, die sich
auch mit Morphium nicht ganz beheben Hess, ängstlicher Verstimmung und grosser
Reizbarkeit, unter der er seine Umgebung oft schwer leiden liess, sowie wegen all-
gemeiner Schwäche und fast vollständiger Appetitlosigkeit in meine Behandlung.
Als Ursache seines Leidens ergab sich bei der Untersuchung weit fortge-
schrittene Tuberculose der Lungen und des Darmes. TVas ihn am meisten quälte,
war die anhaltende Schlaflosigkeit, die allen Mitteln, auch, wie oben gesagt, dem
Morphium, das ihm nur Unbehagen und Unruhe machte, trotzte.
Anfangs fand täglich eine hypnotische Sitzung statt, später nur mehr jeden
anderen, dritten oder yierten Tag. Schon nach der vierten Hypnose, in der der
Kranke in Somnambulismus gekommen war, wurde ein zehnstündiger, ununter-
brochener, erquickender Schlaf erzielt; das Morphium aber blieb, ohne von dem
Kranken vermisst zu werden, dauernd aus der Behandlung fort.
Schon von Anfang der Behandlung an erzog icH ihn zur Autohypnose, was
ihm von der vierten Hypnose an auch ganz leicht gelang, und so schlief er von
da ab täglich bis zu 18 upd mehr Stunden, durch 4 Monate bis fast zu seinem
Tode am 20. Febr. 1898. Ausserordentlich hob sich sein psychisches Befindeu.
Seine Angst, Verzweiflung und oft brutale Reizbarkeit gingen zurück; er wurde
dankbar, liebenswürdig und hatte für seine Umgebung wieder freundliche Worte.
Mit dieser Hebung des subjectiven Befindens, die auch von einer solchen des
körperlichen, Besserung des Appetits, erfolgreicher suggestiver Beseitigung der
Leibschmerzen, begleitet war, kam er nun in einen Zustand behaglicher Euphorie,
der bis zum Tode dauerte.
Einen Tag vor seinem Tode und den Todestag selbst, gelang es nicht mehr,
ihn einzuschläfern.
Unter der natürlich immer fortschreitenden Inanition war es nämlich diese
beiden Tage zum Auftreten von Ideenflucht, Ulnsionen und Hallucinationen meist
heiteren Characters gekommen, die ihn zu sehr ablenkten.
In diesem Falle, wo alle Aussicht auf Heilung oder Besserung
von vornherein ausgeschlossen war, hatte die Behandlung nur die eine
Aufgabe, die Schmerzen zu beseitigen und fi.uhe und Schlaf zu schaffen
und, mit einem Worte es zu sagen, für Euthanasie zu sorgen, deren
Schaffung in dieser Form wohl nur die Suggestivtherapie leistet, die
darum in solchen und ähnlichen Fällen nicht genug empfohlen werden
kann, besonders in ihrer Anwendung wie hier, als Dauerschlaf.
Ich glaube, auch Hirschlaff würde solchen Falles von der „Ver-
werflichkeit tiefer Hypnosen aus ethischen Gründen'^ einmal absehen
und sein „ausnahmsweise^' gelten lassen.
über Suggestion durch
Von
A. Grohmann-Zürich.
Ich möchte durch vorliegende Zeilen die Aufmerksamkeit der Fach-
männer im Grebiete der Suggestion auf die grosse suggestive Wirkung
aufmerksam machen, die durch Briefe ausgeübt wird und speciell durch
Briefe auf einem Gebiete, das ich hier hervorheben werde.
Unter den verschiedenen Graphologen, die sich in der vierten
Seite unserer Zeitungen fiir Characterauslegung nach Handschriften an-
bieten, macht sich besonders ein P. P. Liebe in Augsburg durch
pomphafte Annoncen bemerkbar.
Aus Bekanntenkreisen, durch zweite fland, erhielt ich kürzlich eine grapho-
logische Schriftauslegung, die ein mir Unbekannter sich für eine gute Geldsumme
Ton diesem Graphologen hatte ausstellen lassen. Beigelegt war die Broschüre
«Sselen- und Character- Analyse von P. P. Liebe, Augsburg, Selbstverlag."
Die Schrifibauslegung lautet wörtlich:
(Umsetzung des Stenogramms.)
Psychographologisches Portrait.
Wissenschaftlich-unparteiisch. Comb. Orig. Methode.
Auf Grund gesandter Schriftprobe.
Wenn die Festigkeit Ihres Characters auch keineswegs phänomenal genannt
werden kann, so ist sie doch um ein gutes Theil bedeutender als bei den Durch-
schnittsmenschen. Sie sind erfinderisch beanlagt und verfügen über eine Dosis
Matterwitz, sind in Bezug auf die Lebensauffassung mehr ernst als heiter, im All-
gemeinen offen und femer accurat. Im aufgezwungenen Verkehr mit Menschen,
denen Sie gesellschaftlich und geistig überlegen, zeigen Sie Besonnenheit und wenig
Mittheilsamkeit, soferne Sie nicht durch scheinbar absichtloses Sondiren entdecken,
dass ein guter Kern vorhanden.
Bei sonst ählichem Bildungsgrade offenbart sich in wichtiger Conversation ein
Widersprachsgeist, der sich jedoch nicht bis zur Streitlust steigert und auf eine
vielleicht t3n^nnische Art Ihres Wesens unmöglich schliessen lässt.
Der sich breit machenden Gemeinheit gegenüber sind Sie ein stolzer Character,
der aber das „noblesse oblige'' hochhält und deshalb eine gewisse Berechtigung zu
diesem Stolze hat. In sittlicher Beziehxmg haben Sie durch mühsam selbsterworbene
284 A. Grohmann.
Grundsätze und gefestigte Anschauungen manche Errungenschaft zu verzeichnen.
Bezüglich Ihrer Geistesart kann Ihnen aber der Vorwurf der Manieririheit nicht
ganz erspart bleiben. Hier wirken Sacht nach Ausserordentlichem, Phantastik uod
eine wenn auch nicht verschrobene, so doch nicht immer einfache gediegene Origi-
nalität zusammen, nicht in dem Maasse, dass sich öfter ein Hang zur Confosion
einstellen könnte. Unleugbar ist es ja ein den Blick in die Tiefen nicht schenender
und nach Keinem und Hohem strebender Geist, der mir aus diesen Zügen entgegen
schaut. Sie neigen in manchem Zuge Ihrer Anschauungsweise ein wenig zum Ueber-
menschen, nicht zum Nitzscheaner, eher sieht es nach einem Uebermenschen in der
Aesthetik aus. Nun finden sich auch schwache Anzeichen von Süffisance, Un-
gebundenheit und frohes, jedoch nicht schaumweinartiges Geniessen und stärkere,
von Leidenschaftlichkeit, riesiger Selbstliebe, geistiger Herrschsucht und ezeen-
trischen Launen.
Ihr Geist äussert manchmal eine wirklich grandiose Lebhaftigkeit; zum Theil
rührt diese von einem sehr incitablen Nervenzustand und von der, wenn durch ein
homogenes Wesen hingerissen, in Ihrem Herzen mächtig fluthenden Leidenschaft.
Das Ungestüm derselben übersteigt dann bei Weitem Ihre Selbstbeherrschungs-
fähigkeit, die übrigens auch Ihrer Widerpruchslust nicht recht gewachsen ist.
(Siehe eine analoge Constatirung am Eingange.)
Es kann Sie nicht wundem, wenn ich zu sagen habe, dass Sie im schroffen
Gegensätze zu dem vorherigen Ausspruche Perioden absoluter geistiger Unfrucht-
barkeit und innerer Oede zu überwinden haben und ich brauche dieses nicht za
commentiren.
Sie sind in einer von Ihnen gewünschten Geselligkeit schlagfertig, intelligent,
selbstbewusst, kein Spielverderber, und müssen mir dennoch zugeben, dass Sie Ihre
schönsten Stunden zumeist der Einsamkeit verdanken, deren gerade Ihr NatoreU
zu Zeiten zwecks innerer Ausreife und Sicherung des Gewonnenen bedarf. Aber
auch Ihr eigenartig veranlagtes Gemüth, das Augenblicke kennt, in welchen Sie für
Freude unempfänglich sind, sehnt sich oft nach Stunden der Zwiesprache mit Ihrem
eigenen Innern und noch mehr nach dem Zusammenklang mit einem Wesen, das
Ihre frohlebigen Gefühle und Ihre herben Empfindungen, Ihre Staub- und Ihre
Stürmergedanken erkennt, Sie selbst als Ganzes nimmt und die rechte Kunst des
Unterscheidens und mitlebenden Zuhörens versteht.
In Punkten von Belang ist Ihnen eine seltene Einfachheit, Herzenswärme und
ruhige suchende Abwägung, dann reges Handeln eigen.
Die scharfen Ecken wird Zeit und Ausreife abschleifen.
Der Meister d. w. Psychographologie P. P. Liebe, pädag. Schriftsteller.
Hätte Herr Liebe geschrieben, dass sein Client zwischen 160 und 200Centi-
meter gross sei, so hätte er, meiner Meinung nach, eine determinirtere Erklärung
abgegeben und noch eher einen leicht nachweisbaren Irrthum riskirt, als mit seiner
Characterschilderung.
Aber uninteressant wäre eine solche Maassangabe gewesen. Auf das
Interessante kommt es aber hier gerade an.
Die Expertise ist jedenfalls ein Muster darin, dass sie lauter Aussprüche
liefert, die alle auf Menschen mit recht verschiedener Anlage passen.
Also, die Characterfestigkeit des mir unbekannten Herrn X. soll sich zwischen
den beiden Grenzen des „Phänomenalen" einerseits, und des „um ein gutes Theil
Einigea über Suggestion durch Briefe. 385
Bedeutendem ftls bei den Durcbaohnittsmenschen'' anderereeite, befinden. Und wie
gerne drückt der moderne, pesfimistisch angelegte Mensch diesen Durchschnitts-
menschen tief herab!
Der mir unbekaimte Herr X. soll auch erfinderisch beanlagt sein. Ich bitte
Herrn Liebe, mir erstens die Menschen zu zeigen, die es nicht sind, und dann
zweitens die, die es nicht zu sein glauben.
Wie wohl that die Entdeckung, dass man zu den gelegentlich „absichtlich
Sondirenden** gehört. Und dass man dazu gehört, das hat Herr Liebe ganz
allein durch die Schrifl herausbekonunen. Der Mann kennt mich, dich, sich und
uns alle also ganz genau.
Der „nicht bis zur Streitsucht sich steigernde Widerspruchsgeist"! Ganz der
Herr Ich in allen Gassen !
Herr X. hat auch viel Freiheit in der Wahl, wo er sich placiren will: hier
das „nicht schaumweinartige Gewissen", dort „Leidenschaftlichkeit", und gleich
daneben die „manchmal grandiose Lebhaftigkeit". Irgend einer dieser Sperrsitze
wird Herrn X. sicherlich behagen. Wahrscheinlich belegt er alle drei.
Die Perioden „absoluter geistiger Unfruchtbarkeit" ! Wie zutreffend für Herrn
X, Y. oder Z. ! Bei mir stellt sich dieser Zustand gleich nach Tisch ein, und wenn's
Schweinecotteletts gab, noch mehr.
Ich erinnere mich dunkel eines Herrn, dessen Namen, Alter, Herkunft, Natio-
nalität und Beruf ich leider ganz vergessen habe, der auch an dieser Krankheit
leiden soll. Er soll als Palliativmittel mit Erfolg ein Sopha angewandt haben.
Aber auch die periodisch eintretende „innere Oede" ist gut und echt und
baasbacken. Auch Herr X. wird sie nicht ableugnen können. Eolglich ist er „ge-
troffen". Aber dieser innerlich öde Herr X. wird zum Trost gleich darauf auf-
merksam gemacht, dass er ja „in von ihm gewünschter GeseUigkeit intelligent" sei !
Wie nett!
Das „eigenartige Gemüth" — (wer hat denn ein anderes?) — ist dann auch
„für Augenblicke" der Freude zugänglich I
Und damit das Ganze seinen Werth behält, und der Empfanger beim Nachlesen
in späteren Jahren durch noch eine Extra-Bestätigung erfreut wird, sind unterdess
„die scharfen Ecken durch Zeit und Ausreife abgeschliffen".
Und wenn dann die Hälfte aller dieser Allgemeinheiten stimmt, wie schön!
Wie hat er mich doch erkannt!
Nehmen wir hinzu, wie dehnbar die meisten psychologischen Begriffe, be-
sonders für die nicht wissenschaftlich Geschulten unter den Kunden des Herrn
Liebe sein mögen, wie überhaupt für so viele Halbgebildete „Psychologisches"
ond alles Unklare auf dem Gebiete des Spirituellen zusammenfällt, wie sehr die bei
Tielen Menschen vorhandene Gier nach Briefen, das Verlangen, von sich sprechen
zn hören, vorliegt, so lässt sich die Anerkennung verstehen, die Herr Liebe bei
seinen Kunden erwirbt, und von der ich weiter unten sprechen will. Die Gefühls-
duselei mancher Menschen ist gar gross, der Wunsch, das theuer Bezahlte auch als
werthvoU zu erkennen, beeinflusst sicherlich das Urtheil von Manchem. Das Ganze,
diese Bespiegelung der eigenen Person durch einen Andern ist auch für die Meisten
kein alltäglicher Voi:gang. Schon in seiner Eigenschaft als Rarität thut da der
Brief seine Wirkimg.
Absichtlich gehe ich hier nicht auf das Sachliche in der Kunst der Grapho-
S86 A. Grohmann.
logie ein. Die mag bestehen. Ich weiss von ihr zu wenig, wenn ich aach weiss,
wie die Beurtheilong nach Form, Inhalt, Oalligraphie etc. einer Schrift zai Be-
nrtheilnng eines Menschen mit benutzt werden kann. Wie weit obige Schrift*
Auslegung auf den Mann passt, auf den sie sich bezieht, weiss ich nicht, ist auch
hier gleichgültig und uninteressant. Ich möchte hauptsächlich auf das suggestire
Element des Briefes hingewiesen haben.
Dieses suggestive Element können wir uns aber dann erst gut Torstellen und
es TÖliig bemessen, wenn wir erfahren, welcher Art die Menschen sind, auf die es
zu wirken bestimmt ist. Sehen wir uns nun die Geistesbeschaffenheit der Kunden
des Herrn Liebe etwas näher an. Das können wir, indem wir seine Brosehtrs
,.Seelen- und Oharacter-Analyse" durchnehmen.
Nummer eins: Es ist auf gutem Papier, sehr schön gedruckt und ausgestattet:
ganz artig und nett. Auch das wollen wir. Auch das wirkt.
Zur passenden Einleitung wird Göthe und Schopenhauer citirt. Dann
geht's gleich an den Preiscourant für die Expertisen des Meisters.
Wir sehen da, dass er Expertisen zum Preise Ton 6 bis 100 Mark liefert
Auch kommen Gutachten yor über die zu erwartende Harmonie für Verlobte und
solche, die es werden wollen.
Sehr geschickt macht sich ein Wink an die Herren Professoren, — der aber
wohl auf ganz Andere wirken soll: Die Herren an der Universität, die mir als
sehr zweckmässige Schriftproben gerne ihre CoUegienhefte einsenden, möchte ich
dringend bitten, ihre Hefte, um Verwechslungen bei der Retoumirung zu ver-
meiden, sehr genau zu bezeichnen etc. Telegrammadresse: Magister Liebe Augsburg.
Arbeit eines Mannes, der sein Leben einer grossen Idee opfert. (Zwar schon
sehr abgenutzt; zieht aber noch immer.)
Bei dem Studium meiner Arbeiten kann ich mit vollem Rechte vorherige
Sammlung des Geistes verlangen; deshalb auch mein Ansinnen, sich in meine
Elaborate nur in Nachtstunden zu vertiefen. (1)
Ich schätze, — jeder Verständige wird mir das nachfühlen, — meine Arbeit
so hoch ein, dass nur von einer Vergütung für den Zeitaufwand, nicht von einer
„Bezahlung'' gesprochen werden kann.
Man hat sich daran gewöhnt (!), sich in Lebensfragen, welche Delicatesse,
einen tiefeindringenden Forscherblick in alle Winkelzüge der menschlichen Ge-
danken, Gefuhlsrichtung und Leidenschaften verlangen, sich an mich zu wenden. —
Als ehrlicher Mensch wehrt sich auch Herr Liebe dagegen, dass er als
etwas Anderes angesehen werde , als er ist. So viele seiner Glientinnen wollen
in ihm den Ahasver, den Uebermenschen, den Seelenzauberer, den Magnetisenr in
der Feme, den finstem Mann mit dem düstem Blicke, den Einsiedler in der Stadt,
den Ascet im Gehrocke erblicken.
Dann kommen viele Gitate grosser Männer, alle so gewählt, dass ein kritik-
loser Leser etwas wie eine Empfehlung der Graphologie herauslesen kann. (Sehr
bewährtes Mittel: Man fahrt auf hohen Rädern.)
Mit der Erklärung, dass es seinen Stolz tief verletze, wie ein Wunderdoctor
Zeugnisse vorlegen zu müssen, werden beglaubigte Danksagungsschreiben angeführt
von einer Fürstin, mehreren (h*afen, Baronen, Professoren und vielen andern Grossen
der GeseUschafL
Eine grosse Zahl von Liebe's Kunden finden, dass seine Schriftauslegnngen
Einiges über Snggeition durch Briefe. 287
eine unheimliche Genauigkeit hätten, für Viele Übersteigt sie alle Be-
griffe. Einer erklärt, Herr Liebe könne das Zeug nicht hallucinirt haben, und
dsss er der geistigen Textor beikomme. Auch ihm ist er ein Ahasver, Das Geld,
das an Herrn Liebe bezahlt wird, sei hohe Zinsen tragendes Kapital. -^
Auch für einen Kabbalisten wird der Mann in Augsburg angesehen. (Und wie die
ForUetsung zeigt, ist er es auch in der That : für die, die sich ankabbalisten lassen.) —
Einer ist seiner bangen Zweifel, ob er seiner Braut würdig
•ei, erst dadurch Herr geworden, dass er Ton Herrn Liebe ein (Termuthlieh
gutes) Gharacterzeugniss erhielt Dafür will er aber auch der Jünger des grossen
Meisters werden. —
Ein Ligenieur schreibt: Sie haben es fertig gebracht, mich alten Jungen weich
zn kriegen. —
Liebe's seltene Talent wird auch als eines geschildert, das ihn (Liebe)
Tielleicht noch zerstören wird! —
Höchstes menschliches Wissen. —
Einer verdankt der empfangenen Characterauslegung eine neue, stolze und
freudige Lebensanschauung. —
Hellseher, Seelenzauberer, unheimlich-richtige Gharaoteristik, ganz paff beim
Empfang ! Xagel auf den Kopf. —
Ein Wiener hat den Vorsatz sich zu bessern, und bittet Herrn Liebe zu
diesem Unternehmen um eine Schriftauslegung. (!) —
Eine Gräfin in einem Bade dankt Herrn Liebe. (Vielleicht hat da das Bad
gewirkt.) —
Grosster Seelenforscher. — Genialer Meister! —
Einen hat es „geradezu erschreckt '', dass Herr Liebe in der Characteristik
auf einen „dunklen Punkt*' hinweist ; — denn er ist Besitzer eines solchen. Wie
Herr Liebe das nur wissen konnte? —
Eine Dame bereut Herrn Liebe nicht vor ihrer unglücklich abgelaufenen
Ehe psyehographologisch consnltirt zu haben. —
Einer war entsetzt, zu sehen, dass Liebe das Pathologische in ihm er-
kannt habe. —
Unheimliches Gefühl, sein ganzes Linere wie einen aufgeepiesaten Schmetter-
ling vor Angen zu sehen. —
Kanzler unter den Menschenkennern! —
Ein Kunde rühmt : Ich bin glücklich, einmal verstanden worden zu sein. Man
mache sich die Vorstellung: dreissig Jahre bald gelebt haben, in fast allen Erd-
theilen gereist zu sein, mit Menschen so verschiedenen Schlages etwas verkehrt haben
ond doch nie vorher verstanden worden sein! Ein Fremder, ein Ausländer andern
Berufes, anderer Bildung, andern Geistes, nie gesehen, nie gesprochen — P. P. Liebe
— ist der einzige firdenpilgor, der mich jetzt, bis heute, versteht! —
Ein Schriftsteller und Theologe schreibt Herrn Liebe: Ich weiss wirklich
nicht, ob ich den psychologisch-charaoterologisohen Tiefblick eines Shakespeare
mehr an Urnen bewundem soll, oder den Scharfsinn etc. . . . und: Ihre Kunst
wird mit Urnen aussterben! (Leider wird sie das nicht. Die Druckerschwäne und
die Gewissen, die nicht aussterben, werden dafür sorgen.) —
Dann dichtet ihn Einer an. (Später thun es noch mehrere Andere.) ~~ Hauch
aus einer andern, hohem Sphäre, der mich da anweht! —
288 A. GhTohmann.
Eine Dame bestätigt den Empfang von Liebe's Schriftanslegang und er«
klärt: Heute yerstehe ich noch nicht Alles, aber Sie sagen die Wahrheit. (Die
wird sich in den nächsten Tagen ins volle Verständniss hineinsaggeriren; das
wette ich). Sie schliesst mit einem Grusse an den Priester der müden Seelen! —
Einer hat schwere Träume bekommen, als Nachwirkung Ton Liebe's Aas-
legung. —
Von einem Glienten berichtet Liebe, dass er ihm 36 Seiten geschrieben habe.
Phänomenale Kunst, Offenbarung Gottes. —
Wäre ich Spiritist, — (was nicht ist, kann werden!) — würde ich glauben,
Sie hätten mit meinem Astralgeist Zwiesprache gehalten. —
Ihr Werk loben, ist hier zu banal. —
Würdigster Vertreter dieser Wissenschaft. —
Staunende Bewunderung.
Zielyerheissende Wegleitung, Fascinirend. —
Ich werde Ihr Urtheil über meine Handschrift meiner Freundin nuttheilen,
furchte aber, dass sie geradezu erschrecken wird! Jedenfalls wird ihre warme
Freundschaft für mich eine Probe bestehen. (Die Freundin soll nämlich erst durch
Liebe's Auslegung ihre Hacken kennen lernen.) —
Einige Bemerkungen will ich zur Erleichterung (der bestellten Auslegung.')
noch beifügen; doch nein, ich bringe die Zeilen gleich zur Post. (Ist auch besser!)
Sie haben mit einer tödtlichen Sicherheit meine geheimsten Empfindungen
klar gelegt. —
Seltene Genialität, graphologische Leistungsfähigkeit phänomenal! (Zeug-
nisse dieser Art sind viel vertreten.) —
Monumentales Werk. —
Plötzliches Licht. —
Im März laufenden Jahres traf mich ein Schlag, vor welchem ich mich fdrcht-
bar fürchtete; ich dachte mit Zähneklappem daran, er könnte mich treffen, stellte
mir vor, ihn nicht überleben zu können, und als derselbe eintraf, vergoss ich keine
Thräne, ja war fröhlich sogar, übermüthig, Niemand sah mir auch nur die geringste
Spur eines Kummers an. (Hierauf kommt nach einer romantisch-sentimental-hyste-
rischen Schilderung einer 18 Jährigen die Bemerkung:) Nur meine grosse Vorliebe
für Thiere ist mir von jener Zeit geblieben. —
Eine schreibt, sie könne heute gar nicht weiter schreiben; sie müsse erst
ruhiger werden. —
Eine Dame erklärt, dass ihr einige Eigenschaften, die Herr Liebe an ihr
entdeckt, schon durch Jesus aufgedeckt worden seien. —
Wie traurig, dass Ihre höchste Kunst nicht übertragbar ist und mit dem
Entdecker zu Grabe getragen wird. —
Einer hat sich durch Liebe erst kennen gelernt, und sendet ihm die Schrift
seiner Frau zur ßeurtheilung zu. Er will die jetzt auch kennen lernen. —
Eine glückliche Mutter schreibt: „Meine Tochter ist, ich darf sagen, das Ideal
der Reinheit, lieb und lebensfroh, und mit süssem Gesang begabt! Sollten Sie je
Sehnsucht haben, uns kennen zu lernen — meine Tochter schwärmt ja für Ihre
Dichtungen mehr als mir, offen gesagt, lieb ist, — so sind Sie herzlich willkommen.
( Wie zur Entschuldigung setzt sie gleich drauf hinzu :) Vielseitige Bildung gemessen
Frauen auch selten. —
Einiges über Snggestion durch Bride. 989
Einer an Bord eines Österreicliischen Kriegsschiffes in Canada beschreibt das
Zasammen treffen einiger Zufälligkeiten and fragt den Augsburger, ob das auf
geistiger Telegraphie beruhe? —
Eine Dame dankt dem Meister für seine Photographie und findet, dass er viel
Aebnlichkeit mit dem angeödeten Zola habe. —
< Ein Hechtsanwalt schreibt: Da ich zur Zeit nahe daran bin, mich zu ver-
eh^chen, so wäre es mir nicht uninteressant, zu wissen, was ich für einen Character
habe, obwohl ich dies eigentlich schon wissen sollte, da ich mich ziemlich viel mit
Selbststudium und Selbstbildung beschäftige. —
Einer aus Niedermendig schreibt, sein Staunen wolle kein Ende nehmen und
bestellt gleich des ferneren ein Gutachten über die Harmonie zweier Bekannter. —
Ein brayer Mann in Miesbach erklärt : Ich möchte gut werden. Bestellt dazu
Schriftaaslegung. —
Ein Mann aus Linz schreibt: Mit welchem Gefühl ich Ihre Auslegung meiner
Schrifl las, kann ich Ihnen etwa so erklären: Ein Wüstenreisender, der seinen
Durst nur aus eklen Pfützen stillen konnte, erblickt vom Bande einer Erhöhung aus
unter sich einen spiegelklaren See, voll des köstlichsten Wassers. Er steigt hinunter
und weidet sich an seinem klaren Spiegelbilde, etc. etc. ... So geht's eine Seite
lang weiter und dann bestellt dieser lechzende Wüstenreisende noch eine zweite
Auslegung für sich. (!) Geld folgt separat. (Er trinkt sich, für den Bedarf
der Zukunft, wie das „Schiff der Wüste" den Ranzen voll.) —
Die Ausführung des Portraits ist geradezu grossartig und werde ich mich
immer und immer wieder in dasselbe yertiefen. —
Einer will in seinem Naturheilverein Vorträge über Liebe und dessen Wissen-
schaft halten und bittet um Material. Vom grössten lebenden Meister weiss die
Welt so gut wie nichts! S'ist doch ne wahre Affenschande! —
Einer schreibt: Sie sind mir unheimlich! Er beruhigt sich aber und be-
kommt derartigen ßespect vor dem Augsburger, dass er in einem zweiten Schreiben
berichtet, er wäre hocherfreut, wenn er die Kunst des Herrn Liebe als Welt-
ereigniss überall bekannt machen könnte. In unserer materiellen Zeit eine Oase
mitten in der Wüste. In einem dritten Schreiben erfahren wir aber, dass er den
„Spiegel*' (des Herrn Liebe, d. h. dessen Schriftauslegung) jetzt täglich zur
Hand nehme. In einem vierten Schreiben wird der Mann unausstehlich: er hat
sich mittlerweile ins Poetische hinauf begeistert. —
Aus der Bierstadt üulmbach schreibt Einer, dass er sich auf 10 bis 12 Jahre
in sein Leben hat zurückerinnern müssen, um alles das zu finden, was zur Aus-
legung Liebe's passt. (Aber wer recht fleissig sucht, der findet; auch manchmal
suTiel.) —
Eine Gräfin verhimmelt den Augsburger: Er hat sie ganz erkannt! Sie sehnt
sich nach einer mündlichen Besprechung mit ihm. Bis jetzt sei sie 34 Jahre un-
verstanden durch's Leben gegangen. —
Genius; Meister; um die Menschheit verdient. Magister magistrorum.
mit fast unheimlicher Genauigkeit meine streng behüteten Gedanken
und Anschauungen biosiegte, welche mich zu Ihrer enthusiastischen Anhängerin
machten. —
Eine hat weihevolle Stunden erlebt, jedesmal wenn sie Abends des Augs-
burgers Zeilen durchlas. —
Zeitschrift für Hypnotismus etc. IX. 19
290 A. G^hmann.
Einer hatte bei Liebe schon die dritte Beortheilong bestellt, und die leiste
sei einzig! (Wie waren denn die yorigen?)
Ein Bildhauer in Rom sendet dem Meister eine kleine von ihm hergestellte
Gruppe „Das Ueheimniss''. Einer erzahlt da einem Andern von der Kunst und
Wissenschaft des Meisters von Augsburg, das der Menschheit bisher ein Geheim-
niss war. — ^
Eine Kopenhagerin bestellt beim Meister die Auslegung der Schrift einer
Dame, die neu in ihren Bekanntenkreis getreten sei und die sie gerne yoU und
ganz kennen lernen möchte. —
Ein junges Mädchen berichtet, dass sie das Bild des Augsburgers ins Herz
geschlossen habe und dafür auch dem Augsburger ihr Bild zusende. —
Eine Andere hat die Schriftauslegung. mit wachsender Aufregung ge-
lesen. Wirkung übernatürlich; sie ist yollständig au%edeckt. —
Ein Kunde hat die Schriftauslegung mit Schaudern gelesen. —
Eine Budapesterin schreibt: Dass ein Tollendeter Denker weibliche Herzens-
zartheit besitzen kann, war mir, der Vielleserin, bisher unbekannt. Ich kann es
nur durch das geheimnissvolle Gesetz, das Sie an das andere Geschlecht bindet,
erklären. Beim Lesen der meisterlichen Zuschrift wurde sie bis in die Lippen
bleich! (Also vor dem Spiegel gestanden? — Oder nur eingebildet?) Dann starrte
sie ins Weite und konnte nicht weiter lesen! (Der schönste hysterische Zauber.)
Ein Stadtvicar sieht sich vom Augsburger Meister mit wahrhaft röntgen-
strahlenmässigem Scharfblick durchschaut. (Es geht zu wie bei den Para-
noikem im Lrenhause, die durch die zuletzt entdeckten Naturkräfte durchfahren
werden.) —
Jetzt kommt ein Brief von Jemand, den ich für ein Weibchen gehalten hatte,
bis ich den Schluss gelesen hatte. Es ist aber ein Männchen, das da schreibt: In
aufrichtiger Liebe, verehrter Meister! Mein hochgeschätzter Herr Liebe! Soeben
ertönt vom Thurme der geheimnisvolle Schlag — zwölf. Mittemacht! (Der Leser
befleissige sich jetzt des Gruseliis.) Ich bin allein ! . . . . Ihr mir heiliger Brief!
Eine unaussprechliche Freude hat mir Ihr Bild gemacht. Weil auf mir, du freies
Auge, — Uebe deine ganze Macht, — Ernste milde thränenreiche, — Unergründlich
süsse Nacht! etc. Dann kommt ein süsses Deingedenken. Meine Pulse
klopften stärker, als ich lesen konnte, Sie beschäftigen sich mit mir! Was Sie
mir sind, vermögen Worte nicht auszudrücken; doch wenn es eine Sprache der
Seele giebt, die in freier herzinniger Verehrung sich äussert, dann fühle ich's, dass
ich davon durchglüht und berauscht bin. (Vielleicht sex. perv.?) —
Einen Mann aus St. Blasien haben die 50 Mark Honorar Anfangs stutzig ge-
macht ; je mehr er aber des Meisters Arbeit genau dnrchstudirt, desto mehr kommt
er zur Ueberzengung, dass das Gelieferte gar nicht im Verhältniss steht zur Leistung ;
80 sehr werthvoU ist es. Trotzdem er schon früher wusste, dass er Fähigkeiten und
Leidenschaften habe, so ist er sich doch erst jetzt, durch Meister Liebe, über
das Alles recht klar geworden, wo er die „Auslegung*' so recht im tie&ten Innern
erfasst hat. —
Einen, ich weiss nicht wie angehauchten Dragonerleutnant freut es, in Liebe's
Schreiben die vielen kleinen Züge wieder zu erkennen, die er selbst schon an sich
gefunden hat. —
Ein Client dankt dem Meister für die Begutachtung der Schrift seiner Frau.
Einiges über Soggettioii durch Briefe. 291
Ent durch sie h&tte er manche Eigenschaft seiner Frau entdeckt, die ihm bisher
entgingen war. (!) —
Eine Dame in Born besteUt ron Neuem beim Angsbnrger, wie sie dies schoa
Tor Tier Jahren gethan hat, eine Schriftanslegong. Will sehen, ob sie sich mittler-
weile geändert hat. (Gute Idee.) Nach Empfang der Auslegung liefert sie in einem
Denen Schreiben eine Yerhimmelung des Herrn Liebe. Aber der Gedanke an
dieien Herrn Liebe lasst sie nicht ruhen: Sie schreibt eine Reihe Briefe an ihn.
Im fanften Briefe heisst es : Alles, Alles, was in mir ist, was jemals in mir war
und sein wird, wird Ihnen ewig, ewig danken I Hie sind mein treuester Freund und
ich wünsche, dass Sie es ewig, ewig bleiben möchten ! Dann will sie wissen, ob der
Aogsburger jung ist, in der Mitte der Jahre, oder ein alter Mann, ob er glöcklich
und im Besitz eines Weibes und lieber Kinder oder einsam. Das mächtige (Ge-
fühl, das mich zu Ihnen zieht, wie ich es nie, nie eto Das VoUgef&hl des
Lebeos hätte ihr der Augsburger beigebracht Lechzende Seele etc. Beichte eto.
lAatenmg etc. Sie der Mensch, der Alles, Alles versteht. Im sechsten Brief wird
die Person schon langweilig. Vermuthlich auch fQr den Augsburger, denn dieser
Brief ist ihr letzter. —
Ein Mann aus Pirna im Sachsenlande fühlt sich ausserordentlich gekräftigt,
wenn er ab und zu des Meisters Zuschriit liest. —
£iQe Clientin in Baden-Baden schreibt: Welch ein Reichthum an Begabung
and an Kunst ! Ja, Ihnen gehört die Welt, Sie haben die Zügel des uns Ünbewussten
in den Händen ! Dann nietschelt sie etwas Passendes hinzu. Dann erzählt sie von
ihrem Schwanken zwischen Begeisterung und Lebensekel und andern interessanten
Wnndem und berichtet, dass das Alles in ihrer Familie traditionell sei. Heute
sei wieder so ein Umschwung über sie gekommen und den verdanke sie dem Augs-
borger. (Sonderbar! Ich hatte erwartet, dass sie das sich selber verdanke, aber
nein, der Augsburger ist Schuld daran. Er bat den Umschwung mit seinem Kunst-
werk hervorgerufen.) —
Eine Sie berichtet über das Herzklopfen, das sie beim Oeffiien von Liebe's
Schreiben gefühlt, und ein Er berichtet von seinen Seufzern. (Ich finde, dass
der Mann etliche dieser Seufzer nach Augsburg telephoniren könnte zur Ansicht
als Master ohne Werth. Thut er es nicht, so werden Andere noch darauf kommen.
Die Zukunft wird das jedenfalls bringen. Das wird dann die Zeit sein,
wo es neben den Graphologen auch Seufzerologen geben wird.) —
£äne Baronin anerkennt, dass sie es ganz Herrn Liebe verdankt, dass sie
jetzt intensiv, ja sogar selbstquälerisch über ihr Selbst nachzudenken Veranlassung
hat. Und das Alles nur mit des Augsburgers Schriftauslegung! Die Oocultisten
nennen sie eine Zauberin oder Hexe. —
Ein Mann (es ist diesmal glücklicherweise wieder einmal ein Mann, aber was
för einer) schreibt : Wenn Alles still und ruhig ist, fluchte ich gern zu Ihren Zeilen
Qnd, einsam bei der Lampe Schein, lasse ich Ihre Worte auf mich wirken; dann
ergreife ich wohl die Feder und, angeregt durch die Kraft und Schönheit Ihrer
Thesen, werfe ich meine Gedanken aufs Papier. So werde ich nach und nach zu
jedem Ihrer Aussprüche Coramentare zusammentragen zum Werke der Selbst-
erkenntniss und zur Läuterung. Sollten Sie noch für mich arbeiten wollen, so
finden Sie anliegend Schriftproben von zwei Männern. In einem neuen Schreiben
bewandert er die Auslegrung der zwei neueingesandten Schriftproben. Ich kann es
19*
292 A. Orohmann.
nicht glauben, dass es Uinen möglich ist, aas den Schriftzügen allein das Wesen
der Menschen aufs Tiefste zu ergründen; Sie sind offenbar mit dem Seherblick be-
gabt. Sie kennen jedenfalls das grosse Geheimniss, direct mit der uns allen ge-
meinsamen Seele zu schauen. Zum Schluss verspricht er, den Augsburger anzudichten. —
Ein Herr aus Wien kommt fast gar nicht aus dem Staunen heraus. —
Der Folgende überliefert sich eigentlich der Polizei. Nachdem er die Arbeit
Liebe's gehörig yerherrlicht, erklärt er, es hätte ihn frappirt, dass Liebe ihm
ein „doppeltes Ich" in seinem Schreiben aufoctroirt hatte ; denn das beweise, wie klar
Liebe ihn durchblickt habe. Mit dem „doppelten Ich" könne ja nichts Anden
gemeint sein, als sein Doppelsehen. Das entspreche natürlich den beiden Gehim-
fiemisphären. Er habe ein Augenleiden. Er könne nicht stereoscopisch mit seinen
zwei Augen sehen, da das linke kurzsichtig, das rechte weitsichtig seL (Lieber
Simplicius ! Wenn du so gerne mehrere Ichs herum trägst, so kannst du noch mehr
bekommen, als blos deine zwei! Neben deinem kurzsichtigen linken und dem
weitsichtigen rechten Auge würde sich dein, vermuthlich, blindgeborenes Hühner-
auge ganz gut als drittes im Bunde ausnehmen. Du hast dann drei Ichse. Die
dem dritten Auge von rechtswegen zukommende dritte Gehirn-Hemisphäre kann
ein Mann wie du gut entbehren, und der Augsburger wird dir sicherlich den dazu
nöthigen Dispens ertheilen. Aber du darfst dann nicht weiter grübeln und vielleicht
auf die heilige Dreieinigkeit verfallen. Die Analogien sind für dich Glatteis.) —
Ein Unbefriedigter erklärt, gar nicht einmal zu wissen, was ihn befriedigen
könnte. Er stöhnt vor Ungeduld und dankt dem Meister. —
Dann nietschelt ihn eine Hamburgerin an, und ihr Mann lässt den Aogs-
burger noch dazu grüssen, anstatt ihm zu fluchen. —
Dann wieder einmal drei ganz gewöhnliche Verherrlichungen des Meisters
durch drei Damen. —
Eine Glientin rühmt die Energie, mit der Liebe für die Verbreitung und den
Glauben an seine Wissenschaft strebt. (!) Dann citirt sie eine lange Reihe grosser
Geister und bestätigt in einem neuen Schreiben den Empfang der bestellten Schrin-
beurteilung. Ihre geheimsten Gedanken hat der Augsburger errathen. Sie bittet
um die Erlaubniss, dem Manne in Augsburg die fernere Entwickelung ihres Da-
seins später berichten zu dürfen. Sie bedauert, nur 10 Mark senden zu können,
citirt Schöngeister und schliesst: Die Wurzel aller Sorge ist das „Ich". —
Eine Wormserin schreibt: Sie können sich leicht denken, verehrter Meister,
dass ich stets in einer Unruhe lebe, sobald ich über Ihren Gesundheitszustand in
Ungewissheit bin. Nicht uninteressant dürfte für Sie ein Buch sein, welches in
ausgezeichneter Weise über die Krankheit der geistig Ueberreizten handelt und
kann ich wohl versichert sein, dass Ihnen das Werkchen, was Ihnen separat über-
sandte, eine kleine Freude macht. Arbeiten Sie, bitte, nicht mehr soviel! Sie
müssen mir, Sie müssen der hastenden (!) und suchenden Menschheit noch lange
erhalten bleiben, Sie müssen mehr Rücksicht auf Ihren Gesundheitszustand nehmen.
Sie haben gewiss die Herausgabe eines grossen, für die Menschheit von grosser
Bedeutung seienden Werkes vor. Ich glühe förmlich darnach, mich hineinzostorzen
in jene Sphären, welche nur Ihre Sprache in unserer Brust zu erwecken vermag.
Wäre die Welt nicht so real, ich würde annehmen können, in Ihrem Werke liege
der Hauch Ihres Geistes, das tiefe Gefühl Ihrer Seele darin, und zwar so, dass
beim Lesen sich nicht blos der Gedanke ins Innere schleicht, sondern dass man
Einiges über Suggestion durch Briefe. 998
sidi förmlich so fühlt, als wäre von Ihnen eine Hypnose über Einen gekommen.
Mir dankt es immer so. Wenn ich Sie lese, stehe ich yollkommen
imfisnü Ihrer Seele, aber nicht mein Geist allein ist es, der sich angeregt
föhlt, sondern es ist eigenthümlich, wie auch selbst die Xerven, das Blnt
unter Ihrem Worte, dem die Sprache Sklavin ist, erregt war. Ich weiss nicht, ob
es Andere beim Lesen Ihrer Schriften auch so geht , aber so viel kann ich aus
den gedruckten Briefen, die Sie besitzen, ersehen, dass es noch Manche giebt, die
Ton derselben Meinung eingenommen werden, wie ich. (Schönste Suggestion zur
Bildung einer langen Kette von Kundinnen: Jede will sehen, ob's auf sie auch so
wkt, spricht oder schreibt davon und schleift Andere nach.) Dann beschreibt sie
veiter: Ich komme mir vor, als hätte ich meinen Kopf an Ihre Brust gelegt und
das ganze innere Wesen strömte nun in mich über, so voll, so stark. Sie, der
Weltüberblickende, Sie sind mein Freund und Vater zugleich! Eine Stärke, eine
Kraft, ein Muth fiiesst daraus, dass man sich leicht über das Geschlecht des Andern
hinweg hebt. Dann theilt diese unbefriedigte Weltbummlerin mit, dass sie nächstens
nach Paris reisen wird, und nicht weiss, ob sie dann nach London oder Rom gehen
soll. In einem fernem Schreiben beschreibt sie dem Augsburger, wie der Augs-
burger aussieht, damit er das auch weiss: Das blasse, von Schmerzen und seelischem
Leiden gemarterte Angesicht ist von dem Hauch Ihres Geistes umgeben, blickt
entsagend auf die Lebensbahn! Ihr Inneres verblutet! Ihr Herz hat ausgerungen!
Nicht mit Alles vemichiendem Blick, nein! mit weiser Erkenntniss sieht man her-
ab, giebt dem durstigen Menschenherzen labende Erquickung, dem ringenden
forschenden Geiste weist man die Bahnen, die er wandeln soll. — So geht es eine
lange Strecke weiter, bis sie den Augsburger zum Vorbild eines Geisterfursten er-
bebt. — (Aber ich muss jetzt um Verzeihung bitten. Diese Wormserin ist
ein Worms er. Ich sehe es eben aus der Schlussformel. Ich hatte so viel echt
Weibliches aus den vielen im Buche fettgedruckten Stellen des Briefes heraus-
gelesen, dass ich nicht denken konnte, dass der Autor ein Mann sein könnte.) —
Ein Lehrer (also diesmal ist es ganz sicherlich ein Mann) schreibt: Ihre
Arbeit, überhaupt die Möglichkeit, dass ein Mensch eine solche phänomenale Arbeit
des Geistes schaffen kann, ist mir wie eine Predigt gegen den Materialismus vor-
gekommen, nur viel überzeugender und beweiskräftiger als eine wirkliche Predigt,
dass wir zu etwas bessern geboren sind. 0, dass die Menge eine solche Predigt
Tentände. —
und noch ein Mann, diesmal ein liebender: Mit Staunen und Bewunderung
habe ich gefunden, dass Sie nach der kurzen Schriftprobe ein so ausserordentlich
treffendes Portrait meiner lieben Braut entworfen, wie ich es nach zehnjähriger
Bekanntschaft mit ihr so priicise und so fein detaillirt zu malen mir nicht zuge-
traut hätte. —
Ein Mann aus Ecuador schreibt: Ich kann Ihre Beweggründe (zum grapho-
logischen Dienste) nur ahnen, aber nicht voll erkennen. (Schwachmatikus!) —
Eine Dame in Kopenhagen verdankt dem Augsburger ihre Erweckung und
Mefert eine ellenlange Epistel. Schliesst mit der Behauptung, der Augsburger
hätte ihren Lebensweg vor Reue bewahrt. —
Ich bin nun in diesem Büchlein des Herrn Liebe in einen ganzen Harem
schöner Damen gerathen und möchte mir eine davon aussuchen. Ich nehme mir
natürlich die, die mir am besten gefallt. Das ist eine Dame, die schreibt: Nur
294 -^ Grohmann.
die Langweiligkeit des Badelebens von Swinemünde und Baden-Baden hat
mich veranlasst, mich an Sie zu wenden. Die gehört mir! Sie passt entschieden
nicht zn den Andern und Herr Liebe wird sie mir wohl abtreten. Er passt auch
gar nicht zn ihr.
Ond nun muss ich noch etwas sagen von wegen der vielen Damen. Wie,
zum Teufel, kommt denn dieser Herr Liebe zu seinem so suggestiv wirkenden
Namen? Für sein Metier könnte er gar keinen Bessern haben. Alle Damen
laufen ihm nach. Wenn er Krautmeier heissen würde, oder nur Meier, oder
Stengelhuber oder auch nur Huber, oder wenn er heissen würde wie ich, dann
ginge es ihm sicherlich ebenso miserabel wie mir, und er müsste sich mit der
Liebe einer Einzigen begnügen. Das Schicksal hat ihn ganz entschieden an-
gerechterweise protegirt. Oder sollte ihn vielleicht der liebe Gk>tt umgetauft haben,
zur Belohnung, und in Anerkennung alles dessen, was er für die Damen^ und die
Damen für ihn geleistet haben? Jedenfalls bin ich dem Herrn Liebe neidig.
Nun konunt aber ein Kapitel, das mich mit Herrn Liebe doch wieder aus-
söhnt : Er liefert Beurtheilungen von Graphologen über sich, an die er seine Hand-
schrift eingesandt hat. Herr Liebe giebt dadurch den besten Beweis, dass er
etwas auf sein Fach hält, dass er andere Graphologen auch leben lassen will und
dass er sich bemüht, den Leser zu befähigen, ein eigenes und correotes Urtheil über
ihn zu gewinnen. Also Herr Liebe wird unter Anderem so beurtheilt:
Entweder sind Sie etwas blasirt, oder Sie verachten manchen Lebensgenius
aus Princip. Femer: Die seelischen Kräfte sind in eminenter Spannung und es
kennzeichnen sich deutlich die Spuren geistiger Ueberanstrengung. —
Bedeutend nervös. —
Herr Liebe ist auch undurchdringlich. Hoffentlich ist das etwas An-
genehmes. —
Sie unterschätzen nicht Ihre Kenntnisse. Bedeutendes Talent. —
Unbeschränkte Noblesse. —
Grossartige Kenntnisse und Fähigkeiten. Absolut anormal. — Sie einen den
Philosophen mit dem Gavalier. — So geht es weiter.
Endlich ein glänzendes Kapitel: Der Meister fählt, dass er dem Leser etwas
schuldig ist, nachdem schon soviel über ihn geschrieben worden ist, von vielleicht
nicht ganz Gompetenten, und er glaubt, dass jetzt ein ernstes Wort der Aufklärung
am Platze ist. Kurz, er schildert sich selbst, damit ja Niemand über ihn
im Zweifel sei. Durch dieses Kapitel hat mich Herr Liebe vollständig gewonnen.
Eine Art väterliches Protector-Gefühl für ihn entsteht in mir. Ich glaube, dass
der Mann noch einmal mein Patient werden wird. Dann lass ich ihn meine
Kaninchen füttern und im Garten kann er Kohl rüsten und Rüben schaben. Das
wird ihm gut thun. Herr Liebe gehört entschieden in eine Anstalt wie die
meine, die ^nicht einmal nervös sein Wollende*' aufhinmit und verflegt Also,
Herr Liebe schildert sich selbst:
Mit 12 Jahren hat er Hamlet gelesen; mit 13 den ersten Selbstmordversuch
gemacht.
Heute verachte ich das Gros der Menschheit ebenso gründlich, wie ich mich in
der Liebe zum Einzelnen vollständig vergehen kann.
Er hat eine unheimliche, tödtliche Kühe. — Ausnahmenatur. —
Einiges ttber Soggettion durch Briefe. 296
Wahrend ich manchmal den Anschein eines pedantischen Gelehrten erwecke,
bin ioh in Wirklichkeit ein heissblütiger Mensch , der heute zu den Füssen eines
leelenstolzen Weibes sitzt, beim Scheiden ceremoniell die Fingernägel berührt, und
dun in seiner Stube mit Thränen kämpft, am andern Tage ein lyrisches Gedicht
macht, eine Stande später sich in ein Problem vertieft und Abends in der yer-
iteektesten Theaterloge einem Faustdarsteller enthusiastisch applaudirt. —
Ich bin sicherlich das Werkzeug einer hohem, als menschlichen Macht, da
ich sonst längst untergegangen wäre. —
Tauscht den Beruf nicht mit einem Potentaten. Was ihn bei seiner Arbeit
lehandlich und schmutzig erscheint, ist die ordinäre Pfennigrechnerei, der er sich
onterziehen muss und die täglich seine Nerren peitscht. —
£r nennt sich auch das Versuchskaninchen iiir sich selber. —
' Ich finde das gar nicht erstaunlich, denn der Augsburger hat in einem vorher-
gehenden Kapite], — mit der Aufschrift „Mein Arbeitsgebiet**, — angegeben, was
er Alles betreibt.
Angeführt wird hierbei unter Anderem auch die Psychometrie. Das ist
ja schrecklich ! Das Kapitel unterzeichnet er ausdrücklich diesmal nicht als Meister,
sondern als der blosse Mensch P. P. J. Liebe. In einem Kapitel „Idiosynkrasien*'
giebt Herr Liebe zu erkennen, wie er unter Larven die einzig fühlende Brust:
£r schildert, welch schreckliche Menschen diese andern sogenannten Menschen,
" mit Ausnahme des Herrn Liebe — sind. Wenn er auf der Strasse dahin
schlendert, wo er so viele Leute und so wenig Physiognomien sieht, dann blinzelt
ihn oft einer aus der Klasse der behaglichen Sumpfbrüder an. Dann trifft er
Bankzettel-Parvenüs und güterschlachtende Zerstörer der lieben Landwirtschaft mit
impertinentem Blicke.
Das berührt ihn natürlich wie der rohe Peitschenknall des Fnhrknechts. —
Trottoirbummler-Milieu. — Alltägliches Gesindel. — Schildkrötenaugen und Circus-
Clown-Physiognomien mit einem starken Stich in das Vorstadtpossenhafte. — Vom
Nengierpöbel wird er angestarrt, wenn seine Stime Gedanken kund giebt. — Noli
me tangere! — Strassenkehrer der Gelehrtenrepublik. — Gewandte Haasknechte
för geistigen Diebstahl. Jünger der Eamsch-Literatnr. — Dickhäuter. — Es ist
gemein, sagt Hamlet. — Dann nietschelt auch er. — Dann giebt^s Handlangerseelen
nnd elende Stümper. —
Der Kothurn seiner Wissenschaft ist angebellt worden. — £r reisst den Rene-
gaten und Weltredoutenbrüdem die Larve herunter. Die nach wahrer Bildung
Strebenden haben ihn auf den Schild gehoben. — Bedientennaturen mit blöden
Angen. — Der Löwe ist des nicht endenden Schreites mit meuterischen Käfig-
thieren satt und sehnt sich nach der Wüste des Schweigens.
Es folgt ein Kapitel über die Werke des Herrn Liebe. Die Titel lauten:
Seelengeheimnisse. Seelenaristokraten, Seelenlappalien, Der Menschenfeind, Jahr-
hundert-Moderne etc.
Diese Werke werden von Liebe und Andern dadurch kritisirt und recensirt
dlss die Person des Herrn Liebe wieder auf dem Präsentirteller herumgereicht
wird: Herr Liebe als Uebermensch, Herr Liebe, der für Andere lebt. Er ist
der Mann mit dem abgekühlten Idealismus. — Ihr Buch hat mich vollständig um-
gekrampelt! — Wirft Leuchtkugeln ins Innere der Menschen. — Du giebst elec-
trisch Licht! ~ Des Weltverächters kalte Ironie.— Hauch feinerer Brkenntniss. —
296 A. Grohmann.
Dann lässt sich der Meister von einer seiner vielen Verehrerinnen ansingen,
wie folgt: Adlerartig wolltest du in die Höhe schweifen und einsam im Lichte
Deine Kreise ziehn! —
Sodann folgt ein Appell Liebe's an die deutschen Frauen, und dann eine
sehr schöne Erklärung: Liebe's Werke sind Selecta und nur für ganz feine Seelen
geschrieben. Die Auflage ist wegen der Rarität solcher Seelen auf nur 300 Exem-
plare festgesetzt worden, daher das Einzelexemplar entsprechend theuer.
Dann giebt's noch viel anderes Schöne, dann werden grosse Männer, darunter
auch ein gewisser Liebe, citirt, und dann heisst's am hintern Deckel des 270 Seiten
dicken Buches : Die Raben flattern schon ; es ist noch zu früh. Dann wieder etwas
Schönes und endlich etwas Lateinisches, das sich ja immer gut macht : Aliis in-
serviens consumor. (Das heisst: Er fiisst die Andern alle auf!)
Als Schlussrignette ein Schwan (wohl von wegen der Leda).
Und: Nachdruck verboten.
Ich denke, dass die Leser dieses Blattes zu sachverständig sind,
als dass ich sie auf alle Beeinflussungs-Möglichkeiten und -Formen auf-
merksam machen müsste, die durch einen solchen Briefverkehr, wie den
Liebe's mit seinen Kunden, bei neuropathisch oder psychopathisch,
schwachsinnig oder autosuggestiv veranlagten Menschen bewirkt werden
kann.
Jedenfalls ist es interessant, zu sehen, wie dieser grosse Mann,
der wohl ungetähr ein überspannter hysterischer Parano'iker sein wird,
sich ein Publikum zu schaffen weiss, das treu zu ihm hält und bei
dem er Schule machen kann.
Ich möchte jetzt von einer zweiten Sache berichten, die mir mit
der ersten sehr verwandt zu sein scheint.
In Zeitungsannoncen finden wir gelegentlich Einladungen „zu geist-
reichem Briefwechsel mit gebildeter Dame". Was mag da wohl Alles
angebändelt werden!
Wie sich nun Alles organisirt und systematisirt, so, scheint's, hat
sich auch diese Briefwechslerei organisirt. Ich habe wenigstens seit
Jahren schon mehrere Annoncen gelesen, in denen sich Vereine, Gk-
schäftsfirmen etc. in verschiedenen Grossstädten als Vermittler zu
diesem und auch zu andersartigem Brief verkehr anbieten. So z. B.
ein „Weltverein", der seinen Sitz in München hat, und eine „Inter-
nationale Correspondenzassociation" in Wien, u. A. m.
Die Angelegenheit, die ich weiter unten schildere, hat mich mit
dem Prospect eines solchen Vereins bekannt gemacht. Gegen Bezahlung
Einiges über Saggettion durch Briefe. 297
eines Jahresbeitrags wird der Name des Neueintretenden in ein Buch
eiDgetragcD, dass der Verein jedes Jahr oder sonstwie periodisch heraus-
giebt und an die Mitglieder versendet Es enthält die Namen und
Adressen derer, die für dieses Jahr als Mitglieder anerkannt werden,
und bei Jedem wird angegeben, für was er sich besonders interessirt
und welche Sprachen er spricht, etc. Der Zweck des Vereins ist, jedem
Mitglied zu ermöglichen, an vielen Orten, die über den ganzen Erdball
verbreitet sind, mit Anderen correspondiren zu können. Austausch von
Briefmarken wird als eine der Sachen genannt, die da von Vortheil
sein können. Ich vermuthe, dass die neuesten Ausgaben auch schon
bis zur Idee vom Austausch von Ansichtspostkarten gediehen sind,
denn es soll ja Alles emporkommen, was „gesunde Keime'^ hat, und
es giebt doch kaum eine gesündere Dummheit, als die Ansichtspost-
kartensammlerei.
Gelegenheit zum Lernen von modernen Sprachen durch Brief-
wechsel wird auch genannt.
Das Verlangen nach Auskünften der verschiedensten Art soll für
Andere das Motiv zum Beitritt werden. Briefwechsel mit gebildeter
Dame leuchtet aber, noch mehr als es ausdrücklich gesagt ist, als einer
der wichtigen und interessanten Kerne des Pudels hervor.
An einen dieser Frospecte erinnere ich mich deshalb ganz be-
sonders, da er auf dem Titelblatt mit zwei artigen kleinen Bildchen
verziert war, die die reinsten Suggerir- und Animir-Vignetten sind.
Eines stellt das briefschreibende Männchen vor, das andere — na natür-
lich! — das briefschreibende Weibchen. Er hoch oben im schneeigen
forden; sie im fernen Süd — Sehnsucht k la Heine. Man blickt zu
einem verschneiten Dachkammerfenster ins Innere: Ein schöner Mann
mit Vollbart schreibt da bei der Lampe Schein an einem Briefe. Dies-
mal hat der Mann wohl die lange stinkende Tabackspfeife auf die Seite
gelegt ; der Beschauer sieht wenigstens nichts von einer solchen. Und
das ist gut, denn manche Damen lieben die Pfeifen nicht. Im anderen
Bilde sitzt eine schlanke Schöne auf einer Veranda, mit einer Brief-
mappe vor sich auf dem Tische, von Blumen und Palmen umgeben.
Sie denkt einen Augenblick darüber nach, was sie dem nördlichen
Kerl stecken solL Zu diesem Zwecke erhebt sie das liebe Köpfchen
nnd sinnt sinnend in die sinnende Ferne.
Zwei meiner Patientinnen, die in meinem Institute zu arbeiten hatten, wollten
sich ArbeitBschürzen machen lassen. Die nächstbeste Nahterin wird herbeigerufen,
i)edient die Damen und kommt so einige Male in mein Haus. Sie sieht, dass es
898 A. Grohmann.
bei ihren beiden Kundinnen nicht ganz richtig ist im Oberstübchen, und erfahrt,
in welchem VerhältniBs sie zu mir stehen.
Einmal traf ich die Nähterin allein. Etwas schüchtern, aber in guter Art
sagte sie zu mir, dass sie sich für mein Unternehmen interessire. Sie glaube, dsss
ich wohl viele Erfahrungen sammeln könne, wie einem gedrückten Gemüthe zn
helfen sei, etc. Die Unterredung hatte yielleicht fünf Minuten gedauert und das
war das letzte Mal, dass ich sie jemals gesehen habe. Desto mehr aber erfuhr ich
▼on ihr durch £riefe.
Es mochten etwa zwei Jahre vergangen sein, als ich von ihr aus einem an-
deren Ort einen Brief erhielt. Ob ich mich ihrer aus der kurzen Unterhaltung vor
awei Jahren erinnere? Sie fühle sich tief unglücklich. Es sei ihr Schreckliches za-
gestossen und nicht der eigenen Mutter könne sie mittheilen, was es sei. und
wenn auch fremde Schuld vorliege, so habe sie sich doch selber noch mehr anzu-
klagen. Sie fände keine Ruhe. Ich sei der Einzige ihrer Bekannten, der etwas
vom kranken Gemüth verstände. Sie bitte mich, ihr zu rathen, was sie in ihrer
verzweifelten Lage beginnen solle. Ihr Gewissen sei belastet. Sie glaube nicht,
dass irgend Jemand ihrem unglücklichen Gemüthszustand gerecht werden könne,
als nur ich.
Ich hatte sie aus dem flüchtigen Zusammentreffen vor zwei Jahren als ein
gesundes junges Mädchen von lebhafter Auffassung, etwa 25 Jahre alt, in der Er-
innerung. Aus ihrem Briefe gewann ich die Vorstellung, dass es sich um eine
melancholische Depression nach heftigen Gemüthsbewegungen handeln müsse. Ich
schrieb ihr« dass ich ihr gerne beistehen wolle. Sie solle mir das Erlebte aus-
führlich schildern; sie könne hierbei positive Angaben, wie Namen und Adressen
von Personen etc., die in der Sache verwickelt seien, zur Wahrung der Discretion
weglassen. Ich lege mehr Gewicht auf Erkenntniss der Anschauungen und Gefühle,
die sie in der Sache erworben habe.
Wie weit sie meinen Auftrag, ausführlich zu sein, ausdehnen würde, konnte
ich nicht ahnen: Nach wenigen Tagen erhielt ich das ausführlichste Material, das
ich jemals in meinem Verkehr mit Patienten erhalten habe. Ein Handkoffer
mittlerer Grösse war angefüllt mit vielen Hunderten von Briefen. Der Prospect
und ein Mitgliederverzeichniss eines der Vermittlungsvereine für briefliche Bekannt-
schaften war dabei und mehrere Photographien eines Herrn. Eine Reihe von
graphologischen Expertisen mit ihren Belegen etc. kam auch zum Vorschein. Das
Gentrura all dieser Herrlichkeiten war der Anfang zur „ausführlichen" Beschreibung
der Angelegenheit. Die Fortsetzungen zu diesem Anfang liefen in rascher Folge in
den nächsten Wochen ein. Sie erreichten den Umfang von über 200 Seiten Gross-
actenformat, eng beschrieben, in guter fester Handschrift. Keine Wiederholung,
nichts zur Sache nicht Gehörendes war am Inhalte auszusetzen. Aber ausführlich
war es allerdings und die Gefühle waren genau beschrieben.
Das Mädchen hatte einige 31onate, bevor ich sie in meinem Hauae sprach,
sich von ihren Eltern frei gemacht. Sie hatte ihre Selbstständigkeit erstrebt, hatte
die ärmlichen und sie drückenden Verhältnisse in einem kleinen Orte verlassen
und war Nähterin in der Grossstadt geworden, wo sie sehr schwere Kämpfe um
ihre Existenz erdulden musste. Durch eine Zeitungsannonce hatte sie von dem
Brief- Verein gehört, war ihm beigetreten und hatte einen Briefwechsel mit mehreren
Herren an fernen Orten begonnen. Siehe Beilagen-Bündel 1, 2, 3, 4 etc. Tags
Einiges über Suggestion dnrch Briefe. 299
aribeitete ne und Abends ginget fieberhaft an die Correspondenz, diesem Labsal für
die Arme, die ^ysonst nichts Geistiges*' zn geniessen hatte. Aus diesem, dem ersten
Tbsil ihrer Mittheilangen mit all seinen Beilagen gewann ich Einblick in ein weit
▼ersweigtes Netz von Correspondenzen, denn mehrere Correspondenten des jungen
Mädchens schilderten auch die Correspondenzen, die sie vorher mit andern Mit-
gliederinnen geführt hatten. Mehrere verheirathete Männer waren darunter, und
manche ihrer Correspondensen führten zu persönlichen Bekanntschaften und allerlei
Allotria, Gefühlsduseleien, Schwärmereien — oder auch zu geschlechtlichen Excessen,
je nach der Anlage dieser Herren und Damen. Ein Mönch in einem Kloster schlosa
leme Correspondenz mit meiner Clientin mit der Erklärung, er dürfe nicht mehr
weiter schreiben, sein Prior hätte die Sache entdeckt. Einige Routiniers im Fache
dieser „brieflichen Liebschaften" waren jedenfalb sehr ezpert in der Kunst des
„Hemmkriegens". Alle diese Gorrespondenzen meiner Clientin nahmen bald ein
Ende. Nur eine verfolgte sie weiter und diese eine führte zu ihrem Unglücke.
Das Hervortreten des lasciven Elements hatte sie bewogen, die Anderen fahren zu
laaaen. Einige hatten wirklich die Sauglocke geläutet. Dieser Eine schrieb ihr
Monate lang höchst anständige Briefe. Was sie aber, mehr als der Inhalt seiner
Briefe faacinirt haben soll, war — seine Handschrift! Diese Handschrift ist aller-
dings eine sehr seltsame, sehr schöne und charactervolle, interessante. Einige Ge-
dickte des Mannes, nicht von der einfältigsten Art, imponirten ihr. Die Briefe
wurden auf beiden Seiten immer leidenschaftlicher, und aus dem Tempo von einem
pro Woche wurde bald einer jeden zweiten Tag. Auch ihre Photographien hatten
sie schon ausgetauscht. Nach den verschiedenen Bildern, die mir ihren Liebhaber
vorführten, muss er ein schöner, grosser Mann von gewinnender Erscheinung ge-
wesen sein: Martialisch.
Sie hatte sich schon bis über die Ohren in den Mann verliebt, als sie von
ihm den ersten Brief erhielt, in dem, jetzt auch er, aber in der ästhetischesten
Form, anfing, auf ihre Sinnlichkeit zu wirken. Er träume jede Nacht von ihr und
halte ihren weissen, zarten Leib umschlungen. Nach und nach wurde er immer
glühender in diesem Artikel, aber niemals roh. und kein gemeines Wort fiel vor.
Die Wirkung auf das Mädchen war die des intensivsten Glücksgefuhls. Aber sie
bat ihn dabei immer wieder, gewisse Worte nicht zu schreiben. Das sei Sünde.
Sie liebe ihn rein. Sie wollte ihm jetzt ganz angehören. Sie sprach in ihren
Briefen von ihrer bevorstehenden Vereinigung, als etwas ganz Selbstverständlichem.
Er schrieb ihr nun, dass er leider verheirathet sei. Für sie war das ein schwerer
Schlag. Sie überschüttete ihn mit Vorwürfen, noch mehr in ihren Gedanken als
durch Worte in ihren Briefen. Sie hatte die Vorstellung, dass sie sich ihm auf-
lade, wenn sie ihm zu sehr zeige, dass sie auf eine Heirath gerechnet hatte. Sie
wollte nun ihm gegenüber. — „dem sie ja doch so viel Glückseligkeit zu verdanken
gehabt habe". — mehr die wahre Freundin, neben der „treuen Gattin", die er
zu Hause hätte, herauskehren. Aber seine Briefe besiegten sie.
Sie lebte damals in kümmerlichsten Verhältnissen dahin. Selten konnte sie
sich Fleischkost gestatten. Mit Thee feuerte sie ihre Nerven an für die nächtlichen
Briefkämpfe mit dem Manne, der ihre Phantasie ganz erfüllt hatte. „Ein grosser
Plan'' entstand in ihrem Gehirn. Lange Wochen wälzte sie die Sache hin und
her. Der Mann hatte ihr geschrieben, dass er seine Frau gar nicht liebe. (Das
schien sie vorher nicht gewusst zu haben I) Da hatte sie ja ein Recht auf ihn 1
300 ^ Grohmann.
Sie verwarf das Ganze und griff dann den Plan immer wieder aut Sie legte ihm
nun die Sache vor. Er solle entscheiden. Er habe sie zu dem gemacht, was sie
jetzt sei, unglücklich und zerrissen mit sich selbst. Er könne sie jetzt haben. Die
Sache könne so gemacht werden. Die Eltern, die sie oft besuchen und ohne deren
Erlaubniss sie Zürich nicht verlassen könne, müssten zuerst für die Erlaubniss zu
ihrer Auswanderung in das Land ihres Geliebten — (es handelte sich um eine
weite Eisenbahnreise) — gewonnen werden. Auf Briefpapier mit gefälschtem
Firmakopfe, das sie bei einem Buchdrucker bestellen würde, hätte er ihr einen
Brief zu schreiben. Er — (ein Beamter) — hätte darin als Chef einer Moden-
handlung unter Erwähnung einer fingirten Zeitungsannonce sie als Angestellte „für
seine Damenmäntelfabrikation'* zu engagiren. Die Eltern sehen ihre knappen Ver-
hältnisse und würden beim Vorzeigen des Briefes der Wegreise der Tochter nichts
in den Weg legen, froh, dass sie eine Anstellung und sicheres Brot gewonnen habe.
Sie reist dann nach der Stadt X, die in der Nähe des Wohnortes des Geliebten
liegt, würde dort eine bescheidene Kammer miethen, eine Mähmaschine auf Ab-
zahlung nehmen, sich als Nähterin in der Zeitung empfehlen, und den Kampf um's
Brot dort aufnehmen, so gut und so schlecht, wie sie ihn hier gehabt.
Dort wolle sie ganz ihm gehören, so oft er abkommen könne von seinem
Dienst. Sie werde sich ihm dort ganz schenken, wenn sie nur seine Liebe habe.
Alles Andere sei ihr dann gleich. Mit ihm könne sie auch die Schande tragen.
Und seine Frau könne sie ja auch nicht mehr betrügen.
Seine Antwort war eine abwinkende: Närrisches Mädel! Und so verliebt!
Denke an die vielen Gefahren der Entdeckung. Abwarten! Auch er sehne sich
nach ihr, etc. —
Sie war empört. Sie wollte ihn nun vergessen. Aber sie war drin, sie konnte
nicht mehr heraus. Nach mehreren Wochen war wieder der alte Briefwechsel mit
seinen hinmi eistürmenden Wehklagen. Jetzt wollte sie dieselbe Sache auf anderem
Wege erreichen, gab manches Stück Geld aus für Annoncen, um eine Stellung in
der Nähe des Geliebten zu erwerben. (Das weniger abenteuerliche Project war
also erst das zweite.) Nichts wollte sich zeigen. Um jene Zeit war sie auch in
Zürich bedrängt, sie hatte sich verschuldet, war zurückgekommen in ihren Arbeits-
leistungen, die Miethe war nicht bezahlt, sie wurde gedrängt. Sie gab den un-
nützen Kampf endlich auf und zog sich ins elterliche Haus zurück, wo sie nun
Mühe hatte, ihre inneren Kämpfe vor der Mutter zu verbergen.
Hier sah sie sich als unnütze Mitesserin am Tische ihrer Eltern, die auch mit
vielem Missgeschick zu kämpfen hatten. Da schrieb sie dem Geliebten, dass nichts
mehr sie hindern werde, das erste Project auszuführen. Alles kam zur Ausführung.
Ein trauriger Abschied — und doch in innerer Freude, unverstanden von den
Eltern — und sie verlässt das Haus.
An einer kleinen Bahnstation war das bestellte Zusammentreffen. Sie, die sich
Unbekannten, umarmen sich stürmisch, lassen sich ins nächste Hotel fahren und
hier erfolgt die Uebergabe und der Empfang alles Ersehnten und Erträumten.
Mitten in der Nacht quält sie der interessante Mann noch mit Schilderungen
seiner bisherigen Don-Juanstreiche, die er ihr bisher verschwiegen hatte. Neben
ihr liegend und Cigaretten rauchend, erzält er, wie er seine Schwägerin verführt
habe u. dgl.
Nächsten Tag reist sie mit dem Manne in ein Städtchen, wo sie sich in be-
Einiges über Suggestion durch Briefe. 301
»cbeidensten Yerhältnissen niederlässt, eine Nähmaschine miethet, Empfehlungs-
karten drucken und austragen lässt, und nun mit billigster Nahrung bei viel Thee
und im Winter in einer ungenügend geheizten Dachkammer der Dinge harrt, die
da kommen sollen. Sie erklärt bei Schilderung aller dieser Einzelheiten, dass sie
damals nichts bereut hätte. Sie hätte sich ihr Gluck erkämpft, ihr Gewissen sei
rohig gewesen, sie hätte das erobert, wozu sie ein Recht hatte und hätte es er-
obert, ohne die Gefühle Anderer zu beleidigen. Wer gelitten und gekämpft, wie
sie, and dabei Andere geschont, wie sie, dürfe das eroberte Gluck auch voll gO'
messen. Das sei aber eben damals gewesen, dass sie die Sache so angesehen habe.
Die nächst ferneren Schicksale des Mädchens sind für unser Thema von wenig
Interesse. Ich überspringe sie daher und nehme den Faden ihres Abenteuers erst
dort wieder auf, wo Briefe und, jetzt auch Graphologen, das Schicksal meiner
Clientin mitbestimmen halfen.
Nach schweren Erlebnissen und Kämpfen war sie später wieder ins elterliche
Hans zurückgekehrt. Hier ging es ihr allmählich schlechter, sie gerieth immer
mehr in richtige Gehirn-Grübeleien. Sie hatte Niemand, dem sie sich anvertrauen
konnte in den schmerzlichen Erinnerungen über das Erlebte. Im Centrum all ihrer
Gespinste stand als grosse Frage vor ihr: Ist dein Geliebter ein schlechter
Mensch? Aus dem Briefwechsel mit ihm, den sie noch immer fortsetzte, glaubte
sie diese ihr allerwich tigste Frage nicht lösen zu können. Sie, die Ungebildete,
kam nun auf die Vorstellung, dass nur die Schriftauslegung eines Graphologen ihr
diese Frage beantworten könne.
Ihre italienische Berufs^chwester hätte vielleicht die Kartenschlägerin aufge-
sucht; die cultivirtere Deutschschweizerin g^g zum Graphologen. Ich muss aber
meine Clientin wegen des grossen Vertrauens, das sie zu graphologischen Aus-
legungen hatte, noch dadurch in Schutz nehmen, dass ich erwähne, wie sie zum
ersten Male auf die Vorstellung gekommen war, dass das grosse Orakel bei den
Graphologen zu finden sei. Der starkverbreitete „Tagesanzeiger der Stadt Zürich**
bringt in seinem „Briefkasten** — einem wahren Tummelplatz von Naivetäten —
in inuner neuer Wiederholung die redactionelle Empfehlung eines Graphologen in
Zürich für viele angefragten Fälle, in denen Personen erklären, dass sie nicht
wissen, ob sie dem Character eines Ajideren trauen dürfen, z. B. bei Anstellungen,
nnglückticher Liebe etc. Also, die Leetüre dieser Empfehlungen hatte meine
Clientin zuerst auf diesen Ausweg geführt.
Sie wollte also wissen, ob ihr Verfuhrer ein schlechter Mensch sei, und ihn
,.anf ewig** aufgeben, wenn er das sei. Jener Graphologe wurde also mit der Be-
ortheilung der Schrift des Geliebten beauftragt. Da seine Expertise ihr nicht
genügte, — über das „Gut oder Schlecht'* enthielt sie nichts, — so wurden noch
andere Graphologen herangezogen. (Leider hat sie sich nicht an den grossen
Angsburger gewandt, sonst hätte sie vielleicht erfahren können, dass auch ihrem
Geliebten ein Mittagsschläfchen gut thut.) Alle diese Expertisen fand ich in dem
Handkoffer meiner Clientin. Ich bin durch ihre Leetüre weder graphologisch,
noch psychologisch, noch auch „psychographologisch** einen Schritt weiter gekommen.
Das nur nebenbei und ohne irgend welche Animosität gegen diese Herren Schwarz-
künstler.
Nachdem sie gehörig Geld geschwitzt hatte, gab sie endlich den unnützen
Appell an diese Wissenschaft auf.
^tC,
302 A. Grohmann.
Unterdes gerieth sie in immer tiefere Verstimmang. Mehrere Monate nach
ihrer Heimkehr ins Elternhaus erlitt sie einen acuten Anfall von MelanchoHe; wohl
keinen sehr schweren, denn in den besseren Intervallen war sie im Stande, jenen
Hunderte Seiten langen Bericht an mich zu liefern. Auch war mir die relative
Oleichmässigkeit und Festigkeit ihrer Schrift aufgefallen. Den ersten Tag mit
einiger Besserung ihrer Stimmung und besserer üeberlegung, benutzte sie, um an
mich jenen ersten Brief zu schreiben, der mir die ganze Angelegenheit zuführte.
Von Aerzten wollte sie nichts wissen. Sie fühlte sich krank in den Erinnerungen
und für das sucht ein junges Mädchen ihres Standes die Hülfe wo anders. Und
ihr einen Irrenarzt vorzuschlagen, wäre noch aussichtsloser gewesen. Wer kennt
nicht diese Abneigung des Volkes. Den Arzt, den ihr die Mutter kommen lieas
und aufdrängte, wies sie kurzerhand weg.
Wie weit hier Hysterie oder vielleicht nur hysterischer Character und viel-
leicht ein ethischer Defect vorliegt, werden die sachverständigen Leser besser be-
urtheilen können als ich. Die Bekenntnisse des Mädchens haben auf mich in aUen
ihren Details den Eindruck der Wahrheitsliebe gemacht — von beabsichtigter
Schönfärberei und Sichinteressantmachen ging für meine Erkenntniss nichta hervor
— aber ich möchte auf Grund ihrer blossen Selbstschilderung nicht abschätzen,
wie weit sie vielleicht ihre Erinnerungen unabsichtlich fälschte.
Ich kann sagen, dieses Mädchen wurde gesund genau so, wie sie krank ge*
worden war. Sie war brieflich unglücklich verliebt geworden, und mit Briefen
S\^ arbeitete sie sich zur Genesung empor. Vielleicht that ihr das Ablegen ihrer aus-
ti^ führlichen schriftlichen Beichte wohl. Wer mag da entscheiden, was da Alles
mitwirkte? Ihr Verstand hatte sie die Situation wohl ziemlich klar erkennen lassen.
Ausserhalb der ganz schweren Stunden mit einem leichten, d. h. noch ziemlich
gerechtfertig^n Versündigungswahn und einem apathischen Zubettliegen hatte sie
die bestimmte Erwartung, durch mich, und nur durch mich, der Heilung zugeführt
zu werden, und da war meine Aufgabe keine schwere. Was in ihrer Lage auch
vielleicht stark mitgewirkt haben mochte, war die Erinnerung an einige Worte
einer meiner beiden Patientinnen, einer* hysterischen jungen Dame, für die sie
seinerzeit die Arbeitsschürzen genäht hattcT. Die Hysterische musste damals einen
ihrer gewissen Tage gehabt haben; sie hatte mich der Nähterin gegenüber etwas
verhimmelt, und, wohl um sich interessant zu machen, hatte sie ihr die „schreck-
lichen Leiden'' geschildert, aus denen ich sie zu erretten daran seL Das Mitleid
mit dieser „so unglücklichen Patientin'^ hatte die arme Nähterin gerührt; kurz,
diese Worte, von denen ich jetzt erst, so verspätet, erfuhr, hatten auf die Nähterin
gewirkt und so war ich für sie Derjenige, welcher.
Ich rieth der Patientin zu absoluter Kühe. Sie solle jetzt nur au&tehen und
arbeiten, wenn sie entschieden Lust dazu habe. Dann erklärte ich ihr meine feste
Ueberzeugung, dass sie gesund würde. Auf ihre Affaire wolle ich erst eingehen,
wenn ich mich von ihrer vollen Genesung überzeugt hätte; ihr dann allerdings
auch nicht meine ganz offene Meinung vorenthalten. Sie wurde bald besser und
dann, wie sie sagt, ganz geheilt, hat mir die rührendsten Dankesbriefe geschrieben
— für mich die allerüberzeugendsten Beweise von wahrer Genesung (dies natürlich
nur im Sinne der Melancholie), und war nach mehreren Monaten wahrscheinlich
ungeföhr so weit normal als vor Beginn des Briefwechsels mit dem Geliebten.
Und so habe ich nur angenehme Erinnerungen an diese Patientin. Nur Eines
Einiges über Snggeition durch Briefe. 30S
konnte ich ihr, und mit ihr ihren Graphologen, nie yenwihen : Sie hatte sich zuerst
•n diese Schwarzkünstler gewandt und dann erst an mioh! Und doch hatte ieh
ihr so treu gedient in meinen Eigenschaften als Gratis-Berather und v&terUoher
Freund in der Feme, als Quasi- Kartenschläger, Graphologe ad hoc und Gorrespondena-
Fsyciiiater: Erst durch mich wurde sie bewogen, den Mann in der Feme, mit dem
rie 80 viel durchgemacht hatte, als einen schlechten Menschen anzuerkennen und ihm
„aaf ewig*' den Laufpass zu geben.
Die Entdeckung seiner Schlechtigkeit verdankt sie mir allein. Und nur mit
ein psar armseligen Gubikfuss £offerinhalt habe ich das herausbekommen. Herr
Liebe hat mir darin nicht geholfen. Er wird mir das bezeugen können.
Wenige Monate nach dieser durch mich ausgesprochenen Verdammung war
es, dass ein junger Landsmann meiner Glientin nähertrat. Er war aus einem fernen
Lande gekommen, um sich eine Frau zu holen und er hatte es eilig. Er heirathete
meine Glientin und nahm sie viele Tausende Meilen mit sich fort in seine Golonie.
In ihrem Abschiedsbriefe an mich hiess es : sie werde sich aufrichtig bemühen,
eine gate Frau und Mutter zu werden.
Nicht immer findet Verschwendung von Material statt.
Sie kam in ein Land, wo es keine Briefträger giebt. Das wird wohl das
richtige Klima für sie sein.
Dass fiir diese Patientin unter den gegebenen Verhältnissen eine
„briefliche Behandlung" zulässig war, wird mir wohl jeder Arzt zu-
geben, der sich auf die Suggestionstherapie versteht. Und ich glaube,
dass die Fälle, wo eine briefliche Behandlung — die doch sonst so
recht nach dem Curpfuschen schmeckt und eines ehrlichen Arztes un-
würdig ist — gerade das Richtige, oder noch zulässig ist, gar nicht so
selten sein mögen. Es hat eben Alles seine Ausnahmen. Einiges hierher
Gehöriges, das ich aus meinen Erfahrungen schöpfe, möchte ich hier
anfahren : Ich habe bei Hysterischen (beider Geschlechter) und andere
bei Fallen von constitutionellem Schwachsinn, Dementia paranoides und
Dementia praecox (die in nicht ganz jugendlichem Alter eingesetzt
hatten, z. B. mit dem 25. — 30. Jahre), Patienten kennen gelernt, die,
mit einem reichen Erinnerungsleben, aber geschwächt im Wollen und
im Intellect, in der Entschlussföhigkeit beeinträchtigt, oder geplagt
Ton Zweifelsucht und anderen Zwangsvorstellungen, im hohen Grade
bereit sind, sich der Autorität Anderer zu fiigen. Viele dieser waren
durch Briefe ganz besonders leicht zu suggeriren. Elntweder durch-
gehende oder auf speciellem Gebiete sind sie folgsam, gewärtigen
fremde Beeinflussung und wollen ohne sie nicht sein. Es trifft sich
manchmal so, dass man auf Grund von eingesandtem Material (Selbst-
schilderangen im Verein mit Schilderungen durch Andere, auch durch
304 ^ Grohmann.
Aerzte) einen guten üeberblick über einen solchen Fall gewinnt, auch
ohne dass man den Patienten persönlich kennen lernt. In gewissen Fallen
darf manches das nur auf Grund der genauen Körperinspection und
mündlichen Unterhaltung festgestellt werden kann, ignorirt werden, wenn
das, was zu verordnen ist, dieses Andere, Unbekannte, nicht treffen kann.
Welches, mir nicht bekannte, mitconcurrirende Leiden jener Patientin
z. B. hätte durch meine Verordnung etwa getroffen und Terschlechtert
werden können? Hätte sie vielleicht gleichzeitig einen Magencatarrh
oder Mensesbeschwerden gehabt, so hätte das genügend vernünftige
Mädchen sicherlich den Arz tan ihrem Orte dafür zu Käthe gezogen,
und, wenn nicht, mein Kath, wie sie ihre Melancholie zu behandeln
habe, hätte ihr in diesem Nebenleiden nicht geschadet. Ich will ja
mit alle dem nicht briefliche Verordnungen empfehlen, aber ich glaube,
dass sie manchmal zuzulassen sind.
Ich glaube sogar, dass, wo sie am Platze sind, sie sehr am Platze
sein können : Die specifische suggestive Wirkung, die Geschriebenes auf
manche Menschen hat, kann da Wirkungen zu Tage bringen, die weit
über das im mündlichen Verkehr Mögliebe geht.
In unserer verkehrsreichen Zeit — und sie wird natürlich immer
verkehrsreicher — haben wir allen Grund, die vielen, durch die Cultur
neu eingeführten oder wesentlich bereicherten und umfangreicher ge-
wordenen Erscheinungen des menschlichen Contacts kennen zu lernen.
Dass durch Briefe sehr viel Schicksal bestinmit wird, und dass durch
Briefe die merkwürdigsten und verhängnissvollsten Beeinflussungen, be-
sonders geistes- und willensschwacher Menschen entstehen, ist sicher.
Und für mich steht fest, dass Viele durch das geschriebene Wort
stärker zu beeinflussen sind, wie durch den mündlichen Verkehr.
Unter meinen vielen einschlägigen Erinnerungen an Gesunde und
Kranke taucht das Bild eines guten und liebenswürdigen deutschen
Gelehrten hervor. Er war Privatdocent. Er und seine verwittwete
Mutter lebten jahrelang, fast wie ein Ehepärchen, im innigsten Anschluss
aneinander, einsam dahin. Die Mutter stirbt. Eine Haushälterin zieht
ein und der Gelehrte verlebt zwei und ein halbes Jahr als Einsiedler, aber
wie mir schien, ganz behaglich und unbesorgt dahin,, bis ihm an einem
grossen Beinmachetage, wo allerlei Möbel verstellt und verrückt wurde,
die Haushälterin einen versteckt gefundenen Brief übergiebt. Es war
ein zurückgelassenes Schreiben der Mutter, viele Jahre vor ihrem Tode
verfasst. Sie spricht da von einer Sache, die sie mündlich nie erwähnt
hatte: Wenn ich sterbe, musst du dir ein gutes liebes Mädchen zur
Einigefl über Suggestion durch Briefe. 305
Frau nehmen. Du sollst und kannst nicht allein leben. Du bist gar
nicht dazu geschafifen. Du hast nicht nöthig, aufs Geld zu sehen.
Nehme ein gutes Mädchen, die dich lieb hat — Für ihn stand das
fest: Die Mutter hat dich genau gekannt. Und er heirathete. Und er
nahm die Haushälterin.
Wir haben besonders im Briefverkehr mit defecten Menschen
äusserst vorsichtig zu sein. Für specielle Gruppen yon Defecten kann
die Erfahrung und Einsicht eines Einzelnen sich derart entwickeln,
dass er mit ihr zum Wohle dieser Defecten operiren kann.
Sehr oft ist mir aufgefaUen, welch merkwürdige Einflüsse meine
Briefe bei manchen der vielen Psychopathen hatten, die brieflich bei
mir angefragt hatten wegen Eintritt in meine Anstalt. Vorkommnisse
wie das folgende gehören dabei zu den alltäglichsten.
Einem Patienten war von seinem Arzte meine Anstalt verordnet
worden. Er lieferte mir bei der ersten Anfrage kein Material zur Er-
kennung seines Falles, klagte nur über gelegentlichen Kopfdruck und
fing an, wann er mich sprechen könne. Ich schrieb: Nächste Woche ;
später würde ich vielleicht verreisen. Nun folgte eine Reihe von Briefen
(wie ich sie oft von unentschlossenen Psychopathen zu lesen bekomme),
worin er verschiedene Zweifel äusserte, z. B. ob es nicht besser wäre,
jetzt noch abzuwarten u. dgl. Vielleicht entschlösse er sich später, zu
kommen. Zu diesem Zwecke solle ich ihm genau angeben, wann und
auf wie lange ich verreise. Ich kenne diese Pappenheimer, und würde
mich, engagirt nach verschiedenen Sichtungen, durch die jeweilig vor-
liegenden Anfragen, in ein Netz von Compromissen begeben. Ich ant-
wortete daher : Ich kann mich in Bezug auf Datum und Dauer meiner
Reise nicht binden. Er sei auf nächsten Mittwoch 9 Uhr Vormittags
vorgemerkt. Punctum! Der Mann kam pünktlich zu dieser Zeit und
fünf Minuten nach Eintritt ins Zimmer hatte er mich schon mitten ins
Centrum seiner Qualen gesetzt. Er dankte mir mit überströmenden
Ausdrücken dafür, dass ich, ohne auf seine Zweifel zu reagiren, ihm
einfach einen ganz bestimmten Tag zur Berathung vorgeschrieben
habe. Der Mann war ausgeprägt zweifelsüchtig und jahrelang in den
grössten Selbstmartern hin und her geschwankt, unfähig zu jeglichen
Entschlüssen. Ich hatte ihm mit meinem ganz bestimmten Wort die
Pistole vor die Brust gehalten und kein Zaudern, Ueberlegen und
Zweifeln gestattet. Diesem festen Worte und nur ihm, verdanke er,
dass er überhaupt hätte kommen können u. dgl. m.
Zeitschrift für Hypnotisrnns etc. IX. 20
306 A. G rohmann.
Ein anderer meiner Patienten, schon lange im Hause — begabt
mit einem gewissen kritischen Blicke : nm sich her Alles sondirend, wie
weit es wohl auszunützen wäre für seine Genesung — bestellte bei mir
folgende Worte auf einen Zettel zu schreiben :
Lieber Herr So und so, Zürich!
Es wird schon gehen. Machen Sie, was ich gesagt habe
und halten Sie nur aus!
Ihr ergebener A. Grohmann.
Ich beeilte mich, diesen Zauber auf Bestellung zu liefern, und
besser hab' ich's nie gehabt. Genau erklärte mir der Mann — sehr
unnöthiger Weise — wie es doch immer gut sei, Alles Schwarz auf
Weiss bei sich zu haben. Jetzt brauche er nur in die Tasche zu langen
und meinen Brief hervorzuziehen, um sich an meine Wegleitung und an
seine Vorsätze zu erinnern. Dann sei Alles wieder richtig und im Gleis!
Seien wir aufrichtig! Es ist doch manchmal so sehr leicht, ge-
wisse Patienten zu behandeln, dass man's als eine schwierige Kunst
bezeichnen müsste, den unrichtigen Weg zu finden.
Zahlreich waren die Fälle, in denen das EintreflFen eines Briefes
meine Patienten in der merkwürdigsten Weise beeinflusst hat. Auf
den ersten Blick könnte ich sagen: Da ist Alles möglich! Bei ge-
nauem Zusehen entdeckt man freilich, dass auch hier Alles gesetzmässig
zugeht: Mag der eingelaufene Brief sein, wie er mag, immer ist für
seinen Empfanger und alle diese interessanten und iuteressirten Herrn
Mitpatienten, die sich vielleicht in die Angelegenheit mischen, das Eine
feststehend: Zwischen dem gegebenen Individuum, der empfangenen
Nachricht und dem durch sie hervorgerufenen Affecte liegt als ganz
bestimmtes und einzig mögliches Verbindungsglied ein ganz bestimmtes
krankes Gehirn mit seinem Jetztzustande und seinen aufgespeicherten
Erinnerungen.
Wie viel Ueberstürzung und Erzeugung von Afifecten liegt nicht
in jener Nebengattung von brieflichem Verkehr, dem Telegraphiren und
dem Telephoniren!
Die Gesellschaft hat sich diesen neuen Formen des Verkehrs an-
zupassen. Der technische Erfinder hat nur das Instrument geschenkt;
wie die Gesellschaft mit ihm fertig wird, ist ihre Sache, — und unter
Opferung des Lebensglückes und der Gemüthsruhe Tausender ihrer
Mitglieder erreicht sie — und auch nur einen Theil — jener Anpassung.
Einiges über Saggestion durch Briefe. 307
die dem Erfinder mit seinem meistens nur technischen, aber nicht
gesellscbafts-psychologischen Blick in die Zukunft vorgeschwebt hat.
Viele Opfer dieser modernen Verkehrseinrichtungen fallen dem
Arzte in die Hände. Beim Einen hat sie eine schwere Berufsneurose
entwickelt, er ist ihr reines Opfer geworden. Beim Anderen hat
der Missbrauch der Verkehrseinrichtung, oft bei Benutzung zu ganz
eitlen und unnützen Zwecken, den Ausbruch einer Elrankheit bewirkt,
die nur in seiner krankhaften oder schwachen Veranlagung lag.
Die moderne Cafifeehaus« und Theaterbummelei z. B. ist fUr viele
psychopathische Städter nur die letzte Schule in ihrer Selbstschwächung.
Das viele Eisenbahnfahren erzeugt bei manchem Conmiis voyageur
sexuelle Ueberreizung. Und das Bomanelesen der beschäftigungslosen
reichen Dame fuhrt auf andere Abwege.
Jilir kommt es vor, als ob sich bei den von mir zuerst geschilderten
Briefwechselgelegenheiten „in aller Stille^ eine Sache entwickelt hat,
die noch recht stark um sich greifen kann. Denn Viele, die Romane
lesen, wollen auch Eomane erleben. Die arme Nähterin in ihrer Ver-
einsamung tmd die Reiche in ihrer Langenweile können da hineinfallen.
Die Erziehung wirkt zwar als Henmischuh. Mancher, der jede
Frau zu umschlingen sofort bereit wäre, thut es nicht, weil seine Er-
ziehung ihn daran hindert und das sittsame Mädchen kann im gewöhn-
lichen Verkehr die uneinnehmbare Festung sein.
Im Briefwechsel tritt aber für Beide die Wirkung der Erziehung
sehr zurück, denn wir werden nur wenig in der Richtung des Brief-
schreibens erzogen, sondern fast nur in der Richtung des Benehmens
im persönlichen Verkehr.
Es kommen dann, beim geschilderten Briefverkehr, diese zwei Fac-
toren, glaube ich, vor Allem zur Geltung: Beim Manne die polyga-
mische Anlage, wie man das Ding benennt, bei der Frau das Ober-
stübchen, die Grefühlsduselei, die Phantasie, die Gehirngrübelei: Wie
der If ann meistens gleich mit seinen Genitalien liebt, so die Frau recht
oft „nur" im leicht suggerirten Oberstübchen. Der beim persönlichen
Verkehr vorliegende Hemmschuh des allereingefleischtesten Schicklich-
keitsgefühls tritt für sie zurück, wo sie es nicht mit einem real vor ihr
stehenden Manne zu thun hat. Das wird wohl die Norm sein. Es kann
aber natürlich auch bei einem oder bei beiden Partnern der Fall umge-
kehrt liegen, oder es treten für einen Theil Motive ganz neuer, anderer
Art ein, z. B. Gelderwerb durch Erpressung etc., die das Heizmaterial
20*
308 A. Grohmann. Einiges über Suggestion durch Briefe.
für sein Triebwerk liefern, oder es giebt, wie ja meist im Leben, ein
mixtum compositum von vielen Motiven.
Unter dem Schutzmantel jenes Nichtpersönlich einander Gegenüber-
Stehens wachsen dann die Vorstellungen und ihre Wirkungen auf das
gesammte Triebleben heran, bis die Stunde naht, wo auch der schwä-
chere — d. h. hier sittlichere — Theil diesen Schutzmantel wegwirft
und man reif geworden ist für Dummheiten.
Für mich ist es ganz bezeichnend, dass aus einigen MittheilungeD
in jenem KofiFer meiner Clientin, die die Erlebnisse ihrer verschiedenen
Partner schildern, folgendes hervorgeht : Mehrere von ihnen, ebenso ihr
Verführer in jener Nacht ihres ersten Zusammenseins, berichten, dass
sie nach einer langen Correspondenz mit hohen Erwartungen an das
erste Rendezvous mit ihren Correspondentinnen herangetreten seien.
Aber sie seien enttäuscht gewesen. Die Dämchens seien ganz anders
und minderwerthiger gewesen, als sie sich während des Briefschreibens
ausgemalt hätten. Für die hätten sie lieber gar nicht mit der Corre-
spondenz angefangen! Das trifft den Kern der Sache.
Dass es so viele Leute giebt, die sich durch Geschriebenes so
leicht beeinflussen lassen, mag vielleicht zum Theil daher konmien, dass
eben früher Gedrucktes und Geschriebenes viel weniger vorkam und
es mehr nur wichtigere Sachen betraf, wie z. B. Gesetze, Verträge etc.
Daher wurde dem Gedruckten und Geschriebenen als solchem schon
ein grösserer Werth beigelegt, den es auch wirklich besass. Jetzt ist
es zwar zur allgemeinen Verfugung und dadurch entwerthet worden^
aber wir haben die Wirkung durch unsere Voreltern doch in uns auf-
genommen.
Es giebt viel Geld, viel Zeit, viel Schlechtigkeit und viel Dummheit
und Krankheit. Das Alles associrt sich mit den Verkehrsmitteln und
den gesammten modernen technischen Hülfsmitteln unserer Cultur,
und so erzeugt die Gesellschaft immer wieder neue, moderne, culturelle
Mittel zur Erregung und Beeinflussung und zum moralischen Fallisse-
ment; für den Einen das, für den Anderen jenes.
Briefe spielen hierbei eine wichtige Rolle. Ich kann
mit den wenigen mir zu Gebote stehenden Beispielen nichts beweisen.
Aber ich möchte auf diese wichtige Erscheinung hinweisen. Ich
empfehle sie der Aufmerksamkeit der Sachkenner und Beobachter auf
dem Gebiete der Psyche,
Referate und Besprechungen.
Sante deSanctiSt Una Veggente. fiallettino della Societii Lancuiana degii
Ospedali di Roma. Anno XIX, fasc. 1. 1899. 26 Seiten.
Die vorliegende Abhandlung enthält die fjrgebnisse einer Studie über das
12jahrige Bauermnädchen Sestilia Calderina zu Migliano in der Provinz
Perugia in Italien, das im vorigen Jahre viel von sich reden machte und be-
sonders vom Januar bis zum Mai 1898 die ganze Umgegend seines Heimatortes
durch seine Predigten^ Weissagungen, Mittheilungen aus der anderen Welt u. s. w.
in Staunen versetzte und dies um so mehr, als die angebliche Heilige weder lesen
noch schreiben kaxm, nie zur Schule ging und vor dem Ausbruch ihrer Wunder-
gsbe auch die Kirche und den religiösen Unterricht nicht gerade häufig besuchte.
nur einmal des Jahres beichtete und niemals communicirte.
Die Anfangs October 1898 vom Verfasser vorgenommene Prüfung ergab unter
taderem folgenden anamnestischen Befund: Die Kranke ist blass, braun, von sym>
pathischem Ausdruck, KörpergrÖsse 1,40 m. Schlank und gut gebaut, obwohl von
etwas gebückter Haltung. Leichte Asymmetrie des Gesichts. Zygomaticus, Orbita
und Stirn rechts mehr hervortretend als links. Leichte Functionsstörung der
mimischen AntUtzmuskeln rechts. Defect in der Aussprache der Laute s und r
(das r wird ein wenig französisch ausgesprochen). Helix der Ohrmuscheln unregel-
massig, die Darwinschen Knötchen deutlich erkennbar. Das Mädchen ist scrophulös.
Die Kranke scheint erblich belastet, obwohl beide Eltern gesund sind. Der
Orossvater väterlicherseits starb als 72 jähriger an Kummer, ein Bruder desselben
litt im Irrenhaus9 zu Pompeji an Melancholie. Ein Verwandter mütterlicherseits
ist Idiot, ein Bruder der Kranken tuberkulös.
Als kleines Kind zeigte die Kranke nichts Besonderes, sie war jedoch von
lebhaftem Temperament und intelligent. Gegenwärtig überschreitet ihre Ldtelligenz
nicht die mittlere Norm. Bis zum 18. November 1897 hatte sie niemals Anfälle,
sie war unwissend, wie fast alle Mädchen jener Gegend. Sie hatte weder von der
Madonna zu Lourdes noch von der zu Pompeji, noch von anderen ähnlichen
wunderbaren Dingen gehört. Sie hatte ebensowenig auf Jahrmärkten oder sonstwo
Somnambule oder Gaukler u. s. w. gesehen.
Am Morgen des 18. November fühlte sie sich zum ersten Male unwohl. Sie
legte sich darauf nieder und schlief den ganzen Tag lang so tief, dass die Mutter
310 Referate und Besprechungen.
sie am Abend nnr mit Gewalt und durch heftiges Schütteln erwecken konnte. Der
nächste Tage verlief ohne Anfall. Am folgenden verfiel sie fast zur selben Zeit
für viele Stunden in gleich tiefen Schlaf, nachdem sie zuvor eigenthümliche Beib-
bewegungen der Hände und Kälteschauer gezeigt hatte. Von nun an wiederholten
sich die Anfälle regelmässig einen Tag um den andern, immer von jenen Beib-
bewegungen und oft auch von Zuckungen, wenn auch nicht sehr intensiven, des
ganzen Körpers eingeleitet. Anfangs trat der Anfall immer zur gleichen Tageszeit
ein, allmählich verzögerte sich derselbe täglich um weniges, bis er schliesslich immer
am Abend oder in der Nacht eintrat. Bei den ersten Anfallen schlief die Kranke
ruhig ohne zu sprechen und hatte nach dem plötzlichen Erwachen keine Erinnerung
von dem, was vorgefallen war. Später fing sie während des Schlafes an zu reden.
Sie rief anfangs nur die Namen der Eltern und sprach unzusammenhängende Sätze.
Diese wurden später zu längeren Reden und detaillirten Erzählungen über das, was
sie an den Tagen zuvor und in den Stunden vor dem Anfall erlebt hatte. Noch
später sprach sie über Verstorbene, die sie gekannt und über Dinge, die sie vor
langer Zeit erfahren hatte. Nach ungefähr zwei Monaten (Januar 1898) sprach die
Kranke während der ganzen Zeit des Schlafes. Den Inhalt ihrer Beden bildeten
nun Blumen, Engel, das Paradies, das Fegefeuer, die Hölle, die Heiligen, die Ver-
storbenen u. 8. w. Sie verkehrte mit den Abgeschiedenen und beschrieb ebenso-
wohl schreckliche Visionen wie auch Segnungen.
Im Februar und März 1898 trat eine' Veränderung ein. Die Anfälle dauerten
fort (Eintritt gegen 8 oder 9 Uhr Abends), aber die Kranke spricht nicht mehr
immer wie sonst während der ganzen Zeit des Schlafes, sondern schläft zuweilen
in der Nacht ruhig, um gegen Morgen ihre Reden zu beginnen. Meistens sind
während des Schlafs die Augen geöffiiet. Nach dem Erwachen erinnert sie jetzt
zuweilen etwas aus den Traumerlebnissen.
Am Charfreitag, der ein Tag des Anfalles war, blieb dieser aus. Die Kranke
gab an, dass sie heute mit Niemand reden könne. („Oggi non ho con chi dia-
correre, il Signore e morto".)
Der Inhalt der Reden ist fortdauernd mystisch. Sie berichtet aus dem Leben
Christi, über die Mirakel verschiedener Heiligen und der Madonna, ermahnt zur
Busse u. s. w.
Seit Ende August tritt in ihren Reden eine gewisse Gigia auf (Verf. vermathet
die Ettorre di Napoli) und spricht mit ihr über Ereignisse der Zukunft.
In der Folge hat die Kranke auch während des Tages und in anfallsfreien
Nächten Erscheinungen und Visionen. Gott und die Madonna ertheilen ihr Befehle
(„la Madonna ha gli occhi piü splendidi degli specchi, e bella come un raggio di
sole"), sie macht mysteriöse Reisen in weite Fernen.
Sie ist äusserst zurückhaltend gegen Erwachsene, die sie befi'agen, zeigt auch
eine ausgesprochene Schlauheit und Verstellungskunst („il dottore pesca (tenta),
che io gli dica tutte le mie cose, ma mica gliele dico" . . ., ... „siete troppo
grandi (adulti) . . . i grandi hanno la vista grosia . . . Gerte cose belle le possono
veder solo i piccoli (bambini e fanciulli) che sono innocenti"). Einer siebenjährigen
Schwester lässt sie ihre Visionen sehen, tadelt sie aber dann sehr, als sie erfährt,
dass die Schwester darüber Mittheilungen gemacht. Seitdem es einem Arzt ge-
lang, sie zu hypnotisiren, in welchem Zustand sie sprach, wie in ihren Anfällen,
Heferate and Besprechungen. 311
gelingt dies Niemand wieder. Sie wiedersetzt sich jeder genaueren Prüfung, es
war unmöglich^ die Sensibilität an ihr festzustellen.
In letzter Zeit ist die Kranke reizbar und leicht yerletzt, sie weint leicht und
zeigt sich oft feindlich gesinnt gegen ihre Umgebung.
Seit dem Ausbruch der Krankheit ist das Mädchen sehr religiös geworden.
Beim Weiden der Schafe sieht man sie oft knieen und beten. Die £ltem brachten
sie zweimal zum Sanctuarium der Madonna delle Grondicie, um vom Himmel
die Heilang zu erflehen.
Der Verfasser berichtet dann noch über einige angebliche Weissagungen der
Kranken, über die aber keine TÖllig übereinstimmenden Angaben zu erhalten waren
nnd die sichtlich auf Associationsverbindungen zurückzufahren sind.
Die Bedeutung und das Hauptinteresse des beschriebenen Falles liegt wohl
darin, dass die einzelnen Entwicklungsphasen der Krankheit deutlich zu verfolgen
sind nnd ein Verdienst des Verfassers ist es, dieselben unter Anwendung der
modernen psychologischen Erkenntnisse, soweit es die Umstände gestatteten, zu
einem klaren Verständniss gebracht zu haben.
Von hysterischen Anfällen allgemeinen Gharacters, verflochten mit Schlaf-
znständen und gefolgt von vollständiger Amnesie, geht die Krankheit über in einen
Zostand des Schlafredens (sonniloquio), es folgt ein Stadium des reve dclirant
(Gnislain), das dann in den Traum- nnd Dämmerzustand übergeht. Die
Amnesie nach dem Erwachen ist weniger vollständig, die Kranke ist im Stande,
etwas über den gehabten Anfall zu berichten. Endlich dauert der Inhalt des
pathologischen Traumes auch während des Wachbewusstseins fort, die Kranke be-
findet sich in einem Zustande vollständigen mystisch-prophetischem Deliriums, das
man als „hysterische Psychose mit delirirenden Traumanfällen " bezeichnen kann.
(Delirio onirico nach De Sanctis).
Der Verfasser wirft die Frage auf, ob die Entwickelung der Krankheit mit
dem gegenwärtigen Stadium abgeschlossen sei und kommt zu dem Ergebniss, dass^
wenn nicht das Auftreten der Pubertät dem Ganzen eine sexuelle Färbung geben
wird (erinnert wird an das tragische Ende Urbano Gran di er 's und die Ursu-
Hnerinnen zu Loudun 1635) oder wenn nicht einmal die Carabinieri eintreten
werden oder das Interesse des Publikums schwindet, die Krankheit sich zu einer
wirklichen Theomanie entwickeln könne imd das einfache Mädchen von Migliano
als Prophetin und Heilige Anerkennung finde. Der Verfasser denkt wohl an
Lazzaretti. Consulheiro, Louise Lateau u. a.
Fein sind die psychologischen Fingerzeige des Verfassers in Bezug auf die
allmähliche und stetige Zunahme der Traum Vorstellungen, bedingt durch das der
Kranken entgegengebrachte Interesse der Bevölkerung und die Fragen, die man
an sie richtet, durch den engen Connex, in dem sie sich zor Kirche stellt, die
Wunder der Madonna delle Grondicie und der Heiligen, die man ihr erzählt u. s. f.
^Unbewusst" empfangene Eindrücke der weiteren reproduciren sich im Traume
hallucinatorisch mit der Lebhaftigkeit wirklicher Sinneseindrücke. Ein Hauptfactor
für die Erklärung des vorliegenden Falles ist femer die Autosuggestion. Verf»
fugt hinzu: „In Sestilia ist w^eder irgend etwas von Telepathie noch von Te-
lestesie nachweisbar, und überhaupt können Thatsachen dieser Art vielleicht eben-
falls durch wissenschaftliche Hypothesen erklärt werden (Tamburini)".
Zur Diagnose der Krankheit sei noch erwähnt, dass mit dem Verfasser gegen-
312 Referate und Besprechungen.
wärtig die vierte Periode (attaque de delire) der grande attaque hy*
sterique der Schule Charcot's hauptsächlich in Betracht komme.
Den Schluss der Abhandlung bilden noch einige geschichtlich-psychologische
Hinweise.
Je mehr sich die Psychopathologie auf die durch die normale Psychologie
gewonnenen Erkenntnisse stützt, um so grösser wird andererseits der Nutzen sein,
den die letztere aus den Kesultaten der ersteren zu ziehen yermag. £s steht zu
wünschen, dass ähnliche Falle dieser Art durch eine gleich sorgfältige Analyse unter-
sucht werden. Kiesow-Turin.
WiUiam James, Talks to Teachers on Psychology: and to Students
onsomeofLife 's Ideals. New- York, Henry Holt and Company. 1899. 301 S.
Das Buch zerfällt in die beiden Theile "Talks to Teachers" und „Talks
to Students". Das Ganze ist eine Bearbeitung von Vorträgen, die der Verfasser
in Cambridge und an anderen Orten der Vereinigten Staaten vor einigen Jahren
gehalten hat.
Der erste Theil des Buches „Talks to Teachers" enthält 15 Kapitel. Im
ersten "Psychology and the Teaching Art" spricht James sich sehr lobend
aus über das amerikanische Schulwesen, sowie über den Enthusiasmus der Lehrer
und deren Verlangen, in die Psychologie eingeführt zu werden, um ihren Beruf
mit immer grösserem Erfolge ausüben zu können. Die Psychologie, so fuhrt
James aus, kann dem Lehrer eine bedeutende Hülfe sein, aber dennoch darf der
Einfluss, den sie auf den Unterricht auszuüben vermag, nicht überschätzt werden;
denn wenn auch die hier in Betracht kommenden Methoden im letzten Grunde
den psychologischen Gesetzen entsprechen müssen, so können sie doch nicht ohne
Weiteres von diesen abgeleitet werden. Der grosse Nutzen der Beschäftigung mit
der Psychologie besteht für den Lehrenden nach James besonders darin, daas
diese Wissenschaft vor der Anwendung fehlerhafter Methoden schützt, dass sie
femer das instinctiv erworbene Lehrverfahren in richtiger Weise zu beleuchten
und endlich das Interesse des Lehrers für die Individualität der Schüler zu
Wecken vermag.
lieber das in Amerika mit besonderem Fleiss betriebene Studium der Psy-
chologie des Kindes spricht sich der Verfasser dahin aus, dass, so nützlich dasselbe
auch sein möge, es doch nicht als eine unerlässliche Pflicht dem Lehrer aufgebürdet
werden dürfe. Er verficht mit Entschiedenheit die Anschauung, dass Tüchtigkeit
im Lehramt und Tüchtigkeit im Betreiben der Psychologie des Kindes durchaus
nicht immer zusammenfallen: ''The best teacher may be the poorest contributor of
child-study material, and the best contributor may be the poorest teacher." "The
most general elements and workings of the mind are all that the teacher absolutely
needs to be acquainted with for bis purposes".
Im 2. Kapitel "The Stream of Consciousness" giebt der Verf. eine
kurze Darstellung seiner bekannten Auffassung vom Bewusstsein, er streift dabei
frühere Anschauungen vom Bewusstsein und schliesst das Kapitel mit einem Citat
aus Wundt 's Abhandlung „lieber psychische Causalität und das Princip
des psychophysischen Parallelismus'' (Philos. Studien XI, 121fir.).
Das 3. Kapitel ist betitelt: "The Child as a Behaving Organism". Die
heutige Psychologie betont im Gegensatz zu früheren Anschauungen auch die
Referate und Besprechangen. 313
practiflche Seite diese« Studimiifl. Diese Seite hat fUr die Lehrenden besonderen
Werth und wird daher vom Verfasser in dieser Darstellung auch besonders hervor-
gehoben. "You should regard your professional task as if it consisted
chiefly and essentially in training the pupil to beharior'* (das Wort
in «einem weitesten Sinne gefasst).
Im 4. Kapitel, Education and Beharior wird die Erziehung definirt als
„tite Organisation of acquired habits of condnct and tendencies to
behavior'*. ''You should get into the faabit of regarding them (die Eindrücke,
die der Lehrer auf den Sehüler heryorbringt) all as leading to the acquisition by
him (d. Schüler) of capacities for behavlor — emotional , social, bodily, vocal, tech-
oical or what not"
In den folgenden Kapiteln — "The Necessity ofReaction'' — "Natire
Eesctions and Acquired Reactions*' — ^What the Native Reactlons
are" — giebt der Verfasser practische Rathschläge und Regeki für eine erfolg-
reiche Erziehung. ''No reception without reaction, no impression
without correlative expression." Ein Eindruck, der in dem Schüler keine
Beaction hervorruft, ist ein verlorener und psychologisch unvollständiger. Der
Lehrer soll sich mit den angeborenen Reactionen seiner Schüler (Furcht, Liebe,
Wiflsbegierde. Nachahmung, Ehrgeiz u. s. w.) vertraut machen und diese je nach
dem gegebenen Fall auszunutzen, zu unterdrücken oder umzumodeln versuchen.
Kapitel 8 — "The Laws ofHabits" — bebandelt die Macht der Gewohn-
heitj Kapitel 9 die Ideenassociation — "Association of Ideas". "The teacher
can fonnulate his function to himself therefore in terms of association as well as
in terms of native and acquired reaction. It is mainly that of building up
nsefol Systems of association in the pupil's mind/'
Im 10. und 11. Kapitel behandelt Verf. das Interesse und die Aufmerk-
samkeit ("Interest — Attention"). Der Lehrer soll in seiner Thätigkeit
immer von den bereits vorhandenen Interessen des Schülers ausgehen und hieran
anknöpfend neue Interessen in ihm zu wecken suchen. Die Aufmerksamkeit soll
nicht zu oft direct erzwungen werden, es wird erzieherisch mehr erreicht, wenn
dieselbe durch geschickte Behandlung des Gegenstandes immer wieder von Neuem
angefacht wird.
Im 12. Kapitel, in dem der Verfasser die Gedächtnissthätigkeit ("Memory'')
einer Betrachtung unterzieht, kommt er zu dem Schluss: "There can be no
improvement of the general or elementary faculty of memory;
there can only be improvement of our memory for special Systems
of associated things." James bemerkt nebenbei, dass die jetzt veraltete
Kethode des Auswendiglernens gegenwärtig vielleicht doch zu sehr verachtet werde ;
sie bessere freilich nicht an sich die elementare Thätigkeit des Gedächtnisses, wohl
aber liefere sie ein höchst nützliches Material für die Denkthätigkeit.
Die letzten drei Kapitel dieses ersten Theiles behandeln die Erwerbung von
Vorstellungen, sowie die Apperception und den Willen ("the Acquisition of
Ideas, Apperception, the Will"). Ganz allgemein gesprochen kann die £r-
ziehungsthätigkeit aufgefasst werden als "the process of acquiring ideas or
conceptions". Die Apperception ist nach James "nothing more than
the act of taking a thing into the mind." Die Wiilenshandlung ist nach
James stets eine Resultante des Aufeinanderwirkens von Impulsen und Hemmungen.
314 Referate and Besprechungen.
Der Verfasser vertheidigt sich in dieser Darstellung gegen solche, die ihn al»
Materialisten auffassen. £r hebt ausdrücklich hervor, dass er sich nicht zu der
materialistischen Weltanschauung bekenne.
Der zweite Theil des Buches — "Talks to Students" — enthält drei
Kapitel. Im ersten — "theGospel ofRelaxation" — empfiehlt der Verfasser,
sich auf das James -Lange* sehe Gesetz stützend, seinen Landsleuten, stets nach
äusserer Ruhe za streben, aus der dann die innere folgern würde. Die Unruhe der
Amerikaner wird als eine schlechte Gewohnheit bezeichnet.
In den beiden letzten Kapiteln — "On a Certain Blindness in Human
Beings" und "What Makes a Life Significant?*' — findet die individualistische
Philosophie einen enthusiastischen Ausdruck. „Die practische Conseqnenz einer
solchen Philosophie," sagt der Verf. im Vorwort, „ist die wohlbekannte demo-
kratische Achtung vor der Heiligkeit der Individualität, — sie ist in jedem Falle
die äusserliche Toleranz gegen alle, die nicht selbst intolerant sind."
F. Kiesow-Turin.
V. Bechterew. Ueber die Bedeutung der gleichzeitigen Anwen-
dung hypnotischer Suggestionen und anderer Mittel bei der Be-
handlung des chronischen Alkoholismns. — Centralblatt für Nervenheü-
künde und Psychiatrie. April 99. X. Bd.
Verf. theilt die Resultate seiner seit etwa 94 gemachten Beobachtungen über
die Wirkung der hypnotischen Behandlung von Alkoholikern mit. In der Mehr-
zahl der Fälle kamen Heilungen zu Stande. Nur bedurfte es zur Sicherung des
Erreichten von Zeit zu Zeit einer Wiederholung der Suggestionen. Auch bei pe-
riodischer Trunksucht hat Verf. mehrere gute Erfolge erzielt. — In Bezug auf die
Ansicht einiger Autoren, dass die Häufigkeit der Recidive in Abhängigkeit von
dem Grade der Degeneration steht, ist Verf. zu keinem Schluss gelangt. Es er-
scheint ihm aber das umgebende Milieu ein wichtiger Factor zur Herbeiführung
eines Recidivs.
Auch während der Anfälle von Säuferwahn, abgesehen von starken Erregungs-
zuständen der £j-anken, aber trotz fortbestehender Sinnestäuschungen kann die
Hypnose nach Verf.'s. Ansicht augenblicklich Besserung des subjectiven Befindens
zur Folge haben. Besonders wichtig erscheint ihm in solchen Fällen die Suggestion
zur Herbeiführung eines tiefen kräftigenden Schlafes.
Die allergünstigste Wirkung ist nach Verf s. Ansicht in Rücksicht auf die
mit dem Alkoholismus verbundenen somatischen Störungen zu erzielen durch eine
Combination der Hypnose mit anderen Mitteln, eine Behandlungsart, der Verf. sich
seit längerer Zeit zugewandt hat. So verordnet Verf. neben der suggestiven Be-
handlung hydrotherapeutische, beruhigende, erforderlichenfalls regulatorische und
tonisirende Mittel.
Auf Grund seiner Erfahrungen erscheint dem Verf. also die psycho-somatische
Behandlung als die rationellste. van S'traaten- Berlin.
V. Schrertk'Notzing. Zur suggestiven Behandlung des conträren
Geschlechtstriebes und der Masturbation. Eine Berichtigung. Central-
blatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie. Mai-Heft 1899.
Den Inhalt dieser kleinen Abhandlung bildet eine Entgegnung auf einen von
Referate und Besprechnngen. 315
T. Bechterew verfassten und in Xr. 109 obigen Centralblaties erschienenen Auf-
satzes.^) Verf. spricht v. B. die Originalität des Gedankens der Suggestivbehand-
lang ConträrsexQ eller ab, indem er darauf hinweist, dass schon vor 10 Jahren
Y. Krafft-Ebbing, Ladame und Verf. die ersten Beobachtungen suggestiver Be-
Imodlung Conträrsexueller veröffentlicht haben und seither eine ganze Reihe von
Arbeiten über dieses Thema erschienen sind. Als Beleg fuhrt Verf. verschiedene
Arbeiten an. van Straaten-Berlin.
WiUielm Strohmayer^ Ueber Enteritis membranacea und Colica
mncosa. Jena 1898. Dissertation.
Das Slrankheitsbild der Enteritis membranacea, das Verf. zunächst entwirft,
möchte ich in etwas ausführlicherer Weise« als es der Rahmen eines Referats erlaubt,
dantellen, da es wohl nicht allgemein bekannt sein möchte. Der an chronischen
ilggen-, Darmbeschwerden und Obstipation leidende Patient wird in unregelmässigen
Intervallen von intensiven kolikähnlichen Schmerzen befallen, mit denen noch eine
Menge anderer Beschwerden einhergehen. Die Schmerzen sind entweder über den
{ganzen Leib verbreitet, oder werden in die Seiten oder den Rücken verlegt oder
?enan dem Verlaufe des Colon transversum und Dcscendens lokalisirt. Die meisten
Kranken empfinden dabei ein lebhaftes Entleerungsbedürfniss, das sich bis zum
qualvollen Stuhldrang steigern kann. Derselbe hält stundenlang, oft tagelang an.
ImAnschluss an diese Anfälle werden eigenthümliche schleimige, bisweilen membra-
nöse Massen entleert, die verschiedenste Form und Grösse haben. Es sind entweder
Qnregelmässig geformte Membranen von verschiedenster Dicke, die auf den ersten
Blick eine gewisse Aehnlichkeit mit Croupmembranen haben, oder mehr lange
Fäden mit klumpigen Anschwellungen, oder baumförmig verzweigte Convolute,
wieder andere zeigen netz- oder lappenförmige Configurationen, oder endlich sind
sie mehr röhrenförmig, entweder massiv mit Längsfalten cannelirt oder bisweilen
hohl. Die Massen sind grauweiss oder gelblich ; auch braune Färbungen kommen vor.
Nachdem Verf. im Anschluss hieran eine Zusammenstellung der seit den 70 er
Jahren über Aetiologie, Wesen und Therapie der Enteritis membranacea aufge-
stellten Ansichten der Autoren gemacht hat, bringt er 6 Fälle von Enteritis mem-
branacea zur Veröflentlichung, von denen zwei umsomehr unser Interesse bean-
sprachen, als hierbei nach verschiedenen erfolglosen Behandlungsmethoden durch
Faradisation mit suggestiver Beeinflussung resp. Hypnotismus ein dauernder Heil-
erfolg erzielt worden ist.
In dem einen Fall handelt es sich um eine 41jährige Patientin. Dieselbe
hatte 1893 heftige Magenschmerzen mit Bluterbrechen, seit jener Zeit dyspep-
tische Beschwerden. 189Ö kam sie in poliklinische Behandlung. Sie klagte haupt-
sächlich über schmerzhafte Stuhlentleerung mit Abgang von grösseren Fetzen.
Man constatirte bei ihr Zeichen von Eysterie. Wegen Retroflexio uteri wurde bei
ihr im Herbst 1895 die Ventrifixura uteri vorgenommen, wobei eine ^arbe am
Pylorus mit Adhäsionen der Umgebung entdeckt und eine Lösung der Adhäsionen
gemacht wurde. Bis zum Herbst 1896 war das Befinden der Patientin gut. Im
Dezember kam sie wieder in poliklinische Behandlung. Sie klagte über Ver-
. . 0 ^^gl. V. Bechterew, Die suggestive Behandlung des conträren Geschlechts-
triebes und der Masturbation. Diese Ztschr. Bd. 8 pag. 370.
316 Referate und Besprechungen.
daaungsbeschwerden, Seitenstechen, Schmerzen im Rücken und unter dem Rippen-
bogen etc. Vom Status ist bemerkenswerth : Cornea anästhetisch ; ÜTarie; Wirbel-
säule druckempfindlich. Patientin wurde mit Acid. bydrochloric, Ol Sesam, und
kalten Abwaschungen behandelt. Im Anfang des Jahres 1897 hatt« Patientin zu
wiederholten Malen schmerzhafte Stuhlentleerungen mit Abgang von grösseren
Fetzen.
Patientin wurde nun faradisch behandelt und suggestiv beeinflusst (be-
züglich Ernährung, Stuhlgang und der übrigen körperlichen Beschwerden), worauf
eine bedeutende Besserung eintrat. Im Mai des Jahres klagte sie wieder über
Mattigkeit und viel Dui'st, im Juni stellten sich wieder Schmerzen im Rücken ein,
Schmerzen beim Stuhlgang und Fetzen im Stuhl. Nach wiederau%enommener
Faradisation mit suggestiver Beeinflussung und Einnehmen von Liq. ferr. manga-
nat. peptonat. verschwanden die flauptbeschwerden. Das lästige Durstgefuhl, Sod-
brennen nach dem Essen und Kreuzschmerzen blieben bestehen. Membranen
wurden im Stuhl nicht mehr beobachtet.
Im zweiten Fall handelt es sich um eine 26jährige Patientin, die im Jahre
1895 in die Behandlung von Dr. Petersen Düsseldorf trat. Im 19. Lebensjahr
hatte sich bei ihr hochgradigste Obstipation, Appetitlosigkeit, Uebelkeit, furcht-
bares Gefühl von Aufgetriebensein des Leibes eingestellt. Nach der Nahrangs-
aufnahme lästiges Würgen und Aufstossen ; Ausbleiben der Menses, Schmerzen beim
Uriniren und Urinverhaltung. Dabei unlöschbarer Durst, jedoch Unvermögen zu
trinken, weil sofort Uebelkeit eintrat. In den folgenden Jahren versuchte Patientin :
1890 ein Nordseebad, 1891 klimatischen Kurort, dann IVa Jahre lang Massage.
Am meisten wurde sie belästigt durch das Gefühl des Aufgetriebenseins, verbunden
mit krampfartigen Schmerzen im Leib. Die Obstipation wurde vergeblich be*
kämpft. Patientin war psychisch aul's Tiefste deprimirt. Hereditäre Belastung
war auszuschliessen ; ebenso waren keine Zeichen von Hysterie vorhanden. Stets
fanden sich im Stuhl ^/^ — '/« m lange Schleimfäden von verschiedener Dicke, so-
wie kirschgrosse Schleimklnmpen, wenn nach langen Schmerzen auf ein Laxans
Stuhl erfolgte.
Patientin wurde zunächst täglich 2 mal 2 Stunden, oft auch Abends vor dem
Zubettegehen hypnotisirt. Die krampfartigen Leibschmerzen und das Gefühl von
Aufgetriebensein verschwanden. Der Appetit hob sich; der Stuhlgang wurde ge-
regelt. Schleimfetzen befanden sich nach einigen Wochen nicht mehr im Stuhl.
Die Menses kehrten wieder, das Körpergewicht nahm zu, und das psychische Ver-
halten der Patientin besserte sich zusehends. Ende November 1896 war die Pa-
tientin wieder so weit hergestellt, dass sie ihren Beruf als Lehrerin wieder aus-
füllen konnte, und seitdem ein ganz erträgliches Leben führt.
Was die Therapie allgemein betrifft, schlägt Verf. für die Dauer des paroxys-
malen Zustandes zur Entleerung der Schleimmassen Darmirrigationen vor. Als
die Hauptsache erscheint ihm die Behandlung der nervösen Erkrankung und der
habituellen Verstopfung. Das erstere will er erzielen durch Elektricität, Massage,
active und passive Gymnastik, neben einem geeigneten diätetischen und psychischen
Regime. Zur Beseitigung der chronischen Obstipation erscheint ihm die Sug-
gestionstherapie resp. Hypnose als ganz besonders geeignet, auch schreibt er dieser
Therapie einige Bedeutung hinsichtlich des nervösen Leidens zu.
van Straaten-Berlin.
Referate und Bespreohungen. 317
Dr. Aug. Hoffmann: Ueber die Anwendung der physikalischen
Heilmethoden bei Nervenkrankheiten in der Praxis. (Sammlung zwang-
loser Abhandlungen aus dem Gebiete der Nerven- und Geisteskrank! leiten. Heraus-
gegeben von Dr. K. Alt, II. Bd. Heft 3 u. 4,)
Za den physikalischen Heilmethoden im Gegensatze zur Pharmakotherapie
and Emährangstherapie sind zu rechnen die mechanischen Heilmethoden, die Hydro«
therapie, Electro-, Balneo-, Klimatotberapie und die Anwendung der comprimirten
oder verdünnten Luft. Gerade für Behandlung der Nervenkrankheiten werden sie
in der Praxis noch viel zu wenig angewandt. Daran ist einerseits die so vollständig
rerschiedene Beurtheilung des Werthes dieser Heilmethoden schuld — besonders
discreditirt wurden sie, als eine Anzahl von Autoren ihre günstigen Wirkungen
ganz auf Suggestion zurückführen zu müssen glaubten — andererseits aber auch die
mangelhafte Kenntniss und Uebung seitens der practischen Aerztein diesen Methoden,
die auf den Hochschulen so ziemlich ganz vernachlässigt wurden. Zwar werden sie
auch jetzt schon von Specialieten angewandt, doch ist vor zu grosser Zersplitterung
zu warnen und jedem practischen Arzt die Ausbildung in den physikalischen Heil-
methoden und ihre Anwendung dringend zu rathen, da nicht jeder ELranke in der
Lage ist, eine Specialanstalt aufzusuchen. Verf. will nur diejenigen der Methoden
besprechen, deren Anwendung in der allgemeinen Praxis ausführbar ist und rechnet
za diesen Hydrotherapie. Electrotherapie , die mechanischen Heilmethoden, die
Saggestion und Hypnose.
Verf bespricht die physiologische Wirkung der verschiedenen Wasseranwen-
dongen auf den menschlichen Körper und greift aus den zahlreichen Anwendungs-
formen diejenigen heraus, die für die Praxis verwendbar sind. Als solche zieht er
in den Bereich seiner Betrachtungen Vollbad, Halbbad, Abwaschungen und Ab-
klatschungen, Abreibungen, Packungen, Sitz- und Fussbäder. Soole- und Kohlen-
Säurebäder. Wann ihre Anwendung indicirt ist, muss im einzelnen Falle entschieden
werden.
Die geringen Erfolge der Electrotherapie in der Praxis schreibt Verf. zum
grossen Theil der Unkenntniss der Aerzte zu, die in Folge dessen mit mangelhaften
Apparaten nach ganz verkehrten Methoden die Electricität anwenden. In aus-
fohrlicher Weise werden daber vom Verf. die physikalischen und physiologischen
Erscheinungen der Electricität besprochen, die Anwendnngsformen und Indicationen
wieder nur mit einigen allgemeinen Bemerkungen gestreift. Sehr richtig wird be-
merkt, dass wir uns erst dann ein Urtheil über den Werth einer electrischen Cur
werden bilden können, wenn stets genau angegeben werden die Dichte des Stromes,
die Stellung des wirksamen Pols und die Dauer der Anwendung. Auch H. warnt
vor zu starker und zu langer Anwendung.
Von den mechanischen Heilmethoden werden Massage und Gymnastik ganz
karz, die Frenkel'sche Methode der Ataxiebehandlung ausführlicher besprochen;
durch letztere sah auch Verf. einige Fälle günstig beeinflusst. Kurz erwähnt werden
noch die Nägeli' sehen „Handgriffe '^j die Suspensionsmethode von Sayre, die
Anckenmarksdehnung von de laTourette und Ohipault, deren Erfolge zweifel-
haft sind.
Sonderbarer Weise wird nun hier unter den physikalischen Heilmethoden auch
die Suggestion und Hypnose behandelt, „trotzdem sie als psychische Heilmethode
eigentlich eine ganz besondere Stellung einnimmt." Warum? Weil ilossb ach
318 Keferate und Besprechungen.
sie dazu zählt. Zwar am Terkehrten Ort, so findet die arg geschmähte Hypnose
jetzt doch wenigstens hin und wieder Erwähnung in den Lehrbüchern, wenn auch
meist noch eine nicht gerade sehr wohlwollende. Auch Oppenheim widmet in
der II. Auflage seines Lehrbuchs der Nervenkrankheiten dem Hypnotismus und der
Hypnose ganze zwei Seiten. Ich kann es mir nicht versagen, den äusserst charac-
teristischen Inhalt dieser zwei Seiten hier kurz anzugeben. Die Angabe, dass S0^\
aller Menschen hypnotisirbar sind, sei stark in Zweifel zu ziehen. Den breitesten
Raum in der Darstellung beansprucht natürlich die von Charcot gegebene Schil-
derung jener drei Stadien der Hypnose, obgleich Verf. gleich hinzufügt, dass es
Kunstpruducte sind und keine Bedeutung für die Erkenntniss vom Wesen der Hyp-
nose haben! (Warum also werden sie angeführt? Nur aus Pietät oder aus Un-
kenntniss der neueren und besseren Ansichten ? Ref.) Natürlich wird auch die alte
schlechte Eixirmethode zur Herbeiführung der Hypnose empfohlen und angegeben,
das Erwachen einfach durch den Zuruf: Erwachen Sie ! oder durch Anblasen herbei-
zuführen ! 0. lässt der Hypnose wenigstens so viel Gerechtigkeit widerfahren, dass
er ihre günstige Wirkung und Anwendbarkeit bei einer Reihe von nervösen Zu-
ständen zugiebt, andererseits aber zur Vorsicht mahnt, da „sie die Erscheinungen
einer schweren Hysterie hervorrufen kann."
Das nicht ganz drei Seiten umfassende Capitel, das Ho ff mann der Hypnose
widmet, enthält hauptsächlich die bekannte Bern heim 'sehe Beschreibung von der
Einleitung der Hypnose. Auch er erwähnt besonders wieder die Fixationsmethode
zur Herbeiführung der Hypnose und hält leichten Schlaf zur Heilwirkung meistens
für genügend, überhaupt die Hypnose zur günstigen Beeinflussung einzelner Symp-
tome für wohl geeignet, auch ihre Anwendung bei Kindern für angebracht. Wenn
auch alle übrigen dieser vom Verf. aufgestellten Thesen nur sehr bedingte Zu-
stimmung flnden können, so ist wenigstens die letzte um so mehr anzuerkennen,
als es immer noch Autoren giebt, welche, wie esSaenger auf der III. Versammlung
mitteldeutscher Psychiater und Neurologen in Jena leider wieder that, die Hypnose
für künstliche Hysterie erklären und ihre Anwendung bei Kindern gänzlich ver-
werfen. So lange sich unsere Gegner noch so wenig mit der einschlägigen Literatur
beschäftigen, dass sie wie Oppenheim bei der Beschreibung der Erscheinungen
der Hypnose immer noch auf die veralteten Charcot 'sehen Anschauungen zurück-
greifen müssen, und die von neueren Autoren längst verworfenen und als schädlich
erkannten Methoden anwenden, ist es nicht zu verwundern, dass sie nur von Miss-
erfolgen zu berichten wissen.
In dem Schlusscapitel wird die Anwendung der physikalischen Heilmethoden
bei einzelnen Krankheiten des Nervensystems besprochen und zwar bei peripheren
Nervenkrankheiten, Rückenmarkskrankheiten, Gehimkrankheiten , Neurosen ohne
bekannte anatomische Grundlage. Die hier besprochenen therapeutischen Maass-
nahmen sind so allgemein gehalten und enthalten so wenig Neues, auch sind die
Gruppenbezeichnungen so unbestimmt und so wenig ersichtlich, was Verf. dazu ge-
rechnet wissen will, dass es sich nicht lohnt, darauf näher einzugehen, nur einige
Einzelheiten sind hervorzuheben. Bei den „auf einzelne Nervengebiete beschränkten
Elrämpfen" ist nach der Ansicht des Verfs. „von der Suggestionsbehandlung kein
dauernder Erfolg zu erwarten." Bei seinen Anschauungen über die Hypnose nimmt
«8 mich nun allerdings nicht Wunder, dass Verf. zu diesen Resultaten gekommen
ist, dann hätte er sich aber wenigstens durch die Literatur darüber belehren lassen
ßeferate und BesprecfauDgen. 319
solleD, da68 es gerade diese Fälle, die Zwerchfell-, Gähn-, Husten-Krämpfe u. s. w.,
die Tic», Chorea u. s. w. sind, bei denen die hypnotische Behandlung ihre glänzendsten
Resultate zeitigt. Unter den Neurosen ohne bekannte anatomische Grandlage werden
sonderbarer Weise Neurasthenie und Hysterie als völlig analoge Zustände besprochen,
die aaf gleichem pathologischen Processe beruhen, wenigstens werden sie immer
neben einander aufgeführt. Bei ihnen hat der Verf. ebenfalls durch Hypnose trotz
^jahrelangem redlichem Bemühen nie mehr als vorübergehende £rfolge erzielt.**
Aach hier können wir dem Verf. nur rathen, sich durch die Erfolge Anderer eines
besseren belehren zu lassen. Ueberhanpt scheint der Verf. eine befremdende Tren-
nung zwischen Hypnose, Suggestion und Psychotherapie vorzunehmen, die zu den
sonderbarsten Widersprächen führt, was nicht der Fall sein könnte, wenn er sie
zusammen als Ganzes behandelte in ihrer Anwendung und in ihrer Wirkung, wie es
anbedingt geschehen muss. So sagt Verf.: „Mag man gerade bei diesen Krank-
heiten (Neurasthenie und Hysterie) den suggestiven Einflüssen bei den Heilwirkungen
den meisten Raum gewähren, so ist es doch mindestens auffällig, dass dieselbea
hypnotischer und rein suggestiver Behandlung nur in den seltensten Fällen mit
dauerndem Erfolg zugängig sind''; also mit anderen Worten: Mag auch die Sug-
gestion bei diesen Fällen den grössten Theil der Heilwirkung ausmachen, so hat
sie doch bei ihnen keinen Erfolg. Er räth daher gerade zur Anwendung der an
deren Heilmethoden z. B. des faradischen Pinsels, erklärt aber dann seine Wirkung
durch die Vorstellung, dass eine Heilwirkung eintritt, und schliesst: „Letzteres ist
das suggestiv wirksame.** Derartige den Widerspruch in sich tragende Sätze können
nur entstehen, wenn man zusammengehörige Begriffe in der Weise auseinanderreisst,
wie es Verf. thut.
Wenn auch die Nützlichkeit und Zweckmässigkeit der in einzelnen Abschnitten
für den Practiker gegebenen Belehrungen zugegeben werden kann, so muss anderer-
seits hervorgehoben werden, dass die ganze Arbeit doch viel zu skizzenhaft ausge-
fallen ist und viel zu wenig auf die allein lehrreichen concreten Fälle eingeht, um
in der Praxis ein zuverlässiger Kathgeber zu sein. Sollte sie nur eine Skizze sein
und den Arzt eben nur auf neue Hülfsmittel hinweisen, so liegt dafür kein Be-
dürfniss vor, will sie aber wirklich practisch wirken, so scheint sie mir diesen
zweck verfehlt zu haben. Wie man wirklich practische Therapie lehrt, das hat
uns in geradezu mustergiltiger Weise Binswanger^) gezeigt in den der Therapie
gewidmeten Kapiteln seines Lehrbuchs der Neurasthenie, aus denen sich jeder
practische Arzt über die Anwendungs weise der physikalischen Heilmethoden —
natürlich mit Ausnahme der Hypnose — in der erschöpfendsten Weise informiren
kann. Tecklenburg-Leipzig.
Hans Haendj Die psychischen Wirkungen des Trionals. Psycho»
logische Arbeiten von Emil Kraepelin. Zweiter Band, 2. Heft. Leipzig, Verlag
von Wilhelm Engelmann. 1897. S. 326—398.
Die Versuche, welche ungetähr über die Dauer eines Jahres sich erstrecken,
hat Verf. an sich selbst angestellt. Grössere körperliche Anstrengungen, sowie der
Genuss von Narcoticis wurden vermieden. Es wurden „Addirversuche" imd
*) Binswanger, Pathologie und Therapie der Neurasthenie. Jena, Gustav
Fischer 1896. Bef. in d. Zeitschr., Bd. V, pag. 367.
320 . Referate und Besprechungen.
„Zahlenlernen" nach dem Verfahren von Oehrn, „Wahlreactionen",
„Ergographenversuche", „Schreibversuche", „Leseversuche", „Ä^uf-
fassungsversuche", „Associationsversuche" und „Wahlreactionen
nach körperlicher Arbeit" zur Prüfung der Einwirkung des Trionals gewählt.
Selbstverständlich wurden dieselben Experimente auch ohne dieses Mittel ausgeführt,
um die normale psychische Leistung zu ermitteln.^)
Die Ergebnisse der einzelnen Versuchsreihen werden zahlenmassig angegeben
und gesondert besprochen. Auf die Einzelheiten einzugeheu, ist hier nicht möglich.
Es mag genügen, das Schlussresultat aus den sämmtlichen Versuchen hier wörtÜdi
wiederzugeben. Es lautet:
L Trional beeinträchtigt die Auffassung und verändert sie
zugleich im Sinne einer Vermehrung von Illusionen.
U. Trional erschwert die centrale Auslösung coordinirter Be-
wegungen.
Daraus erklärt sich hinlänglich seine erfolgreiche Verwendbarkeit als Schlaf-
mittel. Die Zuführung einer kleineren oder grösseren Dosis hat auf die Versuche
keinen wesentlichen Unterschied ergeben. Laute nb ach -Berlin.
Georg von Voss, lieber die Schwankungen der geistigen Arbeits-
leistung. Psychologische Arbeiten von EmilKraepelin. Zweiter Band, 3. Heft.
Leipzig, Verlag von Wilhebn Engelmann. 1898. S. 399-449.
Die Versuche wurden mit dem Kraepelin'sohen Apparat ausgeführt, als
Methode wurde diejenige der fortlaufenden Additionen gewählt. (Die Richtigkeit
der Summen wurde nicht beachtet.) Versuchspersonen waren der Verf. selbst, ein
Dr. O. und cand. med. D. Die Experimentirzeit betrug bei den beiden letzteren
4 Tage je eine Stunde, bei ersteren 8 Tage je eine Stunde. Die Lebensweise der
Versuchspersonen während dieser Zeit war gleichmassig, in Bezug auf Alcohol
waren sie abstinent.
Die Resultate dieser Versuche werden betrachtet in Hinsicht auf „die Länge
der Additionszeiten" und auf deren „Abweichungen vom Mittelwerth",
femer wird „die Dauer der Schwankungen" berücksichtigt. Auch bei diesen
Versuchen kommen „persönliche Verschiedenheiten" in Betracht, insofern
als Gewöhnung, Uebung, Antrieb etc. sich bei den einzelnen Versuchspersonen ver-
schieden äussern. Auf eine Wiedergabe der Einzelheiten, welche in einer Anzahl
Tabellen dargestellt und im Anschluss daran jedes Mal besprochen werden, kann
hier nicht näher eingegangen werden.
Die am Schluss dieser Abhandlung gegebene „Zusammenfassung der
Ergebnisse** vergleicht die gefundenen Resultate mit denjenigen früherer Autoren
und findet, dass die Arbeitsschwankungen den Aufmerksamkeitsschwankungen ent-
sprechen, welche in centralen Processen begründet sind.
L au tenbach -Berlin.
*) Da das Trional bekanntlich, wie Verf. auch selbst angiebt, noch am folgenden
Tage nachwirkt, so kann ich das Verhalten an demselben aber nicht als normal
betrachten. Anm. d. Ref.
Der Fall Sairter.
(Mordversuch und suggeiirte AnstiftuDg zu neunfachem Morde.)
Verhandlung vor dem oberbayrischen Schwargericbt in Künchen am 2. Oct. 1899.
Von
Dr. Freiherm TOn Schrenck-Notzing- München.
I.
München, den 21. Juni 1899.
Anklageschrift
des kgL Staatsanwaltes am kgl. Landgerichte München I
gegen
Santer, Katharina, geboren den 28. Juli 1865 eu München, daselbst beheimathet,
aosserelieliche Tochter der Anna Utz, später verehelichte Hermann, katholisch,
Metzgermeistersehefrau hier, seit 18. April 1899 in Untersuchungshaft im kgL Land-
gerichtsgefangnisse München I, noch nicht bestraft,
wegen
Mordversuch u. A.
Gegen die oben bezeichnete Person erhebe ich hiermit folgende Anklage:
Katharina Sauter erscheint hinreichend verdächtig:
L Den Entschluss, einen Menschen zu tödten, durch vorsätz-
liche und mit Ueberlegung ausgeführte Handlungen bethätigt zu
haben, welche einen Anfang der Ausführung des beabsichtigten,
aber durch einen von ihrem Willen unabhängigen Umstand nicht
zur Vollendung gekommenen Verbrechens des Mordes enthalten,
indem sie
in der Zeit zwischen Mitte Februar und April 1899 in ihrer Wohnung im Brd-
^etehoss des Hauses Nr. 4 an der fiuttermelcherstrasse in München in der Absicht,
ihren Ehemann Anton Sauter zu tödten, diesem ein nach ihrer Meinung hierzu
geeignetes Pulver in die von ihm benutzten Socken streute, wobei jedoch das
Verbrechen durch den von ihrem Willen unabhängigen Umstand, dass das ange*
wandte Mittel — geschabte Enzianwunel — vollkommen unschädlich war, nicht
zur Vollendung gelangte;
Zeltaclirifl fOr HypnoÜsmu eto« DL ^^
322 V. Schrenck-Notzing.
II. fortgesetzt in Ansführung eines einheitliclien rechts-
widrigen Entschlusses einen Anderen zur Begehung eines Ver-
brechens schriftlich und mündlich aufgefordert und an letztere
Aufforderung die Gewährung von Vermögensvortheilen geknüpft
zu haben,
indem sie
in Ausführung eines einheitlich gefassten Entschlusses, mehrere ihr missliebige
Personen aus dem Leben zu schaffen, an verschiedenen Tagen in der Zeit von
Mitte Februar bis 15. April 1899 mündlich und am 14. April 1899 Abends gegea
7 Uhr unter gleichzeitiger schriftlicher Aufzeichnung ihres Verlangens die Musikers-
ehefrau Katharina Gänzbauer in deren V^ohnung im ersten Stocke des Hauses
Nr. 9 an der Palmstrasse in München aufforderte, folgende Personen in der nach-
bezeichneten Reihenfolge zu tödten, nämlich
1. ihren Ehemann, den Metzgermeister Anton Sauter hier,
2. Mathilde Zauner, Directrice hier,
3. Therese Zauner, Ladnerin hier,
4. Franziska Becher, Kindsmädchen bei Sauter hier,
5. Adam Bachmaier, Schenkkellner hier, früher bei Sauter.
6. Elisabeth Koch, Polizeicommissärswittwe hier,
7. ihre 3 Ejnder Josef, Otto und Katharina Sauter hier,
wobei sie der Gänzbauer für den Fall des Gelingens der Tödtung der vorbenannten
Personen die sämmtlichen Kleider ihres Ehemannes Anton Sauter, dann ein Paar
Brillantohrringe und zuerst 100, später löO, 350 und endlich 1000 Mk. versprach
und ihr schon während obigen Zeitraumes öfter unentgeltlich Fleisch, zweimal
kleinere Geldbeträge und am 15. April 1899 nochmals 5 Mk. gab. Das Ergebnis»
der Voruntersuchung ist Folgendes:
Katharina Sauter unterhielt seit dem Sommer 1898 ein Liebesverhältniss mit
dem Schauspieler Georg Seufert hier und hegte die Absicht, sioh mit diesem zu
verehelichen, sobald ihre bestehende Ehe gelöst wäre. Zu letzterem Zwecke fasste
sie den Entschluss, ihren Ehemann Anton Sauter, mit dem sie in unglücklicher
Ehe lebte, zu beseitigen und wandte sich deshalb ungefähr Mitte Februar 1889
an die Musikersehefrau Therese Gänzbauer hier, welche ihr als V^ahrsagerin und
Kartenschlägerin bekannt war.
Bald nach dem ersten Besuch machte sie Letzterer den eigentUahen Zweck
ihres Kommens klar und verlangte von ihr, sie solle ihr behilflich sein,, ihren
Ehemann auf unauffällige V7eise zu beseitigen. Dieses Verlangen stellte Sauter
immer dringender und liess ihren festen Entschluss, um jeden Preis den Tod ihres
Mannes herbeizuführen, mit solcher Bestimmtheit durchblicken, dass die Gänzbauer
sich entschloss,. scheinbar auf ihr Verlangen einzugehen, um dadurch zu verhüt-en,.
dass die Sauter selbst Hand anlege, und weil sie hoffte, dass die Sauter doch bald
wieder zu einer besseren Einsicht kommen werde.
Frau Gänzbauer gab daher vielleicht Ende Februar oder etwas später, genau
kann sie diese Zeit nicht mehr bezeichnen, der Sauter ein Pulver, das sie in die
Socken ihres Mannes streuen sollte und welches die Eigenschaft habe, ihren Mann ganz
unauffällig zu beseitigen.
In V^irklichkeit war es geschabte Enzianwurzel und hatte natürlich keine
tödtende Kraft.
Der Fall Sauter. 323
Frau Sauter hat dieses Pulver thatsächlich angewandt und es in die Socken ilirea
Ehemannes gestreut, um ihn dadurch zu tödten. Sie leugnet zwar den Gebrauch
des Palyers, aber sie wird dadurch überführt, dass die Gänzbauer auf Eid hin angiebt,
dsss die bei der Sauter in deren Wohnung vorgefundene und zu Gerichtshanden
gebrachte Menge des besagten Pulvers mindestens um einen Theelöffel weniger sei,
als sie ihr auisgehändigt habe, und dass die Sauter kurze Zeit, nachdem sie das Pulver
erhalten habe, wieder zu ihr gekommen sei und sogleich zu ihr gesagt habe:
pWas hast du mir denn jetzt da gegeben, mein hundahäuterner Kerl — ihren
Mann meinend — verreckt ja nicht, er frisst für Sechse und läuft wie ein Wiesel,**
wodurch sie die nutzlose Anwendung des Pulvers der Gänzbauer vorwarf, obwohl
sie alle Socken ihres Mannes vollgestreut habe.
Frau Sauter hat aber bei ihren häufigen Besuchen bei der Gänzbauer auch noch
die Beseitigung weiterer Personen als nur ihres Ehemannes verlangt, indem sie
alle Jene getödtet wissen wollte, welche ihrer Verbindung mit dem Schauspieler
Seufert hindernd im Wege stehen würden.
Sie forderte die Gänzbauer auf, vor Allem ihren Ehemann zu beseitigen^
dann aber auch eine Mathilde Zauner, die Geliebte des Schauspielers Seufert,
deren Schwester Therese, dann ihr Kindsmädchen Franziska Becher, einen früheren
Metzgerburschen Adam Bachmaier, dann eine Elise Koch, welche einmal bei
Saater's wohnte, endlich ihre Kinder Josef, Otto und Katharina. Sie versprach,
der Gänzbauer zuerst 100 Mk., dann immer mehr, 160, 360 und sogar 1000 Mk.„
wenn sie es zu Wege brächte, dass diese Personen unauffällig aus der Welt gingen»
Sie versprach ihr ferner die Kleider ihres Mannes und ein Paar Brillantohrringe.
Gleichzeitig suchte sie durch kleinere Gaben, wie Fleisch und Geldbeträge, die
Gänzbauer für ihr Vorhaben zu gewinnen.
Frau Gänzbauer ging auf diese Zumuthung scheinbar ein und verlangte die-
Photographieen der Personen, welche sie aus der Welt schaffen sollte.
Die Sauter überbrachte ihr hierauf die Bilder der oben bezeichneten Personen,
Insbesondere aber am 14. April 1899 hat sie die Gänzbauer, welche in-
zwischen Anzeige bei der kgl. Polizeidirection München erstattet hatte, zu beredeu
versucht, die Tödtung der ihr missliebigen Personen endlich auszuführen.
Das zwischen der Gänzbauer und Sauter an diesem Tage geführte Gespräch
wurde von dem Sicherheitscommissär Bossert und dem Criminalwachtmeister
Malkmus ohne Wissen der Sauter belauscht und giebt Letzterer, als Zeuge ver-
nommen, an, dass die Sauter von der Gänzbauer nochmals befragt wurde, wie sie
denn eigentlich die Beseitigung der verschiedenen Personen bewerkstelligt haben
wolle. Frau Sauter habe der Gänzbauer hierauf nochmals ihre Absicht klar aus-
gesprochen und sie aufgefordert, der Sache endlich ein Ende zu machen.
Als Frau Gänzbauer hierauf erwiderte, in 5 bis 6 Tagen seien schon einige
todt, sagte die Sauter; „Länger darf es wenigstens mit dem Alten nicht dauern."
Als die Gänzbauer fragte, auf welche Art die Leute beseitigt werden sollten,
entgegnete Frau Sauter, dass es ihr am liebsten wäre, wenn sie der Schlag treffe,
aber nicht in ihrem Hause, damit sie kein Verdacht treffe.
Die Gänzbauer legte der Sauter sodann ein Blatt Papier vor, damit sie darauf
schriftlich die Reihenfolge und die Namen der Personen schreibe, welche beseitigt
werden sollten.
Frau Sauter schrieb hierauf folgenden, bei den Acten befindlichen Zettel: >
21*
S24 V. Schrenok-Notzing.
Anton, bis Dienstag geh du ins Himmelreich f f f
Mathilde, geh du ins Himmelreich f f f
Theres f t t
Franziska, geh du ins ewige Reich i* f f
Adam t t +
Elisabeth, gehst in das ewige Reich i* i* f
Josef, Otto, Katharina, 3 Kinder geht ins
Hierdurch hat Frau Sauter auch schriftlich die Aufforderung an die G^nzbaaer
gestellt, die bezeichneten Personen zu tödten.
Nach den Aussagen des Zeugen Malkmus hat die Sauter bei der vorerwähnten
Unterredung mit der Gränzbauer derselben öfter wiederholt, dass sie dieselbe belohnen
werde und zwar versprach sie ihr 100 Mk. sofort, wenn der Alte — ihr Ehemann
Anton Sauter — weg sei, ebenso dessen sämmtliche Kleider ; ebenso versprach sie
der Gänzbauer ein Paar Ohrringe und noch weiteres G-eld, wenn alle Personen
beseitigt seien.
Frau Sauter gebrauchte hierbei unter Anderen auch folgende Worte:
„Du bekommst Alles bei Heller und Pfennig, Geld, Ring, Kleider, mehr wird's
nicht brauchen. Sei aber vorsichtig, damit es nicht heisst, ich habe ihnen was
angefhan, wie du es machst, das ist mir gleich, nur bis Dienstag muss er — ihr
Ehemann — weg sein, mit Resel pressirt er nicht so. Adam und Koch müssen
gleich nach dem Alten kommen ; Adam ist wohl krank, es geht so nicht mehr lange
bei ihm und ein Schlag trifft ihn ja so leicht. Resel kann in 6 Wochen, die
Kinder erst bis Mitte Juli daran kommen.^
Gegenüber diesen Zeugenaussagen kann dem Leugnen der Angeschuldigten
ein Gewicht nicht beigelegt werden. Diese Handlungen sind gemäss R.St.G.B.
§§ 211, 43, 49a, 74 als ein Verbrechen des Versuches zu einem Verbrechen des
Mordes in sachlichem Zusanmientreffen mit einem fortgesetzten Vergehen der
Aufforderung zur Begehung eines Verbrechens zu verfolgen.
n.
Die Terhandlnng ^)
vor dem oberbayrischen Schwurgericht am Montag, den 2. October 1899.
Schon vor Beginn der festgesetzten Zeit machte sich vor dem Schwurgerichts-
saale ein grosses Gedränge bemerkbar. Ein starkes Polizeiaufgebot regelte den
Verkehr. Die ControUe beim Betreten des Saales wurde mit Rücksicht auf die
colossale Zahl der Neugierigen mit grösster Strenge und Genauigkeit durchgeführt,
in wenigen Minuten war der Zuschauerraum, in den noch einige Reihen Bänke
provisorisch eingestellt waren, bis zum letzten Platze gefüllt. Das weibliche Ele-
ment war besonders stark vertreten.
Die Anklage vertritt Staatsanwalt Dr. Schneider, die Vertheidigung führt
Rechtsanwalt Dr. Bernstein. Der Gerichtshof wird gebildet aus dem Vorsitzenden
2 Nach den Stenograph. Berichten in den ^^Münchner Neuesten Nachrichten*',
ugsbnrger Aben^eitung" und dem „Bayrischen Kurier*'.
Der Fall Sauter. 326
OberlandesgerichUrath Klein und aus den Beuitsern, den Landgerichtsrätheo
Dr. Rothgangl und Kählmann.
Die Spannung der Zuschauer erreichte ihren Höhepunkt, als die Angeklagte,
TOD einem Schutzmann begleitet, in den Saal geführt wurde. Alles erhob sich
Ton den Sitzen, um »sie'' zu sehen. Die Augen zu Boden schlagend, nahm sie auf
der Anklagebank Platz. Sie zeigt ein röUig gebrochenes Aussehen. Ihr Antlitz
ist von einer geisterhaften Blässe; die Wangen sind tief eingefallen, die Augen
glaozlos in den von dunklen Bingen umgebenen Augenhöhlen steckend. Sie trägt
ein schwarzes Seidenkleid mit Spitzen, ein rothgelb garnirtes Capothütchen auf
dem schwarzen Haare. Einen kurzen hastigen Blick sendet sie auf die sie mit athem«*
loser Spannung betrachtende Menge. Dann stiert sie, während gesetzliche Forma-
litäten erledigt werden, vor sich auf den Boden. Nach einem langen Blicke auf
die ernste schweigsame Schaar der Geschworenen bricht sie in convulsiTisches
Weinen aus und verhüllt lange Zeit mit dem Taschen tuche ihr Gesicht.
Zur Verhandlung sind 15 Zeugen und 3 Sachverständige, Professor Dr.
Jiesserer, Oberarzt Dr. Yocke und Dr. Frh. v. Schrenck-Notzing, geladen.
Vor Eintritt in die Verhandlung stellt der Staatsanwalt den Antrag, die
Oeffentlichkeit aus Gründen der Sittlichkeit ganz oder theilweise auszuschliessen.
Das Gericht beschliesst, die Oeffentlichkeit nur während der Vernehmung der
Zeugin Gänzbauer auszuschliessen. Nach Verlesung des Eröffnungsbeschlusses wird
in das Verhör der Angeklagten eingetreten. Zunächst wird constatirt, dass die
Angeklagte seit 26 Jahren verheirathet ist und 9 Kinder gebar, wovon 5 noch
am Leben sind und zwar im Alter von 6 — 18 Jahren.
Die Angeklagte stellt sowohl den Mordversuch an ihrem Ehemann, als auch
die Anstiftung zur Beseitigung anderer Personen entschieden in Abrede und er-
zählt den Sachverhalt wie folgt: Sie habe die Kartenschlägerin Gänzbauer im
Januar laufenden Jahres kennen gelernt und zwar sei sie von einer ihr bekannten
Frau an erstere empfohlen worden. Die Gänzbauer habe ein Ei in ein^Wasserglas
geschlagen und habe ihr daraus wahrgesagt. Die Gänzbauer habe gesagt, sie sehe
in dem Glas lauter Grabsteine ; das bedeute, dass in nächster Zeit in der Sauter*schen
Familie verschiedene Todesfälle eintreten würden; auch der Mann und drei Kinder
der Sauter seien darunter; es seien mindestens 7 — 8 Gräber zu sehen.
Ferner sagte die Gänzbauer, die Sauter werde noch zwei grosse Geldgewinnste
machen und im Herbst werde sie ihr Geschäft verkaufen und sich auswärts etwas
Anderes kaufen ; in einem Jahre werde sie glücklich, in zwei Jahren überglücklich.
Femer habe die Gänzbauer gesagt, die Sauter hätte schon früher zu ihr kommen
sollen, nachdem ihre Ehe schon seit Jahren eine unglückliche gewesen sei. Da-
durch, dass die Gänzbauer sich gut über die Verhältnisse der Sauter unterrichtet
zeigte, sei letztere veranlasst worden, der ersteren alle ihre Familienangelegenheiten
anzuvertrauen. Der Plan, die verschiedenen Personen zu beseitigen, sei nicht von
ihr, sondern von der Gänzbauer ausgegangen. Letztere habe gesagt, sie habe mehr
Gewalt als irgend sonst Jemand, ihr könnte nicht einmal ein Gerichtsherr etwas
anhaben. Das Pulver, das nach Annahme der Anklage zu dem Mordversuch be-
nutzt wurde, habe ihr die Gänzbauer allerdings auf ihren Wunsch gegeben; aber
aie habe das Pulver nicht zur Beseitigung ihres Mannes gewollt, sondern sie habe
geglaubt, durch die Anwendung des Pulvers werde ihr Mann, der oft sehr heftig
und gewaltthätig gewesen sei, beruhigt. Sie habe das Pulver lediglich für ein
326 V. Schrenck-Notzing.
Sympathiemittel gehalteu. Ihr Mann habe sie Öfters mit dem Revolver und dem
Messer bedroht; auch habe er ihr vor ihren Kindern so schmähliche Namen ge-
geben, dass sie dadurch die Achtung ihrer Kinder eingebüsst habe. Die eheUchen
Zwistigkeiten seien hauptsächlich dadurch entstanden, dass sich immer fremde
Leute in ihre Familienangelegenheiten einmischten; ihr Mann sei sehr kleinlich
gewesen und habe Alles geglaubt. Sie habe in den 25 Jahren ihrer Ehe nichts
Anderes gewollt, als das Beste ihres Mannes und ihrer Kinder und habe das
Geschäft grösstentheils allein geführt. Die Ausdrücke „Hundshäuterner Kerl** etc.
gebraucht zu haben, will sich die Angeklagte nicht mehr erinnern, sie giebt aber
die Möglichkeit zu, dass sie diese in ihrer Aufregung gebraucht haben könne. Dass
sie mit Seufert ein intimes Yerhältniss gehabt habe, giebt die Angeklagte nach
anfänglichem Leugnen ebenfalls zu, dagegen stellt sie den intimen Umgang mit
anderen Männern in Abrede. Davon, dass ihr Mann bis zum Namenstag des
Seufert „weg'* müsse, sei nie die Rede gewesen, ebenso wenig habe sie die Be-
seitigung der anderen Personen gewünscht. Alle diese Mordpläne seien von der
Gänzbauer ausgegangen, die bei jeder Gelegenheit gesagt habe, der und der müsse
auch noch weg; wenn es nach dem Willen der Gänzbauer gegangen wäre, wäre
halb München vergiftet worden. Die Angeklagte leugnet auch, der Gänzbaaer
eine Belohnung versprochen zu haben. Den Zettel, auf welchem die Reihenfolge
der Beiseiteschaffung der verschiedenen Personen angegeben ist, habe sie lediglich
auf die Aufforderung der Gänzbauer hin geschrieben; sie habe gar nicht gewusst,
wie die Gänzbauer dazu komme, und sie sei einfach von dieser überrumpelt worden.
Es wird noch constatirt, dass die Angeklagte dem Seufert zu dessen Namenstag
einen Brillantring um 550 Mk. gekauft hatte, der aber nicht in die Hände des
Seufert gelangte, weil inzwischen die Verhaftung der Sauter erfolgte. Es wird
sodann zur Zeugenvernehmung geschritten. Herr Seufert ist nicht erschienen^
sondern hat von Oesterreich aus, woselbst er sich aufhält, ein ärztliches Zeugniss
eingesandt^ dass er durch Krankheit am Erscheinen verhindert sei.
Zunächst spricht sich der als Sachverständiger vernommene Apotheker
Dr. Bedall dahin aus, dass es mit dem von der Frau Sauter angewendeten Enzian-
Pulver vollständig unmöglich sei, einen Menschen aus dem Leben zu schaffen;
es sei lediglich ein Mittel zur Anregung der Verdauung.
Der Zeuge Dr. Oustor wird sodann auch noch als Sachverständiger beeidigt
und erklärt auf die Fragen des Sachverständigen Freiherrn Dr. v. Schrenck-
Notzing, dass die Angeklagte an Blutungen, Schwindelanfällen und damit ver-
bundener Gleichgiltigkeit und Zerstreutheit litt. Sie habe oft zu Zeiten arbeiten
müssen, zu denen sie eigentlich arbeitsunfähig gewesen wäre. Auf die Frage des
Landgerichtsarztes Professor Dr. Messer er, ob die Angeklagte je unzurechnungs-
fähig oder geistig gestört gewesen sei, so dass sie nicht für ihre Handlungen ver-
antwortlich gemacht werden könne, muss jedoch Dr. Custor mit Nein antworten.
Die Zeugin Fanny Becher, bei deren Erscheinen die Angeklagte in Wein-
krämpfe verfällt, giebt an, dass die Angeklagte gegen ihre Kinder wohl streng,
immer aber für sie besorgt war und es ihnen an Nichts fehlen liess. Ihrem Mann
gegenüber war die Angeklagte kurz. Streitigkeiten gab es zwischen den Eheleuten
nur, wenn der Mann etwas von seiner Frau erfuhr, was nicht recht war. Miss-
handelt hat der Mann die Frau nie. Von einer Drohung gegen die Zeugin weiss
diese nichts; nur sagte die Angeklagte einmal, wenn die Zeugin bei einer Dienst-
Der Fall Sauter. 327
«ntlassung auch das Het2eQ anfange, lasse sie sie einsperren. Zar Gänzbauer ging
die Zeagin mit der Angeklagten nach Yorhergegangener Besprechung der Beiden
unier sich. Die Zeagin erzählt femer von den schwindelhaften Manipulationen
der Gänzbauer. Diese habe schlimme Einflüsse auf die Leute geübt, die zu ihr
kamen. Von Drohungen ihres Mannes hat die Angeklagte der Zeugin auch er-
zählt. Das Verhör der Zeugin über den Gesundheitszustand der Angeklagten wird
bü zum Ausschluss der Oefientlichkeit ausgesetzt.
Zeuge Anton Heiler, Metzgermeister und Magistratsrath, weiss nicht, dass
die Frau Sauter ihre Kinder schlecht behandelt hat. Der Zeuge kennt die Ange-
klagte nur als tüchtige Geschäftsfrau.
Auch die Zeugin Stöckl, eine langjährige Bekannte der Angeklagten, giebt
an, dass die Angeklagte ihre Eander gut behandelt habe. Im Frühjahr sei die
Angeklagte zu ihr gekommen, habe geweint und habe gesagt, sie sei unglücklich.
Die Zeugin Stiefel deponirt gleichfalls, dass sie die Angeklagte seit langen
Jahren als gute Mutter und tüchtige Hausfrau kenne.
Die Zeugin Elise Maier war bei der Sauter bedienstet. Sie deponirt, wie
die Torhergehenden Zeugen, dass die Angeklagte alle ihre Kinder lieb hatte und
eine sehr tüchtige Hausfrau und Geschäftsfrau war.
Der Metzgerbursche Adam Bachmaier war früher 18 Jahre bei Sauter. Er
hält die Angeklagte für etwas barsch gegen ihre Kinder, aber für eine fürsorgliche
Mutter. Zeuge Bachmaier steht auch auf der Todescandidatenliste. Er weiss
keinen Grund dafür.
Die Angeklagte giebt an, die Gänzbauer habe gesagt, er mtisse weg, weil er
80 lange bei Sauter gewesen und zuviel Ton ihr, der Angeklagten, wisse. „Ich
sagte ihr noch: ,Was der weiss, fürchte ich nicht.* Die Gänzbauer aber sagte:
^er ist ja schon krank und an dem liegt nicht yiel, wenn ich ihm etwas anthue^''
Die Zeugin Anna Wambrechtshammer, Dienstmädchen bei Sauter, giebt an,
dass die Angeklagte wohl streng, aber doch pflichttreu gegen ihre Kinder war.
Von Streitigkeiten zwischen den Eheleuten weiss die Zeugin nichts. Von einem
eingestreuten Pulver in den Socken hat die Zeugin nichts gemerkt. Dass die
Sauter die eheliche Treue nicht hielt, hat die Zeugin durch Hörensagen yernommen«
Die Zeugin Mathilde Zauner, Directrice bei Bäcker Seidl, bezeichnet den
Verkehr mit Seufert als einen lediglich freundschaftlichen. Die Angeklagte zeigte
ihr gegenüber nie, dass sie eifersüchtig sei. Sie hätte auch gar keinen. Grund
dazu gehabt. Die Annahme der Gänzbauer, dass Seufert in seinem Verkehre mit den
Schwestern Zauner Grund zur Eifersucht gegeben habe, ist der Zeugin unbegreiflich.
Die Zeugin Therese Zauner, die Frau Sauter schon elf Jahre kennt, behauptet,
dass Frau Sauter ihre Kinder gut erzogen habe. Auch sie kann sich nicht yor-
Btellen, wie sie auf die Liste der zum Tode Bestimmten kam.
Frau Elisabeth Koch, Polizeicommissärswittwe, weiss ebenfalls keinen Grund
^aför zu finden, dass sie auf die Liste kam. Frau Sauter habe ihr aus der Noth
geholfen, indem sie ihr 2000 Mk. lieh. Sie habe einen Schuldschein ausgestellt.
Dabei sei ausgemacht worden, dass das Geld im Falle des Todes der Mutter der
Zeugin zurückbezahlt werden solle. lieber die Erziehung der Sauter'schen Kinder
weiss sie nichts Nachtheiliges zu berichten. Am 8. April sei sie zum letzten Male
nüt Frau Sauter zusammengekommen. Dabei habe Letztere kein auffallendes Be-
nehmen an den Tag gelegt.
328 ^* Schrenck-Notzing.
Mit der Vernehmung des Criminalwachtmeisters Malkmus, der am 14. April
mit Gommissär Bossert Frau Gänzbauer aufsuchte und dabei Zeuge des zwischen
der Gänzbauer und der Angeklagten geführten Gespräches wurde, nimmt die Ver-
handlung für die Angeklagte eine ungünstige Wendung. Der Zeuge giebt an, er
und sein College hätten durch ein an der Thüre des Nebenzimmers angebrachte»
Loch Alle9 gehört. Auf die Anregung der Gänzbauer, nun müsse die Sache ein-
mal vorwärts gehen, habe die Sauter deutlich erklärt, bis zum Namenstag des
Schorschl (Seufert) müsse er (ihr Mann) weg sein. Im Uebrigen bestätigt der
Zeuge die schon in der Voruntersuchung von ihm angegebenen Aeusserungen der
Sauter über die Beihenfolge, in der die Personen beseitigt werden sollten und
wiederholt bestimmt auch die Aeusserung der Sauter hinsichtlich ihrer Ver-
sprechungen an die Gänzbauer. Die Sauter habe deutlich gesagt, es wäre ihr am
liebsten, wenn ihren Mann der Schlag treffe, aber nicht in der Wohnung, damit
kein Verdacht auf sie falle. Anfangs sei die Angeklagte sehr erregt gewesen,
später sei sie ruhiger geworden. Von einer Heirath mit Seufert hat der Zeuge
nichts gehört.
Auch dieser bestimmten gravirenden Aussage gegenüber bleibt die Sauter
auf ihrem Leugnen stehen, schiebt alle Schuld auf Gänzbauer und behauptet, dass,.
wenn es auf Letztere angekommen wäre, die halbe Stadt weggeräumt worden wäre.
Sicherheitscommissär Bossert hatte nach Anbringung der Anzeige die weiteren
Becherchen zu pflegen und ebenfalls die arrangirte Zusammenkunft zwischen der
Sauter und Gänzbauer zu überwachen. Die Gänzbauer war dem Zeugen bis zum
14. April unbekannt. Er traf die Vorbereitungen so, dass er vom Nebenzimmer
aus nicht nur hören, sondern die Angeklagte auch sehen konnte. Die Angeklagte
verlangte, dass vor Allem ihr Mann weg müsse. Jedoch solle die Sache nicht
aufföllig gemacht werden, damit kein Verdacht auf sie falle. Als die Angeklagte
eintrat, schien sie erregt zu sein. Das kam daher, dass sie vorher bei Seufert war
imd ihre Zeit knapp geworden war. Später war ihre Ruhe so starr, dass der
Zeuge empört darüber war und gerne hervorgekommen wäre. Sie nannte mit
grösster Buhe die Beihe Derer, die weggeschafft werden sollten. Auch als später
auf der Strasse Herr Malkmus sie ansprach, war es erstaunlich, welche Buhe die
Frau zeigen konnte. Der Zeuge hatte mit Bedacht die Gänzbauer veranlasst, der
Angeklagten schriftliche Geständnisse zu entlocken. Für ihren Mann hatte sie nur
die Bezeichnung „der Hundshäuter'^. Bei der Erwähnung des Seufert war sie
geradezu verzückt. -Der Plan, den die Angeklagte entwickelte, war der, dass sie
nach dem Tode ihres Mannes ins Gebirge gehen wolle, ihrer „Nerven'' wegen,
und dass inzwischen die Gänzbauer die Kinder wegräumen solle. Ihre Buhe war
dabei so empörend, dass der Zeuge nahe daran war, die Verhaftung sofort vor-
zunehmen. Nicht die Gänzbauer, sondern die Angeklagte war die Macherin der
Pläne. Die Angeklagte stand unter keinerlei Druck von Seite der Gänzbauer.
Als Belohnung waren 100 Mk. und dann 600 Mk. genannt worden, wobei noch
mehr versprochen wurde. Auch die Ohrringe, die sie trug, versprach die Ange-
klagte der Gänzbauer. 100 Mk. und die Kleider des Mannes sollte die Gänzbaner
sofort bekommen, wenn der „Alte'^ weggeschafft sei und die Angeklagte „ihren
Schorsch" haben könne.
Um 3% Uhr wird die Verhandlung wieder aufgenommen, nachdem die Oeffent-
lichkeit der Verhandlung ausgeschlossen worden war.
Der Fall Sauter. 329
Es kommt sodann cum Aufruf die Zeugen Katharina Gänzbauer, eine Frau
in mittleren Jahren, die sehr aufgeregt den Gerichtssaal betritt. Auf Antrag der
Vertheidigung wird die Strafliste der Zeugin verlesen. Darnach ist die Zeugin
schon 21 Mal ron verschiedenen Gerichten vorbestraft, und zwar wegen Land-
itreicherel, Diebstahls, gewerbsmässiger Unzucht, Vergehen gegen die Sittlichkeit^
Uotenchlagung, Betrug und Gaukelei. Die Strafen sind zum Theil ziemlich er-
heblich.
Die Zeugin deponirt: Die Sauter kam mit ihrem Dienstmädchen freiwillig
SU mir. Ich prophezeite ihr aus einem £i, dass sie in ihrer Familie Sterbefälle
haben werde. Sie erzählte mir sodann ihre Verhältnisse, erzählte von der Eifer-
sucht ihres Mannes und von ihrer Liebe zu einem gewissen Seufert. Sie sagte,
lie möchte ihren Mann, den „hundshäutigen Kerl*^, los werden. Später kam sie
mit dem Ersuchen, ich möchte ihr helfen, den Mann wegzuschaffen. Ich hatte
die Frau nicht f&r vernünftig gehalten, und habe ihr zugeredet, solche Pläne auf-
logeben, wir kämen sonst alle Beide ins Zuchthaus. Ich gab ihr Enzianpulver
oüd sagte ihr, sie solle es in ihres Mannes Socken streuen oder in einen Rock
einnähen, dann werde sie vor der Eifersucht ihres Mannes Ruhe bekommen. Ich
gab ihr auch den Rath, zu beten, dass sie auf andere Gedanken komme. Sie
brachte mir dann später noch eine Anzahl von Photographien und sagte mir, ich
loll alle diese Leute aus dem Wege schaffen. Dabei redete sie von ihrem Manne
in den abscheulichsten Ausdrücken. Sie sagte auch, das, was ich ihr gegeben,
tauge nichts, und sie machte dabei die bereits in der Voruntersuchung bestätigte
Aeosserung, ihr Mann „esse immer noch für sechs und laufe wie ein Wiesel''.
Nicht aber um ihren Mann zu tödten, gab ich ihr das Mittel, son-
dern um ihr und mir Ruhe zu schaffen. Ich habe ihr auch gesagt, daa
Mittel tödte nicht, sondern es schaffe ihr nur Ruhe vor ihrem Manne. — Auf den
Vorhalt des Vorsitzenden, dass die Zeugin früher gesagt habe, sie habe der Ange-
klagten das Mittel ala Mittel zum Tödten gegeben und ihr auch gesagt, dass daa
Mittel tödte, behauptet die Zeugin auf Eid hin, sie habe der Angeklagten aus-
drücklich gesagt, das Mittel tödte nicht, es schaffe ihr nur Ruhe vor ihrem Mann
ond nehme diesem die Gewalt über sie. Des Ferneren deponirt die Zeugin^
dass die Angeklagte sie immerfort gedrängt habe unter dem Versprechen, ihr Geld
und die eigenen Ohrringe zu geben, wenn sie (Zeugin) der Angeklagten ein Mittel
zur Beseitigung des Mannes gäbe. Daraufhin erst habe die Zeugin der Ange-
klagten das Enzianpulver gegeben.
Auf Antrag des Staatsanwaltes und des Vertheidigers wird die Aussage der
Zeugin zu Protokoll genommen, wobei besonders Nachdruck darauf gelegt wird,
dass die Zeugin der Angeklagten nicht erklärte, dass das Pulver tÖdtlich wirke^
sondern dass sie nur gesagt, dass ihr das Pulver Ruhe vor ihrem Mann schaffen würde.
Weiter deponirt die Zeugin, es seien ihr in stetiger Steigerung von der An->
geidagten bis zu 1000 Mk. geboten worden, wenn sie (Zeugin) bis zum Namenstag
ihres „Schorschek'^ den Mann aus dem Wege räume. Die Zeugin kommt hierauf
ZQ dem Verhältnisse der Angeklagten mit dem Schauspieler Seufert und weiteren
Liebhabern der Sauter, welche Niederlegungen delicater Natur sind, jedoch zur
Thatsache selbst wenig Bezug haben. Einen Theil der Photographien habe die
Sauter per Dienstmann zur Zeugin geschickt; auch habe sie die kostbaren Ge-
schenke, welche für den Seufert bestimmt waren. Zeugin habe sich an ein Bureau
330 V. Schrenck-Notzing.
gewendet, als Ihr die S&che nicht mehr geheuer vorkam, und hierdurch sei die
Sache zur Anzeige gekommen. Die Begegnung in der Wohnung der Gänzbauer,
woselbst die Tödtung der betreffenden Personen auf eine Liste geschrieben wurde,
schildert die Zeugin ebenso, wie in der Anklageschrift angegeben. Ganzbauer
giebt an, dass sie die Liste der zu tödtenden Personen wohl der Sauter angesagt
habe, jedoch nur auf deren Wunsch, damit die Reihenfolge feststehe, wie die
Sauter die Personen zu tödten wünschte. Auch habe sie der Sauter angerathen,
weisse Mäuse zu kaufen, welche ihrem Manne das „Genick abbeissen^. Die Sauter
habe ihr aber Geld gegeben, um weisse Mäuse anzuschaffen, was sie auch gethan
hätte; denn sie gebe zu, dass sie Alles, was sie der Sauter vorgemacht habe, den
ganzen Hokuspokus selbst nicht glaube; auch bezüglich der Prophezeiung, dass
Mitglieder der Sauter'schen Familie bald sterben müssen, giebt die Gänzbauer zu,
dass sie dies Yorherzusagen nur deshalb vermöge, da — alle Menschen sterben
müssten! Die Zeugin wird von Staatsanwalt, Yertheidiger und einzelnen Ge-
schworenen ordentlich ins Gebet genommen. Auch muss am Schlüsse ihres Ver-
hörs die Zeugin zugeben, dass sie der Sauter vorgemacht habe, sie habe Mittel,
welche geeignet sind, Zuneigung oder Abneigung bei Jemand hervorzurufen. —
Sofort wird nun von Seiten des Vorsitzenden der Zeugin klargemacht, dass sie
unter Umständen sich eines Betruges bezichtige, und deshalb auf diesbezügliche
Fragen die Antwort verweigern könne. — Die Gänzbauer erklärt jedoch mit
seltener Offenheit, dass sie selbst nichts von ihren Prophezeiungen geglaubt habe,
sie wahrsage eben den Leuten nur das, was ihnen angenehm sei (!). — Bezüglich
der Tödtungsabsicht der Sauter an ihren Kindern und den anderen Leuten erklärt
die Gänzbauer damit, dass die Sauter alle Leute „weg^ haben wollte, welche ihr
im Wege standen, oder um das Verhältniss der Angeklagten mit dem Senfert
wussten. Als Motiv der Anzeigeei*stattung giebt sie an, damit die Sauter, welche
sie für nicht zurechnungsfähig erklärte, verwahrt werde (!).
Als letzter Zeuge erscheint der Ehemann der Frau Sauter, Herr Metzger-
meister Anton Sauter. Derselbe erklärt, sich als 2euge vernehmen zu lassen.
Seine Frau fängt laut zu weinen an. Herr Sauter giebt an, er sei seit 25 Jahren
mit der Angeklagten verheirathet, er sei mit ihr im Ehescheidungsprocesse, weü
sie ihm untreu gewesen, wie schon im ersten Jahre ihrer Ehe, so auch heute noch.
Seine Frau habe verschiedene Verhältnisse gehabt, mit einem Metzgermeister
Sumper u. A.; von dem Verhältnisse mit Seufert habe er zu spät erfahren.- Er
giebt zu, dass er seine Frau einmal mit Erschiessen bedroht habe; Pulver habe
er keines in seinen Socken entdeckt; wenn ihn einmal die Füsse gebrannt hätten,
so könne dies von den Stiefeln auch herkommen. Auch mit den Kindern sei sie
bis zur letzten Zeit, woselbst sie dieselben manchmal mit Schimpfworten belegt
hatte, sehr gut gewesen. Vor 3 Jahren, als sie gerade ein Verhältniss mit einem
jungen Burschen gehabt habe, haben sie in ihn gedrungen, ein Testament zu
machen, bis er sich eine solche Anspielung verbeten habe.
Der FaU Sauter. 331
in.
Gutachten der Sachyerstliidigeii. *)
Der Sachverständige Oberarzt Dr. V o c k e leitete sein Parere mit
dem Hinweis auf das Aufsehen ein, das die ,)A£faire^ seinerzeit erregt
hatte. Als damals die Kunde zu ihm gedrungen sei, dass eine bisher un-
bescholtene und angesehene Bürgersfrau yerhaftet worden sei, weil sie eine
Reihe yon Personen, darunter sogar den eigenen Ehemann, aus der Welt
habe schaffen wfllen, da haben wohl Viele, darunter auch ich, gedacht,
dass man es mit einer geisteskranken Person zu thun habe. Auch die
Staatsanwaltschaft erachtete es für angezeigt, nach dieser Richtung hin
Erhebungen zu pflegen und Frau Sauter beobachten zu lassen. Herr
Prof. Dr. Messerer und ich unterzogen uns dieser Aufgabe im Ge-
fängniss am Anger. Die Frage ist nun die: Hat sich die Sauter zur
Zeit der That in einem Zustand Ton Bewusstlosigkeit oder krankhafter
Störung ihrer geistigen Kräfte befunden, durch den ihre freie Willens-
bestimmung ausgeschlossen war? Bei Beantwortung dieser Frage muss
man berücksichtigen, dass sie sich heute nicht ohne Grewandtheit ver-
theidigte und ein gutes Gedächtniss aufzuweisen hatte. Bei mündlichen
TTnterreduDgen im Gefängniss sind mir nun allerdings Zweifel in die
Zurechnungsfahigkeit der Sauter aufgestiegen. Durch die lange Haft,
durch ihre, wenn auch selbstverschuldete, unglückliche Ehe, durch ihr
körperliches Leiden, namentlich aber dadurch, dass sie, nachdem die
Sache aufgekommen war, von ihrer Familie gänzlich yerstossen worden
ist und ihr bis dahin genossenes Ansehen verloren hat, ist ihr Gemüths-
znstand wie überhaupt ihr ganzer psychischer Zustand derart geworden,
dass man ihn nicht mehr als normal bezeichnen kann. Ich würde Be-
sorgniss tragen, sie sich selbst zu überlassen. Allein ich habe nichts
wahrnehmen können, was dafür sprechen würde, dass sie zur Zeit der
That geisteskrank gewesen wäre. Die Zeugin Gänzbauer sagte, sie
habe an Verfolgungs-, Liebes- oder Mordwahn gedacht. Für Annahme
eines Verfolgungswahns sind absolut keine Anhaltspunkte gegeben, und
es kann als Motiv zur Handlung von diesem kaum die Bede sein.
Auch in Bezug auf die Annahme von Mordwahn haben sich irgend-
welche positive Anhaltspimkte nicht ergeben. Dass die Sauter endlich
*) Die Gutachten von Dr. Vocke und Med.-Kath Dr. Messerer sind dem
Beferat in der „Münchner Zeitung'' entlehnt.
332 '^' Schrenck-Notzing.
namenlos verliebt war, hat der Grang der Verhandlung ergeben, und
weon auch nach dem Sprichworte Liebe blind macht, so kann keine
Eede davon sein, dass sie der Zurechnungsfähigkeit beraubt. Was
nun die Beseitigung des Ehemannes anbelangt, so ist es wahrscheinlich
und logisch begreiflich, dass sie es gerne gesehen hätte, wenn ihr Mann
gestorben wäre, aber psychologisch ganz unlogisch ist es, wenn sie in
dem Zettel die Beseitigung einer Reihe anderer Personen verlangt. £s
ist ferner aus dem Vorleben der Angeklagten psychologisch nicht er-
klärbar, wie sie, die ihre Kinder gut erzogen hat und eine musterhafte
Hausfrau war, auf einmal dazu kommen sollte, ihr%g Slindem etwas
zu thun und warum sie gerade bei zwei eine Ausnahme gemacht wissen
wollte. Noch schwerer begreiflich ist es wegen der übrigen Anzahl
Personen, die ihr nie etwas in den Weg gelegt hatten, mit denen sie
theilweise freundlich verkehrte. Am auffallendsten ist es, warum sie die
Koch beseitigen wollte, mit der sie so freundschaftlich war, dass sie
ihr mit Geld aushalf. Die unglückliche Ehe, die heftigen Blutungen
seit mehreren Jahren und das seit zwanzig Jahren währende Unter-
leibsleiden lassen es als zweifellos erscheinen, dass sich die Sauter in
einem abnormen Zustand befand, der durch die Gänzbauer genährt
wurde. Nun geschah das Unglaubliche: dass die Frau vollkommen
von den Prophezeiungen der Gänzbauer eingenommen war. Es muss
also fremder Einfluss geherrscht haben. Es muss dann die Gänzbauer
sehr bald gemerkt haben, dass sie der Sauter etwas Angenehmes sage,
wenn sie von den Todesfallen spreche. Dadurch gewann die Gänzbaaer
das unbedingte Zutrauen der Sauter. Bedenkt man nun ihre Gemüths-
depression, so kommt man dazu, zu sagen, dass der bewusste
Zettel grösstentheils das Product einer von der Gänzbauer ausgeübten
Suggestion war. Das, was die Sauter unterschrieb, war Formel einer
Kartenschlägerin. Dann geht es Schlag auf Schlag. Das Auffallende
ist nur, dass von dem anzuwendenden Mittel nichts gefunden wurde.
Die ganze Sitzung vom 14. April stand unter dem Einfluss der Ganz*
bauer. Es ist kein vernünftiger Grund einzusehen, warum die Sauter
die Personen beseitigt wissen wollte. Es ist daher wahrscheinlich, dass
die Frau Sauter in Folge der Erlebnisse der letzten Monate und ihrer
Gesundheitsverhältnisse sich zur Zeit in einem Zustande der Ver-
zweiflung befand. Sie war zur Zeit der That nicht geistig gestört,
noch hat sie sich in einem Zustande betunden, durch den ihre freiQ
Willensbestimmung ausgeschlossen gewesen wäre. Sie ist aber eine
Person, die ganz sicher ihrer Ueberlegung damals nicht so Herr war,
Der Fall Sauter. 388
dasft Jemand nicht in weitgehendstem Maasse seinen unheilvollen Einfiuss
hkie ausüben können, und ich habe die feste üeberzengung, dass die
guae Scene Tom 14. April das Produet des Einflusses der Frau Ganz»
baner ist Die Frau Sauter stand geradezu unter dem psychischen
Bann der Gänzbauer. Unter diesem ist die Proscriptions- Liste ent-
standen, weil es sonst psychologisch unerklärlich ist, wie die Sauter
Personen, denen sie gewogen, ist beseitigen wollte. Die aufgestellte
Liste ist nicht das Produet der Frau Sauter, sondern der Gänzbauer.
Der zweite Sachyerständige, Medizüialrath Prof. Dr. Messerer,
sagt aus: Ich hatte den Auftrag bekommen, den Geisteszustand
der Frau Sauter zu untersuchen und mich zu ihr ins Gefängniss
begeben, mit ihr gesprochen und meine Beobachtungen ange-
stdlt. Ich will mich kurz fassen und mein Resultat mittheilen: Ich
habe keinerlei Störung in der Geistesthätigkeit der Angeklagten wahr-
genommen, wodurch ihre freie Willensbestimmung aufgehoben gewesen
wäre. Wenn ich sagen soU, was flir einen Eindruck die Angeklagte
auf mich gemacht hat, so geht mein Gutachten dahin, dass sie in
sexueller Hinsicht sehr erregbar, dass sie femer dumm und heftig
ist Dass sie in sexueller Hinsicht sehr erregbar ist, das brauche ich
wohl nicht des Weiteren auszuführen, dass sie dumm ist, beweist ihr
ganzer Verkehr mit der Gänzbauer, dass sie heftig ist, hat die heutige
HauptTCrhandlung ebenso klar bewiesen. Man erstaunt, wenn man hört,
dass eine Frau den Auftrag gegeben, zehn Menschen umzubringen,
wenn man dies ohne Erklärung hört; wenn man aber weiss, dass sie
mit den Proscribirten im besten Einyernehmen gelebt hat, so muss
man sagen, das kann nur ein Narr thun. Das Verhalten wird erst ver-
ständlich, wenn man sich in die Situation der Frau Sauter hineindenkt, und
namentlich, wenn man den Einfluss der Frau Gänzbauer berücksichtigt.
Offenbar hatte Frau Sauter den Wunsch gehabt, dass ihr Mann, mit dem
sie sich nicht vertrug, aus dem Leben scheide, sie hat den Wunsch
gehabt, mit dem Geliebten ungestört zusammenleben zu können, da
konmit sie nun mit der Kartenschlägerin zusammen, die setzt ihr die
Erfüllung ihrer Wünsche in sichere Aussicht. So ist es sehr leicht
begreiflich, • dass sie sich der Gänzbauer ganz überantwortete , und
zweifelsohne hat die Gänzbauer einen grossen Einfluss auf die An-
geklagte ausgeübt. Ich habe wiederholt mit der Sauter gesprochen
und sie hat immer überzeugend und klar geredet. Bezüglich des Mord-
tersuchs an ihrem Mann hat sie gesagt, sie wollte ihn nicht umbringen,
aoi\dem ihn nur in ihre Gewalt bekommen. Vor vier, fünf Monaten
334 ▼• Schrenck-Notzing.
ist die Frau noch ganz anders gewesen. Jetzt ist sie bleich, eingefallen^
weinerlich; lebensüberdrüssig. Sie hat mir gesagt, sie werde in die Isar
gehen, wie es auch ausfallen werde, sie habe Alles verloren, die FamiUe^
das Geld, die Kinder. Vor Monaten noch war sie heftig und drohte,
siö werde die Gänzbauer meineidig machen. Soll ich mein Gutachten
zusammenfassen, so muss ich sagen, dass ich die Angeklagte für toU*
ständig zurechnungsfähig halte, dass aber wohl ihre ünterleibsleiden
yon schädigendem Einfluss auf ihre Denkfähigkeit gewesen sind. Ich
betone, eine geistige Unzurechnungsfähigkeit im Sinne des Paragraph
61 ist nicht gegeben.
Dr. Frhr. von Schrenck-Notzing giebt das nachfolgende
hier ausführlich wiedergegebene Gutachten ab:
Meine Ausführungen stützen sich einmal auf das Studium der
Acten, ferner auf eine mehrmalige persönliche Untersuchung der An-
geklagten in der Angerfrohnfeste^ und endlich auf das Ergebniss der
heutigen Hauptverhandlung.
Frau Katbarina Sauter, Metzgermeistersgattin ist 44 Jahre alt
Vater (Gastwirth) starb im Alter von 64 Jahren angeblich an Nieren-
leiden, ebenso die Mutter an Nierenerkrankung, 62 Jahre alt. Vaters^
bruder köpf- und nierenleidend, Vatersschwester im Klimakterium,
geistig nicht normal. Eine Schwester der Patientin starb in Folge einer
Frühgeburt. Die häufigen Nierenleiden in der Familie sind mögUcher-
weise auf Alcoholmissbrauch zurückzuführen.
Frau S. will in der Schule nur mittelmässig gelernt haben. Ihre Men-
struation trat ungewöhnlich früh, schon mit 11 Jahren ein und zwar unter
Schmerzen. Mit 12 Jahren Oophoritis und Peritonitis. Den anormalen
Erscheinungen in den Entwickelungsjahren entsprechen, wie das öfter zu
beobachten ist, die krankhaften Symptome im Klimakterium. Mit 14
Jahren Gelenkrheumatismus. Mit .6 Jahren trat die Angeklagte in
den Dienst, mit 17 Jahren Defloration; 18 Jahre alt verehelichte sie
sich. Schon damals waren die Menstruationen regelmässig begleitet
von erheblichen Störungen des Allgemeinbefindens.
Im Ganzen gebar Frau S. 7 Kinder, erlebte 1877 den ersten
Abortus und musste sich wegen schwerer Unterleibsstörungen einer
2 Jahre dauernden ärztlichen Behandlung unterziehen. Trotzdem bei.
der dritten Schwangerschaft 1883 von Neuem Abortus. Endometritis,
Uterinblutungen mit Lebensgefahr. In den Jahren 1884, 87, 91, 94
wiederum Schwangerschaften, Uterinblutungen, Krampfadem und andere
Unterleibsstörungen. ^
Der Fall Sauter. 335
1893 auf 94. Sturz you einer Treppe mit darauffolgeDder Früh-
geburt Patientin will bewusstlos gewesen sein. Offenbar Gehirner-
schüttemng. £in Kind der Frau S. starb 1887 an Tuberculosen ein
zweites 1892 an Masern und Pneumonie.
Dass die fortgesetzten Störungen der Unterleibsfunctionen bei einer
schon durch erbliche Belastung reizbaren Frau einen nachhaltig schäd-
liehen Einfluss auf die nervösen und psychischen Vorgänge ausüben
mussten, bedarf wohl keiner weiteren Begründung. So finden sich auch
eine ganze Keihe Ton Anhaltspunkten, die bereits vor dem Klimak-
teriam bestanden und sich mit dem Eintritt desselben erheblich
steigerten.
Seit etwa IV« Jahren ist Frau S. in das Klimakterium eingetreten,
wie ans der Unregelmässigkeit der menstrualen Functionen hervorgeht.
Bald Amenorrhoe während dreier Monate, bald minimaler Blutabgang
in Abständen Yon 14 Tagen. Das Klimakterium ist bekanntlich für
reizbare Frauen eine gefahrliche Zeit, weil vielfach bei dieser Ge-
legenheit schlummernde Dispositionen zu geistigen und sonstigen Er-
krankungen zum Ausdruck gelangen.
Schon seit Jahren leidet Frau S., wie auch der Hausarzt be*
stätigt, an schweren Migräneanfallen mit Schwindel, Erbrechen, Oefuhle
von Betäubung etc. Zeitweise dadurch völlige Arbeitsunfähigkeit. In
letzter Zeit Zunahme des Schwindels, so dass Frau S. geuöthigt war,
sich festzuhalten und an einem Stocke zu gehen. Während der Menses
Steigerung der nervösen Erregbarkeit, Empfindlichkeit gegen Geräusche.
Hierzn traten besonders während der letzten Jahre eine auffallende
geistige Verstimmung, eine gemüthliche Depression, die oft länger an-
hielt, ohne dass äussere Veranlassung dazu vorhanden gewesen wäre.
Dazu ein Gefühl der Unsicherheit, schwimmender Bewegungsempfindung,
cutane Hyperästhesieen, Empfindung von Jucken und Brennen auf der
Haut, krankhafte lästige Empfindungen von Hitze, Congestivzustände
(besonders im Kopf). Erhebliche Schlafstörungen, schwere Träume,
hypnogogische Hallucinationen mit dem Character der Verfolgung. So
glaubt die Angeklagte z. B., dass sich Jemand in ihr Schlafzimmer
eingeschlichen habe. Sie will sogar wachend Gesichtshallucinationen
gehabt haben.
Herzklopfen, Angst, Beklemmung. In letzter Zeit Zunahme der
melancholischen Verstimmung. Sie ist zerstreut, vergesslich, wie der
Hausarzt auch bestätigt, ihre Aufmerksamkeit leidet Man darf also
mit Becht annehmen, dass in Folge nervöser Anlage und schwerer
836 ▼• Schrenck-Kotzing.
Erkranknogen die psychische Widerstandsfähig keit seit
Eintritt der Wechseljahre erheblich herabgesetzt ist.
Dafür sprechen sowohl die anamnestischen Angaben, wie auch der
gegenwärtige Befund der ünter&nchung.
Frau S. macht auf mich den Eindruck einer Hysteropathie,
d. h. einer Person, die im Sinne der Hysterie mit ihrem Nervensystem
auf Schädlichkeiten reagirt. Diese Art der Keactin ist ja auch bei
weiblichen Unterleibsstörungen eine ungemein häufige nervöse Er*
krankungsform.
In Bezug auf ihren Character war Frau S. eine aufgeweckte, geistig
regsame Frau, tüchtig in ihrem Geschäft, im Haushalt, eine fürsorgliche
Mutter und Gattin. Sie zeigte zeitweise grosse Energie und Selbst-
überwindung. Andererseits war sie ebenso heftig, aufbrausend und zu
Affecten geneigt, wie sie gutmüthig uod mitleidig sein konnte. So
liess sie sich hinreissen zu Thätlichkeiten gegen ihre Kinder; — aber
während der Krankheit war sie ihnen die hingehendste aufopferndste
Pflegerin. So half sie der Frau Koch in der Noth mit 2000 Mark,
ohne sie je an ihre Schuld zu mahnen.
Wie die meisten Hysterischen, war auch sie dem Stimmungswechsel
sehr unterworfen ; uomotivirte Lustigkeit wechselte mit Auffallen trau«
riger Stimmung. Wenn in letzter Zeit die depressive Verstimmung
die Oberhand behielt, so war wohl daran das häusliche Unglück mit
Schuld. Femer sind weitere characteristische Züge ihres Chaxacters:
Impulsives Verhalten, übersohwängliche Phantasiethätigkeit, Putzsucht,
Ooquetterie. „Kleider,'^ sagte sie mir, „sind meine einzige Freude.*'
Wie sie selbst zugiebt, ist sie auch durchaus nicht frei von hyste-
rischer Lügenhaftigkeit. Neben der gesteigerten Einbildungskraft, einer
grossen Lebendigkeit psyschischer Vorgänge bestehen völlige Urtheils-
losigkeit, Mangel an Kritik, Geschwätzigkeit und Rührseligkeit.
Hysterische Personen dieser Art sind in der Regel krankhaft
«uggestibel und werden leicht das Opfer irgend welcher äusseren Ein-
drücke, von Verführungen vollsinniger Verbrecher etc. Ihr Hemmnngs-
vermögen ist eben geschwächt. So können ihre Einbildungen auch
das ganze Denken und Handehi beherrschen und sind stärker als alle
Gegenvorstellungen und sittlichen Grundsätze. Ohne erkennbare Beweg-
gründe gelangen solche Kranke zu monströsen, läppischen, ja auch zu
criminellen Handlungen. Es fehlt ihnen die verstandesmässige Ve^
arbeitung der Lebenserfahrungen. Plötzliche Gefühlswirkungen können
maassgebend sein. Mitunter zeigt sich auch bei ihnen ein träumerisches
Der Fall Bluter. 887
GebahroD, eine Neigung zur Yortäuscliuiig yon irgend welchen Ver*
bieehen (dramatische SelbstmordBceneD , Diebstähle, fingirte sexuelle
Attentate etc.). Sie werden auch zum Spielball ihrer momentanen
Einbildongen, so dass die ünt^rscheidungsfthigkeit von Recht und un-
recht mitunter Terloren geht So erid&ren sich manche Bätbsel und
Wideispriiche in der hystenschen Oharacteranlage. Die hochgradige
Snggestibilität bethätigt sich auch in der grossen Zugänglichkeit für
religiöse Bräuche und abergläubische Ceremonien.
Zu diesem ganzen Verhalten passt auch die Art wie die Sauter
ihre liebe besthätagte. Sie war ebenso sehr die geistige Sklarin ihres
Liebhabers, wie sie diejenige der Kartenschlägerin wurde. Für ihn
hatte sie jedes Verbrechen begangen, ihm Vermögen und Leben ge-
opfert, wenn er es verlangt hätte. Während in der Hegel im Klimak-
terium eine Abnahme der geschlechtlichen Anspruchsfähigkeit zu be*
obachten ist, zeigte sich bei der Angeklagten eine Zunahme, eine Art
Mxaeller Hyperästhesie (häufiger leicht auslösbarer Orgasmus, hoch-
gradig gesteigerte Wollustemp^ndung, Neigung zu perverser sexueller
Betfaatigung).
Auch bei der körperlichen Untersuchung fanden sich l^ymptome
▼er, die für Hysterie sprechen; so fand sich beiderseits eine con-
MDtrische Eiinengung des Gtesichtsfeldes. Gehör beiderseits abgeschwächt
ührticken wird links S6 cm weit, rechts 37 cm weit gehört. Kugel-
geftthl im Hals, Hyperalgede, anormal starke Beaction auf Nadel-
stiche. Temperatursinn normal. Tastempfindung eingeschränkt; sie
oinmit auf dem linken Handrücken eine Entfernung der Oirkelspitzen
▼en 8^/, cm, rechts eine sdche von l^s cm als eine einzige Empfindung
wahr. Daneben motorischer Buhetremor namentlich in den Armen, der
sieh bei Intention steigert Oonvulsivische Zuckungen. Epygastrium
druckempfindlich. Neigung zu Herzklopfen (Puls 96), Ovarie, häufige
Böekenschmerzen. Dynamometrische Kraft rechts 86, links 25.
Versuche, die Suggestibüität in dem üntersuchungszimmer des
Gefingnisses zu prüfen, fielen negativ aus, was wohl durch die hoch-
giadige Erregung und Spannung der Ge&ngenen, also durch die anor*
aale Situation erklSrlieh erscheint
Bechenvennögen normal, Gtedächtniss ohne erhebliche Störung
^weit sich das bei einer flüchtigen Untersuchung feststellen liess).
Keine typischen hysterischen Anfalle. Uebrigens fehlen dieselben be-
kannilidi bei V4 weiblicher und bei % männlicher Hysterischer (B r i q u e t).
Nach diesem Befunde leidet Frau Sauter an einer
ZeitMkrift fBr Hypnotinmu et . DL. 82
338 ^« Schrenck-Notzing.
nervösen und psychischen Widerstandsunfähigkeit im
Sinne der Hysterie inFolge einer offenbar auf erblicher
Anlage beruhenden neuropathischen Disposition, sowie
in Folge zahlreicher schwerer Unterleibsleiden und des
seit IVs Jahren eingetretenen Klimakteriums.
Mit dieser Feststellung ist aber die Frage der Zurechnungsfahigkeit
Ton Frau Sauter noch nicht genügend beantwortet; vielmehr erscheint
dazu die Prüfung des vorliegenden Sachverhaltes sowie eine Würdigung
der Einwirkungen nothwendig, welche abergläubische Ceremonien und
Handlungen auf ungebildete und geistig widerstandsunfähige Menschen
auszuüben vermögen.
Das gemeingefährliche Treiben der Somnambulen wurde eingehend
studirt von Gilles de laTourette. Nach seinen Mittheilungen be-
stehen in Paris 500 Somnambulencabinets mit 40000 Anhängern
(d. h. im Jahre 1888). Dieselben verfügen über 20 Specialzeitschriften
und haben die Ausbeutung der Gläubigen vollkommen organisirt. So
giebt es in Paris Ober-, Unter-Somnambulen ; somnambules de naissance
de premier ordre, Specialisten für Schatzausgrabungen (bei Vorher-
bezahlung von 1000 frcs.), für verlorene Gegenstände, Karten-
schlägerinnen für Liebes- und Beiseangelegenheiten, Sybillen für Ei-
weiss und Kaffeetropfen, für Bleigiessen, von denen eine in 7 Monaten
82000 frcs. verdient hatte. Auf das Treiben in den Kliniken für an-
gewandten Magnetismus brauche ich an dieser Stelle nicht einzugehen,
da in Frankreich die strenge Durchfuhrung des Kurpfuschereiverbots
bereits diesen gemeingefährlichen Bestrebungen ein Ende gemacht hat
Die in der heutigen Hauptverhandlung aufgedeckte Thätigkeit der
Frau Gänzbauer in München deckt sich ganz mit ihren Pariser Vor-
bildern. Auch sie zeigt dieselbe staunenerregende Sicherheit in der Be-
handlung ihrer Clienten, auch sie verstand es Eindruck, auf die An-
geklagte zu machen und deren Privatverhältnisse auszuspüren. Diese
Münchner Pythia wusste ihr harmloses, bethörtes Opfer ganz in den
Netzen des Aberglaubens zu Terstricken und den seelischen Zustand
desselben für ihre Interessen auszubeuten.
Nun ist jedoch Aberglauben an. sich keine Geisteskrankheit, kann
also auch nicht ohne Weiteres zur Anwendung von § 61 des Reichs-
stra^esetzbuches führen« Denn den abergläubischen Handlungen fehlt
nicht das Merkmal, dass sie bewusst sind und bewusst ausgeführt weiden«
Dagegeii sind abergläubische Vorstellungen Suggestionen im eminenten
Sinn des Wortes. Sie können wie ein Zwang wirken, alle Gregenvor-
Der Fall Sauter. 8)9
stellnngen^ jede psychische Hemmung aufheben und ein Individuum so
Tollkommen beherrschen, dass Ehre, Familie, Vermögen, kurz Alles den-
selben geopfert wird. Das Gharacteristische crimineller Handlungen
durch Aberglauben ist das scheinbare Fehlen sonst meist aufzufindender
Motive fiir die Thäter. So kann auch der völlig geistig Gesunde aus
abergläubischen Vorstellungen heraus zu Gresetzesverletzungen gelangen.
NatürUch wird der geistig Beschränkte, Ungebildete urtheils- und
characterschwache Mensch nüt verkümmerter Moral und ohne religiösen
Glauben dem verhängnissvollen Zauber solcher abergläubischen Vor-
stellungen eher verfallen, als eine intelligente gebildete und religiöse
Persönlichkeit mit festen Moralbegriffen. Die Unwissenheit allein ist
also noch kein hinreichender Grund für Befreiung von Strafe.
Das gemeinsame Motiv für abergläubische Handlungen, welches wir
auch bei der Frau Sauter antreffen, ist häufig der Wunsch das Be-
streben, aus einer bestimmten Situation befreit zu werden; diese
Situation kann ein seelischer Zwang, ein Kummer sein; sie kann aber
ebensowohl in der Nothlage äusserer Verhältnisse (Armuth u. s. w.)
bestehen.
Wenn nun schon der Aberglaube auf geistesgesunde urtheilsschwahe
Menschen einen verhängnissvollen Einfluss auszuüben vermag, so ver-
fallen ihm Psychopathen und geistig geschwächte Individuen um so
leichter. Dieser Umstand fallt mildernd ins Gewicht bei Beurtheilung
der Angeklagten, die, wie ich glaube, im Vollbesitz ihrer geistigen Ge-
sundheit wohl kaum in dieser Weise das Opfer abergläubischer Bräuche
und Ceremonien geworden wäre.
Offenbar suchte die Metzgersgattin die Somnambule zunächst aus
purer Neugier auf; dann aber, als sie einmal gefangen und geködert
war, wirkten diese abergläubischen Vorstellungen wie ein psychischer
Zwang, aus dem sie sich nicht mehr losmachen konnte, auch wenn sie
gewollt hätte. Sie fühlte sich, wie sie selbst sagt, unfrei wie unter
einem suggestiven Bann.
Das ganze Verfahren der Frau Gänzbauer war auch danach an-
gethan, die Einbildungskraft der hysterischen Patientin zu erhitzen.
Ich erinnere nur im die Turteltauben, die weissen Mäuse, die Lichter
und den sonstigen Hocus-Focus der Hellseherin. Genug, die Ange-
klagte erblickte in der Wahrsagerin eine Prophetin mit übernatürlichen
Kräften, der Niemand, auch die weltliche Gerechtigkeit nicht, etwas an-
haben könne. Sie glaubte fest daran, dass Frau Gänzbauer im Stande sei,
einen geheimnissvoUen Einfluss auf das Schicksal der Menschen auszu-
22*
346 ▼. Schrenck-Notzing.
übeD. Ans diesem blinden Glauben erklärt sich auch ihre nalye Bitte:
„Sichten Sie es doch, dass der Schorchl kommt. ^
Wie andere psychisch bekümmerte Personen ihren Trost in reh-
giösem Zuspruch finden, so fand sie Erleichterung in der Aussprache
mit Frau Gänzbauer; sie folgte darin dem inneren Bedürfiiiss, Trost
zu erhalten und Belehrung. Schon das unerlaubte ihrer ausserehelichen
Beziehungen und der Wunsch, die Liebe ihres Schauspielers nicht zu
yerlieren, machten ihr die Aussprache mit einem Geistliehen unmöglich.
Sie erwartete also, — das geht aus Allem hervor — durch Schicksais-
fugungen Erleichterung ihrer Situation.
Die Schicksalsfügungen, welche Frau Gänzbauer hellsehend yoraus-
sagen und herbeiführen zu können vorgab, waren natürlich dem Fall,
d. h. den Wünschen der Clientin angemessen ; sie konnten also nur
bestehen in einem Verschwinden der unbequemen Personen von der
Bildfläche. Diese Lösung sollte entsprechend der Voraussage in harm-
loser Weise durch eine natürliche Todesart (Schlaganfall, Krankheit etc.)
erfolgen. Nun war die einzige Person, welche das hauptsächlichste
Hindemiss für die verliebte Ehefirau darstellte, deren Gatte, der Metzger-
meister Sauter. Die schon beim ersten Besuch aus dem tropfenden
Eiweiss unbestimmt prophezeiten Sterbefalle in der Familie Sauter
nahmen später eine concreto Gestalt an. Die Hoffiiung, dass sie durch
seinen Tod aus ihrer Situation erlöst werde und zwar baldigst, blieb
ihr einziger Trost und wurde allmählich in Folge ihrer ürtheibschwäche
zu einem festen unerschütterlichen Glauben, so dass sie seinen baldigen
Tod selbstverständlich fand. Schliesslich sprach sie, wenn man den
eidlichen Depositionen der Prophetin Glauben schenken darf, ganz un-
verblümt von dem „Verrecken des Hundshäutemen'.
Wie und ob sich nun aus diesen Ideengängen, welche eine Er-
lösung aus der traurigen Lage durch Todesfalle in Aussicht stellten, der
Wunsch entwickelte, dem Schicksal ein wenig zu Hülfe zu konmieui das-
selbe zu beschleunigen durch Anwendung magischer und sympathetischer
Mittel, das nachträglich aus den Gesprächen der zwei Frauen festzu-
stellen und somit die Schuldan theile für beide genau abzumessen,
erscheint besonders mit Hinblick auf die Unzuverlässigkeit und
Frivolität der eidlich deponirten Mittheilungen der G&izbauer ganz un-
möglich«
Sicher ist aber, dass die Wahrsagerin die Dummheit der Frau Sauter
^tematisch aosheutete, die Angeklagte durch ihren Hocus-Pocus
Der Fall Sauter. 841
Töllig yerwirrte, was um so leichter gelang bei dem bestehenden pgy«
ctuflchen Schwächezostand der Olientia.
Diese Verwirrung zeigt sich auch in dem ganzen Verhalten, in den
Widersprüchen ihres Handelns. Sie sagt ja selbst, wie festgestellt
wurde, ron dem Schreiben des Zettels, „da könnte man ganz dappi
(= dumm) werden.^ Offenbar £asste sie, wenn sie überhaupt etwas dabei
gedacht hat, das Aufschreiben der Opfer als einÜEUshe magische Mani-
pulation auf. Die Frau Oänzbauer brauchte einen solchen Zettel etwa in
der gleichen Weise, wie sie die weissen Mäuse benöthigte. Daher ist ihr
ganzes Verhalten anders zu beurtheilen als das einer planmässig yor-
gellenden Mörderin. Der Zustand eisiger Buhe, den der Commissar
Bessert in der Sohreibscene beobachtete, ist etwa vergleichbar mit dem
stoischen Gleichmuth eines Hypnotisirten, der automatisch ein sugge-
rirtes Verbrechen ausführt, ohne aber zur Begehung eines wirklichen
Verbrechens befähigt zu sein.
Auch die Schrift des Zettels weicht von der normalen Schrift der
Prau Sauter etwas ab. Auffallend ist die Stärke der Grundstriche.
Der Tragweite dessen, was sie mit der Aufstellung der Proscrip-
tioDsliste beging, war sie sich offenbar nicht im mindesten bewusst.
Nur beherrscht Ton der einzigen Idee der Erlösung, die von der Wahr-
sagerin kommen sollte, befolgte sie blind jeden Wink dieser Person;
und die Neigung zur Dissodation der Vorstellungsverbindung im hyste-
rischen Geistesleben lässt es vollkommen erklärlich erscheinen, dass
jene psychischen Complexe, welche sonst in ihr die Mutter-, die Nächsten-
liebe, die Bücksicht auf Nebenmenschen, die Ehre und Pflicht repräsen-
tirten, in jenem Augenblick eine hemmende oder corrigirende Wirkung
nicht auszuüben vermochten. Ja das Phantastisch -Läppische ihrer
Handlung war sie nicht mehr im Stande zu erkennen. Vielleicht
auch handelte es sich, wie bei Hypnotisirten und Hysterischen im Zu-
stande partiellen Schlafes, um eine Art träumerischer Ausmalung einer
imwirklichen Situation, während doch das Gefühl dabei bestand, dass
ja doch nur Alles Traum und deswegen unmöglich sei. *
Die ganze Art, wie sie zu Werke ging, spricht gegen ein überlegtes
Verbrechen. Mit stoischer Buhe schrieb sie den Zettel nieder nach
dem Dictat ihrer Herrin; sie war sich ganz und gar nicht klar da-
rüber, aus welchem Grunde diese neun Personen, darunter die drei
Kinder, aus dem Leben geschafft werden sollten ; auch über die Art
und Weise, wie das geschehen soUte, wurde kein Wort verloren. Nach
Au&tellung des Zettels und den Verabredungen über die Entlohnung
342 V. Schrenck-Notzing.
ihrer Helferin ging sie mhig ihren Tagesgeschäften nach nnd anch ein
geübter Psychologe hätte nichts von dem fürchterlichen Mordplan be^
merken können, den sie soeben entworfen hatte. Die Möglichkeit Trost
zu finden und die Hoffnung auf eine baldige Erlösung waren meines
Erachtens ihre einzigen Leitmotive, die sie veranlassten, jeden auch
den widersinnigsten Wunsch ihrer Herrin zu erfüllen.
Nur so werden ihre scheinbar sinnlosen HandluDgen psychologisch
begreiflich.
Sie war von Frau Günzbauer so fascinirt, dass sie in dem Zu-
stande suggestiver Abhängigkeit deren Ideen zur Ausfuhrung brachte.
Trotzdem aber kann Frau Sauter nicht als völlig unzurechnungs-
fähig im Sinne des Gesetzes angesehen werden. Denn weder bestand
eine sichtbare Geisteserkrankung noch ein ausgesprochener Dämmer-
zustand des Bewusstseins. Denn in den Pausen zwischen den einzehien
Besuchen der Kartenschlägerin machte ihr Verhalten einen ganz ver-
nünftigen Eindruck. Auch wäre eine verstandesmässige Verarbeitung
der Erlebnisse bei ihrer Prophetin nachträglich wohl möglich gewesen.
Sie hat aber vielleicht aus innerer Bequemlichkeit, aus Dummheit oder
aus Liebesthorheit diese Correctur nicht angewendet, — die anti-
socialen Antriebe, das Resultat ihrer Verbindung mit der G^nzbaner
nicht bekämpft. Darin liegt die Hauptschuld! Wenn ihr das Slraf-
barkeitsbewusstsein wohl fehlte — das geht aus ihrem ganzen Ver-
halten hervor — so war ihr doch die Möglichkeit, sich für Ausfuhrung
oder Unterlassung der ihr zur Last gelegten Handlungen zu entscheiden
durch die allerdings bestehende krankhafte Störung der Geistesthätigkeit
nicht völlig abgeschnitten.
Wohl aber erscheint ihre Zurechnungsfahigkeit in Folge hystero-
pathischer psychischer Schwäche und ihres Klimakteriums sowie in
Folge der suggestiven Wirkung abergläubischer VorsteUungen erheblich
herabgemindert.
Ob nun der Grad ihrer aus krankhaften Ursachen entstandenen
Willensemschränkung genügend ist, um sie im Sinne des Gesetzes
willensunfrei erscheinen zu lassen, diese Entscheidung liegt in dem
freien Ermessen der Herren Geschworenen!
Der Fall Sauter. 343
IV.
ScUiiss der Yerhandlmig.
Nachträglich wird noch ab Zeugin die Schneidermeisterin Schilling vernommen,
die nach den in der Verhandlung gemachten Angaben der Gänzbauer ebenfalls
for die Beseitigung rorgemerkt war. Die Zeugin kann gar keine bestimmten
Angaben nach irgend einer Richtung hin machen und kann sich, wie die meisten
anderen Zeugen, nicht erklären, warum sie Ton der Sauter aus dem Leben ge-
idiafit werden sollte. Damit wurde die Vernehmung der Zeugen und Sach-
Terstandigen geschlossen und es werden die Fragen zur Verlesung gebracht, die
den Geschworenen zur Beantwortung vorgelegt werden sollen. Die erste bezieht
sich auf den Mordversuch an dem Manne der Angeklagten, dem Metzgermeister
Anton Sauter, die zweite Frage gilt der Anstiftung zum Mordversuche an den auf
der Liste stehenden Personen.
Nach Wiederaufnahme der Sitzung beginnt der Herr Staatsanwalt Dr.
Schneider das Plaidoyer: Meine Herren Geschworenen, Sie sind berufen, heute
einem Familiendrama ein Ende zu machen, das die weitesten Elreise seit einem
halben Jahre in Spannung erhält. Man fragte sich, wie ist es möglich, dass eine
Frau, die bereits 25 Jahre verheirathet ist, auf den Gedanken konmien konnte,
ihren Mann und ihre Kinder zu ermorden, nur um ihrer Leidenschaft zu einem
Schauspieler fröhnen zu können. Die Frau ist auf die Kunde von ihrem ver-
brecherischen Vorhaben hin verhaftet worden, doch sie hat noch Andere in ihr
Verderben hineingezogen. Ihr Mann hat sich von ihr scheiden lassen, die Kinder
sind jetzt mutterlos, eine andere Frau, die ihrem Liebesverhältniss Vorschub ge-
leistet, ist gestorben aus Gram über die eigene Schande und darüber, dass ihr Kind aus
Sdiam in den Tod gegangen war.^) Doch darum handelt es sich heute nicht. Sie
haben lediglich über die Schuld in dem heute besprochenen Verbrechen zu ent-
scheiden. Bei Betrachtung der Schuldfrage wird es sich hauptsächlich darum
handeln, ob sie annehmon, dass bei der Angeklagten vollständige Unfähigkeit zu
freiwilliger Selbstbestimmung vorlag. Sie haben das Urtheil der Sachverständigen
gehört, sie sind daran nicht gebunden, sondern vollständig frei. Nur ist zu be-
merken, dass geminderte Zurechnungsföhigkeit die Schuld nach dem Wortlaut des
Gesetzes nicht aufhebt, sondern nur das Strafmaass, das die Richter bestinmien,
beeinflusst. Die Herren Sachverständigen haben übereinstimmend ausgesagt, dass
sie eine vollständige Bewusstlosigkeit im Sinne des Paragraphen 51 für nicht ge-
geben erachten. Ich selbst habe die Angeklagte besucht und die gleiche Wahr-
nehmung gemacht, und auch das Verhalten der Angeklagten in der heutigen
Hauptverhandlung ist ein Beweis für die Richtigkeit dieser Annahme. Eine andere
Frage ist es, ob nicht die Angeklagte gewissen verbrecherischen Anwandlungen
ond Einflüssen besonders stark zugänglich gewesen. Das ist aber bei dem vor-
liegenden Falle nicht unbedingt anzunehmen. Was blieb der Frau Sauter, wenn
sie doch den Schauspieler heirathen wollte, anders übrig, als ihren Mann zu be«
seitigen? Auch die Beseitigung der für eine neue Ehe hinderlichen Kinder und
*) Dieser Doppelselbstmord betrifft eine mit Frau Sauter befreundete Wittwe
und deren Tochter. Die Genannte hatte der Sauter für ihre Zusammenkünfte ein
Zimmer vermiethet und war wegen „Kuppelei** bestraft worden.
344 V. Schrenck-Notsing.
ebenso der Dienstboten, die ihren Lebenswandel kannten, mnsste ihr erwünscht
gewesen sein. Auch die Aengstlichkeit bei Aufstellung der bewussten Liate ist
ein Beweis dafür, dass die Angeklagte sich ihrer Verbrechen bewuaat war.
Anschliessend recapitulirt der Staatsanwalt den Hergang der Affiiire noch
noch einmal kurz und fährt dann fort: Es steht sicher fest, dass die Angeklagte
ihren Mann beseitigen wollte und dass sie ihm das Pulver in der Absicht in die
Socken streute, ihn damit zu vergiften. Dass das Pulver die gewünschte Wirkung
nicht ausübte, lag nicht in der Bestimmung der Angeklagten. Es handelt sich
hier also um einen Mordversuch mit untauglichen Mitteln. Das Strafgesetzbach
stellt die Auffassung dieses Falles dem jeweiligen Gerichte anheim. Doch steht
das Reichsgericht auf dem Standpunkte, dass man nicht den Erfolg, sondern die
Absicht strafen müsse und bestraft also auch den Mordversuch mit untauglichen
Mitteln. In dem vorliegenden Falle ist die verbrecherische Absicht ganz offenbar.
Dazu kann man nicht einmal behaupten, dass das Pulver wirklich ganz unschädlich
war. Durch Aussage eines Sachverständigen ist festgestellt, dass das Pulver, wenn
es mit offenen Wunden in Berührung kommt, sehr wohl schlimme Wirkungen
hervorrufen kann. Was die Uebrigen anlangt, die die Angeklagte hat umbringen
wollen, so ist allerdings bei der oder jener möglich, dass die Gänzbauer sie be-
stimmt hat, sie auf die Liste zu setzen. Bei den Kindern aber und den Dienst-
boten ist es nicht geboten, dies anzunehmen. Ferner ist auch durch die Angaben
der beiden Polizeiconmiissäre bewiesen, dass sie mit ruhiger üeberlegung gehandelt
hat. Diese Punkte werden Ihnen genügen, dass Sie die Schuldfrage bejahen.
Um 8V4 Uhr Abends ergriff unter allgemeiner Spannung der Yertheidiger
R.-A. Bernstein das Wort, der in wirklich klarer und logisch scharfer Weise dar-
legte, dass die Sauter unmöglich die That verübt haben konnte, oder wenn ja,
nicht ins Zuchthaus, sondern ins Irrenhaus gehöre. Redner führte u. A. aus:
Als mich Frau Sauter ersuchen liess, ihre Yertheidigung zu übernehmen und sie
besuchte, glaubte ich einer ausserordentlich interessanten und grossen Yerbrecherin
gegenüberzutreten. Ich glaubte das, weil ich nichts Anderes wusste, als was
Tausende und Tausende von der Sauter wussten. Wenn ich damals gewusst hatte,
was ich jetzt weiss, und wenn die öffentliche Meinung das gewusst hätte, was sie
jetzt weiss, dann hätten ich und Letztere das grosse Interesse an der Sache nicht
gehabt. Man hätte die Ansicht bekommen, dass eine dumme Person zu unober-
legten Schritten verleitet worden ist. Als ich mit ihr mehrmals conferirt und die
Acten eingesehen hatte, verwandelte sich mir das Bild vollständig und heute ist
sie für mich aus einer Yerbrecherin zu einer Unglücklichen geworden. Die Bolle
der Frau Gänzbauer dagegen, die Anfangs nur als die loyale Person erschien, die
durch ihre Anzeige furchtbare Yerbrechen verhindert, erschien heute in einem
ganz anderen Lichte. Redner widerlegt nun den Staatsanwalt dahin, dass, wenn
derselbe die traurigen Folgen der That der Frau Sauter zugeschoben hat, dieselbe
an dem traurigen Geschick der Frau Sauer und Tochter völlig unschuldig sei
Sie war lediglich bei einer Wahrsagerin und ist mit einem Schauspieler gegangen.
Hätte Herr Sauter gewusst, wie sidh die Sache in Wirklichkeit verhält und nicht,
wie sie in der Zeitung dargestellt war, würde der Mann heute seelisch anders zu
seiner Frau stehen und die Kinder würden ebenfalls anders von ihrer Mutter
denken. Die Frau Sauter habe doch jedenfalls einen viel glaubwürdigeren Ein-
druck gemacht als die Gänzbaner. Sie hat von allem Anfang an ans ihrem Thon
D«r Fftll Saoter. 84S
kein Hehl gesoAcht. Sie hat geoagt, et wftre mir nicht unlieb geweien, wenn ihr
Kaon gegtorben wäre, aber bei Seite schaffen wollte ich ihn nicht. Der- Herr
Staatsanwalt wnaste nicht ein einziges glaubhaftes und wahrscheinliches Kotiv für
die That anzugeben. Der Herr Staatsanwalt sagte, wer 10 Menschen umbringen
will, ist ein grosser Verbrecher, und ich sage, wer 10 Menschen todtet ohne Grund
dasu, ist verrückt. Was die Gftnzbauer als Motiv angegeben hat, ist Unsinn.
Eine Frau, die so freundschaftlich mit den Leuten verkehrt wie die Sauter, tödtet
dieselben nicht. Selbst wenn die Sauter die Strafliste der Gftnzbauer hatte, wftre
es eine Ungeheuerlichkeit, ihr die beabsichtigte Tödtung von so viel Menschen
in die Schuhe zu schieben. Massenmorde sind selten, aber Massenmorde ohne
Onind giebt es nicht. Um ihren „Schorsch** ganz zu besitzen, brauchte sie ja
nur die Ehescheidungsklage, nicht aber das Zuchthaus zu riskiren. Dabei wird
der Frau ein gUlnzendes Zeugniss ausgestellt. Eine solche Frau verwandelt sich
nicht über Nacht in eine zehnfache Mörderin. Das ist einfach nicht möglich, denn
andi der einfache Mörder hat einen viel weiteren Weg zu seinem schauerlichen
Ziel, aber die Mutterliebe opfert nicht so schnell ihre Kinder. Bedner fertigt
nun an der Hand der Strafliste die Zeugin Gänzbauer tüchtig ab, legte dar, dass
sie die Unwahrheit gesagt habe, da das, was sie gesagt, nicht wahr sein könne
und fahrte dann aus, dass der Gänzbauer für diese Geschichte der Platz der
Sauter gehören würde. Sie war die Unheilstifterin, der böse Dämon, der das ganze
Unglück heraufbeschworen. Bedner befasst sich nun eingehend mit der Frage der
Strafbarkeit des sogenannten ungeeigneten Versuches, über die sich die Wissen-
schaft noch nicht einig sei und schliesst: Was die Frau Sauter gethan, ist kein
Verbrechen, sondern eine Dummheit, die ist aber nicht strafbar. Wenn sie gegen
die moralischen Gesetze verfehlt hat, so ist sie schwer genug dafür bestraft worden.
Nach kurzer Keplik wurde das Urtheil gesprochen.
Um 10 Uhr Abends zogen sich die Geschworenen zur Berathung zurück.
Deren Obmann (Brauereidirector Follich) konnte schon nach einviertelstündiger
Berathung unter athemloser Spannung den Wahrspruch verkünden, durch den
beide Schuldfragen verneint wurden. Die Angeklagte weinte und schrie bei
Verkündigung des Wahrspruches, der sie völlig fassungslos machte, während er vom
Auditorium — ein Zeichen des Umschwungs der Stimmung — mit leisem Beifall
ao^enommen wurde. Es bedurfte eindringlichen Zuredens des Yertheidigers und
Staatsanwaltes, um sie so weit zu beruhigen, dass sie das Urtheil anhören konnte.
Der Gedanke an ihre ruinirte Existenz, an ihr zerstörtes Familienleben liess sie
immer wieder in neue Thränen ausbrechen. Das Abends halb 11 Uhr verkündete
Urtheil lautete unter Aufhebung des Haftbefehls auf Freisprechung.
V.
Criminal-psychologlsclie Bemerkungen mm Fall Santer,
Der in der yorstehenden Darlegoog geschilderte Fall Sauter ist in
mehrfacher Beziehung psychologisch und forensisch von hohem Interesse.
Er beweist Ton neuem, dass der suggerirte Verbrecher oder der unter
346 ^* Schrenek-Notzing.
{remdem Einfluss handelnde psychisch Minderwerthige resp. Geistes-
kranke kein so seltener Typus ist, als man annehmen könnte. Wahrend
im Jahre 1895 das oberbayrische Schwurgericht im Falle Czynski zum
ersten Mal in Deutschland über ein mit Hülfe von Suggestion ausge-
führtes Verbrechen Recht zu sprechen hatte, führte der berühmte Yom
1. — 14. October 1896 dauernde Process Berchtold eine Anzahl suggerirter
Zeugen vor die Münchner Geschworenen, — und wenige Jahre später,
am 2. October 1899, erfolgte ebenfalls durch das oberbayrische Schwur-
gericht in München die erste Freisprechung einer Ange-
klagten, die unter dem suggestiven Einfluss einer anderen
Person das Strafgesetz yerletzt hatte. (Fall Sauter.)
Diese neue Thatsache wird gewiss zu einer besseren Würdigung und
Erkenntniss der strafrechtlichen Bedeutung der Suggestion von Seiten
der gesetzgebenden Factoren und der Sicherheitsorgane beitragen.
Die bisher erschienene Literatur über Suggestion in Beziehung zum
Strafirecht beschäftigt sich meines Erachtens zu sehr mit dem soge-
nannten hypnotischen Verbrechen, d. h. sie berücksichtigt einseitig den
strafrechtlichen Missbrauch eines ad hoc hypnotisirten Menschen. Die
Gerichtspraxis zeigt nun aber, wie ausserordentlich selten dieser Fall
eintritt, und andererseits liefert die Kenntniss der hypnotischen Er-
scheinungen dem Fachmann ziemlich zuverlässige Hülfsmittel zur
Aufdeckung solcher bisher mehr im Laboratorium als im Leben ausge-
führter hypnotischer und posthypnotischer Verbrechen.
Dagegen scheint die criminelle Suggestion im wachen Zustande.
ohne Rücksicht darauf, ob sie mit dem Bewusstsein des Zweckes oder
in Form einfacher Verführung geübt wurde, eingehendere Aufmerk-
samkeit und Berücksichtigung zu erheischen bei den Psychologen und
Juristen, als ihr bisher zu Theil geworden ist. Man kann ,WUliani
Hirsch' darin vollkommen beistimmen, dass die hypnotische resp.
suggestive Zwangshandlung eines geistesgesunden Menschen, soweit sie
Gesetzesverletzungen zum Gegenstand hat, jedenfalls zu den grössten
Seltenheiten gehört. Und in der That handelte es sich, wenn man die
bekannt gewordene forensische Kasuistik auf diesem Gebiete durch-
blättert und den sexuellen Missbrauch in Narkose, Schlaf oder schlaf-
artigen Zuständen bei Seite lässt, bei den suggerirten Verbrechern fast
niemals um geistig ganz intacte Personen. Die Möglichkeit, Willens-
äusserungen eines Menschen zu beeinflussen, hängt ab von der indivi*
duellen Widerstandsfähigkeit; die schwierige Aufgabe der Sachver-
ständigen bei solchen zweifelhaften Fällen der Zurechnungsfahigkeit,
Der Fall Sanier. 347
wird darin bestehen, den Grad der Wehrlosigkeit gegen die aasgeübten
Einflüsse möglichst genau festzustellen und nachzuweisen, ob und in-
wiefern krankhafte Factoren die Willensthätigkeit herabgesetzt haben.
Da es aber weder fttr die strafrechtliche Zurechnungsfilhigkeit noch
för den Typus der geistigen Abweichungen der yon der Norm, d. h.
denjenigen des ,,geistig krankhaften" eine absolute Grenze giebt, so kann
die ?on dem Sachverständigen verlangte Abwägung solcher Impon«
derabiUen grosse Schwierigkeiten bereiten und zu den spitzfindstigen
Discussionen flihren. Ja die Beimtwortung solcher Fragen hängt nidit
zum mindesten von den individuellen Anschauungen des Gerichtshofes,
der Intelligenz der Geschworenen und den subjectiven Anschauungen
der Sachverständigen ab. Was der eine Gutachter als angeborene oder
erworbene geistige Beschränktheit, als leichten Schwachsinn in das Ge-
biet des Krankhaften verweist, erscheint vielleicht dem anderen als ein
anch innerhalb normaler Grenzen vorkommender Mangel an Begabung I
Leichter zu beurtheilen sind Fälle, wo das Nervensystem nachweisbar
dnrch traumatische Ursachen, Vergiftung (Alcohol, Morphium etc.)
oder durch bestimmte Erkrankungen (Hysterie, Neurasthenie, Epilepsie)
gelitten hat. Für Personen mit Zuständen, die nicht zur Annahme
des vollen Ausschlusses der freien Willensbestimmung aus krankhafter
Störung der Geistesthätigkeit berechtigen, also in ihrer freien Willens-
thätigkeit lediglich gehemmt erscheinen, hat man mit Kecht den Aus-
dmck der „verminderten Zurechnungsfähigkeit" neuerdings
vielfach angewendet.
Psychische Abweichungen dieser Art kommen nun, wie Kirn ^) ge-
zeigt hat, auch unter dem Einfluss der Menstruation, der Pubertät,
der Gravidität und des Klimakteriums zu Stande ; ferner gehören dazu
die noch unbestimmbaren Anfangszustände vieler sich langsam ent-
wickelnder Seelenstörungen.
Ganz besonders wichtig für die Frage der Suggerirung von Ver«
brechen sind die Characterveränderungen durch Hysterie, angefangen
▼onden leichtesten Symptomen, dem einfachen „hysterischen Temperament''
bis zur ausgesprochenen Psychose; allerdings beruht nach der An-
schauung von Wollenberg') das, was man hysterischen Character be-
zeichnet, in den Zügen, die besonders leicht zum Verbrechen führen^
^) Kirn, Ueber geminderte Zurechnungsfähigkeit. Yierteljahresschr. für
genchü. Medicin. 3. Folge. Band XVI, Heft 2.
*) Wollenberg, Die Grenzen der strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit bei
psychischen Krankheitsznständen. Zeitschr. für Psychiatrie. 1899. Bd. 66 Heft 4.
348 ▼• Schrenek-Notzing.
nicht auf Hysterie , sondern auf einer allgemeinen psychopaÜüscheD
Degeneration. Auf die weitgehende Aehnlichkeit gewisser nicht leicht
erkennbarer und ins Normale hereinragender traumartiger Zustande
der Hysterie und der Posthypnose ist wiederholt von Freud, Wollenberg
u. a. aufmerksam gemacht. Sicherlich bietet das Vorherrschen des Phan-
tasie- und Gefühlslebens über das Verstandesmässige, die abnorm leichte
Auslösung von Gefühlsreactionen, die Neigung zur Dissociation einen
besonders günstigen Angriffspunkt fär Suggestionen und Autosuggestionen
(Monoideismus).
Der Nachweis, „hysterischer Stigmata'' oder von „Kramp&nfallen^
kann in gewissen Fällen unmöglich sein, hat also für die Gerichts-
praxis keine erhebliche Bedeutung. ^) Dagegen ist das Handeln Hyste-
rischer, worin ich Delbrück beistimme, oft viel krankhafter, als es aut
den ersten Blick erscheint, inwieweit jedoch die Zurechnungsfähigkeit
beeinträchtigt wird durch die Hysterie, lässt sich nur nach Maassgabe
des Gesammtbildes beurtheilen.
Je normaler, gesunder, moralisch widerstandsfähiger eine Person
ist, um so weniger wird sie Gefahr laufen, das Opfer einer criminellen
Suggestion zu werden, — je energieloser, sittlich defecter, psychisch
schwächer sich ein Mensch zeigt, um so leichter wird er der Ver-
führung erliegen, die in Form einer Suggestion auf um ausgeübt werden
kann. Aus diesem Grunde laufen solche Individuen am meisten Gefahr,
suggerirte Opfer eines voUsinnigen Verbrechers zu werden, bei denen
die Fähigkeit, ihren Willen durch sittliche Vorstellungen bestimmen zu
lassen, also Gegenvorstellungen zu bilden, in Folge krankhafter Vor-
gänge oder von Entwicklungsmängeln beeinträchtigt oder aufgehoben
ist. Der Grad dieser Beeinträchtigung kann yerschieden stark sein
und wird das Kriterium abgeben für die Annahme voller Willensfreiheit,
resp. der verminderten oder aufgehobenen Zurechnungsfähigkeit In
«dieser Thatsache liegt auch der Grund, warum es sich in der 'Hehr-
zahl der in der Literatur bekannt gewordenen Fälle suggerirter Ver-
brechen um psychopathische, hysterische oder schwachsinnige Naturen
handelte.
So war Gabriele Bompard, das Instrument des Mörders
Eyraud, eine moralisch defecte hysterische Person, die Baronesse
Zedlitz, das Opfer der sexuellen Gelüste der Czynski, eine psychisch
schwach begabte, erblich stark belastete Dame, Frau von Porta,
^) Delbrück, Gerichtliche Psychopathologie. Leipzig 1897, S. 166.
Der Fall Sauter. 349
im Falle der yon Frey er berichteten Fasdnation , der Gegenstand
Ton Pandera Liebeawerbungen , wird als geistig anreifes, kindlich
naives, psychisch schwaches Wesen geschildert; und in unserem Fall
ist Eratt 8 a u t e r eine psychisch widerstandsunfähige Hysterische. Damit
soll nun keineswegs, wie Hirsch^) auf Orund dieser Thatsache an-
nimmt, gesagt sein, dass geistig gesunde Menschen nicht unter Um-^
ständen auch einer antisocialen Eingebung, einer verbrecherischen
Suggestion folgen könnten I Man bedenke nur, welche grundyerschiedenen
Varietäten man unter dem Begriff geistesgesund zusammenfassen kann !
Ist ein charaeterschwacher, leicht lenkbarer Mensch nicht auch
geistesgesund — und doch suggestibler als andere willensbäftigere
Personen? Das Wesentliche liegt in dem Vorgang des Suggerirens
in der Aufhebung oder Abschwächung der G^genyorstellungen ; ob
diese wegen krankhafter Gehirn Vorgänge oder wegen vorhandener Bildungs-
mängel nur schwach entwickelt sind, oder ob sie bei voller Ausbildung
durch künstliche Proceduren (Hypnotiamus, Narootica) in ihrer
Wirkung gehemmt werden, das ist im Besultat das Gleiche. Deswegen
besteht, wenn dieser Fall auch zu den Ausnahmen zu zählen ist
niid die Bechtssicherheit nicht gefährdet, doch die Möglichkeit, auch
den geistesgesunden Menschen mit Hülfe von Suggestion der freien
Willeosbestimmung zu berauben, andererseits aber muss zugegeben
werden, dass die grosse Zahl der psychopathisch Minderwerthigen,
psychisch schwachen, ethisch defecten Personen, die wir auch unter
den sogenannten Normalen antreffen, viel eher Gefiahr läuft, wegen
ihrer grösseren Widerstandslosigkeit criminellen Eingebungen zu er-
li^en, als der G^istesgesunde.
Viel schwieriger gestaltet sich die Beurtheilung der Sachlage in
foro, wenn, wie im Process Sauter, dem intellectuellen Urheber (also
in unserem Fkll der Wahrsagerin Frau Gänzbauer), das Bewusstsein
der Bechtswidrigkeit des Handelns, das Bewusstsein, ein Verbrechen
anzustiften, vollkommen fehlt I Es handelt sich dann also um unbe-
absichtigte, unbemerkte Beeinflussung! Denn Frau Gänzbauer war sich
offenbar keineswegs darüber klar, dass sie selbst durch ihren aber-
gläubischen Hokuspokus jene auf Beseitigung des Mannes und anderer
Personen hinzielende Ideenrichtung in Frau Sauter erzeugt hatte; ebenso
^tging es ihr vollkommen, dass sie selbst bei der Demonstration vor
') Hirsch, Die menBchlidie Verantwortlichkeit und die moderne Snggestions-
lehre. Berlin 18B6. Karger.
350 ^' Schrenck-Notzing.
den yersteckten Detektivs ihrem Opfer den Mordplan so zu sagen in
Feder dictirte und die ganze Unterhaltung in diesem Sinne nach
mit den Polizeiorganen vereinbarten Gesichtspunkten leitete. Bei der
Unmöglichkeit des Nachweises der verbrecherischen Absicht kann der
Gerichtshof durch Verhältnisse dieser Art in die Lage kommen, weder
den Urheber noch den Thäter bestrafen zu können.
Nur die ausserordentliche psychologische Schwierigkeit und Selten-
heit dieses Falles lässt die vollkommene Irreleitung der Polizei er-
klärlich erscheinen. Allerdings wäre es wohl die Pflicht der Behörden
gewesen, sich über das Vorleben der Denunziantin und die Gesundheit
der Ausklagten zu vergewissern, bevor man eine so furchtbare An-
klage, wie die des Mordes erhob ! Dass diese wichtige Aufgabe von der
Verteidigung erst gelöst werden musste, dass man die Liste der
21 fachen Vorbestrafung der Eartenschlägerin wegen schwerer Gesetzes-
verletzungen erst wenige Tage vor der Hauptverhandlnng nach einer
mehrmonatlichen Untersuchungshaft der Angeklagten beibrachte, dass
man ohne Weiteres auf Grund einer einzigen Zeugin, die von der Aus-
beutung abergläubischer Schwindeleien lebte, zur Verhaftung der bisher
nicht vorbestraften Angekla^n schritt, das sind unverantwortliche
Missgriffe der Münchner Behörden, die das Vertrauen der Bevölkerung
2u den Sicherheitsorganen nicht zu steigern im Stande sind. Ebenso-
wenig kann die ganze Art und Weise, wie mit Hülfe der übel be-
leumundeten Wahrsagerin die Aufdeckung des Elapitalverbrechens
inscenirt wurde, Billigung finden. Mit folgenden treffenden Sätzen
recapitulirt die Münchner freie Presse (Nr. 226, 1899) das Ergebniss
des Processes:
„Dummheit und Aberglauben in Verbindung mit schweren mora-
lischen Defecten haben eine Frau ins Unglück gestürzt und sie zur
Verbrecherin gestempelt. Hochgradige sittliche Verkonmienheit und
verbrecherische Verschlagenheit haben die Aermste ins Verderben
hineingeführt, und eine ihre Aufgabe völlig verkennende Polizei hat
Handlangerdienste geleistet. Statt Verbrechen zu verhüten, hat sie
Verbrechen, wenigstens im Anfangsstadium des Versuchs, constroiren
helfen. Wir sind überzeugt, wenn die Polizeibehörde die Sauter nach
der Denunciation der Gänzbauer vorgeladen und ihr ernstlich ins Ge-
wissen geredet hätte, so wäre der ganze traurige Process, dieses Denk*
mal hochgradiger Uncultur, erspart geblieben und hätte weder die Ge-
rechtigkeit noch sonst jemand Schaden genommen. Freilich: Fiat
Justitia! ist die Devise unserer Staatsmoral, mag darüber auch die
Der Fall Sauter. 351
Welt ZQ Grunde gehen. Woran es der Polizei in diesem Falle fehlte,
das ist das Verständniss für die Tragik des Lebens und für die MoÜTe
der Schuld, sowie, last, not least, der Tact."
Kaum irgend ein Gebiet menschlicher Verirmngen zeigt einen so
günstigen Boden zur Entfaltung von Suggestiywirkungen als der Aber-
glauben. Derselbe stellt sich stets, wie von Löwenetimm^) treffend
ansgeftlhrt wurde, als ein Product der Unwissenheit und Unentwickeltheit
ganzer Volksklassen dar und führt gar nicht selten zur Yerttbung
ansserordentlich grausamer Verbrechen. Nach Löwenstimm müssen
Personen, die aus abergläubischen Impulsen handeln, einer Strafe unter-
zogen werden, weil sie Tollkommen bewusst verfahren. Trotz des be-
stehenden gesetzlichen Verbotes der Gaukelei, Wahrsagerei etc. ist auch
heute noch sowohl in den grösseren Verkehrscentren, wie auch auf dem
Lande der Aberglaube in verschiedenen Formen weit verbreitet. Das
Weissagen (alias Hellsehen), Kartenschlagen erfreut sich heute noch,
wenigstens in München, einer fast ebenso grossen Beliebtheit und einer
ebenso grossen Verbreitung, wie die gesetzlich gestattete Kurpfuscherei
mit Sympathiemitteln, animalischem Magnetismus etc. Selbst in der
Weltanschauung der Gewohnheitsverbrecher sind abergläubische Sitten
häufig anzutreffen.
Da Verbrechen aus Aberglauben durch Furcht vor Strafe nicht
verhütet werden, so sind eine wissenschaftliche Erforschung des Aber-
glanbens, wie sie von Lehmann, StoU, Grooss u. a. bereits durch aus-
gezeichnete Arbeiten angebahnt wurde, neben gesetzlich vorbeugenden
Maassregeln, vor allem aber eine vernünftige Erziehung und Volksauf-
klärung wohl als die wirksamsten Mittel zur Bekämpfung desselben
anzusehen. Kirche und Schule können in diesen Punkte eine ideale
Aufgabe erfüllen.
Das Suggestivmoment im Aberglauben ist ausführlich von Stoll')
gewürdigt und neuerdings anch von Bechterew.*) Die Geschichte
der Schamanen, Propheten. Heiligen, Visionäre, der Massenpsychosen
bietet ein überreiches Feld für das Studium der Suggestionslehre. Erst
durch die letztere sind zahlreiche räthselhafte Erscheinungen in der
Geschichte der Völker und einzelner Personen dem psychologischen
Verständniss erschlossen worden. Und ohne Kenntniss derselben würden
^) Löwenstimm, Aberglaube nnd Strafrecht. Berlin 1897. Rade.
*) S t o 1 1 , Suggestion u. Hypnotismus in der Völkerpsychologie. Leipzig 1894.
') Bechterew, Suggestion und ihre sociale Bedeutung. Leipzig, Georgi, 1899.
35S ▼• Sohrenok-NotBing.
Bichter nnd Oeschworene solchen auffallenden, soheinbar motirlosen
Gfesetzesyerletzungen gegenüber, wie sie der Fall Sauter gezeigt hat,
za Terhängnissvollen Justizirrthümem verleitet werden. Nach diesen
und manchen neueren Erfahrungen gewinnt es den Anschein, als ob
die Lehre ron den suggestiven Erscheinungen auch auf dem G-ebiet der
Criminal-Psychologie eine grössere Aufgabe zu erfüllen habe, als man
bisher auch in den Kreisen der Fachgenossen geahnt hatl Möge sie
im Stande sein, auch nach dieser Bichtung berechtigten Erwartungen
und Anforderungen im vollen ümiange zu entsprechen!
Die möglichen Formen seelischer Einwirkung In ihrer ärztlichen
Bedeutung.
Eine programmartige XJeberaicht
von
Oskar Yogt.
Die folgenden Ausführungen sollen in knappster Form die medi-
cinische Bedeutung der yerschiedenen Formen seelischer
Einwirkungen auf Geist und Körper behandeln. Es handelt sich
also nur um eine programmartige üebersicht, wie sie aus meinen dies-
bezüglichen Studien resultirt. Dabei wird der Lehre von den ärztlich
wichtigen Folgewirkungen seelischer Erscheinungen nur soweit Rechnung
getragen, als es sich um eine Zusammenstellung der yerschiedenen
Formen psychischer Erscheinungen und ihrer Folgewirkungen handelt.
Dagegen werden wir nicht näher auf die Modificationen der yerschie-
denen Folgewirkungen eingehen, soweit diese yon der Art des jedes-
maligen Bewusstseinszustandes abhängen. Eine Suggestion im
Wachsein und in der Hypnose, ein affectstarkes Erinnerungsbild im
Moment, wo unser Bewusstsein yon anderen Bewusstseinserscheinungen
erfüllt ist, und im Zustand eines Traumes werden in ganz yerschiedener
Weise unser weiteres psychophysisches Leben beeinflussen*. Es soll
aber Sache einer besonderen Arbeit sein, die yom normalen Wach-
sein abweichenden Zustände mit Bücksicht auf die jedesmaligen Yer-
änderungen der ärztlich ydchtigen Folgeerscheinungen psychischer
Phänomene zu schildern. Wir wollen im Folgenden auf diese Fragen
nicht näher eingehen, sondern uns eben auf die yerschiedenen Ein-
wirkungsformen seelischer Erscheinungen beschränken.
Dabei' sind drei Bichtungen zu unterscheiden, in denen diese
Emwirkungsformen eine medicinische Bedeutung gewinnen können.
Zeitechrift für Hypnotismufl eto. IX. 23
364 Oskar Vogt.
Zunächst sind sie im Stande, Krankheitserscheinungen hervorzurufen.
Wir haben es hier mit einer Disziplin zu thun, die wir als Psycho-
pathogenie bezeichnen wollen. Sie umfasst die Lehre yon allen
jenen krankhaften Phänomenen; welche durch seelische Ursachen ver-
anlasst werden. Eine zweite Richtung, in der seelische Einwirkungen
für uns von Bedeutung werden, ist die therapeutische. Es kommen
hier die verschiedenen psychischen Einflüsse in Betracht, durch die wir
pathologische Erscheinungen irgend welchen Ursprungs mit Erfolg be-
kämpfen. Schliesslich resultirt aus der Thatsache, dass gewisse krank*
hafte Erscheinungen psychischen Ursprungs sind, die ärztliche For-
derung der Vermeidung solcher pathogen wirkender Bewusstseinser«
scheinungen und damit eine neue Disciplin, diePsychoprophylaxe.
Ihre Aufgabe ist es, die Wege zu erforschen, auf welchen schädliche
Bewusstseinserscheinungen nach Kräften in ihrem Auftreten verhindert
werden können.
Der specielle Zweck der weiteren Zeilen ist nun der Nachweis
der grossen Mannigfaltigkeit solcher medicinisch-wichtigen Formen
seelischer Einwirkung und die Aufforderung zu einer bisher leider nickt
erfolgten gleichmässigen Bearbeitung des ganzen Gebietes. Wohl
nie hat eine neue medicinische Disciplin so langsame Fortschritte ge-
macht, wohl nie ist eine mit solcher Gehässigkeit bekämpft worden,
wie die Lehre von der medicinischen Bedeutung der seelischen Er-
scheinungen. Der Grund liegt für den Eingeweihten nicht so sehr
verborgen. Es liegt in dem für das Gros der Aerzte charakteristischen
Mangel an normalpsychologischem Wissen begründet, dass bis auf den
heutigen Tag dieser ganzen Lehre so wenig Verständniss entgegen-
gebracht und so wenig Bedeutung beigemessen wird.
Immerhin dringt die Anerkennung dieser Lehre mehr und noehr
durch und vergrössert sich die Zahl der Forscher, die sich um ihre
Vertiefung verdient gemacht haben. Seit dem Tage, wo Bernheim
die Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Welt auf die Lehren Lie*
beault's lenkte und Charcot durch den Nachweis der Entstehung
hysterischer Erscheinungen durch Vorstellungen eine Psycho-Pathogenie
begründete, hat die Ihrkenntniss ärztlich bedeutungsvoller seelischer
Einwirkungen an Umfang immer mehr zugenommen. Zunächst ist die-
jenige Form seelischer Einwirkung, die wir als Suggestion ^) bezeichnen,
^) Vgl. über den Begriff der Suggestion 0. Vogt, Die Zielvorstellung der
Suggestion. Diese Zeitschr., Bd. V, und die weiteren Ausführungen.
Die möglichen Formen seellBcher Einwirkung in ihrer ärztlichen Bedeutung. g55
das Object zahlreicher Stadien geworden. Weiterhin ist dann speciell
die Psychogenie der Hysterie und verwandter Neurosen gefordert
worden. Daneben ist es vor Allem das Verdienst 0. Rosenbach 's ^)
schon relativ früh eine Seihe psycbogenetischer Mechanismen aufgedeckt
zu haben, die nicht in den Bahmen der Suggestion hineingehören und
die andererseits sich auch nicht nur bei „Nervösen'* bemerkbar machen.
Insbesondere hat dieser Autor auch auf die therapeutische Bedeutung
der Erkenntniss solcher psycho-pathogenetischer Mechanismen aufmerk*
sam gemacht. Den Begriff der Psychotherapie haben u. a. Loewen-
feld*), Ziehen*), v. Schrenck-Notzing*) weiter auszudehnen
sich bemüht. Eine Reihe von Arbeiten sind in jüngster Zeit der
speciellen Frage der Beschäftigungstherapie gewidmet.*^) Das was
endlich v. Leyden und G-oldscheider^) in neuerer Zeit über die
medicinische Bedeutung der Reize ausgeführt haben, fallt meiner An-
sicht nach in der Hauptsache in unser Thema. Alle die Reize, deren
Wirksamkeit irgendwie hervortreten, verlaufen nicht ohne psychischen
Parallelvorgang. Von diesem auszugehen erscheint uns aber aus
erkenntnisstheoretischen Gründen rathsamer^ als von einer physio-
logischen Theorie. Schliesslich sei noch eine Arbeit Oppen heim 's ^
erwähnt, in der er von der pathogenen Bedeutung der Leetüre spricht
und damit ein Kapitel der Psychoprophylaxe berührt.
An diese Arbeiten soll sich die folgende Uebersioht als eine kurze
Znsammenfassung meiner eigenen Studien anschliessen. Gleichzeitig
soll sie auf die einzig vemunftgemässe Begründung dieser gesammten
Erscheinungen hinweisen, auf ihre Begründung nämlich durch die
^) Vgl. die Sammlung einer Reihe von Arbeiten dieses Autors in Rosen-
bach, Nervöse Zustände etc. Berlin 1897. Referat diese Zeitschr., Bd. YI, pag. 62 ff.
') Loewenfeld, Lehrbuch der gesammten Psychotherapie. Referat in
dieser Zeitschr., Bd. VI, pag. 65 ff.
*) Ziehen, Psychotherapie. Referat in dieser Zeitschr., Bd. YJLLL, pag. 318 f.
^)t. Schrenck-Notzing, Psychotherapie. Referat in dieser Zeitschr.,
Bd. Vm, pag. 370f.
*) Soweit sie auf Nervenkranke Bezug haben, sind sie citirt in 0. Vogt,
Zar Indication der Beschäftigungstherapie bei functionellen Nervenkranken. Wiener
klinische Rundschau 1900.
*) V. Leyden u. Goldscheider, Elektrotherapie in ihren „Erkrankungen
des Rückenmarks''. Wien 1897, pag. 200 ff. und Goldscheider, Die Bedeutung
der Reize für Pathologie u. Therapie. Leipzig 1898.
') Vgl. darüber weiter unten!
*) Oppenheim, Nervenkrankheit und Leetüre. Deutsche Ztschr. f. Nerven-
heilkunde, Bd. 14.
23*
356 Oskar Vogt.
Erf ahrung 8 that Sachen der normalen Psychologie. Frühere
Arbeiten^) aus meiner Feder haben wohl hinreichend bewiesen, dass
ich physiologischen Interpretationen psychischer Phänomene durchaus
nicht abhold bin. Sehe ich doch in der Ergründung der physiologiscben
Parallelvorgänge psychischer Erscheinungen ein wichtiges heuristisches
Princip ! Aber man darf niemals — wie ich auch nie zu betonen ver*
gössen habe — die geringe empirische Grundlage solcher Ideengange
vergessen. Eine einzige neue Erkenntniss im Gebiete der functionellen
Mechanismen des Centrahiervensystems kann alle bisherigen physio-
logischen Theorien über den Haufen werfen. Dagegen liefert uns die
empirische Psychologie ein Thatsachenmaterial, dessen Sicherheit nnr
ein fftlscher erkenntnisstheoretischer Standpunkt verkennen kann. Dass
nach einer vollständigen Concentration der willkürlichen Aufmerksamkeit
auf die Absicht der willkürlichen Ausführung einer Armbewegung diese
wirklich erfolgt, das ist eine Erfahrungsthatsache, die noch niemals
eine Ausnahme gezeigt hat und die deshalb ungeheuer viel sicherer
dasteht als irgend eine physiologische Theorie nervöser Erregungen von
motorischen Centren und ihren Folgewirkungen. Auch das, um noch
ein Beispiel zu erwähnen, was wir von Erregung und Hemmung psy-
chischerseits wissen, ist wesentlich fester fundirt als die Erkenntniss
ihrer physiologischen Seite, selbst wenn man diese Erkenntniss nicht
auf eine moderne histologische Theorie zustutzt. So glaube ich die
Lehre von den medicinisch wichtigen Formen seelischer Einwirkungen
auf Geist uiid Körper besser zu begründen, wenn ich nachweise, dass
jene Erscheinungen Specialfälle allgemeinerer psychischer Elrfahrungs-
tiiatsachen^ darstellen, als wenn ich dieselbe durch unsichere physio-
logische Hypothesen zu stützen suche.
Wir wollen dabei speciell von der Erfahrungsthatsache ausgeheo,
dass — neben allen übrigen realen Bewusstseinserscheinungen — auch
insbesondere alle diejenigen, welche eine medicinisch vdchtige Folge-
wirkung haben, das gemeixisame Charakteristikum aufweisen, dass sie
') ^gl- 0. Vogt, PhyBiologiJscher Erklärungsversuch der Suggestion in Forel,
Hypnotismus, 3. Aufl. 1895, und meine vier Abhandlungen „Zur Kenntniss des
Wesens und der psychologischen Bedeutung des Hypnotismus". Diese Zeitsehr^
Bd. in u. IV.
^ Eine sehr knappe Zusammenstellung der für dieses unser Bestreben wich-
tigen Erfahrungsthatsachen der normalen Psychologie findet sich in 0. Vogt,
Normalpsychologische Einleitung in die Psychopathologie der Hysterie. Diese
Zeitschr., Bd. Vlll. Bezüglich der in den folgenden Ausführungen angewandten
Nomendatur verweise ich hiermit ein für alle Male auf jenen Artikel
Die möglichen Formen seelischer Einwirkung in ihrer ärztlichen Bedeutung. 357
stets ein intellectuelles Moment enthalten. Dieses stellt ent-
weder eine Empfindung oder das Erinnernngsbild an solche Empfin*
(iuDgen, d. h. eine Vorstellung, dar. Es braucht aber nicht in allen
Fällen bewusst zu werden. Es ist unter UmstiLnden nur eine unter der
Bewnsstseinsschwelle verlaufende Erregung seines materiellen Parallel-
Torganges nöthig, um bereits eine für uns bedeutsame Folgewirkung
zn veranlassen.
Diese Folge Wirkungen selbst sind in einem Theil der Fälle un*
mit tel bar auf die Eigenthümlichkeiten der intellectuellen Bestandtheile
der betreffenden Bewusstseinserscheinungen zu beziehen. Dabei können
diese intellectuellen Bestandtheile bald durch ihre Intensität; bald
durch ihre Qualität den für uns wichtigen Einfluss ausüben. Da*
neben giebt es aber auch mittelbare seelische Einwirkungen intel-
lectueller Momente. Die letzteren sind zum Theil durch die Gefühls-
töne der in Betracht kommenden intellectuellen Erscheinungen ver-
anlasst. Zum Theil werden sie direct oder indirect von secundären
intellectuellen Erscheinungen ausgelöst, die ihrerseits erst associatiy
TOD primären Bewusstseinserscheinungen angeregt wurden. So gelangen
wir zur Unterscheidung von vier Hauptgruppen seelischer Einwirkungen.
Diese können hervorgerufen werden durch:
1. die Intensität der intellectuellen Erscheinungen,
2. die Qualität intellectueller Erscheinungen,
3. Gefühle und
4. associativ geweckte nach Modus 1 — 3 wirksame Bewusst-
seinserscheinungen.
Dabei wollen wir nicht versäumt haben, darauf hinzuweisen, dass
diese Classification gleich jeder anderen solche Wirkungsformen von-
einander trennt, die vielfach in einer und derselben realen seelischen
Einwirkung miteinander vereinigt sind.
Weiterhin können wir bei jeder der genannten Formen seelischer
Einwirkung zwei einander entgegengesetzte Untergruppen medi*
cinisch bedeutsamer Wirkungen unterscheiden. Einmal kann nämlich
das Vorhandensein einer seelischen Einwirkung und ein anderes
Mal das Fehlen derselben eine ärztlich wichtige Wirkung nach sich
ziehen.
Unter Zugrundelegung dieser Classification wollen wir uns dann
nunmehr der Betrachtung der einzelnen Einwirkungsformen zuwenden.
368 Oskar Vogt.
A. Unmittelbar wirksame intellectuelle Erscheimmgen.
Als erste Form seelischer EinwirkuDg wollen wir also diejenige
betrachten, bei welcher intellectuelle Erscheinungen durch ihre In-
tensität die ärztlich wichtige Wirkung auslösen. Dabei dehnen wir
den Begriff der Intensität auch auf eine grössere Zahl schwächerer
und auf einzelne an sich schwache aber lange dauernde intel*
lectuelle Bewusstseinsvorgänge aus. Denn das wirksame Agens bleibt
in den eben genannten Fällen ebenfalls die Intensität. Sesultirt doch
eine solche aus der Summirung der schwächeren Vorgänge ! Auf der
anderen Seite tritt die Qualität der wirksamen intellectuellen Erschei-
nungen gegenüber der Intensität vollständig in den Hintergrund.
1. Das Vorhandensein intensiver intellectaeller Erscheinungen.
Durch ihre Intensität können intellectuelle Erscheinungen einmal
hemmend und andererseits bahnend oder erregend wirken. Diese
Thatsache führt zu einer entsprechenden weiteren Eintheilung der
durch ihre Intensität wirksamen intellectuellen Erscheinungen in die-
jenigen, welche einen hemmenden und diejenigen, welche einen bahnenden
Einfluss ausüben.
a) Durch ihre Intentitlt hemmend wirkende intellectuelle Erscheinungen.
Die auf diese Weise zustande kommende Henmiung kann nim
wiederum eine zum mindesten zweifache Ursache haben. Zunächst
kann eine intensive intellectuelle Erscheinung zu einer Erschöpfung
und Ermüdung^) führen, und auf diese Weise die Erregbarkeit
gewisser Bewusstseinserscheinungen stark herabsetzen. Neben dieser
Henmiungsform kommt eine zweite dadurch zustande, dass die psycho-
physische Energie anderweitig absorbirt wird. Die durch einen
solchen Mechanismus gehenmite Bewusstseinserscheinung zeigt einen
verminderten Grad von Erregung: nicht etwa weil ihre Erregbarkeit
an und für sich eine Einbusse erlitten hat, sondern weil ihr nicht die
anderweitig absorbirte Reizenergie in genügender Menge zugeführt wird.
a) Durch Hervorrufung von Erschöpfung und Ermü-
dung hemmend wirkende intellectuelle Erscheinungen.
^) lieber die Begriffe ^^Erschöpfung'' und „Ermüdung" (letztere = „Schlaf-
hemmung" vgl. O. Vogt, „Zur Kenntniss des Wesens u. der psychol Bed. dei
Hypnot. Diese Ztschr., Bd. III; 0. Vogt, Zur Indication der Beschäftigungs-
therapie. Wien. klin. Rundschau 1900.
Die möglichen Formen seelischer Einwirkung in ihrer ärztlichen Bedeutung. 369
Als noriualpsychologiscbe Beispiele der Erschöpfung und
Ermfidang können wir den Znstand nach dem Anhören einer Wagnerschen
Oper oder nach einer grossen Bergtour anführen.
Das pathologische Paradigma der Erschöpfung ist die Neu-
casthenie. Ihre Genese kann die sein, dass zu inten8i?e Empfindungen
imd VorstelluDgeD einen Erschöpfungszustand hervorrufen, der nicht
durch eine kurze Buhe wieder ausgeglichen wird und sich gerade da-
durch als einen krankhaften Zustand documentirt. Es ist gewiss
richtig, dass man in der Vorgeschichte Neurasthenischer meist auch
starke G-emüthsbewegungen nachweisen kann. . Ob aber in solchen
Fällen die Gefuhlselemente dieser Gemüthsbewegungen als solche auch
die Neurasthenie mitbedingt oder nur durch ihre Bückwirkung auf den
intellectuellen Bewusstseinsinhalt ^) eine indirecte pathogene Wirkung
ausgeübt haben, muss noch eine offene Frage bleiben. JedenfallB
können wir aber constatiren, dass es keine Gemüthsbewegungen ohne
intensive und lang anhaltende intellectuelle Bewusstseinserscheinungen
giebi Das Vorhandensein intensiver intellectueller Erscheinungen ist
also überall da über allem Zweifel nachgewiesen, wo Gemüthsbewegungen
festgestellt sind. Mit Becht wird man daher wenigstens einen Theil
der neurasthenischen Elrscheinungen auf sie beziehen. Als besonders
instmctiv für die pathogenetische Bedeutung durch ihre Dauer intensiv
werdender intellectueller Erscheinungen erweisen sich die sogen. Be-
schäftignngsneurosen, die man auch als localisirte und systematisirte
Neurasthenien bezeichnen könnte. Neben denjenigen Beschäftigungs-
oeurosen, wie sie die Waschfrau, die Näherin, der Musiker, der Schreiber
n. 8. w. darbieten, sei hauptsächlich auch auf solche wesentlich circum-
scripte neurasthenische Zustände hingewiesen, welche wir bei „geistigen"
Arbeitern finden, wenn sie sich längere Zeit in einseitiger Weise be-
thätigt haben, ohne dass gleichzeitig andere Schädigungen des Nerven-
systems aufgetreten sind.
Eine therapeutische Bedeutung gewinnt die Hemmung durch
Erschöpfung in den Fällen, wo man einen Schmerz oder eine andere
Sensation durch eine „Ueberreizung" beseitigt, wie man z. B. eine Top«
algie durch starkes Faradisiren der schmerzhaften Körperstelle zum
Schwinden bringen kann. Hier handelt es sich also darum, dass eine
iiathologisch stark erregte Bewusstseinserscheinung durch eine vor-
*) Vgl. daraber O. Vogt, Normalpsychol. Einleitung etc. Diese Zeitschr.,
Bd. vin.
360 . Oskar Vogt.
Übergehende, noch stärkere Erregung erschöpft und so in ihrer Er-
regbarkeit herabgesetzt wird. Aber selbstverständlich kann eine solche
Herabsetzung der Erregbarkeit nur eine vorübergehende Dauer zeigen.
Wo Heilwirkungen auf diese Weise erzielt werden, treten noch andere
psychische Momente ^), wie z. B. Autosuggestion, secundär in Thätigkeii
Hierher gehört femer einer der Mechanismen, durch welche die
stärkere Erregung gewisser hysterogener 2k)Den die durch ihre schwä-
chere Ehregung ausgelösten hysterischen Erscheinungen coupirt. Da,
wo man mit Erfolg diesen therapeutischen Handgriff anwendet, beob-
achtet man zunächst eine Zunahme des hysterischen Phänomens and
dann, oft sehr plötzlich, ein mehr oder weniger vollständiges Schwinden:
der Erschöpfdngs- und Ermüdungszustand ist eingetreten. In enge
Beziehung zu diesem therapeutischen Verfahren möchte ich das von
Breuer und Freud beschriebene Verfahren des Abreagirens stellen.
Nachdem eine Bewusstseinserscheinung durch gesteigerte Concentration
der Aufmerksamkeit auf dieselbe einige Zeit in stärkster Weise erregt
war, nimmt ihre fhregbarkeit durch Erschöpfung und Ermüdung so-
weit ab, dass dieselbe zur Zeit nicht mehr jenen Grad von Erregung
ermöglicht, der die Voraussetzung der hysterischen Folgewirkung ist.
Aber wie bei allen übrigen Fällen von therapeutischen Erfolgen durch
Hervorrufung der Elrschöpfung ist auch ein eventueller Dauererfolg
des „Abreagirens** nur auf secundär hinzugetretene Heilfactoren zurück«
zuführen..
ß) durch Absorption der psychophysischen Energie
hemmend wirkende intellectuelle Erscheinungen«
Eine normalpsychologische Hemmung durch Absorption
der psychophysischen Energie beobachten wir bei jedem Wechsel des
Bewusstseinsinhaltes. Eine neue Bewusstseinserscheinung kann nicht
in den Mittelpunkt des Bewusstseins treten, ohne dass gleichzeitig die
ihr vorangegangene schwände.
Eine pathologische Bedeutung gewinnt diese Erscheinung in
der Thatsache, dass Schmerzen, Zwangsvorstellungen und andere krank*
haft intensive intellectuelle Erscheinungen das Auftreten anderer 6e-
wusstseinserscheinungen hemmen und so die Entschluss- und Arbeits-
fähigkeit des betreffenden Kranken stark herabsetzen.
^) lieber einige andere dafür in Betracht kommende psychophysische Mechi-
nismen siehe die Bemerkungen über die eventuelle Heilwirkung durch Absorption
wirkender intellectueller Erscheinungen unter ß.
Die möglichen Formen seelUcher Einwirkung in ihrer arztlichen Bedeutung. 361
Der therapeutische Werth der Hemmung krankhafter Er-
scheinungen durch anderweitige Absorption der psychophysischen
Energie ist ein sehr grosser.
Eine erste Form, die aber gleichzeitig die geringste Bedeutung
hat, ist die: durch Hervorrufung eines Schmerzes oder
anderer stärkerer Sensationen eine krankhafte Sensation oder
gelegentlich auch pathologische Affectzustände zu beseitigen. Es ist
auch hier wieder selbstverständlich, dass die Hervorrufung eines neuen
Schmerzes unmittelbar nicht zur Dauerheilung einer anderweitigen
krankhaften Sensation fuhren kann. Aber in manchen Fällen genügt
es Kranken, die längere Zeit an einem ständigen (nur hallucinirten)
Schmerz gelitten haben, nur zu zeigen, dass ihr Schmerz beseitigungs-
fahig ist, um damit die Bedingungen für die Fortdauer jener Halluci-
nation auf immer zu zerstören. Zu anderen Malen, z. B. bei zeitweise
auftretenden krankhaften Affectzuständen, z. B. Angstanfallen oder
hysterischen Attaquen, ist schon viel gewonnen, wenn uns auf diese
Weise die Coupirung der einzelnen Anfalle gelingt. In vielen Fällen
endlich darf man aimehmen, dass eine immer wieder erneute Vornahme
eines in diese Bubrik fallenden therapeutischen Eingriffs allmählich an
Stelle der pathologischen psychophysischen Constellation, der die krank-
hafte Sensation entspricht, eine andere schafft und auf diese Weise
schliesslich eine Heilung herbeifuhrt oder wenigstens einen der
wirklich heilenden Factoren bildet. Dabei kommt eine solche Aen-
demng der psychophysischen Constellation in der Weise zustande, dass
durch die immer erneute Henmiung die krankhaft intensiv erregte Be-
wusstseinserscheinung allmählich infolge der vielfachen Verminderung
ihrer Erregung an Erregbarkeit einbüsst und andererseits die beständige
Wiederholung derselben therapeutischen Procedur einen neuen Bewusst^
seinszustand schafft, der mehr und mehr an Erregbarkeit zunimmt
und so allmählich dauernd die psychophysische Energie absorbirt, ohne
noch immerfort von aussen einer besonderen Anregung zu bedürfen.
Die krankhafte Bewusstseinserscheinung ist nunmehr dauernd gehemmt,
ohne dass noch die Therapie fortgesetzt zu werden braucht.
Eine zweite Form ist die der Zerstreuung. Dieselbe wird im
Allgemeinen entschieden mehr angewendet, als sie es verdient. Lnmer*
hin ist aber ihre therapeutische Bedeutung nicht zu unterschätzen.
Sie ist da indicirt, wo eine Ablenkung der Aufmerksamkeit nur vor-
übergehend nothwendig ist. Dabei muss die Zerstreuung so gestaltet
sein, dass sie im Stande ist, die Aufmerksamkeit des Kranken zu fesseln.
362 Oskar Vogt.
Wenn ein Kranker z. B. durch einen einfachen Spaziergang nicht hin-
reichend abgelenkt wird, so ist dieser durch einen Ritt oder eine
Yelocipedfahrt etwa zu ersetzen u. s. f.
Im Allgemeinen und namentlich bei schweren Kranken ist eine
dritte hierhergehörende Therapie der Zerstreuung weit überlegen: die
Beschäftigung, die Verrichtung social nützlicher Arbeit. Ich halte
diese Form der Absorption der psychophysischen Energie fiir einen der
allerwichtigsten psychischen Heilfactoren. Speciell bei gewissen Gruppen
Ton Nervenkrankheiten spielt sie eine ganz besondere therapeutische
RoUe. Ich habe erst kürzlich die Indication und die Gestaltung solcher
! „Arbeitscuren^' an anderen Stellen eingehend erörtert^), so dass ich
hier nicht näher auf dieses Thema eingehen möchte.
Nur das sei noch erwähnt, dass wir in der Arbeit auch das beste
Prophylactikum gegen Recidive solcher krankhafter Zustände
haben, die durch egocentrisches Denken ausgelöst werden. Ebenso ist
eine richtig gewählte und zeitlich passend angeordnete Zerstreuung
sehr gut verwendbar zur Verhinderung des Auftretens mancher nervöser
Zustände.
b) Durch Ihre Intensität erregend wirkende inteliectuelle Erscheinungen.
Die andere Wirkung intensiver intellectueller Erscheinungen ist^
wie wir schon ausgeführt haben, die erregende oder bahnende!
Diese Wirkung hat ihren Grund in der allgemeinen Thatsache, dass
wiederholte Erregung einer Bewusstseinserscheinung ihre Erregbarkeit
steigert. Den Frocess dieser Steigerung der Erregbarkeit hat Exner
als „Bahnung^ benannt. Man bezeichnet dementsprechend diese er-
regende, d. h. die Erregbarkeit steigernde, Wirkung wiederholter Er-
regungen als eine bahnende.
Beispiele aus dem normalen Seelenleben sind das gesteigerte
Unterscheidungsvermögen fär Farben, welches den Maler vor dem
Laien auszeichnet, und die grössere Lebhaftigkeit solcher Erinnerungs*
bilder, die besonders oft, sei es als Empfindungen, sei es auch nur
als Erinnerungsbilder, in uns aufgetreten sind.
Von pathogener Bedeutung wird eine solche Bahnung bei allen
den E[ranken, die eine egocentrische Einengung ihres Denkens aus-
zeichnet. Die beständige Beobachtung dessen, was in ihnen vorgeht,
^) 0. Vogt, Ueber Beschäftigungstherapie bei functionellen Nervenkranken.
Psychiatr. Wochenschrift 1899. 0. Vogt, Zur Indication der Beschäftigungs-
therapie bei functionellen Kerrenkranken. Wiener klin. Bundschau 1900.
Die möglichen Formen seelischer Einwirkung in ihrer ärztlicher Bedeutung. 363
iu fortwährende Daraafacbten, ob nicht irgend eine Sensation da ist
Qod auf die Erkrankung dieses oder jenes Organes hinweist, steigert
die Erregbarkeit solcher Sensationen. Auf diese Weise können ander-
weitig bedingte krankhafte BewnsstseinserscheiDungen verstärkt werden,
aber es können solche auch überhaupt erst so über die Schwelle des
Bewnsstseins gehoben werden.
Hierher gehört auch eine der Ursachen für das hallucinatorische
Fortbestehen ursprünglich organisch bedingter Schmerzen. Ein Kranker
consultirte yor Jahren ye^eblich wegen einer Neuralgie alle ärztlichen
Capacitäten. Die Neuralgie blieb, yon geringen, vorübergehenden
Besserungen abgesehen, die gleiche. Lange hat der Kranke nunmehr
auf jede weitere ärztliche Behandlung verzichtet. Und erst durch
langes Zureden seiner Freunde hat er sich zu einem erneuten thera*
pentischen Versuch entschlossen. Und siehe da, in sehr kurzer Zeit
verliert er seine Neuralgie. Ist in einem solchen Falle der letzte Arzt
geschickter als die früheren? Keineswegs. In jener ersten Periode
bandelte es sich um eine echte Neuralgie. Weiterhin war aber an die
Stelle der organisch bedingten Schmerzempfindung ihr durch die lange
Dauer der Neuralgie so erregbar gewordenes Erinnerungsbild getreten.
Dank dieser grossen Erregbarkeit jenes Erinnerungsbildes genügte die
Furcht vor dem Schmerz zu seiner Fortdauer. Als dann aber eine
erneute ärztliche Behandlung das Vertrauen des Kranken zu gewinnen
imd seine Furcht vor dem Schmerz zu beseitigen verstand, war damit
der Schmerz geheilt.
Was wir eben für die neuralgischen Schmerzen ausgeführt haben,
gut auch für andere Bewusstseinserscheinungen, die ursprünglich eine
organische Ursache hatten, über diese hinaus aber dank ihrer ge-
steigerten Erregbarkeit fortbestehen. Es kann so vor Allem eine ganz
specielle (systematisirte) Suggestibilität für dieses oder jenes Krankheits-
pfaänomen bei einer verhältnissmässig geringen allgemeinen Suggesti-
bilität entstehen. Es ist das eine Thatsache, die von vielen Aerzten
bisher noch viel zu wenig beachtet wird. An eine echte Neurasthenie
kann sich ein die gleichen subjectiven, aber nunmehr rein psychogenen
Symptome aufweisendes postneurasthenisches Stadium anschliessen.
Recidive von Rheumatismus, von sogen. Erkältungen, von Darmsymp-
tomen etc. können eine derartige psychische Genese haben.
Therapeutisch kommt die bahnende Wirkung intensiver oder
häufiger intellectueller Erscheinungen überall da in Betracht, wo die
Erregbarkeit nach Kräften zu steigern ist So gelingt es z. B. eine
364 Oskar Vogt.
Reihe hysterischer Sensibilitätsstönmgen durch periphere Beize, z. B.
durch FaradisatioDy durch grosse Sümmgabeln, durch Temperaturreize
zu beseitigen, ohne dass man einen solchen Heilerfolg ausschliesslich
auf Suggestion zurückzuführen hat. Während nun eine solche Beein-
flussbarkeit hysterischer Sensibilitätsstörungen durch derartige pe-
riphere Beize meiner Ansicht^) nach für sie characteristisch ist, giebt
es weiterhin gewisse Folgezustände organischer Erkrankungen des
Nervensystems, die ebenfalls einer derartigen Therapie zugänglich sind.
Ich constatire heute bei einem Tabetiker eine Herabsetzung der
Sensibilität, die vom Fuss bis zur Höhe des Nabels reicht. Nach einer
faradischen Sitzung reicht die Sensibilitätsstörung nur noch bis zu den
Knieen. Wie ist dieses zu erklären? An eine Association zwischen
organischen und hysterischen Erscheinungen kann ich in diesem Falle
nicht glauben, denn auch eine längere Beobachtung des Kranken weist
durchaus nicht auf eine hysterische Veranlagung desselben hin. Ebenso
ist an eine Autosuggestion nicht zu denken, denn der Kranke ist sich
erst der ja noch nicht sehr ausgeprägten Sensibilitätsstörung vor Kurzem
durch eine anderweitige ärztliche Untersuchung bewusst geworden. Die
Erklärung, die ich für einen derartigen Heilerfolg gebe, ist folgende:
die Tabes ist nicht eine im eigentlichen Sinne des Wortes chronisch
verlaufende Ejrankheit, sondern sie tritt schubweise auf. Ein jeder
derartiger Schub ist nun nicht nur von Symptomen begleitet, die auf
die durch diesen Schub zerstörten nervösen Elemente zu beziehen sind,
sondern auch von auf Druck durch die acuten Entzündungsprocesse
zurückzuführenden sogenannten Fernwirkungen. Auf eine wirkliebe
Zerstörung nervöser Elemente war in dem vorliegenden Falle die
Sensibilitätsstörung bis zum Knie, auf eine Femwirkung die darüber
gelegene zurückzuführen. Als der Kranke zu mir kam, war bereits
die vor einigen Wochen aufgetretene organische Grundlage jener Fem-
Wirkung beseitigt. Aber in Folge der vorübergehend organisch ver-
anlassten Functionsaufhebung und damit bedingten Inactivität der be-
treffenden nervösen Elemente war auch für die Folgezeit eine Herab-
setzung der Erregbarkeit der Sensibilität bedingt, und es bedurfte
besonders starker Beize, um die verminderte Erregbarkeit zu beseitigen
und wieder zu einer normalen zu gestalten. In ähnlicher Weise
möchte ich auch die Erfolge der von Frenkel empfohlenen „Uebungs-
*) Vgl. 0. Vogt, Zur Kenntniss d. Wesens und der psychol. Bed. d. Hypnot,
Diese Ztschr., Bd. TTT, pag. 326, Anm. 4.
Die möglichen Formen seelischer Einwirkung in ihrer ärztlichen Bedeatang. 365
therapie" bei Tabischen und die analogen Aesultate bei anderen orga-
Bischen Lähmungen durch systematische motorische Uebungen inter-
pretiren. EUer handelt es sich um eine Hebung der herabgesetzten
Fonctionsfahigkeit durch vermehrte Zuführung von Beizen, ohne dass
man an das compensatorische Eintreten anderer nervöser Elemente zu
appelliren braucht Es handelt sich z. B. um eine kleine Blutung
in die innere Kapsel. In Folge der Druckerscheinungen sind die
AnsfaUserscheinungen zunächst grösser als sie der Zahl der direct
zerstörten Fasern entsprechen. Wenn der Kranke nun in diesem
Stadium das gelähmte Körperglied zu innerviren sucht, so wird die
psycbophysische Energie nicht in die motorische Bahn abfliessen können,
weil diese zur Zeit leitungsunfähig ist. Aber irgendwo muss diese
psf chophysische Energie hiofliessen und so werden bei den wiederholten
TergebUchen Innervationsversuchen anderweitige von der motorischen
Region abgehende Leitungsbahnen immer wieder erregt werden. Treten
nun auch allmählich die Resorptionsprocesse auf, und heben sie die
Fnnctionsunfahigkeit der nicht zerstörten Nervenbahnen auf, so werden
immerhin noch zunächst jene Bahnen, in welche die psychische Energie
während der letzten Zeit abgeflossen ist, an Erregbarkeit die recon-
Talescenten NerTenbahnen übertreffen. Die Folge davon ist, dass auch
jetzt Lmervationsversuche in Folge anderweitiger Ableitung der psycho-
physischen Energie zu recht geringen Bewegungen des betreffenden
Körpergliedes fuhren. Es bedarf da erst längerer systematischer Uebung,
also der besonderen Zuführung bahnender Reize, um den reconvales-
centen Nervenbahnen wieder die nothwendige Leitungsfahigkeit zu
geben und so die erreichbare BeweguugsfiUugkeit herzustellen.
Von dieser bahnenden Wirkung inteUectueller Vorgänge machen
wir schliesslich überall da Gebrauch, wo wir durch ihre Summirung
erst zur Erzielung der gewünschten therapeutischen Erfolge gelangen.
Vergegenwärtigen wir uns zur Blustrirung solcher Summirung
bahnender inteUectueller Erscheinungen das Vorgehen des Arztes bei der
Erzielung einer Hypnose. Der Arzt zeigt zunächst dem neuen Pa-
tienten einige Hypnosen schon länger behandelter Kranker. Die Pro-
cedur war bei den verschiedenen Fällen dieselbe. Der Arzt legte die
Hand auf die Stirn der Patienten, suggerirte durch Worte eintretende
Wärme, Schwere in den Augenlidern und allmähliches Einschlafen.
Als der Arzt nun den neuen Patienten Torninunt und seine Hand auf
dessen Stirn legt, da weiss der Patient bereits, welche Suggestionen
jetzt kommen werden. So beobachtet man denn auch gelegentlich,
366 Oskar Vogt.
dass ein Patient sofort in eine Hypnose verfallt. In den meisten Fallen
aber bedarf es doch noch detaillirter yerbalsuggestionen, um zum
Ziele zu kommen, und doch regen diese Worte in dem Patienten
keine neuen Gedanken an, sondern sie steigern nur die suggestive
Kraft bereits in ihm reger Vorstellungen. Sie haben also eme wesent-
lich bahnende Bolle. Gesetzt, der Arzt hat nun die Hypnose er-
reicht. Die Klagen des Patienten beziehen sich auf einen nerrösen
Magenschmerz. Wenn der Arzt nun dazu kommt, auf diesen suggestiv
einzuwirken, so legt er zur Zeit, wo er die entsprechenden Verbal-
suggestionen giebt, gleichzeitig die Hand auf die Magengegend des
Patienten. Er weiss nämlich aus Erfahrung, dass durch gleichzeitige
periphere Beize in der Gegend des Körpertheiles, in den der Kranke
seine Beschwerden projicirt, die suggestive Wirkung der Verbal-
suggestion gesteigert wird. Also auch hier handelt es sich um nichts
anderes als um eine solche Summirung bahnender Beize.
Was nun in dem eben analysirten Beispiele der Arzt mit seiner
Hand thut, lässt sich oft in noch vollkommenerer Weise durch locale
eiectrische Beize erreichen^).
Im Allgemeinen spielt aber die Qualität der Beize eine durchaus
untergeordnete Bolle. Die Summirung möglichst vieler Beize
ist in den hierher gehörigen Fällen das Ausschlag gebende.
«
2. Das Fehlen intensiver intellectaeller Erschemungen.
Bisher hatten wir von den Einvrirkungen zu vieler oder zu starker
intellectueller Erscheinungen auf Geist und Körper gesprochen. Wir
müssen uns nun den Folgen des Gegentheils zuwenden, den Folgen
zu weniger und zu schwacher intellectueller Erscheinungen. Indem
wir das nunmehr thun, wollen wir gleich hervorheben, dass uns hier
eine Beihe von Fragen entgegentreten, die zur Zeit nicht zu beant-
worten smd.
a) Das Fshien durch ihre Intensität hemmender inteliectiieller Erscheinimgeii.
a) Das Fehlen durch Hervorrufung von Erschöpfung
und Ermüdung hemmend wirkender intellectueller Er-
scheinungen.
Als ein Beispiel, dass eine gevdsse Erschöpfung zur normalen
^) Wir haben da dann aber gleichzeitig wiederum ein Beispiel von einer
psychischen oder, richtiger ausgedrückt, psychophysischen Wirkung des electrischen
Beizes, die ausserhalb des Bahmens der Suggestion föllt.
Die mogliehen Formen seellBcher Einwirkung in ihrer ärztlichen Bedeutung. 367
BethätiguBg des Seelenlebens nothwendig ist, kann wohl die Ab-
hängigkeit des Schlafes yon einem gewissen Grad von ErschöpAmg
dienen. Eine solche Abhängigkeit ist meiner Ansicht nach über allem
Zweifel erhaben. Haben wir doch in einer anderen Abhandlung ^) die
EiBcböpfung als die einzige Ursache für den Schlaf der Neugebomen
aasfmdig machen können.
Diese Abhängigkeit kann yielleicht auch eine pathologische
Folgewirkung annehmen, nämlich bei gewissen Hysterischen. Es giebt
Hysterische, die sich wochen- und eventuell jahrelang in einem Dämmer-
znstand befinden, der zum mindestens sehr viele Aehnlichkeit mit einem
partiellen Schlaf hat, wenn er nicht seinem physiologischen Wesen
nach überhaupt mit ihm identisch ist. Solche Hysterische leiden
eyentuell gleichzeitig an einer sehr ausgesprochenen Agrypnie. Sie
yerfallen oft sehr lange nicht in einen ¥nrklichen allgemeinen Schlaf«
Hierauf hat Sollier') vor Allem aufmerksam gemacht. Aber die Er-
Idärang, die Sollier für dieses Phänomen giebt, ist überhaupt keine
Erklärung. Dieser Autor sagt, derartige Hysterische schlafen nicht,
weil sie nicht gleichzeitig zwei „Schlafe'* schlafen können. Damit ist
das Problem aber gamicht berührt. Wenn wirklich der Dänmierzustand
dieser Kranken einen partiellen Schlaf darstellt, so ist die Frage die:
warum geht dieser partielle Schlaf nicht zeitweise in einen allgemeinen
über? Zur Beantwortung dieser Frage möchte ich an gewisse hyp-
notische Experimente erinnern. Es hat schon viel Erstaunen hervor-
gerofen, dass ein kataleptiscber Arm so langsam ermüdet. Woher
kommt das? Der Katalepsie geht eine starke Herabsetzung der Sen-
sibilität parallel. Die Summe von Empfindungen, die von einem kata-
leptischen Arm angeregt wird, ist bedeutend, geringer als die, welche
ein willkürlich in die Luft gehaltener Arm auslöst. Wenigstens theil-
weise in Folge dieser Verringerung der intellectuellen Erscheinungen tritt
die Erschöpfung wesentlich langsamer auf. Femer bringe ich hiermit
die Thatsache in Verbindung, dass psychologische Selbstbeobachtungen
im Znstand des systematischen partiellen Wachseins (d. h. einer par-
tiellen Hypnose) unvergleichlich viel weniger ermüdend wirken als
solche, die im normalen Wachsein ausgeführt werden. Auch hier ist
die Summe der erregten intellectuellen Erscheinungen in der partiellen
Hypnose eine weit geringere als im Wachsein. Wir verstehen so den
^) O. Vogt, Spontane Somnambulie in der Hypnose. Diese Zt^chr., Bd. VI.
') Sollier, Gentee et naiure de ThystSrie. 1897. Referat dieser Ztschr.,
Bd. Vm, pag. 21 ff.
368 Oskar Vogt.
geringeren Grad von Müdigkeit, den das Experimentiren in der par<
tiellen Hypnose im Vergleiche zu demjenigen im normalen Wachsein
heryomift. In einem verwandten Bewusstseinszustand befinden sich nun
die oben näher geschilderten Hysterischen. Ihr Bewusstseinsinhalt ist
ein sehr eingeengter. So verstehen wir das wesentlich verminderte
Auftreten von Erschöpfung. Wenn wir nun mit dieser geringeren Er*
Schöpfung die Schlaflosigkeit jener Kranken in Verbindung bringen, ao
finden wir dafür auch darin eine Stütze, dass diese Ejranken gar nicbt
in einem normalen Verhältnissen entsprechenden Grade über Müdigkeit
klagen und unter ihrer Agrypnie leiden.
Therapeutisch kommt eine Verminderung der erschöpfend
wirkenden intellectuellen Erscheinungen in der Form ärztlich verord«
neter Buhe in Betracht. Eine Indication dazu ist überall da gegeben,
wo zu viele und zu starke intellectuelle Vorgänge zu neurasthenischen
Zuständen geführt haben.
Diese Ruhe kann in dreifacher Weise verordnet werden: erstens
in der Form einer ruhiger gestalteten Lebensweise, zweitens in
derjenigen von zeitweise vollständiger Unthätigkeit, drittens
in derjenigen von Schlaf. Die zeitweise Unthätigkeit kommt einmal
in der Gestalt von Ruhepausen, welche in die Arbeitszeit eingeschaltet
werden, und dann in derjenigen einer kürzeren oder längeren Auf-
hebung aller Bethätigung unter gleichzeitiger Verordnung von Bettruhe
in Anwendung. Die intensivste Form der Ruhe wird vom Schlafe
gebildet. Neben dem spontanen Schlaf kann Schlaf durch Erriehung,
Suggestion oder durch Narcotica erzielt werden. Es können dabei,
wie bei der unthätigkeit gewisse Schlafpausen in die Arbeitszeit ein-
geschaltet werden oder es kann eine „Schlafcur'' in Anwendung kommen,
bei der die Patienten selbst ganze Wochen und Monate wesentlich
schlafend verbringen. In der Art und Weise, wie speciell ich solche
Schlaf euren gestalte, darüber hat Brodmann ^) eingehend berichtet
Eine Verminderung der erschöpfend wirkenden intellectuellen Er-
scheinungen ist schliesslich auch das beste Prophylactikum vor
einer Erschöpfung.
ß) Das Fehlen durch Absorption wirkender intellec-
tueller Erscheinungen«
Eine im Gebiet des normalen Seelenlebens liegende Folge*
*) Brodmann, Zur Methodik der hypnotischen Behandlung. Diese Ziaohr.
Bd. Yn, pag. 20ff. ,
Die möglichen Fonnen seelischer Einwirkung in ihrer ärztiichen Bedeutung. 869
witkong einer za geringen Zahl die psychische Energie absorbirender
intellectaeller Erscheinungen ist die in solchen Fällen zu Tage tretende
Einseitigkeit des Bewusstseinsinhaltes und der seelischen Bethätigung.
Eine pathologische Gestalt nimmt diese Erscheinung da an,
wo Einförmigkeit des Lebens oder Unthätigkeit zu pathogenem Wach-
tranmen, Grübeln und Denken an die eigene Person führt.
Therapeutisch ist die Zahl die Aufmerksamkeit in Anspruch
nehmender intellectueller Erscheinungen überall da zu beschränken, wo
die psychische Leistungsfähigkeit den an sie gestellten Anforderungen
Dicht genügt. Sollen intellectuell schwach befähigte oder an einer
krankhafben Ermüdbarkeit leidende Menschen noch in den Stand gesetzt
werden, social nützliche Arbeit zu yerrichten, so ist diese eben yer-
hältniBsmässig einförmig zu gestalten. Speciell bei der Lebensregelung
leicht erschopfbar^r Lidividuen ist dieser Gesichtspunkt vielfach ausser
Acht gelassen. Ich habe dementsprechend in meinen bereits citirten
Abhandlungen über Beschäftigungstherapie bei functionellen Nerven-
kranken speciell darauf aufmerksam gemacht und möchte mich daher
hier damit begnügen, darauf hingewiesen zu haben. Auch da, wo es
sich darum handelt, nicht constitutionell leicht erschöpf bare Individuen,
sondern solche, die an einer acuten Erschöpfung erkrankt sind, all-
mählich wieder zu ihrer früheren Leistungsfähigkeit zu erziehen, muss
man das Tagesprogramm relativ einförmig gestalten. Nur so kommt
das Moment der Einübung derartig stark zur Geltung, dass man bereits
bei einer an sich geringen Leistungsfähigkeit relativ hohe Leistungen
erzielt, und damit ein Resultat erreicht, welches hinwiederum vor
Allem dadurch günstig wirkt, dass es das Selbstvertrauen und die
Hoffimngsfireudigkeit der Patienten hebt.
Schliesslich ist eine relative Einförmigkeit der Bethätigung auch
das beste Prophylactikum vor einer zu grossen Verausgabung
psychophysischer Energie.
b) Das Fehlen durch Ihre Intentittt errsgander IntsllsctiMlIer Erschslnungen.
Unser Wissen von der Nothwend^keit intellectueller Vorgänge
für unser seelisches und körperliches Wohlbefinden ist noch ein sehr
geringes. Wir wissen heute, dass jedes Organ zu seiner normalen
Entwicklung und seinem normalen Bestände functioniren muss oder
wie wir uns ausdrücken, functioneller Reize bedarf. Aber wie sich
diese Frage speciell für das Gehirn gestaltet, darüber liegen noch keine
näheren Untersuchungen vor.
Zeitsehrift für Hypnotismiia etc. IX. 2^
/
370 Oskar Vogt.
Im normalen psychischen Leben äussert sich das Fehlen einer
hinreichenden Zahl bahnender intellectueller Momente z. B. darin, dass
daraus eine relative Leistungsunfähigkeit seelischer Bethätigungen re-
sultirtw Wir sprechen dann Ton einem Mangel an üebung.
Eine pathologische Form nimmt diese Erscheinung weiterhin
in den bereits oben erwähnten Fällen posthemiplegischer Functions-
herabsetzung an, wo diese nur eine vorübergehende organische Grund-
lage hatte und hinterher nur auf functioneller Grundlage weiterbesteht
Die hierher zu rechnende Therapie und Prophylaxe hat alle
jene intellectuellen Erscheinungen nach Kräften zu bekämpfen oder
zu vermeiden, welche durch ihre Bahnung eine pathogene Bedeutung
gewonnen haben oder zu gewinnen drohen« Speciell wollen wir in
diesem Zusammenhang darauf aufmerksam machen, dass wir auch zur
Vermeidung eines psychischen Nachstadiums oder psychischer Becidi?e
acute, sich stark psychisch äussernde Krankheiten möglichst schnell
zu beseitigen bemüht sein müssen, damit diese nicht erst sehr leicht
erregbare Erinnerungsbilder zurücklassen.
Fortsetzung folgt.
Casuistische Beiträge zur Psychotherapie
Von
Dr. Seif^ Nerrenarzt-München.
(2. Mittheilung.)
Fall 7.
FräQlein S., 28 Jahre, hereditär belastet (Mutter geisteskrank, Vater berühmter
Gelehrter, sehr nervös), ist eine hochbegabte und fleissige Künstlerin. Unter dem
Einflösse heftiger Gemüthserregungen und beruflicher Ueberanstrengung entwickelte
sich Yor ca. 5 Jahren unter steter Zunahme eine schmerzhafte Empfindlichkeit der
Augen gegenüber Licht, Lesen, Zeichnen, Malen und Schreiben, so dass sie
BchlieasÜch, um den ausserordentlich unangenehmen Beschwerden zu entgehen, zu
einer höchst peinlichen Unthatigkeit sich verdammt sah. Die schmerzhafte Em-
pfindlichkeit irradiirte, wenn die sie auslösende Thätigkeit nicht alsbald unter-
brodien wurde, nach der Stirne, den Schläfen, dem Scheitel und Hinterkopf.
Gemüthliche Erregungen begünstigten Eintritt, Dauer und Litensität der Erschei-
nangen. Ohne die obengenannten Umstände trat der beschriebene Zustand nie
ein; dann war und blieb der Kopf frei.
An anderen Krankheitserscheinungen bestanden noch: Neigung zu Migräne
bei den menses, labile, launenhafte Stimmung mit Tendenz zu chronischer tiefer
Verstimmung, Rückenschmerzen und grosse Ermüdbarkeit. Die objective Unter-
suchung ergab am 7. ü. 1897: Beide Bulbi sehr druckempfindlich, doppelseitige
Orarie, Steigerung der Haut- und Sehnenrefleze, sowie der cutanen Sensibilität.
A^ftch 4 Hypnosen, in denen jedes Mal nur Hypotazie erreicht werden konnte und
die Suggestionen durch leichtes Reiben und Streichen der Bulbi und der Stirne
anterstützt wurden, war die Dame soweit gebessert, dass die Lichtempfindlichkeit
Terschwand und sie wieder malen, lesen, zeichnen und studiren konnte, ohne
Besehwerden davon zu haben. Unter der Fortsetzung der Behandlung ging damit
aach die Hebung des psychischen Befindens sowie der körperlichen Frische und
Leistungsfähigkeit Hand in Hand, so dass sie nach im Ganzen 16 Hypnosen als
frei von krankhaften Erscheinungen entlassen werden konnte.
Drei Monate später kam durch grosse Gemüthserregungen in Folge der Er-
krankung^ und des TTodes des von ihr sehr geliebten Vaters ein Rückfall, der nach
9 Hypnosen wieder beseitigt wurde. Seitdem blieb sie, abgesehen von noch zwei
ideinen, unbedeutenden, ebenfalls durch Aufregungen bedingten Rückfällen, die
sie in ihrer Arbeitsfähigkeit nur wenig störten und nach wenigen Sitzungen ge-
heilt wurden, fast frei von jenen Erscheinungen.
Ganz ähnlich verhält es sich mit folgendem Falle :
Fall 8.
Herr v. K., 19 Jahre, schwer belastet (Grossvater und Urgrossvater väter-
Vicherseits starben an Paralyse, Vater, Mutter und eine Schwester sind sehr nervös),
24*
372 Dr. Seif.
Hystcro-Neurastheniker, bekam im Anschluss an eine schwere Influenzaerkrankung
vor 2 Jahren folgende, allmählich zunehmende Beschwerden: Schon nach einigen
Minuten Lesens, Schreibens oder angestrengten Denkens stellten sich Stunden und
Tage dauernde Schmerzen in beiden Augäpfeln, sowie intensive £op&chmerzen
ein, die „wie ein Band" um den Kopf empfunden wurden und jeder Behandlung
zu trotzen schienen.
Dazu klagte er aber grosse Reizbarkeit, Schlaflosigkeit, rasch wechselnde
Stimmung und häufige Selbstmordgedanken. Körperlich fühlte er sich sehr kraftig.
Objective Untersuchung 9. X. 1897: Fat. ist gross, kräftig gebaut, blass.
Innere Organe gesund. Sehnen- und Knochen -Reflexe gesteigert. Allgemeine
Hypalgesie der Haut auf Nadelstiche. Lebhafter Tremor der Zunge und der Hände.
Herr K. war sehr begabt und hatte am Gymnasium immer gute Fortschritte
gemacht. Mit dem Auftreten der Augenschmerzen aber wollte es mit dem Lernen
und Arbeiten nicht mehr gehen und er musste die Klasse repetiren. Da er auch
hier in Folge seiner Krankheit nicht vorwärts kam, wurde er der Schule entnommen.
Ich unternahm nun mit ihm eine 6 Monate dauernde hypnotische Behandlung,
in der er im Ganzen 68 Mal hypnotisirt wurde (Hypotazie). Erst nach 40 Hjrpnosen
war er so weit gebessert, ohne besondere Beschwerden täglich 1 — 2 Stunden m
studiren. TJeber diese Zeit hinaus nahmen die Beschwerden zu, doch waren sie
nie mehr von der früheren Heftigkeit. Am Schlüsse der Behandlnng trat er in
eine „Presse'' ein, wo er nicht nur dem ca. 6 stündigen Unterrichte ohne erhebücke
Beschwerden zu folgen vermochte, sondern auch noch seinen Hausaufgaben,
deren Anfertigung einige Stunden Zeit in Anspruch nahm, gerecht wurde.
Kamen wohl auch noch gelegentlich bei Ueberanstrengung Kopf- und Augen-
schmerzen, so waren sie doch nie mehr von der früheren, jede geistige Thätigkeit
lähmenden Intensität.
Ich habe Herrn von K. nochmals, Vt Jahr nach der Entlassung aus der Be-
handlung, nachdem er sein Fähnrichs-Examen bestanden, gesehen, wo er sich troit
der vorausgegangenen Anstrengungen desselben guten Befindens erfreute.
Die beiden unter 7 u. 8 mitgetheilten Fälle, die ich noch durch
mehrere ähnliche hätte yennehren können, gehören jenem Krankheits-
bilde an, das Möbius als „Apraxia algera'^ beschrieben hat. Immer
fiand ich auch jene „Aufhebung der Function wegen Schmerzhaftigkeit
der Function'^ bei hereditär schwer belasteten Individuen, lieber die
Zugehörigkeit der Symptome der Apraxia algera zum Symptomen-
complez der Hysterie kann m. E. kein Zweifel bestehen.
Was Prognose und Behandlung betrifft, so muss ich Möbius im
Ganzen Recht geben, wenn er erstere schlecht nennt. Doch beweisen
die beiden mitgetheilten Fälle, wenn es auch nur weitgehende Besse-
rungen sind, dass solche Besserungen möglich sind, und die SuggestiT-
therapie in manchen Fällen dieser für die damit Befallenen so entsetz-
lichen und qualvollen Ejrankheit mehr zu nützen vermag als ihr
Möbius zutraut. Dagegen habe ich von der Anwendung der Lokal-
Casuistische Beiträge zur Psychotherapie. 373
therapie gegenüber jenen Störungen nur Misserfolge und Verschlimme-
niogeo gesehen und kann ich deswegen mit Möbius nicht genug
davor warnen.
Fall 9.
Herr H., 32 Jahre, belastet (Mutter nerrös, deren Schwester geisteskrank,
die eigene Schwester Hysterica), wurde nach beruflicher Ueberarbeitung 1889/90
ond kurz darauf folgender schwerer Influenzaerkrankung nerrös und litt oft an
Kopfweh und Schlaflosigkeit. Nach schweren gemäthlichen Erregungen gesellten
sich dazu 1894 die Erscheinungen des acuten umschriebenen HautÖdems (Quincke).
Anfsllsweise, fast täglich, meist nach Aufregungen traten an den verschiedensten
Stellen des Körpers, in der Lenden- und Leistengegend, in den Kniekehlen, im
Kacken, in den Augenlidern, an Armen und Beinen umschriebene ödematöse
Schwellungen der Haut- und des Unterhaut-Bindegewebes auf, die, über die Haut
der Umgebung erhaben und gegen diese sich scharf abhebend, einen Umfang bis
zu 12 qcm zeigten und durch den Finger einzudrücken waren. Die begleitenden
subjectiven Störungen bestanden in sehr unangenehmer Spannung, selten in Jucken
oder Schmerzen. Die Schwellungen setzten meist des Abends ein, um am nächsten
Vormittag wieder zu verschwinden. Dabei war der Schlaf regelmässig gestört.
Auch bestand an den Tagen, wo die Oedeme auftraten, fast regelmässig Consti-
pation und Polyurie, die möglicher Weise auf gleichgeartete Oedeme in der Darm-
und Harnröhrenschleimhaut zurückzuführen waren. Die Augenlider sehwollen oft
derart zu^ dass vollständige Ptosis bestand. Meist war es die rechte Körperhälfte,
die von den Oedemen befallen wurde.
Körperlich zeigte der Pat. allgemeine Hypersensibilität, besonders rechts und
Steigerung der Patellarefleze. Psychisch bestand grosse Willensschwäche; oft
zeigte er ein träumerisches, apathisches Wesen, andere Male war er ausgelassen
lustig.
Verschiedene Curen, die er zur Heilung der lästigen Beschwerden durch-
gemacht, Bäder, Waschungen, Einreibungen etc., waren vollkommen erfolglos ge-
blieben.
Die hypnotische Behandlung begann am 2. VI. 1897 (Somnambulismus) und
richtete sidi vorzugsweise auf die Hebung des psychischen Befindens.
Nach 7 Hypnosen war sein Wesen frisch und energisch, seine Stimmung
gleichmässig heiter, sein Schlaf gut. Die Oedeme, die ihn durch 3 Jahre fast
täglich belästigt hatten, traten vom 13. VL 1897—15. lY. 1898, also in 10 Monaten
(immer aber nach psychischen Erregungen) im Ganzen noch 15 Mal auf. Seitdem
ist er frei geblieben.
Ich habe noch mehrere solche Fälle mit ähnlich gutem Ausgange
beobachtet, so dass ich Oppenheim's schlechter Prognose dieses
Zustandes nicht beipflichten kann. Oppenheim meint ja auch bei
der Besprechung der Therapie : ,,Auch die Psychotherapie dürfte hier
am Platze sein/' Ja, nach meinen Erfahrungen mehr als irgend eine
andere Therapie!
Referate und Besprechungen.
BömeTj Dr, med. A., pract Arzt in Stuttgart, Psychiatrie and Seeliorge,
Berlin (Reuther & Beichard) 1899, gr. 89, 343 S. 5 M.
Die Arbeit will „einen Beitrag zur Ventändigung zwischen Psychiatrie imd
Seelsorge liefern*', aber mit der Einschränkung, dass das Buch mehr dem Seelsorger,
bezw. dem (christlichen) Publikum als dem Psychiater dient Der Nebentitel: y^Ein
Wegweiser zur Erkennung und Beseitigung der Nervenschäden unserer Zeit,** der
wie der Haupttitel zeitgemäss und oft versucht ist, will auch in dieser mehr laien-
haften Bichtung verstanden werden ! Der Autor, dessen Elaborat mit reicher neuro-
klinischer Erfahrung sich erhebt über die psychiatrische Kenntniss des Durchschnitts-
arztes, über eine gediegene Belesenheit in philosophischer und religiöser (aber
leider nicht theologischer) Literatur verfugt, von ernster liebensauffassung dei
Volkswohls durchdrungen, in seiner Schlichtheit und Umfassung des gesammten
Materials schon im Allgemeinen dem Arzte zu empfehlen ist, will besonders die
psychiatrische Ghrundposition, dass Geisteskrankheiten Gehimkrankheiten sind, durch
die Verständnisslosigkeiten der mannigfaltigsten Lebensbeziehungen, namentlich
der sittlich-pädagogisch-juristisch-religiösen durchführen, und verdient damit den
Dank derer, die belästigt durch Yorurtheile ihren wissenschaftlichen Standpnnkt
zum Wohl der Patienten festhalten und nach einheitlicher Klärung — irgendwie
gehört auch dies zur Wissenschaft — der wechselseitigen Beziehungen zwischen
allgemeiner Weltanschauung und besonderer psychiatrischer Wissenschaft verlangen.
Der Inhalt des Buches, der wenig scharf gegliedert und oft sich wiederholend, be-
sonders auch die psychiatrische crux einer befriedigenden Eintheilnng der Geistes-
abnormitäten durchfühlen lässt, behandelt nach kurzen Vorbemerkungen über Zweck
der Schrift, Werth der Psychiatrie für Seelsorge und Vereinbarkeit beider, 1. die
Geisteskrankheiten, 2. die Minderwerthigkeiten, um dann die „Voraussetzungen
und Gonsequenzen der Lehre*' über den Character der Geisteskrankheiten zu ziehen.
Dabei lassen sich jene Mängel des Lihalts entschuldigen mit der Neuheit dieses
Beginnens, die Psychiatrie zu popularisiren, mit der psychischen Bewusstseinseinheit
und der daraus resultirenden Aehnlichkeit der Krankheitesymptome in verschiedenen
Fällen. Dagegen scheinen auch principielle Mängel von allgemeinerem Interesse
vorzuliegen, die aufgezeigt werden sollen, um den Verfasser vielleicht zu ver-
lassen, in der 2. Auflage, die nicht zweifelhaft ist, seine Arbeit durchzusehen. Bei
Referate und Besprechungen. 376
den vielen GiUten anderer Art fehlt es an Angabe von psychiatrischer und theo-
logifcher Literatur für den Antipoden, sei's Arzt, sei's Theolog, der fortarbeiten möchte.
Vielleicht hätte Körner von Kräpelins' Lehrbuch oder von der auch zu beson-
deren Zwecken zugeschnittenen: Gerichtlichen Psychopathologie von Delbrück
(Leipzig, JoLAmbr. Barth) U.A. manches entlehnen, sicherlich aber solche Ar-
beiten dtiren können. Andrerseits musste A c h e 1 i s , Lehrb. der Fract. Theologie (Leip-
zig, Hinricbs 2. Afl.) nachgelesen werden; auch der rührige Verlag hätte auf dem
Umschlag Köstlin, Lehre von der Seelsorge und £iaiges aus seiner pädagogisch-
psychologischen Literatur anzeigen sollen. Den Vorwurf des Feuilletonistischen
wurde Römer sich mit Recht verbitten, warum dann nicht den Anspruch des
WiisensehafUichen völlig erheben? Dann wäre voraussichtlich der eigentliche Haupt-
ftbsclmitt über die Seelsorge (S. 313—334, eigentlich nur 321—334) weniger dürftig
nnd oberflächlich ausgefallen. Der Mangel theologischer Literaturkenntniss wird
onsDgenehm empfunden auch namentlich bei der versuchten Lösung einzelner
Probleme, die sich etwa als Fragen nach dem Persönlichkeitswerth zusammenfassen
lassen; dabei bringt Verfasser die angebliche Ueberschätzung des Körpers auf
Kosten dee Geistes, die Leugnnng der Willensfreiheit u. A. zur Sprache, immer
vom Standpunkt des modernen Naturforschers und Ghristenmenschen zugleich aus.
E» firagt nch nur, ob diese letztere höhere Synthese rein logisch denkbar ist,
die heterogenen Aussagen der Psychiatrie und gewöhnlichen Lebensanschauung
äosserlich zusammenzukitten. Diese Frage drängt sich noch ernstlicher auf z. B.
bei der Behandlung der leidigen Dämonen- und religiösen Ekstasen-Frage. Kurz,
das fuhrt auf meinen Wunsch, die von Römer verschmähte Psychologie doch ein-
mal zu versuchen. Die Theologie laborirt noch bedenklich am Mangel psycho-
logischer Auflassung religiöser Thatsachen, die doch so nahe liegt, aber nicht minder
wird bei der Tnnnelirung der Psychiatrie heute zu einseitig auf der einen Seite
des sog. psychophysischen Parallelismus gearbeitet, ja die Psychologie ausdrücklich
abgelehnt in Folge der psychotheoretischen Unzulänglichkeit der höheren Centren.
Wird jedoch eret die Psychologie als Psychotheorie ^) versucht und verstanden, dann
eröffiien sich überraschende Ausblicke auf das weite Feld der angewandten Psycho-
logie, aus dem R. ein Kapitel auswählte, aber die Seelsorge wird auch als ein
psychotherapeutisches Mittel ersten Ranges, als ein Naturheilmittel ohne die
„mechanischen Nachtheile" etwa der Suggestion begriffen. Das Evangelium will ja
den Optimalwerth für egopetale wie egofugale Functionen, kurz für die Psychik des
rgansen Menschen" darstellen (vgL Evang. Johannis 10, 11). Solche vertiefte
Verknüpfung von Psychiatrie und Seelsorge würde beiderlei Thatsachen besser aus-
söhnen, als Römer wollte und konnte nach dem Herkommen früherer Versuche.
G. Vorbrodt.
^) Die Naturwissenschaft Ist erst zu dem heutigen Erfolge vorgedrungen,
seitdem sie von der „Empirie'' zur Theorie aufstieg. Zur Theorie der Psychologie
gehört namentlich auch die Psycho b i o logie, und diese ist wiederum nicht nur
Bio genese, wie die physiologische Biologie mit der überwiegenden Betrachtung
des Entstehens, sondern auch nach Analogie eines Vitalismus Psychobio k i n e s e
mit der Betrachtung der Functionen innerhalb der fertigen „Sphären'' (Asso-
ctationssph.), Centren, Systemen u. dergl.
376 Referate und Besprechungen.
Dr, M. Abramowicz, Behandlung des chronischen Alcoholismus
.vermittels des Hypnotismus. (Gazeta lekarska. J. 1899. Nr. 79 u. 80.)
Nach mehr als 6 jähriger Erfahrung im Gebiete der Behandlung des chro-
nischen Alcoholismus kommt der Verfasser zu folgenden Schlüssen : 1. Die hypno-
tische Behandlung des chronischen Alcoholismus giebt nicht minder gute Erfolge,
als die Behandlung in speciellen Anstalten. Sie verzeichnet um vieles bessere
Resultate im Vergleiche mit pharmaceutischen Mitteln, die hauptsächlich blos
suggestiv wirken. 2. Die hypnotische Behandlung ist leichter ausführbar, als die
in Anstalten. Sie ist billiger und bequemer, weniger zeitraubend, sie stört nicht
die Patienten in ihrer Fachbeschäftigung. 3. Der Hypnotismus ist am erfolg-
reichsten bei reifen, geistig und moralisch entwickelten Patienten, die also ihre
Leidenschaft los werden wollen. Solche sind binnen kurzer Zeit heilbar. 4. Bei
längerer, Jahre dauernder Behandlung ist jeder Alcoholiker heilbar, wenn er nicht
hereditär belastet, geisteskrank oder stark degenerirt ist und wenn er langdauemdem
Einflüsse ausgesetzt ist. 5. Man soll den Kranken in Schlaf versetzen, während
er in normalem Geisteszustand ist. Es kann jedoch der Patient (obwohl schwer)
sogar im Zustande acuter Intozication eingeschläfert werden, wobei der be-
ruhigende Einfluss des Hypnotismus auf das alcoholische Irresein sichtbar ist. 6. Dss
Tadicale Unterbrechen des Alcoholgenusses ruft nicht ein Delirium hervor, kann es im
G«gentheii zum Verschwinden bringen. 7. Wenn der Patient schon ^fahrend der
Behandlung nicht zum Entbehren des Alcohols zu bewegen ist, ist er als unheilbar zu
betrachten. 8. Wenn die Behandlung über ein Jahr dauert, sollen die Zwischen-
zeiten zwischen den Sitzungen immer grosser werden. 9. Das Verbinden der
hypnotischen mit der pharmaceutischen Behandlung giebt keine besseren Resultate,
als die hypnotische Behandlung allein. 10. Die Suggestion, welche zwar schon bei
leichtem Schlafe oder sogar auf den wachen Patienten eine wohlthuende Wirkung
hat, ist jedoch im tiefen Schlafe am erfolgreichsten. 11. Die Behandlung ver-
mittels des Hypnotismus ist am besten in gehörigen Anstalten zu volhdehen.
12. Die correcte hypnotische Behandlung ruft weder Gomplikationen hervor, noch
schädigt sie die Gesundheit des Patienten und beschränkt nicht seine Individualitat.
Dr. M. Blassberg- Krakau.
Dr. JET. Sigier, Ueber specifischen Dämmerzustand des Bewusst-
seins in der posthypnotischen Periode. (Gazeta lekarska. J. 1899. Nr. 41.)
Der Verfasser beobachtete binnen einigen Jahren oft einen Dämmerzustand
bei Hypnotisirten in der posthypnotischen Periode, der sich in falschem Begriffe
der Zeit und des Ortes, Sinnlosigkeit und Naivität der Antworten und gedämmertem
Bewusstsein, jedoch ohne Sinnestäuschungen äusserte. Er ist dem, von Ganser
und Binswanger als „specifisch hysterischen'' beschriebenem, aber auch bei
Psychosen vorkommenden Dämmerzustande ganz ähnlich.
Dr. M. Blassberg-Erakau.
Dr, M. Stoitalskiy Ueber Suggestivbehandlung des perversen
Sexualtriebes bei Männern. (Przegl^d lekarski. J. 1899. Nr. 22.)
Der Verfasser beschreibt einen Fall, den er in der psychiatrischen Klinik
von Prof. Krafft-Ebing beobachtete. Er betraf einen jungen Mann, der wegen
acquirirten perversen Sexualtriebes (Masturbatio, Coitus inter femora, Immissio
Referate und Besprechungen. 377
penis in os) und wegen Alcoholismus in der Klinik behandelt wurde. Nach
15 Sitzungen, in denen Suggestionen im tiefen hypnotischen Schlafe gegeben
wurden, yerliess der Patient als geheilt die Klinik.
Dr. M. Blassberg-Krakau.
M, Menädsohn^ Hypurgie. Separatabdruck aus der Bcalencyklopädie der
gesammten Heilkunde. Herausgeber Prof. Dr. A. Eulenburg, Berlin. Zweite
Auflage. Urban u. Schwarzenberg, Wien und Leipzig.
„Hypurgie ist die auf wissenschaftlichen Grundlagen beruhende Lehre von
der Verwendung der Mittel der Krankenpflege zur Herbeiführung therapeutischer
Effecte.*' vTtov^ttv bedeutet Hilfsmittel, Unterstützungsmittel anwenden. Nach
Ansieht des Verfassers war die Schaffung einer solchen Benennung unerlässlich,
da das Wort Krankenpflege auch noch die Begriffe Kranken Versorgung und
Krankenwartung umfasst. Unter Krankenversorgung versteht der Verfasser ^die
Institutionen und Vorsorgen, welche es ermöglichen, dass ein jeder Kranke, auch
in der bedrängt«sten Situation und gegenüber einem noch so gehäuften Bedürfnisse,
zu jeder Zeit und an jedem Orte ein zureichendes Unterkommen, eine möglichst
aasreichende Behandlung und Pflege finde.'' Theilweise wird denn auch das, was
unter diese beiden Begriffe fällt, ausgeschieden.
Der gewünschte therapeutische Effect soll in möglichst milder Weise herbei-
geführt werden, das ist der Standpunkt, von dem der Verfasser ausgeht. Mit der
Herrschaft der nichts-als-arzneilichen Therapie ist es zu Ende. Nicht nur allein
die grossen Dosen führen zum Ziele, sondern die bewusste und anhaltende Ver-
wendung kleiner Gaben zeitigt oft die gleichen, wenn nicht bessere Resultate, ja
die Gombination verschiedener, nach gleicher Sichtung hin wirkender Arznei -
körper in recht kleinen Dosen übt unter Umständen vortheilhaftere Wirkung aus
als ein einzelnes reichlicher bemessenes Heilmittel, allein schon durch die Aus-
schaltung der mit grossen Gaben fast immer einhergehenden Nebenwirkungen.
In Folge dieser Erwägungen hält Verfasser eine grössere Berücksi^tigung der
Heihnittel der Krankenpflege für dringend geboten.
Der Stoff gliedert sich in zwei Theile: a) die Krankenpflege und ihre Heil-
mittel; b) die therapeutische Wirkung der Krankenpflegeheilmittel.
Unter den Heilmitteln der Krankenpflege sind auch die psychischen Mittel
erwähnt. Verfasser führt die therapeutische -Wirkung der Ablenkung und Zer-
streuung an. Ferner macht er auf den Effect einer zweckmässigen Gestaltung und
Einrichtung des Krankenzimmers aufmerksam, um endlich die Beschäftigung der
Patienten und ihren Umgang mit dem Arzt und dritten Personen als Heilmittel
zu erwähnen. Weil der Raum, der dem Verfasser zu Gebote stand, jedoch sehr
beschränkt war, konnte nicht mehr wie ein Hinweis gegeben werden.
Im zweiten Theil werden die hauptsächlichsten therapeutischen Einwirkungen,
für deren Beeinflussung in der internen Medicin sich Indicationen ergeben, fest-
gestellt; so die schlafmachende Wirkung der Krankenpflegeheilmittel, die anästhe-
airende Wirkung, die tonisirende Wirkung u. s. w.
Aus dem Absatz über die schlafmachende Wirkung der Krankenpflegeheil-
mittel möchte Ref. noch die Ansichten des Verfassers über das Zustandekommen
des Schlafes erwähnen. „Der natürliche Schlaf kommt durch eine functionelle
Unthätigkeit der Gehirnzellen zu Stande, durch eine Herabsetzung von deren
378 Referate und Besprechungen.
Function ; eine Functionsherabsetzung, welche stets mit einem Zustande von Anämie
verbunden ist, und die zum Teil von dieser Anämie abhängt, zum Theil durch
direct wirkende Substanzen, welche Producte der allgemeinen Gewebsabnutzong
während des Lebensprocesses und des Stoffwechsels sind und die sich in den Zellen
des Gehirns und in deren Umgebung anhäufen, hervorgerufen wird." — Gründe,
die gegen diese Theorie sprechen, sind den Lesern der Zeitschrift für Hypnotismus
wohl hinreichend bekannt.
Die Krankenpflegehiihnittel, die der Verfasser anführt, wie Regelung der
körperlichen Bewegungen in der Zeit, welche dem Schlaf mehr oder minder un-
mittelbar vorangeht; systematische Fernhaltung aufregender Eindrücke u. s. w.,
wirken suggestiv; ausdrücklich erwähnt werden aber Suggestion und Hypnose aucii
da nicht, wo Verfasser die medicamentösen und andersartigen Schlafmittel erwähnt.
Auch bei der Besprechung der purgirenden Wirkungen der Krankenpflege-
heilmittel vermisst man die Anführung der Suggestion.
Isenb er g- Berlin.
E. W. Scripture, The new psychology. London 1897. Walter Scott,
Ltd. Paternoster Square. 600 S.
The new psychology nennt der Verfasser sein Werk, um damit gleich anzu-
deuten, dass er der lediglich speculativen Erforschung psychologischer Thatsachen
ablehnend gegenübersteht. Er hütet sich jedoch in die andere Einseitigkeit zu
verfallen und nur die durch Anwendung von physikalischen und rechnerischen
Methoden gewonnenen Resultate gelten zu lassen. Beides soll den gebührenden
Platz erhalten, die Selbstbeobachtung und die objective Feststellung der Thatsachen.
In seinem Werke wollte der Verfasser „die springenden Punkte und funda^
mentalen Methoden'^ der Psychologie ohne grosse Ueberlastung mit Detail der
Kenntniss vermitteln. In der Einleitung bespricht der Verfasser die Mittel, die
uns dienen, um unsere Beobachtungen und die daraus zu ziehenden Schlüsse mög-
lichst exact zu gestalten. In dem Haupttheil werden die einzelnen psychologischen
Methoden und die damit gewonnenen Ergebnisse unter den Rubriken Zeit, Energie
und Raum vereinigt. Im Schlusstheil wird ein kurzer Abriss der Geschidite der
Psychologie gegeben. Durch Einschaltung von vielen Abbildungen und Kurven
wird der Text anschaulicher gemacht.
Obgleich der Verfasser die Wichtigkeit der Selbstbeobachtung in der Ein-
leitung betont, kommt sie doch viel zu wenig zu ihrem Rechte. Man kann wohl
sagen, dass der Verfasser in übergrosser Vorsicht — die mit Hülfe von Apparaten
gewonnenen Thatsachen berücksichtigte, bei denen die Selbstbeobachtung entweder
gar nicht oder nur in beschränktem Maasse nöthig war. Ganze Gebiete fallen in
Folge dessen fort oder finden nur eine nur streifende Berücksichtigung. Um nur
einige herauszugreifen, auf die Frage nach dem Bewusstsein, der Hypnose u. s. w.
findet man keine Antwort, die Psychologie der Sprache u. s. w. fehlt. Das Kapitel
über „Time of volition'^ beginnt z. B. : „Ausser den Empfindungen beobachten wir
verschiedene Processe, die wir für gewöhnlich willkürliche Vorgänge oder Willens-
akte nennen." Eine weitere Definition des Begriffes Willen wird nicht gegeben.
Die Gefühle werden nur mit einem kurzen Kapitel bedacht, vom Schlaf wird nur
über die wechselnde Tiefe berichtet. Man wird eben durch den Titel verleitete,
mehr zu erwarten, als der Verfasser zu geben beabsichtigt hat. lieber die ein-
Beferate und Besprechungen. 379
zelnen Apparate zu psychologischen Experimenten über die Art und Weise des
Expenmentirens und über die kritische Verarbeitung des so gewonnenen Materials
kann man sich jedoch sehr gut orientiren. Isenberg- Berlin.
H. Oppenheim^ Nervenkrankheiten und Leetüre. Deutsche Zeitschrift
for Nerrenheilkunde, S. 342—253.
Auf Grund von Erfahrungen, die Verf. in seiner Praxis gemacht hat, kommt
er zu dem Schlüsse, dass die in unserer modernen Literatur und namentlich in
der Tagespresse sich immer mehr geltend machende Sucht nach der Darstellung
Ton Krankheitszuständen und Krankheitserscheinungen als eine Gefahrdung des
Volkswohls anzusehen ist. Derartige Darstellungen bilden besonders für Nervöse
und nervös Veranlagte eine reiche Quelle für krankhafte Ideengänge. Aus dem-
selben Grunde rügt Verf. die Unsitte, dass über die Vorträge, die in ärztlichen
Gesellschaften, Congressen und dergl. gehalten werden, Mittheilungen in die Tages-
presse gelangen. Gegen eine vernünftige Aufklärung des Publikums hat Verf.
natürlich nichts einzuwenden. Ebenso zieht Verf. mit beredten Worten gegen
diejenigen zu Felde, die die Wissbegier des Publikums in reklamehafter Weise für
bestimmte Zwecke, für ihr persönliches Interesse, oder für das Interesse eines Cur-
ortes, einer Heilanstalt, eines Heilmittels u. s. w. auszubeuten suchen, da gewöhnlich
auch derartige Schriften eine Menge Material enthalten, das einen ungünstigen
Einfluss auf leicht erregbare Menschen auszuüben im Stande ist.
Hier möchte Ref. noch ergänzend hinzufügen, dass derartige Schriften im
Verein mit den marktschreierischen Annoncen, die man in vielen Tagesblättern,
ja sogar Witzblättern findet, bei der oft plumpen Art, mit der sie das Publikum
für ein bestimmtes, den wissenschaftlichen Forschungen und bewährten Erfahrungen
oft hohnsprechendes therapeutisches Verfahren zu gewinnen suchen, geeignet sind,
in weiten Kreisen das Ansehen des Aerztestandes zu schmälern, und das Vertrauen
zum Arzte zu untergraben. Wer sich speciell mit den functionellen Nervenkranken
zu beschäftigen hat, der weiss die grosse Macht des Vertrauens zu würdigen, und
wird stets ein ausgesprochener Feind dieses Unwesens sein.
Verf. weist femer kurz hin auf den die Nervosität fördernden Einfluss der
Mord-, Baubmord-, Lustmord-, Selbstmord-Berichte.
Was die schöngeistige Literatur betrifft, so steht Verf. der modernen Richtung,
das Pathologische zur Darstellung zu bringen, feindlich gegenüber. Als besonders
schädlich hebt Verf. die Behandlung des Sexuellen' in der modernen Literatur
hervor.
Zum Schluss behandelt Verf. die Frage, welche Leetüre vom sanitären Stand-
punkt empfohlen werden darf. Als einwandsfrei gelten ihm die einfach belehrenden
wissenschaftlichen Schriften und Werke, soweit sie der geistigen Befähigung und
Auffassungskraft des Lesers angepasst sind und sich von den oben näher bezeich-
neten Wissensgebieten fernhalten. Bei der Prüfung des Poetischen glaubt Verf.
die Werke von Dickens, Cervantes und Reuter als ein vortrefifUches Diätetikum
der Seele erklären zu können. Die Aufstellung allgemeiner Satzungen erscheint
ihm bei der Verschiedenheit der individuellen Bedürfnisse und Empfänglichkeit
unmöglich. Den ästhetischen Genuss hält Verf. für eine Heilpotenz von grossem
Werthe. • van St raaten -Berlin.
380
Referate und BesprechimgeD.
MöMuu, P. J., Dr. med. et phiL, Vermischte Aafsitse. Heft V der
nenrologiflchen Beitrage. 1896.
Im jüngsten Eefte seiner neurologischen Beitrage hat Moebias eine Amibl
Ton Aufsätzen sasammengestellt, die schon an anderer Stelle poblicirt sind. Nur
drei derselben behandeln Themata aas der neorologischen Kasuistik, namtieh IL
A. üeber Hemihypertrophie. B. Zar Lehre von der Osteoarthropathie hypertro-
phiante pnenmiqae. C. üeber Acromegalie.
Die übrigen 17 Aafsatse behandeln Fragen allgemeinen Interesses, sind im
frischen, lebhaften Stil geschrieben and regen theOs za freudigem Beifall, theils zu
lebhaftem Widersprach an.
In der 1., 2. and 14. Abhandlang betont der Verfasser mit Recht den endo-
genen Ursprung so Tieler krankhafter Zustande, besonders der Nerrenkrankheiten.
Aber aus der Eintheilung der Krankheitsursachen in äussere und innere auch eine
Kintheilnng der Krankheiten selbst in exogene und endogene zu constrairen, halten
wir für verfehlt, da bei den meisten pathologischen Zustanden sowohl äussere wie
innere Momente ätiologisch betheiligt sind.
Den grössten Raum nehmen die Aufrätze ein, in denen Moebias in. mehr
oder weniger geschickter und mehr oder weniger versteckter Weise seine bekannte
Anregung zur Errichtung von Nerrenheilstätten für Minderbemittelte aasspinnt.
Sogar die begeisterte Schilderung des für das katholische Ordenswesen dorchaos
nicht typischen Ghartreuser Klosters muss diesem Zwecke dienen.
Minderwerthig sind die Aufsätze, in denen der Verfasser sich auf das Gebiet
der Staats- und Gesellschaftswissenschaften begiebt, so in dem Aufsats über die
Veredelung des menschlichen Geschlechts. Materiell zutreffend und zugleich formell
voUendet ist dagegen, was uns Moebias zum Sohluss über Gharcot and den
theologisirenden Leipziger Irrenarzt Heinroth zu sagen weiss.
Grotjahn-Beriin.
Lippert & Co. (G. Päts*sohe Baehdr.), Naamburg a. S,
1 -i
ZEITSCHRIFT FÜR HYPBOTISIÜS
I
PSYCHOTHERAPIE
SOWIE ANDEKB
! PSYCHOPHYSIOLOGISCHE UND PSYCHOPATHOLOGISCHE
_- •
FORSCHUNGEN.
BAND 10.
MIT BEITEAGEN VON
DtL X. BsoDBLum (Bulin), Db. BBÜGXLMAim (Bbbldi), Db. Dbliüs (Hanvoyxb), Pbov.
A. YoBXL» (Chiont), Db. FbtbdlInpbb (Fbanktitbt am Haih), A. Obohhahn (Zübioh),
Dm, Obotjahn (Bbblin), Db. Hilgbb (Magdbbubo), Db. Isbvbbbo (Nbw-Tobk), Db. Laütbu-
BAOH (BsBiiHr), Db. Möbiüs (Lbipzig), Db. L. ton Mualt (Zübioh), Pbof. Piok (Pbao),
Db. Plsttbhbxbo (Maodsbubg), Db. Redlich (Biga), De. Sängbb (Haodbbttbg), Db. toii
SoHKKvoK-NoTznrG (MmrcHXN), De. yak Stbaatbr (Beelin), Pbof. Toennibb (Sumi}, Db.
C. Vogt (Bbblin), Db. 0. Vogt (Bebuh), De. Waiheb (Fbibdbiohboda).
ÜBT8R BBSOHDOBB FdBDBRUIQ TOH
PROF. A. FOREL
HBBAUSGBOSBEI ?0H
Db. O.VOGT.
LEIPZIG, 1903.
VEELAG VON JOHANN AMBE08IU8 BARTH.
Inhalts-yerzeichniss.
Band 10.
Originalartikel.
Brodmann, K., Zur Methodik der hypnotischen Behandlung.
Schluss 314
...JSrü gel mann, W., Zur Lehre vom perversen Sexualismus . . 13
Delius, H., Beitrag zur Entstehungsart hysterischer Symptome 293
Forel, A., Bemerkungen zu der Behandlung der Nervenkranken
durch Arbeit und zur allgemeinen Psychotherapie .... 1
— Ein wichtiges Yerhältniss des Genies zur G-eistesstörung . . 6
— lieber Talent und Genife 159
— Zur Frage der neurologischen Centralstationen 219
— Terminologie und Weltsprache 248
Friedländer, Zur klinischen Stellung der sogenannten Erythro-
phobie und ihrer Behandlung durch Hypnose 17
Grohmann, Irrenhaus und Bühne 243
— Weiteres über „Suggestion durch Briefe" 267
Grotjahn, A., Socialpsychologische Bemerkungen über die
Alkohol-Euphorie 46
Hilger, W., Beitrag zur Frage der Hypnotisierbarkeit . . . 190
Vgl. auch unter Saenger.
D. Isenberg und O. Vogt, Zur Kenntniss des Einflusses einiger
psychischer Zustände auf die Athmung 131 , 229
Möbius, G. J., üeber das Studium der Talente 65
L. V. M uralt, Zur Frage der epileptischen Amnesie .... 75
— III —
Seite
Pick, Nachtrag zu dem yorangehenden Aufsatze 271
Sänger, M. und Hilger, W., Ein Fall von Aphonie nach
Laryngofissur 233
Tönuies, F., Terminologische Anstösse 121
W et M°^® Vogt, L'auatomie du cerveau et la psychologie . . 181
Vogt, O., Die möglichen Formen seelischer Einwirkung in ihrer
ärztlichen Bedeutung 22
— üeber die Errichtung neurologischer Centralstationen . . .170
— üeber den Einfluss einiger psychischer Zustände auf Knie-
phänemonen und Muskeltonus 202
— Zur Erweiterung unserer Zeitschrift 376
— Vgl. auch unter Isenberg.
Wanke, O., Casuistische Beiträge zur Suggestiv-Therapie 253, 305
Literaturfibersichten.
Plettenberg, F., Neuere Abhandlungen und Untersuchungen
über das Gedächtniss 91
7. Schrenck-Notzing, Litteraturzusammenstellung über die
Psychologie und Psychopathologie der yita sexualis. 4. Fort-
setzung 274
Kleine Mittheilungen.
Porel, Zur Warnung. — Sjöström, Mittheilung 286
Referate und Besprechungen.
Binswanger, O., Die psychologische Denkrichtung in der Heil-
kunde 178
Clark üniversity 59
Cron und Kraepelin, Ueber die Messung der Auffassungs-
fäbigkeit 63
Forel, A., Quelques mots sur la nature et les indications de la
th6rapeutique suggestive 179
&irand, Les d6Iires transitoires au point de vue medico 16gal 179
Grohmaun, Technisches und Psychologisches in der Beschäf-
tigung Von Nervenkranken . . . . • 62
Gross, Adolf, Untersuchungen über die Schrift Gesunder und
Geisteskranker 118
Höfler und Witasek, Psychologische Schulversuche mit An-
gabe der Apparate 117
IV
SeiU
y. Krafft-Ebing, Die zweifelhaften Geisteszustände vor dem
Civilrichter des Deutseben Reiches nach Einfiibrung des BG-B. 116
Kraepelin, Vgl. Cron und Kraepelin.
Laebr y H., Die litteratur der Psychiatrie, Neurologie und Psycho-
logie von 1459—1799 119
Mac. Donald, Arthur, Experimental study of children inclu-
ding anthropometrical and psycho-physical measurements of
Washington School children, and a bibliography 291
Mants, Gt. S., Sur le traitement de Thysterie ä Tböpital par
l'isolement 116
Michelson, Eduard, Untersuchungen über die Tiefe des
Schlafes 117
Mourly Vold, J., üeber Hallucinationen, vorzüglich G^sichts-
hallucinationen auf der Grundlage von cutanmotorischen Zu-
ständen und auf derjenigen von vergangenen Gesichtsein-
drücken 289
Piltz, J., üeber Aufmerksamkeitsreflexe der Pupillen . . . « 58
Schenk, F«, Ueber denEinfiuss des Alkohols auf den ermüdeten
Muskel 120
V. Schrenck-Notzing, Preih., Der Fall Mainone 383
Smith, A., 1. Ueber einige neue Methoden zur Bestimmung der
Herzgrenzen. 2. üeber objective Veränderungen des Herzens
unter dem Einfluss localer und allgemeiner Electrisation . . 288
Sommer, Ein Experiment über Traumeingebung 59
Soury, J., Le Systeme nerveux central. Structure et fonctions.
Historie critique des th^ories et des doctrines 119
Vogt, O., Zur Indication der Beschäftigungstherapie bei fanctio-
nellen Nervenkranken 60
— üeber Beschäftigungstherapie bei functionellen Nervenkranken 61
— Sur la gendse et la nature de Thystfirie 80
War da, W., Ein Fall von Hysterie, dargestellt nach der cathar-
tischen Methode von Breuer und Freud 228
Weygandt, üeber den Einfluss des Arbeitswechsels auf fort-
laufende geistige Arbeit 64
Witasek, Vgl. Höfler und Witasek.
Woodworthj R. S., The accuracy of voluntary movement . . 381
Bemerkungen zu der Behandlung der Nervenkranken durch
Arbeit und zur allgemeinen Psychotherapie.
Von
Dr. Aug. Forel.
Von der Erfalirung ausgehend, dass die Landarbeit den Geistes-
kranken am besten hülfe, und dass der normale Naturmensch nicht ein-
seitig wie der Culturmensch arbeitet, sondern als Existenzbedingung
eine Gombination gespannter Aufmerksamkeit und üeberlegung mit
Hnskelthätigkeiten stets bethätigt hat, dass er somit auch einer solchen
bedarf, habe ich schon vor vielen Jahren versucht, schwerere Fälle
von sogenannten Nervenkrankheiten (Neurasthenie), d. h. von Psycho-
pathien, mit derartigen Thätigkeiten zu behandeln. Ein schwerer
Fall, den ich auf solche Weise schon 1891 durch Landarbeit curirt
hatte, gab mir Muth. Femer hatte sich Herr Ligenieur Grohmann
selbst durch Gärtnerei von einem Nervenleiden wiederhergestellt, und
interessirte sich sehr für die Sache. Ich ermuthigte ihn in seinem
gegen 1893 unternommenen Versuch, Nervenleidende in seiner Gärtnerei
zu beschäftigen. So begann seine Beschäftigungsanstalt für Nerven-
leidende, die sich von Jahr zu Jahr vergrösserte. Tischlerei u. A. m.
kamen hinzu. Becht gute Resultate wurden bei schweren Fällen er-
zielt. Die erste Veröflfentlichung darüber war 1894 (Corresp.-Bl. f. Schw,
Aerzte 15. Sept.) von mir erfolgt. 1896 folgte Möbius mit ausführ-
Uchen Details, und trat energisch für die Sache ein. In-Monier's
Dissertation (Zürich 1899)^) tmd neuerdings wurde durch Grohmann
selbst die Sache genauer auseinandergesetzt.
Grohmann betont, wie häufig eine Combination seiner Behandlung
mit Suggestion durch Dr. Bingier in Zürich zu guten Besultaten
führte.
») Diese Zeitschrift, Bd. YJL
Z«itaclirift PBa Hypnotismos ete. X.
a A. Forel.
Mein Hauptgedanke bei der Sache war der, dass nicht die Muskel-
arbeit an und für sich, sondern vor Allem die centrifogale Concentra-
tion der Aufmerksamkeit auf die zielbewussten Muskelinnenrationen
einer zweckmässigen, den Geist befriedigenden Beschäftigung das Ge-
hirn von pathologischen Thätigkeiten ablenkt, und heilend wirkt. G^istr
tödtende Muskelarbeit, wie hygieinisches Turnen, Arbeiten mit Hanteln
oder Ergostat etc., befriedigt erstens nicht, und hindert vor allem die
Aufmerksamkeit nicht daran, auf Abwege zu gerathen. Femer können
solche unnütze Thätigkeiten nicht dauernd als Lebensberuf betrieben
werden.
Nun möchte ich heute einen Schritt weiter gehen, und an der Hand
einiger Fälle ein theilweise neues, von mir bisher noch nicht berührtes
Capitel der Psychotherapie skizziren, das ein Bindeglied zwischen Be-
schäftigungstherapie, Suggestionstherapie und reiner Psychotherapie
büdet
Nicht alle Neuropathen eignen sich für Gärtnerei, Tischlerei, oder
Landwirtschaft, und mit gewöhiilichen Suggestionen des guten Schlafes,
des Appetits, der normalen Functionen etc. ist die Pathologie des Him-
lebens noch lauge nicht erschöpft Man weiss femer, dass Genie
und Irrsinn verwandt sind. Wenn aber bekannt ist, dass manches
Genie an Lrrsinn zu Grunde ging, dürfte vielleicht den Aerzten weniger
klar sein, dass unter dem Bilde gewisser Formen von Hysterie und
anderen Psychopathien manche Genies oder wenigstens Talente
schlummern und schmachten wie ein Vogel im Käfig, sowie dass die
übliche Schablonentherapie der Nervenärzte die Schwingen des Vogels
lähmt, statt sie zu befreien. Wenn irgendwo, so ist da eine richtige
Diagnose und eine individualisirende Therapie am Platz. Nicht Jeder^
der sich als Genie fühlt, ist ein Genie. Es muss hier die Erfahrung
des Irrenarztes unter 100 verfehlten, an Grössenwahn und Geistes-
schwäche leidenden Gehirnen die wenigen herausfinden, welche „doch
nicht an und für sich verfehlt sind", sondern umgekehrt einen
Schatz hoher Begabungen enthalten, welche nur durch gewisse Störungen
in ihrer Entwicklung gehemmt und gelähmt werden. Hat man aber
unter den vielen hilfesuchenden Nervenkranken (lies Himkranken
oder Encephalopathen) einen solchen verborgenen, in Fesseln liegenden
Schatz entdeckt, dann ist es eine hohe Pflicht, den Pfad der Scha-
blone zu verlassen, und dem Adler die Schwingen zurück zu geben.
Hypnose und Beschäftigung mit Handarbeiten können hiebei als Hül&-
mittel vortrefflich Dienste leisten. Aber die Hauptsache bilden sie
Bemerkungen zu der Behandlung der Nervenkranken etc. 8
Her mcht. Man moss durch Liebe und intimeres Eindringen in alle
Seiten des Seelenlebens des Kranken sein ToUes Yertranen gewinnen,
alle Seiten seines Oefiihles mitspielen, sein ganzes Leben sich erzählen
lassen, dasselbe mit durchleben und sich selbst Tom Gefühlleben des
Betreffenden durchdringen, dabei natürlich das sexuelle Empfinden nie
aus dem Auge lassen, das ja so ungemein je nach den Menschen
wechselt und ein zweischneidiges Schwert bedeutet. Dass der Arzt
selbst dabei gepanzert sein muss, brauche ich hier nur anzudeuten, so
wichtig es auch ist. Man darf natürlich hier nicht nach der gewöhn-
lichen ärztlichen Schablone verfahren, die nur die Samenentleerung
resp. den Coitus und die Schwangerschaft zu beachten pflegt, sondern
man muss sorgfältig alle die mit der Sezualsphäre mehr oder minder
zusammenhängenden höheren Regungen des Gemüthes, des Intellekts
und des Willens berücksichtigen. Ist dies geschehen, dann suche man
den rechten definitiven Lebenszweck für den Kranken und führe ihn
resolut und voll Vertrauen hinein. Man wird sich dann oft wundem,
alle psychopathologischen Störungen wie durch einen Zauber schwinden,
und aus dem unglücklichen, unfähigen Nervenkranken einen that-
kräftigen, leistungsfähigen, bedeutenden, voUwerthigen Menschen ent-
stehen zu sehen, der durch Arbeitsleistung sogar seine Mitmenschen
in Erstaunen setzen kann, und dem Arzt, der ihn behandelt hat, ein
lieber Freund bleibt. Aus einem Unglücklichen wird ein Glücklicher,
aus einem „Verfehlten'^ ein Talent oder gar ein „Genie", aus einem
Sjranken ein Gtesunder.
Nun kurz einige Beispiele. Meine bezüglichen Freunde mögen
sich darin erkennen. Im Interesse der Menschen werden sie mir aber
diese Veröffentlichung verzeihen«
L EId sehr gebildetes Fraulein, Tochter eines begabten Vaters und einer
sehr nervösen Mutter, gaK als weniger begabt als ihre Geschwister, war von Hause
aus nervös und wurde immer hysterischer. Schliesslich kamen sehr schwere
Lahmungserscheinungen ; sie kam in die Irrenanstalt. Zuerst durch gewöhnliche
Hypnose ziemlich geheilt, wurde sie nach Monaten mit fast totaler Unfähigkeit zu
gehen, rückfällig, und dann durch eine feste landwirthschaftliche Thätigkeit bei
Bauern wieder curirt. Doch war sie unglücklich keinen Lebenszweck zu haben.
Nicht ohne Bedenken erlaubte ich ihr, ihrem sehnlichen Wunsch nachzugehen und
Krankenpflegerin zu werden. Ihre Eltern fürchteten sehr die Nachtwachen ; doch
-wurden diese mit Hülfe einiger bezügl. Suggestionen ohne Beschwerde ertragen.
Begeistert nahm sie ihren Beruf auf, setzte denselben, so schwer er war, durch,
und wurde immer thätiger in allen Richtungen. Heute ist sie nun in einem Gross-
artiges leistenden philanthropischen Damencomit6 eines der th'atigsten Mitglieder.
1*
;4 A. Forel.
II. Ein Arzt litt seit längerer Zeit an schweren, angeblich neurasthenisdien
Störungen und suchte sich vergebens mit allerlei Mitteln zu curiren. Er kam su
mir und klagte mir sein Leid. Ich machte ihm Muth, rieth ihm alle jene Störungen
nicht zu beachten, betonte seine höheren Lebenszwecke. Wir einigten uns aaf
solche. Er ging. Später schrieb er mir, durch jene einzige Unterredung sei er
geheilt worden.
III. Ein junger Mann, massig erblich belastet, aus sehr streng religiöser
Familie, sehr begabt, wurde nervenkrank, und zwar an Geistesstörung grenzend.
Er machte einen schweren Selbstmordversuch, kam in Nervenheilanstalten nach
totaler Unterbrechung seiner Studien. Die Prognose wurde sehr düster gestellt.
Er konnte absolut nicht mehr arbeiten, litt an Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit,
Unfähigkeit irgend eine geistige Arbeit mit Aufmerksamkeit zu verrichten. Was
er las, beachtete er nicht. Düster und verzweifelt, zeigte er jedoch keine Sym-
ptome melancholischer Hemmung u. dergL Er war sich über seine Psychopathie
und „verfehlte Existenz'^ völlig klar. Er hatte noch an allerlei zwangsartigen
Vorstellungen und Handlungen gelitten, die ihm Streiche gespielt hatten. Sexuell
war er völlig indifferent. Man brachte ihn mir als verzweifelten Fall. Bald fiel
mir die Begabung des jungen Mannes auf. Intimerer Yerkehr verrieth mir bei
ihm ein total unbefriedigtes inneres Wesen. Streng orthodox erzogen, konnte er
-an jene religiösen Dogmen nicht glauben, und hielt sich dadurch schon für wer-
'worfen und verloren. Auch war ihwi das erzwungene formelle Lernen, in dem er
erzogen wurde, ein Greuel. Sein Leben schien ihm zwecklos. Zuerst beruhigte
ich ihn über die Religion und zeigte ihm, dass man ohne positiven Glauben ein
glücklicher und vollwerthiger Mensch sein kann. Ferner zeigte ich ihm, dass das
auswendige Lernen der Geist der Geistlosen ist, und dass das einfache mit Interesse
Verstehen viel höher steht. Ich hiess ihn nichts mehr zu lernen zu versuchen,
sondern nur noch zu forschen und mit Interesse das zu lesen, was ihn interessire,
ohne sich darum zu kümmern, ob er es behalte oder nicht. So weckte ich in ihm
wieder Vertrauen und etwas Freude am Leben. Er fing an, seine Bücher mit
Freude und Interesse zu lesen, statt darin mit Ekel zu lernen. Als Philosoph
und Freidenker lebte er wieder auf. Nun wurde er begeisterter Abstinenzler, half
mir neue Abstinenzorganisationen gründen. Mein Patient, den ich Anfangs wegen
Suicid bewachen lassen musste, wurde bald mein Freund und Mitarbeiter. Eine
nach der anderen schwanden die Nervenstörungen; zum Schluss machte er zu
seiner definitiven Erholung mit meiner Zustimmung eine längere Reise allein in
einem wilden heissen Lande und kam völlig geheilt und selbstvertrauend zurück.
Er nahm nun seine Studien wieder auf, bestand einige Jahre später sein Schlnss-
examen, summa cum laude, wurde von allen seinen Kameraden wegen
seiner enormen Arbeitskraft bewundert, und verspricht eine glänzende
Garrifere zu machen.
IV. Eine hysterische Dame, hochbegabt, aber von Kind auf psychopathisch«
mit Anfällen grosser Hysterie, durch verschiedene Dinge, specieller durch das
.Znsammenleben mit einer nahen Verwandten hochgradig aufgeregt, consultirte
mich. Sie wollte aus diversen Vernunftsgründen nicht heirathen, trotz zahlreichen
Gelegenheiten hierzu. Ich versuchte die Hypnose. Dieselbe trat mit tiefem
.hysterischen Schlaf ein, und Krämpfe begannen sich zu zeigen. Ich weckte
EemerkuDgen za der Behandlung der Nervenkranken etc. 5
sie mit Mühe und Gewalt auf, sagte ihr kühn, der Erfolg sei über Erwarten stark ;
nun werde sie baldigst genesen; sie sei nur etwas zu stark beeinflusst gewesen«
Von da an suggerirte ich ihr fast nur noch im Wachzustande. Nach relativ kurzer
Zeit waren fast alle Störungen weg, auch die vorhanden gewesene Obstipation,
und namentlich die Krämpfe. Doch erklärte ich ihr, die Hauptsache für
sie sei die Arbeit, und zwar ein Lebenszweck. Sie wollte, und nicht ohne Recht,
keine Familie gründen, interessirte sich aber schon lange für ein bestimmtes,
gemeinnütziges Werk. Nun gings darauf los! Statt Badecuren, Electricität und
Massagen gab ich ihr eine Beihe Bücher über den Gegenstand ihres Lieblings-
Stadiums zu lesen, sowie Empfehlungen für Koryphäen der bezüglichen und ver-
wandten Werke. Sie ging mit Begeisterung an die Arbeit, schloss sich ebenfalls
der Antialcoholbewegung an, besuchte unerschrocken verschiedene Anstalten, Städte
und Proletarierkreise, zeigte bei Allem grosses Interesse, ebenso grosses Yerständniss
und eine staunenswerthe Arbeitskraft. Dabei wurde sie täglich besser und reiste
nach einigen Wochen ab. Später hat sie in kurzer Zeit in ihrem gemeinnützigen
Werk Bedeutendes erreicht.
Früher hätte ich in solchen Fällen schulgerecht geistige ßuhe,
Nichtsthnn, körperliche Arbeit oder weiss Gott was sonst verordnet.
Gott sei's geklagt!, meine bezüglichen Kranken sind damals dabei nicht
besser geworden! In solchen Fallen ist das Gehirn nicht erschöpft
und leistungsunfahigy wie man annahm und zuerst meinen möchte,
sondern es ist nur missleitet, arbeitet auf falschen Bahnen. Seine
natürlichen Anlagen darben, werden gehemmt, und die ihm gebotene
Thätigkeit sagt ihm nicht zu. Oder gewisse Scrupel religiöser oder
sentimentaler Art lähmen jede Thätigkeit, wodurch freie Bahn fiir
pathologische Himthätigkeiten geschaffen wird. Dies muss man eben
erkennen und durch eine kühne Diversion ändern. Wie eine durch
Gewitter in Verwirrung gerathene telephonische Centralstation, muss
das Neurocym des Gehirnes wieder ins Geleise kommen. Doch hüte
man sich andererseits, jedem Psychopathen zu glauben, der sich als
Terkanntes Genie hinstellt und höhere Philosophie studiren will. Solche
giebt es 60 für einen der eben Erwähnten, und für solche passt die
Landwirtschaft so gut wie für Schwachsinnige oder Geisteskranke. Die
wahre gehemmte Grösse pflegt nicht grössenwahn sinnig resp. nicht
selbst überschätzend zu prahlen. Man muss in sie driogen, sie suchen
und sie erkennen. Dann aber kann man den Hebel an den rechten
Ort ansetzen und darf sich nicht mehr mit alltäglichen Suggestionen,
Gärtnerei xmd Tischlerei begnügen, von den Mastbettcuren, Badecuren,
electrischen Curen u» A. nicht zu sprechen.
Ein wichtiges Verhaltniss des Genies zur Geistesstörung.
Von
Dr. Aug. Forel.
Die vorstehenden Bemerkungen führen mich dazu, einige Worte
über die Pathologie des Genies zu sagen, da die beiden Fragen nahe
verwandt sind.
Es ist sehr viel über „Genie und Wahnsinn" geschrieben worden
und ich setze die Studien über Hamlet, die Aufsätze Lombroso's und
Anderer etc. als bekannt voraus. Ich möchte nur meinen Standpunkt
in dieser Frage näher präcisiren.
Es ist nicht zu bezweifeln, dass ein genialer Mensch sehr oft
Störungen des geistigen Gleichgewichtes zeigt. Man spricht dabei viel
von der Einseitigkeit genialer Begabungen, obwohl enge und einseitige
geistige Horizonte selten mit Genialität zu vereinbaren sind. Charac-
teristisch für den Genius ist vor Allem die hohe Entwickelung der
plastischen Phantasie, sei es der mehr intellectuellen Phantasie, sei es
derjenigen der Gefühlssphäre.; es giebt aber auch Willensgenies. Doch
leidet die Höhe und Vollkommenheit eines Genies selbst durch Ein-
seitigkeit im weiteren Sinne, d. h. mit Bezug auf genannten weiteren
Gebieten. Ein intellectuell bomirtes Kunstgenie, ein Gefühls- und Ge-
müthsloser oder ein willenschwacher genialer Forscher sind und bleiben
doch partiell defecte Menschen und ihre Defecte schaden der Fracht
ihrer einseitig schaffenden £[Taft, ja lähmen manchmal ihr ganzes
Schaffen. Wirklich grosse Menschen sind in der Begel wenigstens nicht
einseitig defect, und oft werden sie nur deshalb so beurtheilt, weil durch
Contrastwirkung ihre glänzendste Seite die anderen schwächer oder sogar
besonders schwach erscheinen lässt. Es war deshalb ein zweifelhaftes
Ein wichtiges YerhältniM des Genies zur Geistesstörang. 7
Verdienst eines gewissen Autors, eine ,,Samnilang der von grossen
Männern geschriebenen oder gesagten Dummheiten zu veranstalten^^
Die Dummheit ist aUenthalben so dick gesät, dass besondere Samm-
langen ihrer Erzeugnisse, selbst bei Genies, sich nicht lohnt.
Lnmerhin kommen wirklich ganz einseitige Genies vor. —
Spricht man nun von Genie und Wahnsinn, so muss man sich über
die Worte verstehen. Ich habe einmal als grosse Seltenheit einen
genialen Menschen kennen gelernt, der an circulärem Irresein litt, und
nnr während der maniacalischen Periode, nicht aber in der melan-
cholischen genial war und schaffte. Dennoch wird, man kann es wohl
behaupten, niemals ein Genie durch eine erworbene Psychose erzeugt,
während umgekehrt ein Genie gar wohl durch erbliche Veranlagung
oder Misshandlung seines Gehirnes geisteskrank werden kann.
Wenn somit der Begriff des gestörten geistigen Gleichgewichts
oder der geistigen Abnormität mit dem Begriff des Genies in Verbin-
dang gebracht wird, kann es sich nur um die erblich angeborene Con-
stitution des Gehirnes handeln.
Steht nun Letzteres fest — mein circulärer Fall bildet nur eine
die Regel bestätigende Ausnahme — so ist es noch nothwendig, sich
die Verwandtschaft; und die Entfaltungsbedingungen beider Zustände
— nämlich des Genies und der Abnormität — genauer anzusehen.
Die schaffende, combinirende, aufbauende plastische Phantasie
setzt eine starke Arbeit der Aufmerksamkeit voraus, bei welcher be-
reits vielfach gebahnte Wege des Neurocyms verlassen und neue ge-
bildet (gebahnt) werden. Ohne starke Dissociation, resp. Hemmung
genannter alltäglicher gewohnter Wege kann das Ding nicht vor sich
gehen. —
Die dissociative Thätigkeit muss zwar hier ein Plus an Kraft,
and nicht ein Minus wie bei der durchaus pathologischen Dissocia-
bilität der Hysterischen und der sehr suggestiblen Schwächlinge dar*
stellen. Doch trifft dieser theoretische unterschied nur theilweise zu.
In That und Wahrheit besteht eine unleugbare Verwandtschaft zwischen
jenen verschiedenen Pormen der Dissociabilität. Die Tendenz dazu
kann zwar bald mehr mit Krafttlberschuss, bald mehr mit allgemeiner
centraler Nervenschwäche verbunden sein; eine Tendenz zur functio«
nellen Dissociabilität bleibt sie dennoch.
Es wäre unrichtig, in einem so complicirten und so mannigfaltigen
Gebiet generalisirte Begeln aufstellen zu wollen. Ich will auch nicht
leugnen, dass sehr verschiedene Formen constitutioneller Psychopathien
8 A. ForeL
mit Genialität eiDhergehen können. Doch giebt es eine besondere
Form^ welche sich specieller mit der Genialität verweben und zum.
Theü Triebkraft derselben werden kann , das ist die pathologische D i s -
sociabilität oder Suggestibilität , resp. Antosuggestibilität^
wie sie sich bei der Hysterie zeigt Beeilen wir uns yoranznschicken,
dass die meisten Hysterischen nichts weniger als genial sind« Bei
ihnen wiegt zu sehr die Schwäche oder der Mangel an Begabung und
Bildung vor. Bei Kraftüberschuss und grosser Begabung kann jedoch
die hysterische Dissociabilität des Gehirnes zur Triebkraft des Genies
werden. Die Weltgeschichte liefert uns prachtvolle Beispiele solcher
Genies, deren Sprünge nur mit Hülfe autosuggestiver Vorstellungen,
unter deren Bann sie standen, zu erklären sind. Es liegt meines Er-
achtens nach ein diagnostiBcher Irrthum vor, wenn man dieselben zur
Paranoia und ähnlichen Zuständen rechnet. Die Eenntniss des Hyp-
notismus war allein im Stande, diese irrigen Diagnosen früherer Autoren
zu corrigiren.
In der unter meiner Leitung verfassten Dissertation von Fräulein
Jos. Zürcher (Dissertation der Universität Zürich 1894/95, gedruckt in
Leipzig bei Oswald Mutze), betitelt „Jeanne Darc'^ wird die berühmte
Jungfrau von Orleans auf Grund ihres Lebens und ihrer classischen
Antworten im Hexenprocess einer psychologischen Analyse unterworfen.
Das Resultat sorgfältiger Erwägungen muss die Diagnose der Paranoia
verwerfen lassen. Die ethische Höhe Jeanne Darc's, ihr durchdringender
Verstand, ihre Aufopferungsfähigkeit bilden ja den reinsten Gegensatz
zum progressiven ethischen Defect, zur Engherzigkeit und zur Ver-
bohrtheit der Paranoiakranken, ungezwungen dagegen erklärt sich ihr
Fall, wenn man sie als hochbegabte, feinfühlende und ideal denkende
hysterische Autosuggestionistin betrachtet. Die Rolle des Hypnotiseurs
spielt bei ihr der Gedanke der Bettung Frankreichs durch göttlichen
Befehl. Zu ihrer Zeit waren Wunder- und Spukgeschichten, Halluci-
nationen und Heiligenerscheinungen an der Tagesordnung. Wir können
solches auch heute mit Leichtigkeit in der Hypnose bei suggestiblen
Menschen hervorrufen. Die Stinunen Gottes und der Heiligen, die
sich Jeanne Darc selbst, ohne es zu wissen, suggerirte, bestärkten sie
beständig in ihrer Missionsidee und wurden zur täglichen gewohnten
Erscheinung. Ihre natürliche grossartige Begabung und Willensenergie
machten das Weitere. Die Analogie mit den von mir oben kurz ge-
schilderten Fällen ist nicht zu verkennen. Ich verweise übrigens auf
die Dissertation von Fräulein Zürcher.
Ein wichtiges Yerhältnias des Genies zur Geistesstörung. 9
Aber, nochmals gesagt : ,,de nihilo nihil fit''. Die geniale Be*
gabung mnss vorhanden sein, mn auf genannter Weise znr grossartigen
historischen Entfaltung gelangen zu kOnnen. Jedoch, und das ist der
springende wichtige Punkt, der ganze Schatz jener hohen Begabung
kaim auf yerschiedenen Wegen yerkümmem und verdorren. ^Erstens kann
der Mangel an Gelegenheit und äusseren Umständen dies bewirken.
Zweitens können Schwächen in anderen psychischen Gebieten, Alcohol*
yeigiftung und dergleichen mehr die gleiche lähmende Folge haben.
Drittens endlich gehört bei stark dissociativen Natoren die Macht des
richtigen suggestiven Einflusses zum Erfolg. Dieser suggestive Einfluss
kann von aussen kommen, durch die Suggestion eines Anderen. Grosse,
weltbedrückende Ereignisse, wie die Geschicke Frankreichs zur Zeit
Joanne Darc's, können auch gewaltig suggestiv wirken. Aber auch
scheinbar rein von innen durch Leetüren, Sinneswahmehmungen, die
Leidenschaft entfesselnde Ereignisse, die Phantasie anregende Eindrücke,
kann der suggestive Impuls gegeben werden, der dann Autosuggestion
genannt wird. Wie ich schon in meinem Buch über Hypnotismus be-
tont habe, verliert sich der reine Begriff der Suggestion in mehr oder
weniger verwandten psychologischen Begriffen, sobald der menschliche
Hypnotiseur fehlt. Doch sind andererseits die Analogien so unver*
kennbar, dass man nicht leugnen kann, dass die Eenntniss der Sug-
gestion eine grosse Klärung und ein grosses Verstäadniss in jene Ge-
biete gebracht hat.
Was auch der suggestive Factor sei, ob Mensch, Buch, Object,
geschichtliches Ereigniss, Leidenschaft oder Ideal, wenn er mächtig
genug ist und ein bedeutendes Gehirn trifft, so ergreift er Besitz von
demselben und wird zum leitenden Motor einer gewaltigen Individuali-
tät. Jene in solcher Weise in Bewegung gesetzte gewaltige und hoch-
begabte Individualität wächst durch den Elrfolg und wird ihrerseits
wieder zum Hypnotiseur immer zahlreicherer Kreise anderer Menschen.
So erklärt sich sehr einfach die ungeheuere geschichtliche Wirkung
einzelner, mehr oder weniger pathologischer Genies. Die Weltgeschichte
wimmelt geradezu von solchen Beispielen.
Hierbei kommt als hochwichtiger Factor die Bichtung, in
welcher die Suggestion auf ein solches Gehirn wirkt. Das gleiche
hysterisch suggestible Gehirn kann in Folge dessen je nachdem zum
religiösen Märtyrer, zum rücksichtslosen Eroberer, zum grossartigen
Schurken und Verbrecher und sogar zum edlen Keformator werden*
Ich sage „kann" und nicht „muss". In der That darf man nie zu
10 A. ForeL
stark generalisiren. Jeder einzelne Fall muss genau analysirt werden.
Drei grosse Gruppen von Factoren combiniren sich bei dieser Sache
in ihren Wirkungen.
1. Die Gruppe der verschiedenen Arten der suggestiven Factoren,
wie Religion, Liebe, Ideale, Wissbegierde, Verzweiflung, Rache, Eitel-
keit und dergleichen mehr mit ihren bezüglichen Objecten.
2. Die Gruppe der äusseren umstände, wie die geistige Bildung
des bezüglichen Individuums, die politischen und socialen Constellationen,
kurz, die Eindrücke, die auf das Individuum wirken u. s. w.
3. Die wichtigste Factorengruppe bildet aber die erbliche Anlage
des Gehirns. Ein stark ethisch-defectes Genie wird niemals altruisti-
schen Suggestionen anheim fallen (Napoleon I.) ; ein rein künstlerisches
Genie wird niemals durch reine Yerstandesideale in Bewegung gesetzt^
so wenig wie ein rein intellectuelles Genie durch reine G^fühlsbeto-
nungen hingerissen wird.
Durch diese kurze Ueberlegung sehen . wir , dass die Suggestion,
um ihre Wirkung zu entfalten, auf günstigen Boden fallen muss. Aber,
wie wir schon sahen, ist es ein grosser Irrthum, von vornherein anzu-
nehmen, dass die Genies in der Regel einseitig sind. Manche patho-
logisch dissociative Gehirne können durch ganz verschiedene, ja sogar
nicht selten durch entgegengesetzte Dinge mächtig suggerirt werden.
Das sind diejenigen, welche je nachdem zu grossen Intriganten und
Schurken oder zu grossen Märtyrern und Reformatoren werden können.
Das ist der Saulus, der zum Paulus werden kann, der gewesene Ver-
brecher, der zum Heiligen wird, oder manchmal auch umgekehrt; das
sind mit einem Wort die plötzlichen „Bekehrungen^ eines Menschen,
im schlechten, wie im guten Sinne, zu dieser oder zu jener Richtung.
Die berühmte Geschichte des Thomas Bekket, der zuerst als Freigeist
dem König Heinrich IL von England zu Siegen und Grösse verhalf
und sein Günstling war, später aber, zum Erzbischof geworden, voll-
ständig Kehrt machte, zum ekstatischen Diener der Eürche wurde und
seinen königlichen Freund und Wohlthäter im Namen Gottes in den
Koth warf, giebt ein schönes Beispiel des Gesagten. Bekket war
zweifellos ein Hystericus, der zuerst unter der Suggestion eines welt-
lich freigeistlichen Ideals stand, später aber plötzlich derjenigen einer
ekstatischen religiösen Verzückung anheim fieL In der Verlagsfirma
A. Entsch in Berlin ist neuestens (als Manuscript vervielfältigt) ein
recht interessantes Passionsspiel von Hans Wellberg: Thomas Bekket,
erschienen, das jene Wandlung Bekket's dramatisch darstellt
Ein wichtiges VerhältniM des Genies zur Geistesstörung. 11
Solche \^andlimgen, wie diejenigen Bekket's und mancher anderer
verhängnissToll wirkenden historischen Persönlichkeiten, welche, stets
das Gute wollend, Verderben stifteten, zeugen entschieden von einer
pathologisch exaltirten Autosnggestibilität, welche den Oompass eines
remünftigen und überlegenden Handelns verliert.
Dagegen wird bei anderen, gesunderen Genies die Macht der sug-
gestiven Wirkungen harmonisch mit Y emunftsüberlegungen combinirt und
bringt daher grossen Segen für die Menschheit. Leider aber giebt es
noch andere ethisch-defecte Autosnggeetionisten , welche, nur durch
Leidenschaften oder Egoismus geleitet, nahezu ausschliesslich Verderb*
liehen Suggestionen folgen. Bei vielen Anderen wirkt ein Gemisch
Ton beiden Sorten und manche geniale Egoisten haben der Welt genützt.
Man würde sich aber sehr irren, wenn man die Genialität fär
nötig hielte, um grössere Massen menschlicher Schafe zu suggeriren.
Verbohrtheit und sogar hirnverbrannte, total verrückte Grillen, be->
sonders, wenn sie einen mystischen Character an sich tragen, genügen
Yoilständig, um oft während längerer Zeit grosse Massen in ihrem Bann
za halten. Wirkliche Paranoiakranke, deren einzige Kraft in ihrem
pathologischen, leidenschaftlichen Eigensinn, verbunden mit dem barocken
TJnsinn ihres Wahnes besteht, vermögen ganze Schaaren von suggerirten
Adepten nach sich zu ziehen. Glücklicherweise wirken solche Einflüsse
in unserer skeptischen, wissenschaftlich kritischeren heutigen Zeit
weniger andauernd als früher. Doch bleibt es feststehend, dass auch
die sinnloseste leidenschaftliche üeberzeugung, besonders wenn sie in
einnehmender persönlicher Art eingehüllt wird und etwas mystisch
angehaucht ist, bedeutende Suggestivkraft ausüben kann. Die Nach-
beter pflegen dann, besonders die Frauen, Genie nnd Grösse da zu
sehen, wo nur Verbohrtheit, Geistesabnormität und urtheilsloser Unsinn
vorliegt.
Letztere Falle gehören nicht zu unserem Thema, mussten jedoch
erwähnt werden, nm Missverständnissen vorzubeugen. Es war mir nur
darum zu thun, die eigene Art zu kennzeichnen, mit welcher eine vor-
handene, oft schlummernde, oder gehemmte oder auch auf falsche
pathologische Wege verirrte geniale Begabung durch richtige Suggestion
zur Entfaltung gelangen kann, und wie umgekehrt unrichtige Sugges-
tionen hysterisch veranlagte, dissociable Gehirne nicht nur total lahm
legen, sondern sogar zu armen kranken Krüppeln, wenn nicht schliess-
lich zu Geisteskranken umgestalten können. Es ist, wie wenn vor-
handene Himkräfte, welche die Tendenz und das Bedürfniss haben,
1
12 A. Forel. Ein wichtiges Yerhältniss des Genies zur Geistesstörung.
sich ZU entfalten, notbwendig auf pathologische Abwege geriethen, wenn
ihnen die Gelegenheit zu ihrer vollen Entfaltung nicht geboten wird.
Mehr oder weniger ist es schliesslich bei jedem Menschen der Fall^
dass er, nm glücklich und gesund zu bleiben, die mit der Natur des
Menschen zusammenhängenden phylogenetischen und ontogenetischen
Lebenszwecke erfüllen muss. Doch ist beim Durchschnittsmenschen die
bezügliche Verrichtung qualitativ einfach. Die Quantität verrichteter
alltäglicher Arbeit genügt meistens mit geringen bannalen Abwechse-
lungen dazu. Vergessen wir also nicht, dass die Naturen, von welchen
wir hier gesprochen haben, begabtere Ausnahmsnaturen sind. Wir
haben immerhin zum Verständniss der Frage die extremen Fälle be«
sonders betont Selbstredend kommen zwischen den höchsten Genies
und den Alltagsmenschen unzählige Uebergänge und Varianten vor,
die hier aufzuzählen müssig wäre. Es ist Sache der Elugkeit und des
Verständnisses des Beobachters und speciell des psychologisch gebildeten
Arztes, in jedem einzelnen Fall ein richtiges ürtheil zu fällen und den
richtigen Heilweg zu finden. —
Es sei endlich noch daran erinnert, dass der pathologische Begriff
der Hysterie sehr elastisch ist. Zu stark pathologisch und entartet
darf die hysterische Disposition nicht sein, um, mit Genie gepaart, die
Entfaltung des letzteren nicht überhaupt zu hemmen.
Zur Lehre vom perversen Sexualismus.
Von
W. Brfigelnuinii - S ü d e n d e.
Vor einigen Monaten ward mir ein jnnger Mann von seinem Vater
ZOT Behandlung zugesandt^ weicher einen so versteckten und meiner-
seits niemals beobachteten perversen Sezoalismns darbot, dass erst
nach längerer Beobachtung es möglich ward, eine treffende Diagnose
za stellen. Der Kranke bot so viel Besonderes dar, dass ich glaube,
durch die Veröffentlichung das Interesse def Herren Specialcollegen
wachzurufen. Ich will vorab die Krankengeschichte geben und zum
Schluss dieselbe einer kurzen Epikrise unterziehen:
N. N., 22 Jahre alt, Sohn eines Gjrnmasiallehren, welcher -^ nach nur ein-
.maliger längerer Consultation zu schliessen — etwas excentrischen Wesens war,
Matter todt, war bis zur Tertia vorgerückt, als er angeblich durch viele Unge-
rechtigkeiten der Collegen seines Vaters, sowie durch zahlreiche Hänseleien seiner
Commilitonen in einen solch erregten Gemüthszustand kam, dass er seine Gym-
nasiallaufbahn aufgeben musste. Er war damals 16 Jahre alt. Schon als Knabe,
berichtet er selbst, habe er eine Neigung zu einem jüitschüler gehabt, in der
Weise, dass dessen Nähe ihm ein angenehmes Gefühl erzeugte. Als er erwachsen
war und erfuhr, welche Bewandtniss es mit der Päderastie habe, bemerkte er, dass
er eine ansserordentliche Anziehungskraft für alle Päderasten habe, der Art, dass
solche ihn suchten. Er berichtet von einem sehr anständigen älteren Herrn, der
ihm stets in auffallend freundlicher Weise schrieb, und ihn — obwohl eine Tage-
reise Eisenbahn entfernt — mehrfach besucKte, nur um in seiner Nähe zu sein.
Derselbe offenbarte sich ihm niemals ; gelegentlich aber einer SchiffiTahrt, bei welcher
sich Patient auf einen Stuhl gestellt hatte, um besser über die ancleren Passagiere
wegsehen zu können, bemerkte er, dass jener alte Herr ihn ganz überflüssiger
Weise mit beiden Händen festhielt, dass seine Hände kalt waren, heftig zitterten
und sein Gesicht mit Schweiss bedeckt war, wobei er erblasste. Da erst erkannte
er, dass er höchst wahrscheinlich mit einem Päderasten zu thun hatte, welcher aber
14 W. Brügelmann.
sich zn offenbaren, zu anständig war. — Er selbst hat die ersten sexaellen Er-
regungen beim Anblick hübscher Hunde gehabt und als er einen derselben auf-
nahm, ging ihm ein solch wollüstiger Schauer durch alle Glieder, dass er ihn
wieder loslassen musste.
Anständige Frauen reizen ihn nicht, dagegen wohl ganz gemeine Dirnen.
Er hat bei ersteren ein ganz seltenes Glück; wenn er sich aber einer derselben
nähern soll, so genirt er sich, es kommt keine Erregung zu Stande, und nur da-
durch, dass er sich in die Arme einer gemeinen Dirne träumt, gelingt gelegentlich
eine Cohabitation.
Zur Zeit der Behandlung ist er impotent und klagt hauptsächlich über
krampfhaftes Zusammenziehen der Wangenmuskeln und fast schmerzhaftes Spannen
der Brust-, Bauch- und Beinmuskeln, wobei ihm die Stimme versage und er sich
in einer ganz verzweifelten und hülflosen Lage befände. Wenn er versucht, gegen
diesen Krampf anzugehen, so steigert er die Affection bis zur Unerträglichkeit,
und zwar solange, bis die Ermattung des ganzen Körpers den Krampf verschwinden
macht. Kann er sich dagegen zurückziehen, namentlich wohl bedeckt hinlegen,
so verschwindet der Krampf mit der zunehmenden Körperwärme von selbst. Er
giebt an, dass dieser Krampfzustand eine grosse Aehnlichkeit mit einer Erection
habe, ferner dass eine gelungene Cohabitation ihn mit Sicherheit vor seinen
Krämpfen bewahre und zwar bis zu drei Tagen.
Alle diese natürlich nur ganz allmählich zusammengetragenen anamnestischen
Daten lassen daher die Diagnose als nicht unwahrscheinlich erscheinen, dass die
fehlenden sexuellen Erregungszustände sich in perversen Erregungszuständen an-
derer Nervenbahnen abspielen.
Patient ist sehr heruntergekommen, macht einen elenden weichlichen Ein-
druck, dabei geistig sehr rege, nur durch seine sechsjährige ünthätigkeit unsagbar
faul. Er ist zu keiner Thätigkeit zu bringen und entschuldigt sich stets mit
seinem Zustand. Er behauptet, dass er keinen Beruf ergreifen könne, thatsächlich
erscheint er aber zu bequem^ sich nur einigermaassen anzustrengen; er hat sich
in den Kopf gesetzt, Schauspieler zu werden, aber auch dazu fehlt ihm die Energie.
Selbstredend bedeuten ihm seine verschiedenen Symptome alle möglichen nervösen
und organischen Krankheiten, thatsächlich aber lautet die Diagnose hinsichtlich
der Folgekrankheiten nur auf Hjrpochondrie.
Es war a priori klar, dass dem Kranken, welcher natürlich schon alle mög-
lichen Curversuche vergebens durchgemacht hatte, nur auf s^ggestivem Wege bei-
zukommen war, gleichzeitig aber imponirten eine solche Menge Gontresuggestionen,
dass die Prognose keine gute sein konnte. So war denn auch niemals ein kata-
leptisches Stadium zu erzielen, obwohl ich mir in der Einzelhypnose die denkbar
grösste Mühe gab; eine Beeinflussung, das war Alles. Ich kleidete die immer
wiederholte Heilsuggestion stets in dieselben Worte, dass die Geschlechtslust steige
und die Spannung anderer Sphären im gleichen Maass verschwände.
Schon am folgenden Tage berichtete er über eine Pollution, wenn auch ohne
Erection, war auch über Tag nicht etwa müde, sondern im Gegentheil sehr wohl
und ohne Spannnng. Gegen Abend geringe Spannung, welche nach kurzem Liegen^
wohl bedeckt, verschwand. Die täglichen Hypnosen vertieften sich allmahhch,
das Resultat ward aber durch zahlreiche Gontresuggestionen sehr in Frage gestellt,
ebenso erschwerten viele Unterlassungssünden den Zustand und ganz ohne jeden
Zur Lehre vom perrenen SexualisinuB. 15
JjiliM int ab und zu ein Krampf ein. Im Allgemeinen aber war ein Abblawen
des Krampfes und eine Reaction des Qesammtnervensystems nicht zu erkennen.
Mehrere kleine Korphiuminjectionen blieben ohne Erfolg, die Hypnose vertiefte
sich nicht weiter und so kam ich nicht aus der Stelle. Da kam ich auf den Ge-
danken Waehsuggestionen zielbewusst zu insceniren. Ich machte ihm also klar,
djisi nur seine fehlende Willensenergie Schuld, an seinem Zustand sei, dass alle
seine Annahmen bezüglich seiner schweren unheilbaren Erkrankung irrig seien,
dass nur eine üxe Idee ihn quäle und dass nichts Pathologisches vorhanden sei.
Ich suchte ihn durch Beiträge aus dem Leben davon zu überzeugen, dass alle jene
Erscheinungen, welche er an sich beobachtete, auch bei anderen Menschen vor-
kamen, und dass diese doch nicht daran dächten, sich als Kranke zu betrachten.
Ich zeigte ihm die wunderbaren trophischen Neurosen und suggerirte ihm stets
TOD Neuem, dass er sich discipliniren müsse. Die Spannungen bezeichnete ich
ihm als vicarrürende Erectionen, welche bei richtiger Behandlung wieder zur Norm
zurückkehren würden. Von entsetzlichen Leiden und von Yerrücktwerden, wie
er sich gern ausdrückt, sei gar keine Rede.
Er stellte eine Unmenge Querfragen, welche oft nicht leicht zu widerlegen
waren, aber auf ein gutes Denkvermögen schliessen Hessen. Um ihn noch immer
mehr zu befestigen, dictirte ich ihm seine Krankengeschichte in die Feder und
wies ihn an, dieselbe immer wieder von Neuem durchzulesen. Das that er auch
und schon am dritten Tage erklärte er mir plötzlich und ganz spontan, jetzt sei
der Druck von ihm genommen, er wisse jetzt ganz genau, dass er nicht krank sei
and die plötzlich sich entwickelnden Angstzustände nur in seiner krankhaften
Vorstellung bestanden hätten. Die Hypnose habe ihm gar nichts genutzt, dagegen
fahle er sieh durch die Wachsuggestion vollkommen überzeugt und beruhigt ucui
wieder ganz gesund. Er sei jetzt Herr seiner Vorstellungen und habe verschiedene
Ezcursionen mit bestem Erfolg gemacht. Thatsächlich trat damit auch ein sicht-
licher Wendepunkt in seinem ganzen Befinden und Auftreten ein und auch in der
Nacht ward der Schlaf ruhig. Namentlich rühmte er, dass die Spannungen ver-
schwänden.
Ich hatte ihn gern noch einige Zeit beobachtet, aber er zog es vor, nach
Hause zu fahren, nachdem ich ihm noch nach Kräften suggerirt hatte, dass er jetzt
im Stande sei, einen Beruf zu ergreifen.
Ich weiss nicht, oh in der Literatur ein ähnlicher Fall beschrieben
ist. Dass perverse Seznalität nnzeitige Erectionen herbeiführt, ist eine
alte Sache, aber dass die Erectionen ganz verschwinden nnd durch im
Wesen congruente Spannungsvorgänge in anderen Nervenbahnen er-
setzt werden, ist mir neu. Und doch konnte bei der klaren Beschrei-
bung der Vorgänge seitens des Kranken kein Zweifel obwalten, dass
dem so sei. Auch dass Wachsuggestionen über hypnotische Beein-
flussungen den Sieg davontragen, dürfte nicht allzuhäufig sein. Das
Vorkommen beweist aber immer wieder von Neuem, dass die Leistungs-
fähigkeit des Arztes zum allergrössten Theil in der Macht der üeber-
redung und Ueberzeugung besteht, im Gegensatz zu der veralteten An-
16 W. Brfigehna'nn. ' Zur Lehre yom perversen Sexualismus.
schaumig von Laien nnd Aerzten, dass alles Heil nur aus der Apo-
theke zu holen sei.
Das Auftreten des perversen Sexualismus bietet in seiner Ent-
wickelung hier nicht viel Besonderes; derselbe ist ja so mannigfaltig
und in seinen ersten Anfangen so leicht, dass ich sehr geneigt bin,
eine grosse Menge von Erscheinungen bei sonst ganz normal sexual
beanlagten Menschen der Perversitas sex. zuzurechnen. Auch rufen
die yerschiedensten Manipulationen ein wollüstiges Gefühl hervor und
ersetzen so gleichsam die normale Libido, aber meines Erachtens er-
zeugen jene Manipulationen doch allemal die Vorstellung einer Libido,
während ein Beizzustand in ganz beliebigen Nervenbahnen des Körpers
mit selbst schmerzhaften Contractionen der Muskeln sich wesentlich
von obigen Zuständen dadurch unterscheidet, dass dieselbe keine Vor-
stellungen irgend welcher Libido hervorruft, wohl aber die Folge-
zustände jener, die nervöse Ermattung mit sich bringt.
Ich würde erfreut sein, wenn diesbezügliche Erfahrungen an dieser
Stelle von den betreffenden Herren CoUegen bekannt gegeben würden;
ich glaube, dass ein solches Vorkommen sehr wohl den Schlüssel zu
manchen YÖUig verkannten Zuständen liefern könnte, welche Jahre lang
aus einer Hand in die andere gehen und als Kheumatosen, Einbil-
dungen, Muskelverdickungen (im vorliegenden Fall), Nervenerkrankungen
aller Art imponiren.
Zur klinischen Stellung der sogenannten Erythrophoble und Ihrer
Behandlung durch Hypnose.')
Von
Dr. FrledlSnder-Frankfurt a. M.
Ein kurzer Ueberblick über die einschlägige Literatur zeigt zunächst,
dass die sogenannte Erythrophobie schon bei Casper (1846), bei West-
p h a I (1877), beiEnlenburg — aber nicht als selbständige Krankheit — ,
auftritt. Erst Boacher (1890), Pitres und Regis (1896), Ton
Bechterew (1897), stellten unter dem Namen Erythrophobie (unrichtig
auch Ehreuthophobie genannt) eine besondere Krankheit auf. Diesen folgten
dentsche, französische, russische, italienische Autoren. Von letzteren
lieferte Yespa 1898 eine ganz besonders ausführliche Darstellung, in
welcher die Aetiologie, Symptomatologie, u. s. w. der Erythrophobie
besprochen wird. Ho che hatte schon 1897 die Nothwendigkeit und
Blchtigkeit der Statuirung eines neuen Krankheitsbegriffes, der alle
Criterien einer Zwangsvorstellung trage, bestritten; Jolly schlägt für
diese und ähnliche Phobien — wenn schon ein Name nöthig sei —
deo Sammelnamen Kairophobie vor; Tuczek begreift die Erythro-
phobie unter die „Zwangsvorstellung eines gefiirchteten Zustandest.
Ich will nicht um Namen streiten. Wogegen aber auch ich mich aus-
sprechen muss, das ist der Versuch, von polymorphen Krankheiten,
einselne Symptome abzutrennen und als Ejrankheiten für sich mit
speciellen Namen zu begaben. Auf diese Weise wird die Ein-
*} !Ein Theil dieser Ausführungen bildet den Inhalt eines Vortrags, den Verf.
im Ve^in deutscher Irrenärzte zu Frankfurt a. M. am 21. IV. d. J. gehalten. Das
dort VA>rgetragene wird ausführlicher im Neurologischen Centralblatt mitgetheilt
wer^^-
ZeitBclurift ftr Hypnotismns etc. X. ^
18 Dr. Priedländer.
heit der Krankheitsbilder angegriffen, es kommt zur
Trennung von Dingen, die zusammengehören, eswirddie
Aetiologie, Symptomatologie von Symptomen be-
schrieben. Ich habe die in der Literatur niedergelegten falle ge-
prüft und selbst Gelegenheit gehabt, verschiedene Grrade des in Bede
stehenden Symptomes zu beobachten. Ich möchte hier kurz 5 eigene
Fälle mittheilen. In dem ersten handelt es sich um einen SOjahrigen
belasteten Mann, der vom 10. — 18. Jahre an, überaus leicht erröthete
und in Folge dessen an BefaDgenheit litt. Zu gleicher Zeit war der
Kranke von einer Beihe von Zwangsvorstellungen befangen, die später
schwanden, um anderen Platz zu machen, die in der physiologischen
Breite gelegen, heute noch bestehen, ohne den Betreffenden in seiner
sehr angestrengten Thätigkeit zu behindern. Patient ist Neurastheniker:
von besonderem Interesse ist eine hochgradige Dermographie als Theil-
erscheinung der leichten Erregbarkeit des vasomotorischen Centmms.
Im 2. Fall handelt es sich um eine 30jährige Dame (stark belastet),
die bis zum 18. Jahre an anfallsweise auftretendem Erröthen litt. Dar
neben bestand Claustrophobie. Diese Symptome schwanden und machten
einer ausgebildeten Cyclothymie Platz. Der 3. Patient ist ein 33jäb-
riger Neurastheniker mit essentiellem Erröthen (Eulen bürg), Agaro-
phobie, sexueller Hyperästhesie u. a. m. Der 4. FaU betrifft eine
40 jährige Dame aus belasteter Familie. Diese zeigt ausgesprochene
Erröthungsangst neben den verschiedensten anderen Phobien. Patient
leidet an Höhenschwindel, an Angst vor dem Wasser; wenn sie ein
Eind auf den Arm nimmt, quält sie die Befürchtung, sie müsse es auf
den Boden werfen, u. a. Gleichwohl versieht die Dame anstandslos
alle ihre Pflichten. Der letzte Fall bezieht sich auf einen ca. 30 jäh-
rigen Arzt Patient stammt von neuropathischer Mutter. Von seinem
23. Jahre an (zur Zeit des Examens), verschlimmerten sich seine neu-
rasthenischen Beschwerden; ohne jede Ursache trat nunmehr anfallfl-
weises Erröthen auf; dasselbe war mit Herzklopfen beschleunigtem
Pulse verbunden. Wie auch von den anderen Autoren mitgetheilt wird,
kam es in der Folge zur Angst vor dem Erröthen, damit jedesmal
auch wirklich zum Erröthen. Auf diese Weise bildete sich die Zwangs-
vorstellung aus, die den Patienten arbeitsunfähiger machte und dämm
tief verstimmte. Im 26. Jahre hatte sich Patient einer kurzen Bemis-
sion zu erfreuen. In Folge von gemüthlichen Insulten traten alle
früheren Beschwerden und so auch die Erröthungsangst in verstärktem
Masse wieder auf. Letztere aber nur war es, die Patient lebeosun-
Zar kliniBchen Stellung der BOgenannten Erythrophobie etc. 19
lastig machte und ihn veranlasste, meinen Bath einzuholen und um
Anwendung der Hypnose zu ersuchen.
Wag diese betrifft, so möchte ich an dieser Stelle näher darauf ein-
gehen, weil es von Interesse ist, von einer durch dieselbe in überraschend
kurzer Zeit bewirkten Heilung sprechen zu können, nachdem die meisten
Autoren über Misserfolge berichten. Ich selbst hatte nicht sehr yiel
Hoffiiung auf Erfolg und unternahm dieselbe nur aus folgenden Grün-
den. Der Patient ersuchte selbst darum. Damit war die erste Vor-
bedingung des Erfolges gegeben ; es war daher vorauszusetzen, dass er
seine psychische Mitwirkung angedeihen lassen würde; diese musste
umso höher angeschlagen werden, als Patient ganz ausserordentlich
unser seinem Erröthen litt, und bereits „alles Mögliche^ versucht hatte,
um das Leiden zu bekämpfen. Dies wieder erschien sehr erschwerend
für einen Erfolg der Hypnose. Es ist nicht gut, wenn ein Kranker
ein Mittel als das „letzte" versucht. Er setzt alle seine Hoffnungen
auf die Hypnose; vorher hat er sich bemüht, mit Autosuggestionen
des Erröthens Herr zu werden. Er kennt als Arzt den Mechanismus
der Hypnose, mehr oder weniger genau auch die Vorgänge während
derselben. (Der Betreffende hatte wiederholt Hypnosen angewohnt,
die ich anwenden musste.) Nun stürmen auf ihn die verschiedensten
Fragen ein. Wird die Hypnose überhaupt herbeizuführen sein ; werden
die von dem Hypnotisirenden ertheilten Gegensuggestionen wirksamer
sein, als die Autosuggestionen ? U. a. m. Dazu kam, dass Patient die
in der Literatur von v. Bechterew mitgetheilten Falle kannte, in
denen die Hypnose ziemlich erfolglos geblieben war. Allen diesen Vor-
stellungen entsprachen ebensoviele Hemmungen.
Gehen wir nun auf den psychischen Vorgang, der sich bei einem
einzelnen Anfall von Erröthungsangst abspielte, ein, und folgen wir
in genauerer Weise als dies oben geschah, der Schilderung des Patienten.
„Wenn Jemand von, oft ganz gleichgültigen, Dingen sprach, hatte ich
ein Gefühl des Aergers, ohne sagen zu können warum, trat dann in
solchen Fällen mit dem Aerger auch Angst ein; die Hände und die
Lippen begannen zu zittern, das Herz schlug ungemein rasch und nun
erröthete ich in heftigster Weise. Nach Sekunden bis nach Va Minute
verlor sich das Herzklopfen, dann das Erröthen, dann hörte das Zittern
der Stimme und der Hände auf.'* Im Laufe der Zeit verschlimmerte
sich der Zustand und bildete sich zur Zwangsvorstellung aus. — Es
ist natürlich bei der Beurtheilung der Angaben des Patienten Vorsicht
geboten; ich meine bezüglich der von ihm angegebenen Reihenfolge
2*
20 Dr. Friedländer.
der Symptome. Die Selbstbeobachtang nnterliegt grossen Fehlerquellen,
zumal wenn es sich um die Analyse eines affectiven Vorgangs handelt.
Ausserdem lag der erste Anfall viele Jahre zurück; bei der Repro-
duction konnten also wieder ungewollte Irrthümer unterlaufen. Wie
dem auch sei, der Weg für die hypnotische Behandlung erschien mir
vorgezeichnet. Gelang es, den Patienten, in Hypnose zu versetzen, bot
er in derselben erhöhte Suggestibilität, so musste als einzige Gegen-
suggestion gegeben werden: Ihr Wille, nicht zu erröthen, wird stärker
sein, als die Erinnerung an das Erröthen, die Hemmungen, die über
das vasomotorische Centrum gesetzt sind, werden genügen, dieses Ilir
krankhaft reizbares Centrum in seiner üebererregbarkeit herabzumin-
dern. Die Hypnose sollte an die Stelle der überwerthigen Yorstellnng
vom Erröthen die überwerthige Vorstellung vom „Nichterröthen'* setzen,
sie sollte gewissermassen bahnend wirken für die dem Patienten ab-
handen gekommenen Hemmungen. War es also möglich, zuerst das
Erröthen herbeizufuhren, dasselbe auf Befehl zum Verschwinden zu
bringen, dem Patienten in der Hypnose zu suggeriren, dass derselbe
Vorgang der Hemmung, der sich jetzt im Unterbewusstsein abspiele,
auch im wachen Zustande von ihm selbst herbeigefiihrt werden könnte
und würde, daim konnte auf einen Erfolg gerechnet werden.
I. Hypnose: Fat. erhält detaillirte Schla&uggestioDen. Es gelingt nicht,
durch den hyperekmetischen Versuch eine Erklärung für den ersten Anfall zu be-
kommen. Nach 2 Minuten giebt Fat. an, dass von beiden Seiten her ein Nebel
über die Augen ziehe ; er sähe alles jetzt wie durch einen Sehleier. Nach 4 Minuten
scUift Fatient. Fuls 80, regelmässig; Athmung 22.
„Sie befinden sich in einer Gesellschaft. Das Gespräch, das eben gefohrt
wird, beröhrt Sie peinlich. Sie erröthen!^
Fuls 110, Athmung 35.
„Sie sollen jetzt ruhig schlafen. Der Anfall ist yorüber."
Die Athmung wird ruhiger; die Fulsfrequenz nimmt allmählich ab. DasTor-
her intensiv gerÖthete Gesicht blasst ab. Nach wenigen Minuten zeigt der Pult
78 Schläge bei 20 Athemzägen in der Minute. Nachdem Fat. im Ganzen 26 Minuten
geschlafen hatte, wird er geweckt. Er erinnert sich, dass er erröthet iat. Die
Suggestion ist ihm nicht gegenwärtig.
Am folgenden Tage (Fat. hatte verschiedene Anfalle in der Zwischenzeit):
n. Hypnose: Fat. schläft rasch ein. Keinerlei Suggestionen. Erwecken
nach Vi Stunden.
III. Hypnose (zur selben Zeit): Genaue Erklärung des Ablaufs eines ein-
zelnen Anfalles. Detaillirte Gegensuggestion, die in dem Schlusssatze gipfelt: „Sie
werden, wenn ich morgen versuche, einen Anfall von Erröthen suggestiv einzulöseo,
im Stande sein, das Eintreten des Erröthens zu unterdrücken, und von diesem
Zeitpunkte an steht Ihr vasomotorisches Centrum wieder unter der Herrschaft ron
Zur klinischen Stellung der sogenannten Erythrophobie etc. 91
Hemmungen. Sie werden im wachen Zustande das können, was Ihnen morgen in
der Hypnose gelingen wird.** Nunmehr Tertiefung des Schlafes und Suggestion
Ton Amnesie für das eben Gehörte beim Erwachen. Fat. wacht prompt auf. Es
besteht Anmesie.
Nach Erwachen aus der Hypnose sage ich zu dem Fat.: „Denken Sie jetst
an ihre früheren Anfalle. Sie werden jetzt erröthen etc.''
Fat. wird ganz blass, die Fulsfrequenz erhöht sich etwas, das Gesicht erh&H
einen ängstlichen Ausdruck — aber es kommt nicht zum ^rröthen.
IV. Hypnose: Es gelingt nicht, dem Fatienten das Erröthen zu suggeriren.
Sechs Monate nach dieser Hypnose hatte Patient noch einen leichten
AnfiaQ. In der Zwischenzeit und nachher fühlte er sich TöUig wohl.
Mit der Ausschaltung des Erröthens war er von der Angst vor dem
Erröthen befreit. Patient ist seit 2 Jahren völlig frei von diesem
quälenden Symptom seiner Neurasthenie. Neurastheniker ist er nach
wie Tor; allein, wie er selbst schreibt, mit der Befreiung von dem Er-
röthen sei ihm sein Selbstvertrauen vriedergegeben und er fühle sich so
wohl, wie nie zuvor.
Epikritisch möchte ich zum Schluss darauf hinweisen, dass alle
von mir mitgetheilten Fälle, so verschieden auch ihre graduelle Aus-
bildung erscheint, gleich denen der übrigen Literatur, ein Gemeinsames
darbieten: Das ist das GrundübeL Alle Patienten sind belastet, alle
sind neurasthenisch oder psychopathisch. Es mag in seltenen Fällen
vielleicht vorkonamen, dass ein sonst ganz Gesunder an einer leichten
Form des essentiellen Erröthens leidet; wo es sich aber um ausge-
bildete Erröthungsangst handelt, dort stellt diese immer nur ein
Symptom dar, das in seiner höchsten Ausbildung zur Zwangsvor-
stellung wird, wie dies ja bei Belasteten oder Nervösen gar nicht
selten ist.
Die möglichen Formen seelischer Einwiricung in ihrer ärztlichen
Bedeutung.
Eine programmartige üebersicht
von
Oskar Yogt.
(2. TheU.)
B. Dnrch ihren Inhalt wirksame intelleetuelle Erscheinungen.
In diesem Abschnitt wollen wir die psychischen EinwirkuDgen auf
Geist und Körper betrachten, die unmittelbar auf den Inhalt der
betreffenden intellectuellen Erscheinungen zurückzuführen sind.
Dabei sehen wir das unmittelbare Moment darin, dass das
Auftreten einer hierher gehörigen intellectuellen Erscheinung die
wesentliche Ursache der psychophysischen Folgewirkung darstellt Darin
ist der Gregensatz zur vierten Gruppe gegeben, die jene intellectuellen
Erscheinungen umfasst, welche durch ihren Inhalt erst die eigentlich
wirksamen intellectuellen Erscheinungen anregen, also nur mittelbar
eine Bedeutung für uns gewinnen.
Das Characteristische fem er für die intellectuellen Erscheinungen,
die durch ihren Inhalt und nicht etwa durch ihre Intensität wirksam
sind, haben wir darin zu suchen, dass ihre Intensität und ihre Bewnsst-
seinsbeleuchtung von durchaus nebensächlicher Bedeutung sind. Ja,
sie können schon die fragliche psychophysische Folgewirkung haben,
ohne ihrerseits eine zur Bewusstseinsbeleuchtung fuhrende Erregung
zu zeigen. In anderen Fällen bleiben sie wenigstens dunkel bewusst
und es bedarf erst einer eingehenden Selbstbeobachtung, um sie klar
zu erkennen.
Die Folgewirkungen selbst, die auf den Inhalt intellectueller Er-
scheinungen zurückzufahren sind, lassen eine weitere Zweiteilung
Die möglichen Fonnen seelischer Einwirkung in ihrer ärztlichen Bedeutung. 23
sn. Die eineii Folgewirkungen stehen zu dem Inhalt der intellectuellen
Erscheinungen in congru entern Yerhältniss. Es handelt sich hier
um die Folgewirkungen jener Vorstellungen, welche das Eintreten irgend
eines psychophysischen Geschehens zum „Objectinhalt*' ^) haben, soge-
nannter Zielvorstellungen. Die andere Gruppe von Folgewir-
kungen weist dieses congruente Yerhältniss nicht auf. Hier tritt nur
das allgemeinere Phänomen der Bahnung oder Hemmung in Erscheinung.
1. Mit einer ihm oongmenten Folgewirkung.
Wir haben soeben gesehen, dass die intellectuellen Erscheinnngen,
soweit sie eine congruente Folgewirkung nach sich ziehen, Vorstellungen
Ton dem zukünftigen Eintreten eines psychophysischen Geschehens dar-
stellen. Nehmen diese Zielvorstellungen dabei die Gestalt an, dass ein
solches psychophysisches Geschehen unter Bethätigung des eigenen Willens
eintreten wird, so sprechen wir von einer WillenszielTorstellung.
Wendet sich weiterhin die ganze active Aufmerksamkeit dieser Willens-
zielvorstellung zu, so fuhrt die letztere zu einem entsprechenden, d. h.
eben congruenten psychophysischen Geschehen: der Willenshand-
lung. Tritt dagegen die Zielvorstellung in der Form auf, dass dieser
zukünftige Vorgang ohne das active Zuthun des Ichs eintreten wird,
dann handelt es sich um eine suggestiv wirkende Zielvorstel-
lung oder Suggestion. Ein thatsächliches Eintreten dieses psycho-
physischen G^chehens ohne das active Zuthun des Ichs stellt dann die
suggerirte Folgewirkung dieser Suggestion oder eine Sugges-
tionserscheinung dar.
Ehe wir uns der Betrachtung dieser beiden Gruppen intellectueller
Erscheinungen mit congruenter Folgewirkung zuwenden, möchte ich
noch zwei Punkte kurz zur Sprache gebracht haben.
1. Wiederholt aufgetretene Willenshandlungen, wie suggestive
Folgewirkungen können sich ohne vorangegangene bewusste Zielvor-
stellung und ohne von dem Ich beachtet zu werden, vollziehen. Der-
artig secundär automatisch gewordene Willenshandlungen und suggestive
Folgewirkungen eignen sich aber nicht zur Definition der Willenshand-
lung und der suggestiven Folgewirkung. Hierzu müssen wir uns mög-
lichst completer hierher gehöriger psychophysischer Geschehnisse
bedienen. Wie man aber bei diesen das Vorhandensein von Ziel-
*) üeber den Begriff des Objectinhalts vgl. 0. Vogt, Die directe psycho-
logische Experimentalmethode in hypnotischen Bewnsstseinszuständen. Zeitschr.
f. Hypnot., Bd. V, pag. 181 ff.
24 Oskar Vogt.
Vorstellungen auf Grund seiner Selbstbeobachtung leugnen kann, ist
mir unbegreiflich.
2. Dass ich das Essentielle der Willenshandlung und der Sugges-
tiouserscheinung nicht iu der ZielTorstellung, sondern in dem Bewnsst-
semsmoment der Activität und Passivität sehe, geht wohl zur (Genüge
schon aus den obigen Ausfuhrungen herror. Im Einzelnen möchte ich
bezüglich dieser Frage auf meine „Normalpsychologische Einleitung
in die Psychopathologie der Hysterie" verweisen. Wenn ich trotzdem
die Willenshandlung und die Suggestionserscheinung unter die Wir-
kungen der intellectuellen Bewusstseinsphänomene rubricire, so geschieht
es, weil die jedesmalige Zielvorstellung der Inhalt ihrer psychophysischen
Folge Wirkung bestimmt. Man könnte daran denken, der Wertschätzung
der Bewusstseinsmomente der Activität und Passivität dadurch Aus-
druck zu geben, dass man die Willenshandlungen und SuggestioDS-
erscheinungen als complexere Einwirkungsformen allen übrigen all
den einfacheren gegenüberstellte. Aber es kommt doch auf der-
firtige classificatorische Fragen hier wenig an. Denn die Hauptsache
bleibt die, dass wir die verschiedenen Einwirkungsformen unter-
scheiden lernen. Dagegen ist es von durchaus secundärer BedeutuDg,
in welcher Anordnung wir die unterschiedenen Formen behandebn.
a. In der Form einer Wlllenthandlung.
Willenshandlungen können schon lediglich durch das mechanische
Moment der Bewegung eine ärztliche Bedeutung gewinnen, z. B. durch
den Einfluss willkürlicher Bewegungen auf Entzündungsprocesse und
Gelenksteifigkeiten. Wir lassen derartige indirekte Wirkungen von
Willenshandlungen vollständig ausser Acht. Wir wollen uns auf die
psychophysischen Folgewirkungen der Willenshandlungen be-
schränken. Aber auch von diesen gehört nur ein Theil hierher, näm-
lich nur diejenigen Folgewirkungen, welche im Wesentlichen auf die
bahnende oder hemmende Wirkung einer einzelnen Willenshand-
lung zurückzuführen sind. Diejenigen Folgewirkungen von Willens-
handlungen, die wir unter den Begri£fen der Uebung und NichtÜbung
zusammenfassen können, haben wir ja im 1. Theil bereits betrachtet.
So fallt z. B. eine Leistungstmfähigkeit eines Psychopathen, die
wenigstens zum Theil auf einen Mangel an genügender Willensbethäti-
gung zurückzufuhren ist, nicht in die jetzt zu betrachtende Gruppe.
Das Vorhandensein oder Fehlen einer einzelnen Willenshandlung muss
schon das characteristische Moment hierher gehöriger Folgewirkungen
zum Ausdruck bringen.
Die möglichen Formen seelisoher Einwirkung in ihrer ürsUichen Bedeutung. 26
a. Auftreten Ton Willenshandlangen.
Pathogen wirkende Willexisbandlungen habe ich nur in ganz
yereinzelten Fällen zu beobachten Gelegenheit gehabt. Es ist das
auch natürlicL Denn um, krank sein zu wollen, bedarf es einer aus-
gesprochenen Penrersion der WillensbethätigUDg. Diese findet man
nur als lange dauerndes Symptom bei einzelnen Hysterischen und Dege-
nerirten und als gelegentliches Yorkommniss bei gewissen Indi?iduen,
die durch Krankheitserscheinungen sociale Yortheile erstreben. Da*
neben kommen ganz seltene Fälle vor, wo Personen absichtlich ge-
wisse Bewusstseinszustände erstreben, die ihnen als begehrenswerth er-
scheinen, von uns aber als krankhaft bezeichnet werden müssen. Es
handelt sich dabei um WillenszielTorsteUungeD, die durch sehr starke
Gefühle z. B. moralische und religiöse, genährt werden. So sah ich
eine hysterische Dame durch willkürliche Unterdrückung des Sexual-
triebes für lange Zeit sexual-anästhetisch werden, so eine andere sich
eine willkürliche Amnesie scha£fen für ein ihr peinliches Erlebniss.
Bei anderen pathogen wirkenden Willenshandlungen erscheint
mir nicht die ausgeführte Willenshandlung das wesentliche Moment zu
sein, sondern die Unfähigkeit, diese Willenshandlung zu unterdrücken«
Es handelt sich hier um ein pathogenes Nachgebenin Folge Mangels
hemmender Willenszielvorstellungen. Wir rechnen deshalb hierher ge-
hörige Fälle unter die Rubrik der pathologischen Bedeutung des Fehlens
von Willenshandlungen.
Ebenso gehören die Fälle, wo die Absicht einer nützlichen Willens-
handluDg gerade ein entgegengesetztes psychophysisches Geschehen
veranlasst, nicht hierher. Denn der pathogene Mechanismus ist in
diesen Fällen der, dass die primäre Willenszielyorstellung eine suggestiv
wirksame Contrastvorstellung associativ angeregt hat. JBier handelt es
sich also um eine jener Erscheinungen, die wir in der vierten Haupt-
grappe betrachten wollen.
Schliesslich müssen wir noch darauf aufmerksam machen, dass wir
das Vorkommen willkürlich geschaffener schädlicher Autosuggestionen
ebenfalls in einem besonderen Abschnitt besprechen wollen.
Die therapeutische Bedeutung der Willenshandlung ist inso-
fern von eminenter Bedeutung, als der Wille des Kranken jegliche
Therapie unterstützen kann und fast für jede Heilung nöthig ist.
Andererseits aber müssen wir gleichzeitig bemerken, dass die unmittel-
bare Heilwirkung des Willens eine verhältnissmässig geringe ist. Denn
da, von seltenen Ausnahmen abgesehen, der Wille des Kranken schon
26 Oskar Yogt.
von vorneherein die pathologischen Phänomene bekämpft, so beweist der
Umstand, dass trotzdem die Krankheit aufgetreten ist und weiter existirt,
ja zur Genüge die Unfähigkeit, durch die eigene Willenseuergie das
Leiden zu bekämpfen. Dabei handelt es sich entweder um eine allge-
meine Willensschwäche, wie sie yielen nervösen und körperlich ect-
kräfibeten Individuen eigen ist, oder um einen speciellen Mangel von
Energie gegenüber der Krankheit. In allen diesen Fällen wird die
einzelne Willenshandlung meist wenig vermögen. Die aUgemeine
Willensschwäche ist vor allem durch roborirende Mittel zu behandeln.
Eine specielle Willensschwäche bedarf wenigstens fast immer zum
Mindesten einer längeren speciellen Willensbethätigung, damit letztere
allmählich durch die Macht der Uebung wirksam werde. Aber diese
längere Willensgymnastik stösst nun ihrerseits vor Allem bei den soge-
nannten functionellen Nervenkranken auf meist unüberwindliche Schwie-
rigkeiten. Gewiss giebt es genügend energische Menschen, die z. B.
Stottern, Zwangsvorstellungen, Neigung zu Excessen etc. durch eigene
Energie unterdrückt haben. Meist jedoch bedarf es zum Mindesten
einer allgemeinen ärztlichen Leitung. Selbst eine relativ ein-
fache Therapie, wie die „Uebungstherapie" bei organischen Lähmungen
und Coordinationsstörungen, erfordert fast immer wenigstens eine solche.
Aber auch sie genügt nur relativ selten. Zumal bei den functionellen
Nervenkranken sind meist noch besondere psychotherapeutische Ein-
wirkungsformen zur Hebung solcher specieller Willensschwächen nöthig.
So muss z. B. der Trinker vor Versuchung bewahrt werden. So hat
man das Selbstvertrauen zahlreicher Kranker zu heben. Oder man
muss gefühlsstarke Vorstellungen mit der Willenszielvorstellung assocüren,
um der letzteren auf diese Weise eine genügende Erregbarkeit zu
geben, indem man z. B. an das Ehrgefühl, an die Nächstenliebe u. dgl.
appellirt, oder die traurigen Folgen des Nachgebens gegen Schwächen
u. dgl. schildert. In allen diesen Fällen handelt es sich aber um
psychotherapeutische Eingriffe, die wir in anderen Rubriken näher zu
behandeln haben.
Von Bedeutung wird eine specielle Willensbethätigung für die
Bekämpfung gewisser krankhafter Tendenzen. Hierher gehören z. B.
pathologisch starke Neigungen zum Wachträumen, zur ungezügelten Be-
thätigung der Phantasie, zu ängstlicher Selbstbeobachtung, hierher
krankhaft starke Triebe zu gewissen Excessen, hierher die schranken-
lose Hingabe an starke Affecte. Dann kommt hier die willkürliche
Unterdrückung von Zwangsvorstellungen, von Zwangshandeln, Angst-
Die möglichen Formen seelischer Einwirkung in ihrer ärztlichen Bedeutung. 27
anfallen u. dgl. in Betracht. Ferner sei der mögliclist geringen Beach-
tang Yon Schmerzen und — um noch eine verwandte Erscheinung zu
erwähnen — des Ignorirens ihrer Sinnestäuschungen gedacht, wie es
weniger schweren Hallucinanten gelegentlich gelingt. Endlich sind
Ueber?nndung von Schwächezuständen functionell nervöser Art primärer
oder secundärer Natur durch das Moment der üehung hier aufzuzählen.
Eine analoge Bedeutung hat die Willenshandlung für die Ver-
hinderung des Auftretens gewisser pathologischer Erscheinungen.
Ja, in dieser Bichtung leistet der Wille insofern ganz wesentlich mehr,
ab er durchaus im Stande ist, krankhafte oder zu Krankheit führende
Erscheinungen im Keime zu ersticken, während er ihnen nicht mehr
gewachsen ist, wenn sie bereits eine gewisse Stärke angenommen haben.
Damit nun aber der Wille eine derartige prophylactische Wirkung
ausüben kann, ist eine gewisse medicinische Aufklärung für das
Individuum nöthig. Erfolgt diese, dann kann der Mensch das Auf*
treten mancher Krankheitserscheinung durch eigene Kraft verhindern.
Hier sei nur an ein Beispiel, an die Gorrectur und Bekämpfung angst-
betonter Autosuggestionen durch den Kranken selbst erinnert. Es
glaubt z. B. ein Kranker, dass gewisse nervöse Anfälle, an denen er
leidet, jedes Mal durch einen Zugwind ausgelöst werden. Wo er nun
constatirt, von einem Zugwind getroffen zu sein, sagt er sich sofort:
„Nun, da werde ich morgen wieder meinen Anfall haben.^' Und siehe
da: seine Befürchtung erweist sich als begründet. In solchen Fällen
kann man derartigen Attaquen eventuell dadurch vorbeugen, dass man
den Kranken darüber unterrichtet, dass es nicht der Zugwind ist, der
seinen nervösen Anfall auslöst, sondern seine Furcht vor dem letzteren,
und dass er dessen Auftreten verhindern könnte, wenn er jene pathogene
Angst als eine an sich durchaus unbegründete energisch bekämpfte.
Besonders bei nervös veranlagten Menschen kann eine solche Auf-
klärung eine segensreiche Wirkung haben, eine Wirkung, die noch an
Bedeutung gewinnt, wenn es sich um die Erziehung neuropathischer
Kinder handelt.
ß. Das Fehlen von Willensäusserungen.
Von einem Fehlen von Willensäusserungen werden wir in dem
gegenwärtigen Zusammenhang nicht da sprechen, wo ihre Zahl und
Intensiiät unter dem Durchschnittsmaasse bleibt, sondern wo Willens-
äuBserangen ganz bestimmter Art in einem gegebenen Mo-
ment nicht auftreten. In den meisten Fällen wird sich dieses Nicht-
28 Oskar Vogt.
auftreten unter bestimmten Bedingungen wiederholen und wird dadurch
seine Folgewirkung dank dem Factor der NicbttLbung stärker hervor-
treten. Das fUr alle hierher gehörigen Fälle Oharacteristische bleibt
aber stets das Fehlen im einzelnen Fall.
Ein solches Fehlen stellt seinem Wesen entsprechend immer einen
Ausfall einer psychophysischen Leistung eines Individuums dar.
Vielfach ist es aber nicht dieser primäre Ausfall, der sich zunächst
unserer Beobachtung kundgiebt, sondern ein durch ihn bedingter
secundärer Reizzustand.
Dabei führt das Fehlen einer Willeushandlung bald nur zur
Steigerung eines Defectes, resp. secundären Erregungszustandes,
der aber an sich bereits gegeben ist. In anderen Fällen resultirt da-
gegen erst aus jenem Nichtauftreten einer Willensäusserung ein be-
stimmtes psychophysisches Phänomen.
Ein normalpsychologisches Beispiel für die erste Gruppe
haben wir in dem willkürlichen Sichabschliessen gegen Störungen. Es
ist gewiss, dass wir, wo irgend eio Beiz eine zu grosse Intensität er-
reicht, ihm unsere Aufmerksamkeit zuwenden müssen, so sehr wir uns
auch dagegen sträuben. Aber die Intensität des zur Ablenkung noth-
wendigen Beizes hängt davon ab, wie sehr wir in dem gegebenen
Moment mit unserem Willen eine solche Ablenkung bekämpfen. Fehlt
die Tendenz des Sichsträubens vollständig, so gelingt jene Ablenkung
sehr leicht: es resultirt aus dem Fehlen einer Willensäusserung die
Steigerung eines schon anderweitig gegebenen Erregungszustandes.
Eine Thatsache des normalen Seeleulebens, die wir auf das Fehlen
hemmender Willensvorgänge (sowie unwillkürlicher associativer Processe)
zurückzuführen habeu, haben wir in der grösseren Lebhaftigkeit unserer
Traumvorstellungen vor uns. Diese Lebhaftigkeit ist nicht mögUch
ohne ihre Paralleleischeinung, die Aufhebung der willkürlichen und
unwillkürlichen Kritik.
Pathologische Beizzustände, die durch das Unterbleiben von
Willenshandlungen gesteigert werden, haben wir z. B. in allen Fällen,
wo ein besonderes Nachgeben gegenüber einem Schmerze vorliegt.
Der tabische Krankheitsprocess ruft Schmerzen hervor, die niemand
einfach durch Ablenkung der Aufmerksamkeit unterdrücken kann.
Aber auch hier sehen wir, dass Willensschwäche den in den Schmerzen
zutage tretenden krankhaften cerebralen Beizzustand steigert
Ein Beispiel, wie durch das Fehlen von Willenshandlungen patho-
logische Beizzustände entstehen, giebt uns die Zwangsvorstellung.
Die möglichen Formen seelischer Einwirkung in ihrer ärztlichen Bedeutung. 29
Diese stellt eine leicht erregbare Bewusstseinserscheinang dar. Eine
solche leichte Erregbarkeit kann nun, rein theoretisch betrachtet, eine
zweifache Ursache haben. Entweder handelt es sich um eine primäre
Steigerang der Erregbarkeit; also um einen primären, etwa durch eine
ganz locale pathologische Veränderung im Gehirn bedingten Reiz-
znstand, oder aber die Contrastvorstellungen jener Zwangsidee sind
nicht hinreichend erregbar. Die letztere wird daher nicht in normaler
Weise gehemmt und zeigt deshalb secundär diese krankhafte Erreg-
barkeit. Die in normalen Fällen auftretende Henmiung ist dabei
theilweise eine unwillkürliche, rein associative. Wo dem ge-
sunden Menschen z. B. ein unsinniger Gedanke kommt, wird ihm gleich
darauf die Idee bewusst, dass die erste Vorstellung eine unsinnige ist
nnd damit schwindet die erstere. In anderen Fällen ist es aber nöthig,
dass wir unsere Aufinerksamkeit willkürlich auf andere Vor-
stellungen lenken, um so einen uns lästigen Gedanken aus dem Be-
wnsstsein zu verdrängen. Hierbei kann die active Aufmerksamkeit
sich den speciellen Contrastyorstellungen jener sich uns immerfort auf-
drangenden Idee zuwenden, indem wir z. B. uns klar machen, dass
jene Idee keine logische Berechtigung habe, oder dass die Stärke ihrer
Gefühlsbetonung eine durchaus unbegründete sei. Oder aber wir können
uns willkürlich auf ganz andere leicht erregbare Vorstellungen con-
centiiren, damit diese nunmehr alle psychophysische Energie absor-
biren und so jenen unangenehmen Gedanken seiner Bewusstseins-
beleuchtung berauben. Soweit nun eine Zwangsvorstellung dadurch
zn Stande kommt, dass irgend ein krankhafter Process ihr primär eine
pathologische Erregbarkeit verleiht, kommt eine genetische Zurück-
ftthmng auf fehlende willkürliche Hemmungen nicht in Betracht.
Dasselbe gilt für die Fälle, in denen Zwangsvorstellungen der Hemmung
der unwillkürlichen associativen Processe ihren Ursprung verdanken.
Nnr da, wo der Mangel der willkürlichen Hemmung Zwangsvor-
stellungen entstehen lässt, fallen diese in das von uns zu behandelnde
Capitel. Was nun die wirkliche Bedeutung der willkürlichen Hemmung
für das Zustandekommen der Zwangsvorstellungen anbelangt, so spricht
sehr vieles dafür, dass die Fälle, wo primäre Reizzustände von genetischer
Bedeutung sind, zum Mindesten zu den Seltenheiten gehören. Fast
immer resultiren die Zwangsvorstellungen aus der Hemmung anderer
Vorstellungen. Dabei stellt sich das Verhaltniss zwischen der willkür-
lichen und der unwillkürlichen associativen Hemmung derartig, dass
die letztere die Grundlage der ersteren bildet und daher überall die
30 Oskar Vogt.
erstere da gehemmt ist, wo die letztere in ihrer Function eingebüsst
hat. Wir glauben uns deshalb berechtigt, überall da auch dem Fehlen
der activen Hemmung einen pathogenen Einfluss zuzuschreiben, wo Zwangs-
YorstelluDgen secundäre fieizerscheinungen darstellen. Die nicht genügend
energische R^action des Willens gegen auftretende ZwangsvorstellungeD
ist eine der Ursachen für deren pathologisch leichte Erregbarkeit.
Therapeutisch kommt die Unterdrückung oder die Vermeidung
von Willenshandlungen hauptsächlich da in Betracht, wo gewisse
Willensintentionen deshalb dem Individuum schädlich werden, weil
diese doch nicht zu congruenten Willenshandlungen führen.
Auf eine hierher gehörige Gruppe haben wir schon bei Betrach-
tung der pathologischen Folgewirkungen der Willenshandlung hinge-
wiesen. Es handelt sich um die Fälle, wo eine Willensabsicht gerade
ein entgegengesetztes psychophysisches Geschehen veranlasst Der
Stotterer stottert vielfach gerade dann um so mehr, wenn er sich be-
sondere Mühe giebt, nicht zu stottern. In solchen Fällen muss der
ärztliche Bathschlag dahin gehen, einfach das „sich besondere Mühe
geben" zu vermeiden.
Die andere Gruppe ist die, wo der Kranke zur Zeit eine psychisch
oder körperlich bedingte Unfähigkeit der Ausführung gewisser Willens-
handlungen zeigt und die Constatirung dieser Schwäche nur noch
mehr sein Selbstvertrauen vermindert. Da haben wir z. B. einen
Kranken, der an wesentlich psychisch bedingter motorischer Schwäche
und Herzklopfen bei körperlichen Bewegungen leidet. Ihm wird der
ärztliche Rathschlag gegeben, eine sog. Terrainkur zu machen, indem er
mit einer Viertelstunde beginnen und täglich 6 Minuten zulegen soll. Der
Patient erklärt von vornherein, dass er zu einer solchen Kur unfähig
sei. Aber er entschliesst sich, dem ärztlichen Bathe zu folgen, trotz
seiner Zweifel am Gelingen. Den ersten Tag gelingt es ihm noch, der
ärztlichen Verordnung nachzukonmien. Auch am zweiten Tage führt
er den Bath aus, aber bereits unter starkem Schweissausbrucb und
heftigem Herzklopfen. Darauf folgt eine schlaflose Nacht. Am
folgenden Tage nimmt der Patient alle Kraft zusammen, um die
26 Minuten zu marschiren. Aber siehe da, nach 16 Minuten bricht er
einfach zusammen. Er muss nach Hause getragen werden. Er klagt
in der Folgezeit über eine weit grössere Zahl nervöser Beschwerden
und ist zunächst überhaupt nicht mehr aus dem Bette zu bekonmien.
Die prophylactische Bedeutung des Vermeidens von Wülens-
handlungen gleicht im Wesentlichen der therapeutischen.
Die möglichen Formen seeliflcher Einwirkung in ihrer ärztlichen Bedeutung. 31
b. In der Form tlner SuggotHomericlitlmMg.
In diesem Abschnitt befinden wir uns in der eigenthümlichen
Lage, die medicinische Bedentnng der hier zu betrachtenden seelischen
EinwirkuDgsform im Gegensatz zu anderen Autoren einzuschränken.
Ich fühle mich nicht nur veranlasst, den Begriff der Suggestions-
erscheinung enger zu fassen als es manche andere Autoren gethan
haben. Auch in der ärztlichen Werthschätzung der Suggestions-
erscheinungen in diesem engeren Sinne weiche ich von anderen Fach-
genossen ab.
Indem ich bezüglich Einzelheiten auf andere Arbeiten ^) verweise,
will ich hier nur kurz die von mir gegebene Definition der Suggestions-
erscheinung resümiren. Wie wir schon oben gesehen haben, müssen
wir zwischen der au slösendensuggerirenden Zielvorstellung
oder S.uggestion und der ausgelösten suggerirten Folge-
wirkung oder Suggestionserscheinung unterscheiden. Von
der Buggerirenden Zielvorstellung haben wir bereits oben die Cha*
racteristika angegeben. Die suggerirte Folgewirkung ist nun nicht
nur dadurch characterisirt, dass sie ohne das Gefühl der Thätigkeit
des Ichs in Erscheinung tritt, sondern von Folgewirkungen solcher
Suggestionen, die keine suggestive Kraft haben, dadurch verschieden,
dass sie von einer abnormen, das gewöhnliche Maass überschreitenden
Intensität ist. Suggestionserscheinungen stellen keine pathologischen,
aber abnorme psycho-physische Wirkungen dar.
Schon in „meinem physiologischen Erklärungsversuch der Sug-
gestion" habe ich meine Anschauungen über das Zustandekommen
dieser abnormen Intensität der Suggestionserscheinungen geäussert
Meiner Ansicht nach ist dieselbe nicht auf eine abnorme Vermehrung
der Gesammtsumme der psychophysischen Energie zurückzufuhren,
sondern auf eine anderweitige Yertheilung derselben. Diese halte ich
für derartig, dass die normaler Weise die Folgewirkung einer Sug-
gestion hemmenden Contrastvorstellungen weniger stark erregt werden
und so die psychophysische Energie in reichlicherem Maasse jener
Folgewirkung verbleibt und dadurch deren Intensität zu der für Sug-
gestionserscheinungen characteristischen Stärke steigert. Nimmt nun
aber die Suggestionserscheinung in der Weise an Intensität zu, dass
*) Vgl. 0. Vogt, Die directe psychologische Experimentabnethode in hypno-
tischen Bewusstseinszuständen. Diese Zeitschr., Bd. V, und 0. Vogt, Die Ziel-
Torstellung der Saggestion. Diese Zeitschr., Bd. V.
32 Oskar Vogt.
normaler Weise dnrch die Suggestion angeregte Contrastyorstellimgen
weniger stark erregt werden, so unterscheidet sich eine Suggestious-
erscheinung von der gesammten normalen Folgewirkung einer Suggestion
nicht nur in ihrer Intensität, sondern auch in ihrer Qualität. Darin
stimme ich also Yon jeher vollständig mit Lipps überein. Wenn
ich dieser meiner Ansicht über den qualitativen Unterschied
zwischen der gewöhnlichen und der suggerirten Folgewirkung eioer
entsprechenden Zielvorstellung in meiner Definition der Suggestions-
erscheinung keinen Ausdruck gebe, so habe ich — wie ich Lipps
und V. Schrenck-Notzing gegenüber betonen muss — es nicht
gethan, weil ich bestrebt war, eine Definition zu schaffen, die rein
empirische Merkmale enthielt und auch von Autoren adoptirt werden
konnte, die nicht meine theoretischen Anschauungen theilen.
Nach dieser meiner Definition entbehrt die Suggestion jeder
stärkeren Gefühlsbetonung« Ich möchte aber gleich hinzufügen,
dass ein grosser Theil der realen Suggestionen, die durch ihre Folge-
wirkung eine medicinische Bedeutung gewinnen, eine starke Gefühls-
betonung zeigen. Heilsuggestionen sind von dem Affect der Hoffiiung
und des Wunsches, Ziel Vorstellungen betreffend den Eintritt eines
Krankheitsphänomens von dem Gefühl der Furcht begleitet. Derartige
starke Gefühle engen nun ihrerseits die psychophysische Energie auf
ihr intellectuelles Substrat ein. Sie unterstützen so die suggerirende
Kraft der Suggestionen. Es ist aber Sache des dritten Theils unserer
Uebersicht, diese Steigerung suggerirter Folgewirkungen durch Gefühle
näher zu würdigen.
Die Suggestionserscheinungen möchte ich nun weiterhin in zwei
Gruppen eintheilen: in diejenigen, deren Zielvorstellnngen ohne aus-
gesprochenes Zuthun des bewussten Ichs entstehen und diejenigen,
deren Zielvorstellungen durch die Activität des Ichs geschaffen
werden.
a. Infolge einer wesentlich unwillkürlich entstandenen
Suggestion.
unter den wesentlich unwillkürlich entstehenden suggesti?
wirkenden Zielvorstellungen können wir wiederum zwei Gruppen unter-
scheiden: die unmittelbar von aussen angeregten Fremdsng-
gestionen und die ohne solche Anregung in uns entstehenden Auto-
suggestionen.
Die möglichen Formen seelif eher Einwirkung in ihrer ärztlichen Bedentung. 38
«
aa. Die unmittelbar von aussen angeregt wurde.
aaa. Das Vorhandensein solcher Fremdsuggestionen.
Fremdsuggestionen können auf zweierlei Weise emen krank-
machenden Einfiuss auf den Menschen ausüben: direct und in-
direct.
1. Um eine directe pathogene Wirkung handelt es sich in den
Fällen, wo die Fremdsuggestion das Auftreten eines pathologischen
Phänomens zum Inhalt hat. Vor allem kommen hier solche dem
Milieu entstammende Suggestionen in Betracht, die auf falschen ärzt-
lichen Anschauungen, Aberglauben und dgl. basiren. Dank dieser
Basis werden solche Fremdsuggestionen als wahr angenommen. Man
bringt ihnen keinen Zweifel entgegen. Darauf beruht aber dann
andererseits ihre grosse Gefährlichkeit, ihre starke suggerirende Ejraft.
Die Angehörigen einer nervösen Dame, die ich in meinem anatomischen
Laboratorium arbeiten lasse, suggeriren dieser Kopfschmerz, indem sie
dessen baldiges Eintreten als eine nothwendige Folge der „schlechten^
Luft des Laboratoriums hinstellen. Oder aber eine ärztliche Autorität
erklärt einen Psychopathen für erschöpft und der absoluten Buhe be-
dürftig. Li Wirklichkeit leidet dieser Kranke nur an rein psychisch
bedingten Müdigkeitsempfindungen. Letztere erhielten aber durch jene
Erklärung der Autorität eine neue suggestive Befestigung.
2. Lidirect wirken Fremdsuggestionen dann pathogen, wenn sie
ihrem eigentlichen Lohalt nach nur eine durchaus gute Folgewirkung
hätten haben können, aber durch nicht beabsichtigte Anregung krank-
machender Vorstellungen mittelbar pathologische Erscheinungen ver-
anlassen. Eine solche Anregung kann entweder in der Form einer
nicht von dem Urheber der Fremdsuggestion gewollten Assimi-
lation (d.h. Verarbeitung durch den Suggerirten) oder auf asso-
ciativem Wege zustande kommen. Soweit Associationen dabei be-
theiligt sind, gehören die FäUe in die vierte Gruppe. Im' Uebrigen
habe ich aber in anderem Zusammenhang so eingehend die Mechanismen
geschildert, durch welche Fremdsuggestionen indirect eine pathogene
Bedeutung gewinnen können, dass ich darauf verweisen möchte. ^)
Bezüglich der therapeutischen Erfolge der Fremdsuggestionen
müssen wir zunächst eine unmittelbare und mittelbare
Wirkungsweise unterscheiden. Die erstere liegt überall davor,
^) VgL 0. Vogt, Spontane SomnambuUe in der Hypnose. Diese Zeitschr.,
Bd- VL
Zeitsebrift für HypnoUsmiu etc. X. 3
34 Oskar Vogt.
WO die Wirkung die directe Folge der Suggestion daxstellt. In manchen
Fällen liegt die Sache aber complicirter. Eine Autosuggestion schafft
und unterhält ein krankhaftes Phänomen. Die Fremdsuggestion be-
seitigt zunächst nun die Autosuggestion und damit erst die pathologische
Folgewirkung jener Autosuggestion. So hat z. B. ein Kranker einen
Kopfschmerz, weil er dessen Auftreten furchtet. Eine erfolgreiche
Heilsuggestion wirkt dann nicht in der Weise, dass sie direct eioen
psychophysischen Process veranlasst, dem das Schwinden des Kopf-
schmerzes entspricht, sondern die Heilsuggestion beruhigt einfach den
Kranken, sie nimmt ihm die Furcht yor dem Kopfschmerz und damit
dessen Ursache. Diese indirecte Wirkungsweise mancher Heilsug-
gestionen scheint mir bisher nicht hinreichend gewürdigt zu sein.
Wie man nicht überall da an eine directe Wirkungsweise der
Suggestion glauben muss, wo man nach einer gegebenen Suggestion
das Schvdnden eines krankhaften Symptoms beobachtet, ebenso wenig
hat andererseits die Fremdsuggestion stets zur Voraussetzung, dass sie
Ton ihrem Urheber gewollt war. Es giebt unbeabsichtigte Fremd-
Buggestionen. Ja die Geschichte der Medidn weist neben wenigen klar
erstrebten Heilsuggestionen eine ungeheure Menge unbeab-
sichtigter und in ihrem Wesen unerkannter Suggestiywirkungen auf.
Weiterhin müssen wir dann noch eine directe und indirecte
Heilwirkung der Fremdsuggestionen unterscheiden. Wenn wir
einen Schwächezustand durch einen hypnotischen Schlaf bekämpfen,
so stellt in diesem Falle der hypnotische Schlaf ein unmittelbares
Heilverfahren dar. Wenn ich mich dagegen des hypnotischen Schlafes
bediene, um die Beeinflussbarkeit eines Kranken zu steigern, oder die
Möglichkeit einer Psychoanalyse zu erweitern, so unterstützt die Hyp-
nose auf indirectem Wege den therapeutischen Erfolg.
Eine prophylactische Bedeutung gewinnt die Fremdsuggestion in
den Fällen, wo es der abnorm intensiven Folgewirkung der Versicherung
des Nichteintretens eines Ejrankheitsphänomens zu danken ist, dass
sich dieses wirklich nicht einstellt.
aaß. Das Fehlen solcher Fremdsuggestionen.
Es gibt eine Reihe von Psychopathen, bei denen immer wieder
Befürchtungen des Eintretens oder Wiedereintretens krankhafter Er-
scheinungen auftreten und von unheilvollem Einfluss werden. Einige
dieser Kranken sind sicherlich nach längerer Zeit ganz heilbar. Aber
sie bedürfen bis dahin, wie andere ihr ganzes Leben hindurch, ab und
Die möglichen Formen aeeliflcher Einwirkung in ihrer ärztlichen Bedeutung. 35
za wieder einer ausdrücklichen Suggestionirang in dem Sinne, dass die
gefürchteten Erscheinungen sich nicht zeigen werden. Unterbleibt diese,
dann werden jene Menschen wieder krank. Hier gewinnt also das
Pehlen yon Fremdsuggestionen eine pathogenetische Bedeutung.
Von therapeutischer und prophylactischer Bedeutung
ist das Fehlen yon Fremdsuggestionen in allen den Fällen, wo diese
pathologische Phänomene produciren oder unterhalten. Dieses Moment
indicirt die Entfernung mancher Kranke aus einem Milieu, das aus
Dnkenntniss, Yorurtheil oder Aberglauben auf dieselben einen ungüns-
tigen suggestiven Einfluss ausübt. Hierher können wir femer die
Contraindication fiir eine Suggestivtherapie rechnen, die dadurch schäd-
lich wirkt, dass der Kranke die gegebenen Heilsuggestionen falsch yer-
arbeitet oder assimilirt, während die Contraindicationen, die aus schäd-
lichen, an die Fremdsuggestion sich anschliessenden Associationen resul-
tiren, in die 4. grosse Gruppe gehören.
aß. Die in der Form einer Autosuggestion auftrat.
Wenn schon unsere ganze Gruppirung Grenzlinien zieht, wo in
Wirklichkeit zahlreiche üebergänge Torhanden sind, so gilt dieses
doch ganz besonders für die Gegenüberstellung von Fremd- und Auto-
suggestion. Speciell die unbeabsichtigten Fremdsuggestionen zeigen
Ilebergangsformen, in denen das Moment der unmittelbaren äusseren
Anregung immer mehr an Bedeutung verliert und so die auftretende
Suggestion mehr und mehr den Character einer Autosuggestion an-
Dimmt.
ouxa. Das Vorhandensein solcher Autosuggestionen.
Die pathogenetische Bedeutung von Autosuggestionen ist eine
sehr grosse. Meist gepaart mit dem Affect der Furcht sind sie die
Ursache zahlreicher krankhafter Phänomene. Ich habe diesen Punkt
wiederholt eingehend erörtert und er ist yon so vielen anderen Seiten —
freilich öfter in übertriebener Weise — gewürdigt worden, dass ich
hier nicht näher darauf einzugehen brauche.
Therapeutisch und prophylactisch sind Autosuggestionen
auch von weit grösserer Bedeutung als die meisten Aerzte sich klar
machen. Es sei speciell darauf hingewiesen, dass eine anderweitige
Möglichkeit für die theoretische Erklärung eines Heilverfahrens noch
durchaus nicht berechtigt, nun die Wirkung von Autosuggestionen aus-
zuBchliessen. Die Bolle der Autosuggestion kann als die eines psychi-
schen Phänomens in dem überhaupt erkennbaren Umfang ausschliesslich
3^
36 Oskar Vogt.
durch psychologische Methoden und da speciell durch die directe psf-
chologische Erkenntnissquelle der Selbstbeobachtung aufgedeckt werden.
Wir müssen unsere Kranken darüber ausfragen, was in ihnen während
und nach der Behandlung vorgeht. Thun wir das, haben wir zur
Selbstbeobachtung geeignete Patienten und wenden wir dabei gar das
eingeengte Bewusstsein an, dann werden wir eine grosse Zahl ho&nngs-
Toller Autosuggestionen constatiren, die unsere Patienten an unsere
ärztlichen Maassnahmen knüpfen.
aaß. Das Fehlen solcher Autosuggestionen.
Ohne die einzige Ursache für den Eintritt des Schlafes in einer
entsprechenden Autosuggestion sehen zu wollen, sind wir doch daron
fest überzeugt, dass Autosuggestionen beim Zustandekommen des
Schlafes eine grosse Bolle spielen. Ebenso dürften in den Fällen, wo
gewisse Functionen an ganz bestimmte Zeiten geknüpft sind, wo z. B.
der Stuhldrang sich zu einer bestimmten Tagesstunde bemerkbar macht
oder die Periode ganz genau zu einer bestimmten Stunde auftritt,
Autosuggestionen eine gewisse Bolle spielen. Werden nun derartige
Autosuggestionen in ihrem Auftreten resp. deren Folgewirkung in ihrer
Intensität behindert, dann resultiren daraus krankhafte Störungen
der betreffenden Functionen.
Hierher ist femer zurechnen: die therapeutische Beseitigung
und prophylactische Yerhütung pathogen wirkender Autosug-
gestionen. Die dafür in Betracht kommenden Maassnahmen sind in
anderem Zusammenhang zu erörtern. Willkürliche Unterdrückung
solcher Autosuggestionen, Hervorrufung sie hemmender Contrastsug-
gestionen, ihre logische Correctur, Aenderung der ihnen günstigen
Stimmung, anderweitige YÖllige Absorbirung der Aufmerksamkeit durch
Zerstreuung oder Beschäftigung: das alles sind Wege, die zu diesem
Ziele führen können.
ß. In Folge einer, willkürlich geschaffenen Auto-
Suggestion.
Ebenso sehr wie das Zustandekommen pathogen wirkender WiUens-
handlungen hat die Entstehung krankhafter Erscheinimgeii durch
willkürlich geschaffene Autosuggestionen eine Perversion der WiUens-
bethätigung zur Voraussetzung. Verletzte Eitelkeit, Nichtanerkennung
des Leidens von der Umgebung, Erregung von Mitleid, das Erstreben
einer milden Benrtheilung gewisser Handlungen, die Aussicht auf 5ko-
Die möglichen Formen seeÜBcher Einwirkung in ihrer ärztlichen Bedeutung. 37
Domische Vortefle: das sind die gelegentlichen Ursachen einer der-
artigen pathogenen Willensrichtong.
Bezüglich der therapeutischen und prophylactischen
Anwendung willkürlicher Autosuggestionen kann man zwei Wege
einschlagen. ^
Der eine, der gelegentlich von einer Beihe von Aerzten schon ein-
geschlagen ist, ist von Lövy^), einem Schüler Bernheim's, zu einem
System erhoben. Der Weg ist der, dass der £[ranke sich von vorn-
herein willkürlich Heil- oder auch prophylactische Suggestionen giebt,
eTcntuell auch in einem willkürlich geschaffenen hypnotischen Zustand.
Die andere Form, die ich seit Jahren in geeigneten Fällen an-
wende, ist die, dass ich zunächst durch Fremdsuggestionen
gewisse Bahnungen, man könnte sagen eine Vorübung, schaffe, um so
die Leistungsfähigkeit der willkürlich geschaffenen Autosuggestionen zu
steigern. Es ist ganz sicher, dass man gewöhnlich durch Fremdsug-
gestionen zunächst mehr erreicht, d. h. wirksamere Heilsuggestionen
und tiefere Hypnosen, als durch willkürliche Autosuggestionen. Aber
die letzteren vermögen allmählich das zu reproduciren, was die Fremd-
suggestion zu schaffen im Stande war. Es bedarf nur einer syste-
matischen Einübung. Findet diese statt, dann kann der Exanke sich
des therapeutischen und prophylactischen Nutzens einer Suggestiv-
therapie auch dann noch erfreuen, wenn äussere Umstände die Fort-
setzung der Fremdsuggestion unmöglich machen.
2. Hit einer ihm nicht congruenten Folgewirkung.
Jede intellectuelle Erscheinung hat dank ihres Inhaltes die Eigen-
thümlichkeit, auf ganz bestimmte intellectuelle Erscheinungen hemmend
oder bahnend zu wirken.
a. Die eine Hemmung darsteltt.
Eine Hemmung ist dabei soweit möglich, als Bewusstseinserschei-
nungen zu den wirksamen intellectuellen Phänomenen in dem Verhältnis
sogenannter Contrastvorstellungen stehen.
«
a. Das Vorhandensein hemmender intellectueller Er-^
scheinungen.
An der Ausführung unpassender Handlungen hindert uns die Vor-^
Stellung ihrer Unschicklichkeit, an dem Fürwahrhalten erdichteter Erzäh-
^) Levy, Tedacation de la volontö. Paris 1899.
38 Oskar Vogt.
lungen die VorstelluDg von der ÜDmöglichkeit eines derartigen Qe-
schehens. Das sind Beispiele aus dem normalen psychischen Leben,
wo Vorstellungen durch Contrastvorstellungen gehemmt werden.
Ein pathologisches Beispiel ist folgende Beobachtung. Ich
beobachte eines Tages bei einer Hysterischen eine Amnesie für eine
Serie von früheren Erlebnissen. Im normalen Wachsein kann die Patientin
gar keine nähere Auskunft über diese Amnesie geben. Im suggestiv
eingeengten Wachsein äussert sie sich dann dahin, dass in diesem Fall
die Amnesie zunächst nicht auf einer ünerregbarkeit der betreffenden
Erinnerungsbilder beruht, sondern sie fühlt sich bereits darin gehemmt,
überhaupt darüber nachdenken zu wollen. An dieser Willenshem-
mung nehmen Vorstellungen Theil, die ihr im Wachsein vollständig
nnbewusst waren. Die eine war die von der Zwecklosigkeit des Nach-
denkens, da ein Sicherinnem doch unmöglich sei. Dieser Gedanke
entsprang aber nur dem lebhaften Wunsch, dass es so sein möge. Der
Wunsch aber basirte auf der Furcht vor einer der Kranken sehr unan-
genehmen Folgewirkung, die sie dann zu erwarten hatte, wenn ihr die
Erinnerung an jene Serie Yon Erlebnissen bei starkem Nachdenken
käme. Hier haben wir also eine hysterische Abonlie als Resultat der
Hemmung durch ihren Inhalt wirkender intellectueller Erscheinungen.
Ein krankhaftes Ueberwiegen solcher Contrastvorstellungen liegt
femer nmnchen Erscheinungen der Zweifelsucht zu Grunde. Gregen-
über den eigenen Wahrnehmungen, gegenüber der Versicherung für
den normalen Menschen durchaus glaubwürdiger Dritter tauchen hier
noch beständig den armen Kranken quälende Zweifel auf.
Hierher gehört auch die pathologisch geringe Suggestibilität mancher
Kranken für Heilsuggestionen, während dieselben Menschen für indiffe-
rente Suggestionen eine grosse Empfänglichkeit zeigen. Hier wird das
therapeutische Erfolge hemmende Moment einzig und allein durch die
angstbetonte Idee gebildet, dass die Heilsuggestion sich nicht realisiren
möchte.
Therapeutisch — und in analoger Weise prophylactisch
•^ kommt eine Hemmung durch ganz bestimmte Vorstellungen überall
da in Betracht, wo auf diese Weise krankhafte oder das Bewusstseins-
leben pathologisch stark beeinflussende Vorstellungen auf diese Weise
zerstört werden können. Man muss in diesen Fällen ihre ContrastTor-
Stellungen hervorrufen.
So hat man das unberechtigte, das Unhaltbare krankhafter Ideen
nachzuweisen. Ich habe z. B. erlebt, dass ein Psychopath auf der
Die mogliehen Formen seelischer Einwirkung in ihrer arztlichen Bedeutung. 39
Basis TOD Wachträumereien sich ein ganzes Wahnsystem zurecht ge-
macht hatte, dem zu Folge seine Frau und seine Kinder gestorben
wären und er Schuld an deren Tod sein soUte. Durch einen Besuch
seiner Frau wurde er von seinem ganzen Wahnsystem geheilt. Der
Anblick der lebenden Frau wirkte unmittelbar hemmend auf die Wahn-
Torstellnngen ein. Er führte zu deren logischen Correctur. Noch ein
anderes Beispiel! Einer meiner Patienten hat die folie du toucher in
der Form, dass er beständig eine Beschmutzung seiner Kleider mit
syphilitischem und gonorhöischem Gifte fürchtet Hier ergiebt die
Unterhaltung, dass der Ej*anke an eine Jahre lange lufttrockene Fort-
ezistenz dieser Gifke glaubt. Eine Auseinandersetzung nach der Rich-
tung, dass eine derartige Fortexistenz vom wissenschaftlichen Stand-
punkt aus eine Unmöglichkeit sei, hatte einen nachhaltigen beruhigenden
Einfluss auf den Kranken. Es ist ihm eben das Unhaltbare seines
Ideenganges nachgewiesen.
Eüne andere hierher gehörige therapeutische Maassnahme ist die
Schaffimg yon Hemmungsvorstellungen bei solchen Individuen, die im
Allgemeinen zu impulsiven Handlungen oder speciell zu dieser oder
jener antisocialen oder fQr sie selbst schädlichen Willensäusserung neigen.
Es ist hier schliesslich mancher jener Wege einzureihen, die unser
einer einschlagen muss, um das für den Heilerfolg so wichtige Ver-
trauen imser^ Kranken zu gewinnen. Es sieht ja der Nervenarzt so
manchen durch eine systematische Psychotherapie entschieden besse-
rangsfähigen Kranken, der auf Grund ärztlicher Misserfolge das Ver-
trauen zu unserem Stande und die Hoffnung auf seine Heilung verloren
hat Hier kann man nun diesen Mangel an Vertrauen durch Erregung
geeigneter Contrastvorstellungen beseitigen. Die Demonstrirung ähn-
licher Kranker, die auf dem Wege der Besserung sind, die Erklärung,
dass sich der Kranke jetzt unter gtinstigeren äusseren Bedingungen
befinde und daher mehr Vertrauen zu einer ärztlichen Behandlung
haben könne, die Motivirung der ärztlichen Eingriffe und ähnliche
Formen psychischer Einwirkung kennzeichnen diesen Weg. Wer vollends
bei geeigneten Fällen die hypnotische Behandlung anwenden will, der
bedarf oft einer langen psychischen Vorbereitung des Kranken, in der
er eine grosse Zahl falscher Vorstellungen über das Wesen der hypno-
tischen Behandlung zu corrigiren hat.
40 Oskar Vogt.
ß. Das Fehlen hemmender intellectueller Erschei-
nungen.
Das Fehlen solcher hemmender intellectueller Erscheinungen kann
eine dreifache Ursache haben. Entweder existiren die fraglichen
intellectuellen Erscheinungen überhaupt nicht. Es handelt sich um
einen Defect. Oder aber sie zeigen eine constitutionelle Ver-
minderung ihrer Erregbarkeit. Oder aber endlich sie sind im
fraglichen Moment in ihrer Wirkung gehemmt.
Gin Beispiel normaler Natur für die Wirkung des wirklichen
Fehlens hemmender Vorstellungen ist die Anerkennung, welche die
durch und durch haltlose Associationscentrenlehre Flechsig's bei
solchen Männern gefunden hat, die den Faserbau des menschlichen
Gehirns nicht genügend aus eigener Anschauung kannten. Ein wirk-
licher Kenner wurde durch sein thatsächliches Wissen daran gehindert.
Das Fehlen solcher Hemmungen hängt vom Grade der Intelligenz
imd dem der Bildung ab.
Aus dem Grade der constitutionellen Erregbarkeit der
ContrastvorstelluDgen resultirt nach unserer Auffassung der Grad Ton
Suggestibilität, der dem Individuum eigenthümlich ist.
Es ist die momentane Hemmung der Gegenvorstellungen
endlich, auf die das impulsive Handeln des zornig Erregten zurück-
zuführen ist. Dieser lässt sich im Augenblick des Affectes zu Aeusse-
rungen und Thaten hinreissen, ohne dass ihn im Moment irgend welche
andere Vorstellungen daran hindern. Neben Affecten können noch
Traumzustände und Zustände gewöhnlicher Erschöpfung zu normalen
zeitweisen Hemmungen führen.
Zu krankhaften Folgewirkungen führt das Fehlen hemmender
intellectueller Erscheinungen auf zweifache Weise. Einmal kann
der Grad dieses Fehlens selbst ein pathologischer sein und
so die Ursache pathologischer Erscheinungen werden. Auch hier lassen
sich die soeben geschilderten drei Gruppen von Ursachen fiir das
Fehlen derartiger Hemmungen unterscheiden.
Die erste Gruppe wird vom Schwachsinn gebildet, der in issa an-
geborenen Fällen bei gleichem Grade zu um so grösseren Ausfallen von
Hemmungen führt, je mehr die Erziehung zu wünschen übrig lässt.
Die Suggestibilität kann einen krankhaften Grad annehmen.
Diesen finden wir z. B. bei den pathologischen Schwindlern. Ich habe
eine ganze Reihe dieser genauer untersuchen können und die krank-
haft gesteigerte Suggestibilität stets nachweisen können. Die krank-
Die mögliclien Formen seelischer Einwirkung in ihrer ärztlichen Bedeutung. 41
haft gesteigerte Suggestibilität i8t ein besonderes Stigma der erblichen
Degeneration, das sich mit Disposition zu hysterischen Phänomenen
assooiiren, aber durchaus isolirt auftreten kann. Dagegen hat die
„krankhafte Autosuggestibilität" der Hysterischen nichts mit Sug-
gestibilität zu thun, sondern ist auf eine leichte Diassocürbarkeit durch
Grefuhle zurückzuführen.
Zu momentanen Hemmungen führen an pathologischen Zuständen :
krankhafte Affectzustände, Delirien, Anämie, pathologische Er-
schöpfung und Intoxicationen.
In der zweiten Reihe von Fällen führt ein an sich noch nicht
pathologischer Grad des Fehlens hemmender intellectueller Er«
scheinungen deshalb zu krankhaften Phänomenen, weil hierzu eine
anderweitig begründete Disposition vorliegt.
Die pathologischen Aeusserungen aller dieser verschiedenen Formen
intellectueller Hemmung sind von der Art der oben erwähnten normal-
psychologischen Beispiele. Entweder handelt es sich um eine krank-
hafte Steigerung des Affectlebens (impulsives Handeln, labile Stimmung)
oder um das Auftreten absurder Ideen (Wahnideen, Zwangsvor-
stellungen). Ich erinnere an die impulsiven Handlungen der Schwach-
sinnigen, an die Kritiklosigkeit des Deliranten gegenüber seinen Hallu«»
cinationen, an das Auftreten von Zwangsvorstellungen in Zuständen
der Erschöpfung oder Intoxication. Mangel einer hinreichenden medi-
cinischen und naturwissenschaftlichen Bildung ist die Vorbedingung
für das Auftreten dieser oder jener speciellen Phobie bei dazu im
allgemeinen Disponirten. Dann sei noch auf die Entstehung mancher
Zwangsvorstellungen und ihrer Becidive in Träumen hingewiesen.
Selbstverständlich hat aber auch diese Genese eine besondere Dis-
position bei den Kranken zur Voraussetzung.
An therapeutischen und prophylactischen Maassnahmen
sind diejenigen hierher zu rechnen, die den £]influss schädlich wirkender
Contrastvorstellungen zu vermindern bezwecken. Man kann unter ihnen
zwei Formen unterscheiden. Die eine umfasst alle die Methoden,
die den Contrastvorstellungen keine Zeit zur Bethätigung ihres
hemmenden Einflusses gewähren. Für die andere ist die Thatsache
characteristisch, dass man jenen Contrastvorstellungen keine psycho-
physische Energie zukommen lässt.
Zu der ersten Gruppe gehören z. B. die Fälle, wo der Arzt ge-
meinsam mit dem unentschlossenen und zweifelsüchtigen Psychopathen
oder gar für ihn eine Entscheidung trifft und nun den Kranken gleich
42 Oskar Vogt.
za der entsprechenden Handlung yeranlasst. Die rasche Entscheidang,
das schnelle Handeln lässt die Gegenvorstellungen nicht erst ihren
hemmenden Einfluss ausüben. Hier ist femer die Suggestionirung
durch üeberrumpelung oder — wie P. Janet sie genannt hat — durch
Zerstreuung zu erwähnen. Ein Kranker, der in Folge entgegenstehender
Vorstellungen schwer suggestiv zu beeinflussen ist, wird in ein be-
liebiges Gespräch verwickelt, und dann sucht man plötzlich, in einem
Moment, wo der Exanke darauf garnicht gefasst ist, auf ihn durch
eine brüsque Suggestion einzuwirken.
Den Zufluss psychophysischer Energie zu den Contrastvorstellungen
kann man entweder durch allgemeine Verminderung der asso-
ciativen Vorgänge oder durch anderweitige Absorption
der psychophysischen Energie zu verhindern suchen. Der
erste Weg wird am häufigsten in derjenigen therapeutischen Verwen-
dung hypnotischer Zustände eingeschlagen, bei welcher letztere zur
Steigerung der psychischen Beeinflussbarkeit oder der Concentration
der Aufmerksamkeit dient. Man kann zum gleichen Zweck den natür-
lichen Schlaf, mit v. Schrenck-Notzing der Haschischrauscb, mit
Magnan das Einschlafen unter Hyoscinwirkung u. s. w. verwenden.
Ein Beispiel der anderen Form ist das Verfahren, Kranke, welche sich
unberechtigter Weise zu irgend einer Handlung unfähig glauben, diese
möglichst automatisch ausführen zu lassen, während man ihre Auf-
merksamkeit auf etwas ganz anderes lenkt
b. Die eine Bahnung reprSsentIrt
a. Das Vorhandensein bahnender intellectueller
Erscheinungen.
Die meisten intellectuellen Erscheinungen, die einen nachweisbaren
bahnenden Einfluss haben, gelangen dadurch dazu, dass sich ein Mo-
ment hinzugesellt, welches in einer anderen Gruppe betrachtet werden
muss. Bald ist es das wiederholte Auftreten dieser Erscheinung oder
ihre Intensität, bald ist es ihre Grefühlsstärke, bald handelt es sich um
sich anschliessende Associationen. Ohne derartige Momente werden
intellectuelle Erscheinungen nur dann bahnend wirken, wenn eine grosse
Tendenz zu dieser Bahnung aus anderen Gründen gegeben ist
Ein solches Beispiel normaler Art ist folgende Thatsache.
Wenn der Forscher auf Grund einer Reihe von Beobachtungen zur
Aufstellung einer allgemeiner giltigen Gesetzmässigkeit geneigt ist, so
kann er in dieser Tendenz ganz wesentlich durch eine einzige neue
Die möglichen Formen Beeliacher Einwirkung in ihrer ärztlichen Bedeutung. 43
Beobachtung bestärkt werden, falls diese z. B. einer aus der hypo-
thetischen Gesetzmässigkeit (Induction) hergeleiteten Vermuthung (De-
dnction) entspricht. Hier hat eine qualitativ ganz genau determinirte
intellectuelle Erscheinung ohne andere unterstützende Factoren auf
einen bestimmten Ideengang einen starken bahnenden Einfluss gehabt:
und zwar deswegen, weil eine leichte Erregbarkeit gerade dieses Vor-
stellungscomplexes vorlag.
Eine solche Bestärkung kann nun auch krankhaften Ideen-
gangen zu Theil werden. Eine richterliche Nachlässigkeit verstärkt
das krankhafte System des Quärulanten. Eine tactiose Bemerkung
giebt dem Argwohn eines misstrauischen Menschen neue Nahrung.
Ja, sind solche Ideenreihen sehr vorherrschend in dem Bewusstsein
eines Kranken, so wirken schliesslich dank irgend einer associativen
Verwandtschaft durchaus harmlose Vorgänge erregend auf derartige
Vorstellungssysteme und dienen zu ihrer Stütze.
Hierher gehört ferner der pathogene Einfluss, den Krankheits-
erscheinungen anderer Personen ausüben. Ich erinnere an die psychischen
Epidemien. Ich erinnere an hysterische Anfalle von Kindern, die denen
ihrer Mutter gleichen. In diesem Zusammenhang müssen wir auch
manche krankhafte Antipathien und Phobien aufzählen, die wir z. B.
bei Mutter und Eand finden. Hier handelt es sich nicht etwa um
Vererbungserscheinungen. Sondern die Mutter hat in Gegenwart des
Kindes ihren Antipathien und Phobien Ausdruck gegeben und dadurch
diese auch im Kinde angeregt. Eine ähnliche Entstehung weisen ge-
wisse sexuelle Perversitäten auf.
Weiter muss hier erwähnt werden, wie bei manchen Psychopathen
ein gelesener Boman, ein gesehenes Theaterstück den Inhalt späterer
krankhafter Träumereien und Delirien bildet.
Handelt es sich in den bisher aufgezählten Beispielen um die
bahnende Wirkung äusserer Eindrücke, so kann diese auch von
Erinnerungsbildern ausgehen.
So beobachtet man gar nicht selten bei nervösen Menschen, dass
die einfache Erinnerung an einen nervösen Zustand diesen wieder her-
vorruft. Hier paart sich nicht etwa immer mit der Erinnerung die
Furcht vor einem Becidiv, d. h. eine angstbetonte Autosuggestion.
Auch ohne dieses Moment können Erinnerungen an leicht erregbare
nervöse Symptome diese wieder hervorrufen.
Verwandt hiermit ist die Auslösung gewisser hysterischer Delirien
durch die Erregung eines intellectuellen Bestandtheils derselben. So
44 Oskar Vogt.
leidet eine Kranke an hysterischen „Ohnmacht<)zuständen^, die in Wirk-
lichkeit nicht etwa Zustände von Bewusstlosigkeit, sondern eine delirien-
artige Bewnsstseinseinengnng darstellen. In diesen Delirien bildet ein
Hund eine grosse Bolle. Die Kranke braucht jetzt nur an einen Hund
zu denken, um sofort in jenen hysterischen Traumzustand zu verfallen.
Therapeutisch und prophylactisch kommen unter dieser
Rubrik zunächst überhaupt alle ärztlichen Bathnchläge in Betracht,
soweit durch diese das weitere Handeln des Kranken beeinflusst wird.
Durch unsere Rathschläge haben wir Erregungen in dem Bewusstsein
des Patienten hervorzurufen, die nun ihrerseits psychophysische Folge-
wirkungen nach sich ziehen müssen. Die erregende Wirkung des in-
tellectuellen Inhalts mancher Rathschläge genügt an sich vielfach nicht,
um den, Patienten zum Befolgen derselben zu veranlassen. Speciellfür
die functionellen Nervenkranken gilt dieses, da bei ihnen eine Neigung
zum Ungehorsam, ein NichtsichfügenwoUen oder ein Beherrschtwerden
von dem Gedanken der XJndurchführbarkeit des ertheilten Rathschlages
sehr oft im Wesen der Erkrankung liegt. So stellt das erfolgreiche
Ertheilen ärztlicher Rathschläge eine wahre Kunst dar, die eingehendes
Individualisiren und Kenntniss aller derjenigen Mittel zur Voraus-
setzung hat, durch die wir nachhaltig auf andere einzuwirken im Stande
sind. Die normale Psychologie lehrt uns nun, dass wir überall da
stärkste und nachhaltigste psychische Erregungen hervorrufen, wo wir
starke Gefühle wecken. Das haben wir daher auch überall da zu thun,
wo wir Schwierigkeiten haben, den erforderlichen Patientengehorsam
zu erzielen. An welche Gefühle wir dabei zu appelliren haben, hängt
von dem einzelnen Individuum ab: ein umstand, der eben das schon
oben geforderte Individualisiren erheischt. Auf hierher gehörige Einzel-
heiten haben wir im 3. Theil unserer Uebersicht näher einzugehen.
Weiterhin könnten wir hier auch alle jene Maassnahmen aufzählen,
die wir oben bereits geschildert haben als geeignet, therapeutische
Hemmungen durch die Erregung von Contrastvorstellungen hervorzu-
rufen. Wir wollen eine Wiederholung schon gemachter Ausfuhrungen
vermeiden und verweisen deshalb auf das oben Gesagte.
ß. Das Fehlen bahnender intellectueller Erscheinungen.
Die Ursachen des Fehlens bahnender intellectueller Erscheinungen
sind analog denjenigen des Fehlens hemmender Empfindungen und
Vorstellungen.
Ein normalpsychologisches Beispiel ist die Unfähigkeit
Die möglichen Formen seelischer Einwirkung in ihrer ärztlichen Bedeutung. 46
eines Menschen, der nichts yon Biologie versteht, allgemeine biologische
Gesetze aufzustellen. £8 fehlen ihm die dazu erforderlichen bahnenden
intellectuellen Erscheinungen.
Ein pathologisches Beispiel ist der Schwachsinn mit seiner
Einförmigkeit und geringen Complicirtheit im Denken und Handeln.
Diese sind eben auf den Mangel an bahnenden und so neue Gedanken-
combinationen und höhere WillensmotiTe scha£fenden Vorstellungen
zurückzuführen.
Therapeutisch und prophylactisch kommt hier die Ver-
meidung aller derjenigen intellectuellen Erscheinungen in Betracht, die
im Stande sind, krankhafte Erregungen heryorzurufen. Die Wege dazu
sind entsprechende Gestaltung des Milieus und anderweitige Fesselung
der Aufmerksamkeit des Kranken. (3. u. 4. Theil folgen.)
Sociaipsychologische Bemerkungen über die Aicohol-Euphorie.
Von
A. Groljalin-Berlin.
I
Der Genuss ^Icoholischer Getränke ist nur eines der zahlreichen
Mittel, durch die der Mensch das Bedürfniss nach Einverleibung nar-
cotischer StoiFe überhaupt zu befriedigen bestrebt ist. Wegen der
Verbreitung, welche dieses Bedürfniss unter den Völkern aller Zeiten
und aller Länder erlangt hat, dürfen wir es wohl als ein allgemein
menschliches ansprechen. Der psychologische Grund liegt in dem Be-
streben, Lustgefühle aufzusuchen und Unlustgefühle abzustumpfen.
Diese euphorische VT'irkung ist bei sonst überaus grosser Ver-
schiedenheit allen narcotischen Sto£fen gemeinsam, soweit sie überhaupt
Massenconsummittel geworden sind. Auch die seit den Anfängen aller
Cultur bestehende Erkenntniss von der Giftwirkung der starkwirkenden
Narcotica hat den Genuss nicht verhindern können. Wohl haben
einzelne Individuen in wechselnder Zahl sich ihrer enthalten; aber
grössere Bevölkerungsconglomerate haben sich nie völlig derselben
entschlagen, sondern höchstens durch religiöse, strafrechtliche und hy-
gienische Gebote einzelne Stoffe durch ähnlich wirkende, vermeintlich
unschädliche zu ersetzen versucht. Dieses eigenartige Verhalten der
zu socialen Gebilden (Rassen, Völkern, Klassen) vergesellschafteten
Menschen zu den Genussmitteln ist wohl zu beachten, wenn man über
den für Medicin und Hygiene so wichtigen Missbrauch dieser Stoffe,
speciell den uns am meisten interessirenden Alcoholismus sich ein
Urtheil bilden will.
Beim Essen und Trinken nimmt der Mensch nicht nur Nahrungs-
mittel zu sich, die zur Aufrechterhaltung der Lebensfunctionen und
SocialpsychologiBche Bemerkungen über die Alcohol-Euphorie. 47
znm Wiederaufbau verbrauchter Eörperelemente dienen, sondern er
verleibt sich zugleich Stoffe ein, die in ihm Lustgefühle wecken und
ihm so den Vorgang des Essens und Trinkens angenehm und werth
machen. Diese Euphorie ist durchaus nicht etwa nebensächlich und
gleichgiltig, sondern bedingt wesentlich die Tortreffliche Ausbildung
unserer Organe. Nicht nur beim Verdauungstractus ist der Genus s
mit dem Bedürfniss eng verknüpft. So ermöglicht uns zwar das
Ange und der das Sehen vermittelnde ner?öse Apparat das Wahr-
nehmen der Gegenstände, das zu unserer Erhaltung dringend nöthig
ist; doch erst die Fülle der Lustempfindungen, die uns das Auge über-
mittelt, verleitet uns, es auch unablässig da zu benutzen, wo unsere
Erhaltung nicht gerade auf dem Spiele steht. Ebenso übermittelt uns
das in die Athmungsorgane eingeschaltete Geruchsorgan zahlreiche
Lastempfindungen und reizt auf diese Weise die Athmungsorgane zu
ausgiebigerer Thätigkeit Besonders ausgesprochen ist das Neben-
einander von nothwendiger Function und begleitender Lustempfindung
beim Fortpflanzungsgeschäft: der für die Erhaltung der Art unerläss-
liche Act ist von einem intensivem Lustgefühl begleitet, das den
Menschen die Gelegenheit zum Paarungsacte so oft als möglich auf-
zusuchen treibt.
Während bei den uncultivirten Menschenrassen die Befriedigung
der Bedürfnisse noch unmittelbar mit dem Genussleben verknüpft ist,
hat sich bei den cultivirten Völkern dieser Zusammenhang gelockert
und zwar in steigendem Maasse, je höher das erreichte Cultumiveau
ist. Der Lebensgenuss wurde zunächst von einzelnen Lidividuen diffe-
renzirt, und diese Verfeinerung theilte sich dann der Allgemeinheit
mit. Dem Streben nach Erhaltung trat ein Streben nach Fruchtbar-
machung aller Genussmöglichkeiten zur Seite. Ob diese Strebungs-
kreise gleichwerthig sind, bleibe der Ethik zu entscheiden überlassen,
die sociale Hygiene hat einfach von der Thatsache Eenntniss zu nehmen.
Betrachten wir unter diesem Gesichtspunkte das Verhalten der
cultivirten Bässen zur Ernährung, so sehen wir, dass sich durch die
culturelle Entwicklung das zum Leben physiologisch Nothwendige in
geschichtlicher Zeit wenig geändert hat, dagegen das an den Ge-
schmack geknüpfte Genussleben ausserordentlich verfeinert worden ist.
Durch die Einverleibung narcotischer Mittel ging der Mensch
in der Loslösung des Genusses von der Nothdurft noch
einen erklecklichen Schritt weiter. Wenn diese Stoffe auch ähnlich
den Nahrungsmitteln durch Besorption- seitens der Schleimhäute des
48 ^- Grotjahn.
Magen-Dannkanals aufgenommen werden, so wirken sie doch nicht in
erster Linie durch ihren Geschmack genussbringend, sondern beein-
flussen direct die Grosshirnrinde und erwecken Lnst-
empfindungen, die von der Thätigkeit der Sinneswerk-
zeuge oder von lusterweckenden Wahrnehmungen ans
der Aussenwelt vollkommen unabhängig sind. Diese Art
und Weise zu gemessen nimmt eine ganz aussergewöhnliche Stellung
im Genussleben ein ; denn es giebt kein einfacheres Mittel, unabhängig
von den aus der Aussenwelt stammenden Wahrnehmungen und femer
unabhängig von den Functionen der Sinneswerkzeüge Lustempfindongen
hervorzurufen, deren Intensität und Dauer wir noch dazu dosiren können.
Was von den narcotischen Mitteln im allgemeinen, gilt vom
Alcohol im besonderen. Mag der Mensch es auch verstanden habeo,
den verschiedenen alcoholischen Getränken die eigenartigsten Ge-
schmacksqualitäten durch Zusatz von Gewürzen oder durch die Art
der Bereitung zu verleihen: die Hauptsache bleibt die durch den
Alcohol gesetzte Euphorie, nicht die durch den Wohlgeschmack aus-
gelöste. Diese Euphorie durch directe Reizung der Grosshimrinde
hat der Mensch überall als grosse Wohlthat empfunden. Wir be-
zweifeln, dass er sie ohne weiteres wieder aufgeben wird und halten es
nur für die Aufgabe des Arztes, festzustellen, ob das Hervorrufen
dieser Euphorie unter allen Umständen schädlich ist, und, falls diese
Frage verneint wird, in welchen Gaben die Mittel gegeben werden
müssen, damit sie ohne zu schaden ihre Vorzüge entfalten kOnnen.
n.
Die narcotischen Sto£fe, welche in den Massenconsum überg0gangen
sind, zerfallen in schwachwirkende und starkwirkende. Zur ersten
Gruppe gehören die Aufgussgetränke Thee, Caffee, Chocolade und der
Tabak, zu der zweiten Opium, Alcohol und Coca; der Haschisch
nimmt eine Mittelstellung ein. Die schwachwirkenden entstammen aus-
schliesslich den tropischen Ländern. Sie haben sich über die ganze
bewohnte Erde verbreitet, ohne den starkwirkenden erheblichen Ab-
bruch zu thun.
Das Bedürfniss nach G^nuss der starkwirkenden narcotischen Stoffe
äussert sich individuell in zwei Bichtungen, die wohl von einander za
unterscheiden sind, wenn sie auch häufig in einander übergehen, ein-
mal in der Neigung zum gewohnheitsmässigen Genuss
kleiner Mengen, sodann als eigentliches Rauschbedürfniss.
Socialpsycliolog^sche Bemerkungen über die Alcohol-Euphorie. 49
Die BerauBchüBg ist wohl die roheste und ursprttnglicfaste Form
des Alcoholgenusses. Leider kann man nicht sagen, dass die culti-
yirten Völker diese barbarische Art zu gemessen ganz abgestossen
haben, wenn sich auch deutlich die Tendenz kund giebt, sie hinter dem
massigen Genuss im Laufe der culturellen Entwicklung mehr und mehr
Zurücktreten zu lassen. Besonders bei den geschichtlich jüngsten Cultur-
nationen, den Deutschen, Angelsachsen und Scandinaviem, ist die Be-
rauschung — häufig in der Form eines an bestimmte Kegeln ge-
knüpften Grelages — noch durchaus gang und gäbe. Doch kann man
nicht sagen, dass gerade diese Form in den Culturländem am meisten
für jene Schädigungen, deren Summe die Medicin unter dem Ausdruck
Alcoholimus zusammenfasst, verantwortlich zu machen ist. Unmittelbar
social verhängnissvoU wird die Berauschung nur, wenn ihr in so un-
gezügelter Weise gefröhut wird, wie wir es bei den uncultivirten
Völkern finden, wenn zu ihnen plötzlich durch Baub oder Kauf fremde,
starke alcoholische Getränke von ihren cultivirten Nachbaren herüber-
kommen. Die althergebrachten alcoholischen Getränke, deren Genuss
bei einem Volke seit Jahrhunderten üblich und durch Brauch und Sitte
geregelt ist, wirken nämlich nicht annähernd so verheerend wie die
Getränke, die aus einer fremden, höheren Cultur plötzlich übernommen
werden. Der üncivilisirte oder Halbcivilisirte wendet eben das un-
gewohnte Genussmittel in brutaler, durch keine Selbstbeherrschung ein-
geschränkter Weise an. Diese eigenthümliche Beaction eines Natur-
volkes auf ein von einer überlegenen Cultur gebotenes alcoholisches
Getränk war die Ursache der Trunksucht der Scythen und Macedonier
bei ihrer Berührung mit den Griechen, und der Germanen, als sie den
starken Wein der Römer kennen lernten. Gegenwärtig sehen wir den
Vorgang bei den eingeborenen T'ölkem Afrikas und besonders Nord-
Amerikas wiederkehren, nur mit dem Unterschied, dass es noch hier
nm ein ungleich stärkeres Getränk, den Branntwein, und um constitu-
tionell ungleich schwächere Individuen wie z. B. die Indianer handelt.
Mehr als die eigentliche Berauschung ist bei den Culturvölkem
der Gegenwart der gewohnheitsmässige Spirituosengenuss
zum Ausgangspunkt des Alcoholismus geworden. Besonders bei den
Völkern der zur Zeit führenden germanischen Basse wird unverhältniss-
mässig mehr Alcohol gewohnheitsmässig zur Hervorrufung einer massigen
Euphorie als zum Zwecke einer wirklichen Berauschung getrunken I
Diese Art Spirituosen zu geniessen hat sich eng mit den alltäglichen
Zeitschrift für HypnotismuB etc. X. ^
60 A. G-rotjaha.
Gewohnheiten verhunden. Besonders drei verschiedene Trinkformen
lassen sich hier abtrennen.
Erstens das Trinken bei den Mahlzeiten. Es handelt
sich dabei nm den Genuss wenig concentrirter, also in starker Ver-
dünnung kleine Mengen Alcohol enthaltender Flüssigkeit, die regel-
mässig beim Essen getrunken werden.
Zweitens das Trinken bei geselligen Zusammenkünften.
Es tritt losgelöst von den Mahlzeiten auf und yermittelt leicht den
üebergang zur Berauschung. Das Trinken bei geselligen Zusammen-
künften ist vielfach eng mit den formen des religiösen und politischen
Lebens verknüpft.
Eine dritte Form endlich beschränkt sich auf die körperlich ar-
beitende Bevölkerung. Es ist das gewohnheitsmässige Trinken
bei der Arbeit und in den Arbeitspausen, durch das der
Arbeiter eine zu geringe Lebenshaltung auszugleichen und eine mög-
lichst grosse Steigerung und Ausdehnung der Arbeitsleistungen zu er-
zielen bestrebt ist.
In welcher Form nun auch das Trinken erfolgt, so können immer
gewisse Mengen Spirituosen genossen werden, ohne dass dadurch dem
Organismus Schädigungen erwachsen, vorausgesetzt, dass die regel-
mässig genossenen Gaben das physiologisch zulässige^ vorsichtig zu
bemessende Quantum nicht überschreiten. Eine grosse Anzahl von
Personen bleibt daher auch von den Symptomen des Alcoholismus ver-
schont. Eine erhebliche Anzahl wird aber dieses Maass überschreiten
und dem Alcoholismus verfallen, auch wenn sie nicht zu den psychisch
Minderwerthigen, deren Stellung zur Trunksucht nicht Gegenstand
unserer Erörterung ist, gehört. Hierbei ist nun interessant, dass die
oben genannten Formen des Trinkens einen wesentlichen Einfluss auf
die Häufigkeit haben, mit welcher sich der Üebergang vom Genuss
zum Missbrauch vollzieht. Selten entsteht nämlich der Abusus auf
dem Boden des Trinkens bei den Mahlzeiten, häufiger dagegen auf dem
Boden des Trinkens bei geselligen Zusammenkünften, ganz besonders
häufig aber auf dem Boden des gewohnheitsmässigen Trinkens während
der Arbeit und in den Arbeitspausen innerhalb der modernen Arbeiter-
bevölkerung.
ni.
Aus diesen und ähnlichen socialpsychologischen Erwägungen, be-
züglich deren Begründung ich auf eine vorausgegangene grössere Pub-
Soeialpsychologisohe Bemericungen Über die Alcohol-Euphorie. 51
lication hinweisen muss,^) ergeben sich einige Nutzanwendungen für
die Bekämpfung des Missbrauches geistiger Getränke, bei deren Be-
achtung das Einsetzen von Kräften an falscher Stelle vermieden, da-
für mancher Erfolg mit geringen Mitteln erreicht werden könnte. Es
sei im Voraus bemerkt, dass hier nicht die Bede sein soll Ton der
Beseitigung des auf Grundlage einer psychopathischen Constitution er-
worbenen Alcoholismus, überhaupt nicht von der Heilung des Alcoho-
lismns als Zustand des Indiyiduums. Denn diese ist Sache der Nerven-
und Irrenheilkunde, während die sociale Hygiene nur das gehäufte
Auftreten des Alcoholismus chronicus in einer Gruppe gesellschaftlich
zusammengehöriger Individuen angeht.
Zunächst glaube ich, dass aus rein socialpsychologischen Er-
wägungen heraus die Forderung der absoluten Abstinenz
fallen muss. Denn vergegenwärtigen wir uns, wie überall im Leben der
Menschen neben der Befriedigung der Nothdurft der Genuss steht,
— und zwar nicht als eine ziemlich überflüssige Luxusempfindung,
sondern als integrirender Bestandtheil des organischen Seins — so
wird uns die Verantwortung klar, die wir mit der so einfach und harm-
los scheinenden Forderung der absoluten Abstinenz übernehmen.
Wir reden hier natürlich nicht von der Abstinenz, die der Arzt
im einzelnen Falle vom Potator, Psychopathen, Epileptiker, Herz-
kranken u. s. w. fordert, oder der freiwillig übernommenen Abstinenz
einzelner Personen, um anderen die angezweifelte Durchführbarkeit
einer solchen zu beweisen oder den in einigen Ländern bis zur ün-
erträglichkeit herrschenden Trinkzwang zu durchbrechen, sondern von
der Abstinenz, wie sie als kategorischer Imperativ und
allgemeine sittliche Forderung aufgestellt worden ist, um
als vermeintlich bestes oder gar einziges Mittel das sociale Phänomen
des Alcoholismus vom Erdboden verschwinden zu lassen. Die Schädi-
gungen, die der Alcohol anrichtet, sind gross, aber sind sie so be-
deutend, dass die Menschen ein so wirksames, billiges und bequemes
Enphoricum ganz aufgeben sollen? Die Genussmittel, die dem
Menschen zur Verfügung stehen, sind denn doch nicht so zahlreich,
dass man bloss deshalb eines derselben kalten Herzens opfern dürfte,
weil einzelne Individuen Missbrauch damit treiben. Auch der Lebens-
genass ist etwas heiliges und deshalb vom Arzte zu respectiren.
^) Grotjahn, A., Der Alcoholismus nach Wesen, Wirkung und Verbreitung,
Bd. 13. Georg H. Wigand's BibUothek für Socialwissenschaft, 1898.
4*
52 A. Groijahn.
Die Forderung der absoluten Abstinenz ist aber nicht nur un-
billig, sie ist vor allem auch Yollkommen undurchführbar.
Selbstverständlich bezweifle ich nicht, dass einzelne Individuen oder
Gruppen von Individuen sich des Alcohols völlig zu enthalten ver-
mögen : ich behaupte nur, dass die euphorische Wirkung des Alcohols
so lange für die grosse Masse nichts von ihrer Wirksamkeit einbüssen
wird, als nicht die der Aussenwelt entnommenen Wahmehmuugon in
ganz überwiegendem Maasse in der Betonung durch Lustgefühle dem
Bewusstsein übermittelt werden. Schwerlich werden die Menschen zu
einer Zeit auf den Alcohol verzichten, in der die Aussenwelt für die
Mehrzahl der Individuen die Quelle so vieler und so starker Unlust-
gefühle ist. Sie sind im Gegentheil froh, dass sie diesen Lustbringer
und Unlustabstumpfer erfunden haben, und werden nicht deshalb diesen
Culturfortschritt fahren lassen, weil der Genuss, wie jeder Genuas, in
Missbrauch ausarten kann. Die Annahme, mit der Forderung absoluter
Abstinenz jeglichen Alcoholgenuss und damit jeglichen Alcoholmiss-
brauch radical beseitigen zu können, ist daher ein Traum — und nicht
einmal ein schöner Traum.
Um so mehr handelt es sich darum, den Genuss der alcoholischen
Getränke so zu gestalten, dass er sich in ungefährlichen Grenzen hält.
Das ist zunächst die Aufgabe der medicinischen Wissenschaft, indem
sie auf Grund physiologischer und pathologischer Forschung diese
Grenzen aufzeigt, das ist sodann die Aufgabe der Mässigkeits-
propaganda, indem sie die Ergebnisse der Wissenschaft durch
das geschriebene und gesprochene Wort den einzelnen Individuen über-
mittelt. Die medicinische Wissenschaft hat ihre Aufgabe fast gelöst,
die Mässigkeitsbewegung in ihrer bisherigen Form ist dagegen weit
hinter den Erwartungen zurückgeblieben, die man an sie zu stellen
berechtigt ist. Der Grund hierfür ist weniger in einem Mangel an
Rührigkeit und Kräfteaufwand, als vielmehr darin zu suchen, dass
man die zur Verfügung stehenden Mittel an unfruchtbaren Stätten er-
schöpft. Die Betrachtung der Rolle, die der Alcohol als Massen-
consummittel im Leben der Culturvölker spielt, giebt uns manchen
Fingerzeig, der missbräuchlichen Verwendung der Spirituosen durch
directe und indirecte Maassnahmen zu begegnen.
Auf Grund obiger Ausfuhrungen muss selbst, wer wie der Ver-
fasser dieser Zeilen sich davor scheut, das Genussleben anzutasten, die
thörichten Trinksitten der höheren Stände doch auf das
schärfste verdammen. Die Alcoholeuphorie ist hier durchaus ersetz-
Sooialpsychologisclie Bemerkungen über die Alcohol-Euphorie. 53
bar durch feinere und unsclxädlichere Genüsse. Die rohen Trinksitten
speciell der germanischen Länder sind nur der Ausdruck für den
Mangel einer Verfeinerung unseres Genusslobens und die Unkenntniss
der psychischen und physischen Gefahren, die aus dem Spirituosen-
missbrauch entspringen. Gegen die Trinksitten der höheren Stände
anzukämpfen muss daher die vornehmste Aufgabe der Mässigkeits-
propaganda sein. Hier kann und wird sie Erfolg haben, wenn sie
dieser Aufgabe nur halb so viel Interesse und moralische Entrüstung
zuwendet, wie den Trinksitten der niederen Volksclassen. Will man
Missbräuche im geselligen Verkehr bekämpfen, so muss man solche
zunächst bei den höheren Bevölkerungsschichten auszurotten suchen.
Denn ausschliesslich diese sind für die Gestaltung der Formen, in
denen sich die Geselligkeit eines Volkes abspielt, verantwortlich.
Minmit ja doch selbst eine niedere Classe fast regelmässig auch dann
noch die Geselligkeitsformen der höheren an, wenn sie diese aus ihrer
dominirenden Stellung verdrängt und aufs heftigste bekämpft hat. So
hat das Bürgerthum im grossen und ganzen die Formen der Gesellig-
keit übernommen, die in der Feudalzeit ausgebildet worden sind, und
wird sie voraussichtlich in modificirter Form an die neu aufstrebende
Classe, die sich in der modernen Arbeiterbewegung ankündigt, weitergeben.
Speciell in Deutschland werden die Trinksitten des ganzen Volkes
von zwei Centren des Geselligkeitslebens der höheren Stände tonan-
gebend beeinflusst, und zwar in einer Weise, die ein Vorwiegen des
Excesses zur Folge hat. Es ist die Studentenkneipe und das
Officierscasino. Bei der ersteren besteht das Bestreben, möglichst
viel und möglichst lange zu trinken, im letzteren kommt es darauf an,
ebenso viel in thunlichst kurzer Zeit zu bewältigen; hier wie dort ist
das Trinken ausschliesslicher Mittelpunkt der Geselligkeit; keine dort
verkehrende Person kann sich der Pflicht im Trinken mit den Com-
militonen und Kameraden Schritt zu halten entziehen. Es wäre der
deutschen Mässigkeitsbewegung zu empfehlen, diesen Ausgangspunkten
deutscher Trinksitten mehr Aufinerksamkeit zuzuwenden und nicht ihre
Kraft an Aufgaben zu zersplittern, denen sie, wie z. B. der Bekämpfung
des Alcoholismus der arbeitenden Classen, nicht gewachsen ist und
auch kaum jemals gewachsen sein wird.
IV.
Mit der Erörterung des Alcoholismus der handarbeiten-
den Classen, den numerisch bei weitem stärksten Bevölkerungs-
64 A« Grotjahn.
categorien, betreten wir ein Gebiet der Bekämpfung des Spirituosen-
missbrauchesy bei dem es nicht wie bei den begüterten Schichten io
erster Linie anf einen nachdrücklichen Appell an das moralische Be*
wusstsein des Individuums ankommt, sondern auf indirecte Haass-
nahmen,.die erst den Boden für eine fruchtbare Mässigkeitspropaganda
vorbereiten.
Vergegenwärtigen wir uns wieder, dass bei der AlcoholwirkuDg
die erzielte Euphorie ausschlaggebend für die Werthschätzung ist, so
begreifen wir leicht, wie diese Werthschätzung gerade unter der arbei-
tenden Bevölkerung eine so bedenkliche Höhe erreichen konnte. Es
ist klar, dass Personen, denen Umgebung, Beschäftigung, Wohnung,
Lebenshaltung und Zukunftserwartung nur spärliche Lustempfindungen
übermitteln, sich besonders von der Alcohol-Euphorie angezogen ftthlen
werden. Absolut genommen ist denn auch die Zahl jener Individuen
der arbeitenden Bevölkerung, die vom mäüsigen zum unmässigen Spiri-
tuosengenuss fortgerissen werden, sehr gross. Die Trinker, die ans-
schliesslich durch ihre psychopathische Constitution zu den Trink-
ezcessen getrieben werden, oder die, welche infolge Beschäftigung bei
der Spirituosenproduction der Verführung erliegen, oder die, welcbe
durch die Trinksitten der höheren und mittleren Stände zu Alcoholisten
werden, bleiben an Zahl bedeutend hinter denen zurück, welche ans
den S.eihen der arbeitenden Classen unter dem Druck der socialen
llls^re dem Trünke verfedlen.
Die Würdigung der in den socialen Verhältnissen wurzelnden Ur-
sachen des Alcoholismus ist für seine Bekämpfung von der grössten
Wichtigkeit; ihre Vernachlässigung hat nicht zum wenigsten dazu bei-
getragen, dass die an und für sich imposante Antialcoholbewegung mehr
oder weniger an allen Orten des E[riegsschauplatzes Fiasco gemacht
hat. Es genügt auch nicht, sich mit dem Satze, dass in der socialen
Misdre ein wichtiges ursachliches Moment für die Verbreitung des
Spirituosenmissbrauchs sei, in seiner Allgemeinheit zu begnügen; es
muss vielmehr auch hier versucht werden, die Resultate in ihre Com-
ponenten aufzulösen, wie schwierig dies auch sein mag.
Sehr mannigfaltig sind die Factoren, die bei der arbeitenden Be-
völkerung ein besonderes Alcoholbedürfniss hervorrufen. Zunächst ist
hier eine unzureichende Ernährung anzuschuldigen. Speciell der
Branntweingenuss geht fast stets mit einer ausgeprägten Unterernährung
einher, während dort, wo der Arbeiter sich Landwein oder Bier ver-
schaffen kann, auch meist seine Mittel zu einer leidlichen Ernährung
Socialpsychologische Bemerkungen über die Alcohol-Euphorie. 56
ausreichen. Bei der Beantwortung der Frage, ob die Ernährung aus-
reichend ist oder nicht, muss nicht nur in Betracht gezogen werden,
ob die Nahrungsmittel in einer Quantität oder Qualität einverleibt
werden, dass dem Körper die physiologisch nothwendige Menge von
Eiweiss, Fetten und Kohlenhydraten zugeführt wird, sondern auch, ob
die Nahrungsmittel durch Schmackhaftigkeit und Abwechselung sub-
jectiv befriedigen* Ziemlich nebensächlich ist dagegen das heissumstrittene
Problem, ob die alcoholischen Getränke objectiv Nahrungsmittel zu
Tertreten im Stande sind; denn das alcoholgeniessende Individuum legt
sich wohl in den seltensten Fällen darüber Rechenschaft ab, ob der
Alcohol wirklich nährt, stärkt und erwärmt, sondern trinkt, weil es
dadurch die subjective Empfindung der Sättigung und das Wohlbehagen
während der Mahlzeit hervorrufen kann.
Wir haben daher Folgendes zu unterscheiden: für einen Teil des
Proletariats ^) besteht eine directe Unterernährung, d. h. die Ernährung
ist weder objectiv zureichend noch subjectiv befriedigend. Hier ist der
Branntwein willkommen, weil er das Hungergefühl hintanhält und die
Empfindung von erhöhter Ejraft und von Durchwärmung des Körpers
hervorruft Für einen ungleich grösseren Theil des Proletariates ist
aber die Ernährung deshalb mangelhaft, weil sie wegen ihrer Eintönig-
keit und Voluminösität dem Geschmack nicht zusagt. Hier dienen die
alcoholischen Getränke hauptsächlich als Würze der Mahlzeiten und
ersetzen durch die Euphorie, die sie in Folge ihres Alcoholgehaltes
verursachen, das Wohlbehagen, das der Esser sonst allein in
Folge des Genusses von gutzubereiteten Speisen empfindet. Unter
der ünverdaulichkeit und Geschmacklosigkeit der Nahrungsmittel des
Massenconsums leiden besonders solche Arbeiter, die im geschlossenen
Baume und in sitzender Körperhaltung ihre Arbeit zu verrichten
haben.
Auch im Character der Arbeit selbst liegen Momente, die beim
modernen Arbeiter das Bedürfniss nach Genuss alcoholischer Getränke
in einem so hohen Grade zu steigern vermögen, dass eine ungewöhn-
liche Festigkeit dazu gehört, ihm zu widerstehen. Der Spirituosen-
genuss ermöglicht eine künstliche Yerschiebimg des Zeitpunktes, in dem
das Gefühl der Ermüdung nach Buhe verlangt, und damit eine Steigerung
der Arbeitsleistungen über das physiologisch zulässige Maass. Häufig
^) Der Ausdruck „Proletarier" natürlich hier wie im nationalökonomischen
Sprachgebrauch zur Bezeichnung der modernen Lohnarbeiter, nicht etwa im Sinn
von „Lumpenproletarier".
66 ^' örotjahn.
sind die Nebenumstände, unter denen die Arbeit yollzogen sein moss,
derartig, dass sie ganze Berufsclassen zu einem ungewöhnlich hohen
Spiritusgenuss verleiten; das gilt vornehmlich von den Arbeiten, die
unter Staubentwickelung und unter abnormen Temperaturverhältnissen
ausgeführt werden müssen. Unnatürlich lange Arbeitszeit reicht allein
schon aus, das Alcoholbedürfniss zu steigern ; denn es giebt keine Arbeit,
mag sie noch so leicht sein, die nicht durch eine bis an die Grenze
der individuellen Leistungsfähigkeit ausgedehnte Arbeitszeit zur Qual
gemacht werden könnte, geschweige denn, dass nicht bei einer an-
strengenden oder mit widrigen Nebenumständen verknüpften Beschäf-
tigung erst durch ihre Dauer die dabei entstehenden Unlustempfin-
dungen bis zur Unerträglichkeit gesteigert zu werden vermöchten.
In der übermässig langen Arbeitszeit liegt auch die Ursache
für die bedeutende itoUe, welche die geistigen Getränke im Gennss-
leben besonders des industriellen und grossstädtischen Arbeiters spielen.
Zur behaglichen Erholung und zum harmlosen Lebensgenuss gehört
vor allem Zeit. Wenn die grössere Hälft>e des Tages zur Arbeit und
zum Zurücklegen des Weges zur Arbeitsstätte verwandt werden muss,
so bleibt nach Abzug der für Essen und Schlafen nothwendigen Stunden
keine Zeit mehr für ein Genussleben ^ das sich in Beschäftigung mit
Weib und Kind, im Verkehr mit Freunden und Verwandten, im Er-
gehen in Wald und Flur, in Zerstreuung durch Sport und Spiel, im
Anhören von Musik, im Lesen von Büchern imd Zeitschriften abspielen
könnte. Das Genussleben des Arbeiters vollzieht sich daher wider
seine Neigung und sehr zu seinem Nachtheil in flüchtigen Standen.
Er strebt durch Intensität, d. h. durch Sinnenrausch zu ersetzen, was
er an Extensität des Genusses, d. h. an Behagen, Glück und ruhig^^r
Lebensfreude entbehren muss. £ein Wunder, dass unter diesen Um*
ständen die alcoholischen Getränke, die schnell, zu jeder Tageszeit und
an jedem Orte eine euphorische Wirkung hervorbringen, bevorzugt
werden; denn auf weniger zeitraubende Weise als durch Hinunter-
stürzen einiger Gläser Branntwein oder Bier kann man sich kaum einen
Genuss verschaffen.
Dem Arbeiter fehlt aber nicht nur die Zeit zur Bevorzugung
harmloserer Genüsse, ihm fehlt auch der Kaum. Die dominirende
Stellung des Ejieipenlebens im geselligen Leben der Arbeiter ist zum
grossen Tbeile eine Folge der Wohnungsnoth. Dadurch, dass der Ar-
beiter aus diesen und ähnlichen Gründen in die Schenke getrieben
wird, geräth er, der schon aus den oben erwähnten Gründen während
Socialpsychologische Bemerkungen über die Alcohol-Euphorie. 57
der Arbeit und in den Arbeitspausen gewohnheitsmässig alcoholische
Gretränke zu sich nimmt, auch noch in den Bann des Trinkens bei
geselligen Zusammenkünften, auf welchem Gebiete er im all-
gemeinen weniger als der Angehörige der bemittelteren Stände zu
Hause ist. In der Schenke vollzieht sich dann häufig, was durch das
Trinken bei der Arbeit allein selten vorkommt: der Uebergang vom
Gennss zum Missbrauch der geistigen Getränke und weiterhin
Ton der Unmässigkeit zur eigentlichen Trunksucht.
Kein Wunder, dass die Mittel der Mässigkeitspropaganda bei der
arbeitenden Bevölkerung in der Regel versagt haben. Dem Appell an das
moralische Bewusstsein des Individuums muss, falls er nicht wirkungslos
verhallen soll, hier eine Herabminderung des durch äussere Verhältnisse
abnorm gesteigerten Alcoholbedürfnisses vorausgehen. Je mehr es ge-
lingt, die aus der Aussenwelt stammenden Wahrnehmungen ihres peinlichen
Inhaltes zu entkleiden und möglichst viele Lustempfindungen unserem
Bewusstsein zu übermitteln, desto mehr wird man den Alcoholgenuss
auf einem Gebiete zurückdrängen, auf dem er heute noch seine festeste
Poffiition hat. Die Herabminderung des Alcoholbedürfnisses fällt also
hier zusammen mit den Bestrebungen, die uns umgebende Aussenwelt
so zu gestalten, dass der möglichst grössten Zahl ein möglichst inten-
sives Glücksgeflihl gewährt werden kann. Die Alcoholfrage mündet
damit ein in die sociale Frage. Die Bekämpfung des Alcoholismus
wird damit eine Aufgabe der socialen Politik. Die Erörterung weiterer
Massnahmen liegt in der Hand der Nationalöconomie ; denn die sociale
Hygiene muss sich auf die Untersuchung beschränken, wie das
biologische und pathologische Verhalten des Individuums sich unter
der Einwirkung des socialen Milieus verändert, in dem die Menschen
geboren werden und sich fortpflanzen, in dem sie leben und sterben,
arbeiten und geniessen, essen und — trinken.
Referate und Besprechungen.
1. Dr. J. FxliZy üeber Aufmerksamkeitsrefleze der Pupillen,
Neurologisches Centralblatt 1899, Nr. 1.
2. , üeber neue Pupillenphänomene, ibid. 1899, Nr. 6.
3. , Weitere Mittheilungen über Vorstellungsreflexe der
Pupillen, ibid. 1899, Nr. 11.
4. , Üeber Yorstellungsreflexe der Pupillen bei Blinden,
ibid. 1899, Nr. 16.
5. , üeber ein Hirnrindencentrum für einseitige, contra-
laterale Pupillenverengerung (beim Kaninchen), ibid. 1899, Nr. 19.
1. 3. 4. Verf. veröffentlicht die Ergebnisse einer Reihe von Versuchen, die
er über Vorstellungsreflexe der Pupillen angestellt hat. Die Resultate dieser Ex-
perimente werden folgen dermaassen vom Verf. kurz zusammengefasst:
Es giebt psychisch bedingte, associative Pupillenbewegungen, und zwar
A. Wirkung der Lenkung der Aufmerksamkeit auf helle oder dunkle seiÜidi
von der Blickrichtung befindliche Gegenstände (Himrindenreflexe, Aufmerksam-
keitsreflexe).
1. Verengerung der Pupillen bei Lenkung der Aufmerksamkeit auf ein seitlich
von der Blickrichtung gelegenes helles Object.
n. Erweiterung der Pupillen bei Lenkung der Aufmerksamkeit auf ein seit-
lich von der Blickrichtung gelegenes dunkles Object.
B. Wirkung von blossen Vorstellungen (Vorstellungsreflex der PupiUen).
in. Verengerung der Pupillen bei einer Lichtvorstellung.
IV. Erweiterung der Pupillen bei der Vorstellung eines dunklen Objects.
Interessant ist, dass diese Vorstellungsreflexe sich auch bei Blinden, sogar wo
Atrophie der Retina vorhanden war, zeigten. Ferner erwiesen sich die bei seit-
licher Beleuchtung lichtstarren Pupillen der Blinden oft bei centraler Beleuchtung
als reactionsföhig.
2. Bei der Untersuchung eines Paralytikers entdeckte Verf. neue Pupillen-
phänome. Bei dem Pat. bestand völlige Pupillenstarre bei Lichteinfall, Sdürm-
vorsetzen und Accommodation. Oeffnete Pat. nach willkürlichem Augenschlo»
die Lider, so erschienen die sonst weiten Pupillen stark verengert und kehrten
erst allmählich zur gewöhnlichen Weite zurück, um eine AceommodaüoDsrer-
Refertte und Besprechungfen. 69
engeruDg ganz sicher anMuschlienen, lien Verf. den Pttienten ein nahe gehaltenef
Lieht fijdren und befahl ihm dann die Augen zuzukneifen, während Verf. die
Lider des einen Auges auseinander hielt. Dabei trat eine noch stärkere PupiUen-
▼erengerung ein. Verf. untersuchte dann eine Reihe von Kranken und Gesunden
suf die beiden Phänomene. Es ergab sich, dass das erste Symptom meist mit
lichtstarren oder trage reagirenden Pupillen zusammenfällt, aber auch bei guter
Lichtreaction der Pupillen vorkommt. Das zweite Symptom fällt ebenfalls meist
mit gestörter Lichtreaction zusammen, findet sich aber auch bei Gesunden. Verf.
ist geneigt, die Symptome zurückzuführen auf Druckschwankungen, die beim fetten
Zukneifen der Augen eine stärkere Blutf&Uung der Iris und so die Verengerung
bedingen würden. Dass das zweite Phänomen auch trotz Lähmung des Oculomo-
torins beobachtet werden konnte, schliesst die Mitbetheilung dieses Nerven an
seinem Zustandekommen aus.
6. Bei Gelegenheit von Versuchen im physiologischen Institut zu Zürich fand
Verf. beim Kaninchen auf der Grosshirnoberfläche ein Centrum, nach dessen
Beizung einseitige contralaterale Verengerung der Pupille eintrat. Da Verf. die
einseitige Papillenverengerung auffällig erschien, studirte er das normale Verhalten
der Pupillen des Kaninchens. Es ergab sich, dass die consensuelle Lichtreaction
der Pupillen fehlt.
•
Ftof. SommeTf Ein Experiment über Traumeingebung. Zeitschrift
für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. 22, Heft 2.
Verf. berichtet über einige Experimente, die auf seine Veranlassung von dem
Hypnotiseur Hansen an einem Studenten vorgenommen wurden. Der Versuchs-
person wurde folgende Suggestion gegeben: „Sie werden auf Kommando ein-
schlafen und nach 2 Minuten anfangen über Schlittschuhlaufen zu sprechen. Dabei
werden sie noch eine Minute sitzen bleiben, dann aufstehen und ausrufen : Es lebe
die Stadt Giessen.'' Die Suggestion realisirte sich auf die Secunde genau. Die
Versuchsperson war partiell amnestisch; sie erinnerte sich an die Absicht bis 120
— 2 X 60 — zu zählen, um so die Zeit einzuhalten ; glaubte aber nur bis 31 oder
32 gezählt zu haben. „Dann konnte ich nicht mehr.^ Verf. ist geneigt, anzu-
aehmen, daas die Versuchsperson die Termineingebung mit Hülfe eines Zählactes
sQszufübren im Stande war, dass aber dafür partielle Amnesie besteht. Zur Er-
forschung der Vorgänge bei der Traumeingebung fordert Verf. Individuen, „welche
an die in der Hypnose vorhandenen Vorgänge Erinnerungen bewahren^. Ein
sicherer und weit mehr Erfolg versprechender Weg ist der von 0. Vogt vor-
geschlagene : einen anderen Bewusstseinszustand, das eingeengte Bewusstsein, zu
schaffen und mittels der in diesem Zustande viel schärfer möglichen Selbstbeob-
achtung die Vorgänge in der Hypnose zu erforschen. Is enb er g^ Berlin.
Clark Üniversity, Worcester, Mass. U. S. —
Der Jubelband des 10jährigen Geburtafestes jener für Philosophie, Biologie
und Pädagogik specialisirten Hochschule ist neulich erschienen. Das Jubelfest
fand vom 5. bis zum 10. Juli 1899 unter der Leitung des verdienten Präsidenten
der Hockschule, Prof. Stanley-Hall, des Begründers des American Journal of
Psychology, statt. Der Jubelband (666 Seiten in quarto) enthält eine historische
Skizze der Hochschule, Gratulationsschreiben, eine Rede von Prof. Hall und eine
50 Referate und Besprechungen.
Zusammenstellung der Arbeiten der Clark Unirersity in folgenden Fächern : Mathe-
matik, Physik, Biologie, Psychologie und Psychopathologie, Anthropologie« Päda-
gogik, Philosophie. Dann folgen die Vorträge Ton fünf aus Europa zu dem Jubel-
fest berufenen Gelehrten, Prof. Emile Picard aus Paris (höhere Mathematiki,
Prof. L. Boltzmann aus Wien (Grundprincipien und Grundgleichungen der Me-
chanik), Prof. Ramon y Cajal aus Madrid (Histologie des Gehirnes), Prof.
A. Mosso aus Turin (Physiologie der Affecte und des Muskelsinnes), Prof. A. Forel.
früher in Zürich (Hypnotismus und Biologie der Ameisen). Den Schiuss bildet
die Liste der Publicationen der Lehrer und Schüler der Clark University. Das
Bild des hochherzigen Stifters der Hochschule, Herrn Jonas G. Clark, steht
vor dem Titelblatt. Nach angelsächsischer Sitte sind auch die fremden Vortragen-
den abgebildet, die samt und sonders zu Dr. jur. hon. caus. promovirt wurden.
In ihrem Specialgebiet hat sich die Clark University grosse Verdienste und
einen vortrefflichen Ruf in den Vereinigten Staaten und auch ausserhalb derselben
erworben. Sie sammelt vor Allem Thatsachen im Gebiet ihrer Fächer.
A. ForeL
0. Vogtf Zurlndication der Beschäftigungstherapie bei functio-
nellenNer venkranken. Wiener klinische Rundschau, XIV. Jahrgang, Xr. 2 u. 3.
Verf. geht von dem Grundsatz aus, dass die Arbeit nur eins der Heilmittel ist,
die für die functionellen Nervenkranken in Betracht kommen. Gemäss seinen Be-
obachtungen übt eine geeignete Arbeit bei den functionellen Nervenkranken f til-
gende günstige Wirkungen aus: 1. lenkt sie die Aufmerksamkeit von den krank-
haften Symptomen ab; 2. bildet sie die gesundeste natürliche Befriedigung- des
Bethätigungstriebes; 3. ist sie eine Quelle von Lustgefühlen. Demnach kommt
die Arbeit als Heilmittel in Betracht, wo Ablenkung der Aufmerksamkeit von der
eigenen Person, eine gesundere Befriedigung des Thätigkeitstriebes, und die B^^-
seitigung depressiver Gefühle zu erstreben sind.
Entspricht die Beruf sthätigkeit der Patienten allen Anforderungen, die msm
an eine geeignete Arbeit stellt, so ist einer eventuellen Neigung des Kranken,
seine Beschäftigung aufzugeben, energisch entgegenzuwirken.
Bei einer vollständigen Beschäftigungslosigkeit, die entweder aus Mang^el an
Gelegenheit besteht, oder weil sich der Patient in Folge seines nervösen Leidens
für arbeitsunfähig hält, ist eine Arbeitscur indicirt. Verf. hält eine länger dauemiie
vollständige Beschäftigungslosigkeit von functionellen Nervenkranken für schädlich.
Beschäftigungslosigkeit erscheint ihm allein berechtigt bei der Erschöpfung. Di«*-
selbe sieht Verf. aber nur als vorübergehendes Symptom an. Diesen ZustanJ
unterscheidet er scharf von jenen Zuständen, in welchen durch rein psychisch aus-
gelöste Ermüdungsempfindungen die Erschöpfung vorgetäuscht wird. In letzterem
Falle ist die Beschäftigungstherapie am Platze. Verf. weist auf die Schwierigkeit
hin, die Erschöpfung und die Ermüdungshemmung klar von einander zu unter-
scheiden. Für Erschöpfung spricht im Allgemeinen ein schlechter Ernährungs-
zustand, ferner ausgesprochene Schlaflosigkeit, gegen eine solche die lange Dauer
des Leidens. Als ein vorzügliches diffierential-diagnostisches Mittel erscheint ihm
nun hier die Beschäftigungstherapie.
Sodann hält Verf. eine Beschäftigungstherapie für indicirt in den Fallen,
wo die derzeitige Bethätigung des Krauken nicht geeignet ist, die therapeutischen
Leistungen der Arbeit zu erfüllen.
Referate und Besprechungen. 61
Weiterhin giebt Verf. einige Anweisungen für die Anwendung der Cur.
Indem sich Verf. nun den Symptomen der Kranken zuwendet, weist er darauf
hin, dass man zunächst erforschen muss, ob die Momente vorliegen, auf welche
eine Beschäftigungstherapie günstig einw^irken kann, und zweitens, ob im bejahenden
FaJle die Seschäftigungscur das geeignetste Mittel ist.
I>iese Frage kann nach Verf.s Ansicht nur dann beantwortet werden, wenn
in jedem einzelnen Fall der Ursprung der einzelnen krankhaften Symptome auf-
gedeckt ^wrird. Die ätiologische Erforschung derselben stösst aber auf eine Reihe
von Schiw^ierigkeiten.
Eine bei einem Angehörigen eines Krankheitstypus durchgeführte Analyse
gestattet aber immerhin einige Rückschlüsse auf andere zu dieser Gruppe gehörige
Patienten- Von diesem Gesichtspunkte aus schildert Verf. das Verhalten der ver-
schiedenen von ihm beobachteten Krankheitstypen.
Bei der Akinesia algera hat Verf. keinen unmittelbaren Heilerfolg durch Be-
schäftigxmg-scur erzielen können. Ebenso hat die Beschäftigungscur als solche bei
Hypochondern keine Erfolge gezeitigt. Soweit therapeutische Erfolge erzielt
wurden, führt Verf. sie mehr auf den suggestiven EinÜuss zurück.
Für den Nosophoben hält Verf. wegen der Flüchtigkeit der Symptome und
der Leichtigkeit ihrer Beseitigung eine Beschäftigungstherapie für nicht indicirt
Was die Neurasthenie betrifft, stellt Verf. in Bezug auf ihr Verhalten gegen-
über der Beschäftigungstherapie drei Formen auf.
Bei der wahren Neurasthenie ist unbedingt Ruhe indicirt. Für Neurastheniker,
die zu hypochondrischen Grübeleien neigen, ist eine Beschäftigungscur indicirt,
wnd besonders bei jenen Kranken, die im Anschluss an eine Neurasthenie ein
psychisch bedingtes Fortbestehen der Symptome zeigen.
Gegen Zwangsvorstellungen kommt die Beschäftigung als niemals zu vernach-
lässigender, meist aber nicht als Hauptfactor in Betracht.
In Fällen schwerer Hysterie kann die Arbeit von sehr günstiger Wirkung
sein. Ebenso für viele Psychopathen. van Straaten -Berlin.
O- To^f, UeberBeschäftigungstherapie bei functionellenNerven-
]c r a n Ic e n. Psychiatrische Wochenschrift, I. Jahrgang, Nr. 27 u. 28.
Die unter obigem Titel erschienenen Ausführungen bilden ein Resume von
Verf.s Erfahrungen mit Beschäftigungstherapie bei functionellen Nervenkranken.
Verf. schildert zunächst, welche allgemeinen Gesichtspunkte er bei der Wahl
«ier Beschäftigung zu beobachten gelernt hat, 1. mit Rücksicht auf den therapeu-
t iselien Nutzen ; 2. mit Rücksicht auf die Persönlichkeit des Kranken ; 3. mit Rück-
siehl auf die Persönlichkeit des Arztes.
'Wbs den therapeutischen Nutzen einer geeigneten Beschäftigungstherapie
(■j^tr-iflpt, so beobachtete Verf. eine günstige Wirkung 1. in der Inanspruchnahme
rier Aufmerksamkeit des Kranken. Diese ist zu erreichen, wenn die Beschäftigung
rriög'lichst geringe Beziehungen zu den Krankheitserscheinungen des Patienten hat,
fi^rTier -wenn die Arbeit nur bei starker Concentration der Aufmerksamkeit aus-
fiilij-l>ar ist, und das Interesse des Kranken dauernd erregt; 2. liegt die günstige
^^ji-lcunizr einer geeigneten Arbeitscur in der normalen Befriedigung des Beschäf-
tigTjngstriebes; 3. wirkt die geeignete Arbeit günstig durch die Hervorrufung voa
JL. usit g-ef ühJ en .
Q2 Referate und Besprechungen.
Betrefib der Person des ELrauken kommt bei der Auswahl der Arbeit die
subjectiye Leistungsfähigkeit desselben in Betracht. Sodann sind auch seine socUleQ
Verhältnisse zu berücksichtigen.
Was die Persönlichkeit des Arztes betrifft, so fordert Verf., ganz abgesehen
von der entsprechenden psychotherapeutischen Veranlagung und selbstloser Hin-
gabe, von ihm als Leiter der Cur ein volles Interesse und Verstandniss far die
Beschäftigung des Patienten.
Nach Schilderung der allgemeinen Gesichtspunkte geht Verf. auf seine spe-
ciellen Erfahrungen ein.
Mit Beschäftigungstherapie wurden Kranke behandelt, die ins Grebiet der
Hysterie, Neurasthenie, Hypochondrie und Psychopathie fielen. Verf. theilt die
Patienten ihrem Verhalten gegenüber der Beschäftigungstherapie in zwei Gruppen.
Zur ersten Gruppe gehören die Kranken mit hinreichendem Interesse und
freudiger Genugthuung an einer Beschäftigung, die zur Zeit aber an der Ausilbang
der betreffenden Beschäftigung durch ihre nervösen Beschwerden gehindert waren.
Wo sich nun die Beschäftigung der Kranken unmittelbar mit ihrem Berufe deckte,
wandte Verf. mit Erfolg eine systematische Erziehung zur Arbeit an. In anderen
Fällen konnte durch Einschränkung der Berufsthätigkeit neben derselben thera-
peutische Arbeit geleistet werden, oder es konnte der bestehenden Beru&thätigkeit
noch therapeutische Arbeit hinzugefügt werden. Zur Beschäftigung wurden meistens
geistige Arbeiten der verschiedensten Art ausgewählt, mit Ausnahme schöngeistiger
Phantasie und Sinnlichkeit anregender Leetüre. Dabei wurde neben receptiver
auch eine productive Thätigkeit angestrebt.
Bei der zweiten Gruppe von Kranken, die an einer Bethätigung nicht hin-
reichend Interesse fanden, wurde durch die ärztliche Bethätigung zunächst in den
Kranken das Gefühl der Dankbarkeit geweckt, und dann wurde dieses Gefühl
benutzt, um in ihnen ein hinreichendes Interesse für eine füi' Verf. nützliche Arbeit
hervorzurufen.
Was nun die Erziehung der Kranken zu der für sie ausgewählten Arbeit
betrifft, so machte Verf. sein Vorgehen abhängig von den jedesmaligen Resultaten
der Analyse der vorliegenden Arbeitsunfähigkeit. Unter den Ursachen konnte
Verf. vier Gruppen unterscheiden: 1. Mangel an Uebung; 2. leichte Erschöpfbar-
keit; 3. psychisch bedingte Leistungsunföhigkeit ; 4. mannigfaltige nervöse Be-
schwerden. Die dabei angewandten Maassnahmen im Einzelnen aufzuzählen, würde
zu weit führen. van Straaten -Berlin.
Qrohmannj Technisches und Psychologisches in der Beschäfti-
gung von Nervenkranken. Stuttgart, Enke. 1899. 78 S.
Ein grosser Theil der Ausführungen des verdienstvollen Begründers des
Züricher Beschäftigungsinstituts für Nervenkranke sind den Lesern dieser Zeit-
schrift bereits aus der Arbeit Monnier's bekannt.^) Wir referiren deshalb nur
über die Ergänzungen, die in diesem Buche enthalten sind. In der Vorrede hebt
der Verfasser von neuem hervor, was ja leider nicht genügend betont werden
^] Ueber die Behandlung von Nervenkranken und Psychopathen durch nats-
liehe Muskelbeschäftigungen von HenriMonnier. Zeitschr. für Hypnotismus etc^
Bd. Vn, pag. 142 ff.
Referate und Betprechungen. 68
kum, dus die Beachäftigang Nervöser nicht als Industriegegenttand dienen kann,
•ondem eine im höchsten Grade individualifirende Kunst speciell daxu befähigter
Menschen darstellt. Bezüglich der Beschäftigung mit Landwirthschaft führt der
Yerfssser aas, dass diese für jugendliche, rein Schwachsinnige leichten Grades sehr
geeignet sei, und dass er solchen passende Stellen verschaffe. Er warnt speciell
noch, zu viel Versuche mit der Schule und ähnlichen Bildungsmitteln bei der-
artigen Kranken zu machen. Was Verf. Über die Beschäftigung mit der Gärtnerei
und Tischlerei sagt, enthält nichts Neues. Ueber die Vereinfachung der allge-
meinen Lebenshaltung seiner Kranken, über die Abgewöhnung übertriebener und
angenügender Reinlichkeit, des Spätaufstehens und der Unregelmässigkeit in der
Lebensführung, Unordentlichkeit etc. fügt Verfasser eine Reihe neuer Bemerkungen
hinzu. Speciell warnt Verf. die Patienten während der Beschäftigungskur bei
ihren Eltern wohnen zu lassen, wie er überhaupt unter Hinzufügung einer Reihe
trefflicher Illustrationen den Unverstand, die falschen Maassnahmen der Angehörigen
der Patienten skizzirt. Verf. hat höchstens zehn Kranke und erlaubt sich deshalb
aber den Nutzen oder die Schädlichkeit der Geschlechtertrennung kein Urtheil.
Bezüglich der Beziehung der Nervenkranken untereinander hebt er den ungünstigen
Einfiuss solcher Mitpatienten hervor, die im Reden oder Gebaren irgendwie „an
Yerrücktheit oder an das Irrenhaus erinnern.'' Verf. macht schliesslich noch Vor-
schläge zu einer erweiterten Fürsorge für Nervenkranke. Einen Theil derselben
will er in Irrenanstalten untergebracht wissen, die zu Nervenheilanstalten zu er-
weitern seien, für andere macht er einen ähnlichen Vorschlag wie Mob ins. Fern
TOD den grossen Bevölkerungscentren sollen die Kranken billig untergebracht
werden mit einer Art klösterlicher Lebensführung. Es soll sich dabei um ein
gemeinnütziges Unternehmen auf genossenschaftlicher Basis handeln.
0. Vogt.
lAtdufig Cron und Emil Krcteptlin^ Ueber die Messung der Auf-
fassnngsfähigkeit. Psychologische Arbeiten von Emil Kraepelin. Zweiter
Band, 2. Heft. Leipzig, Verlag von Wilhehn Engelmann. 1897. S. 203-325.
Die Verf. benutzten zu ihren Versuchen einsilbige und zweisilbige Worte und
linnlose Silben, welche auf Trommeln angebracht waren, die sich auf dem Kymo-
graphion gleichmässig drehten. Die Wörter bezw. Silben waren durch einen ver-
schiebbaren Spalt den Beobachtern so lange sichtbar, dass sie nur zum Theil wahr-
genommen werden konnten. Die Versuchspersonen mussten das Gelesene deutlich
aussprechen, was stenographisch notirt wurde. Als Versuchspersonen dienten drei
geistig Gesunde und drei geistig Kranke, die Alle über den Zweck der Unter-
suchungen unterrichtet waren. Die Lebensweise derselben war möglichst gleich-
massig, 12 Stunden vor jedem Experiment wurde kein Alcohol, 4 Stunden vorher
kein Thee und Kaffee genommen. Es wird untenchieden : richtig gelesen, fabch
gelesen und ausgelassen.
Die Besprechung beginnt mit den „sinnlosen Silben'', dann werden die
„Versache mit einsilbigen Wörtern'' und die „Versuche mit zwei-
silbigen Wörtern*' behandelt. Daran wird ein Ueberbliok über „Uebung,
Gewölinung, Gedächtnis s** geknüpft, weiterhin folgt eine Erörterung über
„Ermndang, Anregung, Antrieb". Das VII. Kapitel enthält eine Abhand-
lang über „die persönlichen Verschiedenheiten der Auffassungs-
64 Referate und Besprechungen.
fähigkeit*^ und im YIII. folgt schliesslich eine iiZusammenfassung'' der Resultat«
und der gewonnenen Erfahrungen.
Die Versuchsergebnisse sind in zahlreichen Tabellen niedergelegt, und die
Folgerungen aus denselben einzeln gezogen. Es liegt nicht im Kahmen dieses
Referats, dieselben in ihren Einzelheiten wiederzugeben. Es mögen hier nur die
in der „Zusammenfassung^ gegebenen Scblussbetrachtungen kurz erwähnt werden.
Beim Auffassungsvorgang kommt die Schnelligkeit der Wahrnehmung und
die Gliederung der Auffassung in Betracht. Die Zuverlässigkeit der
Auffassung wird durch die sinnliche Schärfe der Wahrnehmung und die Beein-
flussung durch Vorstellungen bedingt. Weiterhin spielen noch eine Rolle das
Bestreben nach einer möglichst guten Auffassungsleitung, die
üebung, die Ermüdung, der Antrieb und das Gredächtniss. — Ein be-
stimmtes unterscheidendes Verhalten zwischen Gesunden und Kranken lassen die
angestellten Versuche nicht zu. Lautenbach- Berlin.
Wilhelm Weygandt, lieber den Einfluss des Arbeitswechsels auf
fortlaufende geistige Arbeit. Psychologische Arbeiten von Emil Krae-
pelin. Zweiter Band. 1. Heft. S. 118—202. Leipzig, Verlag von Wilhelm
Engelmann 1897.
Zur Beantwortung der obigen allgemein interessanten Erage hat Verf. eine
grosse Reihe von Versuchen an 97 Tagen von je ^ji Stunden Arbeitszeit gemacht.
Ausser der eigenen Person des Verf.'s dienten noch ein Arzt und vier Studenten
als Versuchspersonen. Alkohol und Excitantien wurden vermieden. Als Material
der geistigen Arbeit wurden die bekannten Methoden gewählt: „Addiren von Zahlen,
Auswendiglernen 12-8telliger Zahlen und 12-s teiliger sinnloser Silbenreihen, Sachen
eines bestimmten Buchstabens in einem zusammenhängenden Text, Lesen fremd-
sprachlicher Texte: Lateinisch, Italienisch, Ungarisch, Hebräisch, ferner Nieder-
schreiben bekannter Buchstabenfolgen." Die einzelnen Methoden wurden sowohl
als Grundarbeit, wie als Einschiebearbeit benutzt. Zwischen manchen Versuchen
wurden auch wirkliche Pausen eingeschoben.
Das II. Capitel behandelt die Versuche von A, worunter wohl der Verf. selbst
zu' verstehen ist. Die Resultate sind in 36 Tabellen niederlegt und an dieselben
die zugehörigen Erörteningen geknüpft. Daran schliesst sich im III. Theil die
Wiedergabe der Versuchsergebnisse der übrigen Personen, dieselben werden eben-
falls durch Tafeln erläutert und die Resultate besprochen. In der „Zusammen-
fassung der Ergebnisse" hebt der Verf. vor Allem hervor, dasa der Arbcits-
wechsel „nicht unter allen Umständen eine Verbesserung der Leistung bedingt^ ^)
dass nicht die Art der Arbeit maassgebend ist für den Erfolg des Wechsels sondern
die Schwere" derselben. Die Entscheidung aber, ob eine Arbeit schwerer oder
leichter ist als eine andere, ist individuell verschieden und wird durch die Uebong
wesentlich beeinflusst. Lautenbach -Berlin.
*) Diese Ergebnisse stehen mit den Ansichten vieler Schulmänner, wie Verf.
selbst bemerkt, theilweise in Widerspruch. Obwohl die experimentell gefundenen
Resultate in pädago^scher Hinsicht werthvoU erscheinen, so lassen sie doch eine
Frage unberücksichtigt, welche für die Schule von hervorragender Bedeutung ist,
d. h. ob das durch das Experiment Erlernte auch im Gedächtniss ebenso haften
bleibt, wie es für Schüler-Zwecke nöthig ist.
lieber das Studium der Talente.
Von
P. J. Moblns.
Es ist ein grosses Verdienst Lombroso's, die Frage nach dem
genialen Menschen ernstlich erörtert zu haben. Er stellte ihn als
Ergebniss der Entartung, als eine zwar in vieler Hinsicht erfreuliche
und wohlthätige, aber doch dem Menschen der Krankenstube und dem
des G-efängnisses verwandte Abart dar. Seine Methode bestand darin,
dass er alle durch das aUgemeine XJrtheil als genial bezeichneten
Menschen zusammenfasste und dann ihre Eigenthümlichkeiten, ihre Ab-
weichungen von der Norm zu erkennen suchte.
Gegen dieses Verfahren lassen sich einige Einwände erheben.
Erstens muss man sich sagen, dass das Unternehmen ohne Vorarbeiten
kaum aaszufuhren ist, dass die Erörterung der Frage sozusagen aus
freier Hand, wie sieLombroso unternahm, nothwendig zu mangelhaft
begriindeten Urtheilen führen muss. Wir sind, von Ausnahmefallen
abgesehen, auf das biographische Material angewiesen. Dieses aber
ist einerseits entsetzlich gross, sodass es ein Einzelner schlechterdings
nicht verarbeiten kann, genügt andererseits unseren Bedürfnissen sehr
oft nicht, denn es ist lückenhaft und gerade in Beziehung auf die uns
interessirenden Fragen ohne Sachverständniss, vielfach mit der Absicht
der Vertuschung, Verheimlichung gearbeitet. Man müsste demnach
zuerst daran gehen, wenigstens die wichtigsten Fälle durch Einzelunter-
suchnngen in helleres Licht zu bringen. Diese Aufgabe ist ja, mehr
oder minder methodisch und erfolgreich, von Verschiedenen in Angriff
genommen worden, aber es fehlt doch noch viel und wir werden lange
zu thun haben, bis man von genügenden Unterlagen wird reden können.
Zeitscbrift fOx Hypnotismiis. X. 5
66 P- J- Möbius.
Vielleicht nicht weniger wichtig als der erste Einwand ist das Be-
denken, ob es zweckmässig sei, nur vom genialen Menschen schlechtweg
zn sprechen. Wir pflegen unter Genie das schöpferische Talent za
verstehen. Talent (Talanton, das Zugewogene) ist eine Begabung, die
einen Vorzug begründet, eine Fähigkeit, die die Masse nicht hat. Ea
giebt sich kund durch Leistungen und sind diese „unerhört", d. h.
kommt etwas noch nicht Dagewesenes zu Stande, so reden wir Yon
Genie (gignere). Es ist ersichtlich, dass eine scharfe Grenze zwischen
Talent und Genie nicht möglich ist, denn es hat nicht nur die Beur-
theilung, ob die Leistung genial sei oder nicht, ihre Schwierigkeiten,
sondern bei genauerer Betrachtung erkennt man auch, dass in Wirk-
lichkeit jede tüchtige Talent-Leistung etwas Neues enthält, dass jedes
Talent in einem gewissen Grade genial ist. Es kommt also alles anf
einen Gradunterschied an. Femer ¥d88en wir, dass es nicht Ein Grenie
giebt, sondern ebenso viele Genie -Arten wie Talente und dass die
einzelnen Gaben recht verschiedener Art sind. Nehmen wir an, die
menschlichen Fähigkeiten seien ein Gehölz, so erheben sich aus dem
niedrigen Unterholze einzelne Bäume, hier eine Eiche, dort eine Birke,
dort ein Apfelbaum u. s. f. Die Bäume sind die Talente und ihre
Höhe entspricht der Grösse der Fähigkeiten, d. h. die Gipfel sind die
genialen Fähigkeiten. Besprechen wir nach Lombroso's Art alle
Genies, so schneiden wir sozusagen alle Gipfel ab und haben nun
Eichengipfel, Birkengipfel u. s. w., alle sind Gipfel, aber sonst schwer
direct vergleichbar. Es leuchtet ein, dass eigentlich das natürliche
Verfahren darin besteht, einen Baum nach dem anderen, vom Fusse
bis zum Gipfel zu untersuchen und den Gipfel als Theil des Baumes
zu begreifen. Ohne Bild, wir werden gut thun, das Genie nicht für
sich zu betrachten, sondern die Untersuchung so anzustellen, dass wir
die Erscheinung und die Bedingungen eines Talentes zu erforschen
suchen. Die Arbeit zerfallt dann in so viele Theile, als Talente unter-
schieden werden.
Beide Forderungen, das Verlangen nach Einzeluntersuchungen und
das nach dem Ausgehen von bestimmten Fähigkeiten aus, werden so
zu erfüllen sein, dass bei der Besprechung jedes Talentes die möglichst
sorgfaltige Prüfung der Menschen, bei denen das Talent im höchsten
Grade beobachtet worden ist, den eigentlichen Kern der Arbeit aus-
macht.
Will man den Plan entwerfen, so stösst einem natürlich die Frage
auf, welche Talente es denn nun gebe. Jeder kann eine Reihe ^nm
lieber das Studium der Talente. 67
Fähigkeiten aufzählen, die ohne Widerspruch als selbständige Talente
Yon Allen angesehen werden. Indessen die Eorderung, alle mensch-
lichen Talente zu nennen , führt auf bedenkliebe Schwierigkeiten.
Nemlich so. Wir unterscheiden die menschlichen Thätigkeiten nach
ihren Objecten und das geht ganz glatt ab. Ob aber verschiedenen
Thätigkeiten yerschiedene Fähigkeiten entsprechen, das ist oft recht
schwer zu sagen, weil wir die Fähigkeiten nicht wie die Objecte wahr-
nehmen können, sondern auf sie nur schliessen. Eine Fähigkeit kann
zn yerschiedenen Thätigkeiten tauglich machen und manche Thätig-
keiten können mehrere Fähigkeiten erfordern. Zum Tröste ist jedoch
das zu sagen, dass die Erkenntniss aller Fähigkeiten durchaus nicht
die Voraussetzung der Arbeit bildet. Wir können unbedenklich TOn
den allgemein anerkannten Talenten ausgehen und bei den zweifel-
haften zusehen, wie weit wir kommen. Vielleicht ist es zweckmässig,
noch daran zu erinnern, dass die Beobachtung der Talente, d. h. der
über das Normale hinaus gesteigerten Fähigkeiten, ein wichtiges Mittel
zur Unterscheidung der Fähigkeiten ist und dass die Bezeichnung der
Fähigkeiten oft von der Talentform entnommen wird.
Zuerst denkt man, wenn Ton Talenten gesprochen wird, an die
künstlerischen Talente. Wenn auch nicht jeder Kunst ein bestimmtes
Talent entsprechen mag, so ist doch bei einigen die Sache nicht zweifel-
haft. Da haben wir die Musik und ihr dürfen wir, ohne in falschen
Bealismus zu verfallen, ein musikalisches Talent entsprechen lassen.
Jeder giebt zu, dass das musikalische Vermögen ein Ding für sich ist,
dass es durchaus nicht aus den anderen Geistesfähigkeiten abgeleitet
werden kann, diesen nicht proportional ist und nicht willkürlich er-
zeugt werden kann, fiier wie bei den anderen Talenten ist darauf
auftnerksam zu machen, dass man die Begriffe nicht zu eng fassen
dar^ dass die Fähigkeit, die bei einer gewissen Stärke Talent wird,
nicht nur dem Ausübenden, sondern auch dem Aufnehmenden oder
Empfangenden zukonmit. Musikalisch ist, auch nach dem Sprachge-
brauche, nicht nur der, der Musik macht, sondern auch der, der sich
an Musik erfreut. Das musikalische Vermögen ist offenbar eine all-
gemein-menschliche Eigenschaft; wie der Mensch dazu gekonmien ist,
wissen wir nicht, aber soweit wir die Sache verfolgen können, haben
alle Menschen diese Anlage. Freilich giebt es der Stufen viele. In
unseren Verhältnissen dürfte man als normal etwa das ansehen, dass
einer nicht nur durch schöne Töne, durch Melodie und Rhythmus er-
freut wird, sondern auch nachsingen kann und dabei einen gewissen
6*
68 P. J. Möbius.
Orad Ton musikalischem Gehör imd Gedächtniss zeigt. Wenigstens
können in den Schulen fast alle Elinder am Musikunterricht theil-
nehmen und die Mehrzahl ist sogar des mehrstimmigen Gesanges fabig.
Die untere Grenze des Talentes ist hier wie überall nicht mit Sicher-
heit zu bestimmen. In den unteren Regionen spielen die umstände,
Beispiel y Erziehung, zufallige Verknüpfungen, eine grosse Bolle.
Irgend erhebliches Talent wird sich am ehesten durch das freiwillige
Verlangen nach Musik, den Musikhunger kundgeben. Das Verlangen
bezieht sich sowohl auf Musikmachen als auf Musikhören. Weiterhin
ist eine deutliche Stufe dadurch gegeben, dass unter Tielen Ausübenden
wenige Neuschaffende sind, insofern als die Fähigkeit, zu componiren,
sehr viel seltener ist, als die anderen musikalisdien Fähigkeiten. Man
sieht hier gut, wie schwer die Abgrenzung des Genies nach unten ist.
Alle Componisten, die nicht nur nach Regeln arbeiten, sogenannte
Capellmeistermusik machen, sind Schaffende, doch wird man sich kaum
entschliessen, alle als Genies zu bezeichnen. Andererseits giebt es
unter denen, die nicht componiren können. Manche, die mit Hecht
genial genannt werden, wie denn thatsächlich sehr häufig von genialen
ausübenden Künstlern gesprochen wird. Vielleicht könnte man auch
von genialen Hörern reden. Die Gestaltungen eines Talentes sind
eben verschieden, ohne dass wir das Wie und Warum recht verstanden.
Im vorliegenden Falle liegt es nahe, deshalb, weil es unter den Weibern
ausgezeichnete ausübende Künstler, aber keine Componisten giebt, das
Talent der Composition mit der männlichen Eigenart in Beziehung zu
bringen. Thatsächlich ist die Initiative Sache des Mannes und man
kann daher im eigentlichen Sinne des Wortes das Genie auch als
ausschliesslich männliche Eigenschaft bezeichnen. Aber der Sprach-
gebrauch stimmt eben mit der Auffassung des Genies als Zeugungs-
kraft nicht ganz überein, da er einerseits nur Neuschaffungen von
einiger Erheblichkeit die Bezeichnung genial zukommen lässt, anderer-
seits diese auch Leistungen nicht versagt, die strenggenommen nur auf
einer hochgesteigerten Beceptivität beruhen. Man könnte auch meinen,
dass beim ausübenden Musiker eigentlich ein zweites Talent, nemUch
das schauspielerische, zu der musikalischen Anlage hinzutrete und dass
die Vortrefflichkeit der Leistung eigentlich darauf zu beziehen sei. Es
mag das Nähere vorläufig dahingestellt sein. Auf jeden Fall hat die
strenge Scheidung zwischen den Musikalischen überhaupt und den mu-
sikalisch Producirenden bei keiner anderen Kunst ein Analogon.
lieber das Studium der Talente. 69
Mehr Schwierigkeiten als die Musik machen die bildenden Künste.
Dass Malerei und Bildhauerei in nahen Beziehungen stehen, ist zweifel-
los, aber hängt es nur von den äusseren Umständen ab, ob Einer
Maler oder Bildhauer wird, oder ist es in dem einen Falle das Talent
für bildende Künste mit anderen Geisteseigenschaften verknüpft als
im anderen Falle, oder darf man direct von einem Maltalent, einem
plastischen Talent reden? Betrachtet man die Maler für sich, so sieht
man, dass auch da Unterschiede vorhanden sind. Zwar, dass der Eine
Historien malt, der Andere Landschaften oder etwas anderes, das
hängt wohl zum Theile von den Umständen, zum grösseren Theile von
der allgemeinen Geistesbeschaffenheit ab, aber bei dem Fehlen oder
Vorhandensein des Farbensinnes ist es doch anders. Die coloristische
Befähigung dürfte als ursprüngliches Talent anzusehen sein. Dem
Farbensinne könnte man etwa einen „Fonnensinn^ zur Seite stellen,
indessen ist damit doch die Sache nicht erledigt, da jemand ein guter
Zeichner sein kann, ohne sich zum Bildhauer zu eignen. Es muss also
beim letzteren noch etwas dazu kommen, ein etwas, das vielleicht mit
dem Talente des Architecten verwandt ist. Alle Unterschiede können
nicht daran hindern, die Befähigung für bildende Künste als eine von
den anderen Talenten abzutrennende Anlage, oder Gruppe von Anlagen,
wenn man will, zu fassen. Immer handelt es sich darum, aus Ge-
sehenem ein Bild zu machen, und die Erfahrung zeigt, dass nicht
selten derselbe Mensch malt und formt, dass bei jedem Bildner wenig-
stens das Yerständniss nach beiden Sichtungen offen ist, während andere
Individuen, ja ganze Völker allem Bildwesen abgeneigt sind. Ganz
freilich fehlt bei normalen Menschen die Neigung, nachzubilden, wohl
niemals, aber sie scheint im Durchschnitte schwächer zu sein als die
musikalische Neigung. Deutlicher zeigt sich das noch bei der Freude
an dieser oder jener Kunst. Nicht nur Freude, sondern leidenschaft-
liches Verlangen sogar der Massen wird der Musik gewidmet, während
immer nur Wenige ein wirkliches Bedürfniss zu den Erzeugnissen der
bildenden Kunst fuhrt. Auch hier kann die Erziehung etwas thun,
zur Förderung sowohl des Verständnisses als der Ausfuhrung, viel aber
ist es nicht. Wegen der relativen Seltenheit des Talentes heben sich
die unteren Grade ziemlich deutlich von der Umgebung ab, dagegen
sind die hohen Grade hier schwerer abzutrennen als bei der Musik.
Alle, die einen höheren Grad des Talentes haben, malen oder formen,
ob aber in diesen Bildungen ein schöpferischer Geist sich kundgiebt,
das isty abgesehen von den wenigen ganz grossen Genies, oft nicht
70 P. J. Möbius.
ohne Weiteres zu erkennen, vielmehr erfordert die richtige Beortheilnng
selbst einen gewissen Grad des Talentes.
Eine eigene Stellung nimmt die Architectur ein. Sie ist eigeotliclL
ein Kunsthandwerky insofern als sie den zu nützlichen Zwecken dienenden
Gebäuden eine schöne Form giebt, ein architectonisches Gebilde, das
nur um der Kunst willen dawfire, Missfallen erregen würde. Das
Handwerk, auf dem hier die Kunst ruht, ist yomehm genug, da es in
der practischen Anwendung einer der Tomehmsten Wissenschaften, der
Mechanik besteht« So kommt es, dass die erste Voraussetzung beim
höheren Maurer oder Architecten ein wissenschaftliches Talent, nemlich
das für practische Mechanik, kurz der Bausinn, ist. Zum Künsder
wird der Architect offenbar erst dann, wenn er ausser dem Bausinne
auch das Talent der bildenden Künste hat, wobei freilich zu bemerken
ist, dass diese Verknüpfung nicht als ein Zufall, sondern als eine darch
die Naturgesetze begünstigte Verbindung anzusehen ist. Das Architectur-
Talent, eines der selteneren Talente, wird in seinen unteren Graden
an der Empfänglichkeit für architectonische Schönheiten erkannt, seine
Ausübung ist natürlich nur unter bestimmten Bedingungen und nach
geeigneter Erziehung möglich. Eine Beziehung zur Musik könnte man
darin finden, dass beide Künste nicht nachahmen, sondern mathemati-
sche Künste sind, aber durch dergleichen Betrachtungen wird nicht
bewiesen, dass das Architectur-Talent und das für Musik thatsächlich
verknüpft sind, da solche Fragen nicht theoretisch, sondern nur durch
Beobachtung zu lösen sind.
Engere Beziehungen zur Musik hat zweifellos die Dichtkunst
Beide sind von Hause aus verwandt und beide be¥rirken Stimmungen,
beide sind populär und das Talent zu ihnen ist relativ häufig. In ein«
fachen Kulturzuständen wird das Wort von Melodie und Rhythmus
nicht getrennt, Sänger und Dichter sind Eine Person. Jedoch ist mit
Bestimmtheit anzunehmen, dass das musikalische und das dichterische
Talent von vornherein zwei verschiedene Fähigkeiten seien. Will man
jenes bestimmen, so muss man wohl sagen, es sei die Fähigkeit, einen
Vorgang so mit Worten wiederzugeben, dass auf den persönlich nicht
betheiligten Hörenden ein Gefühl oder ein Affect übergetragen wird.
Eine solche Fähigkeit setzt das dichterische Empfinden voraus, aber
dieses allein macht die Dichtkunst noch nicht es kann als Vorstufe
betrachtet werden und man kann sagen, dass die unterste Stufe be-
stehe, in der Möglichkeit durch den Dichter erregt zu werden, die
mittlere in der, durch die Vorgänge selbst wie durch ein Gedicht er-
Ueber da« Studium der Talente. 71
regt zu werden, die obere in der acÜTen dichterischen Fähigkeit Er-
&hnuig8geinä88 ist mit dieser die dichterische Phantasie, das Erdichten
yerbunden, d. h. der Dichter wird getrieben, aus dem Wahrgenommenen
Neues zu formen, Vorgänge zu ersinnen, die dichterisch wirken.
Neben den grossen künstlerischen Talenten wären zunächst noch
die wissenschaftlichen, besonders das mathematische und das philolo-
gische, sowie die practischen Talente zn erwähnen. Indessen soll hier
keine Aufzählung aller Talente versucht werden, es genügt auf die
ästhetischen Talente als auf Beispiele hingewiesen zu haben.
Bei jedem Talente wird die Untersuchung imgefähr in derselben
Weise anzustellen sein. Das eigentliche Material muss immer eine
Sammlung von Biographieen bilden. In der berechtigten Voraussetzung,
dass die Eigenschaften und Bedingungen um so leichter erkennbar sein
werden, je stärker das Talent ist, wird man zuerst die herrorragendsten
Vertreter eines Faches berücksichtigen, indessen dürfte es rathsam
sein, auch Nachrichten über mittlere Geister zu sammeln, damit man
▼ergleichen könne und nicht vom Genie auf den Durchschnittsmenschen
überspringen müsse. Natürlich wäre es noch besser, wenn man an
die Stelle der Biographieen eigene Beobachtungen setzen könnte, in-
dessen wird dies doch nur ausnahmeweise möglich sein und die Be-
schränkung auf sachverständige Schilderungen ist thatsächlich unaus-
führbar.
Die wichtigste Frage ist die, wie entsteht das Talent? Da schon
die bisherigen Untersuchungen es ausser Zweifel gesetzt haben, dass
jedes Talent angeboren ist, muss unsere Aufinerksamkeit sich auf die
Beschaffenheit der Familie richten. Wird das Talent vererbt, wird es
von väterlicher oder von mütterlicher Seite, oder von beiden Seiten
Tererbt? Hat keins der Eltern das gleiche Talent, welche ihrer Eigen-
schaften kommen dann in Betracht? Liegt Atavismus vor, oder kommt
es auf eine besondere Mischung der elterlichen Eigenschaften an?
Wenn sich ein Talent nicht forterbt, woran liegt es ? ü. s. f. Wahrschein-^
höh kommen auf diesem Wege Verschiedenheiten und Verwandtschaften
der einzelnen Talente zu Tage. Es scheint, dass bei manchen, wenn
Vererbung nachzuweisen ist, diese nur vom Vater ausgeht, während
bei anderen auch die Mutter Trägerin der Gabe sein kann. Anderer-
seits scheint sich ein Zusammenhang zwischen ganz verschiedenen Ta-
lenten derart zu ergeben, dass sie einander bei den verschiedenen Ge-
nerationen vertreten. Offenbar können solche Erörterungen auch
practiseh bedeutsam werden, denn weiss man, welche elterlichen Eigen-
72 P. J. Möbiua.
Schäften förderlich, welche nachtheilig sind, so kann die Züchtung Yon
Talenten versucht werden. Auch die Frage nach den weiteren um*
ständen, Klima, Basse, Kulturstufe, ist zu erwägen, obwohl sie yon
untergeordneter Bedeutung sein mag.
Im Leben der Begabten ist begreiflicherweise die Jugend von be-
sonderer Bedeutung. Bei allen grossen Talenten ist es die Begel, dass
die Begabung frühzeitig und von selbst sich kund giebt, wie eine Quelle
empor sprudelt und nicht selten mit elementarer Kraft alle Hindernisse
durchbricht. Diese Eegel hat Ausnahmen, denn es giebt sogar Genies,
die sich erst ziemlich spät gefunden haben, aber sie besteht danmi
doch. Vielleicht ist die Frühreife nicht bei allen Talenten in gleicher
Weise zu finden. Ganz erstaunlich sind die Berichte über die musi-
kalischen Bänder (z. B. Händel); ihre Leistungen sind geradezu un-
fassbar und es macht den Eindruck, als ob eine Lispiration im alten
Sinne des Wortes stattfände. Die Beobachtung der Kinder beweist
nicht nur das Angeborensein der Talente, sondern auch deren Oigan-
Natur, wenn man so sagen darf, d. h. ihre Selbständigkeit gegenüber
den anderen Geistesfahigkeiten. Denn wenn ein Eond, das sonst in
allen Beziehungen anderen Kindern gleicht, in Einer Beziehung das
leistet, was sonst nur ein Jüngling oder ein Mann leistet, so muss es
eben in dieser Beziehung ein besonderes Organ haben.
Weiterhin wäre wohl besonders darauf zu achten, ob bestimmte
Talente immer oder oft mit bestimmten anderen Fähigkeiten verbunden
sind, ob ein Talent andere Anlagen relativ ausschliesst, welche Talente
beisammen gefunden werden, welche nicht. Von vornherein pflegen
die Menschen zu Urtheilen a priori zu neigen. Man nimmt etwa an,
das Verlangen nach Schönheit sei das Wesen des Künstlers, oder
Genie sei soviel wie grosser Geist u. s. f. Die Erfahrung zeigt aber,
dass es jene abstracto Kunstliebe nicht giebt, dass vielmehr die Liebe
nur soweit reicht wie das persönliche Talent. So spricht z. B. B.
Cellini von dem „verfluchten Hörnchen" und viele Musiker sind für
die bildende Kunst ganz gleichgiltig. Die Erfahrung zeigt auch, dass
der nach einer Richtung hin Hochbegabte nach anderen Richtungen
hin recht schwach begabt sein kann, und zwar in moralischer Hinsicht
sowohl wie in intellectueller, dass es Menschen, die sich nach allen
Richtungen hin auszeichneten, gar nicht giebt. Das Geschwätz von
„allesumfassenden Geistern" sollte ganz aufhören. Weder das Wissen
noch das Können seiner Zeit kann ein Mensch in sich vereinigen.
Goethe z. B., von dessen Universalität viel gefabelt wird, war musi-
Ueber das Studium der Talente. 73
k&Iisch nur wenig befähigt, er liebte zwar die bildenden Künste, konnte
in ihnen aber trotz aller Mühe nichts leisten, wie seine recht schwachen
Zeichnungen beweisen, er ermangelte des mathematischen Talentes
gänzlich. Auch die Fragen, auf die oben hingewiesen wurde, in wie-
weit den einzelnen Kunstgattungen einzelne Talente entsprechen, in
wieweit dasselbe Talent in Verbindungen mit anderen Geistesf&higkeiten
Verschiedenartiges leisten kann, werden nicht durch Speculation, son-
dern durch Beobachtung und Vergleichung zu lösen sein.
unter den übrigbleibenden Fragen interessirt am meisten die nach
dem Pathologischen. Es ist unzulässig, das Genie in dem Sinne als
etwas Pathologisches zu bezeichnen, wie es Lombroso versucht hat.
Das Talent ist nichts als eine Steigerung einer allen Menschen zu-
kommenden Fähigkeit und das Qteme ist nichts als ein hoher Grad
des Talentes. Wäre das Talent in Lombroso's Sinne pathologisch,
so würde es ein Glied der endogenen Syndrom-Gruppen sein, etwa bei
dem Nachkommen eines Paranoiakranken auftreten und bei seinen
Kindern als Hypochondrie oder Hysterie wieder erscheinen. So ist es
offenbar nicht. Dagegen wird die Beziehung zum Pathologischen be-
greiflich, wenn man bedenkt, dass diesem jede Einseitigkeit verwandt
ist. Im Gehimmenschen ist das normale Verhältniss zwischen geistiger
und anderweiter Thätigkeit gestört, im Talentmenschen überdem das
Verhältniss zvdschen den einzelnen Geistesfahigkeiten. Je übermäch-
tiger ein Talent ist, um so häufiger wird es zu ernsthaften Störungen
des Gleichgewichtes kommen. Es wird die Gefahr nicht gerade mit
der Grösse des Talentes wachsen, sondern mit der Schwäche der
anderen Fähigkeiten, d. h. der, der bei im übrigen massigen Fähig-
keiten Ein grosses Talent hat, oder gar dessen Talent überhaupt nur
durch Defect an anderen Fähigkeiten ermöglicht worden ist, wird
mehr bedroht sein als ein Mensch mit durchschnittlich grossen Geistes-
fahigkeiten. Das Talent oder Genie gehört demnach nicht zu den
Syndromen, aber es gehört, insofern es auf einer Störung des normalen
Gleichgewichtes beruht, zu den Voraussetzungen jener, ist also selbst
in einem weiteren Sinne pathologisch. Das will uns anfänglich nicht
recht einleuchten, weil wir gewohnt sind, das Pathologische als etwas
absolut Schlechtes anzusehen. Man kann sich aber so trösten, dass
man sich sagt, die Natur konnte mit ihren Mitteln das ungewöhnlich
Kostbare nur erwerben, indem sie Schulden machte, d. h. es ging
über die Menschenmöglichkeit vom normalen Menschen die höchsten
Leistungen zu verlangen. Auch bei diesen Erörterungen ist es wichtig,
74 P« J- Möbius. Ueber das Studium der Talente.
das Genie nicht Tom Talent abzutrennen, weil die Verhältnisse hier
die Verhältnisse dort erläutern und weil die Trennung in qualitative
Gruppen in Einsieht auf die Frage, ob in pathologischer Hinsicht di
Art des Talentes Bedeutung habe, nothwendig ist Diese Frage ist bi
jetzt noch nicht zu beantworten, obwohl man yermuthen darf, dass bei
manchen Talenten das Pathologische eine grössere Rolle spiele
anderen.
Es mag jetzt bei diesen Andeutungen sein Bewenden haben,
Wesentliche bleibt das, dass wir einsehen : es giebt nicht Ein Genie,
sowenig wie es Eine Intelligenz oder Einen Willen giebt, sondern wir
sprechen dann Ton Genie, wenn bestimmte Triebe, bei einer im All-
gemeinen günstigen Organisation, ungewöhnlich hoch entwickelt sind
Es giebt so viele Arten Ton Genie, als es ursprüngliche Talente giebt,
und deshalb ist das Studium der einzelnen Talente unentbehrlich znr
Kenntniss des genialen Menschen.
Zur Frage der epileptischen Amnesie.
Von
Dr. L. Y. Mnralt-Burghölzli (Zürich).
Noch in einer ganzen Anzahl neuerer Pnblicationen ist der Stand-
punkt yertreten, dass die Amnesie nach epileptischen Störungen ir-
reparabel sei, dass sie auf organischer Läsion der Himsubstanz durch
die Anfalle beruhe und als psychische Parallelerscheinung dieser ma-
teriellen Veränderung einer Restitution nicht zugänglich sei. Freilich
mehren sich andererseits zusehends die Stimmen, welche die Unheil«
harkeit der epileptischen Amnesie bestreiten und festgestellt wissen
wollen, dass die Erinnerung an epileptische Anfalle, Dämmerzustände,
Aequivalente wohl meistens ganz erloschen ist, dass es aber doch Falle
giebt, in denen sie entweder in lückenhafter und nebelhafter Weise
schon kurz nach dem krankhaften Vorgang nicht fehlt, oder langsam
in der folgenden Zeit spontan auftaucht, oder durch Hypermnesie
in der Hypnose wieder geweckt werden kann. Man ist denn auch in
der forensischen Psychiatrie daTon zurückgekommen, als Beweis für
das Bestehen epileptischer Störungen das Vorhandensein einer totalen,
zeitlich umschriebenen Amnesie geradezu zu fordern und ebenso wenig
ist man umgekehrt beim gegenwärtigen Stande unseres Wissens be-
rechtigt, aus einer solchen Amnesie auf Epilepsie zu schliessen.
Jedenfalls ist die Frage nach dem diagnostischen Werthe und der
klinischen Bedeutung der Amnesie für die Epilepsie noch wenig abge-
klärt und über das Zustandekommen derselben, über den der Amnesie
zu Grunde liegenden pathologisch-physiologischen Gehirnyorgang können
höchstens Vermuthungen und Theorien aufgestellt werden. Noch
neuestens kommt M. PauP) bei kritischer Sichtung und Bearbeitung
^) H. Paul, Beiträge zur Präge der retrograden Amnesie. Archiv für Psy-
chiatrie Bd. 32 Heft 1.
76 Ij. y. Muralt.
der in der Literatur niedergelegten Fälle Ton retrograder Amnesie
einschliesslich derjenigen nach epileptischen Anfällen zu dem Schlüsse,
dass sich zur Erklärung des Bewusstseinsverlustes wohl einige Anhalts-
punkte bieten, — Aenderungen in der Circulation bei epileptischen und
eclamptischen Anfallen — dass sich die Art des Vorganges selbst
allerdings unserer Erkenntniss entzieht ; in höherem Maasse gelte dieser
Mangel an Erkenntniss für die den Bewusstseinsverlust überdauernde
Amnesie.
Es ist wohl keine der uns zur Verfügung stehenden Untersuchungs-
methoden so geeignet, auf dieses dunkle Gebiet Licht zu werfen, wie
die Hypnose» speciell die Untersuchung des Kranken im Zustande der
durch hypnotische Suggestion erzeugten Hypermnesie. Meines Wissens
ist der erste Versuch in dieser Richtung vonGraeter^) unter Foreis
Leitung vorgenommen worden. Es handelte sich um einen Fall von
Alcohol-Epilepsie, bei welchem nach einem alcohol-epileptischen Deli-
rium mit nachherigem stuporösem Dämmerzustand eine 7 tägige totale^
zum Theil retrograde Amnesie constatirt wurde. Es gelang nun
Graeter nicht nur, die Erinnerung an den retrograden Theü der
Amnesie in Hypnose wieder wachzurufen, sondern auch aus der Zeit
des Deliriums selbst und des Dämmerzustandes waren alle Erlebnisse,
wenn auch schwieriger, durch die hypnotische Hypermnesie wieder ins
"Wachbewusstsein zurückzurufen. Ueberdies war es ihm möglich, zwei
kurze Gedächtnisslücken, die sich auf pathologische Zustände aus
früheren Jahren bezogen, mit demselben Verfahren zu heben. Bezüg-
lich der Frage, ob es sich um eine wirkliche, nicht simulirte Anmesie
gehandelt habe und ob die Wiederbelebung der Erinnerung nicht auch
spontan eingetreten wäre, sondern wirklich der hypnotischen Suggestion
zu verdanken sei, ist Graeter's Fall wohl ein wandsfrei. Dagegen
könnten doch Zweifel darüber bestehen, ob die Amnesie hier eine
epileptische gewesen ist. Aus der sorgfältigen Krankengeschichte ist
mit aller wünschbaren Klarheit zu sehen, dass der Kranke die epUep-
tischen Dauersymptome den epileptischen Character in ausgeprägtester
Weise besass. Dagegen waren von den periodisch auftretenden epilep-
tischen Störungen, nur Anfalle von Kopfweh mit psychischer Depression
und Dipsomanie, dann femer pathologische Bäusche tmd das den
Mittelpunkt der Krankengeschichte bildende alcohol- epileptische De-
^) G-raeter, Ein FaU von epUeptischer Amnesie durch Hypanmesie beseitigt.
Diese Zeitschrift, Bd. Vni.
Zur Frage der epileptischen Amnesie. 77
üriam mit totaler Amnesie vorbanden ; die epileptischen Krampfanfalle
fehlten. Es scheint mir daher der Einwand einigermaassen berechtigt
zu sein, dass man nicht ausschliessen könne, es habe sich bei diesem
Falle um eine Intoxicationsamnesie gehandelt, eine Amnesie, wie sie
auch bei llichtepileptischen nach pathologischen Eauschzuständen und
Alcoholdelirien oder bei anderen Intoxicationszuständen, z. B. Kohlen-
oxydvergiftungen znr Beobachtung gelangt.
Später hat Hilger^) versucht in der Hypnose eine psychische
Thätigkeit vor, während und nach den Anfallen zu reproduciren. Es
gelang ihm in mehreren seiner Fälle die Erinnerungen an Hallucina-
tionen vor oder während der Anfälle in somnambuler Hypnose wach-
zurufen, doch sind die Resultate so bruchstückhaft und spärlich, dass
er sie gegen die Annahme einer Heilbarkeit der Anmesie bei genuiner
Epilepsie verwerthen zu müssen glaubt.
Weitere Versuche einer hypnotischen Beeinflussung der epileptischen
Anmesie sind mir in der Literatur nicht aufgestossen ; die Mittheilungen
über die epileptischen Gedächtnissstörungen und speciell über retrograde
epileptische Amnesie sind überhaupt spärlich. Es mag daher die Mit-
theilung des folgenden Falles, der in einigen Punkten specielles Inter-
esse bietet; angezeigt sein.
Krankengeschichte«
Heinrich W., geb. 1861, verheirathet, Webermeister, wird am 26. V. 99 von
seiner Frau und einem Freunde in die Heilanstalt Burghölzli gebracht. Es wird
folgende Anamnese erhoben:
Die Mutter hat eigentümlichen, aufgeregten Character. Als sie mit Patient
sdiwanger ging, starb ihr Mann durch Ertrinken. Ein 14 jähriges Töchterchen des
Patienten ist sehr reizbar, Ein Bruder des H. W. trinkt gerne.
Heinrich W. wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Aus seiner Jugend sind
keine besonderen Vorkommnisse bekannt, im Besonderen war er nie ernstlich
krank. Er war ordentlich beanlagt und erwarb sich entsprechende Schulkenntnisse.
Er musste früh sein Brot durch Arbeiten in Fabriken verdienen und bildete sich
zum Weber aus. Seit 1884 war er Webermeister in verschiedenen mechanischen
Webereien. 1885 verheirathete er sich.
Sein Character wird als gutmüthig geschildert, es gab „keinen besseren
Menschen als ihn''. Er war ein guter Familienvater, lebte solid und brav und
hielt sich frei von Trunksucht. Nur hie und da brauste er im Aerger stark auf
und wenn er nicht Gelegenheit hatte, seine Meinung zu äussern, Hess er den Zorn
lange in sich kochen. Ernstere Ereignisse riefen oft übermässige Rührung hervor^
Seinen Stellungen war er früher gewachsen und er erwarb sich gute Zeugnisse.
*) Dr. W. Hilger, Zur Casfuistik der hypnotischen Behandlung der Epilepsie^
Diese Zeitschrift, Bd IX.
78 I^- V. Muralt.
1887 wurde W. einmal in der Fabrik bewusstlos unter dem Webstuhl liegend
gefunden. Er wusste nichts von dem Vorfall. fVüher hatte sich nie etwas Aehn-
liches ereignet. Erst 1892 trat Nachts ein zweiter Anfall auf. W. fühlte sidi
eigenthümlich im Kopf, stiess dann einen Schrei aus. Nun sah ihn die Erau ,,wie
todt" daliegen, mit blutigem Schaum vor dem Munde. Erst nach einer Stunde kam
er wieder zu sich. I72 Jahre später folgte wieder ein Anfall und von da an
traten sie in Pausen von mehreren Monaten häufiger auf.
1896 ein starker Anfall; W. sank beim Essen zurück, zitterte, verdrehte die
Augen, hatte Schaum vor dem Munde. Er schlief dann einige Stunden und blieb
nadi dem Erwachen während mehreren Tagen ganz verwirrt, plauderte beständig
und hörte Musik.
Seither traten die Anfälle nach Pausen von 6 bis 8 Wochen auf und hinter-
Hessen häufig Verwirrungen von einem bis mehreren Tagen. Nach den Anfallen
erinnerte er sich nur unklar, dass etwas mit ihm passirt sei, er pflegte zu sagen,
«s sei iVirn so dumm gewesen, er habe etwas gehört. In den letzten Jahren sprach
er oft, auch ohne dass ein Anfall vorhergegangen wäre, verwirrt und hatte starren
Blick, wie abwesend. Auch wurde er immer vergesslicher, nahm körperlich and
geistig langsam ab, so dass er seine Stelle weniger gut versehen konnte. Einige
Male ging er auch zu Hause fort, man wusste nicht wohin. Einmal blieb er sogar
4 Tage weg und konnte nachher nur angeben, er habe sich im Walde umher-
getrieben. Auch seine Empfindlichkeit nahm sichtlich zu.
In der Nacht vom 19. (Freitag) auf den 20. (Samistag) Mai 99 hAtte er einen
Anfall, in der folgenden Nacht zwei solche und am 21. Mai (Pfingstsonntag) drei
Anfälle, die jeweilen mit einem Schrei begannen. Zwischen den Anföllen and
nach der letzten Serie schlief er. Erst am 23. Mai (Dienstag) erwachte er aus dem
Schlafe und erbrach sich stark, was öfters nach den Anfällen vorkam. Er ging
dann „verstummt" umher. Am 24. Mai versuchte er zu arbeiten, vermochte aber
nichts zu leisten. Am Abend war er nur mit Mühe ins Bett zu bringen, schien
aber am 25. Mai Morgens ganz ordentlich im Stande zu sein. Erst gegen Abend
begann er zu singen, Nachts stellten sich Bangigkeiten ein, er wurde inmier ver-
wirrter, sang und plauderte und drehte sich von links nacii rechts im Kreise
herum. Er äusserte Ideen, wie, er sei im Himmel, Gott und Christus stehen rar
ihm und sprechen mit ihm, seine Schwiegermutter, welche zugegen war, sei für
ihn gestorben u. dergl. Man brachte ihn in diesem Zustande am 26. Mai in die
Anstalt.
Eine Kur mit Bromkalium im Jahre 1896 hatte keinen Erfolg gehabt.
Bei der Aufnahme wurde notirt:
Grosser, magerer, knochig-eckiger Mann mit brauner Gesichtsfarbe, Schleim-
häute sehr blass. Gesicht sehr lang, hager, assymmetrisch, die linke GesichtaUilfte
liegt tiefer zurück als die rechte, die rechte Augenbraue steht etwas tiefer als
die linke. Die Nase weicht stark nach links ab, der Gaumen ist hoch gewölbt
und steil. Die sehr defecten Zähne stehen ganz unregelmässig. Die Papilleo
«ind nicht schön rund, die linke etwas weiter als die rechte, beide reagiren gut.
Sehnenreflexe an Armen und Beinen lebhaft, aber nicht verstärkt, Haatreflexe
können nicht ausgelöst werden.
Üeber beiden Lungenspitzen ist der Percuftionsschall gedämpft, das Athem-
^eräusch zum Theil abgeschwächt, zum Theil rauh, lieber den übrigen Langen-
Zur Frage der epileptischen Amnesie. 79
partien hie und da Giemen. Die LeberdSmpfnng überragt den unteren Brust-
korbrand in der rechten MamiUarlinie um einige Centimeter.
Bei der Aufnahme lehnte er mit gestrecktem Körper und Beinen steif auf
einem Stuhl, äusserte mit langsamer, auffaUend prononcirter Sprache allerhand
wirres Zeug, z. B. der liebe Gott habe ihn hierher geschickt; er liebe ihn und
aUe Schweizer. Die lieben Schweizer werden ihm helfen, sie werden ihn nicht
Terfolgen lassen Ton den schlechten Nachbarn, welche ihn tödten und das Schweizer-
land durcheinander machen wollen. Dabei flicht er immer Betheuerungen ein,
wie: j^n Jesu Christi, des Gekreuzigten Namen; bei Gott im Himmel*' u. s. w.
Sein Blick ist dabei abwesend, verklärt. Auf Befragen giebt er seinen Namen,
die Heimathgemeinde und das Geburtsjahr richtig an. Dagegen weiss er nicht, wo
er ist und woher er kommt und glaubt, wir seien im Anfang des Mai 1899. Stellt
man ihn auf, so beginnt er, sich Ton links nach rechts im Kreise zu drehen; man
kann ihn mit einiger Gewalt in dieser Bewegung aufhalten oder ihn sogar im um-
gekehrten Sinne drehen, doch setzt er die alte Bewegung losgelassen wieder fort.
27. y. Der Kranke plauderte die ganze Nacht, ist heute durch Fragen nicht
zu fiziren, delirirt in gleicher Weise wie gestern von Krieg und religiösen Dingen,
ist YÖllig desorientirt, wurde einmal stärker erregt, sprang aus dem Bett heraus
und hob beide Flügel des geschlossenen Fensters von unten aus den Angeln, so
dass es zerschmetterte. Der Blick ist immer noch ganz verklärt, die Sprache
liSsitirend, W. macht beim Sprechen starke Grimassen. Hat noch nichts gegessen.
28. Y. Letzte Nacht ruhig, heute klarer. Er beantwortet die Frage, wo er
sei, mit der Bemerkung, man habe ihm gesagt, er befinde sich im Burghölzli.
Das Datum weiss er nicht, ebensowenig, wie lange er hier ist und wer ihn ge-
bracht hat. Er sei ganz „aus dem Zeug gekommen". Am Pfingstsonntag (21. V.)
habe er einer Webermeisterversammlung beigewohnt und da schlechtes Getränk
bekommen; seither sei er krank. — Nach kaum fünfminutiger Unterhaltung wird
sein Blick wieder wirr und er beginnt von den lieben Schweizern zu sprechen.
29. y. W. delirirt heute nicht mehr, ist aber doch noch nicht ganz klar.
Er erinnert sich z. B. am Abend wohl noch an den Besuoh seiner Frau vom
Morgen, glaubt aber, es sei vor einigen Tagen gewesen.
31. y. Patient ist jetzt ganz klar. Er erinnert sich nur noch an die Weben-
meisterrersammlung, weiss aber nicht, wieviel er dort getrunken hat und wann
er nach Hause gegangen ist. Weiter wisse er gar nichts mehr, als wie man ihn
zu Hause abgeholt habe und dann die Erlebnisse von dem Morgen an, als man
ihm sagte, er sei im Burghölzli.
Man forderte W. in den folgenden Tagen häufig auf, sich recht zu besinnen,
und fragte ihn mehrmals Punkt für Punkt aus, ohne dass sich die Erinnerungs-
lücke irgendwie verändert hätte.
Am 1., 3. und 7. Juni wurde er hypnotisirt. Die Hypnosen wurden von Mal
zu Mal tiefer. Am 7. yi. konnte man mit Erfolg Geruchs- und Geschmacks-
hallueinationen und Analgesie suggeriren, auch führte W. posthypnotische Sug-
gestionen aus und war fast völlig, amnestisch nach dem Erwachen.
9. yi. Es wird vor der Hypnose nochmals der früher beschriebene Umfang
der Amnesie constatirt. In der Hypnose erhält er die Suggestion, er werde sich
genau an die Ereignisse währendl^und nach der yersammlung am Sonntag er-
innern und ebenso an den Montag. Nach dem Envachen erzählt er, er habe in
80 L* ^' Muralt.
der Webermeisterversaminlung ziemlich viel getrunken; das genaue Quantom
könne er nicht angeben, weil man gemeinsam bestellt und bezahlt habe. £r sei
erst nachts um Va ^ U^ ^^ schwerem Kopf heimgekommen. Am Montag sei ihm
dann gar nicht wohl gewesen, er habe sich müd und abgeschlagen gefühlt £r
ging dennoch zur Arbeit, die ihm aber gar nicht Ton der Hand laufen wollte.
Abends sei er zu Hause bei der Frau gewesen. Vom Dienstag wusste er gar nichts.
13. YI. In tiefer Hypnose wird ihm, nachdem man sich überzeugt hatte,
dass die Erinnerungen an die beiden vorhergehenden Tage erhalten waren, sug-
gerirt, er wisse nun auch, wie er sich am Dienstag befunden habe. Er erzählt
nach dem Erwachen: Am Dienstag habe er sich noch unwohler gefühlt, als am
Montag, sei daher den ganzen Tag zu Bett geblieben und habe sich kalte Wickel
um den ganzen Leib machen lassen. Er habe jedenfalls Fieber gehabt. An jenem
Tage sei kein Arzt bei ihm gewesen. Weiter kann er vom Dienstag nichts be-
richten. Dagegen ist ihm in der Hypnose noch in den Sinn gekommen, dass die
Meisterversammlung nicht am Sonntag, sondern am Samstag stattgefunden habe.
Am Sonntag habe er sich schon unwohl gefühlt und sei den ganzen Tag zu Hause
geblieben, um sich zu schonen.
14. VI. Um zu constatiren, ob die Meisterversammlung wirklich am Samstag
stattgefunden habe, wird nochmals auf dieselbe zurückgegriffen und dem W. in
tiefer Hypnose suggerirt, er werde sich an die Einzelheiten der Versammlung er-
innern. Er erzählt nachher, er sei mit drei anderen zur Versammlung gegangen,
welche in einem grossen Local in Adlisweil stattfand. Unterwegs hätten sie ein-
gekehrt. In der Versammlung habe der Fabrikmeister von Gattikon über die Be-
handlung einer neuen Ghardenmaschine und über einen neuen W^ebstuhl von Herrn
St. in Horgen gesprochen. Hernach folgten Vereinsgeschäfte, Berathung neuer
Statuten und einer einheitlichen Organisation. Um 11 Uhr sei Schluss gewesen;
andere hätten Bier, er weissen Wein getrunken.
Nach einer zweiten Hypnose erinnert er sich daran, dass er auf dem Heim-
weg in Langnau eingekehrt sei, einen Liter bezahlt und getanzt habe. In einer
dritten Hypnose taucht die Erinnerung auf, dass am folgenden Mittwoch Nach-
mittags der Arzt Dr. D. zu ihm gekommen sei und gesagt habe, er dürfe „nichts
Geistiges" mehr trinken.
16. VL Schon vor der Hypnose war W. schlecht disponirt, widerspradi sich
in seinen Angaben, war etwas schwerbesinnlich, fasste Fragen oft falsch auf oder
gab gar keine Antwort. Auch fror er stark, ohne dass Fieber nachzuweisen war.
Es wurde dennoch ein Versuch gemacht, in der Hypnose die Gedächtnisslücke
weiter auszufüllen und um sicherer zu gehen, wurde er in der Hypnose selbst be-
fragt, nachdem ihm die Suggestionen gegeben worden waren. Er erinnert sich
nun daran, dass ihn der Arzt bei seinem Besuch am Mittwoch von Kopf bis zn
den Füssen untersucht und ihm helle Tropfen verschrieben habe, die er mehrmals im
Tage nehmen musste. Im Uebrigen machte er in dieser Hypnose viele unsichere
und widersprechende Angaben und brauchte viele gewundene Redensart en wie:
„ich glaube wohl", — „wenn es mir recht ist" u. dergl. Bestimmt giebt er nur
noch an, er sei am Freitag in die Anstalt gekommen.
Nach dem Erwachen ist er ganz dämmernd, noch unklarer, als vor der Hy-
pnose und es ist ganz unmöglich, ihm klar zu jachen, dass seine Gedächtnissläcke
noch nicht beseitigt ist, weil die Meisterversammlung am 13. V. stattfand, er am
Zur Frage der epileptischen Amnesie. gl
26. y. in die Anstalt kam, weil ihm also noch eine ganze Woche fehlt. Er meint
nnn bald^ er sei am 9. Y., bald am 12. Y. hierhergekommen, dann wieder, die
Meisterversammlung habe am 26. Y. stattgefunden u. dergl.
16. YI. Abends. W. ist wieder ganz klar. Er wird nochmals hypnotisirt und
es wird allein darauf Gewicht gelegt, zu erfahren, ob die Yersammlung am 18. Y.
oder 20. Y. abgehalten worden sei. W. kann nach dem Erwachen mit aller Be-
stimmtheit angeben, dass die Yersammlung 2 Tage nach dem Himmelfahrtsfest,
also am 13. Y. stattgefunden habe. Auch erinnert er sich jetzt, das Datum in der
Zeitung gelesen zu haben.
17. YI. Um nun zu erfahren, ob die noch bestehende Gedächtnisslücke die
Woche vom 14. Y. bis 21. Y. oder diejenige vom 21. Y. bis 26. Y. betreffe, wird
dem W. heute in tiefer Hypnose suggerirt, er erinnere sich nachher an die Er-
lebnisse vom Pfingstsonntag und Montag. Er erzählt dann, er sei am Ffingst-
soDntag Yormittags zur Kirche gegangen und habe communicirt. Da es regnete,
blieb er sonst zu Hause. Am Pfingstmontag sei er mit seiner ältesten Tochter
Martha nach Oberrieden spaziert, ohne ins Wirthshaus zu gehen.
19. YI. In mehreren Hypnosen wurde nun noch ganz bestimmt in Erfahrung
gebracht, dass W. in der Woche vor Pfingsten gearbeitet, am Samstag seinen Lohn
TOD 52 Fr., 50 Fr. an einer Banknote bezogen habe und dass die Ereignisse von
Sonntag bis Freitag, an welche in früheren Hypnosen die Erinnerungen auf-
getaucht waren, die Woche von Pfingstsonntag an betrafen. Mittwoch nach
Pfingsten, also am 24. Y., sei Dr. D. zum ersten Male bei ihm gewesen. Alle
Suggestionen, er werde sich an die einzelnen Ereignisse in den Nächten, in welchen
er die Anfälle hatte, erinnern, blieben erfolglos. Auch in tiefster Hypnose war
keine Erinnerungsspur an die Anfälle selbst zu entdecken. W. wusste nur, dass
die Frau ^hm am anderen Morgen davon gesprochen hatte.
Die letzten Hypnosen wurden durch den Umstand sehr erschwert, dass W.
einen Theil des früher Aufgedeckten jeweilen wieder vergessen hatte und nament-
lich in der zeitlichen Aufeinanderfolge alles durcheinanderwürfelte. Diese Störung
bezog sich ebensowohl auf die Zeit ausserhalb der Amnesie, auf die letzten
Wochen des Lebens in der Anstalt, auf die Zeit vor der Meisterversammlung, wie
auf die in der Hypnose gewonnenen Erinnerungen. Je zahlreicher die Details
waren, um so mehr mischte er sie durcheinander. Schliesslich konnte er auch in
gutem Zustande nicht mehr sagen, wie lange er schon in der Anstalt war, er
kannte verschiedene Aerzte, die den hypnotischen Sitzungen beigewohnt hatten,
nachher nicht mehr, kurz es zeigte sich, dass sein Gedächtniss durch die Epilepsie
stark gelitten hatte. Eine weitere hypnotische Behandlung wurde daher als aus-
sichtslos aufgegeben. W. war subjectiv mit der summarischen Ausfüllung seiner
Gedächtnisslücke, wie sie sich aus den letzten Hypnosen ergab, ganz befriedigt.
Nachdem diese Behandlung abgeschlossen war, wurden bei den Yerwandten
W's genaue Erkundigungen eingezogen und es stellte sich heraus, dass sich die
Ereignisse folgendermaassen gefolgt waren:
Am 7. Y. war W. mit seiner Frau in der Kirche gewesen, am Nachmittag
desselben Sonntags machte er mit seinem Töchterchen den Spaziergang nach
Oberrieden.
Am 13. Y. fand die Werkmeisterversammlung in Adlisweil statt, zu welcher
«er mit fünf Anderen zusammenging. Unterwegs kehrten sie in Gontenbach ein.
2eitsohiift für Hypnotismos. X. 6
82 L- ^' Huralt.
Es wurde über neue Statuten yerhandelt bis 10 Uhr, dann folgte der gemuthliche
Tbeil, in welchem W. kaum einen halben Liter Wein getrunken habe. Um
V22 Uhr kam er nach Hause.
Die kalten Wickel, der Besuch des Arztes, die liedicin, welche dieser ihm
verschrieb und welche wirklich wasserklar war, die Verordnung, keine geistigen
Getränke mehr zu gemessen, der durch sein Unwohlsein missglüdcte Versuch, zu
arbeiten, fielen alle in die Zeit zwischen den Anföllen und der Verbringung in
die Anstalt, waren aber zeitlich anders locaUsirt, als W. in der Hypermnesie angab.
Während der Woche vom 13. bis 19. Mai hatte er regelmässig gearbeitet. Et
hatten sich gar keine besonderen Ereignisse zugetragen.
Um kurz zu recapituliren, kann gleich festgestellt werden, dass an
der Diagnose genuiner Epilepsie in diesem Falle kein Zweifel möglich
ist. Der jetzt 39 jährige Mann erlitt mit 26 Jahren den ersten epilep-
tischen Anfall, dem 6 Jahre später ein zweiter, nach wieder l^s J^hieu
ein dritter und dann eine ganze Reihe weiterer folgten. In den letzten
Jahren schlössen sich häufig an die typisch-epileptischen Anfälle Zu-
stände dämmeriger Verwirrtheit an, auch traten ebensolche Zustände
öfters ohne vorhergehende Anfälle als reine Aequiyalente auf, die
mehrmals den Character des „automatisme ambulatoire^ hatten: Ge-
dächtniss, Intelligenz und Leistungsfähigkeit nahmen zusehends ab.
Auch die epileptischen Dauersymptome yermissen wir nicht, als
solche seien nochmals erwähnt die breite, häsitirende Sprache, die
grosse Umständlichkeit im Reden und Handeln, eine ganz inadäquate
Süsslichkeit und Vertrauensseligkeit, Rührseligkeit, stark erregbares
Temperament, die Neigung unangenehme Vorkomnmisse lange in sich
herumzutragen und darüber zu brüten. W. ist kein Alcoholiker, gilt
im Gegentheil als solid und nüchtern. Auch körperlich hat er manche
Zeichen der Degeneration, Asymmetrie des Gesichts, hohen Gaumen,
unregelmässige Zahnstellung, schlechte Rundung der Pupillen.
Wie verhält es sich nun mit der Amnesie im vorliegenden Falle?
Vom 19. bis 21. Mai erlitt der Kranke 6 schwere epileptische Anfalle,
zwischen denen er schlief. Am 23. V. erwachte er aus dem post-
paroxysmalen Schlafe und war dann einen Tag lang stuporös verwirrt,
am 24. V. dämmernd unklar, um am 26. V. in einen deliriösen Zustand
zu kommen, der mit voller Intensität bis am Abend des 27. V. an-
dauerte und sich dann langsam während des Verlaufes der folgenden
Tage löste. Am 31. V. war der Kranke wieder ganz klar. Es
konnte nun eine totale Amnesie constatirt werden, die sich auf die
Zeit der 6 Anfalle vom 19. bis 21. Mai, auf die seitherigen Erlebnisse
bis zum Erwachen aus dem Delirium und über volle 6 Tage vor den
Zur Frage der epileptischen Amnesie. 83
Anfallen znrück erstreckte. Die letzten Erinnerungen betrafen Er-
eigDisse vom 13. V. Die Amnesie besteht also zweifellos ans zwei
Theilen, einem solcheni der sich an die Zeit der epileptischen Störungen,
AnMe und Delirium knüpft und einem retrograden. Während die
erste Art der Amnesie in ihrer Genese wohl ohne Weiteres klar ist,
iBBofem als sie sicher durch die Anfalle und den consecutiTen Stupor-
znstand und das Delirium bedingt war, wie dies bei der Epilepsie fast
regelmässig beobachtet wird, kann der zweite Theil nicht ohne Weiteres
als retrograde Amnesie anerkannt werden. Eine retrograde Amnesie
kann bei Epilepsie durch verschiedene Umstände Torgetäuscht werden
und es ist zu untersuchen, ob nicht eine solche pseudo-retrograde
Anmesie Torliegt. Einmal ist es möglich, dass dem Anfall eise pro-
trahirte Aura vorausgeht, auf welche sich die Amnesie erstreckt oder
es kann dem kritischen Anfall ein Schwindelanfall oder auch ein nicht
beobachteter epileptischer Anfall vorhergegangen sein, der eine bis zum
kritischen Anfall dauernde Bewusstseinstrübung zur Folge hatte und
auf dessen Kosten also die scheinbar retrograde Amnesie zu schreiben
wäre; oder es ist möglich, dass sich der Kranke zur Zeit der Con-
statirung der retrograden Amnesie noch in einem Zustand von post-
epileptischer Verwirrtheit befindet, der die Erinnerang an die Zeit vor
dem Anfalle erschwert oder aufhebt, oder schliesslich kann die retro-
grade Amnesie durch eine Amnesie aus anderer als epileptischer Ur-
sache vorgetäuscht werden, z. B. durch ein Trauma, Alcoholezcess
n. dgl. In forensischen Fällen kann die Beantwortung der Frage, ob
eine wirkliche retrograde Amnesie vorliegt, ausschlaggebend sein, wenn
es sich z. B. um ein in den Zeitraum der retrograden Anmesie fallen-
des Delict handelt. Auch bei diesen rein theoretischen Erörterungen
ist es natürlich wichtig, in der richtigen Auffassung der Amnesie mög-
lichst sicher zu sein. Die 6tägige Dauer der retrograden Amnesie
macht es wohl wenig wahrscheinlich, dass sie auf eine protrahirte Aura
za beziehen sei. Von Anfallen aus der Zeit vor oder während jener
6 Tage konnte nichts in Erfahrung gebracht werden, auch ist es sicher,
dass der Kranke damals seiner gewohnten Beschäftigung nachging und
keine pathologischen Zustände zeigte, auf deren Beobachtung seine
Umgebung doch einigermaassen eingeübt war. Femer blieb sich die
retrograde Amnesie in der Zeit vom 31. Y. bis 9. VI., d. h. bis zum
ersten Aufklärungsversuche in Hypermnesie vollkommen gleich; der
Kranke schien während dieser Zeit durchaus klar zu sein und erinnerte
sich an die ausserhalb dem Bereich der Amnesie liegenden Ereignisse
84 ^« ▼• Muralt.
80, wie es ihm sein allgemein geschwächtes Gedächtniss gestattete.
Von anderen, eine Amnesie möglicherweise bedingenden Momenten
wurde auch auf ausdrückliches Befragen nichts erwähnt. Wir dürfen
also mit aller wünschbaren Sicherheit den Theil der Amnesie, der sich
auf die Zeit vom 13. bis 19. Mai bezieht, als totale temporäre retrograde
Amnesie von mittlerer Dauer bezeichnen.
Nachdem wir so die klinische Qualität der yerschiedenen Theile
der Amnesie festgestellt haben, wird es nun möglich sein, zur Be-
sprechung der in der Hypnose erzielten Erfolge überzugehen.
An die Zeit der Anfalle selbst konnte auch in der tiefsten Hy-
pnose keine Spur einer Erinnerung geweckt werden. Das kann von
Tomherein auch gar nicht befremden. Die Anfalle W.'s waren durch-
gehends sehr schwerer Art. Im grossen epileptischen Anfall sind aber
alle Zugänge von aussen zum Centralnervensystem verlegt, keinerlei
Sinneseindrücke werden mehr aufgenommen. Nicht einmal die tieferen,
automatischen Centren werden mehr erregt, der Pupillarlichtreäez, die
Hautreflexe sind ja erloschen. Eine Elrinnerung an die äusseren Er-
eignisse während eines Anfalles kann daher nicht erwartet werden.
Es fragt sich aber noch, ob nicht doch, bei völlig aufgehobener Em-
pfindung, rein centrale psychische Processe, traumhafte Vorstellungen
ablaufen. Man sieht nicht selten leichtere epileptische Anfalle, die
etwa in die Mitte zwischen petit mal und grand mal zu stellen sind^
in denen das clonische Stadium durch mehr coordinirte, putzende,
scheuernde Bewegungen markirt ist. Ich kenne einen Ejranken, der
Bewegungen macht, wie wenn er einen klebrigen Stoff von seinen
Fingern entfernen wollte, ein Anderer nestelt wie ängstlich an den
Knöpfen seines Rockes herum, sucht dieselben zu öffnen und den
Bock auszuziehen, ein Dritter putzt beständig mit seiner Kappe den
Boden. Diese Bewegungen wiederholen sich von Anfall zu AuGeüI so
regelmässig, wie die Sensationen der Aura. Häufig sieht man auf den
Schrei, welcher den Anfall einleitet, direct solche Abwehrbewegungen
und wohl auch Fluchtanstrengungen (Procursivanfalle) folgen. Es liegt
daher nahe, anzunehmen, dass diese Bewegungen von einem psychischen
Parallelvorgang entsprechenden Inhaltes, meist tiefen Träumen mit
angsterregenden Scenen begleitet seien und in geeigneten Fällen wäre
wohl in tiefer Hypnose über diese Vorstellungen Aufschluss zu ge-
wimien. Die wenigen Resultate von Hilger muntern jedenfalls zu
weiteren Forschungen auf diesem Boden auf. Dagegen ist es doch
unwahrscheinlich, dass in den schwersten Anfallen, deren motorische
Zur Frage der epileptischen Amnesie. 86
Aeusserungen keinen bekannten Vorstellungen oder Vorstellungscom-
plexen entsprechep, solche psychische Parallelvorgänge noch stattfinden.
Es ist also bei einer so tiefen Störung von Tomherein auch nicht zu
erwarten, dass durch die Hypnose irgendwelche SeelenvorgäDge aufge-
deckt werden können. Thatsachlich ist dies noch memals gelungen.
Von einer organischen Amnesie schlechtweg wird man aber doch nicht
sprechen können. Es handelt sich ja sicher nicht um eine Oedächtniss-
locke, die dadurch zu Stande kommt, dass in Polge organischer Läsion
gewisser Hirabestandtheile bestimmte Erinnerungen verloren gehen,
sondern es fehlt die Erinnerung an eine Zeit, in welcher die Empfin-
dung auf allen Gebieten aufgehoben war und in welcher keinerlei An-
zeichen das Vorhandensein centraler psychischer Vorgänge yerrathen,
mit anderen Worten an eine Zeit, während welcher aller Wahrschein-
lichkeit nach überhaupt alle associativen Vorgänge aufgehoben waren
und sich das Seelenleben auf die niedrigsten automatischen Functionen
beschränkte.
Ganz anders liegen die Verhältnisse aber für den retrograden
Theil der Amnesie. In dem Zeitraum, den diese totale Gedächtniss-
lücke umspannt, waren Auffassung und Verarbeitung der Eindrücke
nicht krankhaft verändert, der Hegistrirapparat im Gehirn, der con-
serrirende Theil des Gedächtnisses arbeitete so ungestört, wie zu irgend
einer anderen Zeit. Wäre nicht die Anfallsserie eingetreten, so würde
die Erinnerung an diese Zeit so treu sein, wie diejenige an irgend
einen anderen Lebensabschnitt kurze Zeit nach demselben war. Es
moss daher die Frage aufgeworfen werden, wie diese Ajnnesie zu
Stande kommen kann. Beruht sie wirklich auf einem unheilbaren
Ausfall der betreffenden Erinnerungen in Folge organischer Läsion,
wie früher allgemein angenommen worden ist, oder ist sie den als
functionell bekannten Anmesien der Hysterischen an die Seite zu stellen.
Unsere Versuche an dem Elranken H. W. zeigen zweifellos, dass di^
retrograde Amnesie nach epileptischen Anfallen heilbar ist, dass die
Erinnerungen in der Hypnose wieder aufgedeckt werden können. Es
ist uns freilich nicht gelungen, eine sehr detaillirte Erinnerung an die
ganze Woche vom 13. bis 19. Mai wachzurufen. Doch ist in Betracht
zu ziehen, dass W. während dieser Woche gar nichts Aussergewöhn-
liches erlebt hat, dass sie ruhig bei der Arbeit dahin geflossen ist, wie
viele frühere Wochen. Von sensationellen, mit starken Affecten ver-
knüpften Ereignissen me im Falle von Graeter ist da keine Rede.
Sicher konnte die verloren gegangene Erinnerung an die Webermeister-
86 ^' ^- Muralt.
▼ersammlimg mit allen wüDschbaren Details wachgerufen werden und
ebenso daran, dass er am folgenden Montag mit dem Gefühl des Un-
wohlseins zur Arbeit ging. Auch gelang es, die Erinnerung an den
Zahltag und die specielle Form, in welcher er ausbezahlt wnrde^
wieder zu wecken. Damit war das Interesse des Kranken so ziemlich
erschöpft und er vermengte daher lange Zeit die um ToUe 8 Tage
später eingetretenen Ereignisse während des deliriösen Dämmerzustandes
mit der Woche, welche in die retrograde Amnesie ßUlt. Die Erleb-
nisse des Dämmerzustandes waren viel schwieriger wachzurufen, als die
rein retrograd ausgelöschten, der Kranke musste oft wiederholt wegen
einer Frage suggerirt werden und er drückte sich auch dann meistens
zögernd und unbestimmt aus. Eine richtige zeitliche Localisation dieser
Erlebnisse gelang ihm nie, er brachte Erlebniese von yerschiedenen
Tagen zusammen und verlegte alles um eine Woche zurück. Gerade
dadurch, dass die Woche der retrograden Amnesie so ganz ohne Be-
sonderheiten verlief, wird es erklärlich, dass W. ani^glioh die wieder-
erwachenden Erinnerungen aus der deliriösen Zeit direct an die letzten
Erinnerungen anknüpfte, die aus dem Dunkel der retrograden Amnesie
hervorgeholt worden waren. Diese Verbindung wurde durch den Um-
stand erleichtert, dass so scheinbar keine Lücke mehr blieb, indem auf
den Montag (15. V.) direct der Dienstag (23. V.) folgte. Die Erleb-
nisse W's boten gar keine besonderen Anhaltspunkte, von denen ans
die Erinnerung an die Tage vom 16. — 19. V. weiter hätte wachgerufen
werden können und welche dem Kranken selbst ein lebhaftes Interesse
an dieser Therapie eingeflösst hätten, wie im Falle Graeter's. Der
Kranke gab sich im Wachzustande mit der scheinbaren Hebung der
Erinnerungslücke vollständig zufrieden und war, ein deutliches Zeichen
seiner stark reducirten Geisteskräfte, nicht einmal davon zu überzeugen,
dass ihm noch eine volle Woche fehlte. Wo aber das Interesse und
die Aufmerksamkeit mangeln, da ist es ausserordentlich schwierig, etwas
zu erreichen, besteht doch das Verfahren gerade darin, im hypnotischen
Zustande die Aufmerksamkeit auf die dissociirten Vorstellungen zu
concentriren. Der Hypnotiseur zeigt dem Kranken nur den Weg, auf
dem er wieder zu seinen Erinnerungen gelangen kann. Die Haupt-
arbeit hat er selbst zu leisten. Schliesslich gelang es auf Umwegen
doch, zu voller Sicherheit über die ganze Woche zu kommen; Einzel-
heiten allerdings tauchten nicht mehr auf. Zu dieser Unvollständigkeit
des Resultates hat übrigens die chronische, bleibende, langsam zu-
Zur Frage der epileptischen Amnesie. 87
nehmende Gedächtnissstörungy auf die wir noch zurückkommen werden^
nicht wenig beigetragen.
Es kann nun keinem Zweifel mehr unterliegen, dass auch bei
typischer, genuiner Epilepsie die retrograde Amnesie nur functioneller
Natnr ist, dass sie durch Hypnose beseitigt werden kann. Die frühere
Annahme, dass zwischen hysterischer und epileptischer Amnesie ein
grundsätzlicher Unterschied bestehe, dass diese organisch sei, in wirk-
licher Aufhebung des Reproductionsvermögens bestehe, jene nur fimc-
tionell bedingt werde, konnte sich denn auch auf keine rein klinischen
Unterschiede der beiden Anmesien gründen. Strümpell spricht zwar
von solchen, ohne sie näher auszuführen. Das gewöhnlich angeführte
Kriterium der Heilbarkeit durch Hypnose bei Hysterie, der Unheilbar-
keit bei Epilepsie findet sich zwar öfters erwähnt, aber nicht geprüft.
Wie wenig die hypnotische Suggestion auch in neurologischen Kreisen
noch Eingang gefunden hat, erhellt wohl am besten aus der Arbeit
Ton M. Paul, nach welcher überhaupt in den wenigsten Fällen von
retrograder Amnesie Hypnose yersucht wurde. Es scheint mir nicht
zweifelhaft, dass auch die retrograden Amnesien nach Erhängung, nach
anderen Suicidversuchen, nach Schädelverletzungen, nach Intoxicationen
nur functionell, durch Hypnose reparabel sind. Eingehende Versuche
wären jedenfalls angezeigt. Unsere Ansicht kann aber auch ohne Ver-
suche schon durch folgende Ueberlegungen gestützt werden:
Bekannte organische Läsionen des Gehirnes, welche Störungen des
Gedächtnisses zur Folge haben, fuhren nie zu totalen temporären Am-
nesien, zu Erinnerungslücken, die alle Gedächtnisseindrücke einer be-
stimmt umschriebenen Zeit betreffen. Es gehen vielmehr ganz be-
stimmte Qualitäten von Erinnerungen, optische, akustische, Bewegungs-
Torstellungen, Wortbilder u. s. w. zu Grunde, wie bei bestimmt locali-
sirten Heerden, oder es geht die Fähigkeit, neue Eindrücke im Ge-
dächtniss aufzuspeichern verloren — active Gedächtnissschwäche —
und damit gepaart ist die Wiedererweckung früherer Erinnerungen in
ganz diffuser Weise erschwert und zum Theil aufgehoben und nur die
sehr häufig reproducirten Eindrücke aus der Jugendzeit haften noch mit
einiger Deutlichkeit (partielle Amnesie) wie bei den diffusen organischen
Himkrankheiten, Paralyse, Dementia senilis, Hirntumor mit allgemeiner
Entartung. Die Pathologie der organischen Himkrankheiten giebt uns
nirgends ein Beispiel einer temporären totalen Amnesie, die auf be-
stimmte Himläsionen zu beziehen wären. Anmesien, die durch eine
locale Störung entstanden sind, zeigen übrigens häufig die Eigenthüm-
33 L* ^' Muralt.
liclikeit, dass die betreffenden Vorstellungen auf anderen^ ungewötm«
liehen Wegen doch erregt werden können. Sie sind aber stets nur auf
diesem Umwege zu erzeugen. Die fimctionelle Amnesie yerhält sich
hierin ganz anders. Im Wachbewusstsein sind die dissocürten Er-
innerungen überhaupt nicht erreichbar. Gelingt es aber, sie in Hy-
pnose wieder aufleben zu lassen, so werden sie ein Bestandtheil des Be-
wusstseinsinhaltes, der jederzeit zur YerfügUDg steht und der gar keine
Zeichen der Störung mehr an sich trägt. Auch alle Kenntnisse, die
wir über Hirnphysiologie und Localisation haben, sprechen gegen die
Annahme, dass durch eine organische Läsion ein Oomplex rein zeitlich
zusammen gehörender Erinnerungen total ausgelöscht werden könne.
Wenn Strümpell zu der Annahme neigt, dass gerade die Beschrän-
kung der Amnesie auf die aus einer bestimmten Zeit stammenden 6e-
dächtnisszustände leichter durch Annahme einer Störung dieser Zu-
stände selbst, als durch Annahme einer Störung ihrer associativen Ver-
bindungen erklärlich sei, so darf man sich wohl fragen, wie man sich
eine Läsion der Rindenzellen zu denken habe, die in allen Sphären
der Binde gerade nur den Ausfall, die Zerstörung derjenigen Erinne-
rungsspuren bewirkt, die sich auf den betreffenden Zeitabschnitt be-
ziehen und alle anderen Erinnerungsspuren in denselben Elementen
intact lässt. Wenn schon diese theoretischen Ueberlegungen es als
unhaltbar erscheinen lassen, dass eine organische Läsion die Grundlage
irgend einer totalen, circumscripten retrograden Amnesie sei, so be-
stehen für die Epilepsie noch andere Gründe gegen diese Annahme.
Es sind Fälle bekannt, in denen Epileptische nach dem Anfall keine
Ahnung mehr von der Aura haben, in welcher sie complicirte Hand-
lungen vornahmen. In der Aura des nächstfolgenden Anfalles er-
innern sie sich dann aber sehr genau an alle Details dieser vorherge-
henden Aura, sie befinden sich in einem vorübergehenden Zustand der
Hypermnesie um nach dem Anfall wieder Alles vergessen zu haben.
Es entstehen also bei Epileptischen unter Umständen auch spontan
Zustände von Hypernmesie, in denen scheinbar total ausgelöschte Er-
innerungen mit grosser Treue wieder auftauchen und welche an die be-
kannten Zustände von Doppelich bei Hysterie erinnern. Endlich sind
ja auch Fälle bekannt, in denen im gewöhnlichen Wachbewusstsein die
Erinnerungen auf associativen Wegen wieder reproducirt werden
konnten. Diese Erscheinung ist auch für Amnesie nach Strangulation
bekannt, welche nach einigen Autoren ebenfalls als organische galt. Es
müsste also ohne hypnotische Versuche sehr wahrscheinlich sein, das8
Zur Frage der epileptischen Amnesie. 89
sich die retrograde Amnesie bei genuiner Epilepsie dem Wesen nach
lucht Ton retrograden Amnesien mit anderer Aetiologie, speciell der
hysterischen unterscheidet, dass höchstens ein gradueller Unterschied
Torhanden ist. Die Erfolge der Hypnose geben eine glänzende Be-
stätigung davon. Mit der Bezeichnung functionell und associativ ist
(associativ im psychologischen Sinne, nicht im Sinne z. B. associativer
Aphasie) die Amnesie natürlich noch nicht erklärt, ihr Zustande-
kommen bleibt noch in mancher Hinsicht räthselhaft. Aber so yiel
kann als sicher gelten, dass die Erinnerungsspuren nicht zu Grunde
gegangen sind, dass vielmehr nur die Beproduction einer ganz be-
stimmten Gruppe von Vorstellungen gehemmt ist. Diese totalen retro-
graden Amnesien verhalten sich zu wirklich organischen gerade so, wie
eine hysterische Aphasie zu einer Aphasie bei Heerderkrankung im
Gehirn. Bei der hysterischen Aphasie sind sämmtliche an der Sprache
betheiligten Muskelgruppen und zwar nur diese gelähmt. Alle asso-
ciatiyen Wege, welche diese Muskeln für den ganz bestimmten Zweck
des sprachlichen Ausdruckes in Funktion setzen sollen, sind verlegt,
gehemmt, während dieselben Elemente zu irgend welchem anderen
Zwecke allein oder zusammen arbeiten können. Einen pathologisch-
anatomischen Vorgang, der eine solche Störung bewirkt, können wir
uns nicht vorstellen, dagegen machen die psychologischen Associations-
gesetze solche systematisirte Defecte erklärlich. Sie sind ja auch sicher
heilbar. Nicht anders verhält es sich mit den systematisirten Am-
nesien. Je nach der Tiefe des Schnittes, den das Bewusstsein, die
gesammte Geistesthätigkeit durch den hysterischen Zustand, den epi-
leptischen Anfall, die Strangulation, die Hirnerschütterung etc. erlitten
hat, gelingt es mehr oder weniger leicht im Zustande der Hypermnesie
die Pforten wieder zu öffnen. In den leichtesten Fällen können sie
sich auch von selbst erschliessen. Wagner zeigt an einem grösseren
Material, dass nach Strangulationsversuchen der Grad der Amnesie in
einem gewissen Verhältniss zur Dauer der Bewusstlosigkeit und somit
wohl auch zur Dauer der Strangulation resp. der Circulationsstörung
im Gehirne steht.
Wie grundverschieden wirkliche organische Gedächtnissstörungen
Ton dieser associativen Form sind, lässt sich an unserem Falle übrigens
auch zeigen. Der Kranke bidet seit Jahren an einer zunehmenden,
diffusen Gedächtnissschwäche. Diese beruht sicher nicht auf einer
Störung der associativen Thätigkeit, auf der Hemmung der Beproduction
vorhandener Erinnerungen, denn sie ist vom Bewusstseinszustande völlig
90 L. y. Muralt. Die Frage der epileptischen Amnesie.
unabhängig und findet sich sowohl in den gaten Zeiten zwischen den
Anfallen, wie auch in erhöhtem Maasse in den Dämmerzuständen, wie
derjenige war, der am 16. VI. beobachtet wurde. Sogar auf die
Hypermnesie bezieht sie sich, der Kranke vergisst seine Erlebnisse
vorweg wieder und schliesslich sind sie gar nicht mehr zu reprodudren.
Femer vermengt er einmal sogar Erlebnisse, die nur eine Woche tot
der Amnesieperiode zurückliegen, in der Hypermnesie mit den späteren
Yorkomnuiissen. Die fortschreitende allgemeine epileptische Demenz
hat eine Herabsetzung der Empfindlichkeit für SinneseindrcLcke, eine
Erschwenmg der Auffassung und Verarbeitung derselben mit sich ge-
bracht und hat wohl auch direct die Fähigkeit der Zellen, diese mangel-
haft aufgenommenen und verarbeiteten Eindrücke zu behalten und zu
reproduciren geschwächt. Das sind Störungen, deren Zusammenhang
mit der epileptischen Entartung der Hirnrinde, Zellschwund und Gliose
wohl postulirt werden darf, die als organische Gedächtnissstörung be-
zeichnet werden können. Die Schwierigkeiten, welche sich in unserem
Falle der Heilung der associativen Amnesie entgegenstellten, beruhen
grösstentheils auf dieser begleitenden organischen Störung.
Neuere Abhandlungen und Untersuchungen über das Gedächtniss.
Zusammengestellt von
Dr. Paul Plettenberg-Magdeburg.
Unter den Aufgaben, die sich die experimentelle Psychologie gestellt hat,
nimmt neben der Erforschung der geistigen Ermüdung die Untersuchung des
Gedächtnisses eine ELauptstelle ein. Die Zahl der Arbeiten über das Gedächtniss
ist in letzterer Zeit so gewaltig angewachsen, die Art der Versuche so mannigfaltig,
dass es den Lesern dieser Zeitschrift wünschenswerth sein wird, mit den einzelnen
Richtungen der Versuche bekannt gemacht zu werden, bevor einige Hauptabhand-
langen dieses Zweiges der experimentellen Psychologie eingehender besprochen
'werden sollen. Ref. verweist dabei auf die im Psychological Beview 1898 von
fr. Kennedy veröffentlichte Abhandlung^), welche das ganze Gebiet eingehend
klarlegt und auch dieser Einleitung zu Grunde gelegt worden ist.
Alle Versuche, die das Gedächtniss betreffen, stimmen darin überein, dass
ein einer Person gegebener Beiz von derselben im Gedächtniss aufbewahrt und
nach einer gewissen Zeit genau wieder angegeben werden muss. Doch werden zur
Servorrufung der Erinnerung verschiedene Methoden angewandt: 1) die Methode
der Beproduction. Hier hat die Versuchsperson selbst ohne jede weitere Hülfe
den ursprünglichen Beiz wieder anzugeben. 2) Bei der Methode der Becognition
dagegen werden der Versuchsperson neue Beize gegeben, worauf sie zu beur-
theilen hat, ob ein dem ersten gleicher Beiz dabei ist. Man unterscheidet je nach
der Anzahl der neu gegebenen Beize: a) die Methode der Identification, bei
-welcher nur ein neuer Beiz mit dem ursprünglichen zu vergleichen ist, so dass
also zu entscheiden ist, ob er mit demselben identisch ist oder nicht; b) die Me-
thode der Selection, welche die Versuchsperson den ursprünglichen Beiz aus einer
ganzen Beihe neuer Beize heraussuchen lässt. Wäre also z. B. ein bestimmter
Ton oder eine bestimmte geometrische Figur gegeben, so hätte bei Anwendung
der ersten Methode die betreffende Person diesen Ton oder diese Fläche aus dem
Oedächtniss selbstständig wieder zu erzeugen; bei der zweiten Methode hätte sie
dieselben nur zu vergleichen mit einem neuen Ton oder einer neuen Fläche,
M FrancisKennedy: On the experimental investigation of memory. Psych.
Ber. V, 1898
92 Paul Plettenberg.
bei der dritten Methode endlich hätte sie den gegebenen Ton oder die gegebene
Fläche aus einer ganzen Reihe neuer Töne oder Flächen hervorzusuchen. Der
Werth dieser drei Methoden ist verschieden nach Art des angewandten Reizes.
Bei den oben gegebenen Beispielen wäre es denkbar, dass die zum Yersuche be-
nutzte Person sehr wohl ein Gedächtniss für Flächen und Töne besitzt, ohne aber
Veranlagung zum Zeichen und Singen zu haben, mithin würde die erste Methode
hier keine sicheren Resultate liefern. Dagegen ist bei der Prüfung des Wortge-
dächtnisses gerade diese erste Methode ausschliesslich benutzt, da die Fälligkeit
Worte zu reproduciren gleichmässig vertheilt ist. Die dritte Methode ist nur
dann anwendbar, wenn die ganze Reihe neuer Reize der Versuchsperson gleich-
zeitig gegenübergestellt werden kann.
Was nun die Reize selbst angeht, so sind alle möglichen benutzt worden.
Man trennte sie als einfache oder zusammengesetzte Reize in zwei Gruppen, je
nachdem sie unmittelbar oder mittelbar ins Gedächtniss zurückgerufen werden
können, oder ob bei der Erinnerung ein oder mehrere Sinne thätig sind. Es
sind demnach:
einfache Reize: Intensität des Lichtes, Intensität des Schalles, Farben tone,
Höhe der Töne, Berührung zur Untersuchung des Raumsinnes, Berührung zur
Bestimmung des Ortssinnes, Druck und Zug für passiven und activen Muskelsinn,
active Bewegungen, Geruch, geometrische Figuren, Zeit.
compleze Reize: Buchstaben, Silben, Worte, Sätze, Zahlen, Gegenstände,
Melodien.
Ist nun einer Person ein gewisser Reiz gegeben, so entsteht die Aufgabe zn
untersuchen, wieviel und was überhaupt von diesem Reize nach einer gewissen
Zeit im Gedächtniss haften geblieben ist. Dies hängt von zwei Factoren ab,
erstens von der Intensität und der Klarheit des Eindrucks, den der Reiz sofort
bei seiner Wirkung hervorgebracht hat und zweitens von den Umänderungen,
denen das Erinnerungsbild dieses Eindrucks im Laufe der Zeit unterworfen ist.
Die obige Aufgabe zerfällt also in die beiden Aufgaben, jeden dieser Factoren
einzeln zu untersuchen.
Aufgabe I. Was die Abhängigkeit des Bildes von der Intensität und der
Klarheit bei der Aufnahme ins Bewusstsein angeht, so sind Aufmerksamkeit und
Wiederholung schon längst dafür bekannt, die Beschaffenheit des Eindrucks des
Reizes zu beeinflussen. Erst durch die experimentelle Psychologie, namentlich
durch die Arbeiten von Ebbinghaus^), von Müller und Schumann*) bat
sich ergeben, dass auch der Rhythmus, in welchem die Reize auf die Versuchs-
person wirken, von bedeutendem Einflüsse auf die Aufnahme in das Gedächtniss
ist. Endlich hat auch der Gharacter des Objects, dessen man sich erinnern soll,
wesentlichen Antheil an der Stärke und Deutlichkeit des Bildes und somit auch
auf die Genauigkeit unserer Erinnerung. Aber die Stärke und Deutlidikeit des
Gedächtnisses hängt auch ab von dem durch den Reiz in Anspruch genommenen
Sinn. Ganz abgesehen von individuellen Vorzügen der einzelnen Sinne sind die
Gedächtnisse für Raumsinn, Ortssinn, Muskelsinn, active Bewegungen und die
^) Ebbinghaus: Ueber das Gedächtniss. Leipzig 1885.
•) Müller und Schumann; Exper. Beiträge zur Untersuchung des Ge-
dächtnisses. Zeitschrift für Psych, und Phys. der Sinnesorgane, Bd. VI, 81— 19Ö
und 257-339.
Neuere Abhandlungen und Untersuchungen über das Gedächtniss. 93
höheren Sinnesorgane im allgemeinen wesentlich verschieden. Wenn endlich coni-
plexe Beize angewandt werden, so treten mehrere Sinne zugleich in Thätigkeit
and unterstützen sich gegenseitig. Hierher gehören die Untersuchungen Ton
Bigham und Münsterberg'), Eirkpatrik*), u. s. w. Doch stehen sich die
Resultate oft diametral gegenüber.
Aufgabe II. Bleibt schon zur entgültigen Beantwortung der ersten Frage
noch viel zu thun übrig, so in noch höherem Grade bei der zw^eiten Aufgabe.
Jedes Erinnerungsbild kann im Laufe der Zeit Umänderungen dreierlei Art er-
fahren, es kann a) an Deutlichkeit yerlieren, b) seine Quantität, c) seine Qualität
ändern.
a) Am einleuchtendsten ist die Abnahme an Deutlichkeit; soweit bekannt
ist, nimmt das Gedächtniss für alle Reize ab. Hier sind zu erwähnen die Ab-
handlungen von Paneth'), Whale*), Wolfe*), A. Lehmann«), Mtinster-
berg^ und seinen Schülern, Lewy^) u. A. Ebbinghaus und Wolfe haben
versucht die Abhängigkeit des Gedächtnissbildes von der Zeit durch eine mathe-
matische Function darzustellen, jedoch ändert sich diese Function sicher mit der
Art des Reizes.
b) Betrefis der Untersuchungen in Bezug auf Quantitätsänderungen, d. h.
Aenderungen in Bezug auf Dauer, Ausdehnung und Stärke erklärt es Kennedy
für sehr nothwendig, nicht nur die Erinnerungsbilder in Bezug auf ihre Quantität
zu vergleichen mit der Quantität des ursprünglichen Reizes, sondern auch die Ab-
hängigkeit der Abnahme dieser Bilder von der Zeit zu untersuchen, was bis jetzt
in keiner Abhandlung geschehen sei. Die Resultate der bisherigen Untersuchungen
sind auaserordentlich mannigfaltig und schwierig unter einen allgemeinen Gesichts-
punkt zu bringen. So ist z. B. von Lehmann, Tschisch*) gefunden, dass von
zwei nach einander angegebenen gleichen Tönen gleicher Intensität der zweite
lauter empfunden wird; Baldwin^®) stellte fest, dass ein gegebenes Quadrat im
Gedächtniss als ein grösseres aufbewahrt wird; nach Yaschide's'') Versuchen
hat man die Tendenz kleine Linien im Gedächtniss zu verkürzen, grosse zu ver-
grossern ; K e n n e dy zeigte, dass von zwei nach einander gegebenen Drucken gleicher
^) Bigham und Münsterberg: Memory. Fsychological Review I, pag. 34
und pag. 453.
•) Kirkpatrick: An experimental study in memory. Psych. Review I,
pag. 602—609.
*) Paneth: Versuche über den zeitlichen Verlauf des Gedächtnissbildes.
Centralblatt für Physiologie 1891, Bd. IV, Nr. 3.
*> Whale: Centralblatt für Physiologie, Bd. IV, pag. 120.
^) Wolfe: Untersuchungen über das Tongedächtnis. Philos. Studien, Bd. ITT,
p. 634-571.
*) A. Lehmann: Kritische und experimentelle Stadien über das Wieder-
erkennen: Philos. Studien, Bd. V, pag. 96 und Bd. VII, pag. 169.
'J Münsterberg: Beiträge zur experimentellen Psychologie.
**) Lewy: Experimentelle Untersuchungen über das Gedä<mtni8s. Zeitschrift
für Psych, und Phys. der Sinnesorgane, Bd. VULL, pag. 231—292.
*) Tschisch: Ueber das Gedächtniss für Sinneswahrnehmungen. III. Inter-
nationaler Psychologen-Congress, pag. 95—109.
***) Baldwin und Shaw: Miemory for square-size. Psych. Review 11, pag.
23&— 244.
**) Vaschide: Recherche sur la memoire des lignes. HI. Internationaler
PsychoL-Congress, pag. 454—456.
94 Paul Plettenberg.
iDteDsität der letztere für geringer gehalten wird; endlich bemerkte Leuba^), da«
beim Vergleiche eines im Gedächtniss behaltenen normalen Lichtreizes von gewiaier
Intensität mit einem neuen Lichtreize wir den letzteren für grösser halten, sls er
in Wirklichkeit ist, wenn er selbst geringere Stärke hatte, und umgekehrt. And
Erklärungen dieser Erscheinungen sind versucht worden ; so erklären sich z. B. die
L e u b ansehen Resultate mit der von ihm aufgestellten Hypothese, daas sich im Be-
wusstsein mit der Zeit für jede Art Empfindungen eine repräsentirende von Durch-
schnittsstärke bildet; alle neu hinzukommenden werden zur Bildung dieser
repräsentirenden Empfindung von mittlerer Stärke mit verarbeitet. Daher werden
grosse Reize in der Erinnerung kleiner und umgekehrt. Erklärungen, die alle die
mannigfachen Resultate umfassen, fehlen bisher.
c) Was endlich die dritten Aenderungen angeht, welche sich mit der Zeit
einstellen, die qualitativen, so fehlt bisher über diese überhaupt jede Untersuchang.
Aufgabe III. Eine Reihe von Forschern beschäftigt sich auch mit den
Aenderungen, welche die Gedächtnissbilder im Laufe der Zeit erfahren, knüpft
aber daran die Lösung speciellerer Aufgaben, z.B. Xilliez untersucht, in welcher
Weise das Gedächtniss diese Veränderungen beim Memoriren von Zahlen- und
Zifferreihen vornimmt, ebenso Bin et und Henri beim Memoriren von Wort«n
und Sätzen, ferner Vaschide, wie das Gedächtniss die Stellung der einzelnen
Glieder in einer Reihe von Reizen (Worten) fixirt, u. s. w. Alle diese Arbeiten
sollen weiter unten besonders besprochen werden.
Aufgabe IV. Die Aufnahme des Reizes in das Gedächtniss und die Auf-
bewahrung des Bildes im Gedächtniss, diese beiden Factoren, welche das Wesen
des Erinnnrungsbildes beeinflussen, hängen nun aber selbst wieder von indivi-
duellen Verhältnissen ab, wie z. B. von Alter, Geschlecht, Rasse, Gesundheit u. s. w.
des Versuchsindividuums. Von älteren Arbeiten sind hier zu erwähnen die Ab-
handlungen von Kirkpatrick und von Burdon*).
Nach diesen einleitenden Worten sollen einige Hauptabhandlungen resp.
Neuerscheinungen auf diesem Gebiete der experimentellen Psychologie eingehender
besprochen werden.
O, E, MiäUr und F, Schumann. Experimentelle Beiträge zur Unter-
suchung des Gedächtnisses. Zeitschrift für Psychologie und Physiologie
der Sinnesorgane. Bd. VI, 1894, pag. 81—190 und 267—339.
Die Arbeit, welche die oben unter 1 bezeichnete Aufgabe behandelt, ist ffir
das Gebiet der experimentellen Psychologie eine klassische zu nennen und ist auch
für die nachfolgenden Untersuchungen immer vorbildlich gewesen. Die Verfasser
verfolgen den Zweck, die Association festzustellen zwischen zwei Silben einer Beihe
von Silben, die auswendig zu lernen ist. Die Arbeit zerfällt in drei grössere
Kapitel: 1. Beschreibung der einzelnen Versuche, 2. Angabe der zu befolgenden
Regeln, 3. Aufzählung und Erörterung der erhaltenen Resultate.
Die Versuchsperson hatte Reihen von je 12 Silben auswendig zu lernen, die
jede einzelne aus 2 durch einen Vocal getrennte Gonsonanten gebildet waren.
*) Leuba: A new Instrument for Weber's law; with indications of a law of
sense-memory. American Journ. of Psych. V, pag. 370.
•) Bourdon: Influence de l'äge sur la memoire immediate. Revue phüo-
sophiqae 1894.
Neuere Abbandlungen und Unterfuchungen über da« Gedächtniss. 95
Aber bei der Bildung dieser Silben und Reiben Hess man nicht den blossen Zu-
fall walten, sondern es wurde dafür gesorgt, dass in jeder Reihe alle Silben mit
Terschiedenen Gonsonanten anfingen und endeten und dass die Silben kein be-
ksnntes Wort bildeten. Auf diese Weise wurde erreicht, dass aUe Reihen gleich-
förmig und gleichwertig waren. Die zu erlernende Reihe war auf einem Cylinder
befindlich, der sich um eine horizontale Achse drehte mit gleicher Geschwindig-
keit, so dass die Versuchsperson die einzelnen Silben bei einem Spalt nacheinander
vorüberziehen sah. Das Lesen der Silbenreihe geschah stets mit dem Ton auf der
ungeraden Nummer, also mit trochäischem Rhythmus. Jede Reihe wurde als ge-
lernt angesehen, wenn sie einmal ohne Fehler wiederholt werden konnte. An 6
Personen wurden mehr als 4000 Versuche dieser Art angestellt. Wie die Reihen
zu den einzelnen Versuchszwecken gebildet wurden, möge aus folgendem Beispiel
erhellen. Es wurden am ersten Tage 6 Reihen Yon je 12 Silben aufgestellt und
zum Lernen gegeben; sie mögen bezeichnet werden mit I^ I, I, . . . 1^^; IIi 11«
n, . . . lli%; . . . VIi Vit Vg . . . Vis. ^s bedeutet also lüg die achte Silbe
der dritten Reihe. Am folgenden Tage wurden aus demselben Silbenmaterial wieder
6 Reihen hergestellt und zwar zwei davon ganz beliebig, die folgenden zwei
schlössen 5 Gruppen yon Silben ein, wie sie in den am Yorhergenden Tage ge-
lernten schon vorkamen und zwar in demselben Rhythmus, also z. B. IV5 IVg;
die letzten zwei schlössen ebenfalls 5 Gruppen von Silben ein, die in den zuerst
gelernten schon vorkamen, aber jetzt in entgegengesetztem Rhythmus, also z. B.
^4 IV5. Am dritten Tage wurden wieder 6 ganz neue Reihen angewandt u. s. w.
£s bmd sich, dass die Anzahl der zum Auswendiglernen nöthigen Wiederholungea
am ersten Tage 16,7 war ; am zweiten Tage bei Gruppe I 16,6, bei Gruppe IE 11,6,
bei Gruppe III 15, woraus zu schliessen war, dass die Association zwischen zwei
benachbarten Silben, die zu demselben Rhythmus gehören, stärker ist, als die
zwischen Silben mit verschiedenem Rhythmus.
Die Verfasser finden folgende Resultate : Die Zusammenfassung der Silben zu
Tacten ist für das Auswendiglernen von durchgreifender Bedeutung, und zwar
wird eine Silbenreihe bei trochäischem Rhythmus schneller erlernt als bei jam-
bischem. Auch bei zwei Silben, die nicht unmittelbar aufeinanderfolgen, sondern
durch eine oder mehrere andere Silben getrennt sind, ist die Wirkung der Asso-
ciation erkennbar und zwar ist sie stärker zwischen den ungeraden als zwischen
den geraden Silben, weil auf den ersteren der Ton liegt. Eine Silbe ist auch
assocürt mit der Stelle, die sie in der Reihe einnimmt. Die mit einem gewissen
Rhythmus gelernte Reihe wird am nächsten Tage mit demselben Rhythmus leichter
wieder gelernt als mit anderem Rhythmus. Von besonderem Werthe sind die
Aussagen der Versuchspersonen über die Art, wie ihr Gedächtniss in Thätigkeit
tritt, das Auswendiglernen stützte sich nämlich bei einer Person ganz beträchtlich
auf visuelle Mittel, so dass sie nachher nicht wusste, ob sie die Reihe vom Papier
oder aus dem Gedächtniss abgelesen hatte, d. h. das Bild der Silbe im Spalte
stand stets deutlich vor ihren Augen. Allerdings wurden von derselben Person
wieder andere Silben rein mechanisch hergesagt. Bei anderen Personen liess sich
das acustische Gedächtniss deutlich bemerken ; war eine Silbe als ganzes auch von
ihnen vergessen, so war doch der Vocal in der Mitte im Gedächtniss haften
geblieben.
Auch heute kann die Methode und die Genauigkeit der Untersuchungen noch
96 Paul Plettenberg.
als Muster dienen; die Abhandlung ist für jeden, der sich mit experimenteller
Psychologie beschäftigen will, eine Richtschnur, wenn auch die Resultate nicht
Ton grosser Tragweite sind.
F^ederick E. BoUon. The accuracy of recollection and obserTstion.
Psych. Review m, 1896.
Die hier veröffentlichten Versuche beziehen sich theils auf die oben be-
zeichnete Aufgabe I, theils auf Aufgabe lY. Sie wurden angestellt an 92 Per-
sonen verschiedenen Alters und Geschlechts in der psychologischen Abtheilung an
der Universität von Wisconsin.
Es wurden den Personen die verschiedensten Fragen vorgelegt, die sie mit
Hülfe ihres Gedächtnisses zu beantworten hatten, und sie selbst hatten ihre eigenen
Antworten zu characterisiren durch die dazugesetzten Prädicate: 1. ganz sicher,
2. sicher, 3. ziemlich sicher, 4. unsicher. 5. ganz unsicher. Es wurde z.B. gefragt:
„Was für Wetter hatten wir heute vor 8 Tagen?** 66 Personen antworteten: «kalt*.
32 „warm", 36 „klar und hell", 37 „stürmisch", 21 regnerisch" und 2 „schneeig*.
Dabei war es an dem betreffenden Tage stürmisch gewesen. Von den 37 richtigen
Antworten hatten sich 16 mit ganz sicher, 4 mit sicher, 9 mit ziemlich sicher.
6 mit unsicher, 2 mit ganz unsicher characterisirt. Von den überhaupt restirenden
falschen 55 Antworten hatten sich 2 als ganz sicher, 14 als sicher angegeben. Um
die Antworten der 26 Frauen mit denen der Männer zu vergleichen, wurden aus
denen der Männer auch 26 ausgeloost, und es fanden sich dann von 26 Antworten
der Frauen 14 richtig, während es nur 5 der Männer waren. Dabei hatten ihre
Aussagen bezeichnet bei den Frauen: 13 ganz sicher, 4 sicher, 6 ziemlich sicher.
3 ungewiss; bei den Männern: 1 ganz sicher, 10 sicher, 7 ziemlich sicher, 3 un-
gewiss, 1 ganz ungewiss und 4 waren ohne Bezeichnung. Verfasser führte nun
für die fünf Grade der Sicherheit Zahlen ein, von 1 = ganz ungewiss u. s. w.
bis 5 = ganz sicher. Dadurch fand sich für das Gedächtniss der Frau als Mittel
4,04, des Mannes 3,32. Somit hatte sich also gefunden, dass die Frauen bessere
Beobachter des Wetters wären, und dass sie sich auch ihrer Beobachtungen besser
zu erinnern vermöchten.
In gleicher Weise wurde vom Verfasser eine ganze Reihe von Fragen aus
verschiedenen Gebieten behandelt, z. B. welche Richtung die Apfelkerne zeigen:
ferner geschichtlicher Art : über das Geburtsjahr Luther's und Michel Angelo's, über
das Sterbejahr Victor Hugos und Charles Dickens'; dann Schätzungen von Ge-
wichten, Entfernungen, Strecken, Zeitabschnitten, die Zeichnung des Grandrisses
eines bekannten Gebäudes u. s. w. Uebereinstimmend mit früheren Versuchen
zeigte sich hier die Tendenz, Gewichte und Grössenverhaltnisse zu unterschätzen,
•dagegen Zeitgrössen zu überschätzen. Distancen wurden im Gegensatz zu froheren
Angaben unterschätzt. Es zeigte sich, dass die sicherste und bestimmteste Er-
innerung zu finden war bei den Antworten in Bezug auf das Wetter (nach obiger
Scala 3,33). Mittelwerte für die Stärke des Gedächtnisses wurden gefunden bei
der Abschätzung von Strecken und Entfernungen (2,92—2,49) und Gewichten (2,29).
Die tiefsten Werthe finden sich bei den historischen Fragen (1,84—1,79). Hieraus
erhellt, dass die geringsten Grade der Sicherheit des Gedächtnisses solche Fragen
betrifft, deren Beantwortung das Gedächtniss ganz allein beschäftigt, die höchsten
«Grade aber solche, deren Beantwortung auf eigenen Beobachtungen beruht, ^o
Neuere Abhandlungen und Untersuchungen Aber das Gedächtniaa. 97
GedäehtniBs und Beobachtung in gleicher Weise betheiligt sind, gilt ein mittlerer
Werth fSr die Sicherheit des Gedächtnisses.
Von groastem Interesse ist der Vergleich der Richtigkeit der Antworten mit
der von den Personen selbst angegebenen Characteristik der Antwort. Es zeigt
sich, dass die Schätzungen von Zeit und Strecken am correctesten und am zuyer-
sichtlichsten ausgeführt wurden.
Wie bei dem oben ausgeführten Beispiele findet sich auch bei den anderen
Fragen ein deutlicher Unterschied in den ron Männern und den Ton Frauen ge^
gebenen Antworten. In quantitativen Maassschätzungen zeigen sich die Männer
genauer, und sie machen ihre Angaben mit grösserer Sicherheit als die Frauen.
Ferner zeigte sich, daaa daa männliche Geachlecht aeine Angaben meiat mit dem
Mittelwerthe : „ziemlich aicher** zu machen pflegte, während das weibliche Ge^
schlecht von den extremen Bezeichnungen: „ganz sicher*' resp. „ganz unsicher^
mehr Gebrauch machte als die Männer.
Was nun die Resultate hinsichtlich der Unterschiede zwischen dem männ-
lichen und dem weiblichen Geschlecht angeht, die sich bei der Beantwortung
einzelner Fragen gezeigt haben, so ist doch nach Ansicht des Ref. nicht erwiesen,
dass dieaelben eben durch daa Geachlecht an aich bedingt, oder ob aie durch
inssere Verhältniaae veranlaaat aeien. Daaa die Frauen daa Wetter beaaer be-
obachten, erklärt sich doch daraua, daaa aie durch Rückaicht auf ihre Kleidung
zu solchen Beobachtungen gezwungen werden, braucht aber an aich durchaua nicht
weibliche £igenthümlichkeit zu aein. Auf der anderen Seite werden im täglichen
Leben Schätzungen von Gewichten, Strecken u. a. w. kaum Yon ihnen verlangt,
80 daaa ihnen eben jede Uebung darin fehlt, während aolche Aufgaben oft genug
sehon an den Knaben herantreten. Ea handelt aich alao hier nach Meinung des
Ref. um Unterachiede, die aich nicht durch beaondere Eigenthümlichkeiten der Ge-
schlechter erklären laaaen, aondern vielmehr durch äuaaere Verhältniaae.
Shepherd Ivory Franz and Henry E. Hontton. The accuracy of obaervation
and of recoUection in school children. Psych. Review IQ, 1896.
Diese Abhandlung behandelt dieselben Aufgaben, wie die vorhergehende und
ist eine Ergänzung derselben insofern, als sie die Schuljugend in derselben Weise
einer Prüfung unterzieht, wie es dort mit Erwachsenen geschehen war. Die Verf.
haben Untersuchungen angestellt an Schülern der Horace Mann-Schule in New-
York und der Paterson High School und sind dabei ganz nach demlTorbilde von
Bolton vorgegangen; die Fragen, welche z. Th. sogar identisch mit den dort an-
gegebenen sind, waren folgende: 1. Welches Wetter hatten wir heute vor 8 Tagen?
2. Welches vor 14 Tagen? 3. In welche Richtung zeigen die Spitzen der Apfel-
kerne? 4. Vor wieviel Jahren ist Washington gestorben? 5. Wieviel Schritte ist
es von dem Thor des Schulhauses bis zur nächsten Strassenecke? 6. In wieviel
Sekunden wird diese Strecke von euch zurückgelegt? 7. Wieviele Male seid ihr
seit den Ferien durch das Schulthor gegangen? 8. Wieviel wiegt das . . . Lehr-
buch, welches sich in eurer Hand befindet? 9. Zeichnet im Verhältniss 1 Zoll
zu 20 Fiiss einen Grundriss der unteren Halle!
Bei der Beantwortung dieser Fragen interessieren uns am meisten die quan-
titativen Schätzungen 6 — 9. Dabei zeigt sich, dass auch jüngere Schüler Gewichts-
und Gestaltsverhältnisse sowie Entfernungen unterschätzen, dagegen Zeit- und
SSeitsehiift fttr Hypnotiamiis etc. X. '^
^ Paul Plettenberg.
Häufigkeitsverhältnisse überschätzen. Im Ganzen waren die Angaben älterer
Schüler genauer, als die der jüngeren. Wurden die Antworten der Knaben und
Mädchen gesondert geprüft, so zeigten sich die Angaben Bolton's bestätigt. Die
Mädchen erinnerten sich des Wetters besser als die Knaben, aber die Schätzungen
der Knaben bei Entfernungen, Zeit- und sonstigen Grössenverhältnissen kamen
der Wirklichkeit näher, als die der Mädchen. Bei Gewichtsschätzungen standen
sich die Resultate an den beiden oben genannten Schulen gegenüber, bei Häufig-
^eitsangaben waren aber in beiden Fällen die Mädchen zuverlässiger.
Wie bei den B o 1 1 o n 'sehen Versuchen mussten auch hier die Antworten der
Schüler von ihnen selbst characterisirt werden, doch Hessen sich daraus keine all-
gemeinen Schlüsse ziehen. Wohl aber war deutlich zu sehen, dass die für die
l^esten gehaltenen Schüler ebenso unsicher darauf los schätzten, wie die schlechtesten
der Klasse, und dass gerade die Schüler mittehnäsaiger Begabung in ihrem Urtheil
ein wenig genauer waren als die anderen.
Jonas Cohfif Experimentelle Untersuchungen über das Zusammen-
wirken des acustisch-motorischen und des visuellen Gedächtnisses.
!5eitschi:ift für Psych, und Physiol. der Sinnesorgane, Bd. XV, 1897, pag. 161-183
(vergl. auch Jonas Cohn: Beiträge zur Kenntniss der individuellen Verschieden-
heiten des Gedächtnisses. HI. Psychologen-Congress München pag. 466—57).
Die Arbeit beschäftigt sich mit der oben angegebenen Aufgabe I, sie be-
handelt das Zusammenwirken verschiedener Sinne bei complezen Reizen.
Ein Buchstabe wird entweder als gehörter Laut oder als gesprochener L&ut
(durch eigene Sprechbewegung) oder als geschriebenes resp. gedrucktes Elemeni
im Gedächtniss behalten. Verf. untersucht diese verschiedenen Gebiete des Ge-
dächtnisses einzeln und in ihrem Zusamjnenwirken, und es ist iV^Tn gelungen, die
Analyse für das acustisch-motorische Gebiet einerseits, für das visuelle Gebiet
andererseits durchzuführen, während eine Trennung des acustischen vom motorischen
Behalten nicht möglich gewesen ist. Die dabei angewandte Methode ist folgende :
Es sollte das acustisch-motorische Büd während der Auffassung einer Buchstaben-
seihe entweder angeregt oder möglichst abgelenkt werden. Dazu wurden Schemen
von 12 Consonanten in Reihen zu je 4 angewandt. Die Versuchsperson sah durch
einen in einem schwarzen Schirm angebrachten Verschluss, den sie selbst poen-
matisch öffnen konnte. Die Buchstaben wurden meist zweimal hintereinander
durchgelesen und zwar in dreifacher Weise : 1. als lautes artikulirtes Lesen, 2. unter
möglichstem Ausschluss der Artikulation, indem die Zunge umgeroUt gegen den
oberen Gaumen gepresst und die Lippen streng geschlossen bleiben, 3. unter gleich-
zeitiger Aussprache eines Vocals oder der Zahlen von 1 bis 20 oder erschwerter
Zahlenreihen wie 1, 3, 5 . . .; 2, 4, 6 . . .; 20, 19, 18 . . . Da aber dies Aus-
sprechen der Zahlenreihen bald mechanisch geleistet wurde, so ergab sich dadurch
keine grössere Ablenkung der Aufmerksamkeit, als durch das Aussprechen eines
Vocals, so dass schliesslich diese Form allein benutzt wurde. Nach dem Lesen
wurde die Oeffnung wieder geschlossen und die Versuchsperson musste 10 Minuten
lang zählen von 1 bis 20, wodurch das Bild möglichst aus dem Bewusstsein ent-
fernt werden sollte, was auch in den meisten Fällen gelang. Nun wurden ver-
schiedene Versuche angestellt; a) es wurde ein leeres Schema gezeigt mit nur
einem Buchstaben an einer Stelle, von dem .gesagt werden musste, ob er an dieser
Neuere Abhandlungen und Untersuchungen über das Gedächtniss. ^9
Stelle gestanden hatte oder nicht, b) es war der an der Stelle eines Fragezeichen«
befindliche Buchstabe anzugeben, c) es wurde alles überhaupt Behaltene zu nennen
verlangt. Taglich wurden 15 Versuche an jeder der 13 Versuchspersonen ange-
stellt und zwar für jede Person zu derselben Tageszeit. Verf. nahm ausser dem
Zahlen der Fehler noch eine Fehlerstatistik Yor und sammelte sorgfältig alle Selbst-
Wahrnehmungen.
Die Annahme, dass durch lautes Aussprechen, also durch Qehör und gleich-
zeitige Bewegung das Gedächtnissbild gestärkt wird, bestätigte sich, ebenso das«
durch gleichzeitiges Vocalsprechen das Gedächtnissbild geschwächt wird. Jedoch
kommen individuelle Eigenschaften zur Geltung; eine Person, deren Gedächtnis«
stark auf dem acustisch-motorischen Elemente beruht, zeigte bei den oben ange-
gebenen Versuchsformen 2 und 3 ein deutlich geschwächtes Gedächtniss, während
bei Personen, deren Gedächtniss hauptsächlich auf dem yisuellen Element beruhte,
dieser Unterschied bei weitem geringer war. Wo es nur irgend möglich war,
zeigte sich bei acustisch-motorischen Störungen das visuelle Gedächtniss bereit
helfend einzutreten. Als Mittel des Behaltens erweisen sich bei acustisch-moto-
rischen Bildern stets der Hhythmus (vgl. die oben besprochene Arbeit von Müller
und Schumann), bei visuellen Bildern das Längenverhältniss der Buchstaben.
Endlieh treten noch Mittel associativer Art auf.
Aus der Art der gemachten Fehler liesse sich folgendes deutlich erkennen.
Ein Glied einer in Takte getheilten Reihe ist stärker verbunden mit seiner Stelle
im Takte als mit der Stellung seines Taktes in der Reihe. Fast alle, die acustisch-
motoriseh aufzufassen gewohnt sind, fassten die 4 Buchstaben einer Linie in einen
Takt zusammen, und so verwechselten sie vorwiegend unter einander stehende
Buchstaben. Ferner neigen acustisch behaltende Personen öfters zum Verwechseln
der im Alphabet gleich an- oder auslautenden Buchstaben wie f, 1, m resp. b, c,
d; visuell behaltende Personen dagegen zum Verwechseln gleich langer Buch-
staben. Personen mit gemischtem Gedächtnisstypus zeigten vorwiegend das Ver-
wechseln unter einander stehender Buchstaben.
Die Arbeit ist wie die oben besprochene von Müller und Schumann
durchaus mustergültig; sie zeichnet sich namentlich durch die zur Trennung der
acustisch-motorischen von den visuellen Reizen angewandte Methode aus, die bei
ähnlichen Arbeiten nicht immer zu finden ist.
Louia Ghrand Whitehead: A study of visual and aural memory pro-
cesses. Psych. Review Bd. III 1896.
Die Arbeit behandelt die Aufgabe I; sie sucht folgende drei Fragen unter
Anwendung der Müll er -Schumann 'sehen Methode zu beantworten: 1) Lernt
sich eine Reihe schneller durch Vermittelung des Gehörsinns allein oder des Ge-
sörsinns allein? 2) Wie stark ist dos Gedächtniss für solche Reihen, wenn sie
durch den Gehörsinn resp. Gesichtssinn allein memorirt werden? 3) In welcher
Weise wird das Neulernen einer früher gelernten aber schon wieder ganz oder thcil-
weise vergessenen Reihe erleichtert, wenn sie beim zweiten Male einem anderen
Sinne als beim ersten Male dargeboten wird? Bei Vorführung der Silbenreihen
wandte Verf. eine Geschwindigkeit von 58 in der Minute an. Die Stärke des
Gedächtnisses wurde gemessen einmal durch die Zahl der nöthigen Wieder-
holungen und ferner durch die dazu gebrauchte nöthige Minutenzahl. Alle Fälle,
7*
100 Paul Plettenberg.
wo nicht gleich der erste Versuch zu wiederholen gelang, wurden ganz beiseite
gelassen. Nun handelt es sich aber um Versuche mit yerschiedenen Sinnesorganen,
und daher war es nöthig, für beide Sinne möglichst dieselben VerhältDisae zn
schaffen d. h. dafür zu sorgen, dass die ihnen vermittelten Eindrücke klar and
deutlich und von gleicher Intensität waren. Da aber eine Gehörsempfindung, um
deutlich zu sein, kürzere Zeit des Reizes verlangt als eine Gesichtsempfindang, so
wird es für genaue Untersuchungen nöthig sein, zunächst durch Versuche die Be-
dingungen festzustellen, welche Gleichheit von Dauer und Intensität für Gesichti»
und Gehörreize sichern. Verf. muss sich dagegen damit begnügen, dieser Gleich-
heit empirisch möglichst nahe zu kommen, indem er für jeden Reiz ^1^^ annimmt
Die an 13 Personen, 6 Frauen und 7 Männer, angestellten Versuche ergaben
auf die erste Frage die Antwort, dass im Durchschnitt die dem Gesichtssinn er-
mittelten Reize ein Memoriren eher ermöglichen, als die dem Gehörsinn gegebenen,
wenn auch in einzelnen Fällen das Gegen theil eintrat. Zur Beantwortung der
zweiten Frage wurde durch den Gesichtssinn resp. den Gehörsinn eine Silbenreihe
memorirt und nach 8 Tagen dieselbe Reihe durch denselben Sinn wieder ein-
geprägt. Dabei wurde gefunden, dass regelmässig das zweite Einprägen schneller
und zwar um so schneller geschieht, je mehr Wiederholungen der Reihe beim
ersten Male nöthig gewesen sind. Da für beide Sinne nahezu dasselbe gilt, so
folgt, dass für beide Sinne die Stärke des Gedächtnisses oder des Vergessens nn-
gefähr dieselbe ist. Wurde bei Untersuchung der dritten Frage dieselbe Reihe
später einem anderen Sinne zum Auswendiglernen übermittelt, so fand sich mit
wenigen Ausnahmen das zweite Einprägen auch erleichtert und schneller erreicht.
Es folgt daraus, dass sich die verschiedenen Sinne im Gedächtniss unterstützen.
Grosse Sicherheit geben diese Versuche nicht, da, wie Verf. zugiebt, nicht
hat verhindert werden können, dass die Versuchspersonen beim Sehen der Silben
dieselben auch sprechen, wenn auch nur leise; es ist dann aber das visuelle Ge-
dächtniss durch dasjenige der activen Bewegungen unterstützt worden, und dies
hätte sich in der von Cohn angegebenen Weise (vergl. die vorangehende Be-
sprechung) verhindern lassen. Ferner hat es seine grossen Schwierigkeiten Ge-
sichts- und Gehörempfindungen der Intensität nach vergleichen zu wollen. DaTon
abgesehen hat Verf. mit Sorgfalt die Bedingungen und Fehlerquellen seiner Ver-
suche discutirt.
Chauncy J. Sawkins: Experiments on memory types. Psych. Reriew
Bd. IV 1897 pg. 289-294.
Die Arbeit beschäftigt sich mit der oben bezeichneten Aufgabe I, da der Verf.
untersucht, wie das Gedächtniss — einerseits das Gehörgedächtniss andererseits
das Gesichtsgedächtniss — von der Wiederholung abhängt.
a) Dus Gehörgedächtniss. An Personen verschiedensten Alters wurden Ver-
suche derart angestellt, dass ihnen drei Gruppen von je 10 Zahlen im Secunden-
iempo vorgesprochen wurden; die erste einmal, die zweite zweimal, die dritte
dreimal Es wurde dann untersucht, ob und wie das Gedächtniss durch das zweite
und dritte Vorlesen gestärkt wird. Es zeigte sich, dass mit einer Ausnahme dss
Gedächtniss durch zweimaliges Lesen geschwächt, in allen Fällen aber durch ein
dreimaliges Lesen wieder gestärkt war. Verf. erklärt dies dadurch, dass die beim
ersten Lesen gebildeten Associationen und Zusammenfassungen der Zahlen durch
Neuere Abhandlungen und Untersuchungen über das Gedächtniaa. 101
neue beim zweiten Lesen gebildete gestört werden und durch diese Störung
flehliesBÜch beide beeinträchtigt werden; durch das dritte Lesen werden die
einzelnen früheren Associationen wieder geordnet.
Die gefundenen Resultate Hessen sich auch individuell verwerthen, sie zeigten,
wie ausserordentlich verschieden das Gedachtniss bei den einzelnen Personen ent-
wickelt ist. Die einen konnten die ganzen Reihen, die anderen nur 2 bis 3 Zahlen
SDgeben. Jüngere Schüler geben sie fast immer ohne Zögern an, während ältere
zauderten, jüngere Schüler haben grössere Empfänglichkeit für Eindrücke, halten
aaeh die Gedächtnissbilder stärker zurück und erfreuen sieh eines unwillkürlichen
ErinnerungsTermögens, während ältere Personen mehr absichtlich die Reize auf»
oelunen und sich ihrer zu besinnen suchen.
b) Zur Prüfung des Gesichtsgedächtnisses wurden 2 Reihen, jede zu 15 Worten,
auf einer Tafel yerdeckt. Die erste Reihe wurde dem Auge des Beschauers
15 Secunden lang ausgesetzt; bei der zweiten Reihe wurde jedes Wort zwei
Secunden lang gezeigt und dann ausgelöscht. Es sollte bestimmt werden, ob das
„simultane^ oder das „successive'^ Gedachtniss stärker sei. Bei den an Schülern
von 8 bis 15 Jahren yorgenommenen Versuchen, zeigte sich das successiye Ge-
dachtniss bei weitem besser (22 ^q) als das simultane, doch verschwand dieser Unter-
Bchied bis auf ein geringes (1%) mit der Alterszunahme. Verf. erklärt diese Er-
scheinung mit dem geringen Associationvermögen der Jugend. Denmach müsste
schliesslich bei Erwachsenen das simultane Gedachtniss das bessere sein, und in
der That fand Verf. bei Knaben von 15 bis 20 Jahren dies bestätigt.
e) Vergleich des Gesichts- und Gehörsgedächtnisses. Es wurden einer An-
»hl von Schülern zwei Gruppen von je 10 Worten vorgeführt, die erste wurde
vorgelesen, die zweite wurde an einer bedeckten Tafel durch Wegnahme der Hülle
in demselben Takte den Augen dargeboten und jedes einzelne Wort danach aus«
gelöscht. Es sollte untersucht werden, was stärker sei, das Gehör- oder Gesichts-
gedachtniss. Mit Ausnahme eines Falles zeigte sich das Gehörgedächtniss stärker
als das Gesichtsgedächtniss bei jüngeren Schülern, dagegen bei älteren umgekehrt,
was Verf. damit zu erklären sucht, das jüngere Schüler überhaupt mehr auf das
JBÖren merken, dass bei älteren dagegen das Gesichtsgedächtniss sich selbstständiger
entwickle.
Aber auch hier sind die Resultate nur mit Vorsicht aufzunehmen, da der
Verf. selbst angiebt, dass einige Schüler die ihren Augen dargebotenen Worte
leise auszusprechen suchten. Sobald dies aber der Fall ist, kann von einem reinen
Gesichtsgedächtniss nicht mehr die Rede sein. Sollen derartige Versuche unbe-
strittenen Werth haben, so muss mit der grössten Vorsicht alles beseitigt werden,
was nicht dem untersuchten Sinne angehört (vgl. wieder die oben besprochene
Abhandlnng von Gohn).
Mary Whiton Caütins: A study of immediate and of delayed recall
of the concrete and of the verbal. Psych. Review Bd. V 1898 pag. 451
bis 462.
Die Abhandlung beschäftigt sich mit der Stärke des Gedächtnisses vermittelt
durch verschiedene Sinne und Reize also mit Aufgabe I, da aber auch der Ein-
fiuss der Zeit theilweise in Berücksichtigung gezogen wird, wird sie auch der
Aufgabe Ha gerecht.
102 Paul Plettenberg.
Die moderne Unterrichtsmethode stützt sich auf die Behauptung, dass der
concreto Gegenstand leichter im Gedächtniss behalten werde ab das Wort, fordert
also den Anschauungsunterricht. Schon Kirkpatrick hatte zur Prüfung dieser
Behauptung bei Studenten die Leichtigkeit untersucht, mit der sie sich der Tor
ihnen ausgesprochenen, der ihnen gezeigten Worte und endlich der ihnen ge-
zeigten Gegenstände, möglichst von gleicher Grösse, erinnerten. Verf. hat die
Absicht die Besultate dieser Untersuchungen noch einmal zu prüfen und dabei
die Bedingungen möglichst ein- und gleichförmig zu bilden. Vor 50 weiblichen
Studenten wurden zu dem Zwecke Worte und Bilder von Gegenständen durch
«ine Projectionslampe auf einen Schirm geworfen und die Zeit der Darstellung
ebenso wie die Zwischenzeiten der Darstellungen durch eine electrische Lampe
regulirt. Ausserdem wurden in genau demselben Tempo Reihen von Worten
ihnen vorgesprochen. Die Keproduction dieser Reihen wurde entweder sofort
oder nach einem längeren Zwischenraum verlangt.
Die Resultate einer grossen Anzahl von Versuchsreihen bekräftigen die von
Kirkpatrick angegebenen Resultate: das auf Anschauung begründete Gedächt-
niss ist dem anderen Gedächtniss weit überlegen, und namentlich zeigt sich dies
•bei späteren Erinnerungen. Wurden die Einzelleistungen betrachtet, so fand sich
im Allgemeinen das sofortige Gedächtniss grösser ak das später, ausgenommen
8 Fälle von Gegenstandsgedächtniss und 2 Fälle von Wortgedächtniss, wo sich
kein Unterschied zeigte. Ja sogar die Reihenfolge wurde von 5 Personen n&ch
zwei Tagen noch ebenso gut oder sogar besser angegeben beim Gegenstandsge-
'dächtniss; von 4 Personen beim Wortgedächtniss ebenso gut oder besser. In
den übrigen Fällen wurde sie nach Verlauf einer Zwischenzeit ungünstiger ange-
geben als sofort.
Das Gedächtniss für die gesehenen Worte zeigte sich bedeutend stärker als
das für gehörte Worte. Wurde das Gedächtniss sofort geprüft, so wiederholte
die Hälfte der Personen mehr gesehene als gehörte Worte, % d®'* Personen um-
gekehrt mehr gehörte als gesehene Worte und der Rest, */,o, zeigte keinen Unt^r-
schied; wurde das Gedächtniss nach einem Litervall geprüft, so waren die ent-
sprechenden Zahlen %, ^|^, '/gg. Inwiefern die Versudispersonen gehindert wurden,
ihr Gesichtsgedächtniss dabei anderweitig zu unterstützen, etwa durch leises Lesen,
giebt Verf. nicht an.
Von den verschiedenen gegebenen Reihen wurde die erste am besten be-
hsdten, dann die zweite, die mittlere am wenigsten genau. Seltsamerweise hat die
letzte Reihe sehr wenig Eindruck, bei Erinnern nach einem Zwischenraum ist sie
für gehörte Worte sogar die schlechteste.
Ausserordentlich interessant und wichtig ist das Studium der begangenen
Fehler. Wenn z. B. bei Prüfung des Wortgedächtnisses light für lamp, boot fnr
shoe gesetzt wurde, so geht daraus hervor, dass das Wortgedächtniss selbst con-
cret handelt, d. h. dass nicht die Worte selbst, sondern Vorstellungen ins Ge-
dächtniss übergehen, die wir nachher mit anderen Worten belegen können.
Ref. hält es für wünschenswerth, nun auch noch statt der Bilder von Gegen-
ständen die Gegenstände selbst zur Prüfung heranzuziehen ; es wäre interessant zu
«rfahren, ob der Eindruck dieser selbst nicht noch besser im Gedächtniss haften
würde als derjenige ihrer Bilder. Dies wäre beim elementaren Anschauungsunter-
richt zu bedenken.
Neuere Abhandlungen und Untersuchungen über das Gedächtniss. 108
JuUm C&urtier: Communication Bur la memoire mustcale. III. intef-
nationaler Congress für Psychologie. Hünchen 1897 pg. 288 — 40.
Am diesem Inhaltsverzeichniss eines auf dem Psychologen - Congress zu
München gehaltenen Vortrages entnehmen wir folgende interessante Angaben.
Dieselben betreffen die Aufgabe I betreffs der Abhängigkeit der verschiedenen
Sinne Ton einander bei Fixirung eines Gedächtnissinhaltes, aber aber auch Auf-
gabe IV, insofern als individuelle Verhältnisse dabei eine grosse Rolle spielen.
Bei der Prüfung des musikalischen Gedächtnisses handelt es sich gar nicht
um das acustische Gedächtniss allein, vielmehr Hessen sich neun verschiedene
Assoeiations typen unterscheiden zwischen Gehör-, Gesichts-, Wort-, Gefühls- und
motorischen Gedächtniss, doch zeigte es sich, dass bei gewissen Personen diese
Associationen nur so lange thätig waren, als nöthig, d. h. sobald das Gehörge-
dächtniss die betreffende Melodie sicher aufgenommen hatte, verschwanden jene.
Ref. stimmt dem aus eigener Erfahrung bei; Melodien, die ihm des Behaltend
werth schienen und doch nicht wie so viele andere von selbst gleichsam spielend
im Gedächtniss haften wollten, wurden durch den Notendruck dem Gesichtsge-
dächtniss, durch das Klavierspiel dem Gefühlsgedächtniss, durch Singen und Pfeifen
dem motorischen Gedächtniss eingeprägt, und zwar war beim Ref. dabei die
Thätigkeit des Gesichtsgedächtnisses am bedeutendsten. Nach kurzer Zeit war
die Melodie dem Gehörgedächtniss einverleibt, so dass sie in jedem Augenblick
recapitulirt werden konnte, ohne erst wie zu Anfang die anderen Gedächtniss-
arten benutzen zu müssen. Ja, zum Niederschreiben der Melodie war nun um-
gekehrt die Thätigkeit des Gehörgedächtnisses in ganz besonderem Maasse noth--
wendig. Verf. fand weiter, dass die Associationen, deren man sich bedient, nicht
etwa dem besonderen Berufe zu entsprechen brauchen, d. h. ein Sänger kann
Associationen benutzen, bei denen keine motorischen Reize des Gesangorgans be-
sonders betheiligt sind.
An Schülern des Conservatoriums und der Stadtschulen zu Paris sind vom
Verf. Versuche angestellt worden, um zu prüfen: 1) das Gedächtniss für Ton-
reihen, indem man Zahl der Noten und Intervalle änderte, 2) Gedächtniss für
Rhythmus, indem man aus einer Note verschiedene rhythmische Formen, in ver-
schiedenen Taktmaassen und verschiedenen Bewegungen darstellte, 3) das Gedächt-
niss für Melodien. Dabei wurde die Wiedergabe verlangt: a) gesanglich sofort
nach dem Hören oder nach dem Ablesen, b) schriftlich ebenfalls sofort nach dem
Hören oder Ablesen, c) gesanglich oder schriftlich nach Verlauf einer bestimm teti
Zeit, die Resultate liessen die mannigfaltigsten individuellen Einflüsse erkennen;
es waren physiologische und psychologische Fähigkeiten erforderlich, die bei den
verschiedenen Personen ganz ungleich entwickelt sind. Es zeigte sich, dass zu
einem guten musikalischen Gedächtniss nicht nur ein scharfes, richtiges „musi-
kalisches Gehör**, sondern auch eine „gute Stimme" gehörte. War aber auch eiti
gutes Tongedächtniss vorhanden, so Hess doch das Rhythmusgedächtniss oft zu
wünschen übrig. Es wurde aus einem musikalischen Dictat in */« Tempo nicht
nur ein solches in %, %, *%, ja sogar in */4 oder *U gemacht, sondern die Worte
der Noten wurden auch verdoppelt, verdreifacht, ja sogar vervierfacht. Die
meisten Schüler hatten die Höhe des Tones richtig getroffen; andere hatten nur
mittelmässiges Gehör für die Tonhöhe und ebenso für die Intervalle, die sie gar
nicht zu schätzen verstanden, obgleich Tonika, Dominante u. s. w. Anhaltspunkte
104 Paul Plettenberg.
genug geboten hätten. Es zeigten sich FäUe, wo ein und dieselbe Person eine
Passage yon mehreren Takten correct wiederholt hatte, eine andere Passage von
ebensoyielen Takten und Noten aber zu repetiren unfähig gewesen war. Yeif.
stellt eine eingehendere Untersuchung über solche und ähnliche Fälle in Aussicht.
Nicht angegeben ist vom Verf., ob sich ein Unterschied bemerkbar gemscht
hat bei den oben unter a bis c angegebenen Fällen ; namentlich wäre Fall c ab
zur Aufgabe II gehörig interessant gewesen. Ref. glaubt, dass durch das gesang-
liche und das schriftliche Wiedergeben nicht etwa zwei verschiedene Gedächtnias-
arten getrennt zur Wirkung gebracht werden. Vielmehr ist es sehr wahrschein-
lich, dass beim Aufschreiben einer Melodie leise oder, wie man zu sagen pflegt,
innerlich mitgesungen wird. Wie schon Bourdon bei der Discussion über den
Vortrag des Verf. sagt, wird es sehr schwer sein, festzustellen, welche Person bei
der ßeproduction einer gegebenen musikalischen Tonreihe nur Gehörvorstellungen,
oder nur Bewegungsvorstellungen, oder beides hat. Hier ist für eingehendere
Untersuchungen ein weites Versuchsfeld.
W.von TschiachjTleheT dasGedächtniss für Sinneswahrnehmungen,
m. internationaler Psychologen-Gongress. München 1897 pag. 95 — 109.
Die Abhandlung enthält nur die Angabe der Resultate einer Reihe von Ver-
suchen, welche vom Verf. und seinen Assistenten zu Dorpat angestellt wurden,
um die Abhängigkeit des Gedächtnisses von der Zeit zu bestimmen ; sie behandelt
also die Aufgabe II und soll, da sie fast aUe Sinneswahrnehmungen berücksichtigt,
in allen ihren Resultaten angegeben werden.
Verf. hat fast sämmtliche einfache Reize zur Untersuchung herangezogen und
zum Unterschied von Wolfe und Lehmann den Einfluss grosser Zeitintenraile
betrachtet. Er hält es für sehr wichtig, practisch und theoretisch auf dem Wege
des Experiments für eine möglichst grosse Reihe von Sinneswahrnehmungen zu
ergründen, in welcher Weise auf dieselbe grosse Intervalle einwirken. Die Wahr-
nehmung als solche hat eine gewisse Intensität, und so lange das Gedächtniss diese
Intensität bewahrt, wird im Bewusstsein die Wahrnehmung als solche bewahrt.
Ist dies nicht mehr der Fall, so wird die Wahrnehmung in eine Vorstellung ver-
wandelt und kann als solche noch sehr verschieden lange Zeit bewahrt werden,
abhängig von sehr complicirten Bedingungen. Ferner hielt es Verf. für sehr
wichtig, Parallelversuche für verschiedene Sinnesorgane anzustellen zur Bestimmung
der relativen Entwickelung des Gedächtnisses. Denn die tägliche Erfahrung lehrt
schon, wie ungleich dieselbe ist. Die Reize wurden paarweis gegeben mit be-
sonderem Zeitintervall und dann gefragt, wie sich die beiden Reize in ihrer In-
tensität zu einander verhalten. Die Intervalle wurden erst kurz und dann immer
wachsend genommen bis die Procente der richtigen Antworten unter 50 gingen;
das Intervall, bei dem ein starker Abfall der Procente stattfand oder aucK, wo
der mittlere Fehler an Werth bedeutend zunahm, wurde als Maass des Gedächt-
nisses genommen.
Das Gedächtniss des Raumsinnes wurde gemessen mit Hülfe unserer Haut unter
Anwendung des Web er 'sehen Zirkels (Aesthesiometers). Der auf einer unbeweg-
lichen Unterlage liegende rechte Vorderarm wurde gleichzeitig und gleich stark
mit den Zirkelspitzen berührt, deren Entfernung normal 70 mm betrug, aber dann
um 5 — 20 mm vergrössert oder verkleinert wurde. Als Resultat der Unter-
Neuere Abhandlungen und Untersuchungen über das GedächtnUa. 105
Buchungen, deren Anzahl nicht angegeben ist, fand sieh, das« bei immer grösseren
Zeitin terrallen die Differenz der Abstände der Zirkelspitzen zunehmen musa, damit
überhaupt ein Unterschied wahrnehmbar wird. Es wurden Intenralle von 2 bis
45^ genommen; bei einer Yergrössemng der Zeitinterralle verringerte sich der
Procentsatz der richtigen Sehätzungen von 73 auf 62, wenn die Abstände der
Zirkelspitzen grösser als die Norm waren, während die Procentzahl für Abstände
kleiner als die Norm hier nur unbedeutenden Schwankungen unterworfen war.
Zur Prüfung des Gedächtnisses für den Ortssinn wurden 2000 Versuche an-
gesteUt derart, dass bei der Versuchsperson eine Stelle des Vorderarms mit einem
Aoilinstift berührt wurde, während derselbe auf einer festen Unterlage ruhte; die
Versuchsperson mnsste nach geraumer Zeit mit einem gleichen Stifte die berührte
Stelle anzugeben versuchen, ähnlich wie früher Levybei seinen Untersuchungen es
machen liess. Es fand sich, dass Wahrnehmungen des Ortssinnes mit ausreichender
Gewissheit nicht länger als eine Minute aufbewahrt werden können.
An 3 Personen wurden 3328 Versuche über passiven und 3324 über activen
Muskelsinn angestellt, indem drei kupferne Hohlcylinder, deren Gewicht durch
Schrotfüllung auf 90, 100 und 110 g. resp. auf 95, 100 und 105 g gebracht werden
konnte, angewandt wurden entweder zur Belastung der Fläche der auf einem
Gypsnegativ ruhig liegenden Hand oder um mittelst des grossen oder des Zeige-
fingers in die Höhe gehoben zu werden. Nachdem einer dieser Cylinder 3 Se-
cunden lang seine Wirkung ausgeübt hatte, wurde er wieder entfernt und nach
Verlauf einer gewissen Zeit ein zweiter zur Wirkung ebenfalls 3 Sekunden be-
nutzt. Es fand sich, dass das Gedächtniss sowohl passive als auch active Muskel-
empfindung länger als 1 Minute mit grosser Genauigkeit aufbewahrt; erst nach
3 bis 4 Minuten verliert die Wahrnehmung endgültig ihre Schärfe. Ein Unter-
schied zwischen Gedächtniss für passiven und demjenigen für activen Muskelsinn
hat sich durch diese Versuche nicht ergeben, obwohl wahrscheinlich ist, dass das
für activen Muskelsinn das entwickeltere ist.
Die Untersuchung des Gedächtnisses für active Bewegungen ist mit Hülfe
der zuverlässigsten mathematischen Methode durchgeführt worden. An drei Ver-
suchspersonen sind 6000 Versuche ausgeführt, die alle graphisch eingetragen
wurden. Der linke Vorderarm lag unbeweglich auf einer Unterlage vom Ellbogen
bis zum unteren Ende des Armes, die Handfläche wurde senkrecht nach rechts
hin gehalten. Auch die Fingergelenke wurden unbeweglich gehalten durch ein
Brett, welches entsprechend dem Ende des Zeigefingers einen Bleistift trug, welches
ein Papier gerade berührte. Beweglich war nur das Handgelenk, und wurde dies
von links nach rechts gedreht, so beschrieb dieser Stift Bogen eines Kreises,
dessen Radius der Abstand der Mitte des Handgelenkes vom Stift war. Diese
Bewegung begann auf ein Zeichen hin von einer auf dem Papier liegenden un-
beweglichen Kante aus bis zu einem vom Untersuchenden hergestellten Hinderniss-
punkt; so konnten Bogen von 90 bis 100 mm beschrieben werden. Nachdem das
Object die erste Bewegung beendet hatte, wurde die Hand in die erste Lage
zurückgeführt und das in Millimeter getheilte Papier um 4 mm verschoben. Das
Object wurde dann nach einem bestimmten Intervall aufgefordert, die vorige Be-
wegung genau zu reproduciren. Die Versuche zeigten, dass der Fehler bei Inter-
vallen von 30 Secunden bis 1 Minute zuerst abnimmt, um bei 2 Minuten die erste
106 Paul Plettenberg.
Grösse wieder zu erreichen, dann bis 4 Minuten merklich anzuwachsen und bei
10 und 15 Minuten eine bedeutende Grösse anzunehmen.
Das Gedächtniss für die Stärke von Gesichtswahrnehmungen wurde an einem
dem Bumfor duschen Photometer ähnlichen Apparate studirt. Ein durch eine
Micrometerschraube bewegliches Licht warf den Schatten eines Stahlstabes auf
einen Papierschirm ; der Schatten wurde 3 Secunden angeblickt. Durch zahlreiche
Versuche wurde zu Beginn festgestellt, welchen Unterschied in der Intensität die
zu untersuchenden Personen überhaupt mit Sicherheit zu bestimmen yermochten
und unter diese Grenze wurde selbstverständlich nicht gegangen. Dann wurden
zwischen 2 Reizungen verschieden grosse Intervalle gewählt, wobei bei mehr als
5 Minuten Intervall das Licht überhaupt gelöscht wurde. Aus den Versuchen,
deren Zahl nicht angegeben ist, ergab sich, dass das Gedächtniss ein sehr gute«
ist; eine merkliche Abnahme ergab sich erst bei Intervallen von zwei Minuten,
und hoch nach 12 bis 15 Minuten war die Anzahl der richtigen Antworten 60^/V
Der Apparat zur Prüfung des Gedächtnisses für die Intensität der Gehörs-
wahrnehmung bestand aus einer unter 45 ^ geneigten HolzÜäche, auf welche Kugeln
herabfielen, die von einem Electromagneten durch Unterbrechung des Stroms
herabfielen; die Intensität wurde durch die Fallhöhe und diese durch verticalai
Verschieben des Electromagneten verändert. Nachdem wiederum bestimmt war,
bei welcher DifiFerenz der Fallhöhe von den Versuchspersonen überhaupt eine
Aenderung der Intensität wahrgenommen wurde, wurde der Einfluss der Zeit
untersucht und zwar bei der einen Hälfte der Versuche der erste Ton stärker,
bei der anderen Hälfte umgekehrt. Die Versuche wurden an 2 gesunden und 2
kranken Personen und zwar für jedes Intervall 20 Versuche. Es zeigte sich, dass
das Gedächtniss gesunder Personen die Schallintensität bis zu 10 Minuten Intervall
in gleichem Maasse wie unmittelbar nach der Wahrnehmung beibehält, dann aber
beginnt die Abnahme, das Abklingen, das Verlieren der aufgenommenen Ton-
stärke, die Gehörswahrnehmung geht über in eine Vorstellung. Ferner fand sich,
dass der zweite Reiz uns stets um einiges intensiver, der erste aber um einiges
schwächer erscheint als in Wirklichkeit (vergl. Einleitung, Aufgabe IIb), so daaa
wir also weniger Fehler machen, wenn der zweite Ton überhaupt stärker als der
erste war. Bei den Kranken waren die Resultate viel ungünstiger.
Zur Untersuchung des Gedächtnisses für Tonunterschiede endlich wurden
Stimmgabeln von 436, 440, 444, 448, 452 Schwingungen benutzt, welche, um stete
gleiche Intensität zu erzielen, vermittelst einer Feder mit einem Filzhammer an-
geschlagen wurden; jeder Ton tönte 1 Secunde lang. Auf diese Weise wurden
8000 Versuche angestellt an zwei musikalischen, zwei unmusikalischen und einer
kranken Person. Auch hier musste zunächst für jede Person die Grenze der über-
haupt bemerkbaren Tonunterschiede festgestellt werden. Die Fehlerzahl war bei
musikalischen Personen bis zu einem Intervall von 8 Minuten immer noch kleiner
als 50%, bei unmusikalischen war sie grösser und bei Kranken noch bedeutender.
Nebenbei fand sich, dass die Fehlerzahl grösser war, wenn der zweite Ton hoher
war, dagegen kleiner, wenn der zweite Ton niedriger war, woraus wieder xu
schliessen ist, dass wir die Tendenz haben, den ersten Ton im Gedächtniss zu er-
höhen (vgl. Einleitung, Aufgabe Hb).
Vergleichen wir alle diese Resultate, so wäre die Reihenfolge der Gedacht-
nisse der einzelnen Sinnesorgane vom schwächsten zum stärksten geordnet : Raum-
Neuere Abhandlangfcn und Untersuchungen über das Gedächtnis«. 107
sinn, Ortssinn, Mnskelsinn, active Bewegung, höhere Sinnesorgane. Dieses Resultat
steht in Uebereinstimmung mit der alltäglichen Erfahrung. Mit Ausnahme von
zweien fussten alle angefahrten Untersuchungen auf der Methode der richtigen
und der falschen Fälle. Dies setzt aber Toraus, dass die Anzahl der Unter-
suchungen eine genügend grosse ist, was auch meistens zutraf. Nur bei der Unter-
suchung des Gedächtnisses für Intensität der Gehörsempfindung erscheint Ref. die
Zahl von 20 Versuchen für jedes Intervall zu klein, um sicher Schlüsse daraus zu
ziehen.
PatU XiOieZf La continuite dans la memoire immediate des
chiffres et des nombres en sdrie auditive. Ann^e psychologique Bd. II,
1895, pag. 19a-200.
Verf. studirt die Veränderungen, die unser Gedächtniss unbewusst bei der
Reproduction der Zahlenreihen mit denselben vornimmt. Die Abhandlung betriflPt
also die Aufgabe HI.
Bei den vielen vorangehenden Arbeiten über das Zahlengedächtniss ist nie-
mals auf die zwischen den einzelnen Gliedern der gegebenen Reihen liegenden
Intervalle Rücksicht genommen. Nun ist es aber offenbar leichter von 5 auf 6
zu gehen, wie von 2 auf 9 oder von 9 auf 2, das erste ist uns durchaus geläufig^
das andere nicht. Verf. sucht zu ergründen, ob diese Geläufigkeit auf das Ge-
dächtniss irgend eine Wirkung ausübt. Zu dem Zwecke wurden in gleichmässigem
Tempo — zwei Zahlen in der Secunde — Zahlenreihen dictirt, welche von der
zu prüfenden Person sofort nach dem Gedächtniss niedergeschrieben werden
mussten. Dabei wurde das Intervall von einer niedrigeren zu einer höheren
ZiflPer positiv gerechnet und das umgekehrte negativ, z. B. von 2 zu 5 gleich -h 3,
aber von 9 zu 6 gleich — 3. Von jeder Reihe wurde dann die Summe sämmt-
licher aufeinander folgender Intervalle gebildet und diese Summe durch die An-
zahl der Intervalle dividirt; die so erhaltene Verhältnisszahl „der mittlere Dis-
continuitätsquotient" setzt uns in den Stand, auch Reihen von verschiedener
Gliederzahl in Bezug auf die Intervalle zu vergleichen. Die Reihen 23696471 und
21 11
336975 ergeben die Intervallsummen 21 resp. 11, die Quotienten -«- resp. -^.
Die angestellten Versuche Hessen erkennen, dass man die Tendenz hat in der
gegebenen Reihe die Gontinuität wiederherzustellen, d. h. dass man das Bestreben
hat. die Zahlen der Grösse nach zu ordnen; in jedem Falle zeigte sich bei der
reproducirten Reihe die Summe der negativen Intervalle kleiner als bei der ur-
sprünglich gegebenen. In manchen Fällen hatte aber die reproducirte Reihe
weniger Zahlen als die gegebene, und man musste sonach den mittlere Discon-
tinuitätsquotienten zu Hülfe nehmen; der obigen Tendenz entsprechend zeigte
sich derselbe in der wiederholten Reihe kleiner als in der gegebenen.
Verf. untersuchte auch, ob diese Tendenz bei Personen verschiedenen Alters
in gleicher Weise vorhanden sei und fand, dass sie bei Kindern am ausgeprägtesten
sei. £r sucht diese Erscheinung mit Hülfe des Gesetzes von der geringsten An-
strengung zu erklären. Wir alle können die Zahlen in steigender Grösse nach-
einander mechanisch angeben, und eben deshalb ist es mit der geringsten An-
strengung für uns verbunden; alles andere widerstreitet uns und den Kindern
noch mehr.
108 P»^ Plettenberg.
In der Abhandlung sind 25 Reihen von je 7 — 8 Ziffern angegeben, sowie die
entsprechenden von zwei Personen reproducirten. Ob noch weitere Versuche tn
Erwachsenen angestellt, wieviel solche an ELindern vorgenommen sind, ist nicht lu
ersehen. Jedenfalls scheint dem Ref. die Zahl der angestellten Versuche zu gering,
um mit Sicherheit das obige Gesetz daraus zu folgern, um so mehr, als sich das-
selbe dem Ref. bei einer ebenso grossen Anzahl von Versuchen durchaus nicht
mit derselben Evidenz zeigte, wie es in der Abhandlung der Fall ist.
Ä, Binet und V. Henri, La memoire des mots. Ann^e psychoiogique
Bd. I, 1894, pag. 1—23.
Die Arbeit, eine der frühesten auf dem Gebiete der Gedächtnissunter-
suchungen, behandelt Aufgabe III und zum Theil auch IV.
Die Verf. stellen sich die Aufgabe, das Gedächtniss eingehend zu untersuchen;
dabei wurden die zu lernenden Worte nur gesprochen, niemals etwa gezeigt. Dt
femer die Geschwindigkeit der aufeinander folgenden Worte ziemlich gross war,
so glauben die Verf. die Möglichkeit, sich ein Wort durch Gesichtabilder und
durch Bewegungen des Mundes im Gedächtniss zu befestigen, eliminirt und in ihren
Versuchen also ausschliesslich das durch den Gehörnerven vermittelte Gedächtnis
einer Prüfung' unterzogen zu haben.
Es wurden Versuche angestellt sowohl an 380 Knaben der 6cole priwaire zu
Paris im Alter von 8 — 13 Jahren, als auch an 12 Erwachsenen, nämlich 7 Männern
und 5 Prauen. Die Schulversuche waren Massenversuche, d. h. der ganzen Klane
wurden Worte vorgesprochen, die dann aufzuschreiben waren ; die Versuche an
Erwachsenen dagegen waren Einzelversuche im Laboratorium, sie waren Er*
gänzungen zu den ersteren, da hier die Versuchspersonen über ihre Gedanken-
operationen während des Versuches Rechenschaft ablegen konnten. Die Versuche
bestanden darin, dass der betreffenden Person 7 Reihen von je 7 Worten mit der
mittleren Geschwindigkeit von 2 Worten in jeder Secunde vorgesprochen wurden;
nach jeder einzelnen Reihe hatte die Person die im Gedächtniss behaltenen Worte
niederzuschreiben. War dies mit der letzten Reihe geschehen, so hatte die Person
noch einmal das von der Gesammtheit aller 49 Worte im Gedächtniss behaltene
anzugeben. Auf diese Weise wurde also das Gedächtniss sofort nach dem Anhören,
aber auch nach 5 bis 6 Minuten Zwischenzeit geprüft. Nach dem Versuche wurdea
die Erwachsenen eingehend befragt nach ihren Eindrücken, nach ihrem Verfahren,
die Worte zu behalten u. s. w. Die meisten Personen äusserten sich dahin, dass
sie den gehörten Ton im Gedächtniss behalten hätten, und dass sie durchaus nicht
das entsprechende Gesichtsbild sich vor Augen geführt hätten. Nur zwei Aus-
nahmen fanden statt, z. B. ein junges Mädchen gab zu, dass sie alle gesprochenen
Worte auf einem weissen Schirm in 30 cm Entfernung mit grosser Druckschrift
in der Vorstellung vor Augen gehabt habe. Die Verf. glauben, dass durch die Ge-
schwindigkeit des Sprechens die Möglichkeit, Gesichtsbilder zu benutzen, sonst au^
geschlossen war.
Die von den Verf. aufgestellten Resultate lassen sich folgend ermaassen kars
zusammenfassen: 1) die Zahl der Worte, die man behält und nach einem ein«
maligen Anhören wiederholen kann, ändert sich mit dem Alter und der Zahl der
Worte, aus der die Reihe besteht. 2) Die Anzahl der im Gedächtniss endgültig
behaltenen Worte ist = ^s oder % der Anzahl von Worten, die man sogleich
Neuere Abhandlungea und Untenuehungen über das Gedächtniss. 109
nach dem Anhören wiederholen kann. 8) Beim Anhören einer Reihe ron Worten
oder mehrerer Reihen behalt man am besten die ersten und die letzten Worte.
4) Auch der Sinn der rorgesprochenen Worte hat Einfluss auf das Gedächtniss ;
80 war das Wort „Schulbank", obgleich es in der Mitte neuer Reihen stand, ron
der Hehrzahl der Schüler behalten, weil es den Schülern geläufig war und sie
den Gegenstand ror Augen hatten. Jedenfalls hat abo hier nicht der acustische
Beiz allein gewirkt.
Die Erwachsenen beschrieben den Vorgang des ganzen Versuches folgender-
maauen. Wurde mit der gewohnten Geschwindigkeit dictirt, so hatte man Mühe
ffir jedes Wort den Sinn zu fassen und nicht nur den Schall im Gedächtniss zu
bewahren. Diese Thätigkeit strengt an, und sobald man zerstreut ist, gelingt es
nicht. Will man die ganze Reihe wiederholen, so hat man die Empfindung, dass
die letzten Worte der Reihe als Schalle wiederholt werden, ohne dass man sie
venteht, während die Worte des Anfangs und der Mitte mit ihrer Bedeutung im
Qedächtniss erscheinen. Bei einer Aufzählung ron 50 Worten wirkt auch der
Schall nicht mehr; nur die Worte, deren Sinn erfasst ist, werden behalten. Die
Terf. unterscheiden also für ihre Versuche die Zeit sofort nach dem Anhören, wo
die Worte theils ihrem Sinne nach theils nur dem Schalle nach erfasst werden,
?on der späteren Zeit, wo die Worte nur noch dem Sinne nach behalten werden.
Bas Studiam der gemachten Fehler bestätigt dies, denn deutlich lässt sich bei der
sofortigen Wiederholung die Majorität der Fehler als erreurs de consonance fest-
stellen (z. B. dignit^-timidit^), während wir es bei späterer Wiederholung mit
erreurs par analogies d'idees (z. B. Malaga-Mad^re) zu thun haben. Die Verf.
haben dann besonders untersucht, ob dem Sinne nach schwer zu rerstehende
Worte auch am schwersten zu behalten sind. Man könnte doch glauben, dass die
leicht zu Terstehenden Worte am leichtesten zu behalten seien; aber da die Ver-
suchsperson bestrebt ist, alle Worte zu behalten, so hat sie die Tendenz ihre
Aufmerksamkeit ganz besonders auf die schweren Worte zu richten, und daher
priigen sieh diese vornehmlich ein. Der Versuch hat dies bestätigt. Wurden
Reihen gebildet, welche Worte aus fremden Sprachen enthielten, die die Ver-
suchsperson verstand, aber doch nicht so wie die Muttersprache beherrschte, so
war die Gesanmitsumme der behaltenen Worte kleiner als unter den gewöhnlichen
Bedingungen und die Zahl der behaltenen fremden Worte grösser als die Zahl
der französischen Worte. Im Anschluss hieran untersuchen die Verf. das Wesen
der gemachten Fehler eingehender und kommen dabei zu dem Resultate, dass die
Anzahl der wirklichen Fehler, d. h. der Stellen, wo die Angabe der Worte über-
haupt fehlt, bei weitem grösser ist als die Anzahl der Fehler, die darin bestehen,
dass für das richtige ein falsches Wort gesetzt ist (erreurs par Omission resp. erreurs
par imagination). Bei den erreurs par Omission unterscheiden sie zwei Grade : den
Fall, wo ein Wort zwar vergessen ist, aber sofort wieder in die Erinnerung tritt,
sobald es in einer anderen Reihe von Worten der Versuchsperson vorgeführt wird,
und den Fall, wo es vollständig vergessen ist. Bei den erreurs par imagination wird
ein neues Wort an die Stelle des verlangten gesetzt, indem man sich leiten lässt:
1) am häufigsten durch den Reim, 2) durch Analogie der Konsonanten (z. B. feuille statt
fleur], 3) durch Analogie der Bedeutung (z.B. Stuhl statt Tisch), 4) durch Erinnerung an
frühere Reihen ; endlich kamen Fälle vor, die sich gar nicht erklären liessen.
Die Arbeit zeichnet sich durch das eingehende Studium der gemachten
110 Paul Plettenberg.
Fehle): aus und enthält eine grosse Anzahl interessanter Resultate darüber; dsss
aber bei den Versuchen nur acustische Reize auf das Gedachtniss gewirkt hsbea
und nicht auch andere, wie z. B. motorische mit zur Geltung gekommen sind, ist
sehr zu bezweifeln ; allerdings hätte es auch bei Massenversuchen seine Schwierig-
keit gehabt, die letzteren zu beseitigen.
Ä. Binet et F. Henri: La memoire des phrases. Annee psychologiqoe
Bd. I 1894, pg. 24—59.
Wenn schon die Worte zu den complexen Beizen gehörten und sie demDach
verschiedene Sinne erregten, so ist dies in noch höherem Kaasse von ganzen
Sätzen der FalL Kommen bei den Worten schon Vorstellungen hinzu, die du
Gedachtniss unterstützten, so erst recht bei ganzen Sätzen, so dass der Verf.
neben den obigen Titel setzten: la memoire des idees. Die Verf. behandeln die
Aufgabe I, insofern als sie untersuchen, wie die Stärke des Gedächtnisses abhängt
von mehreren Worten, die einen inneren Zusammenhang haben, einen Satz bilden;
da die Art der Aenderungen der Gedächtnissbilder im Laufe der Zeit herange-
zogen werden, wird auch Aufgabe III berücksichtigt, und da endlich auch der
Einfluss des Alters, also indiyiduelle Einflüsse geprüft werden, so wird auch Auf-
gabe IV gestreift.
An 50 Schülern von 4 Primärschulen zu Paris wurden die Versuche ange-
stellt in der Weise, dass ihnen von ihrem Lehrer ein Stück Prosa vorgelesen
wurde, welches sie entweder unmittelbar hinterher oder nach Verlauf von 20 Tagen
aufzuschreiben hatten. Es wurden dabei Dictate verschiedener Länge benutzt
und zwar von 11 bis zu 86 Worten. Die Verf. legten nun nur auf die Worte
Gewicht, die eigene Bedeutung haben; Artikel, Pronomina, Attribute wurden mit
zu den betreffenden Hauptworten hinzugerechnet, so dass also: „der kleine Emil^
z. B. als 1 Wort gerechnet wurde; jeder Text wurde demnach in Gruppen zer-
legt, und jede solche Gruppe zählte als ein Ganzes. Zunächst zeigte sich, dass die
Anzahl der im Gedachtniss behaltenen Worte eines Textes im Verhältniss zum
Alter der Kinder steht, das Satzgedächtniss wächst beständig, wenn auch nur
schwach, mit dem Alter. Bei der Prüfung der Fehler fanden Verf., dass diejenigen
Worte durchgehends am besten im Gedachtniss aufbewahrt werden, die für die
Erzählung von wesentlichster Bedeutung sind; es ist nicht der Sinn des Wortes,
auf den es dabei ankommt, sondern die Rolle, die es im betreffenden Satze spielt,
was leicht dadurch erklärt werden kann, dass eben diese Worte die grösste Auf-
merksamkeit erregen. Daraus folgt aber weiter, dass beim Anhören eines Satzes
unsere Aufmerksamkeit nicht andauernd gleich stark erregt ist, was wieder ganz
und gar unserer Art des Sprechens entspricht, denn wir verlangsamen die richtigen
Stellen und verkürzen die unwesentlichen. Die von den Verf. aus ihren Massen-
versuchen erhaltenen Resultate wurden graphisch dargestellt, und deutlich liess
sich für jede Wortgruppe des gegebenen Textes dadurch erkennen, in welchem
Grade sie für das Ganze wesentlich gewesen war. Die Verf. finden hierin einen
unbestreitbaren Vorzug von GoUectivversuchen gegenüber den Einzelversuchen.
Bei einem letzteren ist nur zu sehen, was im Gedachtniss behalten ist und was
nicht, bei den liassenversuchen dagegen zeigt sich, in welchem Grade es behalten
oder vergessen ist.
Waren mit den eben besprochenen Fehlern vollständig vergessene Gruppen
Neuere AbhandJun gen und Untersuchungen über d&B Gedächtniss. \\\
des Textes gemeint, so fanden sich aber neben diesen noch eigenmächtige Um-
änderungen des Textes vor und zwar ssweierlei Art. Es wurden einmal die ge-
gegebenen Worte durch synonyme ersetzt, und zwar hat .das Kind die Tendenz,
dieselben durch Worte seiner ihm gewohnten Sprache zu ersetzen, was an folgenden
Bei^ielen erhellen wird: für une vieillarde fand sich une vieille femme, für
s'elanca sur eile fand sich se jeta sur eile, für et la mordit schrieb das Kind et
Is piqua u. s. f. Solche synonymen Substitutionen fanden sich zahlreicher als
Tollständige Lücken bei kurzen Sätzen, umgekehrt dagegen bei langen Sätzen.
Ferner aber, und zwar namentlich, wenn die Kinder nach Verlauf Ton drei Wochen
den früher gehörten Text noch einmal niederschrieben, zeigte sich klar die Tendenz,
die Satzconstruction möglichst zu vereinfachen; so war aus dem Satze: „Le petit
Emile a obtenu de sa mdre un joli cheval mecanique en recompense de sa bonne
conduite ä F^cole^' geworden : Le petit Emile a ete sage ä l'ecole, pour le r^com-
penser sa m^re lui a donn^ un cheyal mecanique". Der zweite Satz zeigt durch die
Zerlegung in zwei coordinirte Sätze die grammatische Erleichterung.
Abgesehen von diesen wesentlichen beiden Aenderungen fanden sich aber
durchweg noch andere leichterer Art; an Stelle eines Namens, einer Zahl werden
andere gesetzt; bisweilen werden auch Einzelheiten hinzugefügt, die sich dem
Texte als Ganzes ohne Schwierigkeit einfügen. Derartige Hinzufügungen sind
äusserst mannigfaltig; an Stelle von „mehrere Kinder" findet sich „mehrere kleine
Kinder", für „Sonntag** steht „Sonntag Abend" u. s. w. Aber auch zu Uebertreibungen
neigt das Kind; so wird aus einer „Schlange" sofort eine „gefährliche oder schreck-
liche Schlange", sie „beisst'^ schliesslich nicht nur, sondern sie „bcisst grausam'^ Man
sieht, wie einerseits der Intellect, andererseits das Gemüth des Kindes mit arbeitet.
Die Abhandlung beschäftigt sich wie die vorangehende nur mit dem Gedächt-
niss schlechtweg, die Thätigkeit und der Einfluss der einzelnen Gedächtnissarten
bleibt unberücksichtigt. Im Uebrigen aber giebt sie Auskunft über die Art und
Weise, wie die einzelnen Theile eines zusammenhängenden Gebildes von Worten
sich dem Gedächtniss einprägen, welche mehr, welche weniger. Dabei sind die
Beobachtungen und Gruppirungen der einzelnen Fehler sowie die daraus gezogenen
Resultate gewiss von grossem Interesse.
N. Yaschide: Sur la localisation des souvenirs. La localisations
dans les experiences sur la memoire immediate des mots. Annee
psychologique HI 1897, pag. 199—224.
Wir rechnen diese Abhandlung zur Aufgabe III.
In der Thätigkeit des Gedächtnisses sind 4 Elemente zu unterscheiden: das
Aufbewahren der Wahrnehmung, die Reproduction, das Wiedererkennen und die
Unterbringung dieser Vorstellung in der Vergangenheit (localisation). Das Wieder-
erkennen findet statt, wenn wir das verworrene Gefühl haben, dass eine Empfin-
dung, eine Erinnerung, eine Idee, eine Bewegung uns schon bekannt ist und
Gegenstand eines früheren Bewusstseinsactes gewesen ist. Die Localisation be-
endet diese Arbeit, indem sie dieser Empfindung u. s. w. einen bestimmten Platz
in unserem psychischen Leben anweist; dabei stützt sie sich auf Localzeichen,
deren Lage in der Vergangenheit sich als sicher aufdrängen. Zwar kennt man
schon längere Zeit den Unterschied zwischen bestimmter Localisation, wo wir das
Gedächtnissbild deutlich in der Zeit unterbringen, und unbestimmter Localisation,
112 Paul Plettenberg.
wo dies nicht der Fall ist, ebenso zwischen mittelbarer und unmittelbarer Locali-
sation, doch fehlen jegliche Versuche darüber. Verf. stellt sich die Aufgabe diese
Lücke auszufüllen wenigstens für die unmittelbare Localisation beim Wortgedächt-
niss. Zu diesem Zwecke wurde Tom Verf. an sich selbst und an 10 anderen
Personen eine grosse Anzahl Ton Versuchen angestellt, indem auf 2200 quadra-
tischen Zetteln zweisilbige "Worte geschrieben und diese in drei Sacke vertheilt
wurden, so dass der erste nur allgemein bekannte, der zweite unbekannte, endlich
der dritte bekannte und unbekannte Worte gemischt enthielt. Hieraus zog die zu
untersuchende Person 8, 10, 12 oder 20 Papiere und Hess sie dann laut meist
durch eine andere Person lesen im Secundentakt ; die Zettel wurden dann um-
gekehrt in derselben Ordnung auf den Tisch gelegt. Die Versuchsperson aber
schrieb diese Beihe, soweit sie im Gedächtniss behalten war, auf ein Blatt Papier
welches dann yerdeckt wurde. Nach einigen Secunden wurde nun eins dieser
Worte dictirt und es wurde Ton ihr y erlangt, dass sie durch eine daneben ge-
setzte Ziffer die Stelle angäbe, die dieses Wort in der ursprünglichen Beihe ein-
nahili; dabei wurde eingehend nach den Gründen geforscht, aus welchen diesen
Worten die betreffende Stelle zuertheilt wurde. Hierauf wurde ebenso mit einem
zweiten Worte der Beihe verfahren u. s. f. War den Personen die Anzahl der
Worte, die man in der Beihe vereinigen wollte, von vornherein bekannt, so ge-
lang ihnen die Localisation besser als im entgegengesetzten Falle, wo sie sicli
verwirrt zeigten; offenbar bildeten sie sich im ersten Falle beim Anhören der
Beihe gewisse Stützpunkte, Localzeichen, durch welche die Beihen in Unter&b-
theilungen getheilt wurden. Verf. fand durch seine Versuche folgende sieben
verschiedene Arten von Localisation.
1. Unter directer, unmittelbarer Localisation versteht Verf. den Fall, wo die
Stelle des Wortes in der Beihe uns im Gedächtniss genau bekannt ist. Dies fand
sich bei allen Versuchspersonen für das erste, letzte und bisweilen auch für ein
mittleres Glied. Bisweilen spielte auch die Bedeutung der Worte eine BoUe, un-
bekannte Worte prägen ihre Stellung dem Gedächtniss fester ein und bilden dann
solche Stützpunkte, die zum weiteren Aufbau der Beihe benutzt werden.
2. Die Localisation durch Association findet auf verschiedene Weise statt.
Zunächst zeigt sich die Wortassociation, wenn schon ein Wort und seine Stelle
im Gedächtniss behalten ist und dieses als Stützpunkt durch Association mit
anderen zusammenhängt. Ferner wandten einige Personen 2jahlena8sociationen an.
indem sie beim Aufsagen der Worte jedes mit einer Zahl versahen, zugleich mit
dem Worte erinnerten sie sich der Zahl. Auch wurden Gedankenverbindungen
zwischen den einzelnen Worten benutzt, z. B. bei den Worten bourreau, dollar
wurden beide durch die Vorstellung mit einander verbunden, dass ein Henker
für seine Thätigkeit Dollars verdient ; bei einer Beihe von 12 Worten wurden ein-
mal 5 Worte auf diese Weise verbunden. Wieder Andere prägten sich Anfangs-
oder Endbuchstaben der Worte ein, z. B. die Anfangsbuchstaben e, b, a, d, e, da-
nach war klar, dass d^part an vierter Stelle stand.
3. Zu den mittelbaren Localisationen ohne Association rechnet Verf. alle die*
jenigen, die ebenso mittelbar, wie die vorhergehenden sind, denen auch Merk-
oder Stützpunkte nöthig sind, denen aber die Associationen fehlen. Es wurde
z. B. von einigen Personen die Beihe durch eins der Worte in 2 Theile getheilt,
Neuere Abhandlungen und Untersuchungen über das Gcdächtniss. 1X3
in Bezug auf dieses orientirten sie sich und sagten über ein anderes Wort mit
Sicherheit aus, ob es vor oder hinter diesem Merkworte stand.
4. LocaHsation durch Association mit einem Gefühl. Beim Anhören der
Reihe kann die Person verschiedene Vorstellungen und verschiedene Empfindungen
haben, die mit dem gehörten Worte coincidiren, sich mit ihm associiren und spater
dazu dienen, dieses Wort zu localisiren. £s sind namentlich zwei Arten Empfin-
dungen, die von den Versuchspersonen angegeben wurden. Erstens das Gefühl
der Anstrengung, wenn die Reihe sich ihrer Mitte nähert und die zuerst gehörten
Worte aufhören, im Ohre weiter zu klingen. Dies Gefühl wird sogar zum Angstgefühl,
wenn man merkt, dass die ersten Worte dem Gedächtniss entfallen, und wenn man sich
doch nicht weiter mit ihnen beschäftigen kann, weil man auf die neu folgenden
achten muss. Zweitens das Gefühl der Erleichterung, wenn man am Ende der
Keihe angekommen ist und dadurch die Spannung der Aufmerksamkeit aufhört.
Beide Arten von Gefühlen associiren sich bisweilen mit den Worten in der Mitte
und am Ende und dienen alsdann zur Localisation.
5. Localisation durch Erinnerung ist von den Versuchspersonen anderen
Personen sehr schwer zu erklären. Die ersteren haben das unbestimmte Gefühl,
dass ein Wort eine ganz bestimmte Stelle einnimmt; sie können sich nicht über
die Gründe auslassen und localisiren doch nicht nach Zufall. Hierher gehören
auch die Keminiscenzen, die durch das Lesen der Worte in uns entstehen; durch
die Buchstaben, durch die Reihenfolge der Worte, ja selbst durch die Nuance der
Tinte entstehen undefinirbare Vorstellungen, die dieses vage Erkenntnissgefühl
nähren. Aber so unbestimmt auch diese Reminiscenzen sind, so benutzen wir sie
doch mit Glück, und wir haben das sichere Bewusstsein, dass wir nicht mit blossem
Zufall handeln.
6. Versagen alle Hülfsquellen der Localisation, so beginnt die Urtheilskraft
ihre Arbeit, wir kommen zur Localisation durch Schlüsse. Sind noch Stelle 4
und Stelle 7 frei, so wird ein Wort an die vierte, ein anderes an die siebente ge-
setzt, einfach weil diese Stellen noch frei waren. Oder associire ich in einer Reihe
Ton 8 Gliedern zwei Worte zu einer Gruppe und die darauf folgenden letzten
drei auch zu einer solchen, und es handelt sich jetzt um ein Wort, welches ich
ais zweites der zweigliedrigen Gruppe erkenne, so werde ich ihm, da noch drei
Worte folgten, Stelle ö geben müssen, üebngens arbeitet bei jedem Merk- oder
Stätzworte das Raisonnement mit, nur bei sehr langen Reihen lässt es im Stich.
7. Endlich fanden sich Fälle, wo die Localisation durchaus unerklärlich blieb.
Wird also von uns verlangt, eine Reihe von Worten zu merken und zu re-
produciren, so beginnt der Geist im Allgemeinen damit, sich Stützpunkte zu
merken, die sich von selbst darbieten. Damit zerfällt die Reihe in Gruppen, in
diese hinein werden nun die anderen Worte localisirt: 1. mit Hülfe der Wort-,
Sinn- oder Gefühlsassociationen, 2. mit Hülfe von Reminiscenzen und 3. von
Schlussfolgerungen. Bei langen Reihen jedoch herrscht nur das Unbewusste und
der Zufall.
Da früher über die ordnende Thätigkeit des Gedächtnisses nur theoretische
Arbeiten (von Ribot, SuUy) vorhanden waren und gern angenommen wurde,
dass nur Associationen bei dieser Thätigkeit in Wirkung treten, so bringt uns die
Arbeit des Verfassers ein Stück weiter, wenngleich noch vieles, selbst abgesehen
von Gruppe 5 und 7, weiterer Forschung vorbehalten bleibt.
Zeitschrift für Hypnotismus. X. ^
114 Paul Plettenberg. Neuere Abhandlungen und Untersuchungen ete.
George B, Stetson, Some memorj teste of Whites and Blackt.
Psychol. Review IV, pag. 286—289.
Die Arbeit behandelt die Aufgabe, zu untersuchen, ob ein Unterschied in
der Gedachtnisskraft der weissen und der Negerrasse rorhanden ist, sie betrifft
also Aufgabe IV.
Verf. stellte seine Versuche an 1000 Kindern der 4. und 5. Klasse der
Washington-Schule an und zwar zu gleichen Theilen an Weissen und Schwsnen.
Im Durchschnitt waren die ersten 11 Jahre, die letzten 12^6 Jahre. Um ds«
Gedächtniss der Kinder zu prSfen, wurde ihnen eine yierreihige Strophe eines für
sie passenden Gedichtes rorgesprochen und erklärt, worauf sie es dann im Chor
zweimal aufzusagen hatten. Nun mnsste jedes der Kinder, deren Anzahl steti
zwischen 20 und 40 lag, einzeln die Strophen hersagen, und die Leistungen
wurden bezeichnet mit : recht gut =a 100, gut =s 75, genügend = 60, schwach ^ 25.
Beim ersten Versuche ergab sich so für die schwarzen Schüler im Durchschnitt
die Zahl 63,22 (Minimum =s 48,63, Maximum =s 71,26), für die weissen Schüler da-
gegen 62,64 (Minimum 60, Maximum 66). In einem zweiten und dritten Versuche
waren die Zahlen nahezu dieselben; als bei einem vierten eine Umformung des
23. Psalms in Gedichtform genommen wurde, hatte man vermuthen sollen, dsss
bei der Bekanntheit dieses Psalms die B^sultate sich bedeutend hatten rerbessem
müssen, aber es war das Gegentheil der Fall, es ergab sich für die Schwanen in
Durchschnitt 32, für die Weissen 42. Die Schwierigkeit scheint hier darin ge-
legen zu haben, dass die einzelnen Verse nicht grammatisch mit einander n-
sammenhingen und ausserdem sehr gewählte, poetische, ungewöhnliche Ausdrucke
enthielten. Dieselben waren den Schwarzen noch weniger bekannt als den
Weissen, daher das Sinken der Durchschnittszahl für die Schwarzen, trotzdem
diese sonst ihrem höheren Alter entsprechend ein besseres Gedachtniss in den
anderen Fällen gezeigt hatten. Verf. bespricht nun die einzelnen Fehler; diese
Hessen zum Theil Unkenntniss der Bedeutung der Worte, dann aber auch gans-
liehen Mangel an Gefühl für Rhythmus und B«im erkennen.
Verf. liess auch die wissenschaftlichen Leistungen der Ton ihm untersuchten
Schüler in gleicher Weise wie oben bezeichnen, um die sich ergebenden Duroh-
schnittsziffern mit den yon ihm gefundenen DurchschnittszifTern für dss Ge-
dachtniss zu rergleichen. Es ergab sich dabei für die Weissen 74,32, for die
Schwarzen 64,73; dem standen für das Gedachtniss gegenüber bei den Weissen
68,09, bei den Schwarzen 68,27. Trotz einer dem höheren Alter entsprechenden
besseren Gedächtnisskraft bleiben also die Schwarzen in Bezug auf ihre wissen-
schaftlichen Leistungen hinter den Weissen zurück, wofür Verf. im weiteren noch
Erklärungen zu geben sucht.
Mögen diese Verhältnisse auch der Wirklichkeit entsprechen, so scheinen
doch Bef. die Zahlen keinen Anspruch auf Genauigkeit und Sicherheit machen su
können wegen der Unsicherheit der Methode. Es giebt Fälle, für welche sowohl
das Prädicat gut als auch genügend passen würde, und ähnlich ist es zwischen je
zwei anderen Prädicaten; das persönliche Gefühl des Untersuchenden spielt also
hierbei eine grosse Bolle. Die Zahlen sind daher nur mit Vorsieht anianekmen.
Referate und Besprechungen.
G, 8. Manto: Sur ]e traitement de Thysterie k Phopital par
l'iaolement. — Trarail du serrice du Dr. Dejerine, &la Salpetriire. Paru
1899. G. Steinheil.
Verf. giebt in seiner Arbeit seinen Beitrag zur Behandlung der Hysteriet
wie sie in der Salpetri^re in der Abtheilung von Dejerine geübt wird.
Dejerine wendet die Methode Weir Mitchell mit leichten Modificationen
an. Die Isolirung ist nur ein — wenn auch ein sehr wichtiger Factor, in der
Behandlung der Hysterischen; sie ist nur Mittel zum Zweck. Man will dadurch
eine Aenderung im Geisteszustand der Hysterischen herbeifahren, so dass sie der
Psychotherapie zugänglicher werden. Psychotherapie, möglichst individuelle Be^
handlang der Kranken ist die Hauptsache; mit Isolirung allein wird fast nichts
erreicht.
Am Schlüsse seiner Arbeit fasst Verf. deren Inhalt kurz folgendermaassen
zusammen :
1. Die Behandlung nach Weir Mitchell mit einigen durch die Katur der
Hysterie gebotenen Aenderungen scheint uns von unbestreitbarer Wirksamkeit.
2. Die Isolirung ist geboten, welche Symptome der Hysterie auch vorliegen
mögeD, seien es einfache Convulsionen, oder Contracturen, oder Appetitlosigkeit,
oder Hemichorea u. s. w.
3. Der Arzt weigere sich absolut die Hysterischen in der Familie zu be-
handeln.
4. Die Behandlung besteht in der Trennung des Patienten von der Familie.
Der Kranke hat sich zu Bett zu legen, darf weder Briefe noch Besuche empfangen.
Strengste Isolirung von anderen Patienten hat stattzufinden, so dass keine Mit-
theilungen möglich sind.
5. Die Pflegerin muss intelligent, aufopfernd, geduldig und taktvoll sein.
6. Der Arzt muss Festigkeit und Autorität besitzen, falls er die Heilung der
Kranken erreichen will.
7. Da die Hysterie eine wesentlich psychische Krankheit ist, ist die Isolirung
angezeigt um die Kranken unter neue Bedingungen zu bringen, unter denen die
Wachsuggestion, gleichsam auf gutem Boden ausgesäet, glänzendere Resultate giebt,
als man erwartet.
8*
116 Referate und Besprechungen.
8. Die Isolirung gestattet es auch bei den Kranken die strengsten Vor-
schriften der Hygiene zu befolgen und ferner sie der üeberernährung zu unter-
werfen, was besonders bei den Patienten mit Anorexie wichtig ist.
9. Die so erzielten Heilungen sind in sehr vielen Fällen dauernde. Die
Bückfälle, die etwa eintreten, beruhen auf dem Wiedereintreten oder der Fort-
dauer der Ursachen, die die Krankheit hervorgerufen haben. Die Prophylaxe
besteht vor Allem in einer Aenderung des Miliös, in dem die Kranken zu leben
haben. Auch hier kann der Arzt durch seinen Rath grosse Dienste leisten. —
Bei dieser Art der Behandlung kann man wie Verf. angiebt auf 95%
Heilungen rechnen. Bei Hystero-Neurasthenie, auch bei einfacher Neurasthenie
erzielt man dieselben Resultate. Der Gharacter der Patienten giebt einen Finger-
zeig für die Prognose. Die Kranken mit emotivem Gharacter heilen schneller,
die ruhigen Charactere langsamer. Die Isolirung wird verbunden mit Üeber-
ernährung mit Milch. Anfangs werden 3, am Ende der ersten Woche 5 1 Milch
gegeben. Allmählich geht man dann zur gewohnten Diät über.
Regeln für die psychische Behandlung können nicht gegeben werden, man
muss sich durchaus nach dem Gharacter des Individuums richten. Die Hauptaufgabe
bei der Behandlung Hysterischer fällt durchaus dem Arzte zu, doch ist es auch
sehr wichtig, eine geeignete Krankenpflegerin zu haben.
Die Dauer der Behandlung variirt sehr; sie hängt von der Ausdehnung der
hysterischen Symptome, von der Länge ihres Bestehens und von dem Alter des
Patienten ab. Die Isolirung wird in der Weise durchgeführt, dass der Patient
nach einer gründlichen Untersuchung zu Bett gebracht wird. Durch Vorhänge
^ird das Bett vollständig abgeschlossen. Sprechen mit Mitpatienten wird auf
das Strengste verboten. Keinerlei Arbeit oder Zerstreuung darf erlaubt werden.
Briefe dürfen weder geschrieben noch empfangen werden; Besuch wird unter
keinen Umständen zugelassen. Nachrichten von der Familie werden vom Ant
mitgetheilt. Der Arzt muss in der Durchführung dieser Vorschriften die grösste
Unnachgiebigkeit zeigen, da sonst seine Autorität verloren ist; er muss es Ter-
stehen das Vertrauen des Patienten zu gewinnen und zugleich ihm als Autorität
gegenüber zu stehen.
Den zweiten Theil der Arbeit des Verf. bilden 23 Krankengeschichten tod
Patienten^ die von Anfang 1898 bis Mitte 1899 in der Salpetridre behandelt wurden.
Isenberg- Berlin.
•
R. V, Krafft'Ebing : Die zweifelhaften Geisteszustände vor dem
Givilrichter des deutschen Reiches nach Einführung des BGB.
2. Auflage. Separatabdruck aus des Verf. Lehrbuch der gerichtlichen Psycho-
pathologie. 3. Auflage. 2. Ausgabe. Stuttgart, Ferd. Enke 1900.
Für das Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches ergab sich für den Verf.
die Nothwendigkeit Aenderungen in seinem Lehrbuch der gerichtlichen Psycho-
pathologie vorzunehmen. An der Hand der betreffenden Paragraphen des BGB.
legt Verf. dar, wie weit Zustände geistigen Defectes vor dem Civilrichter Be-
deutung haben können. Der Stoff gliedert sich im Grossen und Ganzen folgender-
maassen: Mündigkeit und Geschäftsfähigkeit; Vormundschaft; Eheangelegenheiten:
Schadenersatzpflicht; Errichtung und Aufhebung eines Testament«. Hervorheben
möchte Bef. daraus noch, dass das BGB. bei gewissen Voraussetzungen eine Eni-
Referate und Besprechungen. 117
mändigung des Trunksüchtigen — worunter ein an Alcoholismus chronicus ohne
complicirende Alcoholpsychose leidender verstanden ist — vorsieht. Dem Vor-
munde ist damit die Handhabe zur Unterbringung des Entmündigten in einer
Trinkerheilanstalt resp. Irrenanstalt gegeben. Die Entmündigung erfolgt nur auf
Antrag und durch das Amtsgericht. Zur Antragstellung sind Ehegatten und Ver-
wandte berechtigt, jedoch nicht der Staatsanwalt. Falls Aussicht besteht, dass der
zu Entmündigende sich bessert, kann das Gericht die Beschlussfassung über die
Entmündigung aussetzen. ,J)ie Entmündigung einer Person wegen Verschwendung
oder wegen Trunksucht (sowie die Wiederaufhebung einer solchen Entmündigung)
ist von dem Amtsgericht öffentlich bekannt zu machen" — § 687 des BGB.
Isenberg-Berlin.
Höfler und Witaaek^ Psychologische Schulversuche mit Angabe
der Apparate. Leipzig, Ambrosius Barth. 1900. 301 Seiten. 31. 1,20.
Während auf dem deutschen Gymnasium ja überhaupt keine Psychologie ge-
lehrt wird, ist dieses wenigstens in Oesterreich der Fall, wie z. B. ja auch im
französischen Abiturientenexamen- Psychologie eines der Prüfungsfächer dai*8tellt.
Die vorliegende kleine Arbeit soll nun den Weg angeben, wie man mit einem
sehr wenig kostspieligen Instrumentarium diesen Unterricht aus einem rein theo-
retischen zu einem anschaulichen experimentellen gestalten kann. Zu diesem
Zweck geben die Autoren 76 Versuche an, die ohne feinere Instrumente möglich
sind. Es wäre gewiss sehr wünschenswerth, wenn die kleine Abhandlung zu einer
Reorganisation eines schon vorhandenen oder Einführung eines noch nicht existi-
renden psychologischen Unterrichts beitragen würde. Es würde damit — was uns
ja vor Allem am Herzen liegt — eine erste Basis geschaffen, den angehenden
Äerzt^n ein Verständniss für die Bolle der psychischen Factoren bei der Genese,
Therapie und Prophylaxe von Krankheitserscheinungen zu ermöglichen.
0. Vogt.
Eduard MicJielsorij Untersuchungen über die Tiefe des Schlafes.
Psychologische Arbeiten von EmilKraepelin. Zweiter Band 1. Heft S. 84—117.
Leipzig, Verlag von Wilhelm Engelmann 1897.
Nach einer kurzen Einleitung, in welcher die diesbezüglichen Arbeiten Kohl-
schütteres sowie die neueren von Piesbergen und Mo nninghoff besprochen
werden, geht Verf. zur Beschreibung der „Anordnung und Ausführung der
Versuche" ,über. Auch M. hat gleich seinen Vorgängern Schallreize zur Be-
stimmung der „Weckschwelle" angev;andt, wobei er die Schallstärke durch das
Product des Gewichtes der ilessingkngeln und der Fallhöhe ausdrückt. Die Ex-
perimente erstrecken sich auf ca. 3 Jahre, auf Nacht- und Tagschlaf. Als Versuchs-
personen dienten drei Aerzte und der Verf. selbst. Die Versuche wurden mit
grösstmöglichster Sorgfalt ausgeführt, sodass störende Nebenwirkungen in höherem
Maasse als bei denjenigen früherer Forscher vermieden wurden. Es folgen im
II. Theil der Arbeit die „allgemeinen Ergebnisse", welche in Tabellen und
Curven graphisch dargestellt sind. Die Resultate der Untersuchungen stimmen im
Wesentlichen mit denjenigen der vorhergehenden Forscher überein. Im 11 1. Capitel
werden die „persönlichen Verschiedenheiten" der Versuchspersonen, wie
sie sich aus den betr. Curven ergeben, betrachtet. Die Tiefe des Schlafes ist um
118 Referate und Besprechungen.
•o grösser, je rascher die Person einschläft, und sie nimmt um so schneller wieder
ab, je schneller sie gestiegen ist, und desto tiefer liegen die Schwankungen. AuaMr*
dem zeigt sich, bei den Personen, welche morgens die grösste psychische Leistiing«*
fahigkeit aufweisen, eine „schnelle Zu- und Abnahme der Schlaftiefe, welche gegen
Morgen hin ganz gering wird", während die Personen, welche Abends am leistongi*
billigsten sind, eine „langsame Zu- und Abnahme bei sehr herabgesetzter Schlaf-
tiefe, welche aber dafür bis zum Ende grösser bleibt" aufweisen. Die erste Gruppe
Ton Menschen gehört nach Kraepelins Ansicht zu den gesunden, die zweite n
den nervös veranlagten Naturen. Der IV. Abschnitt enthält eine Untersuchong
über den „£influss äusserer Bedingungen**. Beim Nachmittagsschlaf
wird die grösste Schlaftiefe eher erreicht als beim Nachtschlaf, die absolute Tiefe
beträgt ungefähr Vs ^on derjenigen des Nachtschlafs. Was die Jahreszeit an-
belangt, so äussert sich ihr Einfluss darin, dass „die dunkleren Nächte das Zu-
standekommen eines ruhigen und tiefen Schlafes mehr begünstigen als die helleren'*,
ein Umstand, der dann auch auf den Tagesschlaf zurückwirkt. Um die Wirkong
eines Hypnoticums auf den Schlaf zu prüfen, hat Verf. Paraldehyd gegeben
und gefunden, dass dieses Mittel einen dem normalen nahe kommenden Schlaf her-
Torruft, dessen Tiefe aber noch übertrifft Massiger Alkoholgennss scheint den
Schlaf im Anfang leiser, später dagegen fester zu gestalten.
L aut enb a c h- Berlin.
AMf Gross, Untersuchungen über die Schrift Gesunder and
Geisteskranker. Psychologische Arbeiten von Emil Kraepelin. Zweiter
Band, 3. Heft. Leipzig, Verlag von Wilhebn Engelmann. 1898. S. 460—667.
Die Versuche, welche diesen Untersuchungen zu Grunde liegen, wurden mit
der Kr«epelin 'sehen Schriftwaage ausgeführt, welche zunächst beschrieben wird.
Als Schreibversuche dienten folgende Uebungen:
1. Zwei 10 cm entfernte Punkte durch eine Gerade zu verbinden,
2. fünf Punkte nacheinander zu verbinden,
3. den deutschen Buchstaben „m** zu schreiben,
4. die Zahlen 1 — 10 zu schreiben und
5. von 20 rückwärts je 3 zu subtrahiren.
Um eine Vergleichsbasis zu bekommen, wurden zuerst „Versuche am Ge«
Bunden** gemacht. Als Versuchspersonen dienten hierbei 8 Wärter und 9Wärts-
rinnen, Leute, welche ungefähr aus denselben Bildungskreisen stammten wie die
später zu untersuchenden Kranken. Die Ergebnisse werden im Anschlnss an die
erhaltenen Tabellen besprochen. Daran schliessen sich die „Versuche anDe«
pressiv-Manischen (Circulären) Kranken**, ebenfalls 17 an der Zahl. Di«
drei ersten Kranken sind stuporös, 4 — 7 sind manisch, 8 — 16 sind stuporoi*
manisch, 16—17 manisch in Remission.
Die Versuchsresultate werden den einzelnen Personen, deren Krankheitsbild
kurz beschrieben ist, und den angestellten Gruppen entsprechend wiedeigegebea
und erörtert. Ebenso werden die experimentellen Ergebnisse der „Katatonischen
Kranken*' 18—26 behandelt. Zum Schluss findet sieh eine Betrachtung über die
„Klinische Verwerthung der Ergebnisse*', der wir hier das Folgende
entnehmen wollen. Jede gesunde Person besitzt eine characteristische
eindeutige Drucklinie beim Schreiben, was auch durch andere zahlreichere
Befenie und Beiprechuogen. X19
yenuehe Ton Diehl bettiltig^ worden ist. Bei Psychosen werden diese
individuellen Eigenthümlichkeiten verloren und duroh patho«
logische ersetzt und zwar gewinnt jede Psychose ihren besonderen Ausdruck
in der Schreibbewegung und der Dmcklinie, Personen, welche an rerschiedenen
psychischen Störungen leiden, haben je nach dem verschiedene Drucklinien, wie
dies die Girculär-Irren zeigen, bei denen diese „psychomotorische Hemmung''
ein Hauptsymptom der Krankheit bildet. In gleicher Weise finden sich natfiiiioh
bestimmte psychomotorische Störungen in der Schrift der übrigen Geisteskranken
SBSgeprägt, was im Einzelnen vom Verf. dargelegt ist. £s bieten demnach derartige
Versuche einen Hinweis auf die Krankheit eines Patienten, wie er auf eine andere
Weise nicht so leicht oder gar nicht zu erhalten ist. Lau tenbach -Berlin.
J9. Laehr, Die Literatur der Psychiatrie, Neurologie und Psy-
chologie von 1409—1799. 3 Bände. 2158 S. BerUn. G. Reimer. 1900.
Ein Werk von grundlegender Bedeutung und ein sicheres Fundament bildend
für alle weiteren geschichtlichen Studien über die Psychiatrie, Neurologie und
Psychologie vergangener Jahrhunderte. Schon vor einigen Jahren hat Ref. bei
Gelegenheit der Besprechung von Franz Neuburger, Die historische Entwickelung
der experimentellen Gehirn- und Backenmarksphysiologie vor Flourens (Diese Zeit-
schrift, Bd. Vr, pag. 175) auf die Bedeutung und gleichzeitig den Genuas des
Studiums der Geschichte unserer Wissenschaften hingewiesen. Der gleichen Idee
giebt der Verf. des vorliegenden Werkes, eines selten schönen Zeugnisses eines
Gelehrtenfleisses, in der Vorrede Ausdruck, wenn er hervorhebt, dass die Kenntnist
der Literatur vergangener Jahrhunderte nicht nur für den „Geschichtsforscher eine
Nothwendigkeit^, sondern auch für den Praktiker, der seinen Beruf auf wissen-
schaftlicher Grundlage ausüben will, ebenfalls ein „Bedürfnisse* sei. „Mit geläuterten
Kenntnissen ausgerüstet, wird der letztere unter vieler Spreu noch manches ver-
werthbare Korn finden, oft sich den aus Mangel von Hilfsmitteln entsprossenen
Irrtum der früheren Zeit nunmehr erklären, vielleicht auch Prioritätsstreite ver-
meiden können.^
Auf 1883 Seiten werden 16396 Schriften von 8666 Autoren angeführt. Diese
Aufzäklung bekommt ihren eigentlichen Werth aber erst dadurch, dass der Verf. von
allen wichtigen Arbeiten (im Ganzen von 2778) ausführliche Inhaltsangaben gemacht
hat, sodass sich der Leser bereits durch das vorliegende Werk über den Inhalt
aller wichtigen Arbeiten der früheren Jahrhunderte unterrichten kann.
Die Werke sind nach den Jahreszahlen ihres Erscheinens geordnet und unter
den einzelnen Jahreszahlen nach dem Alphabet der Autoren. Ein 3. Band enthält
die das Aufsuchen einer speciellen Literatur sehr erleichternden Register. Wir
finden hier erst ein Namens-, dann das entschieden noch werthvoUere Sachregister
und schliesslich eine Uebersicht über die im Sachregister gemachten Rubriken.
0. Vogt.
«7. Saury, Le systdme nerveuz central. Structure et fonctions.
Histoire critique des th^ories et des doctrines. Paris. GarrS et Naud.
1899. 2 Bd. 1863 S.
Der Verf. hat sich schon durch eine Reihe Zusammenstellungen über die
neueren itesultate himanatomischer und hirnphysiologischer Forschungen bekannt
220 Keferate und Besprechungen.
gemacht. Sie waren immer durch ein gründliches Studium der betreffenden Lite-
ratur characterisirt. Diese Eigenschaft giebt sich auch wieder in dem vorliegenden
grossen Werke des Verf. auf allen Seiten kund. Dieses weist auf eine Belesenheit
und eine Literat urkenntniss, in der wohl niemand auf der Welt dem Autor gleich-
kommen wird. Alle Anschauungen und Theorien sind wiedergegeben, die seit dem
Zeitalter der Griechen bis heute über Bau und Function des Gehirns von Forschern
und Denkern aufgestellt sind.
Verdient so die Literaturkenntniss und der Fleiss, die der Verf. durch dieses
Werk documentirt hat, die grösste Bewunderung, so ist lebhaft zu bedauern, dass
neben den Anschauungen ernster Forscher manche minderwertige Anschauungen
Aufnahme und gleiche Beachtung gefunden haben. Besonders die Sorgfalt, mit
der Verf. die confusen und widerspruchsvollen Anschauungen Flechsig's bei
jeder Gelegenheit weitläufig schildert, ist hierfür ein sprechendes Zeugniss, wie
B,ef. gleichzeitig darin einen neuen Beweis sieht, welche arge Verwirrung dieser
Autor durch die selbstbcwusste Verkündigung seiner vermeintlichen EntdeckuDgen
in denjenigen hervorgerufen hat, die nicht ihrerseits Gelegenheit hatten, sich auf
Grund eigener Forschungen ein Bild vom Faserbau des menschlichen Grosshiros
zu machen.
So bedauerlich nun aber auch diese Thatsache ist, und soweit ferner der
Verf. den Werth unseres heutigen hirnanatomischen und physiologischen Wissens
für die Psychologie überschätzt, so giebt doch das vorliegende Werk eine Ueber-
sicht über die ganze bisherige Literatur über Hirnbau und Hirnfunction, die eine
sehr wichtige Bereicherung unserer Literatur darstellt und allen Forschern will-
kommen sein w^ird. Wir können also den Verf. wie die Verleger aus vollem
Herzen zum W^erke beglückwünschen. O. Vogt.
F. Schenk, Ucber den Einfluss des Alcohols auf den ermüdeten
Muskel. Der Alcoholismus. Jahrg. I, Heft 1.
Verf. war selbst eine der Versuchspersonen K. Heck 's, der ebenso wie
Destre, Schumburg und Kraepelin, die Angaben Frey's bekämpft, dass
nach Alcoholgaben die körperliche Leistungsfähigkeit eine thatsächlichc Zunahme
zeige. Verf. äussert sich nun selbst im gleichen Sinne wie Heck und glaubt die
Zunahme der Leistungsfähigkeit, die Frey vor Allem an sich selbst beobachtete,
sei die Folge einer Suggestion. 0. Vogt.
Terminologische AnstSsse.
Von
Ferdinand Tonnies.
Wissenschaftliche Dispatationen werden oft durch die Bemerkung
unterbrochen: ,,da8 kommt auf einen blossen Wortstreit hinaus'^ Es
wird dabei als Einverständniss vorausgesetzt, dass man über Worte
nicht streiten wolle, wenn man über die Sache dergleichen Meinung
sei. Es gilt nicht nur alsthöricht; über Worte zu streiten, sondern
auch zumeist als vergeblich; denn man weiss oder fiihlt doch: wenn
einer euimal einen bestimmten „Begriff mit einem Worte verbindet,
so ist diese Verbindung nicht leicht lösbar; er ist keineswegs bereit
oder geneigt, einen anderen Begriff an die Stelle treten zu lassen,
oder für seinen Begriff ein anderes Wort als bezeichnend gelten zu
lassen.
Man darf auf allgemeine Zustimmung rechnen, wenn man sagt:
ein klarer Streit über Wirkliches kann sich erst ergeben, nachdem alle
Wortstreitigkeiten ausgeschieden sind — am besten, wenn diese ganz
unmöglich wären, wenn jede Gefahr eines Missverständnisses ausge-
schlossen wäre. Dann würde jeder durch Worte ausdrücken, was er
gedacht hat, der Hörende würde diese Gedanken richtig reproduciren
und mit seinen eigenen „Ansichten'' derselben Sache vergleichen können,
wenn er solche hat. Man würde sich verstehen — was im deutschen
Sprachgebrauche oft schon so viel heisst als „übereinstimmen*^,
während es hier nur als die Voraussetzung dafür betrachtet wird, dass man
Nicht-Uebereinstimmung constatire. Die eine Uebereinstimmung ist
dafür nothwendig: Uebereinstimmung über die Bedeutung der Wörter.
Und eben darum gilt der Streit „um Wörter^' für thöricht, weil man
Zeitschrift für Hypnotismus. X. 9
122 Ferdinand Tönnies.
denkt, dass es unvernünftig sei ,,an den Wörtern zu kleben^ sie
zu „klauben^^; denn es müsse dem Vernünftigen gleichgiltig sein, ob
er etwas so oder so benenne, ob ein Wort in dieser oder jener Be-
deutung gebraucht werde. Es scheint leicht und einfach, sich über die
Zeichen einig zu werden, wenn man nur wisse, was man bezeichnen
will — in diesem Gebiete, wie in jedem anderen, wo einer zu seinem
eigenen (individuellen) Gebrauche sich ein Zeichen „macht'' oder
Mehrere zu gemeinsamem Gebrauche darüber eine Verabredang
treffen, d. h. eine Art von Vertrag schliessen, wodurch sich jeder
verpflichtet, das Zeichen anzuerkennen, d. h. es in einem bestimmten
Sinne anzuwenden und in einem bestimmten Sinne zu empfangen
oder zu „verstehen''.
Gegenüber diesem Bedürfnisse nach künstlichen Zeichen
mit genau bestimmter Bedeutung besitzen wir nun aber in den
Sprachen — und am meisten jeder in seiner „Muttersprache" — Systeme
von natürlichen Zeichen mit vielfach unbestimmten, mehr ge-
fühlten als klar und deutlich imterschiedenen Bedeutungen. Freilich
wir verstehen einander im Allgemeinen genugsam für Zwecke des täglichen
Lebens — daher besonders soweit es Gefühl und Wollen zu erregen gut
(aber auch nur im Allgemeinen : denn wie viel Feindschaft entsteht durch
eigentliche und wörtliche Missverständnisse !). Wenn es aber um wissen-
schaftliches Denken sich handelt, so ist von jeher für nothwendig
oder wenigstens fQr erwünscht gehalten worden, „die Begriffe zu de-
finiren", d. h. zu erklären^ in welcher Bedeutung man besondere
Wörter anwenden wolle — ob dies Versprechen auch gehalten
wird, bleibt dabei immer noch zweifelhaft. Nach der Absicht des
Lehrers oder Schriftstellers liegt darin ein bedingtes Geheiss an den
Schüler oder Leser: „wenn du mich richtig verstehen willst, so
musst du diese Wörter in diesem bestimmten Sinne verstehen,
d. h. bei jedesmaligem Vorkommen die Gleichung, die ihren Werth ftos-
drückt (d. i meine Definition), dir ins Gedächtniss zurückrufen." Wer
danach, um dieses ausschliesslichen Zweckes willen (den Autor zu ver-
stehen), sich richtet, erklärt damit nicht zugleich, auch seiner-
seits die Wörter in jenem Sinne gebrauchen zu wollen. Will und
thuter dies, so geht er gleichsam eine terminologischeConvention
mit dem Urheber jener Definitionen ein. Auf diese Weise können sich
viele kleine Sprach-Liseln bilden — in der Philosophie als Sekten oder
Schulen bekannt — deren Bewohner jenseits ihrer Grenzen von Niemandem
verstanden werden, während sie unter sich die Werthzeichen ihrer £e-
Terminologische Anstösse. 123
griffe als Yollgiltig geben und empfangen. In diesem Sinne ist vor
50 und 60 Jahren der ,,H^S^H^^S^^^^ berufen gewesen. Hieraus
kann sich zunächst ein Zustand ergeben, dem ähnlich, der zwischen ver-
schiedenen wirklichen Sprachen besteht. Man kann aus einer
Sprache in die andere übersetzen — aber man weiss auch, dass dies
immer mangelhaft bleibt, zuweilen so gut wie unmöglich ist: manche
Ausdrücke und Wendungen sind „unübersetzbar^', warum? weil das
eine Volk kein Wort f&r die entsprechende ,Sache^ besitzt, und es be-
sitzt kein solches Wort, weü es die ,Sache' nicht kennt, d. h. aber
(da es hierbei zumeist nicht um materielle Dinge sich handelt), weil
es kein Bedürfniss fühlte, einen gewissen Complex von Vorstellungen
und Gefühlen durch einen Namen zu , begreifen'. Dies zeigt sich be-
sonders in dem Mehr oder Minder von Unterscheidung: was man
nicht unterscheidet, das sieht man nicht, und auch jede Combination
oder Synthese muss als etwas Unterschiedenes und Besonderes vor-
gestellt werden, um für ein Subject überhaupt „da zu sein*^ So in
der Philosophie. Man verlachte im 17. Jahrhundert die quidditas
der Scotisten als sinnlos; für diese — in ihrem Systeme — hatte
das Wort aber eine ganz bestimmte Bedeutung. Im 17. Jahrhundert
hatte man das Bedürfniss nicht mehr (oder so viel weniger), diesen
Sinn zu unterscheiden, d. h. zu denken, man hatte sein Interesse in
eüie andere Sichtung gewandt.
Voraussetzung für das Bedürfniss einer gemeinsamen Aus-
•drucksweise ist ein gemeinsames Interesse und ein darin wurzelndes ge-
meinsames Denken. Nur insoweit als dieses vorhanden, ist es ver-
hältnissmässig einfach und leicht, sich über die Ausdrücke „zu
verständigen^ ^ Dies „gemeinsame Denken^' bedeutet nicht so viel
als „gleiches Meinen" oder „übereinstimmendes Urtheilen" — im Gegen-
theil, es soll ja auch die Basis dafür bieten, dass man über die
wirklichen Differenzen des Meinens und Urtheilens zur Klarheit
also zur Verständigung gelange. Es bedeutet aber, dass man dieselben
Gegenstände des Denkens erkennen und anerkennen, oder — in
complicirteren Fällen — dass man die Probleme, die Streitfragen
selber, in gleichem Sinne verstehe.
Davon sind wir nun auf keinem Gebiete so weit entfernt, wie auf
dem der Psychologie und dem mit ihr — wie ich behaupte — ganz
und gar verwachsenen der Sociologie; eben darum aber auch in der
.„eigentlichen" Philosophie, denn diese ist — möge man sie als Logik,
6*
124 Ferdinand Tönnies.
als Metaphysik oder als Erkenntnisstheorie yerstehen — nichts ohne
psychologische Fundamente.
Besser müsste es damit stehen, wenn das Bedürfniss der Ver-
ständigODg nnd also eines gemeinsamen, gleichartigen Denkens allge*
mein empfanden wäre. Das ist eben nicht einmal zwischen den Theil-
habern an derselben Sprache der Fall; geschweige denn zwischen
▼erschiedenen Sprachgebieten, Ton denen jedes seine eigene gelehrte
Sprache ausgebildet hat, seitdem die alte Gelehrtensprache — das
Neulateinische — in Verfall gerathen ist. Und in keinem ist diese
gelehrte Sprache scharf geschieden Ton der Sprache des täglichen
Lebens. Ja, es wird nicht nur für ein Verdienst gehalten, sondern
sogar ziemlich ungestüm gefordert, dass wissenschaftliche Werke ge*
rade auf diesen Gebieten „gemeinverständlich^' sein sollen : die populärem
(exoterischen) und die strengen (esoterischen) Darstellungen derselben
Gegenstände werden nicht auseinandergehalten, und doch ist eine
Wissenschaft nicht möglich ohne Begriffe, d. h. ohne scharf be-
grenzte Denkobjecte ; dagegen hat die Sprache des täglichen Lebens
solches Bedürfniss gamicht: sie ist zwar sehr reich in der Bezeichnung
psychischer Wirklichkeiten ; aber es sind immer nur die Gefühle, Em*
pfindungen u. s. w. dieser bestimmten redenden Menschen, die sie aus-
drücken und wohl auch beschreiben will, aber nicht Gefühle und Em-
pfindungen an und für sich, die als bei allen Menschen oder sogar
Thieren vorhanden gedacht werden müssen. Da sie immer haupt-
sächlich auf die Phantasie wirken will, so hilft sich die Sprache des
Lebens mit metaphorischen Ausdrücken ; und diese gehen in die
wissenschaftliche Sprache über, ohne in ihrer Ungenauigkeit erkannt
zu werden. Innerhalb dieser wissenschaftlichen Sprache werden zwar
immer neue Versuche gemacht, die Wortbedeutungen zu fixieren. Damit
verbindet sich aber allzuoft der Irrthum, als wäre dies ebensoviel als
das Wesen der Sache „erklären'^ Es wird verkannt, dass Begriffe
unter allen Umständen psychische GebUde sind, die von den Sachen
verschieden, diese nur repräsentiren, auch wenn die Sachen selber
psychische Thatsachen und Gebilde sind ; ferner, dass es zwei Gattungen
von Begriffen giebt, die in der Logik wohl als analytische und synthe-
tische unterschieden werden, die aber auch empirische und rationale
heissen können : jene erwachsen unmittelbar aus den Vorstellungen, d. h..
aus Erinnerungen, «ie sind nur Allgemein-Vorstellungen, daher je weiter,
desto ärmer an Merkmalen, also an Inhalt. Diese, die wohl auch unter
dem Namen der ,Idee' oder des ,Typus' auftreten, sind reinere Gebilde
Terminologiache AnftÖsae. 126
des Denkens ; ihnen wird der Reichtum eines individuellen Objecto
gegeben, das die Allgemein-Yorstellnng oder den empirischen Begriff
repräsentirty wie dieser die Menge der einzelnen Vorstellungen,
aus denen er „abgezogen^^ ist. Die Gattung (B) verhält sich zur
Gattung (A) wie in einem speciellen (alltäglichen) Gebiete ein Maass-
ftab zur blossen Allgemein-Yorstellung eines Längenmaafses. Der
Armuth an Merkmalen entopricht hier der Mangel eines materiellen
Substrate; ohne dieses ist nur eine Schätzung möglich, z. B. nach der
durchschnittlichen Länge eines männlichen Fusses (welche Vorstellung
auf einer unbestimmten Menge von erfahrungsmässig bekannten Füssen
beruht). Eine eigentliche Messung geschieht schon, wenn ich meinen
individuellen Fuss als Maassftab gebrauche ; was aber durch die Messung
in der Kegel erreicht werden soll, wird erst möglich, wenn eine be-
stimmte Länge, an einem bleibenden individuellen Gegenstande veri-
ficirbar und korrigirbar, sociale Giltigkeit als Maass-Länge er-
worben hat, z. B. der rheinische Fuss, von dem ein Modell aufbewahrt
wird. Und eine neue Aufgabe ist sodann, ein allgemein giltiges
Längenmaass mit den Maassen anderer Grössen in ein System zu
bringen.
In der Psychologie werden, soviel ich sehe, die beiden Gattungen
von Begriffen noch nicht gehörig unterschieden; und soweit als eigent-
liche Begriffe zur Anwendung gelangen, kommen sie über das Stadium
der individuellen Füsse nicht hinaus oder kommen höchstens dem in einer
Landschaft, einem kleinen Verkehrsgebiete giltigen Maassftabe gleich.
Oder, wie Eucken in seiner trefflichen, grundlegenden „Geschichte der
philosophischen Terminologie^ vor 25 Jahren mit einem anderen Gleich-
nisse sich ausdrückte, die Kunstausdrücke (der philosophischen Schulen)
sind wie Scheidemünze: sie haben keinen Kurs ausserhalb ihres engen
Bezirkes. Eucken hat, wenn ich nicht irre, kein besonderes Gewicht
darauf gelegt, die Begriffe von ihren Ausdrücken zu unterscheiden;
wohl aber hebt er selbst hervor, dass es immer verschiedene Denk-
weisen sind, die in den verschiedenen Terminologien sich reflectiren.
Und ich meine, dass jeder wissenschaftlich Denkende hierüber zur
Klarheit kommen sollte, dass es zweierlei ist: Begriffe bilden und sie
benennen.^) Und darüber, dass es vor allen Dingen wichtig ist, in Be-
*) Vor sprachlichen üngeheaern schreckt die Chemie nicht zurück — und
thut ihrer Popularität dadurch keinen Eintrag — , wenn sie den Ursprung neuer
Synthesen in Kunstwörtern anzudeuten sucht, die die Länge einer ganzen ZeUe
gewinnen. Sie ist aber durch ihr vorzügliches Buchstaben- und Ziffern-System
126 Ferdinand Tönnies.
treff des Wesens und Inhaltes der nothwendigen und zweckmässigen
Begriffe sich zu einigen. Da kommen zu den Begriffen der Wirk-
lichkeit die rein logischen Hülfsbegriffe hinzu, die auf psychologische
gleichermaassen wie auf materielle G-egenstäude Anwendung finden. Die
Bearbeitung und Peststellung dieser Begriffe — wie nothwendig und zu-
fällig, möglich und wahrscheinlich, Ursache und Wirkung, Zweck und Mittel
— war es eigentlich, die unter den alten Namen der Metaphysik oder
„ersten Philosophie" oder Ontologie gesucht wurde, und jetzt in der „Er-
kenntnisstheorie" ein neues Obdach gefunden hat, nachdem jene Namen —
hauptsächlich durch ihre Verbindung mit theologischen Vorstellungen —
in Verruf gerathen sind. Hier liegen nun die Kunstausdrücke selber
in jeder Sprache fest, und wegen ihrer üebersetzung aus einer Sprache
in die andere kann kaum ein Zweifel entstehen, um so mehr viiri
eine übereinstimmende und genaue Fixirung ihres Inhalts vennisst;
um so weniger wird erkannt, dass es nicht darauf ankommt, zu ent-
decken, was sie etwa in irgendwelchem Sprachgebrauch thatsächlich
bedeuten, sondern zu statuiren, was sie, um für einen bestimmten
wissenschaftlichen Gebrauch tauglich zu sein, bedeuten sollen. Und
dass die Begriffe für mannigfachen Gebrauch modificirt werden müssen,
welche Modificationen denn auch durch differenzirte Ausdrücke
unterschieden werden müssen.
Nächst Eucken, der nur in einem (mir nicht zu Gesicht ge-
konmienen) Artikel des „Monist'' (1896) das Thema wieder aufge-
nommen hat, ist es eine englische Frau, Victoria Lady Welby, der
das Verdienst zukommt, mit grosser Energie, ja mit einer edlen Leiden-
schaft, das Missliche der bestehenden Zustände dargestellt und auf
einen vernünftigen „smnreichen" Gebrauch der Sprache zu Zwecken der
Erkenntniss gedrungen zu haben. Sie möchte eine eigene Disciplin
begründen und das Verständniss dafür schon durch den Schul-Unter-
rieht anbahnen, die sie „Sensifics", das Studium des Sinnes, nennt,
nämlich des Sinnes, den Wörter überhaupt haben können und den sie
haben sollten; daraus müsse methodisch erlernt werden, wie ein Ge-
danke am treffendsten, am zweckmässigsten und am schönsten ausge-
drückt werde. „Denn in der Kegel finden diejenigen, die am meisten
zu sagen haben, es nicht am leichtesten, es zu sagen. Ln Gegen-
theil, die grössten Geister sind es oft, die am meisten sich beklagen
über die Unzulänglichkeit von Worten, ihr ganzes Denken auf tmgc*
immer in der Lage, die complicirtesten Namen im gewöhnliclien Gebrauch ent-
behrlich zu machen.
Terminologische Anstösse. 127
messene Art aaszudrücken, und über das Versagen des gewöhnlichen
Lesers ihnen zu folgen, selbst wo Worte ihnen in zureichender Weise
gedient haben.'' ^) Lady Welby hat, ausserdem, dass sie diese allge-
meinen Anregungen gegeben , noch in mehreren kleinen Broschüren
,,Zengnis8e'' wissenschaftlicher Autoren (hauptsächlich englischer) ge-
sammelt, die den Zustand der Terminologie, sogar in der Natur-
wissenschaft, wo man das Uebel yiel weniger vermuthet, zwar nicht syste-
matisch, aber durch die Yielstimmigkeit um so beredter, darlegen. Die
einleitenden Worte, die sie zu diesen „Witnesses of Ambiguity" in Philo-
sophie und Psychologie ') geschrieben hat , sind durchaus werth , hier
(in Uebersetzung) wiederholt und allen, die für die Bedeutung der
Sache Yerständniss haben, ans Herz gelegt zu werden. Sie lauten
nämlich: „Die folgenden Eingeständnisse einer irreführenden oder läh-
menden Zweideutigkeit und Vieldeutigkeit des Ausdruckes (wo sie oft
am wenigsten vermuthet werden und am meisten Schaden thun) sind
nur Beispiele, ausgelesen aus einer viel grösseren Anzahl, und diese
wiederum sind nur ein Zehntel von dem, was mit Leichtigkeit ge-
sammelt werden könnte in anerkannten und weitverbreiteten Werken
der modernen Literatur; man wird sehen, dass die Fälle aus den ver-
schiedensten Quellen geschöpft sind. Der Zweck dieser Sammlung ist,
dazu zu helfen, dass ein Missftand bekannt werde, der beständig
ignorirt und zuweilen sogar geleugnet wird; der aber eine Haupt-
ürsache der vielfachen Unfruchtbarkeit umlaufender Erörterungen, der
Verwirrung in Sachen von dringender Wichtigkeit, der Hoffnungslosig-
keit in Bezug auf die Möglichkeit ist, zu einer wirklichen Lösung von
;,BÄthseln^^ zu gelangen, denen vielleicht nur ein Ueberlebsel oder ein
Wechsel von Wortbedeutungen zu Grunde liegt, die als solche nicht
erkannt worden sind. — Sicherlich, so lange wir uns nicht bewusst
werden, wie viel Unklarheit und sogar erbitterter Streit wenigstens theil-
weise auf diese Ursache zurückgeführt werden kann, so lange dürfen
wir nicht hoffen, dass es besser damit werde. Und ob es besser werden
kann oder nicht, es muss ein Gewinn sein, zu wissen, wie es damit
*) V. Welby, Grains of Sense. London 1897. XI u. 146 S. Ein so geist-
reiches und unterhaltendes, als ernsthaftes und unterrichtendes Büchlein. Neuer-
dings zieht die Autorin den Ausdruck Significs vor, und will das Studium der
Zeichen schlechthin, und ihrer Werthe, zu einer pädagogischen und ethischen Be-
deutung erheben. Besser dürfte ein dem Griechischen entlehnter Name, etwa
Semantik, dieser Idee sich anpassen.
*) Grantham 1891, W. Clarke. Preis 3 d., postfrei 3V« d.
128 Ferdinand Töqnies,
steht. Zur Hälfte liegt das Uebel gerade daran, dass man allgemein
annimmt, y^selbstverständlich'' bedeute das Wort x die Sache y, und
dass weiter nichts darüber zu sagen sei/' — Systematisch hat so-
dann Lady W. ihre Gedanken über „Sinn, Bedeutung und Auslegung^
in 2 Artikeln des „Mind^ 1896 entwickelt, und hieran anknüpfend erhob
der französische Philosoph AndrS Lalande in der Revue de Meta-
physique et de Morale 1897 seine Stimme ^)f um zur Herbeiführung eines
„Reiches der Ordnung" in den philosophischen Studien mitzuwirken.
Er plädirt für eine „philosophische Gesellschaft^', die sich dieses Ziel
ausdrücklich setzen solle; durch sie meint er auf die „philosophische
Propädeutik" in den Gymnasien — Lalande ist selbst Professor am be-
kannten Lyc^e Michelet — wirken zu können: „sie allein kann die ge-
nügende Autorität besitzen , so lange wir nicht einen Minister haben,
der selber Philosoph und Schulmeister wäre , um Ordnung in ein Ge-
biet zu bringen, das thatsächlich ein Chaos darstellt".
Mir waren diese Vorarbeiten — ausser dem Buche Eucken's —
unbekannt geblieben, als ich im gleichen Jahre (1897) auf die — wie
ich erst später erfuhr, von Lady Welby gestellte — Preisaufgabe
stiess, die eine Erörterung der Ursachen bestehender „Unklarheit und
Verworrenheit in der philosophischen und psychologischen Terminologie^^
und Angabe der Richtungen, in denen Abhülfe gesucht werden dürfe,
Terlangte. Ein intetnationaler Gerichtshof, in dem Deutschland darch
Prof. Külpe, England durch Sully und Stout vertreten wurde, war dafui
eingesetzt. Die Erläuterung legte hauptsächlich Werth darauf, dass
eine Classification der verschiedenen Arten, in denen ein Wort oder
anderes Zeichen Bedeutung haben kann, vorgetragen werde. Dem-
nach habe ich im ersten Theile meiner Arbeit ^) (die durch einstimmiges
Votum den Preis erhielt) über Zeichen im allgemeinen und Worte in-
sonderheit ausführlich gehandelt; im zweiten die sachlichen und his-
torischen Ursachen des bestehenden Zustandes, und im dritten die
Richtungen erörtert, in denen eine Verbesserung erwartet werden darf.
Am Schlüsse habe ich darauf hingewiesen, dass der zunehmende in-
ternationale Character aller Wissenschaft das Bedürfniss einer
allgemein giltigen Terminologie immer lebhafter ins Bewusstseiu
rufen werde und dass nur aus dem Bedürfniss hieraus Suchen und
^) „Le langage philosophique et Tunite de philosophie."
') Sie ist in englischer Uebersetzung, die von Mrs. Bosanquet mit grosser
Sorgfalt angefertigt wurde, im „Mind'' (July und Oktober 1899, Januar 1900) ge-
druckt worden.
Terminologische AnttÖMe. 129
Finden der richtigen Mittel entspriogen könne. Schon werde durch
diejenigen Zeitschriften, die in mehreren Ländern gelesen werden,
nnd durch internationale Congresse mancher Keim zn einer uniTersalen
Yeiständignng gelegt. Diese werde aber nur gedeihen können vermöge
einer gemeinsamen Sprache, einer Weltsprache; der Terminologie
freilich könne daneben auch durch graphische Darstellungen ge-
holfen werden. Als Weltsprache empfehle sich immer noch am meisten,
die nie ganz als solche ausgestorben, im wissenschaftlichen Gebrauche
noch Tor 200 Jahren in Uebung war, das Neu- Lateinische ; da es auch
inmier noch, durch seine unbegrenzte Fähigkeit, griechische Wort-
fonnen sich anzupassen, die technische und wissenschaftliche Termino-
logie beherrsche. Um aber mit solchen Mitteln Erfolge zu haben,
dazu sei nicht allein Wille und Fähigkeit, sondern Autorität noth-
wendig. „Li jeder Hinsicht weist die wissenschaftliche Arbeit unserer
Zeit, weisen besonders die ungeheueren Aufgaben des Sammeins, fie«
gistrirens, Yerallgemeinems, auf Berathung, Zusammenwirken; Orga-
nisation. Die gegebene Form der gelehrten Körperschaft ist die
Academie. Was die nationalen Academien einst für die Natur-
wissenschaften leisten sollten, und in nicht geringem Maasse geleistet
haben, das sollte einer internationalen Academie für die
Geisteswissenschaften zu leisten aufgegeben werden. Jene gründeten
sich auf die materiellen und practischen Literessen von Staatsmännern
und Bürgern, für Entwickelung von Handel und Lidustrie; Handel,
Industrie und Wissenschaft haben die grossen politischen Körper zu-
sanmiengeknüpft, in denen die Nationen einander jetzt, zum guten Theil
in Eifersucht und Feindschaft) gegenüberstehen. Die internationale
Academie muss, durch die Fülle und den Beichthum ihres Lebens, von
jenen, die Ton ihrem Ursprünge her etwas Todtes und Mechanisches an
sich haben, ebenso sich abheben, wie eine moderne Weltstadt you den
starren und regulären Fürstenstädten des achtzehnten Jahrhunderts sich
abhebt. Jene (die nationalen Academien) waren Erzeugnisse des mo-
narchischen Absolutismus und des militärischen Geistes, diese (die
internationale Academie) soll als Schöpfung eines demokratischen Be-
lativismus (den man auch als Communismus bestimimen nuig) und
des Geistes friedlicher Arbeit betrachtet werden. Ihre Idee gründet sich
anf die idealen practischen Interessen der Erziehung des Menschen-
geschlechts und des Weltbürgerthums: Interessen, die darauf ausgehen
müssen, Psychologie und Sociologie zum Bange der leitenden
Organe in einem moralischen Körper zu erheben, dem sich die ciyili-
130 Ferdinand Tönnies. Terminologische Ansiösse.
sirten Nationen fireiwillig als Mitglieder unterordnen werden. Nun liegt
diese Idee — wie kaum ein denkender Sociologe leugnen dürfte — so-
zusagen in der Luft unseres Zeitalters. Sie ist die Oberstimme zu
allen Instrumenten, die im ökonomischen , im politischen und geis-
tigen Leben unseres Jahrhunderts gespielt werden. An der Schwelle
eines neuen Jahrhunderts darf sie yielleicht den Ton angeben in diesem
Concerte.'^ — Wie fem und wie bald aber es einer solchen Academie
gelingen würde, Autorität zu gewinnen, und gesetzgeberisch für philo-
sophische Terminologie sich geltend zu machen, das wäre gewiss durch
ihre Leistungen, also durch die Zweckmässigkeit ihrer Vorscliläge am
meisten bedingt. Helfen wird aber dazu auch die Verbreitung
der Einsicht in die Natur des Problems, in die Nothwendigkeit
einer inneren Einigung (des einzelnen Denkers mit sich selber und
mit anderen Denkern) über die nothwendigen und nützlichen Begriffe,
einer äusseren Einigung über die schicklichsten und zur allgemeinen
Greltung tauglichsten Namen, die solchen Begriffen beizulegen wären.
Solche Einsicht zu befordern ist auch diese kleine Erörterung bestimmt
gewesen; dabei wäre zunächst am meisten erwünscht, wenn sie Er«
örterungen von anderer Seite hervorrufen würde.
Zur Kenntniss des Einflusses einiger psychischer Zustände auf
die Athmung.
Von
D. Isenberg und 0. Vogt. •
Die folgenden Ausfiiliningen stellen eine erste Mittheilnng dar
über Stadien, die wir zur Feststellung des Einflusses verschiedener
psychischer Zustände auf Athmung und Puls unternommen haben.
Das JSrgebniss dieser Studien, sowie Erfahrungen, die wir bei der Er-
forschung anderer körperlicher Aeusserungen machten, haben uns da-
rauf hingewiesen, zunächst einzelne Individuen auf ihre körper-
lichen Aeusserungen der verschiedenen psychischen Zustände zu unter-
suchen. Zeigten doch die körperlichen Reactionen auf die gleichen
psychischen Zustände so starke individuelle Verschiedenheiten, dass
eine ganze Beihe für das einzelne Individuum charakteristischer Mo-
mente dieser Keactionen verschwindet, will man nur für alle Individuen
gültige Characteristica aufstellen! Das detaillirte Eingehen auf die
indiTiduellen Eigenthümlichkeiten der verschiedenen körperlichen
Keactionen hat jedoch seine grosse wissenschaftliche Bedeutung. Indi-
viduelle Verstärkungen können einmal unsere Aufmerksamkeit auf ge-
wisse Momente in den körperlichen Beactionen hinlenken, die bis dahin
nnheachtet blieben, obgleich sie sich als für alle Menschen gültig heraus-
stellen. Weiter aber hat man öfter Gelegenheit, Beziehungen zwischen
den verschiedenen Eigenthümlichkeiten des einzelnen Individuums zu
erkennen. Die eine Eigenthümlichkeit lässt sich auf eine andere zu-
rückfahren. So bahnt ein eingehendes Studium der einzelnen Indi-
viduen das Verständniss für das Individuelle seiner Beactionen an und
damit weiterhin eine geläuterte Erkenntniss desjenigen, das den Be
132 Isenberg und Vogt.
actioBen aller Menschen trotz der individuellen Eärbnng eigen ist.
Schliesslich führt eine eingehende Beachtung der individuellen Eigen-
thümlichkeiten zur Aufstellung von Individuengruppen mit mehr oder
weniger ähnlichen Eeactionsformen : einer Aufstellung , die — wenn
näher begründet — ebensosehr für die Charakterologie, wie für die
Psychopathologie von Bedeutung werden kann.
Die folgenden Mittheilungen beziehen sich dementsprechend auf
eine einzige Versuchsperson ; als diese diente Isenberg, als Experimen-
tator Vogt. Isenberg war zur Zeit der Vornahme der Versuche über
die Ansichten, die Vogt bezüglich der Gefühle vertritt, vollständig un-
orientirt, sodass nach dieser Seite eine Voreingenommenheit ansge-
schlössen ist. Der Thatsache, dass wir überhaupt bemüht gewesen sind,
ohne jegliches Vorurtheil die vorliegenden Untersuchungen zu unter-
nehmen, haben wir auch dadurch Ausdruck gegeben, dass wir im Titel
nicht etwa von Gefühlen, sondern allgemein von psychischen Zuständen
sprechen.
Wenn wir mit den Besultaten der Versuchsperson Isenberg be-
ginnen, so hat das zwei Gründe.
1. Unsere ganzen Versuche weisen darauf hin, dass die einzelnen
Individuen zu den verschiedenen Formen körperlicher Aeusserungen
psychischer Zustände verschieden stark tendiren. Bei Isenberg haben
wir nun constatirt, dass speciell der Einfiuss verschiedener psychischer
Zustände auf die Athmung sehr stark hervortrat. Es erscheint uns
deshalb nützlich, mit der Veröffentlichung der mit Isenberg angestellten
Versuche zu beginnen.
2, Isenberg ist mehr als viele andere fähig, sehr lebhaft willkürlich
sich die verschiedenen psychischen Bewusstseinszustände zu reproduciren.
Da aber, wo eine lebhafte Beproduction der verschiedenen psychischen
Zustände möglich ist und diese für zu vergleichende Zustände gleich
rasch und gleich leicht von statten geht, scheint uns diese Form des
experimentellen Hervorrufens der verschiedenen psychischen Zustände
die meisten Chancen zu bieten, unter den gleichen Versuchsbedingungen
und in der gewünschten Form die verschiedenen psychischen Zustände
hervorzurufen. So werden wir am meisten berechtigt sein, die b^
obachteten körperlichen Reactionen auf die betreffenden psychischen
Zustände zu beziehen, da wir die Beimengung anderweitiger die körper-
lichen Beactionen beeinflussenden psychischen Momente in grösst-
möglichstem Maasse vermeiden. Selbstverständlich müssen immer wieder
die psychischen Zustände auch einzelne Male durch Einwirkung der
Zar Eenntnifls des Einflusses einiger psychischer Zustände auf die Athmung. 133
Aussenwelt herrorgerufen werden: und zwar einmal, damit die Ver-
suchsperson sich immer wieder daron überzeugt, dass sie diesen direct
darch periphere Erregungen herTorgerufenen Zuständen identische re-
produdrt und dann, damit wir die Beactionsformen der peripher aus-
gelösten nnd reprodudrten Zustände mit einander vergleichen.
Die äusseren Cautelen regeknässigen Lebens etc. wurden natürlich
innegehalten.
Bei den meisten Versuchen haben wir auch den Puls registrirt.
Dementsprechend haben wir in der folgenden Beschreibung unserer
Versuche auch die Zahl der Pulse angegeben, während wir uns über
die Schwankungen der Pulsform, sowie die Aenderungen der plethysmo«
graphischen Curre eine spätere Mittheilung vorbehalten.
Als Pneumatograph diente uns eine mit einer Marey'schen Kapsel
verbundene einfache Luftkapsel aus Kautschuk. Wir haben stets die
Bmstathmung gemessen. Zur Begistrirung des Pulses diente theilweise
der P r e 7 ' sehe Sphygmograph, theilweise der Ludwig' sehe Plethysmo-
graph mit Luftübertragung. Als Kymographion benutzten wir das
Engelmann 'sehe Pantokymographion , wie wir uns auch der eben-
falls von Engelmann angegebenen electro-magnetisch in Schwingungen
gehaltenen Stäbe zur Zeitregistrirung bedienten.
Wir haben zu Anfang eines jeden Versuchs zunächst den Normal-
zustand gemessen. Wir glauben so den normalen Schwankungen von
Athmung und Puls nach Kräften Bechnung getragen zu haben. Weiter-
hin sei als eigentlich etwas Selbstverständliches der Thatsache gedacht^
dass wir natürlich in der folgenden Beschreibung alle überhaupt ge-
machten Versuche berücksichtigt haben, soweit nicht von vornherein
ein Misslingen des Versuches durch eine Störung während des Ver-
snches eintrat. Dagegen haben wir nicht einen einzigen Versuch fort-
gelassen, weil er etwa eine aus den andern Versuchen resultirende
Gesetzmässigkeit störte.
Zu Anfemg befand sich die Versuchsperson öfter im Zustand des
partiellen systematischen Wachseins. Später haben wir ausschliesslich im
Wachsein experimentirt.
Bezüglich der Veränderungen, welche die Athmung unter dem
Einfluss der verschiedenen psychischen Zustände erfahrt, haben wir
unser Augenmerk auf die folgenden gerichtet:
1. auf dauernde Veränderung der Stellung des Brust-
korbs. Dieser kann dauernd mehr in ein Inspirations- oder Ex-
spirationsstellung übergehen. Diese Aenderung vollzieht sich in der
134 Isenberg und Vogt.
Weise, dass die Extremität der einen der beiden Athmungsphasen za
Ungunsten derjenigen der andern zunimmt. Eine solche Aendenmg
gibt sich in unsern Curven dadurch kund, dass bei Ausprägung einer
Inspirationsteliung das Niveau der Gurve steigt und umgekehrt Mt.
In unseren Tabellen haben wir diese Niveauveränderungen unter N nnd
zwar die steigenden mit -|-, die fallenden mit — notirt.
2. auf Aenderungen in der Tiefe der Athemzüge. Wir
finden sie in unseren Tabellen unter T und zwar die Zunahmen der
Tiefe mit -|-, die Abnahmen mit — angegeben. Wir wollen noch be-
merken, dass das Vorhandensein einer einzigen Tiefenangabe darauf
hinweist, dass wenigstens % aller Athemzüge diese Veränderung zeigen.
3. auf die Zahl der Athemzüge. Unsere Angaben sind
sämmtlich auf die Zeiteinheit von 5" berechnet. In der Bubrik ZAt
befindet sich die Zahl der Bespirationen in 5" des Normalzustandes,
in der Rubrik ZAw die für 5'' des Yersuchsstadiums , in der Bnbrik
ZAd befindet sich die Differenz z¥dschen den beiden vorangegangenen
Bubriken, und zwar bedeutet -f- vor der Zahl eine Zunahme , — eine
Abnahme während des Yersuchsstadiums.
Die Angaben über die Pulsfrequenz ZP gleichen mit ihren ein-
zelnen Bubriken denen über die Athmungsfrequenz.
Was die Figuren anbelangt, so sind diese von unserer Mitarbeiterin
Frau L. B 0 s s e , auf Gelluloidplättchen, die mit einem durchscheinenden,
aber die chemisch-¥rirksamen Lichtstrahlen nicht durchlassenden Lack-
überzug versehen waren, radirt worden. Diese Badirungen haben dann
direct als Negativ für die Zinkätzung gedient. Die senkrechten Striche
auf der wagerechten Linie bedeuten immer halbe Sekunden.
An psychischen Zuständen behandeln wir im Folgenden zunächst
Heiterkeit, Traurigkeit, Angenehm, Unangenehm.
Für diese Zustände haben wir drei Yersuchsanordnungen
angewendet. Wir haben den betreffenden Bewusstseinszustand durch
periphere Beize hervorgerufen. Die Yersuchsperson liess den peripheren
Beiz auf sich einwirken und es wurde nachher notirt , ob einer jener
Zustände hervorgerufen war, seine Intensität, Beinheit, Dauer etc. In
der zweiten Yersuchsanordnung suchte die Yersuchsperson diese £e-
wusstseinszustände zu reproduciren. In der 3. wurden periphere Beize
hervorgerufen, die, wenn die Yersuchsperson sich der Einwirkung
passiv hingab, gemischte Zustände hervorriefen. Es hatte die Yersuchs-
person nun die Aufgabe, ihre ganze Aufinerksamkeit einem Bestandthdl
dieser Mischung zuzuwenden und so dieses im Bewusstsein zu ver-
Zur Kenntniss des Einflusses einiger psychischer etc.
stärken uod gleichzeitig die anderen abzu-
schwächen. Wir werden im Folgenden die
erste und zweite Yersuchsanordnung gemein-
sam nnd die 3. Ton ihnen getrennt betrachten.
i. Heiterkeit, Traurigkeit, Angenehm,
unangenehm.
I. 1. u. 2. Vertachtanordnung.
1. Heiterkeit.
Als Vorversuch hat Isenberg die Ein-
wirkung von Stimmgabeltönen auf sein Be-
wusstsein analysirt. Er fand hier, dass c' auf
ihn angenehm und zugleich deprimirend wirkte,
während c" — c"" zunehmend erheiternd, gleich-
zeitig aber weniger angenehm, resp. direct
unangenehmen wirkte. Dabei trat bald das
deprimirende, resp. erheiternde, bald das an-
genehme, resp. unangenehme Moment mehr
in den Vordergrund. Diese Versuche hatten
den Zweck, eine Verständigung über die
Ausdrücke „Heiterkeit", „Traurigkeit", „An-
genehmes", „Unangenehmes" herbeizufiihren.
Die Bewusstseinszustände, welche Isenberg
als verwandt dem erheiternden Moment der
c" — c''" ansieht, wird im Folgenden als Heiter-
keit bezeichnet. U. s. f.
a. Sinnliche Heiterkeit.
In 7 Experimenten wurde ohneZuthun der
Versuchsperson sinnliche Heiterkeit hervorge-
rufen, und zwar 2 Mal durch c'^'', 2 Mal durch
c'", 1 Mal durch c'', 1 Mal durch einen hohen
Ton auf der Glarinette und 1 Mal durch ein
Ciavierstück (Aufforderung zum Tanz von
Weber).
Fig. 1 stellt den mittleren Theil der Curve
der in der Tabelle 1 unter 2 angegebenen Ver-
suchs dar. Wir sehen in der Figur zunächst
noch 3 Athemzüge des Normalzustandes. Dann
z n
Zar KenutoiM de« Eiofluuea einiger paychitchar Zuitände auf die Athman^. 137
ertönt c^. Die 3 folgenden AthemzUge sind nnTerändert Dann zeigt
sich ein sehr leichtes Steigen im Niveau. Nach 2 weitem Athemzügen
tritt dann vor Allem ein Zunahme der Tiefe der AthemzOge auf. Das
Niieau nnd die Zahl der AthemzUge zeigt nur eine geringe Yerändernng
im positiven Sinne.
Fig. 2 zeigt zunächst 2 AthemzUge des Normalzustandes von Ver-
such 1, sodann die Cnrve, nachdem c"" 48" bereite eingewirkt hatte.
Wir sehen hier, zu einer wie grossen Vertiefung der Athemztige die
Heiterkeit führen kann.
Fig. 2 B zeigt die Cuire des Versuches 6. Wir sehen hier eben-
falls eine ausgesprochene VertiefuDg der Athmung, gleichzeitig aber
ein gleichmäseiges Ansteigen des Niveaus.
Tabelle 1 giebt eine Uebersicht über alle 7 Versuche,
Tabelle I.
SiDDliche Heiterkeit.
Nr.
Beiz
s.!t.
ZAv
ZAw , ZAd
Zl\- ZP^v ZIM 1 BemerkunpeQ.
1
2
3
4
6
c""
+
+
-r
1^
1*
1,70
1,49
1.S0
1,33
134
f034
4-0,23
4-0,16
-Ofl?
—0,01
6,4'
6,4«
in
6,42
6,76
7,04
6,67
6Ä
6,93
6,18
-1-0,67! gl.iab2eiligw.0ij a-
aag.D.hm.
-t-1,11 reinleiter.
-0,17 r.in li.iter.
-(-04ll zQgleicii welunathig.
-t- 0,4^1 zngleidi waiimüthigu.
6
7
Ckr.
Cl«v.
t
t
1.23
lÄl
1,61
4-0,27
fo,26
6,43
6,83
6,01
tiM
zugleich wehmäthig.
ZiutuidB>£waDkeDd.
Wir haben also in 100% Niveauerhöhung
100% TiefeDzunahme
71,4% Freqnenzzunahme der Athmung
85,7% Freqnenzzunahme des Pulses.
Die Freqaänzzuoahme der Athmung beträgt in den 71,47o durch-
schnittlich + 0,25.
Die Freqnenzzunahme des Pulses beträgt in den 85,7% durch-
schnittlich + 0,66.
Die Frequenzabnahme der Athmung beträgt in den 28,6% durch-
flchnittüch — 0,04.
Die Frequenzabnahme des Pulses beträgt in den 14,3"/« — 0,17.
Es handelt sich also nur um sehr geringe Verlangsamungen von
Athmung und Puls in den Fällen, wo diese in ErscheiDung treten.
Z«iUchrin tb Hrpnotitmiu «te. X. 10
138
Isenberg und Vogt.
Eine Beziehung zwischen der Beeinflussung der Athmungs- und
der der Pulsfrequenz resultirt nicht aus den Versuchen.
h. Reproducirte Heiterkeit.
Beproducirt wurde die Heiterkeit 30 Mal. Anfangs geschah die
Beproduction mit Hülfe eines bewussten intellectuellen Substrats fiir
die Heiterkeit. Später war die Beproduction möglich, ohne dass ein
solches klarer bewusst wurde.
Fig. 2 B (Versuch 27 der Tab. 2) giebt den Typus der Curve für
die reproducirte Heiterkeit sehr gut wieder. Dasselbe gilt yon Fig. 3 ß^
(Vers. 19 der Tab. 2) wo nur die Uebertragung am Hebel der Marey-
schen Trommel und ebenso die Umdrehungsgeschwindigkeit des Kymo-
nmni 1 1 u 1 1 II I iNMiii nniiiiiii im 1 1111 iiiiMi.M. . ..1 t.iM, ... ..t ..Mit.uMmu.
Zur Keontnifla des EinfluBses einiger psychischer Zustände auf die Athmung. 139
graphion eine geringere ist Beide Figuren zeigen dieselben Chaxacte-
listica, die wir für die direct durch äussere Sinneseindrücke herror-
gerufene Heiterkeit kennen gelernt haben: Niveauerhöhung , Tiefen-
zanahme, Freqnenzzunahme. Fig. 3 A (Versuch 6 der Tabelle 2) zeigt
ein extremes Curvenbild, wie wir es nur an einem Versuchstage in den
Versuchen 6—8 der Tab. 2 erhalten haben. In diesen Versuchen ist
nur eine sehr geringe Niveauverschiebung eingetreten und speciell in
diesem einen Versuch gelegentlich sogar im negativen Sinne. Ein
anderes Extrem zeigt Fig. 3 C (Vers. 28 der Tab. 2). Hier ist die
Zahl der vertieften Athemzüge gegenüber solchen, welche die Tiefe
des Normalzustandes zeigen oder gar eine Abflachung aufweisen, in der
Minderkeit. Eine solche Zahl nicht vertiefter Athemzüge weist sonst
keine Curve auf. Einzelne Athemzüge, deren Tiefe nicht diejenige der
Athemzüge des Normalzustandes erreichen, finden sich hier und da.
Sie nehmen an Zahl zu, wenn die Heiterkeit einen geringeren Grad zeigte.
Die Einzelheiten der Versuche ergeben sich aus Tabelle 2.
Tabelle H.
Vorgestellte Heiterkeit.
Nr.
Niv.
1
Tiefe
ZAv
ZAw
ZAd
ZPv
ZPw
ZPd
1 ^ + H
..
1^
2,00
+ 0,64
6,81
639
+ 032
2
-
-
-
-
1^
2,00
- - 0,70
—
—
3
-
-
-
-
1,27
1,93
+ 0,66
7,02
737
+ 0^
4
—
-
-
-
1,04
0,98
- 0,06
5,00
4,87
— 0,13
5
—
-
-
-
1,19
1,22
-
h0,03
5,71
5,77
-
h0,06
6
h
-
-
1,06
1,28
-
-0,22
5,40
6,68
-
-1,28
7
■
-
-
0,94
1,20
-
-0,26
534
6,18
-
-0,84
8
="+
-
-
0,91
138
-
-037
538
631
-
-033
9
.
-
-
1,49
2,03
-
-034
7,46
7,45
0,01
10
—
-
-
-
1,35
1,71
-
-036
6,98
6,71
— 0,17
11
•
-
-
-
1,17
1,57
-
-0,40
7,31
737
+ 0,06
12
-
-
-
-
134
1,96
-
-0,62
7,45
733
+ 0,08
13
-
-
-
-
1,01
1,72
-
-0,71
—
—
14
-
-
-
-
0,94
130
-
-0,26
6,35
6,97
+ 0,62
15
-
-
-
-
133
2,06
-
-0,73
—
16
-
-
-
-
1,64
2,41
-
-0,77
—
—
17
-
—
-
-
137
1,86
-
-0,49
—
—
18
-
-
-
-
1,25
2,23
-
-0,98
5,33
6,42
+ 1,09
19
-
-
-
-
1,59
236
-
-0,77
—
20
-
-
-
-
1,12
2,00
-
-0,88
3,97
4,82
+ ^'5^
21
-
-
-
-
1,39
1,73
-
-034
5,29
531
— 0,08
22
-
-
+ -
1,33
2,36
-
-1,03
537
5,56
- 0,01
23
-
>
-
1,20
2,03
-
-033
5,15
5,98
-
-0,83
24
-
-
-
-
1,00
2,25
-
- 1,25
5,33
5,90
-
- 037
25
-
-
-
-
148
2,05
-
-037
5,93
631
-
-0,38
26
-
-
-
-
1,09
2,23
-
- 1,14
6,38
6,57
-
- 0,19
27
—
-
-
-
1,38
2,20
-
-0,82
7,94
7,94
^
28
-.
-
+ -
1,15
2,38
-
-133
5,66
5,92
+ "IS
29
-
-
+
1,21
1,88
-
-0,67
4,97
5,19
+ 0,22
30
-
-
h
1,26
2,26
-
-1,00
5,40
5,41
-
1-0,01
10*
140 Isenberg und Vogt.
Eine nur vorübergehende Senkung des Niveaus, findet sichln
1 FaU: 3,337o.
Ein dauerndes Gleichbleiben des Niveaus zeigt sich ebenfalls nur
in 1 Fall: 3,337o.
Ein constantes Steigen von vornherein zeigt sich in 27 Fällen:
90,01%.
Ein Steigen des Niveaus wenigstens nach einiger Dauer der Heiter-
keit zeigt sich in 2 Fällen: 6,66%.
Wir haben also eine Niveauerhöhung = 96,66%.
Eine Vertiefung der gesamten Athemzüge findet sich etwa in *;,
der Fälle.
Vom Rest der Fälle sinkt die Zahl der vertieften Athemzüge nnr
2 Mal unter % aller Athemzüge. In diesen beiden Fällen bleibt aber
noch die Hälfte der Athemzüge vertieft. Eine Tendenz zur Vertiefung
der Athmung ezistirt also in allen Fällen, wir können also setzen:
Vertiefung der Athmung = 100%.
Eine Beschleunigung der Athmung zeigt sich in 29 Fällen : 96,66%.
Die durchschnittliche Vermehrung beträgt -j- 0,72.
Eine Verlangsamung findet sich nur an einem Tage. Sie beträgt
nur 0,06. Die betreffende Curve zeigte gleichzeitig eine sehr starke
Vertiefung der einzelnen Athemzüge.
Eine Pulsbeschleunigung zeigte sich in 17 Fällen = 70,88% mit
durchschnittlich -f- 0,5.
Eine Pulsverlangsamung zeigte sich in 6 Fällen -« 24,96% mit
durchschnittlich — 0,13.
Ein Q-leichbleiben der Pulszahl zeigte sich in 1 Falle = 4,16^/o.
Eine Beziehung zwischen Athmungs- und Pulsfrequenz tritt nicht
hervor.
2. Traurigkeit.
a. Sinnliche Traurigkeit.
Sinnliche Traurigkeit wurde in 5 Fällen hervorgerufen. Tabelle 3
belehrt uns über die Resultate dieser Versuche. In Versuch 3 wurde
der 1. Satz von der Bethoven'schen Cis-moU-Sonate theilweise gespielt
In Versuch 4 wurde das tiefe D der Clarinette geblasen. Diese beiden
Versuche sind in Fig. 4 A u. B abgebildet worden. Wir constatiren
in beiden Fällen ein geringes Sinken des Niveaus. Die Athemzüge
verflachen sich. Dazwischen treten einzelne sehr tiefe Athemzüge auf.
die eine Art Seufzer darstellen, nach denen zumeist noch eine stärkere
Tendenz zu Verflachung der Athemzüge und Senkung des Nifeaas
Zur KenDtniu des EizifluMes einiger psydiischer Zustände auf die Athmung. 141
auftritt. In der Tabelle 3 ist die Zahl solcher tiefer Athemziige in
den einzelnen Versuchen notirt.
Aus der Tabelle 3 ergibt sich:
Tabelle UI.
Sinnliche Traurigkeit.
Nr.
Reiz
K.
T.
ZAv
ZAw
ZAd
ZPv
ZPw
ZPd
Bemerkungen.
2
3
4
c'
c'
Clav.
Clar.
c'
-(3+)
1^
1,22
1,21
1,06
1,28
1,14
1,23
137
1,24
1,01
— 0,24
+ 0,01
4-0,16
+ 0,18
— 0,27
6,11
5,08
6,20
6,49
6,42
6,92
4,96
6,46
6,62
6,41
-o,id
— 0,12
+ 0,26
4-0,13
-0,01
Zugleich ange-
nehm,
do.
do.
Eher unange-
nehm.
Zugleich ange-
nehm.
yy
jy
M
?>
7f
in 5 Fällen Senkung des Niveaus »> 1007o«
6 ,, Abflachung der Athemziige »=s lOO^o*
3 ,j Zunahme der Athmungsfrequenz a> 60% mit durchschnitt-
lich = + 0,12.
2 Fällen Abnahme der Athmungsfrequenz = 40% mit durch-
schnittlich = — 0,26.
3 Fällen Abnahme der Pulsfrequenz a. 60% mit durchschnittlich
= — 0,11.
2 Fällen Zunahme der Pulsfrequenz «> 40% mit durchschnittlich
= + 0,19.
b. Reproducirte Traurigkeit.
Beproducirt wurde die Traurigkeit in 17 Fällen. Eine typische
Curve findet sich in Fig. 4 C (Vers. 15 in Tab. 4). Wir finden hier die
leichte Niveausenkung, die Abflachnng des Gros der Athemziige und
die einzelnen vertieften Athemziige. Ausserdem tritt eine Abnahme
der Athmungsfrequenz hervor, wie wir sie in beinahe % der Fälle
reproducirter Traurigkeit finden. Fig. 4 D (Vers. 18, in Tab. 4)
zeigt eine Curve, die sich von der vorangehenden nur dadurch unter-
scheidet, dass die Athmungsfrequenz zu, statt abgenommen hat. In
dieser Richtung zeigt weiterhin Pig. 4 E (Vers. 7 in Tab. 4) das be-
obachtete Extrem von Beschleunigung der Athmung. Fig. 4 F (Vers.
2 in Tab. 4) zeigt endlich das Extrem einer Curve, zu der noch in 3
weiteren Fällen eine Tendenz auftritt: die Athemziige sind vertieft, statt
verflacht. Ein anderes Extrem, endlich ist in Fig. 4 F^ (Vers. 14 in
Tab. 4) wiedergegeben. Hier steigt das Niveau über den Normalzustand,
nachdem es anfangs gesunken war.
)
)
«*4 I-
)
)
>
)
c^
Zur KenntniM dei EiofiiiMet einiger piyehiiclier Zustände auf die Athmung. 143
Tabelle IV.
Vorgestellte Traarigkeit.
Sr.
Niveau
Tiefe
ZAt
ZAw
ZAd
Zl'v
ZP»
ZPd
1
— , daan =
-iM
- 134
1,11
— 0^
6,19
6,14
-0,04
2
—
.. ;*■
136
0,98
— 0,37
7,16
6,93
-0,22
3
-
theilw.
;: 1^
1,18
— 0,07
6,78
6,81
-1-0,03
4
—
the'ilw.
; 1.M
0,98
-0,06
6,00
6,14
+ 0,14
b
„
~"u -
1,27
-0,07
7,07
6,99
-0,08
6
- «• H
- 1.16
0,96
-0,20
7;60
7;oo
— 0.80
7
4 -
h 1,31
2,17
H
-0,86
S
3 ■
■ 124
166
-
-031
9
3 -
- 1,86
1,63
-0,38
10
143
834
-
-0,86
11
1 H
h 130
1^7
-0.07
U
1 -
- IfB
131
— U,07
639
6,41
+ 0,02
+ 028
13
— UDd =
2-
■ ijs
1%
+ 0,04
im
4^17
14
— und 4-
1 -
■ 129
103
-0:20
631
6,14
-017
15
2 -
- loe
068
-0,40
6;26
6,31
+ 0,06
16
2 -
124
0,86
-039
6,09
5,95
-0,14
17
—
-
1 -
- 108
0,87
-ü,21
6,83
5,71
— 0,12
Aus Tabelle 4 ei^ebt sieb:
in 14 Fällen Senkimg des Nive&us » 83,39%
3 „ „ „ „ mit nachherigem Stelgeu
auf die alte Höhe = 11,76%
in I Fall Senkung des Niveaus mit nachherigem Steigen Über die alte
Höbe = 5, 88%.
in 12 Fällen Abflachung der Atbemzüge =-= 70,54°/,
1 Fall zuerst Abflachnng, dami gleiche Tiefe der Athemziige
=- 5,88%
1 „ zuerst Abflachong, dann Vertiefung der Athemziige = 6,867o
2 Fällen zuerst die gleiche Tiefe, dami Vertiefung der Atbem-
züge = 11,76%
1 Fall Vertiefung der Atbemzüge = 5,88%
II Fällen Abnahme der Athmongsfrequenz = 64,687e, im Durch-
schnitt = — 0,21
6 „ Zunahme der Athmungsfrequenz = 36,12%, im Duicb-
schnitt =. -|- 0,42
7 „ Abnahme der Pulsfrequenz e= 68,21%, im Durchschnitt
= — 0,19
6 „ Zunahme der Pulsfrequenz — 41,79%, im Durchschnitt
= + 0,09.
144
Isenberg und Vogt.
Eine Beziehung zwischen Athmungs- und Pulsfrequenz tritt nirgend»
hervor.
3. Angenehm.
a. Sinnliches Angenehm.
Sinnliches Angenehm wurde durch Einiiössen einer ziemlich con-
centrirten Zuckerlösung heryorgerufen, und zwar wurde dieser Yersucb
8 Mal angestellt. Zunächst muss bemerkt werden^ dass die Versncbs-
person in einzelnen Experimenten auch etwas Heiterkeit nach dem
Einiiössen der Zuckerlösung zu beobachten glaubte. Femer muss darauf
hingewiesen werden, dass durch das Einflössen der Lösung stete eine
gewisse Störung in der Athmung hervorgerufen wurde, da die Versuchs»
person, die während der grossen Mehrzahl aller Experimente auf der
Chaiselongue flach ausgestreckt lag, sich dazu etwas aufrichten musste.
Endlich kamen noch Störungen durch Schluckbewegungen zu Stande.
Das Niveau in seiner Gesammtheit zeigt während der Versuche
die Tendenz zum Sinken, erreicht jedoch nur in Nr. 3, 5, 7 (siehe
Tabelle 5) einen tieferen Stand als vor Beginn des Versuches, in dem
ganz zu Anfang des Versuches — wohl als Folge der Bewegungen
beim Einflössen der Zuckerlösung — eine Niveausteigerung stattfand.
Tabelle V.
Sinnliches Angenehm.
Nr.
Niv.
Tiefe
ZAv
ZAw
ZAd ZPv
ZPw
ZPd
Bemerknngen.
1
2
3
4
5
m
1,20
1,29
1,29
1,54
1,54
1,70
1,37
1,30
1,31
1,30
+ 0,50
--0,08
+ 0,01
— 0,23
-0,24
6,10
6,10
6,35
6,35
6,48
6,34
6,91
6,80
+ 0,38
--0,24
--0,56
- - 0,45
6
7
+u
1,36
1,50
1,25
1,64
— 0,11
+ 0,14
5,20
5,97
+ 0,77
Angenehm und viel-
leicht etwas heiter.
8
+(-)
+
1,73
1,82
+ 0,09
6,00
6,46
+ 0,46
Angenehm und viel-
leicht etwfts heiter.
Fig. 5 A (Versuch 7 in Tab. 5) zeigt eine Gurre, bei der die
Niveausteigerung ganz im Anfang des Experiments eine sehr geringe
ist. Fig. 5 B (Vers. 4 in Tab. 5) gleicht der voranstehenden in aUem
Uebrigen, nur tritt die anfängliche Niveausteigerung stärker hervor, und
ist die Zahl der Athemzüge vermindert. Aehnlich gestalten sich die
Curven der übrigen Versuche, nur machen die der Versuche 1 und 8
eine Ausnahme. Fig. 5 C giebt Versuch 1 wieder. Dieser Versuch
ist durch eine ausgesprochene Beschleunigung und Abflachung der
146 Isenberg und Vogt.
AthmuDg characterisirt. Fig. 5 D giebt eine Curve wieder, die stark
an die von Heiterkeit erinnert. Sie ist einzig in ihrer Art und toü
den übrigen Curven ausgesprochen verschieden. In allen übrigen 6
Garven, in denen eine Vertiefung der Athemzüge stattgefunden hat,
ist diese eine ganz geringe, die durchaus derjenigen der Athemzüge der
Heiterkeit nicht ähneln.
Tabelle 6 zeigt die Resultate dieser Versuche.
(Siehe TabeUe auf Seite 144).
Aus der Tabelle 5 ergiebt sich also :
in 8 Fällen Tendenz des anfanglich erhöhten Niveaus zum Fallen 100%.
Davon :
in 6 Fällen thatsächliche dauernde Elrhöhung des Niveaus bei der
Tendenz zum Sinken = 62,5^0
,, 1 Fall anfangliche Erhöhung des Niveaus mit nachherigem Sinken
unter das Niveau = 12,5%
„ 2 Fällen Sinken des Niveaus = 26 7^
„ 5 „ Vertiefung der Athemzüge = 62,67o
, 2 ,, theils tiefere, theils Athemzüge von gleicher Tiefe => 25%
„ 1 Fall flachere Athemzüge = 12,5%
„ 5 Fällen Zunahme der Athmungsfrequenz = 62,5%, im Durch-
schnitt = + 0,164
„ 3 „ Abnahme der Athmungsfrequenz = 37, 5%, im Durch-
schnitt = — 0,193
„ 6 „ Zunahme der Pulsfrequenz = 100%, im Durchschnitt
+ 0,476.
Eine Beziehung zwischen Athmungs- und Pulsfrequenz ist nicht
erkennbar.
b. Reproducirtes Angenehm.
Angenehm virurde 14 Male willkürlich reproducirt. Die Versuchs-
person stellte sich den Zustand „angenehmer behaglicher Rohe" vor.
F. 6 A. (Vers. 8 in Tab. 6) giebt eine Curve wieder, wie sie sich in
der Mehrzahl der Fälle gestaltete. Wir constatiren eine Niveau-
senkung, eine Vertiefung und eine Verlangsamung der Athemzüge:
aber Alles in geringem Grade. Wir sehen bezüglich der Niveausenkung
schon in dieser Curve eine leichte Tendenz, sich gegen das £nde zu
verlieren. Die Tendenz führt in einer Minderzahl der Fälle sogar
allmählich zur Niveausteigerung. In Bezug darauf bildet Fig. 6 B.
(Vers. 7 in Tab. 6) das Extrem, welches zur Beobachtung kam, be-
züglich solcher Fälle, wo wenigstens zu Anfang noch eine NiveausenkuDg
Zur Kenntnüa des Einflussei einiger psychischer Zustände auf die Athmung. 147
auftrat. Diese Niveausenkung kam in einem Fall vollständig zum
Fortfall. Er ist repräsentirt in Fig. 6 C. (Vers. 10 in Tab. 6). Hier
i » » 1 I I I I I M M I M M t I I I M M t I I i I 1 I I M I t.
inuss bemerkt werden, dass die Reibung des Schreibhebels abnorm stark
-wax und darin yielleicht die rein mechanische Ursache zu suchen ist.
Dieser letzte Versuch zeigt yielleicht aus demselben Grunde gleich-
zeitig eine sehr geringe Vertiefung der Athmung. Fig. 6D. (Vers. 1
in Tab. 6) giebt endlich den einzigen Fall, wo bei dem reproducirten
Angenehm eine Athembeschleunigung auftrat. Es war dies der 1. Ver-
sach, das Angenehme zu reproduciren. Wie weit in Folge dessen
störende Momente wirksam waren, müssen wir dahin gestellt sein lassen.
Tabelle VI.
Vorgestelltes Angenehm.
N"r-| Niveau
Tiefe
ZAv
ZAw
ZAd
ZPv
ZPw ZPd
1
— u. 4-
— u.--
+ u.=
1,22
1,63
+ 0,41
a^a.
„_„
2
1,30
1,11
— 0,19
4,76
4,88
-
hO,12
3
—
-
1,33
0,93
— 0,40
4,80
4,96
-
-0,16
4
-
-
1,26
1,11
— 0,lö
4,60
5,26
-
-0,66
5
-11.+
-
-
1,60
1,67
0,03
5,59
6,24
-
-0,66
6
-
-
1,32
0,88
— 0,44
6,57
5,52
— 0,05
7
- +
-
-
1,32
0,85
— 0,47
5,57
5,68
+ 0,11
8
-
-
1,49
0,97
-0,62
5,64
5,50
— 0,14
9
-
-
1,49
0,93
— 0,56
6,64
6,83
+ 0,19
lO
= u.+
-
1,28
0,72
-0,56
5,06
5,12
+ 0,06
11
-
-
1,12
0,72
— 0,40
5,08
6,84
+ 0,76
12
-U.+
-
-
1,28
0,80
— 0,48
7,14
6,99
— 0,15
13
-h
1,09
0,68
— 0,51
6,63
6,63
^
14
h
1,04
0,66
— 0,38
6,31
5,42
-
f. 0,11 '
Aus der Tabelle 6 ergiebt sich Folgendes:
in 13 Fällen eine Niveausenkung = 92,86%
daTon zeigen
148 Isenberg und Vogt.
8 Fälle eine dauernde Niveausenkung »= (57,14%)
4 „ eine nachherige Niveauerhöhung = (36,12%)
femer
in 1 Fall ein. Gleichbleiben des Niveaus mit nachfolgender Steigerung
= 7,14%
„ 14 Fällen Vertiefuog der Athemzüge = 100%
davon zeigt
1 Fall im Laufe des Versuchs Abflachung auf die gleiche Tiefe = (7;14^/J
in 13 Fällen Abnahme der Athmungsfrequenz = 92,86%, im Durch-
schnitt = — 0,391
„ 1 Fall Zunahme der Athmungsfrequenz »s 7,14^/^, im DrurchschDitt
= + 0,41
„ 9 Fällen Zunahme der Pulsfrequenz* = 69,24%, im Durchschniti
= + 0,313
„ 1 Fall Gleichbleiben der Pulsfrequenz = 7,69%
„ 3 Fällen Abnahme der Pulsfrequenz =» 23,07%, im Durchschnitt
= — 0,113
Eine Beziehung zwischen Athmungs- und Pulsfrequenz ist nicht
zu ersehen.
4. Unangenehm.
a. Sinnliches unangenehm.
Um ein unangenehmes Bewusstseinsmoment hervorzurufen, haben
wir uns wiederholt schmerzhafter electrischer Hantreize
bedient.
Fig. 7 A (Vers. 10 in Tab. 7) giebt die Curve, wie wir sie fist
in allen Fällen beobachtet haben. Das Niveau steigt starL Die
Athemzüge werden oberflächlicher. Es mischen sich dazwischen ein-
zelne, die an Tiefe diejenigen des Normalzustandes übertreffen, die
aber nicht die Tiefe erreichen, welche wir bei der Heiterkeit beobachtet
haben. In einer geringen Minderzahl der Fälle überwiegt die Zahl der
etwas vertieften Athemzüge diejenige der abgeflachten. Wir haben
eine solche Curve in Fig. 7 B (Vers. 6 in Tab. 7) abgebildet Die
Zahl der Athemzüge ist vermehrt. In einem Fall haben wir eine an-
fängliche, in einem 2. eine dauernde Senkung des Niveaus beobachtet
Diese letztere Ourve in 7 D abgebildet (Vers. 4 in Tab. 7). Diese
Curve zeigt aber durchaus die anderen Characteristica : Abflachung und
Beschleunigung der Athemzüge. Fig. 7 C endlich giebt die Carte
Zar Kenntniss des EinfliMaeB einiger psychischer Zustände auf die Athmnng. 149
ftHi/iiMiiMiif lt^lnilc>^lr^lllllln^il.^Hlttllm^mn^llllmlinlMm^^t^nllllt!lMg^■
^^ I 1 1 I I r f I M M I t M I I I I H M I M M M I I i I f I r I n I t I M I n I H n > » t
^ y^tjaiJ>Mti6 Vynüi^i^fuAvrru
I I I t I M r f » ti I I » I ■ 1 I ' ■ M ! I I I 1 I I I I t 1 M I I I m I 1 t I ! I n I I 1 n M 1 I n
» ' t I i I I I r t I I I I I > i I I I I I Loi I I I I I M I f I I I t t I M I Ui t I I M ! f M f 11
<'»'''«««' M I I I » I . I I I I t I I I 1^ 1 I 1 M I I 1 I I I M I I M 1 I I 1 l I I f i I i I I
160
laeoberg und Yogt.
Hier war der schmerzhafte I
TOn Vers. 17 in Tab. 7 wiedi
schwach.
Tabelle VII.
Schmerzhafte electrische Hautreize.
Nr.
Niv.
Tiefe
ZAv
ZAw ' y.xd
ZPv
KI'w , ZIM 1 Bemerkungen.
1
+
_
1.25
a,ii
4-0,87
4,84
6,39
2
-J.+
1,26
2,10
-0;84
461
6,19
-0.58;
8
+
1.26
1,92
-0,66
4,64
6,21
--0M
4
1.26
1,98
-0,72
4,64
6,23
-0,59!
6
1.26
5,44
6.22
-0,78
6
1.26
2,69
fl43
6,44
6,98
-0,64'
7
1,34
564
6,48
— 0,16;
8
1,34
6,64
6^
-fO,16|
9
l,;!l
2,08
4-0,77
6,67
7^
-.0^1 l
10
1,H1
206
-0,74
6,67
7,65
--0,68,
11
1,31
230
-0,99
6,67
7!^
--oiel
12
-U.+
1,4-'
2;ii
-0,69
720
7^
--0,17'
13
1,1'^
2,41
-0,99
7,20
7,09
— 0,11
14
-U.+
l.:;n
1,96
-0,65
schwacher Sau.
15
1,:W
4,21
-2,83
Btarker
16
!..'»(;
2,41
-0,8.i —
17
1,30
1,49
-0,i;i; —
schwacher ,
18
■
1,16
2,12
19
1,27
2,09
starker ,
20
■
1,19
2,68
-i'a\'\ -
mittelstarker ,
21
1,34
234
22
■
+ u.-
1,48
2,20
- n','i —
starker '
83
■
1.46
2,42
- 0,93
-
—
—
mittelstarker „
Ans Tabelle 7 ergiebt sich Folgendes:
in 22 Fällen ein Niveausteigerang ~ 95,66"/,
davon zeigt
1 Fall anfangs eine Senkung dea NiTeans = (4,347o)
in 1 Fall Niveausenkung => 4,34*/o
in 23 Fällen eine AbSachnng der Athemzüge = 100%
davon zeigen
10 Fälle einzelne tiefere AthemzUgo » (i^AVo)
„ 20 Fällen Zunahme der Athmungefrequenz = lOO,"/!,, im Dntch-
schnitt — + 0,952
„ U „ Zunahme der Pulsfrequenz = 84,62*'/o, im Durchschnitt
= -|- 0,564
„ 3 „ Abnahme der Pulsfrequenz = lB,38*/o , im Durchschnitt
— — 0,136
Eine Beziehung zwischen Athmungs- und Pulsfrequenz läset sidi
Dicht erkennen.
Znr Eenntniss des Einflusses einiger psychischer Zustände auf die Athmnng. 151
Ein anderes unangenehm haben wir durch eine concentrirte
Salzlösung hervorgerufen. Fig. 7 E (Vers. 2 in Tab. 8) giebt eine
der erhaltenen Curven. Sie gleicht in allen wesentlichen Punkten den
bei Schmerzreizen erhaltenen: Erhöhung des Niveaus, etwas abge-
flachte Athemzüge yermischt mit einigen massig yertieften, Vermehrung
ihrer Zahl.
Tabelle VUI.
Concentrirte Salzlösung.
Nr.j Niveau Tiefe
ZAv
ZAw
ZAd
ZPv
ZPw
ZPd
1
-1-
_
1^
2,10
hO,öö
.
2
— u.--
— u.--
1,15
1,72
-0,67
—
3
-U.+
Ißö
1,89
-0,64
6,47
6,78
--0,31
4
+ u.-
1,36
2,22
-0,87
6,47
6,73
- - 0,26
5
+
1,32
1,60
^0,28
6,30
6,29
+ 0,99
Tabelle 8 giebt eine üebersicht über die 6 Versuche.
Aus Tabelle 8 ergiebt sich:
in 5 PäJlen eine Niveausteigerung »» 100%
davon zeigt
1 Fall eine anfangliche Niveausenkung = (207o)
in 3 Fällen eine Abflachung der Athemzüge = 60%
davon zeigen
2 Fälle flache und einzelne tiefe Athemzüge gemischt «» 40%
in 1 Fall tiefere u. einzelne flache Athemzüge gemischt = 20%
1 „ tiefere Athemzüge = 20%
5 Fällen Zunahme der Athmungsfirequenz = 100% ; im Durch-
schnitt = + 0,562
3 „ Zunahme der Pulsfrequenz *» 100%; im Durchschnitt
= + 0,52
Eine Beziehung zwischen Athmungs- und Pulsfrequenz ist nicht
erkennbar.
Ein drittes unangenehm beobachtete Isenberg in der 1. Versuchs-
anordnung ein einziges Mal, als &*'' ertönte, während dieser Ton in
zwei anderen Fällen vornehmlich Heiterkeit hervorrief. Der Versuch
ergab :
Tabelle IX.
Unangenehm empfundenes c"".
j'
??
?>
Nr. Niveau
Tiefe
ZAv
ZAw
ZAd
ZPv
ZPw
ZPd
>i -
—
1,56
1,75
+ 0,18
5,12
543
+ 0,01
162
Isenberg und Vogt.
b. Reproducirtes ÜDangenehm.
Keproducirt wurde das unangenehme 10 Mal yon Isenberg.
Fig. 7 F (Vers. 7 der Tab. 10) giebt eine der Oorren wieder.
Wir sehen dieselben Charakteristica, die wir bei den meisten Conen
des sinnlichen Unangenehmen kennen gelernt haben: Hebung des Ni-
veaus , Abfiachung und Vermehrung der Athemzüge. Diese Curve ist
unter denselben mechanischen Bedingungen aufgenommen wie die der
Heiterkeit in Figur 2 C und die der Spannung in Fig 8. Man sielit
eine stärkere Niveausteigerung als bei der Heiterkeit, eine geringere
als bei der Spannung. Man sieht aber tiefere Athemzüge als bei der
letzteren, während die Heiterkeit die stark vertieften Athemzüge zeigt ^)
Tabell
e
X.
Nr.
Niveau
Tiefe
ZAv
ZAw
ZAd
ZPv
ZPw
ZPd
1
^
1^
2,41
_
hl,12
_
.^.
—
2
-
-U.+
1^7
2,34
-
-0,77
5,26
5,98
-
-0,72
3
-
1,37
2,59
-
-1,22
534
5,78
-
-0,44
4
-
— u- 4-
— u. -[-
1^1
2,64
-
-1,03
5,64
6,29
-
-0,65
5
-
1,10
2,22
-
-1,12
5,29
5,86
-
-0^7
6
-
1,29
2,43
-
-1,14
6,05
6,45
-
-o;4o
7
-
—
1,26
3,08
-
-1,82
7,42
8,25
-
-033
8
-
1,11
2,25
-
-1,14
5,97
• 6,12
-
-0,15
9
-
—
1,13
1,75
-
-0,62
5,11
5,13
-
-0,02
10
-
-U.+
0,98
1,98
-
-1,00
5,42
5,47
-
-0,05
= 100%
= 100%
Aus Tabelle 10 ergiebt sich:
in 10 Fällen Niveausteigerung
„ 10 „ Abflachung der Athemzüge
davon zeigen
4 Fälle flache und einige tiefe Athemzüge gemischt »= (40%)
in 10 Fällen Zunahme der Athmungsfrequenz = 100%; im Durch-
schnitt = + 1,098.
„ 9 „ Zunahme der Pulsfrequenz = 100%; im Durchschnitt
= + 0,425.
Eine Beziehung zwischen Athmungs- und Pulsfrequenz lässt sich
nicht erkennen.
Tabelle 10 a giebt &ine IJebersicht über die gesammten Resultate der
ersten Versuchsanordnung, Tabelle 11 diejenige über die der zweiten
Versuchsanordnung. Die eingeklammerte Zahl in der Rubrik der Ye^
Suchszahl bedeutet die Zahl, in der auch die Pulszahl gemessen wurde.
*) In der Figur ist der Beginn des Unangenehm« nach dem L Athemoig.
Das betreffende Zeichen fehlt aus Versehen.
Zur Kenntnias des Einflussea einiger psychischer Zustände auf die Athmung. 168
Tabelle Xa. ResulUte der 1. Yersuchsanordnung.
Nr.
Bewnsstseins-
zustand
Versuchs-
zahl
Niveau
Tiefe
ZA
ZAd
ZP
ZPd
1 Heiter
2
3
4
Traurig
Angenehm
Unangenehm
1000,+
100 % -
87,6«/, -
93,1»>/, +
100% +
100 X -
87,60/0
93,16«/,
t
71,*"/.+
40 %-
37,5 •/.-
100»/*
+ 0,25
— 0,90
— 0,19
,74
+ + 0
86,7 •/o +
60»/,-
100«/,
88,2«/.
tt
+ 0,66
— 0,11
0,48
0,42
Tabelle XI. Resultate der 2. Versuchsanordnung.
Nr.
Bewnsstseina-
zustand
Versuchs-
zahl
Niveau
Tiefe
ZA
ZAd
ZP
ZPd
1
2
3
4
Heiter
Traurig
Angenehm
Unangenehm
30(241
17 (12
13)
9)
1*(
10 (
99,66®/o +
100 % -
92,8e<>/o-
1000/0 +
100% +
82320/0-
100 0/0 +
100 o/o-
96,66o/o
64,68o/o -
92,86o/o -
1000/0 +
+ +
0,72
-0,21
— 039
+1,098
70380/0 +
ö8,21o/o -
69,240/0 4.
1000/,
— 0,19
+ 031
+0,426
II. 3. Vartuchtanordnung.
Bei Anstellung dieser Versuche war Isenberg über das Resultat
der bisherigen Versuche orientirt. Die Versuchsperson ist aber der
Ansicht, dass diese Kenntniss die Athmungscurven der folgenden Ver-
suche nicht beeinflusst hat.
Wir haben 3 Töne c', c" und &'" auf die Versuchsperson ein-
wirken lassen. In einzelnen Fällen hatte die Versuchsperson die Auf-
gabe, den Ton einfach passiv auf sich einwirken zu lassen. Diese Ver-
suche fallen also in die 1. Versuchsanordnung, nur mit dem Unterschied,
dass die Versuchsperson nunmehr über die Ergebnisse der 1. Versuchsan-
ordnung orientirt war. Wir werden sie bei der Schlussberechnung zur
zweiten Versuchsanordnung hinzurechnen.
Tabelle 12 giebt die Versuche wieder, die wir mit & gemacht haben.
Tabelle XII. Einwirkung von c'.
Jfr}\ Bedingung
N.
Tiefe
ZAv
ZAw
ZAd
—
-;2g +
1,16
037
— 0,29
—
-;2g-|-
-;3g-
-;2g+
1,37
0,90
1,07
1,02
0,78
1,13
-0,35
-0,12
+ 0,06
—
-;3g-4-
-;2g4-
1,10
1,12
0,89
1,03
0,31
— 0,09
*"*"
+ ig +
0,92
0,83
— 0,09
+ ig+
1,20
0,95
0,25
Bemerkungen
2
3
4
5
6
7
8
Passiv
Traurig — —
n
Angenehm
n
li
Zcitsehrift für Hypnotismus etc. X.
Deprimirend und wenig an-
genehm.
Deprimirend.
Traurig; gut.
Traurig ; besonders am Schluss
gut.
Traurig, vor Allem am Schluss.
Traurig ; an^euehm angestrebt
ohne Erlolg.
Angenehm; gelang besonders
gegen !^nde gut.
Angenehm; jedoch nur zeit-
weise; zuweilen traurig.
11
154
Isenberg und Vogt.
Bei der passiven Einwirkung herrscht stark das Deprimirende Tor.
Bezüglich der Athmung constatiren wir in beiden Fällen:
Niveauabnahme = 100%,
Abflachung >= 100 % mit einzelnen ganz tiefen Athemzügen,
Verlangsamung — 100% von durchschnittlich = — 0,32.
In zwei weiteren Fällen sollte die Versuchsperson ihre Aufinerk-
samkeit auf das traurige Moment einstellen. Das Traurige herrschte
im Bewusstsein nach Angabe der Versuchsperson vor. Die Curven
ergaben :
Niveauabnahme = 100 %>
Abflachung = 100%, mit einzelnen ganz tiefen Athemzügen,
Verlangsamung = 60% mit — 0,12,
Beschleunigung = 50% „ + 0,06.
In vier Fällen sollte die Versuchsperson dur.ch ihre Aufmerksam-
keit das angenehme Moment verstärken. In zweien dieser Fälle (Vers.
5 u. 6) blieb trotzdem das traurige Moment vorherrschend. Die Corven
dieser beiden Versuche tragen ihrerseits auch vollständig den Typus
des Traurigen :
Niveauabnahme = 100%,
Abflachung = 100%, mit einzelnen ganz tiefen AthemzügeO)
Verlangsamung = 100%, mit durchschnittlich — 0,20.
In zwei Fällen gelang es Isenberg, das Angenehme mehr in
den Vordergrund des Bewusstseins zu drängen. Die entsprechenden
Curven (Vers. 7 u. 8) ergaben:
Niveauabnahme = 100 %,
Vertiefung = 100%, mit je einem tiefen, aber an Tiefe
den tiefen Athemzügen der Traurigkeit nach-
stehendem Athemzug.
Verlangsamung = 100% mit durchschnittlich — 0,17.
Das Gesamtresultat ergiebt sich aus folgender Tabelle 13:
Tabelle
xm.
^ Bewusstseins-
-"'• zustand
Vereuchs-
7Ah1
Niveau
Tiefe
ZA
ZAd
1
2
Traurig
Angenehm
6
2
100 % -
100 «/o -
100 % -
100 o/o +
8333 »/o -
100 "to -
— 0^
— 0,17
Zur Kenntniss des Einflunes einiger psychischer Einflüsse auf die Athmung. 156
Tabelle XIV.
Einwirkung von c".
\r.|i Bedingung
Niveau
Tiefe
ZAv
ZAw
ZAd
Bemerkungen
1 , Psssiv
(=)-K-)
= u.+
3 j Wehmüthig
4 (
0
6('
n
ff
8 Angenehm
loi :
Uli
12 i
13
I
I
15 ■ Heiter
- + +
17 •'
18
19
t
+
+
1,13
1,14
+
- (+); 2 gr +
-; 2 gr ^
-; 3 F,+ ,
— u. eiiiz,-|-4 gr -}-
-;3«- +
4-<0-;0gr-)
-|-(0-;0gr4-)
+ (0-;lgr+)
+ u. — ; 0 gr +
-j-einz. — ;1 gr +
+: 0 g' +
-|-, einz. —
- +
-++
n. +
1,13
1,31
1,28
1,32
1,29
1,25
1,24
1,29
1,22
1,11
1,20
1,21
1,39
1,16
0,92
1,34
1,32
1,47
1,27
1,06
0,96
1,06
1,04
1,09
0,92
1,16
1,06
0,94
1,07
1,10
1,14
1,66
1,41
1,46
1,23
1,40
4- 0,01 Im Anfang Gemisch
von heiter, wehmüthig
und angenehm ; zum
Schluss hauptsächlich
heiter.
-\- 0,14 Im Anfang mehr trau-
rig; zum Schluss traten
mehr heiter und ange-
nehm hervor.
— 0,251 Nur wehmüthig.
— 0,331 Wehmüthig ; gut.
— 0,27 Wehmüthig; put.
— 0,26i Wehmüthig; sehr gut
gelungen.
0,1Ö Wehmütlug; gut.
0,32 Angenehm; gut.
— 0,141 Angenehm; gut.
— 0,16| Angenehm: besonders
am Schluss gut.
— 0,17 An&renehm im Ganzen
-0,26
+ 0,4l!
+ 0,4^
+ 041
— 0,07
iffe
rh<
vorherrschend ; zeit-
weise heiter oder weh-
müthig vortretend.
— 0,13|Angenenm; gelang ganz
gut, jedoch Schwan-
kungen nach traurig.
— 0,11 Angenehm; gelang ganz
gut, jedoch Schwan-
kungen nach traurig.
Angenehm; gut.
Schwach heiter;
schwankend u. unrein.
Schwach heiter; Fing
eben erst an. Expe-
riment war zu kurz.
Sehr schwach heiter.
— 0,09* Heiter; doch trat das
wehmüthige ab und an
hervor.
Nur stellenweise
schwach heiter.
Das Gesammtresultat ergiebt sich aus folgender Tabelle 16.
Tabelle XV.
x\r.
Bewusstseins-
zustana
Versuchs-
zahl
1
2
3
Traurig
Angenehm
Heiter
6
7
7
Niveau
100 «/o -
1000/,-
lOOo/o +
Tiefe
ZA
100% -
100% -f-
100% +
100%-
100%
71,46%
t
ZAd
— 0,26
- 0,18
+ 0,23
ir
156
Isenberg und Vogt.
c"" endlich hat sich Isenberg zwei Mal ganz nahe seinem Ohr
auf sich einwirken lassen. Die Wirkung war eine ausgesprochen un-
angenehme. Die Curve zeigte:
Niveauzunahme => 100%
Abfiachong -> 100%
Beschleunigung = 100% Ton durchschnittlich =» + 0,11.
Bei passiver Hingabe rief cf'", in grösserer Entfernung Tom Ohr
gehalten, einen heitern Bewusstseinszustand herror. Bezüglich des Ki-
Teaus ist zu bemerken, dass am Schluss des zweiten zu kurzen Versuchs
Tabelle XVI. Einwirkung von c'
^tut
Nr.
Bedingung
Niveau
Tiefe !zAv
ZAw
ZAd
Bemerkungen
1
2
3
4
6
\ Nahe am
fOhi, Passiv.
^ Ferner vom
} Ohr.
j Passiv.
Ferner vom
Ohr.
Activ ange-
nehm.
(-) ». +
— (bepnnt
zusteigen)
"r
(=)-(+)
f
(-) +
+
+
1,40
1,61
1,33
0,93
1,24
13)
1,38
1,48
1,74
1,53
1,15
1,18
1,19
1,16
+ 0,08
-0,1^
"0,20
-0,2ä
— 0,06j
— 0,11
-0,22:
Unangenehm.
Unangenehm.
Heitc^.
Schwach heiter; Yenach
zu kurz.
Anfangs ein wenig heiter,
zum Schluss angenefani.
Aneenehm, zeitweise etwM
heiter.
Ghit angenehm.
(4 Tab. 16) das Niveau am Schlüsse gerade begonnen hatte zu steigen.
Wir werden es deshalb in der Berechnung als -[- anfuhren. Es eiigiebt
sich dann:
Niveauzunahme = 100%
Vertiefung = 100 7o
Beschleunigung ^^ 100 % ^on durchschnittlich = -f- 0,21.
Schliesslich yersuchte Isenberg in 3 Fällen bei Ertönen der
Stimmgabel in einiger Entfernung vom Ohr das Angenehme durch Anf-
merksamkeitsconcentration zu Yerstärken. Die Versuche gelangen
wenigstens relativ. Das Ergebniss war:
Niveauabnahme = 66,66 %
Niveauzunahme «= 33,33 %
Vertiefung = 100 7^
Verlangsamung = 100 7o von durchschnittlich — 0,13.
Tab. 13 giebt uns eine üebersicht über die Resultate mit c". Ib
zwei Versuchen (Vers. 1 u. 2) gab sich die Versuchsperson einfach der
Einwirkung hin. Hier beobachtete Isenberg ein Gemisch von heiter.
wehmüthig und angenehm. Doch herrschte in beiden Fällen das heitere
Moment vor. Die Curve zeigt in schwacher Ausprägung die Gurre des
Heitern :
Zur KenntniM des EinfluBses einiger psyehiseher Zustände auf die Athmung. 157
Nifeauzimahme «» 100 7o
Vertiefung = 100%
Bescbleunigang = 100 7o "^on durchschnittlich «» -|- 0,08.
In 6 Versuchen hatlsenberg mit Erfolg durch entsprechende Ein-
stelhmg der Aufmerksamkeit das Wehmüthige in den Vordergrund ge-
drängt Die Curven zeigen den l^us des Traurigen.
Niveauabnahme = 100%
Abflachuog «=> 100%, mit einzelnen sehr yertieften Athem-
zügen.
Verlangsamung == 100% Ton durchschnittlich = — 0,26.
In 7 Versuchen hat Isenberg erfolgreich das Angenehme durch
seine Aufmerksamkeit Terstärkt. Die Curven lassen sämmtlich den
Tjpos des Angenehmen erkennen:
NiTeauabnahme = 100%
Vertiefung = 100%, ohne besonders tiefe Athemzüge
Verlangsamung «» 100% von durchschnittlich »» — 0,18.
In 6 Versuchen .verstärkte Isenberg das heitere Moment. Die
Versuche fielen zumeist in Versuchstage , in denen Isenberg eine
grössere Tendenz, traurig erregt zu werden, zeigte: ganz im Gegensatz
zu den beiden Versuchen, die wir als 1 und 2 angeführt haben und die
Ton Versuchstagen stammen, wo die Versuchsperson zur Heiterkeit
mehr tendirte. Daraus erklärt sich, dass die Curven nicht sehr aus-
geprägt den Typus des Heitern zeigten. Bezüglich der Tiefe der Re-
spiration muss bemerkt werden, dass die Tendenz zur Vertiefung gerade
am Ende der Curve am meisten hervortrat. Es entsprach dieser Zeit-
punkt dem, wo nach subjectiver Schätzung am meisten Heiterkeit vor-
handen war. Wir haben dementsprechend die Tiefe stets mit -[- be-
zeichnet. Wir kommen zu dem Resultat:
Niveauzunahme -= 100 7o
Vertiefimg = 100%
Beschleunigung »s 60 % mit durchschnittlich >» -[~ ^'^
Verlangsamung = 40% „ „ = — 0,08
Das Gesammtergebniss tritt aus der Tabelle 17 hervor.
Tabelle XVH.
I
Nr.
Bewusstseins-
zustand
Versuchfl-
zahl
Niveau
Tiefe
ZA
ZAd
1
2
3
Unangenehm
Heiter
Angenehm
2
2
3
100 •/, +
66,66 % -
100 »/o -
100 •/, -|-
100% +
100»/, 4-
100«/, 4-
100% -
+ 041
+ 0,21
— 0,13
158
Isenberg und Vogt.
Tabelle 18 endlich giebt eine Uebersicht über die gesammtenYer-
Suchsergebnisse der 3. Versuchsanordnung.
Tabelle XVin.
Resultate der 3. Versuchsanordnung.
Nr.
Bewusstseins-
zustand
Versuchs«
zahl
Niveau
Tiefe
ZA
ZAd
1
2
3
4
Heiter
Traurig
Angenehm
Unangenehm
9
11
12
2
100% +
100% -
93^%-
100% +
100% +
100%-
100% +
100% -
77,7 % +
90,1%-
100% -
100% +
+ 0^
-034
-0,17
+ 0,11
In Tabelle 19 endlich ist das Gesammtergebniss der 3 Yersachs-
anordnungen in der Weise berechnet worden, dass die Resultate jeder
Versuchsanordnung als solche als 33,33 % in Rechnung gesetzt worden ist
Tabelle XIX.
Resultate der 3 Versuchsanordnungen.
Nr.
Bewusstseins-
zustand
Versuchs-
zahl
Niveau
Tiefe
ZA
ZAd
ZP
ZPd
1
2
3
4
Heiter
Traurig
Angenehm
unangenehm
48 (31)
33 (17
32 (19
41 (261
LOO \ -
74,61o/o -
97,710/,+
95,83% +
97,71%-
81,920/,
64,960/,
76,780/,
100 0/,
++g
++
0,24
0,25
0,66
78,280/, ++0^
84,620/, ++0,40
94,130/, 4-+a42
Als Ergebniss dieser gesamten Versuche möchten
wir besonders hervorheben^ dass bei Isenberg:
1. jeder der 4 alsHeiterkeit, Traurigkeit, Angenehm
und unangenehm bezeichneten Bewusstseinszustände in
einerftirihn ganz characteristischen Weise die Athmung
beeinflusste;
2. die Einwirkung der Heiterkeit auf die Athmung
mehr derjenigen des Unangenehmen als der des Ange-
nehmen und umgekehrt diejenige der Traurigkeit mehr
derjenigen des Angenehmen als der des Unangenehmen
ähnelt;
3. der Einfluss der Heiterkeit auf Niveau, Tiefe und
Frequenz der Athmung gerade dem der Traurigkeit
entgegengesetzt ist, ebenso wie der Einfluss des Ange-
nehmen in allen Punkten einen directen Gegensatz zu
dem des Unangenehmen bildet. (Schluss folgt.)
Ueber Talent und Genie.
Von
Dr. Augast Forel.
Es ist eine missliche, aber nicht zu ändernde Thatsache, dass in
der normalen wie in der pathologischen Psychologie alle Begriffe in-
einanderfliessen. Bei Anlass der Classification der Psychosen hatte ich
früher in meiner Klinik oft Gelegenheit, darauf hinzuweisen. Es ist
fast possirlich, zu sehen, wie zu verschiedenen Zeiten und unter dem
Einfloss verschiedener Psychiater die gleichen E[rankheitsfalle bald
unter diese, bald unter jene Rubrik gezogen wurden, je nachdem die
Mode an der Erweiterung dieses oder jenes Begriffes war. Eine Zeit
lang frass die „primäre Paranoia^, unter Westphal's Einfluss, die
^3 der Psychosenfalle auf. Früher waren die Begriffe „Manie und
Melancholie^' viel weiter als heute. Die von der „Neurasthenie^^ nahezu
verschlungenen Begriffe der „Hypochondrie^^ und sogar der „Hysterie^'
fangen wieder an etwas zuzunehmen. Doch werden unter Kraepelin's
Einflass heute vor Allem die im üebrigen sehr anerkennungswerthen
„Katatonie^' und „Dementia praecox'^ immer fetter und verzehren all-
mählich einen JÜaupttheil der früheren paranoischen und melancholischen
Formen u. s. f. Grenzen giebt es eben nicht, und, mit Hülfe der
menschlichen SuggestibiUtät, werden ohne Weiteres nahe verwandte oder
analoge Dinge von derjenigen Seite aus identificirt, welche momentan die
Haaptaufmerksamkeit und das Hauptinteresse der Psychiater an sich zieht
So konmit es, dass die durch gewisse Wörter anscheinend krystallisirten
Begriffe sich, je nach Zeit und Menschen, im genannten Gebiete un-
merklich bald erweitern, bald verengem, bald auch verschieben. Ich
will durch diese Bemerkung wirkliche Fortschritte und neue Erkenntnisse,
160 A. Forel.
wie z.B. Kraepelin's Lehren, keineswegs schmälem oder verkannt
haben, sondern nur die Falle, die uns Allen im genannten Gebiete auf
Schritt und Tritt droht, zu characterisiren suchen.
Es liegt auch nahe, dass nur die specifische LebenseTolution eines
specifischen Organismus eigentlich specifische Krankheiten erzeugen
kann. Schon bei Knochenbrüchen kann man keine absolute Species
schaffen, sondern nur besonders häufige Const-ellationen didactiscli
gruppiren. Wie viel weniger aber kann dies der Fall sein bei dem
ungeheuer feinen und complicirten Spiel der Nervenwellen, des Nenro-
cyms, auf den unzähligen yerschlungenen Neuronen des Gehirnes, sofern
nicht eine specifische Infection, wie etwa die Lues, wenigstens allge-
meine specifische Eyolutionszüge für den Verlauf der Krankheit (allg.
Paralyse) abgiebt.
Was schon die Erfahrung für die gewöhnlichen Psychosen zeigt,
gilt nun aber in noch höherem Maasse für die normale Psychologie,
8owie für die erblichen, constitutionellen Psychopathien, deren Wesen
ja nicht in gröberen Störungen des Gehirnes, der Neuroglia oder der
Blutgefässe, geschweige in Bacterieninfectionen, sondern nur in Gleich-
gewichtsstörungen, in abnormer Functionirung des Neurocyms liegen
können, bedingt durch ererbte Abnormitäten des moleculären Baues
der Neurone.
Li zweiter Linie möchte ich meinem Thema ein Wort über die
Vererbung vorausschicken. Wie neulich Prof. Emery mit Becht be-
tonte, weist der Durchschnitt der heutigen Aerzte bedenkliche Lücken
in der Kenntniss der Fortschritte der Zoologie auf. Dies zeigt sich
unter Anderem durch das MissTerstehen dessen, was Vererbung und
erbliche Potenzen sind. Es herrscht darüber in vielen Köpfen eine an
abergläubige Mystik oft grenzende ünkenntniss der Thatsachen, die
doch nun heute in ihren Grundzügen gut abgeklärt sind. Nur das
Protoplasma des Eikernes und des Spermakemes lebt im Nachkommen
fort und verleiht ihm sein ererbtes Gepräge. Allein überträgt es die
elterlichen Eigenschaften auf das Embryo, und, da beide Kerne
ziemlich gleich gross sind, erklärt es sich so, sehr einfach, warum der
väterliche Einfluss durchschnittlich ebenso stark ist wie der mütte^
liehe, obwohl die Mutter allein den ganzen hinzukommenden Futter-
stoff besorgt. Da jedoch in allen organischen Zellen und
Wesen grosse individuelle Schwankungen vorkommen, überwiegt bald
der mütterliche, bald der väterliche Typus im Nachkommen. Die
im Testikel des Vaters und im Eierstock der Mutter enthaltenen, ans
lieber Talente und Genie. 161
deren arsprünglichen embryonalen Zellen reserrirten und yermehrten
Keimzellen müssen selbst aus sehr ungleichen Potenzen der groeselter-
lichen Keime bestehen. Die einen mütterlichen müssen mehr Ton der
Mutter der Mutter, die anderen mehr vom Vater der Mutter haben.
Das gleiche gilt für die Yäterlichen. Dadurch erklärt sich der Atayis-
mQs in allen seinen Graden. Die Kinder sind bald mehr Mischungen,
bald mehr, jedoch niemals ToUst&ndigei Wiederholungen ihrer Ahnen.
Die empirische Beobachtung und die Ergebnisse der zoologischen
Forschung decken hier einander yoUkommen.
Mit jenen eben kurz resumirten Grundthatsachen der reinen Ver-
erbung darf man eine zweite Ejitegorie von Componenten nicht yer-
wechseln, die schlechtweg auch zur Vererbung gerechnet wird, jedoch
streng genommen nicht zu ihr gehört. Ich spreche Ton allen Ein-
flüssen, die die Keime Tor der Conjunction oder den conjungirten Keim
von seiner Bildung (Conjunction) an bis zu seinem Tode treffen und so
die Entwickelung des Einzelwesens modificiren. Als solche wären
Wärme, Kälte, chemische, physikalische und nutritire Einflüsse, Ver-
giftungen etc. etc., Tor Allem solche Einflüsse, die den Keim in seiner
embryonalen Entwickelung treffen. So hat Schwankewitsch Krebs-
arten durch Aenderung der Concentration der Salzlösung, in der sie
lebten, geändert; so haben Merrifield und Stand fass durch längere
Einwirkung von Wärme oder Kälte auf Schmetterlingspuppen und
Raupen Artveränderungen herrorgerufen. So können die Bienen durch
verschiedene Emährungsart aus dem gleichen Keim eine Arbeitsbiene
oder eine Königin ziehen. Und in verwandter, aber mehr pathologischer
Weise kann der Alcoholgenuss der Eltern die Entstehung von Zwerg-
wuchs, Epüepsie, Idiotismus, Rhachitis und dergl. bei den Nachkommen
begünstigen und, bei höherem Maasse, direct erzeugen.
Man sollte diese von den Keimzellen vor oder nach der Conjunction
acquirirten Eigenschaften als externe Vererbung von der echten, ata-
vistischen oder internen Vererbung trennen. Freilich kann eine auf
solche Weise vom Keimplasma selbst acquirirte Veränderung vererbt
und so zur internen Vererbung für weitere Nachkommen werden.
Dies hat meines Wissens selbst Weismann nie geleugnet. In d i e s e m
Sinne (kaum jedoch in einem anderen) mag von einer „Vererbung er-
worbener Eigenschaften'^ geredet werden. Diese müssen die Keim-
zellen, das Nucleoplasma, selbst treffen.
Nach Feststellung obiger zwei Grundthatsachen — die IJnbegrenz-
barkeit psychologischer und erblich psychopathologischer Begriffe und
162 A. Forel.
die zwei Formen der Vererbung — möchte ich mir eine Kritik des
Aufsatzes meines verehrten Collegen Dr. P. J. Moebius: ,,Ueber das
Studium der Talente" in Bd. X, Heft 2 der Zeitschrift für Hypnotis-
mus gestatten^ obwohl ich in gewissen Hinsichten durchaus mit ihm
übereinstimme. Ich Yerweise noch hierbei auf meine Aufsätze in Bd. X,
Heft 1 dieser Zeitschrift.
Selbstverständlich sind, wie alles in der Psychologie, die Begriffe
„Genie", „Talent", „Pathologisch" und „Normal" relative, d. h. schledit
begrenzte, an gewissen Stellen ineinanderfliessende, daher auch gar leicht
aubjectiv sich färbende Begriffe. Wenn jedoch Möbius behauptet,
dass „jede tüchtige Talentleistung etwas Neues enthält, dass jedes
Talent in einem gewissen Q-rade genial ist", oder gar, „dass das Talent
nichts als eine Steigerung einer allen Menschen zukommenden Fähig*
keiten und das Genie nichts als ein hoher Grad des Talentes ist'^ —
so muss ich ihm sehr entschieden entgegentreten, da dieses in Wider-
spruch sowohl mit den herkömmlichen Begriffen, wie mit den That-
Sachen steht.
Neu mag ein Talent etwa so sein wie jedes Individuum, insofern
kein Lebewesen dieser Welt absolut identisch mit einem Anderen la
sein scheint. Unter „Neues leisten" versteht man jedoch ,,neae
geistige Gombinationen schaffen". Dieses ist aber nie nnd
nimmer die Eigenschaft der „Talente". Zwei Sachen räume ich — um
jedem Missverständniss vorzubeugen — von vorne herein M. ein, näm-
lich, dass gewisse talentirte Menschen zugleich auch mehr oder weniger
genial (wie auch Genies talentvoll) sein können, und, dass talentirte,
sogar aber auch imtalentirte Menschen durch glücklichen Zufall „Neues"
entdecken können, wie etwa Schwann die Zelle entdeckte. Daraus
jedoch eine qualitative Identität von Talent und Genie zu construiren,
ist ein logischer Fehler.
Ferner aber ist schon deshalb das Genie keine einfache Steigerung
des Talentes, weil es durchaus talentlose Genies und noch viel mehr
absolut genielose Talente giebt.
Das „Geschwätz von alles umfassenden Geistern" soll aufhören,
sagt Möbius. Gewiss ist eine solche üebertreibung ein Unsinn. —
Aber dafür giebt es viel- und weitumfassende Genies, aber
auch sehr vielseitige Talente, und umgekehrt giebt es auch
sehr einseitige Genies und sehr einseitige Talente. Durch
Betonung der Einseitigen, nach der Art wie es Möbius thut, schafft
man die Vielseitigen nicht aus der Welt.
lieber Talent und Genie. 163
Vor Allem also sind Talent und Genie an und für sich Terschiedene
Begriffe und keine Steigerungen desselben Begriffes. Ja, es besteht
sogar, wie es schon oft bemerkt worden ist, ein gewisser Gegensatz
zwischen diesen beiden Formen von Himbegabung. Das receptive
Talent arbeitet sicher und leicht, assimilirt sich rasch grosse Leistungen
Anderer und macht sie zu den eigenen. Diese mehr reproduktive
Thätigkeit nimmt das Gehirn stark in Anspruch und hemmt dadurch
nicht selten, ähnlich wie das sogenannte fliesengedächtniss , seine
plastische Combinationsfähigkeit, d. h. die Phantasie. Das Genie geht
dagegen, wie triebartig dazu hingezogen, mühsame, plastische, eigene
Wege. Ist ausserdem der geniale Mensch einseitig oder vielseitig
talentirt, so werden ihm dadurch freilich gewisse Wege leichter, während
talentlose Genies sich meistens kümmerlich und mühselig durch das
Leben schleppen. Doch das ist durchaus nicht immer der Fall und
nicht die Hauptsache. Ein genialer Musikcomponist braucht kein
talentirter Musiker zu sein, d. h. er kann Mühe haben sich die Werke
Anderer anzueignen, dieselben selbst zu spielen und kann sogar ein
schlechter Orchesterdirector sein, während es unglaubliche, bald ein-
bald vielseitige Musiktalente giebt (ich sah eine bettlägerige alte
Dame, die sich im Bett Monate lang durch sich selbst Vorerinnem an
ganze Opempartituren Unterhaltung verschaffte), die nicht das geringste
Selbst zu schaffen im Stande sind.
Man darf aber auch nicht die literarischen und andere Leistungen
als alleinigen Maassstab nehmen. Es giebt geniale Menschen ohne
Ehrgeiz, welche ihre Schätze für sich und nächste Freunde behalten.
Umgekehrt giebt es eitle oder ehrgeizige Menschen genug, die durch-
aus genial sein oder erscheinen möchten und dabei die Gedanken und
die Arbeit Anderer vorzüglich für sich zu verwenden verstehen. An
diejenigen Individuen, welche die Ideen Anderer käuflich erwerben
oder stehlen, weil sie selbst keine eigenen haben, sei hier nur pro
memoria erinnert Unter den eben erwähnten Menschen giebt es sehr
talentirte Leute; manche verstehen es ausgezeichnet, durch Wort und
Schrift zu glänzen, durch geschickte Compilation den Schein der Grösse
und der Selbstständigkeit auf sich zu werfen. Doch kann eine gründ-
liche objective Ejitik später nichts mehr bestehen lassen, das ihren
eigenen Combinationen zukommt.
Andererseits giebt es aber auch durchaus ehrliche und reelle
Talente, deren compilatorischer Fleiss und Geschick durchaus nicht zu
verachten ist. Sie sammeln und ordnen die Früchte des genialen
164 A. Forel.
SchafifeDS, trennen dnrcli sachliche Kritik die Spreue yom Korn und
helfen stabile Lehren, Dogmen, Encyclopädien, Schalen zn errichten
und zn consolidiren. und es giebt umgekehrt ethisch defecte Genies,
deren Zerstörungssucht, Eitelkeit und Ehrgeiz mehr schaden als ihre
Gedanken nätzen, oder gar solche, deren „teuflisches'^ Erfinden nur in
Zersetzungswerken besteht.
Aber daran muss man festhalten: gäbe es nur Talente, so würde
die Cultur bald dogmatisch — chinesisch — zopfig erstarren und zu-
rückgehen. Banales, bureaucratisches Wesen, Angst vor allem Neuen,
Ehrfurcht vor Kleid, Amt, Decoration, Etikette und Schein würde mit
Galoppschritt jeden Fortschritt lähmen. Kurz, die Welt würde bald
ein grosses China werden.
Dem genialen Trieb, selbst dem verfehlten, dem hinkenden, dem
scheinbar einseitigen oder firagmentarischen, combinatorischen Trieb in
allen Gebieten des Seelenlebens, im Wollen und Fühlen, wie im Denken,
diesem allein verdankt die Cultur alle ihre Fortschritte. Dieser Trieb
zur Schaffung neuer Bahnen beruht bekanntlich, und wie ich in den
erwähnten Aufsätzen wieder betont habe, auf der plastischen Fähigkeit
der Phantasie. Ohne Phantasie giebt es kein G^nie, kein Schaffen,
kein Fortschreiten.
Ich will hier nicht widerholen, was ich im genannten Au&atz (Ein
wichtiges Yerhältniss des GFenies zur Geistesstörung) bereits geschrieben
habe. — Man hat nicht ganz mit Unrecht die Genies in Genies des
WoUens, Genies des Gefühls oder der Kunst, und Genies des Intel-
lectes eingetheilt. Gewiss ragt in der Regel eine jener Modalitäten
oder Richtungen der Grosshirnthätigkeit bei jedem Genie besonders
hervor; doch ist es ein Irrthum menschlicher Beschränktheit, auch
wieder hier abgegrenzte Schubladen und dogmatisch ausgeschnittene
Abtheilungen auf der Schnitzelbank aushauen zu wollen. Kapoleon I.
war sicher in erster Linie ein Genie des WoUens. Doch kann man
ihm das Genie des Intellectes dabei nicht absprechen. Eine harmo-
nische Combination des Genies im Fühlen und Denken finden wir bei
grossen Dichtem u. s. f.
Was nun die pathologische Frage betrifft, so halte ich hier einen
langen Streit für müssig, weil er nothwendig zum Wortstreit wird,
d. h. zu einem Streit über die Begriffe „Normal^' und „Pathologisch'^
und über ihre „Grenzen'^ Da es jedoch keine Grenze zwischen normal
und pathologisch thatsächlich giebt, kann jeder Streithahn schneiden,
lieber Talent und Genie. 166
WO 68 ihm passt und daraus den Vorwurf zum Streit gegen die Führer
anderer Schnittlinien ziehen.
Alles Pathologische besteht aus mehr oder minder erheblichen
Abweichungen einer ideal gedachten, jedoch in der Natur nie absolut
Yorhandenen Norm. — Die normale Nase kann kein Mensch feststellen,
weil es keine zwei absolut gleiche Nasen auf der Welt giebt. Daraus
jedoch zu schliessen, dass alle Nasen „pathologisch" im gewöhnlichen
Sinne des Wortes sind, wäre ein ähnlicher Sophismus, wie der folgende,
den ich 1889 im Pariser physiologisch-psychologischen Congress einem
Schüler Charcot's vorwarf:
Er sagte, der Hypnotismus sei Hysterie. Darauf erwiderte ich,
dass 96 \ der Menschen durch Suggestion mittelst der Liebeault' sehen
Methode mehr oder minder beeinflussbar seien, dass aber die Hysterie
eine Elrankheit sei, und dass er doch nicht behaupten wolle, 96 % der
Menschen seien hysterisch, d. h. krank. Doch, sagte er dann, es seien
wenigstens „tares hysteriques" bei denselben yorhanden. Diese
letztere Behauptung enthält nun den vorgeworfenen Sophismus. Mit
derartigen pktten Redensarten können natürlich die barocksten Para-
doxen sophistisch vertheidigt werden und man könnte schliefslich auch
die These vertheidigen, dass die Hysterie normal sei! —
Gewisse Bacterien sind unserem Leben mehr oder minder ange-
passt, andere nicht. Letztere (aber auch erstere unter gewissen ausser-
ordentlichen Umständen) können unseren lebenden Körper angreifen
und acut oder auch chronisch mehr oder minder, oft bis zum tödtlichen
Ausgang alteriren. Dieses ist unzweifelhaft pathologisch, denn hier
kommt von aussen eine „materia peccans'', die den physiologischen
Gang des Lebens stört. Doch kann eine normaliter angepasste Bacterie
(des Darmkanals z. B.) momentan ihre Wirkungen in leichter Weise
übertreiben oder umgekehrt zu schwach bethätigen, ohne eine aus-
gesprochene Krankheit hervorzurufen. Also sogar auch hier giebt es
üebergänge des Normalen zum Pathologischen.
Lombroso hat natürlich, mit seiner phantasiereichen Art, das,
was Höbius zugiebt, nämlich die Gleichgewichtsstörung bei einseitigen
Grenies und das Pathologische derselben zu stark angestrichen.
Bleiben wir bei den objectiven Thatsachen, so beobachten wir
allerdings, dass viele Genies einen entschiedenen pathologischen Zug
haben, der sie bis zur Geistesstörung führen kann. Hüten wir uns aber
vor Yerallgemeinerungen irgend welcher Art in so verwickelten Pro-
blemen mit ihren unzähligen und unberechenbaren Componenten.
166 A. Forel.
Sicher ist es, dass keine grobe, palpable pathogene Factoren des
Hirnlebens den Genius produciren, weder die Gefassentartungen des
Gehirnes, noch die epileptischen Schwarten der äussersten HirnnDde,
noch die luetischen Schrumpfungen der allg. Paralyse, will man nicht
etwa die Producte des paralytischen Grössenwahns, in ihrer dissodatiT-
phantastischen Form für „geniaP^ erklären. Den Letzteren kann man
nämlich zuweilen eine gewisse Originalität nicht absprechen, und sicher
sind manche Paralytiker, im floriden Stadium ihrer £[rankheit, die
„productivsten" unter den gewöhnlichen Bewohnern einer Irren-
anstalt. Dagegen kommen partielle Talente und sogar Genies trotz
schwerer Geistesstörungen und neben denselben zum Vorschein.^)
Ernst in Betracht konmit beim Genie nur die Anfangs erwähnte
constitutionelle erbliche Psychopathie, d. h. die Anlage zu Gleich-
gewichtsstörungen, zu geistigen Abnormitäten. Solche Anlagen eines
Gehirnes sind in der That ein zweischneidiges Schwert. Meistens führen
sie zum Buin, zu Excessen, zur Geistesstörung, zur progressiven geistigen
Entartung. Zuweilen aber enthalten sie eine gewaltige einseitige oder
mehrseitige Entwickelung des Phantasievermögens, die zur genialen
Entfaltung unter umständen gelangen kann. ^ Es kommt ganz darauf
^) Partielle Talente können sogar mit Schwachsinn einhergehen. WestphftI
demonstrirte stets einen Idioten mit Kiesengedächtniss. Neulich hatte ich einen
jungen Schwachsinnigen zu begutachten, der ein grosses Sprachtalent besitzt. Er
spricht und schreibt sehr correct und fliessend deutsch, holländisch, englisch und
französisch. Als ich ihm jedoch in letzterer Sprache etwas dictirte, schrieb er,
ohne zu fragen, weiter, auch dann, als ihm der Sinn des Dictirten entging. ^Vss
er yerstanden hatte, war tadellos; dagegen hatte er für das Nichtverstandene (es
waren übrigens nur wenige Wörter und Sätze) sinnlose Silben geschrieben, ohne
daran zu denken, mich darüber zu befragen. Ein gewisses, wenn auch sehr be-
schränktes Musiktalent besitzt er auch.
Weniger ist selbst ein sehr partielles Genie mit Geistesschwäche vereinbar.
Dennoch habe ich einen äusserst unbeholfenen, geistig allgemein äusserst schwach
begabten und allmählich an originärer Paranoia zu Grunde gegangenen jungen
Mann gekannt, der daneben eine entschieden geniale Begabung für Maschinen-
constructionen und bezügliche Erfindungen hatte. Er hatte eine bleibende und
damals in Zürich allgemein adoptirte Erfindung in der Construction der Web-
stühle gemacht.
*) Möbius schreibt, dass wenn das Talent im Sinne Lombroso's (lies das
Genie) pathologisch wäre, es ein Glied der endogenen Syndromgruppe sein würde,
und bei den Nachkommen von Geisteskranken vorkommen und mit Geisteskrank-
heiten abwechseln würde. Er fügt hinzu: „So ist es offenbar nicht." — Nicht
ganz, allerdings, aber doch sehr oft, wie Möbius es auch selbst in anderen
Schriften (über Schopenhauer etc.) betont hat. Wir sehen in Psychopathen-
Ueber Talent und Genie. 167
an, wie stark die Defecte sind, und ob das Minus und das Patho«
logische, oder das Plus und das Physiologische im Allgemeinen oder
in gewissen Sichtungen überwiegen. Selbst aber bei relativ normalen
Oenies, die zur yollen Entfaltung gelangen, giebt es noch andere Quellen
des Pathologischen, die in der genialen Bethätigung selbst liegen. Das
geniale Schaffen ermüdet und überarbeitet im Ganzen das Gehirn viel
mehr als die receptiv-reproductive Thätigkeit. Schlimmer aber für die
Himgesandheit des Genies sind die Opposition, die Feindschaften, die
Stürme, die Wechselfalle und Misserfolge, die seine „neuen Bahnen^
80 häufig hervorrufen. Ein Blick auf die Geschichte der Genies ge-
nügt, um die gewaltigen Gemüthserschütterungen kennen zu lernen,
die die meisten derselben durchzumachen hatten. Man muss sich oft
nur wundem, dass viele dennoch diese Stürme siegreich überwunden
haben. Ja, es ist sogar zweifellos, dass, wie die Muskelkraft durch
Uebung und Anstrengungen wächst, so auch die Himkraft durch Ueber-
windung vieler geistigen Arbeit und Gemüthserschütterungen sich stählt
und sowohl leistungs- als eidstenzfähiger wird. Immerhin ist auch
dieses Schwert ein zweischneidiges: die einen stärken sich da, wo die
anderen Schiffbruch erleiden. — Es kommt auf alle möglichen anderen
Factoren, auf sonstige Gesundheit, auf Grad und Art der psycho-
pathischen und der genialen Anlage, auf Erfolg und Misserfolg etc. an.
Oft ist es nur eine schwache Seite — bald die sexuelle Sphäre, bald
der Alcohol, bald irgend ein specielles Nervenleiden, — welche den
geistigen Schiffbruch eines Genies hervorruft. Factoren, sowohl günstige
wie ungünstige, können sich oft summiren oder subtrahiren, resp. gegen-
seitig neutralisiren, und davon hängt vielfach der Schlusserfolg ab.
Es würde den Bahmen dieses kurzen Aufsatzes übersteigen, wollte
ich an der Hand von berühmten Beispielen, wie Napoleon I., die Jung-
familien Genie, Talent und Geistesstörung, sogar Idiotismus vielfach abwechseln.
Aber man muss unterscheiden. Es giebt viele erblich degenerirte Familien von
Geisteskranken, wo niemals besonders hervorragende Leute vorkommen. Es giebt
aber solche, wo Genie — Psychosen — Psychopathie und Talent abwechseln. Es
giebt aber auch relativ normale Familien, die viele hervorragende Menschen er-
zeugen. Hier liegt Alles in der richtigen Zuchtwahl bedeutender Menschen, bei
Vermeidung erblich degenerirender Factoren, wie Alcohol, Lues etc. Letztere Frage
habe ich an einem anderen Orte besprochen. Ich will hier nur Möbius gegen-
über betonen, dass es eine eigene Form erblicher Familienpsychopathie giebt, die
sich sehr auffallend mit der Erzeugung genialer, hervorragender Menschen
combinirt. — Ich verweise übrigens auf meine Aufsätze in Bd. X, Heft 1 dieser
Zeitschrift.
168 A. ForeL
frau von Orleans, Boosseau, Pascal, Newton, E^ant, BeethoTen, Mozart,
Schumann, G-öthe, Outenberg, Golumbus, Shakespeare, Darwin, Michel
Angelo, G-alilei, Giordano Bruno, Bobert Mayer, Buddha u. s. f., die
Bichtigkeit des Gesagten erhärten. Das kann jeder selbst thun, und,
will man objectiv sein, so wird man bald sehen, wie verschiedenartig
jene Menschen sind, die Einen vielseitig, relativ harmonisch, mit wenig
Minus und wenigen oder keinen „pathologischen^ Zügen, die Anderen
mehr einseitig, mit grossen Defecten oder pathologischen Eigenschaften,
alle auch sehr verschieden talentirt.
Aber zwei Punkte müssen noch betont werden : Die Fama ist ein
flatterhafter Schmetterling, unter den „berühmten^ Genies ist zweifel-
los sehr viel Flittergold als Zuthat oder Nimbus hinzugekommen, das
sehr schwer aus dem Wahren auszuscheiden ist Selbst ernste nnd
scheinbar objective Kritiker widersprechen einander vielfach und stehen
stark unter dem suggestiven Einfluss ihrer Neigungen, politischen,
religiösen oder philosophischen Anschauungen etc. Der gleiche Mensch
gilt bei Diesem als Genie, als Halbgott, bei Jenem als Mittelmässigkeit
oder gar als Stümper. Freilich giebt es eine ebenso ungerechte, der
Vergötterung des Genies entgegengesetzte Beaction, welche dahin zielt,
alle genialen Menschen und ihre Leistungen herabzuwürdigen und in
den Koth zu ziehen« Es ist daher oft recht schwer, besonders für
ältere, geschichtlich wenig objectiv beglaubigte Menschenleben, das
Wahre vom Falschen zu trennen und die Persönlichkeit in ihrer wahren
Gestalt zu erkennen, so dass ihre Schriften und Thaten soweit echt und
nicht nur aus Anderen zehrend, noch das beste Beurtheilungsmaterial
liefern, und man muss noch im Stande sein, sich in die Zeit, wo das
betreffende Genie lebte, zu versetzen, um es gerecht zu beurtheilen.
Wer z. B. Johanna Darc, auf Grund ihrer Hallucinationen, ohne
Weiteres für paranoiakrank erklärt, irrt sich, weil er nicht im Stande
ist, sich in die Zeit des allgemeinen Hexenglaubens mit den ent-
sprechenden Massensuggestionen zu versetzen.
Andererseits sprachen wir schon von versteckt lebenden Genies,
die für sich ohne Ehrgeiz leben, und daher nie aufkommen. Dieser
Punkt muss unbedingt hervorgehoben werden« Ein bekannter Spruch
sagt: ,.Der Mensch wächst mit der Situation". — Ja eben da sehen
wir, wenn Noth und Sturm die ruhenden Hirnkräfke aufrütteln, plötzlich
wahre Männer und auch Frauen, ja grosse Menschen aus einem Volk
entstehen, die bei ruhigen, beschaulichen Zeiten nicht entstanden wären,
d. h. aus ihrem obscuren, stillen Leben niemals herausgetreten wären.
Ueber Talent und Genie. I6d
Dieses gilt besonders für Genies des Willens und der Ethik. Napoleon I.
ohne die vorhergegangene Bevolution und deren Decadenz, Johanna
Darc ohne die Erniedrigung Frankreichs, Luther ohne Tetzel und
Consorten wären kaum denkbar, d. h. sie hätten ihren Genius nicht
entfaltet.
Das Gleiche gilt von gewissen äusseren Mitteln und Umständen.
Ohne Compass hätte Columbus Amerika nicht entdeckt und wäre ein
obscurer Schwärmer geblieben. Ohne seine üebersiedelung nach Bra-
silien hätte Fritz Müller seine schönen Forschungen kaum zu Stande
gebracht u. s. t
Und so müssen wir annehmen, dass es viele Reservegenies giebt,
die leider aus den erwähnten Gründen ihre Frucht nicht tragen. Daran
sind yielfiach, besonders in ruhigen Zeiten, die unzähligen Talente
schuld, welche das Neue und Hervorragende fürchten, imd von der
landläufigen Politik, von den Leitern der Staaten und Administrationen
(Hochschulen nicht ausgenommen, wohl verstanden!) dem Genius weit-
aas vorgezogen werden, weil sie die „vorgeschriebenen Bahnen der
Staatsordnung^^ (lese Schlendrian, Dogmatik, Routine und Yorurtheil)
nicht „unzeitgemäss stören.^' —
Ich habe die Punkte betont, bei welchen ich von Möbius ab-
weiche. Die Uebereinstimmungen werden die Leser der Zeitschrift
selbst finden.
Zeitsclirift für Hypnotismas etc. X. ^^
lieber die Errichtung neurologisclier Centralstationen.
Von
Oskar Togt.
Seit Jahren verfolge ich den Plan der Errichtung einer neuro-
logischen Centralstation. Es scheint mir jetzt der Moment gekommen
zu sein mit meinen diesbezüglichen Ideen an die Oe£Fentlichkeit ra
treten und weitere Kreise für dieselben zu interessiren. Ich yeröffent-
liehe deshalb zunächst ziemlich wörtlich eine Niederschrift, die ich
schon Yor längerer Zeit bezüglich dieses Planes verfasst habe.
Eine solche neurologische Centralstation — wie ich sie plane —
soll vorläufig vor Allem zwei Abtheilungen haben, eine hirn ana-
tomische und eine psychologische. Wenn ich nicht gleichzeitig
eine neurophysiologische Abtheilung fordere, so geschieht es, weU einer-
seits für die Neurophysiologie die Centralisirung der Arbeit weniger
nothwendig ist als für die Himanatomie und andererseits dieses Gfebiet
wenigstens mehr gepflegt wird als die medicinisch wichtigen Fragen
der Psychologie.
I.
Die Notliwendigkelt hirnaiiatomisclier Centralstattoneo.
Die Gründung specieller himanatomischer Centralstationen erscheint
mir nothwendig, weil:
A. die Himanatomie zu einem grossen Theil den Neurologen
(Nerven- und Irrenärzten) überlassen werden muss, denn
a. die Vertreter der normalen Anatomie befassen sich nicht
genügend mit allen Fragen der Himanatomie. Jeder wahre Forscher
wird sich nicht damit begnügen, einfach anatomische Details anzu-
lieber die Erriehtang neurologueher GentralatAtionen. 171
sammeln, sondern allgemeinere Gesichtspunkte werden ihn leiten und
werden das Ziel seiner Arbeit sein. Die anatomische Forschung hat
nun (wir sehen dabei von ihrem practischen Nutzen fttr die Chirurgie
ab) zweien Gruppen allgemeinerer Fragen zu dienen. Einmal sind es
rein morphologische Probleme: die £rkenntniss der allgemeinen
Gesetzei nach denen sich die Organismen und ihre Organe entwickeln.
Der Lösung solcher Fragen , welche die eigentlichen Probleme der
echten Anatomen darstellen, wird die EUmanatomie, weil sie noch über
riel zu wenig feststehende Thatsachen verfügt, noch auf lange Zeit
nicht dienen können. Die andere Aufgabe der Anatomie ist, den Bau
eines Organes zu erforschen, um die Grundlage fttr das Verständniss
seiner Function zu schaffen. Die Anatomie hat der Physiologie
zu dienen. Nun können wir aber als eine heute über allem Zweifel
erhabene Thatsache diejenige hinstellen, dass mit den Lebensäusserungen
des Gehirnes die seelischen Erscheinungen eine enge Verknüpfung
zeigen. Damit gewinnt dann aber die Himanatomie nicht nur für die
Hirnphysiologie, sondern auch gleichzeitig für die Psychologie
eme grosse Bedeutung. Da nun, wie wir schon sahen, nicht daran
gedacht werden kann, in absehbarer Zeit den Bau des Gehirnes flir
allgeneine anatomische Fragen zu verwenden, so ist es verständlich,
dass das Studium des Himbaues vorzugsweise nur von solchen Forschern
in Angriff genommen wird, die von ihm Nutzen für Physiologie und
Psychologie erhoffen. Damit hängt es denn auch eng zusammen, dass
wir eine Tendenz, die für diese Disciplinen in Betracht kommenden
Fragen der Gehimanatomie systematisch durchzuarbeiten, bei den
fierufsanatomen nicht vorfinden.
b. die pathologischen Anatomen zeigen kein Bestreben,
die Himanatomie zu fördern. Der Bau des Gehirnes ist so complicirt,
dass wir mit dem Zerschneiden normaler Gehirne durchaus nicht eine
Erkenntniss mancher Seiten des Gehimbaues erreichen. Im Gegentheil,
die wahre Fundgrube auch für die Anatomie des normalen Gehirnes
sind krankhaft veränderte Gehirne, bei denen diese krankhaften
Veränderungen gewisse Bückschlüsse auf den normalen Bau des Ge-
hirnes gestatten. Für solche normal - anatomische Schlussfolgerungen
aus patiiologischen Gehirnen haben hinwiederum die pathologischen
Anatomen von Fach gar kein Interesse, weil sie allgemeine patho-
logisch-anatomische Fragen verfolgen, wie die Normalanatomen
allgemein normalanatomische. Dazu kommt weiter, dass zur Aufklärung
mancher himanatomischer Fragen die pathologisch-anatomischen Fest-
172 Oskar Vogt.
stelluDgen zu klinischen Beobachtungen in Beziehung gebracht werden
müssen. Auch dazu ist nur der Neurologe befähigt, der den Kranken
im Leben beobachtet hat oder den Beobachtungen von Collegen ein
genügendes Verständniss entgegenbringt.
c. die für den Mediciner wichtige himanatomische Forschung tarn
vom Standpunkt der normalen und pathologischen Hirn-
physiologie und Psychologie in Angriff genommen werden.
Die Himanatomie in ihrem weitesten Umfang ist ein derartiges Gebiet,
dass es unmöglich in seiner ganzen Ausdehnung gleichmässig auf ein-
mal bearbeitet werden kann. So ist es dann aber für uns Neurologen
wichtig, dass speciell jene Fragen in Angriff genommen werden, die
für uns eine besondere Bedeutung dadurch gewinnen können, dass sie
unser Verständniss für das Zustandekommen gewisser normaler oder
krankhafter seelischer Erscheinungen fördern. Hier zeigt sich denn
wieder von Neuem, dass nur der Neurologe, der gleichzeitig in der
Psychologie zu Hause ist, für die medicinisch wichtige himanatomische
Forschung wirklich befähigt ist. Denn, wo der Fachanatom sich der
Himanatomie zuwendet, zeigt er durchaus nicht die Fähigkeit, in der
genannten Richtung wichtige Fragen von unwichtigen zu unterscheiden
und verliert sich dementsprechend sehr oft in Studien von sehr neben-
sächlicher Bedeutung gerade für unsere Probleme. Dazu kommt, dass
zu den äusserst mühevollen himanatomischen Untersuchungen nur der-
jenige immer wieder sich hinreichend angespornt fühlen wird, der aus
der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Geist und Körper seine
Anregungen dazu schöpft.
B« eine e x a c t e Durchforschung des Gehirns zur Voraussetzung hat
a. eine vollständige Ausnutzung des seltenen Materiales. So wie
die Sachen heute liegen, arbeitet der eine Forscher hier, der andere
dort an einzeben Gehirnen, die er hat sammeln können. Dabei Ter-
folgt der einzelne Forscher nur gewisse Fragen. Es könnten aber die
einmal mühevoll verarbeiteten und oft in ihrer Art seltenen Gehirne
gleichzeitig für andere Fragen dienen. Es wird also heute das Material
nie vollständig ausg^utzt.
b. eine Anwendung aller technischen Methoden. Die himana-
tomischen Thatsachen sind so schwer festzustellen, dass eine Anwendung
aller Methoden für die wirklich exacte Erkenntnis des Gehirnes absolut
nothwendig ist. Mit allen Methoden zu arbeiten, übersteigt die
Leistungsfähigkeit des Einzelnen. So bleibt denn auch die Arbeit des
einzelnen Forschers Stückwerk.
lieber die Errichtung neurolog^itcher CentralsUtionen. 173
c eine systematisch durchgeführte Arbeitstheiluog. Die Schwierig-
keit der himanatomischen Forschung macht es durchaus nothwendig,
das8 dieselbe eine systematische wird. Es müssen allgemeine Gesichts-
pankte aufgestellt werden und ihre Verarbeitung dann eine verständige
Arbeitstheilung erfahren. Das wäre aber nur in einer Centralstation
möglich.
G. nur sie mit Erfolg himanatomische Kenntnisse Terbreiten
und zum Erwerb solcher anregen kann. Einzig und allein eine
Centralstation wäre mit dem in ihr angesammelten Material im Stande,
eine solche Lehrsammlung zusammenzustellen, die einem Schüler
einen wirklichen Eiinblick in den Bau des Gehirnes ermöglicht. Der-
artige geeignete hirnanatomische Lehranstalten fehlen noch vollständig.
Die himanatomische Belehrung besteht heute, soweit irgendwie feinere
Details in Betracht kommen, auf den meisten Hochschulen in wesentlich
theoretischen Vorträgen. Die einzige Möglichkeit aber, eine klare
Yorstellung vom Bau des Gehirnes zu gewinnen, ist ein vier- bis sechs-
wöchenÜiches Studium einer derartigen Lehrsammlung. Den Nutzen
eines derartigen himanatomischen Unterrichts habe ich in Paris bei
solchen jüngeren CoUegen feststellen können, denen D6j6rine seine
Priyatsammlung zur Verfügung stellte. Dazu kommt, dass nur eine
solche Centralstation im Stande wäre, grundlegende Arbeiten mit einer
hinreichenden Anzahl von Abbildungen zu veröffentlichen, die dem-
jenigen Neurologen, der eigene Untersuchungen vornehmen will, die
heute enorm schwierige Einarbeitung in das Gebiet wesentlicb er-
leichtem würden.
Gleichzeitig würde aber die Existenz einer solchen Centrabtation
von grossem anregenden Einfluss für viele Neurologen werden. Ich
habe mit einzelnen Anstalten einen Vertrag dahin abgeschlossen, dass
sie mir Gehirne sanmieln, und dass ich dann eine Auswahlsammlung
von den mikroskopischen Präparaten ihnen zurückgebe. Auf diese
Weise können jene Anstalten nicht nur allmählich selbst eine Lehr-
sammlung gewinnen, die geeignet ist, den neueingetretenen Assistenz-
ärzten zur Unterweisung zu dienen, sondern gleichzeitig ist durch die
theilweise Rückgabe der Präparate den behandelnden Aerzten die
Möglichkeit gegeben, einen Einblick in die anatomischen Veränderungen
des Nervensystems der von ihnen beobachteten Kranken zu gewinnen.
Die betreffenden Aerzte werden auf diese Weise, was bei der entlegenen
Lage mancher dieser Anstalten äusserst wünschenswerth ist, neue
wissenschaftliche Anregungen empfangen. Sie werden weiterhin, weil
174 Oskar Vogt.
ihnen die Möglichkeit einer späteren anatomischen Beleuchtung des
F&lles und damit auch G-elegenheit zu seiner wissenschaftlichen Ver-
arbeitung gegeben ist, ein genaueres klinisches Studium TomehmeDj
was dann hinwiederum ebenso vortheilhaft fttr den Arzt, wie für den
Kranken sein wird.
n.
Die Nothwendigkeit mediclniscli-psychologischer Centralstationen.
Medicinisch-psychologische Centralstationen sind nothwendig, weil
A. Neurologen die Erforschung einer Reihe normalpsycho-
logischer Probleme in die Hand nehmen müssen, denn
a. die heutigen officiellen Vertreter der Psychologie,
soweit sie überhaupt Experimentalpsychologen sind, stehen den medi-
cinisch wichtigen Fragen mehr oder weniger fem. Die Professoren
der Psychologie sind Professoren der Philosophie. Ein Theil dieser
Professoren betreibt die Psychologie vom rein speculativen Stand-
punkte. Eine solche Psychologie nützt dem Arzte überhaupt nichts.
Wo es nun aber wirklich Psychologen giebt, die empirische expe-
rimentelle Psychologie betreiben, da beschäftigen sich diese beinahe
ausschliesslich mit solchen Fragen, die hinwiederum uns Mediciner
wenig fordern. Es ist vor Allem das Gebiet der Sinnespsychologie,
das, weil es sich einer experimentellen Bearbeitung gegenüber am
wenigsten spröde verhält, vornehmlich von diesen gepflegt wird. Es
sind aber nicht die Details der Sinnespsychologie, die in erster Linie
für uns wichtig sind, sondern es sind andere Fragen, die vor AUem
unsere Aufmerksamkeit verdienen, z. B. die Erscheinungen des Gefthls-
lebens, die Psychologie der Willenshandlung, die Phänomene der Er-
schöpfung, des Schl^es und des Traumes, die Bildung der Sprache,
Messungen des Intellectes und des Gedächtnisses, die Feststellung der
individuellen Eigenthümlichkeiten u. s. f. Wollten wir Mediciner aber
warten, bis die Fachpsychologen erst alle einfacheren Fragen gelöst
hätten, dann würden wir uns so benehmen, als es die Physiologen thnn
würden, wenn sie heute erklärten, wir wollen keine Physiologie mehr
betreiben, bevor die Physik und die Chemie noch nicht alle ihre Fragen
gelöst haben.
b. den Neurologen ist das Studium einer Jäeihe von Bewusstseins-
zuständen abnormer und pathologischer Art zugänglich, die
ihrerseits viel Licht auf jene schwierigeren, aber für uns so wichtigen
Probleme der Psychologie werfen, deren Eenntniss aber den Fach-
Ueber die Erriditung neurologiBcher CentraUtationen. 176
Psychologen abgeht. So sind die Neurologen für die Untersuchung
dieser Fragen geeigneter.
£. an die normalpsychologischen Feststellungen sich dann direct
psychologische Fragen ärztlicher Natur anschliessen müssen.
Zunächst kommt hier die Lehre von den krankhaften Yerände-
rnngen des Seelenlebens in Betracht. Wenn auch das Studium
der ausgesprochenen Geisteskranken erschwert ist, falls nicht das In-
stitut in äussere enge Beziehung zu einer Irrenanstalt tritt, so sind
andererseits doch auch die hier vorzugsweise in Betracht kommenden
leichteren Formen psychischer Abnormität einer experimentellen Unter-
suchung zugänglicher als die eigentlichen Geisteskranken. Diese leich-
teren Formen werden ihrerseits aber schon manches licht auf die
schwereren Störungen werfen und die Ausbildung der Methoden für
die Untersuchung der letzteren anbahnen. Diese leichten psychischen
Störungen müssen in ebenso systematischer Weise durchgearbeitet
werden wie die normalen Erscheinungen.
Nur von einer solchen Vertiefung des Studiums sind in späterer
Zeit nützliche Folgerungen für die Heilung und vor Allem für die
Verhütung der psychischen Erkrankungen zu erwarten.
Dann ist seit einiger Zeit erkannt worden, dass auch die Krank-
heiten, welche nicht zu den eigentlichen psychischen
Erkrankungen gehören, doch von psychischen Momenten
stark abhängig sind. Das gilt nicht nur von allen Erkrankungen
des Nervensystems, sondern von allen chronischen Krankheiten. Vieles,
was man bisher als körperlich bedingt aufgefasst hat, ist heute als
abhängig von der psychischen Niedergeschlagenheit, vom Mangel an
Selbstvertrauen, von ängstlichen Befürchtungen, Herabsetzung der
Willensenergie und anderen psychischen Momenten erkannt worden.
Parallel dieser Erkenntniss hat sich dann eine Psychotherapie
ausgebildet, d. h. das Bestreben, Erscheinungen, die einer psychischen
Beeinflussung zugänglich sind, durch eine solche zu bessern. Man hat
erkannt, dass der Umfang dieser Zugänglichkeit für psychische Beein-
flussung ein viel grösserer ist als man bisher ahnte. Dabei muss dem
weit verbreiteten Irrthum entgegengetreten werden, dass die Psycho-
therapie mit dem Hypnotismus identisch sei. Die Psychotherapie um-
fasst viele Methoden, z. B. die Beschäftigungstherapie, die Isolirung
aus dem krank machenden Milieu, die Anspomung des Willens, die
Erreg^ng starker Gefühle, die Erweckung von Selbstvertrauen und
Vertrauen zum Arzte u. s. w. Nur eine dieser vielen Methoden ist
176 Oskar Vogt,
die hypnotische. Dank dieser ganzen Erkenntniss gelten heute eine
ganze Reihe von Heilmitteln^ an deren physikalische oder chemische
Heilwirkung man früher glaubte, als an sich indifferent und nur als
psychisch wirksam, wie wir auch zu einem Yerständniss gelangen für
die nicht zu leugnenden Elrfolge der sog. Kurpfuscher, Sympathiecuren
und Geheimmittel.
Schliesslich knüpft sich an eine solche Erkenntniss die Lehre von
der Verhütung schädlich wirkender psychischer Einflüsse: das Gebiet
der Psychohygiene erhält einen grösseren Umfang.
Dabei entbehren alle diese Gebiete noch einer systematischen Be-
arbeitung. Hier entsteht also dem Forscher ein ungeheures Gebiet zu
bearbeitender Fragen. Natürlich kann der Normalpsychologe allen
diesen Fragen nicht näher treten. Er muss ihre Bearbeitung dem
Neurologen überlassen.
0. nur eine solche Gentralstation verhältnissmässig schnell
die medicinisch wichtigen Fragen der Psychologie fördern
wird. Zur Bearbeitung der unter B. erwähnten Arbeitsgebiete bedarf
es vielfach noch die Methoden zu finden. Dazu konmit, dass ein erst
seit Kurzem erschlossenes Forschungsgebiet nur dann in verhältniss-
massig kurzer Zeit in fruchtbringender Weise bearbeitet werden wird,
wenn die Inangriffnahme eine systematische sein wird. Das ist aber
eben nur in einer Gentralstation möglich und darf nicht wie bisher der
Initiative eines Privatmannes überlassen werden.
D. nur ein solches Institut die äusserst wichtige psycho-
logische Belehrung des Arztes ermöglichen wird. Wir haben
erwähnt, dass es Philosophen sind, welche heute Psychologie auf den
meisten Hochschulen lehren. Dieselben behandeln aber — wie das
ihrem eigenen oben characterisirten Forschen entspricht — nicht nur im
Allgemeinen Fragen, die dem Mediciner wenig nützen, sondern das
auch noch in einer den Philosophen eigenen, für Mediciner schwer yer-
ständlichen Ausdrucksweise. So kommt es, dass der Arzt die Hoch-
schule verlässt ohne die geringste Kenntniss von der Psychologie.
Selbst wenn wir da von dem speciellen Nerven- und Irrenarzt absehen
— ich will auf deren vollständig einseitige Vorbildung nur hingewiesen
haben — , so tritt auch der andere Arzt mit einer schweren Wissens-
lücke in die Praxis ; denn dieser hat ebenfalls sehr vielfach die Pflicht,
seelisch auf seine Kranken einzuwirken und er wird dieses nie in
methodischer Weise lernen, wenn ihm normalpsychologische Kenntnisse
abgehen. Schwerwiegender aber ist noch, dass er überhaupt nicht
Ueber die £rrichiang neurologischer Gentralitationen. 177
darauf aufmerksam gemacht worden ist, dass ein grosser Theil seiner
Heilerfolge auf die psychische Beeinflussung zurückzuführen sind, dass
psychische Momente auch bei seinen Kranken eine Bolle spielen und
auch für die Prophylaxe in Betracht kommen. Diese Thatsachen sind
beute schon soweit wissenschaftlich fundirt, dass sie gelehrt werden
können. Aber es geschieht das bisher noch nicht und es wird das
solange nicht geschehen, bis es eben ein Institut geben wird, in dem
die ganzen angedeuteten Fragen systematisch Yerarbeitet und methodisch
gelehrt werden. Das wird auch dann die beste Waffe gegen das ganze
Corpfuscherthum sein. Letzteres wirkt auf die Seele der Kranken.
An dem Taga aber, wo der Arzt dieses methodisch zu thun gelernt
haben wird, wird er jedem bewussten und unbewussten Schwindler
überlegen sein,
III.
Die Nothwendigkeit der Tereinlgmig beider Institute in ein
Institut.
Die Vereinigung der hirnanatomischen und psychologischen Ab-
theilung in ein Institut erscheint mir deswegen nothwendig, weil For-
schem Oelegenheit gegeben werden muss, sich auf beiden Gebieten zu
Orientiren. Nur so wird man allmählich eine richtige Werthschätzung
einerseits der himanatomischen und andererseits der psychologischen
Thatsachen anbahnen und die heutige einseitige Bevorzugung bald der
einen, bald der anderen Wissenschaft bekämpfen können. Es wird die
ungeheure Schwierigkeit der Beantwortung der ja für alle allgemeinen
Probleme wichtigen Frage nach dem Zusammenhang des Seelischen
und Körperlichen erst dem klar werden und den vor leichtsinnigen
Verallgemeinerungen schützen, der auf beiden Gebieten zu Hause ist.
Referate und Besprechungen.
0. Bin8wanger, Die psychologische Denkrichtung in der Heil-
kunde. Rede, gehalten bei der academischen Preisvertheilung. Jena, Neaenhalu.
1900. 31 S.
Verf. hat in seiner Rectoratsrede nicht das Object einer seiner spedellen
Studien behandeln, sondern seiner Werthschätzung der psychologischen Denk-
richtung in der Heilkunde Ausdruck geben wollen. Dass der Yerf . zu den MännerD
gehört, die schon lange für eine solche Werthschätzung eingetreten sind, ist den
Lesern dieser Zeitschrift bekannt. Aber das, was uns erfreuen muss, ist der Um-
stand, dass Yerf. einen so feierlichen Moment gewählt hat, um dieses Thems zu
behandeln. Die folgenden Zeilen resumiren die Anschauungen des Yerf.
Mit der fast an das Wunderbare grenzenden Vollendung der ärztlichen
Technik, wie sie für das yerflossene Jahrhundert characteristisch ist, hat die
Entwickelung der ärztüchen Kunst nicht gleichen Schritt gehalten. Der Fort-
schritt im naturwissenschaftlich begründeten Einzelwissen, in der teehniBcheo
Schulung und in der yerfeinerten Krankenuntersuchung ist nicht ohne eine tiefer
greifende Schädigung des ärztlichen Allgemeinwissens erfolgt. Er hat dazu ge-
führt, die ärztliche Aufgabe in der Erkennung und Behandlung einzelner Organ-
erkrankungen zu sehen und zu vergessen, dass wir nicht irgend eine bestimmte
Krankheit, sondern einen kranken Menschen zu behandeln haben. Viel bedeutender
als diese üble Folgewirkung, gegen die sich schon eine gesunde Reaction erhebt^
ist aber die Verkennung der Thatsache, dass in der grossen Gruppe der Infections-
krankheiten die Wirksamkeit der Krankheitserreger im Wesentlichen von der
Individualität des von dem Krankheitserreger betroffenen Gesammtorganismia
abhängt. Hieran schliesst sich eine weitere schwere Schädigung der Medicin an,
die nicht nur einen Verlust an ärztlichem Wissen und ärztlicher Kunst auf dem
engen Gebiete der Nervenkrankheiten bedeutet, son&ern auch das ärztliche
Wissen und Können im Allgemeinen beeinträchtigt. Es ist der
Mangel an Fähigkeit, den individuellen Typus der erkrankten Persönlichkeit er-
kennen zu können, Interesse zu finden an demjenigen Krankheitsmerkmalen, die
mit den exacten physicalischen und chemischen üntersuchungsmethoden nicht er-
kannt werden können, sondern die nur von der individuellen nervösen Reaction
des erkrankten Individuums abhängig sind. Es sind die Krankheitsäusserungen
Bef erste und Besprechungen. I79
lubjectiycr, paychischer Natur, welche für die künftige Gestaltung unserer patho-
genetischen Auffassungen und unserer Heilbestrebungen von maassgebendem Ein-
floss sind. Dabei sind diese psychischen Krankheitsäusserungen hauptsächlich auf
Geffihlsreactionen zurückzuführen.
Verf. geht dann zunächst auf die Gefühlspsychologie Wundt's und des Ref.
Irors ein, um dann einige Krankheitsbilder zu analysiren, deren Genese auf solche
Gefählsreactionen zurückzuführen ist. 0. Vogt.
A. Ford, Quelques mots sur la nature et les indications de la
th4rapeutique suggestive. Revue m6dicale de la Suisse romande. XII. 1888.
Das Wesentliche der Suggestion besteht darin, dass ihre Realisation un-
bewuBst (oder richtiger unterbewusst) verläuft, sodass sie den Suggerirten in
Erstaunen versetzt. Die Realisation selbst beruht auf einem dissociativen Frocess,
welcher der suggerirenden Vorstellung die ausserordentliche Gomplexität (pro-
fondeur), Intensität und Dauer verleiht. Ein solcher dissociativer Frocess kann
sieh auf eine Vorstellung bei übrigem vollständigen Wachsein beschränken.
Die Thatsache, dass Geisteskranke nicht suggestibel sind, ist darauf zurück-
zufahren, dass ihre psychische Energie anderweitig in Anspruch genommen ist.
Die Hysterischen leiden an einer krankhaften Autosuggestibilität. Die Be-
handlung muss vor Allem eine suggestive sein, aber verlangt grosse ärztliche Ge-
schicklichkeit und Vorsicht.
Die Vernachlässigung der Fsyche in der Medicin hat zu einer sehr gefähr-
lichen Localbehandlung mancher fälschlich an diese Stellen localisirten Krankheiten
geführt.
Die Suggestion kann
1. direct heilend wirken,
2. indirect heilend wirken und
3. differentialdiagnostisch wichtig werden. 0. Vogt.
Qvrand, Revue de m^dicine legale. — Annales mädico-psychologique.
XVIL Jahrgang, IX. Bd., B. 247. — Les delires transitoires au point de
vue medico-legaL
Verf. erörtert an 2 Beispielen die forensische Bedeutung transitorischer
Delirien. Im einen Fall schützte ein des Mordversuchs Angeklagter eine vorüber-
gehende Geistesstörung vor, wurde aber verurtheilt. Der zweite Fall betrifEt eine
Hysterica und endete mit Freisprechung.
Die 28jährige Frau D., aus einer hysterischen Familie stammend, selbst an
hysterischen Attaquen leidend, ist angeklagt, ein 5 jähriges Mädchen durch
Schlagen mit einem Grabscheit körperlich schwer misshandelt zu haben. Die An-
geklagte behauptet, die That in einem Anfalle von Nervenkrisen begangen zu
haben und von dem Vorgefallenen keine Spur von Erinnerung zu haben.
Gerichtseitig wurde festgestellt, dass die D. am Nachmittag des bewussten
Tages das einer bekannten Familie gehörige Kind, welches sie sehr liebte, zu Hause
abgeholt hatte, um mit ihm spaziren zu gehen. Sie war an verschiedenen Orten
mit dem Kinde gesehen worden, hatte dasselbe zärtlich behandelt und gepflegt,
ihm Zackerwerk und Früchte gekauft und ihm die Füsse frottiert, da es über
Frost klagte. Da sie am Abend das Kind nicht zu den Eltern zurückbrachte,
180 JEleferate und Besprechungen.
forschte man in ihrer Wohnung nach und fand sie im Garteu, wie sie eben saf
das am Boden liegende stark blutende und jammernde Kind mit einem Spaten
unbarmherzig losschlug. Als ihr das Kind entrissen wurde, war sie besorgt, du-
selbe zu waschen und zu verbinden. Kurze Zeit nachher wurde sie Ton dem
Policeicommissär in einem der Trunkenheit ähnlichen, halb yerwirrten Zustande
gefunden, sie gab unklare Auskunft und behauptete nicht zu wissen. dsH nnd
wann sie das Kind geschlagen habe. Dea Öfteren wurde sie Ton Nerrenkrisen be-
fallen. Der gleiche Zustand blieb die folgenden Tage.
Ins Gefangniss überführt, wurde die D. von einem deliranten Zustande mit
Hallucinationen befallen und bot alle Anzeichen des chronischen AlkohotiimTii.
Späterhin verschwanden. dieselben; statt dessen zeigten sich bei der Beobtchtimg
im Asyl Symptome, welche auf Hysterie hindeuten und zwar linksseitige H7pe^
äethesie, Druckpunkte auf dem Cranium, im Epigastrium und in der Orarialgegtnd.
Die Amnesie für die incriminirte Handlung blieb dauernd bestehen. Nerrsnknaen
kamen nicht mehr vor.
Das ärztliche Gutachten kam zu folgenden Schlüssen:
„1. Die Frau D. leidet an Hysterie mit Anfallen von Somnambultsmus und
nnbewussten Handlungen.
2. Sie hat unter dem RinflnsB eines automatischen und nnbewussten THebei
«
die junge S. geschlagen; sie ist for diesen Act unverantwortlich.
3. Infolge der Thatsache, dass sie von derartigen Trieben befallen wird, ist
sie gefährlich für die öffentliche Sicherheit und bedarf der Unterbringung in einem
Irrenasyl.*^ Br od mann- Jena.
0. Vogt, Sur la genese et la nature de l'hyst^rie. Vortrag auf dem
inter nationalen Congress für Medicin. Section für Psychiatrie. Paris 1900.
1. Bei der Genese hysterischer Erscheinungen kommen immer Gkmüthsbe-
wegungen als ätiologischer Factor in Betracht.
2. Die hysterischen Erscheinungen lassen sich alle als pathologisch intensiv«
Aeusserungen unseres Gefühlslebens auffassen.
3. Die krankhafte Intensität dieser Aeusserungen ist in letzter Linie auf eine
krankhaft gesteigerte gemüthliche Erregbarkeit zurückzuführen.
4. Ihrem Inhalte nach zeigen die hysterischen Erscheinungen die Sigen-
sehaften der Schlafhemmung. (Autorreferat.)
L'anatomie du cerveau et la Psychologie.
Par
M' et M»* Oskar Yogt. *)
De ce grand sujet des rapports de ranatomie du cerveau avec la
Psychologie, nous nous bomerons k studier les rapports entre l'ana-
tomie des hSmisph^res cSrebraux et la psychologie.
fiien quCy nous soyons peut-Stre d'une opinion mStaphysique diffe-
rente, nous pouYons tous, croyons-nous, prendre le m§me point de d6part :
celni du parallSlisme empirique entre certains phfinomdnes physiolo-
giques et les phSnomdnes psychologiques, sans nous soucier, du reste, de
la nature de ce parall^lisme lui-mSme.
Ce parall^Usme nous pennet d'6tudier les phenomdnes psycho-
physiologiques sous leur c6t6 psychique, d'une part, et sous leur cöt6
physiologique, d'autre part. De plus, dSjä aujourd'hui, ce parall61isme
nous pennet de tirer des obserratioDs psychologiques des conclusions
physiologiques, et inversement, il se pourrait peut-§tre que la Physio-
logie nous pennit, un jour, de constater des ph6nomdnes psychiques
que nous n'aurions pas encore pu observer directement.
Mais les 6tudes physiologiques ont pour la psychologie une autre
valeur qui, eile, est vraiment grande. Pour les ph^nomdnes qui se
snivent dans notre conscience, il n'y a pas de causalitS psychique ri-
goureuse ; car, il y a toujours des phSnomdnes purement physiologiques
qui jouent un röle dans la genese de tout phSnomdne psychique.
Aussi, sans la physiologie, la psychologie ne pourrait-elle jamais etre
une science causale.
^) Gommanication faite au 4e Congrds de Psychologie k Paris Vill, 1900.
Zeitschrift für Hypnotismus. X. ^3
182 Mr et Mme Oskar Vogt.
Voilä le röle des ph6nomdnes physiologiques dans la psychologie.
Comment Studier ces phSnom^nes physiologiques eux-memes? Noas
devons naturellement employer snrtout des methodes physiologi-
ques. Mais ces mSthodes donnent souvent des r^sultats tr^s-peu satis-
faisants. Aussi profite-t-on des faits anatomiques pour la Physio-
logie. Et c'est ainsi que l'anatomie du cerveau gagne indirectement
une valeur pour la psychologie.
Le fait anatomique qui sert de base aux coDclusions physiologiques
est celui-d: k chaque fonction correspoud une structure morphologiqne
speciale. Ainsi, nous concluous de la structure k la fonction.
De telles conclusions ne sont naturellement admissibles que si la
structure est bien mieux connue que la fonction. La premi^re question
qui surgit ainsi pour nous est celle-ci : jusqu'oü va actuellement ndtre
connaissance anatomique des h^misph^res cSrebrauz. Malheureusement,
eile est encore trds-peu ayanc6e, et les conclusions physiologiques
qu'elle nous permettra de tirer sont encore tr^s-peu nombreuses.
L'^tude de la physiologie nous donne la tendance de considSrer
la yie psycho-physiologique comme unensemblederSflexes. De
plus, nous sayons que Texistence de certains ph6nom^nes psychiques
est li6e k TintSgrit^ de certaines r6gions de l'6corce c6r6brale. Kez-
perimentation physiologique, d'une part, et la clinique, d'autre part, nous
ont appris k localiser ainsi certains de nos phSnomdnes psychiques
sous leur cötS physiologique.
Or, comment l'anatomie peut-elle nous servir pour dScouTrir le
chemin de ces r6flexes psycho-physiologiques ?
Premi^rement, Tanatomie nous fait voir dans les h6misph^res les
fibres nerveuses qui forment certainement une partie des yoies de ces
T^flexes. AidSe par la physiologie exp6rimentale et la clinique, Faua-
tomie a pu d6jä 6tablir un certain nombre de ces yoies: mais seale-
ment dans le domaine des fibres de projection. Par exemple, nous
sommes relatiyement bien Orientes sur les fibres centrifuges de la zone
motrice et sur la radiation optique. Mais, mSme ici, nous, n'ayoos pu
gagner cette bonne orientation ayec les donnSes seules de ranatomie)
mais nous ayons eu besoin aussi du concours consid^rable des faits
physiologiques et cliniques. Aussi, lorsque ces demiers fönt d6faut,
les conclusions que nous pouyons tirer des donnSes anatomiques seules
sont-elles bien yagues. Par exemple, nous ne sayons pas si la plupart
des r6flexes qui seryent aux associations passent par des fibres intra-
corticales on par des fibres sous-corticales.
L'anatomie du cerreau et la psycholog^e. 183
Deuxiömement, quant k la localisation corticale des phfinom^nes
physiologiques paralleles aux di£f^rents phfinomönes psychiques, Tana-
tomie peat nous servir de diffi§rente8 fa^ons.
a) Si les diverses rSgions corticales ont tme diffgrence fonctionelle,
elles doiyent avoir aussi une di£f6reiice de Btrocture. Nous pouvons
ajouter qae cette diffSrence de stnicture est d^jä, appr6ciable k nos
methodes. Mais en particulier, les doim6es de Flechsig qoi attribae k
ses centres d'association une stmcture uniforme, sont aussi fausses pour
rhomme que pour les animauz. Le jour oü nous auroDs reconnu la
stmcture caract^ristique d'une r6gion corticale de fouction speciale,
Dous serons certainement capables de la delimiter d'une fagon plus
nette que par des exp^riences physiologiques et des donn§es cliniques.
JUäus nous en sommes encore loin aujourd'hui et nous n'y arriverons
que si nous contrölons saus cesse nos ^tudes histologiques par des
etudes physiologiqaes et cliniques. Donc, ce que l'anatomie elle-meme
peut nous donner aujourd'hui dans ce sens est bien minime.
b) Des r^gions corticales de fonction di£f6rente doivent avoir des
connezions difffirentes avec les centres sous-corticauz. Cette conclusion
est ju8tifi6e par l'anatomie. Dans ce sens Sgalement, des recherches
anatomiques bas6es surtout sur les d6g6n6rescences secondaires pour-
raient aussi nous renseigner sur les limites ezactes des diff<§rents centres
corticauz. Ici s'ouyre certainement un champ fertile pour les recherches
anatomiques futures. Mais jusqu'ä. maintenant, on ne peut pas dire
qae les Studes anatomiques aient de beaucoup devanc^ les constatations
physiologiques et cliniques.
c) Reste k ezaminer maintenant la yaleur que l'^tude de la mySli*
nisation des hSmisph^res peut gagner pour la psychologie. De toute
la th6orie de Flechsig, un seul fait est ezact : c'est celui de la mySlini-
sation non contemporaine des diverses rSgions de l'Scorce c6r6brale.
La my^linisation commence k peu pr^s k la fois en di£f6rents points
de l'^corce: les centres primordiauz de Flechsig; et, partant de ces
points, eUe s'etend peu k peu sur toute T^corce, saus faire nulle part
d'arret visible et sans permettre nulle part de limiter d'une fa^on pr6-
cise un certain nombre de rSgions corticales. Donc, vouloir distinguer
d'aprds leur my61inisation un nombre d6termin£ de r^gions corticales
est ime t^he impossible.
Chez d'autres mammif^res, nous constatons un proc6d6 de my61i-
nisation qui est, d'aprds tout ce que nous savons de Phomologie de
l'ecorce chez les mammifdres, identique avec celui de l'homme. Dans
13*
ces conditions, il n'est pas non plus possible jusqu'ä maintenant, par
une Stude comparSe de la myelinisation, de trouver dans le cerre&a
humain des r6gions corticales qui lui soient propres et qui donneraient
le substratum anatomique de la di£f6rence entre la psycho hamaine et
Celle des animaux.
De plus, une my^linisation prScoce on tardiye ne caracterise pas
des r6gions avec ou sans fibres de projectioD. Nous avons pu montrer
qu'il y a dans la capsole interne des parties non myelinis^es aassi
longtemps qu'il y a des r^gions corticales sans my61ine et qae ces
parties de la capsule interne sont justement Celles dans lesquelles
on trouve les d^g^nerescences secondaires apr^ des l^sions des rlgions
corticales tard mySlinisßes. Ces parties tard my61inis6es de la capsule
interne sont si 6tendues que les r^gions corticales correspondantes doi-
yent avoir un nombre de fibres de protection plus grand que celni qvi
justifierait une distinction entre des centres de projection et des centres
d'association.
Enfin, nous avons constat6 que dejd. chez le chat, chaque r6gion
corticale a plus de- fibres d'association et commissurales que de fibres
de projection et que parmi ces fibres d'association^ il y a des fibres
trte longues aussi bien que des fibres courtes. Donc, la tendance de
Flechsig de voir dans une minoritd des fibres de projection une paiti-
cularitg du cerveau humain n'est non plus justifi6e par les faits.
£n r^sumß, tout ce qui reste de la thiorie de Flechsig: c'est cette
non-contemporainetg de la my^linisation^ caractSristique aussi bien pour
les animaux que pour Thomme.
La question qui surgit maintenant est celle-d: Est-ce que doos
pouTons tirer de ces faits de la my^linisation non contemporaine des
conclusions physiologiques et psycho-physiologiques ? Nous avons ^
. que la distribution des diff6rentes espöces de fibres selon qu'elles appar-
tiennent k des r6gions t6t ou tard my61inistes ne nous enseigne rien de
la difiT^rence dans la fonction de ces rdgions pas plus que leur stractoie
fine ne nous l'enseigne. Est-ce que le simple fait de la my61inisation
non contemporaine peut nous enseigner quelque chose? Tout ce qui
est — mais seulement jusqu'^ un certain point — justifi6 par des rai-
sons morphologiques : c'est de dire que les r^gions tard mySlinisees
forment le substratum anatomique des fonctions qui se d^yeloppent plus
tard et que nous pouvons prendre avec certain droit pour des fonctions
plus 61ey6es. Mais voilä tout le profit que nous pouvons tirer de l'etude
de la mySlinisation dans la question de la localisation.
L'Anatomie da cerreaa et la psychologie. X86
Cette diff(6rence supposie daos la fonction des r^gions qoi difförent
par r^poque de leur mySlimBation n'est pas non plus ßclaircie par deax
faits que noas avons trouT^s concordant ayec la marche de la myfili-
DisatioD: Le premier consiste en ce qae rensemble des fibres d'ane
region corticale quelconque est d'un calibre plus fort et a des gatnes
plus grosses, plus cette region se my^linise tot. Nous avons trouvß ce
£ut anssi bien chez rhomme que chez les animaux.
Du deuxidme fait, nous n'ayons pu nous persuader compl^tement
que pour les animaux. II s'agit du fait que l'ensemble des fibres
d'one rSgion corticale est d'autant plus grand que cette r6gion se mySll-
nise plus tot.
Mais ni Tun ni Tautre de ces deux faits ne nous permet des
conclusions physiologiques.
En risumSy nous pouTons dire que Tanatomie des h6misphdres est
certainement capable de contribuer k l'etablissement des localisations
c6r6brales. Mais jusqu'ä maintenant Tanatomie elle-mSme n'ßtait pas
encore assez avancSe pour y contribuer beaucoup. Cela peut changer
plus tard. Mais pour tout Tavenir comme pour aujourd'hui les consta-
tions anatomiques ne suffiront pas ä elles seules. Elles auront toujours
besoin du contröle de Texp^rimentation physiologique et de la clinique.
Mais maintenant se pose une question fondamentale : Toute cette
science de la localisation, quelle valeur a-t-elle pour la psychologie?
Est-ce que Flechsig a raison s'il parle d'une psychologie topographique
comme de la psychologie de l'avenir?
Pour nous, nous reconnaissons ä la science de la localisation une
valeur quadruple pour la psychologie :
1. Elle nous montre d'une fagon plus rigoureuse que tous les autres
faits la dSpendance des ph6nomdnes psychiques des phSnomdnes cor-
porels.
8. Elle nous permet de faire des conclusions de psychologie com-
paree, en 6tudiant les diffi§rents centres chez les diff6rents animaux.
Par exemple, si nous constatons dans une esp^ce animale un d^velop-
pement tr^s rudimentaire des r^gions olfactives, nous avons le droit de
conclure que les sensations olfactives jouent tr^s-peu de r61e dans la
vie psychique des animaux appartenant k cette esp^ce. Mais, meme
dans ce cas, une teile conclusion doit etre justifi6e par des observations
psycho-physiologiques.
De mime, nous pourrions peut- etre im jour arriver ä ÜEÜre de la
meme fa$on des conclusions de psychologie individuelle d'aprds le d§-
18b" 3Ir et Mme Oskar Vogt.
yeloppemeot special des diverses rSgions corticales chez les differents
individus. Mais nous voulons tout de suite ajouter que les conclnsions
qu'on a faites jusqu'ä mainteDant dans ce sens De sont pas jnstifi^es
par des observations assez fines et assez compldtes.
3. A l'aide des localisations nous pouvons comprendre — du molos
dans une certaine mesure — les altörations de la vie psychique k la
suite des troubles locaux de certaines r^gions de l'ficorce.
4. Le fait que les 61§ments de meme fonction sont group§s dans
une meme r^gion corticale facilite certaines Studes psycho-physiologiques.
Par exemple, il nous permet de chercher et d'Studier les Clements
caract^ristiques pour une fonction. Ou bien, il nous pennet par la
destruction d'un centre d^termin^, d'^tudier le röle de la fonction de-
truite dans la vie psycho-physique.
Mais toute cette science de la localisation a deux tr^s-grands de-
fauts: d'une part, eile ne vous dit rien des relations fines entre les
proc6d§s physiologiques et les phSnomdnes psychiques et d'autre part^
eile ne comprend qu'une partie des phenomönes psychiques.
Au point de vue morphologique, les centres nerveuz sont composes
d'elSments: les neurones et ces neurones de fibrilles. D'autre part
Tanalyse psychologique arrive aussi ä 6tablir des 616ments. Or, quelle
relation existe-t-il entre la fonction des 616ments morphologiques et l'ap-
parition des Clements psychiques? Comme M« Hitzig l'a bien dit an
dernier congr^s de m^decine, notre science actuelle des localisations ne
nous donne aucune r6ponse ä. cette question. Mais c'est justement la
r^ponse ä cette question qui serait le premier pas en avant pour penetrer
dans les relations ä^mentaires entre la vie physique et la vie psychique.
L'autre dSfaut de la science actuelle des localisations est aussi
grand, du moins ä notre avis. L'analyse subjective nous semble arriver
k la distinction de deux groupes d'616ments psychiques: les sensations
et leurs images d'une part, les sentiments d'autre part. Or, toute la
science des localisations ne touche que les sensations.
On n'a jamais pu localiser un seul sentiment. Car, on n'a nulle
part Yu disparaitre un sentiment ^lementaire quelconque k la suite
d'une maladie locale des centres nerveux. Donc, toute la science des
localisations ne sera jamais capable de nous expliquer le cöt6 physio-
logique de ce que nous Sprouvons en nous comme sentiments.
Nous pouvons ajouter qu'une science des localisations n'expliquera
non plus les ph^nom^nes d'excitation et d'inhibition, les phSnomdnes de
l'attention et du sommeil. Ici on nous dira, qu'on doit chercher le sab-
L'anatomie de cerreau et la psychologie. 187
Btratiun anatomique de ces faits dans Thistologie fine des ^ISments ner-
yenzy sujet que nous avons ecart6 d^s le commencement. Nous approu-
Yons cette objection. Mais malheureasement nous deyons dire que tout
ce qu'oD a dit jusqu'ä maintenant pour expliquer ces phinomdnes par
rhistologie fme des centres nerveux est absolument hypothStique et n'est
qua la traduction en termes physiologiques de ce qu'on avait trouv6
par rintrospection.
Alnsi, aussi bien ponr ces questions que pour les autres problömes
de la Psychologie nous sommes toujours poussSs vers des m^thodes pure
ment psychologiques pour les resoudre. C'est sur les mSthodes purement
psychologiques que nous devons baser la psychologie d'aujourd'hui et
la Psychologie de demain. Nous arrivons ainsi k dSfendre les mSmes
idees qui furent prononc6es au demier congrös de psychologie par
M" Lipps et Stumpf: actuellement, les recherches anatomiques ne
sont pas capables d'glucider les probldmes de la psychologie. Ces
recherches sont d§jä trds utiles aujourd'hui pour le clinicien. Elles le
seront certainement un jour pour le psychologue. Mais ce jour est loin,
et, pour qu'il s'approche il faut encore que beaucoup de savants tra-
vaillent k Tanatomie du cerveau. Mais les anatoniistes dolvent rester
dans le domaine de leur science et ne pas croire pouvoir fonder sur
leurs recherches une science qui a des mfithodes propres k eile. C'est
seulement ainsi qu'ils Sviteront le danger de faire une anatomo-psycho-
logie pseudo-scientifique.
Conclusions.
1. L'anatomie du cerveau, la physiologie du cerreau et la psycho-
logie Bont des sciences k part, ayant chacune des m^thodes propres
k eUe.
2. L'anatomie du cerveau n'a pas de rapport direct avec la psycho-
logie ; eile n'entre en rapport avec la psychologie qu'indirectement, par
TintennSdiaire de la physiologie.
3. Dans l'^tat actuel de nos connaissances il y a parallSlisme entre
les phSnomönes psychologiques et certains ph£nom^nes physiologiques.
La yaleur de T^tude de ces ph^nom^nes physiologiques pour la psycho-
logie d^rive du fait que la psychologie simplement comme science des
ph6nom^nes conscients ne sera jamais une science causale ; eile a besoin
des faits physiologiques pour le devenir.
4. Ces ph&iomönes physiologiques, ainsi importants pour la psycho-
1B8 Mr et Mme Oskar Vogt.
logie, doiyent @tre £tadi6s surtoat par des mSihodes phymologiquee,
mais 6taDt donodes, d'im cöt6 la relation intime entre la fonction et 1&
stmctnre d'un organe, et d'nn autre cöt6 l'insuffisance de sos connais-
sances physiologiqaes, on est quelqnefois port6 k conciure de la strao
ture h la fonction.
6. L'anatomie actueUe n'est pas encore assez avancße pour per-
mettre de telles conclusions. Parml ces conclusioDS, Tanatomie des
hdmisph^res ponrra un jonr permettre les saivantes:
A. d'6tablir la voie des rSflexes qui forment dans sa partie physio-
logiques toute la yie psycho-physiologique. Jusqu'ä maintenant
nous avons certaines connaissances dans le domaine des fibres de
projection, mais mSme, ici Tanatomie pure ne nous a presqae rien
appris.
B. spßcialement au point de Tue de la localisation corticale de ces
r^flezes psycho-physiologiques, de limiter les diffSrents centres cor-
ticaux.
a. d'apr^s la structnre fine caract^ristique pour chaque r^gion.
b. d'aprös les di£ferentes relations de chaque rSgion avec les r^gions
sous-corticales.
c. d'apr^s la my^linisation des diffSrents centres. La my^linisatioD
ne permet pas:
a. de distinguer un nombre d6tennin6 de rSgions corticales, itant
donn§e sa marche continue,
ß, de trouTer dans le cerveau humain des r^ons corticales qui
lui soient propres et qui dounent le substratum anatomique
de la diff6rence entre la Psyche humaine et celle des ani-
maux,
y. de distinguer entre des r^gions ayec ou sans fibres de projectiOB,
d. de voir dans une minoritö des fibres de projection one parti-
cularit6 du cerveau humain,
€. de conciure de la marche de la myilinisation k une difference
fondamentale de fonction.
6. La science des localisations, aid^e dans l'ayenir certainemeDt
ainsi par Tanatomie, a une valeur quadruple pour la psychologie:
a. en fitablissant d'une fa^on plus rigoureuse la dSpendance des
ph6nomdnes psychiques des ph^nom^nes corporels,
b. en permettant de faire des conclusions de psychologie comparie,
et peut-etre plus tard de psychologie individueUe d'apr^ 1^
d^yeloppement des diffSrents centres,
L'anatomie de cerreau et la psychologie. 189
c. en expliquant certaines altirations de la vie psychique ä la
snite des troubles locaux de certaines r^gions de l'^corce,
d. en facüitant certaines Stades psycho-physiologiques, Stant donn6
que les ^l^ments de m6me fonction sont group^s dans une mdme
r^ion corticale.
7. Mais tonte cette science de la localisation ne nous dit rien:
a. des relations Sl^mentaires entre les procSdSs physiologiqnes et
les phSnomdnes psychiques intellectnels,
b. de la natnre dn cötd physiologique des sentiments.
8. Les recherches anatomiques sont d6jä anjourd'hni trös-utiles au
diniden; elles le seront nn jour an psychologue. Mais ce jour est
loin et, meme ce jotir, les anatomistes deyront rester dans le domaine
de lenr science et ne pas croire pouvoir fonder la psychologie sur lenrs
recherches.
LitMrature.
1. E. Hitzig, Les centres de projection et les eentres d'association du cenreau
humain. Le Neyraze. vol. L Louvain 1900.
2. Lipps et Stumpf, Bericht des 3. Psychologencongress in MtLnchen. 1896.
3. G. Vogt, £tude sur la mySlinisation des hdmisphdres c^rebrauz. Paris 1900.
St^inheil.
4. 0. Vogt, Flechflig's Associationscentrenlehre. Seine Anhänger und seine
Gegner. Ce Journal 1897.
5. 0. Vogt, Sur la myelinisation de l'h^misphdre c4r6bral du ehat. Comptes
rendus des s^ances de la Soc. de Biologie. 1898.
6. O. y ogt, Zur Projectionsfaserung des Grosshirns. Ztschr. f. Psychiatr., toL 66.
7. 0. Vogt, Flechsig's Associationscentrenlehre im Lichte vergleichend-anato-
mischer Forschung. Gentralbl. f. Psychiatr. 1900.
8. 0. Vogt, Yaleur de T^tude de la myelinisation pour Fanatomie et la Physio-
logie du cenreau. Journal de physiologie. 1900.
9. 0. Vogt, Discussion sur les rapports sur les centres de projection et d'asso-
ciation. Section de Neurologie. XUE. Gongrds de mSdecine. Paris 1900.
Revue neurologique YIII, pag. 721.
10. 0. Vogt, Sur les differentes methodes qui peuvent servir ik T^tablissement de
lliomologie des differentes regions de Tecorce cerebrale. XIII. Gongrds de
medecine. Section d'anatomie descriptive. Paris 1900.
11. O. Yogt, Zur Kenntniss des Wesens und der psychologischen Bedeutung des
Hypnotismus. 2. u. 3. Forts. Ge Journal. Vol. IV, 1896.
12. O. Vogt, Die directe psychologische Ezperimentalmethode in hypnotischen
Bewusstseinszuständen. Ge Journal 1896.
13. O. V o g t , Normalpsychologische Einleitung in die Psychopathologie der Hysterie.
Ce Journal, vol. Vni, 1898.
Beitrag zur Frage der Hypnotisirbarkeit
Von
Dr. W. Hilger- Magdeburg (Sudenburg).
Eine der wichtigsten Fragen für jede psychische Beeinflussung der
Kranken ist die Frage nach der Prognose. Speciell für die hypnotische
Behandlung gesellt sich dazu die Frage, ob der Patient sehr leicht,
leicht, schwer oder sehr schwer in Hypnose zu versetzen sein wird. —
So wie eine Unsicherheit in der Prognose in Bezug auf das klinische
Krankheitsbild die Sicherheit des Arztes in seinem allgemeinen thera-
peutischen Auftreten ungünstig beeinflusst, so wird das Selbstvertrauen
des Arztes bei der Verwendung der Hypnose auch wesentlich dadurch
beeinflusst werden, ob er es versteht, die von vornherein schwer hypno-
tisirbaren Fälle zu erkennen, um sie entweder ganz von den hypnotisch
zu behandelnden Kranken auszuscheiden, oder, wenn er sie doch in
hypnotische Behandlung nimmt, bei ihnen mit grösserer Vorsicht zn
Werke zu gehen.
Um mir in dieser Bichtung auch noch retrospectiv meine Er*
fahrungen und mein Material nutzbringend zu machen, habe ich die 351
Fälle, welche ich in den Jahren 1895 — 1898 behandelt habe, zusammen-
gestellt und auf ihre Hypnotisirbarkeit und die Einflüsse, welche für
die Hypnotisirbarkeit maassgebend sind, geprüft. — Ich bin dabei anch
für meine Person zu dem Resultat gekommen, dass allerdings noch
vorläufig stets das im „Unbewussten" sich abspielende „subjecti?e Er-
messen^' des Arztes für die Frage nach der Hypnotisirbarkeit eines
Patienten schliesslich den Ausschlag geben muss und geben wird, ds^
der „Blick^^ des Arztes, als Resultat eigener persönlicher Erfahnmg
wohl durch nichts zu ersetzen ist und dass vielleicht Ueberraschangen
Beitrag zur Frage der Hypnotisirbarkeit.
191
und Enttäuschungen niemals ganz ausbleiben werden. Gleichzeitig
ergeben aber meine Untersuchuügen, dass doch gewisse Anhaltspunkte
T- selbst retrospectiv — erkannt werden können, nach denen wir mit
Nutzen eine Analyse der Persönlichkeit des Patienten in Bezug auf
die Frage nach seiner Hypnotisirbarkeit vornehmen können und dass
diese bewusst ausgeübte Analyse auch dem Anfänger seine Aufgabe,
eine entsprechende Prognose zu stellen, zu erleichtern im Stande ist.
Solcher Anhaltepunkte werden sich sicherlich noch andere und vielleicht
noch wichtigere finden lassen als die behandelten. Wir werden darauf
am Schluss zurückkommen. In Bezug auf die Grade der erreichten
Hypnose habe ich die ForeTsche Eintheilung, die auch Ringier
(Erfolge des therapeutischen Hypnotismus S. 186) und v. Renterghem
(diese Zeitschr. YIII, H. 1, S. 2) angenommen haben, zu Grunde gelegt.
Es waren von meinen Patienten
Tabelle I.
0 (refractär) = 23
1 (Bomnolent) = 69
n (hypotactisch) =146
ni (somnambul) = 113
6^0/,
19,66%
41,69 %
32,19«/,
6» 361
nii (somnambul in der ersten Sitzung) 66
99,99»/,
15,940/,
Zu einem Vergleiche dieser Besnltate mit denen anderer Autoren
benutze ich die von Ringier (Erfolge des therapeutischen Hypnot.,
S. 188) zusammengestellte Tabelle.
Tabelle II.
Liebeaalt
bei 1011
Personen
i. J. 1880
%
Li6beault
bei 753
Personen
u J. 1884
%
van Renterghem
bei
178 Personen
i. J. 1887
%
Ringier
bei 221
Personen
i. J. 1891
/c
Meine Zu-
sammenstellung
351 Personen
im Jahre
1895-1898
Kefractäre
Somnolenz
Hypotaxie
Somnambulismus
2,67
7,97
3,93
3,26
10,09
6,06
78,04
63,21
79,77
16,02
18,73
11,24
5,43
7,24
52,49
34,84
6,55
19,66
41,59
32,19
99,99
100,00
100,00
100,00
99,99
In Eezng auf die Methode des Hypnotisirens habe ich mich eng
an die Nancyer Schule angeschlossen und im Allgemeinen die Patienten
in Gruppen bis zu 8 Personen behandelt. Erst nach dieser Behandlungs-
l'J2
W. Hüger.
Periode habe ich mich mehr dem fractionirten Verfahren, me es von
Brodmann beschrieben ist, zugewendet und auch häufiger die Einzel-
hypnose angewendet. Vielleicht habe ich später einmal Gelegenheit,
die Resultate dieser verschiedenen Behandlungsweisen zu yergleicheiit
unter den Momenten, welche von Einfluss auf die Hypnotisirbarkeit
sind, sei zunächst das Alter des Patienten in seiner Bedeutoiig
untersucht.
r
rabellc
( TTT.
0
I
n
m
ui^
Total
In Procenten
Alter
0
I n 1 m
m/
1—10
1
4
8
11
7
24
4,16
16,66
33,33
45,83
29,16
11—20
0
3
25
22
11
60
0
6
60
44
22
21—30
4
16
39
24
12
82
4,88
18,29
47,66
29,27
14,64
31—40
8
22
33
30
15
93
8,60
23,65
35,48
32^
16,13
41—60
5
16
19
16
8
65
9,09
27,27
34,64
29,09
14^
61-60
4
7
16
7
1
33
12,12
21,21
45,46
21,21
3,03
61 70
1
2
5
2
1
10
10
20
60
20
10
71-80
0
1
2
1
1
4
0
26
60 25
25
23
69
146
113
66
361
In dieser Darstellung zeigen sich die Lebensalter von 1 — 20 Jahren
für die Hypnotisirbarkeit am günstigsten, dann folgt eine Abnahme
bis zu den Lebensaltem von 40 — 60 Jahren und schliesslich komm
eine Steigerung in den letzten Lebensjahrzehnten zur Beobachtung.
Dieser rechnerische Nachweis der relativ grossen Hypnotisirbarkeit bei
den jugendlichen Patienten entspricht wohl der Thatsache, dass diese
mehrere der für die Hypnotisirbarkeit günstigen Eigenschaften zeigen,
nämlich die Gewohnheit zu gehorchen und das Vertrauen zum Arzt.
Zu diesen kommt dann die ebenfalls unten noch kurz zu streifende
Phantasiethätigkeit des Ejndes und auch des Halberwachsenen hinm
Natürlich wird es darauf ankommen, dem E[inde jede Scheu zu nehmen
und dasselbe erst sehr vertraut zu machen. Meine Erfahrung lehrte
mich, dass dies bis zum dritten Lebensjahre herab möglich sein kann.
Ich kann die Anschauungen Ranschburg's^) nicht theilen, glanbe
vielmehr, dass die von ihm berichtete geringe Hypnotisirbarkeit der
behandelten Kinder nur aus seinem speciellen Verfahren oder Ver-
halten resultirt. Auffallend erscheint in der Darstellung die grössere
Hypnotisirbarkeit in den höchsten Lebensaltem. Es finden sich in den
») Zeitschrift für Hypnotismus, Bd. IV, H. 6, S. 276.
Beitrag zur Frage der Hypnotiairbarkeit. 193
Jahizehntea von 61 — 70 und 71 — 80 Jahren 14 Patienten notirt, von
welchen den dritten Grad 3 Patienten errichten. Dieses Material ist
allerdings keineswegs hinreichend, nm zu einem allgemeinen Schlüsse
auf eine Steigerung der Hypnotisirbarkeit in den höchsten Lebensaltem
Torwendet zu werden. Speciell möchte ich bemerken, dass eine der
somnambulen Patientinnen schon als junges Mädchen mit Erfolg
suggestiv-therapeutisch behandelt worden war und ein UDgemein grosses
Vertrauen zur Art der Eehandlung mitbrachte, und dass bei einer
anderen 74jährigen Patientin die reiche Phantasiethätigkeit , welche
diese Dame, eine Künstlerin, auszeichnete, wohl für den günstigen
Erfolg entscheidend war. Immerhin möchte ich darauf hinweisen, dass
Ringier (Erfolge etc. S. 200) dieselbe Beobachtung wie ich ge-
macht hat.
Den Einfluss des Geschlechtes zeigt folgende Tabelle.
Tabelle IV.
A. Männlich. B. Weiblich.
0 = 7 = 4,16% 0 = 16 = 8,74 7o
1 = 86 = 20,83«/o I = 34 = 18,ö7«/^
n = 70 = 41,66<^/o n = 76 -» 41,537o
in « 66 = 3332% in =: 67 == 31,16 <>/o
168 = 99,970/0 183 = 99,99%
nii = 30 = 17,86% nii =« 26 = 14,21%
Es ergiebt sich hieraus eine für alle Grade geltende bessere Hypno-
tisirbarkeit des männlichen Geschlechts. Dieselbe Beobachtung ist
auch Yon Bin gier (Erfolge etc. S. 197) veröffentlicht. Um den
psychologischen Grund einer derartigen Beobachtung zu finden, würde
es wohl noch fernerer Untersuchungen bedürfen und wäre es nach
meiner Ansicht für eine einwandfreie Forschung jedenfalls wichtig, auch
die Resultate weiblicher Hypnotisten zu berücksichtigen. Ich halte es
nicht für ausgeschlossen, dass ein weiblicher Arzt bei seinen Hypnosen
gerade das umgekehrte Verhalten der Geschlechter beobachten könnte.
Von den klinischen Diagnosen meiner Patienten scheinen mir
folgende von Bedeutung und Interesse in ihrem Einfluss auf die Hyp-
notisirbarkeit:
1. Schlaflosigkeit, 2. Anämie, Ohiorose, Schwäche, 3. Intoxi-
cationen (Alcoholismus, Morphinismus, Chloralismus), 4. Neurasthenie,
5. Enuresis nocturna, 6. Chorea, 7. Hysterie, 8. Epilepsie, 9. Hypo-
chondrie, 10. Zwangsvorstellungen, 11. Melancholie.
194 W. Hilger.
ad 1) Schlaflosigkeit. Behandelt wurden 34 Patienten.
Tabelle V.
0 =- 4 = 11,76 •/(, id est im Vergleich zum
Durchschnitt
-+ 6^1%
I 10 29,42»/, , „ „
n
= + 9.76%
n 14 41,17 o/o , „ „
II
= - 0,42%
m - 6 - 17,650/. ^ ^ ^
n
= - 14^%
34 — 100,00
ni. - 3 - 8,820/0 „ „ ,
»
= - 7,12%
Es zeigt sich hier ja ein deutliches Minus gegenüber dem Durch-
schnitt, aber immerhin erscheint dieses Minus nicht so gross, wie man
es wohl erwarten könnte, um so bemerkenswerther erscheint mir
dieses Eesultat, als ich bei den Patienten dieser Beobachtungsreihe
mit wenigen Ausnahmen nicht gleichzeitig neben der psychotherapeuti-
schen Behandlung noch Medicamente anwendete. Besonders frappant
erschien mir das Verhalten eines 28 jährigen Ingenieurs, der wegen
seiner starken Agrypnie aus dem Auslande zu mir kam und gleich in
der ersten Sitzung in Sonmambulismus verfiel. Im Uebrigen schreibe
ich das günstige Resultat dem Umstände zu, dass sich unter den
Patienten dieser Beobachtungsreihe viele befanden, welche anderweitig
günstige Verhältnisse (niedriger Stand) boten.
ad 2) Anämie, Ohiorose, Schwäche.
Tabelle VI.
0 — 2 — 2,77 % id est im Vergleich zum
1 _ 9 - 12,6 •/, „ „ „
II - 31 _ 43,06o/o „ „ „
in 30 41,660/. ^ , „
Durchschnitt
n
n
n
= - 3,78%
= - 7,16%
= + 1,46%
= + 9,47%
72 — 99,980/,
in. - 17 - 23,7 o/„ „ , „
n
= + 7,76%
Es ist also sehr deutlich ein günstiger Einfluss dieser Factoren
zu constatiren. Immerhin haben mir namentlich spätere Beobachtungen
gezeigt, dass ein günstiges Verhalten anämischer oder geschwächter
Patienten nicht ohne Weiteres als Kegel angesehen werden kann und
dass Patienten dieser Art auch unliebsame Ausnahmen bieten.
ad 3) An Alcoholismus habe ich in dieser Beobachtongs-
periode 10 Personen, durchweg Männer, behandelt.
Beitrag zur Frage der HypnoÜBirbarkeit. 196
Tabelle VII.
0 BS 0 =3 O'/o id est im Vergleich zum
1 = 1 = 10% „ „ „
II - 6 50% , „ „
m = 4 - 40% . „ „
Durchschnitt
n
n
n
n
6,66%
= - 9,66%
= + 8,41%
= + 7,81%
10 = 100%
m, = 1 =.- 10% „ „ „
= - 6,94%
Dieses relativ günstige Resultat erscheint noch günstiger, wenn
man in Erwägung zieht, dass diese 10 Personen Altersklassen an-
gehören (Alter : 29, 30, 32, 35, 39, 47, 56, 56, 60, 61 Jahre) die nicht
die günstigsten für die Hypnotisirbarkeit sind. Keiner dieser Patienten
wurde im Zustande der Intoxication behandelt.
An Morphinismus und Chloralismus habe ich nur je einen Patienten
behandelt, von welchen der erstere (männL 45 Jahre) in der zweiten
Sitzung somnambul, der zweite (männl. 46 Jahre) in einer (der einzigen)
Sitzung somnolent war.
ad 4) An Neurasthenie habe ich in dieser Beobachtungs-
periode 96 Patienten behandelt.
Tabelle VIII.
0 = 11 = 11,46 «/o id est im Vergleich zum Durchschnitt = + 4,91 «/o
1 = 19 = 19,790/0 „ „ „ „ „ „ = + 0,13%
U = 46 = 47,92% „ „ „ „ „ „ = + 6,33%
m = 20= 2033% „ „ „ „ „ „ = - 11^%
96 = 100,00%
nii = 9 = 937% „ „ „ „ „ „ = - 6,57%
Die Hypnotisirbarkeit der Neurasthenischen zeigt sich darnach
allerdings deutlich unter dem Durchschnitt, aber doch keineswegs so
erheblich, wie man häufig anzunehmen geneigt ist. Allerdings ist der
Begriff der Neurasthenie, den ich der Diagnose zu Grunde gelegt habe,
ein sehr ausgedehnter — es ist dies das Krankheitsbild, wie es
Binswanger in seiner „Pathologie und Therapie der Neurasthenie^^
umschrieben hat.
ad 5) Auf die Enuresis habe ich deshalb die Untersuchung
ausgedehnt, weil die Schlaftiefe bei dieser Erkrankxmg jedenfalls eine
gewisse, allerdings keineswegs wohl ganz aufgeklärte Bedeutung hat.
Man möchte daher geneigt sein, aus der Diagnose gewisse Schlüsse
auf die Hypnotisirbarkeit zu ziehen. — Ich habe bei 2 kleinen Patienten
196 W. Hilgep.
(6 Jahre alt) nur Somnolenz beobachtet. Doch waren die Sitzungen
in Rücksicht auf die Zeit, welche mir zur Verfügung stand, sehr kurze,
sodass die Annahme, es wäre bei Anwendung Umgerer Sitzungen wohl
bald eine tiefere Hypnose erreicht worden, sehr viel Wahrscheinhdi-
keit für sich hat. Dagegen wurden bei 3 Patienten (1. 13 Jahie
männlich, 2. 13 Jahre männlich, 3. 71 Jahre weiblich) die Sitzungen
auf die gewohnte Zeitdauer ausgedehnt und doch in resp. 15, 61, 6
Sitzungen nur Hypotaxie erreicht. Bei einer Patientin (13 Jahre) ging
die Hypnose allerdings in tiefen Schlaf über, da aber dabei zugleich der
Kapport verloren ging, so kann man nicht Ton Somnambulismus sprechen.
ad 6) Von den 5 an Chorea behandelten Patienten (1. 10 Jahre
männlich, 2. 6 Jahre männlich, 3. 9 Jahre weiblich, 4. 12 Jahre weib-
lich, 6. 12 Jahre weiblich) hatte nur der erste Patient gleich in der
ersten Sitzung den tiefsten Grad der Hypnose (Sonmambulismus). Bei
den übrigen Fällen war es typisch, dass erst mit fortschreitender,
durch die suggestive Beruhigung herbeigeführter Besserung die Hyp-
nose an Tiefe gewann. Bei dem zweiten und vierten Patienten konnte
zu Beginn der Behandlung überhaupt nicht von Hypnose die Bede
sein. War bei den Choreakranken erst eine tiefere Hypnose erreicht,
so hörten auch während der Sitzung die Zuckungen auf. Dasselbe
beobachtete ich bei einem anParalysisagitans leidenden Patienten«
Ich kann daher Döllken^) nicht zustimmen, wenn er aus dem Ver-
halten dieser Ejranken Schlüsse zu Gunsten seiner Anschauung über
den Unterschied von Schlaf und Hypnose ziehen wiU.
ad 7) An Hysterie habe ich 28 Patienten behandelt.
Tabelle IX.
0=1= SJbl% id est im Vergleich zum Durchschnitt « — 2^%
I - 3 = 10,71 «/o „ „ „ „ „ „ = - 8,96V.
n == 14 = ÖO o/o „ „ „ „ „ „ = + 8.41^0
m = 10 = 36,71% „ „ „ „ „ „ - + 3,52%
28 = 99,99 o/o
in, = 4 = 14,28% „ „ n « „ . ^fi^V.
Abgesehen von einem kleinen Minus bei der Zahl der in der
ersten Sitzung Somnambulen findet sich die Hypnotisirbarkeit der an
hysterischen Beschwerden leidenden Patienten günstiger wie der
Durchschnitt.
1) Zeitschrift für Hypnotismus, Bd. IV, H. 2. 3, S. 89. (Döilken besieht
eich auf Moll.)
Beitrag zur Frage der Hypnotisirbarkeit. 197
ad 8) Bei den an Epilepsie leidenden Patienten hatte ich
nicht den Eindruck, dass die Erkrankung als solche einen wesentlichen
Einfluss auf die Hypnotisirbarkeit habe. Es findet sich zwar unter den
9 Patienten (1. 20 Jahre männl., 2. 24 Jahre männl., 3. 27 Jahre
weibL, 4. 22 Jahre weibL, 6. 22 Jahre weibL, 6. 40 Jahre männl.,
7. 31 Jahre männl., 8. 41 Jahre männl., 9. 46 Jahre männl.) ein
Ueberwiegen der tieferen Hypnosegrade, doch halte ich die Zahl der
Patienten nicht für genügend gross, um daraus Schlüsse zu ziehen.
Vielmehr erscheint mir nicht ausgeschlossen, dass diese bessere Hy-
pnotisirbarkeit eine Folge zweier anderer Factoren, nämlich des mehr
jugendlichen Alters und des geringeren Standes der Patienten ist.
ad 9) Dagegen habe ich bei den Hypochondern (1. 28 Jahre
männl. [5 Sitzungen, I. Grad erreicht nach 1 Sitzung], 2. 40 Jahre
männl. [40 Sitzungen, 11. Grad erreicht in der ersten Sitzung], 3. 35 Jahre
weibl. [206 Sitzungen, I. Grad erreicht nach 20 Sitzungen]), nicht den
Eindruck, dass ihre geringe Hypnotisirbarkeit etwas ZufaUiges sei.
Allerdings muss ich mich bei der geringen Zahl der FäUe auch hier
auf den Ausdruck meiner subjectiven Ansicht beschränken.
ad 10) und 11) Das Gleiche scheint mir für die an Zwangs-
Yorstellimgen (1. 21 Jahre weibl., [5 Sitzungen 11. Grad erreicht in
der ersten Sitzung], 2. 28 Jahre weibl. [refractär 6 Sitzungen],
3. 36 Jahre männl. [36 Sitzungen, I. Grad erreicht in der ersten
Sitzung], 4. 36 Jahre männl. [13 Sitzungen, I. Grad erreicht in der
zweiten Sitzung]) und in noch höherem Grade für die an Melancholie
leidenden Patienten (1. 49 Jahre weibl. [141 Sitzungen, I. Grad er-
reicht in der ersten Sitzung], 2. 46 Jahre weibl. [6 Sitzungen refractär],
3. 58 Jahre weibl. [4 Sitzungen, refractär]) zu gelten.
Es waren dann noch zwei Momente, die schon anderweitig als be-
deutsam für die Hypnotisirbarkeit hervorgehoben sind, meiner Unter-
suchung leicht zugänglich, nämlich der Stand des Patienten und
die Art des Wohnorts — ob Patient Grossstädter oder
Kleinstädter ist. Ich habe in Rücksicht auf den Stand die
Patienten in 3 Klassen eingetheilt: 1. Stand: die bestsituirte Klasse
einschliesslich der Hochgebildeten^ 2. Stand: Mittelstand, 3. Stand:
Arbeiter u. s. w. Dieselben geben folgende Resultate: [Tab. umstehend.]
Aus dieser XabeUe ergiebt sich ein erhebliches Ansteigen der
Hypnotisirbarkeit vom ersten bis zum dritten Stand. Es ist fast über-
flüssig, hinzuzufügen, dass jedenfalls auch hier die Resultate durch die
Art imd Weise beeinflusst werden, wie der Arzt den yerschiedenen
Zeitschrift für Hypnotismus etc. X. 14
198 W. Hilger.
Tabelle X.
1. stand:
2. Stand:
3. Stand:
0 — 12 - 16,67%
1 =* 18 = 18,06%
n = 36 = 60 %
ni — 11 - 15,28%
0= 7= 5,61%
I « 34 = 26,77%
n « 48 = 87,79%
in = 38 = 29,32%
0 — 4 - 2,63»;
1 = 22 = 14,46»;
U= 62 = 40,74«/,
m = 64 r= 42/)6%
72 = 100,00%
m, « 5 = 6,9 %
127 « 99,99%
IHi — 19 = 14,96%
162 = 99^%
nij = 32 = 21,Q3*/,
Ständen gegenüber sein Verfahren und Verbalten zu modificiren yer-
steht. Im Uebrigen bin ich allerdings der Ansicht, dass dieses yer-
schiedene Verhalten der Stände keineswegs durch den Zufall bedingt,
sondern durch das yerschiedene psychische Verhalten derselben be-
gründet ist. Von den Momenten, welche die grössere Hypnotisirbarkeit
der niederen Stände herbeizuführen geeignet sind, möchte ich die
grössere Neigung zu Vertrauen zum Arzt und seinen MaassnahmeD,
80 wie die grössere Tendenz, sich unterzuordnen, als die wesentlichsten
bezeichnen.
Dieses letztere Moment schien mir auch geeignet, eine Steigerang
der Hypnotisirbarkeit der kleinstädtischen Patienten gegenüber den
Grossstädtem zu zeitigen. Meine diesbezügliche Untersuchung ergab
folgende Resultate:
Tabelle XI.
1. Grossstädter. 2. Kleinstädter.
0= 21 = 6,69% 0=2 = B,657o
I = 64 = 20,38% 1=6= 13,89%
U == 124 = 39,49% n = 21 = 58,33%
m = 105 := 33,44% m = 8 = 22,11%
314 1)= 100,00% 36*)= 99,88%
nii — 52 = 16,56% nii = 3 = 8,33%
Es zeigt sich nach dieser Zusamenstellung , dass jene Erwartung
durch die rechnerische Untersuchung keine Bestätigung erhält Viel-
leicht ist dieses rechnerische Besultat in besonderem Maasse dadurch
beeinflusst, dass sich unter den behandelten Kleinstädtern das Lebeos-
alter von 1 — 10 Jahren gar nicht vertreten findet. — Es erübrigt noch
nachzufügen, dass der Ausdruck „vom Lande'' in hiesiger Gegend nicht
') Bei einem Patienten war die Notiz, ob Grosestädter oder Kleinatadter, nicht
vorhanden.
Beitrag zur Frage der Hypnotiiirbarkeit. 199
ganz zatareffend sein würde, da anch die ackerbantreibende Bevölkerong
in mehr oder weniger grossen Ortschaften beisammen wohnt.
Nachdem ich nnn bisher gelegentlich angedeutet habe, welche
psychischen Eigenschaften mir bei den aufgeführten und auf ihre Ein-
wirkung untersuchten Momenten für die Hypnotisirbarkeit entscheidend
erscheinen, möchte ich diese psychischen Eigenschaften im Folgenden
näher besprechen und nach Möglichkeit der Untersuchung unterwerfen.
Von ganz wesentlichem, wohl dem wesentlichsten Einflüsse scheint mir
das Vertrauen zum Arzt resp. der Art der Behandlung zu sein. Um
nur einen Fall aus meiner Beobachtungsreihe herauszugreifen, war bei
einem 58jährigen Patienten nicht nur der Erfolg der ersten Sitzung
ein negativer, sondern PatiODt empüand — wie ich dies letztere
nur noch in einem Falle constatiren konnte — ein grosses Unbehagen
nach dieser ersten Sitzung. Der wegen Schlaflosigkeit meine Hülfe
aufsuchende Patient theilte mir brieflich mit, dass er die Nacht nach
der Sitzung sehr durch das ErinnerungsbUd meines fixirenden Auges
beunruhigt worden sei, schrieb aber gleichzeitig, dass ihn dies nicht
abhalten würde, zu den Sitzungen wieder zu erscheinen. Da es mir
dann gelang, ihn zu beruhigen und mit ihm das befriedigende Abkommen
zu treffen, dass er nicht mehr zu fixiren brauche, so gelangen die
nächsten Versuche ihn zu hypnotisiren yortrefflich und heilten ihn. Es
wird daher meiner Ansicht nach in den meisten Fällen yon Bedeutimg
sein, dass der den Arzt consultirende Patient auch ein gewisses Ver-
trauen zur Art der Behandlung hat, resp. erhält. Ich erfuhr seiner
Zeit Yon einem CoUegen, dass er am Liebsten solche Patienten be-
handle, welche noch nie hypnotisirt worden seien und sich überhaupt
womöglich gar nicht mit der Sache beschäftigt hätten. Es mag dies
in gewissem Sinne richtig sein, jedenfalls werden wir aber, yon Kindern
abgesehen, solche Personen sehr selten finden. Die Regel ist wohl
Torläufig, dass die Patienten mit einem grösseren oder geringeren Vor-
urtheil zu uns kommen. Auch hier möchte ich Beispiele anführen.
So kam eine mit Migräne behaftete Lehrerin nur zu mir, weil ihr
Bector Yon der neuen Methode gehört hatte und ihr dieselbe emp&hl.
Sie kam halb gegen ihren Willen, um ihrem Vorgesetzten zu Willen
zu sein und ihn dadurch für die Befürwortung ihres Abschiedsgesuches
günstiger zu stimmen. Einer anderen Patientin wurde Ton ihrem Arzte
auf die Frage, ob ihr die hypnotische Behandlung helfen könne, der
Bescheid, er glaube zwar selbst nicht an eine Wirksamkeit dieser Be-
handlung, habe aber doch einiges Gute davon gehört. Wenn daher
14*
200 W. Hilger.
das Beispiel des Eingangs erwähnten Patienten auch nicht einzig da-
steht, so werden wir gut thun, das Vertrauen des Patienten daduich
zu sichern und zu befestigen, dass wir ihn über das Wesen der Be-
handlung aufklären. Je mehr dies gelingt und je mehr der Patient
für die Behandlung ein objectives Interesse erlangt, fiir dieselbe be-
geistert wird, um so besser werden die Resultate sich gestalten. Es
ist eins der Verdienste Yon O. Vogt, eine ausgiebige Belehrung des
Patienten als Hülfsmittel systematisch verwendet und in die Hypno-
therapie eingeführt zu haben.
Da es mir in vielen Fällen wohl möglich erscheint, auch ohne be-
sondere Hlüfsmittel von einem Patienten schliesslich zu sagen, ob er
ein geringes Vertrauen zum Arzt und der Art der Behandlung oder
ein genügendes oder ein ausserordentlich gutes Vertrauen hat, so habe
ich diese von mir geschätzten Werthe zur rechnerischen Untersuchung
für die Bestimmung des Eiinflusses auf die Hypnotisirbarkeit verwendet
— Es war mir allerdings bei 56 Patienten nicht möglich, dieselben far
diese Untersuchung zu verwerthen, bei den übrigen 295 Patienten erhielt
ich folgendes Resultat :
Tabelle XH.
I. (geringgter) Grad
des YertraueDs zum
Arzt resp. der Art der
n. Grad:
UI. Grad:
Behandlung:
0 = 13 = 36,11%
0- 5- 2,69%
0—0- 0 %
I = 9 = 25 «/o
I = 39 = 20,96%
1=6= 8,22%
n = 10 = 27,77 «/o
n = 83 = 44,62%
• n — 28 — 38,36%
111= 4 = 11,11 7o
m — 69 - 31,72%
ni = 39 = 53,42%
36 = 99,99%
186 = 99,99%
73 = 100,00%
Uli- 0- 0 %
Uli = 26 = 13,46%
nii = 24 = 32,87%
Ebenso habe ich ein ebenÜEiIls mir sehr wichtig erscheinendes
Moment abgeschätzt ; es ist dies die Eigenschaft, ob ein Patient gewohnt
ist und gelernt hat^ zu gehorchen, sich unterzuordnen. Ich konnte 283
Patienten für eine entsprechende Untersuchung verwerthen.
Tabelle XTTT.
I. (geringster) Grad: 11. Grad: DI. Grad:
0=9 = 19,15% 0 = 4 = 2,96o/o 0 = 0=0, %
I = 15 = 31,91 «/o I =: 23 = 17,04% I = 14 = 13,86%
n = 18 = 38,29% n = 62 = 46,92% U = 36 = 35,64%
m = 5 = 10,64% m = 46 = 34,07% m = 51 = fia,4g%
47 = 99,99% 136 = 99,99% 101 = 99,^%
nii = 1 = 2,13% nii = 23 = 17,04% nix = 24 = 23,76%
Beitrag zur Frage der Hypnotisirbarkeit. 201
Mit diesen beiden Untersuchungen ist die Möglichkeit, einen
rechnerischen Ausdruck zu iGnden für die Bedeutung gewisser psychischer
Eigenschaften für die Hypnotisirbarkeit keineswegs erschöpft. Indessen
mein Material gestattet es mir nicht, retrospectiy die sonstigen noch
wichtigen psychischen Eigenschaften der behandelten Patienten einer
Abschätzung zu unterwerfen. Vielmehr würden dazu bei ferneren
Beobachtungen besondere geeignete üntersuchungsmethoden zu ver-
wenden sein. Diejenigen Eigenschaften, welche dabei noch in Betracht
kamen, wären in erster Linie die Phantasiethätigkeit, die Begeisterungs-
fahigkeit und die geringere oder grössere ConcentrationsfaJiigkeit des
Patienten. Vor Allem yerdienten aber gewisse Messungsmethoden der
Snggestibilität, die yon yerschiedenen Autoren angegeben sind, eine
Nachprüfung an einem grösseren Material, speciell auch mit Rücksicht
auf ihren Werth für die Erkennbarkeit der Hypnotisirbarkeit. Vielleicht
ist es mir fernerhin yergönnt, auch über diese und andere sich noch
ergebende Momente Untersuchungen anzustellen. Dadurch würde eine
annähernd sichere Diagnose der Hypnotisirbarkeit mehr in den Bereich
des Möglichen gerückt und die Psychotherapie an Sicherheit des Vor-
gehens gewinnen. — Enttäuschungen des Arztes und Patienten würden
an Häufigkeit abnehmen. Einen kleinen Beitrag zur Erreichung dieses
Zieles zu liefern war der Zweck der yorliegenden Arbeit.
lieber den Einfluss einiger psychisclier Zustände auf Kniephänomeo
und Musiceltonus.
Von
Oskar Togt.
Mit diesem Artikel beginne ich die Beschreibung einer weiteren
Yersachsreihe, die ebenso wie die über die Beeinflussung der Atfamnog
durch gewisse psychische Zustände, dazu dienen soll, die körperlichen
Rückwirkungen psychischer Zustande zu erforschen.
Ich habe in dieser Versuchsreihe denselben Weg eingesehiageD;
dem Isenberg und ich beim Studium der Athmung gefolgt sind:
d. h. ich habe auch in Bezug auf Kniephänomen und Muskeltonos die
Untersuchung individuenweise YOi^enommen. Die Gründe für
dieses Vorgehen sind Ton uns hinreichend klargelegt, so dass ich hier
nur darauf^) zu yerweisen brauche.
Als Versuchsperson für die Versuche, welche ich in diesem Artikel
schildern werde, hat mir meine Frau, Dr. med. Oßcile Vogt, gedient
Als Registrirapparat hat mir der Apparat gedient, den Sommer^
zur dreidimensionalen Analyse der Beinbewegungen construirt hat.
Dabei wurde nur die Hebung und Senkung des Beines durch die Lenk-
stange l registrirt, während die beiden anderen Dimensionen unberück-
sichtigt blieben. Zum Auslösen des Kniephänomens diente eben&Us
der Apparat, den Sommer zu diesem Zweck construirt hat. *)
*) Isenberg und Vogt, Zur EenntnisB des Einflusses einiger psychischer
Zustände auf die Athmung. Diese Ztschr., Bd. X, pagf. 131.
*) Sommer, Lehrbuch der psychopathologischen Untersuchungs-Methoden,
pag. 186 ff.
') Sommer, loc. citat., pag. 26.
Ueber den EinfloBS einiger psychisoher Zustände auf Kniephänomen etc. 203
Zum specieUen Studium des Muskeltonus ist der benutzte Registrir-
apparat nicht besonders geeignet, da er die Hebungen und Senkungen
des Beines in verkleinertem Maasse wiedergiebt und daher feinere Schwan-
kungen nicht genügend hervortreten lässt. In meinem weiteren Studium
des Muskeltonus habe ich mich daher anderer Apparate bedient^ z. B.
des So mm er 'sehen Begistrirapparates für Zitterbewegungen der Hand.
Auf diese Versuche gehe ich aber in den folgenden Ausführungen
nicht ein, da ich in diesen nur den Muskeltonus soweit berücksichtigen
werde, als er für das Eniephänomen von Bedeutung ist, d. h. als er
•sich in Aenderungen der Spannungszustände im Musculus quadriceps
und vielleicht der betrefifenden Beugemuskulatur kundgiebt.
Bezüglich der Abbildungen muss ich Folgendes bemerken :
Alle Curven müssen von links nach rechts gelesen werden.
Alle Figuren, welche das Eniephänomen abbilden, enthalten in einer
und derselben Figur niemals die gesammte Zahl der ausgelösten Ejüe-
phänomene abgebildet, aber stets nur Eniephänomene , die in der
gleichen Versuchsreihe und ohne Aenderung der Stärke des auslösenden
Reizes erzielt wurden, um Platz zu sparen, sind die Intervalle zwischen
den einzelnen Kniephänomenen verkürzt. Ein kleiner senkrechter
Strich auf der Niveaulinie bedeutet eine Aenderung des psychischen
Zustandes.
In Fig. 6 bedeutet die Längslinie mit den regelmässigen senk-
rechten Strichen die Zeitregistrirung. Zwischen je zwei senkrechten
Strichen liegt eine Zeit von 6 '*. Den Curven der Eidephänomene
liegt dieselbe Geschwindigkeit zu Grunde. Die arabischen Ziffern be-
ziehen sich stets auf die über der Ziffer befindliche Curve. Der kleine
senkrechte Strich rechts in den Curven 2 — 6, 6 und 7 bedeutet das
Aufhören des Normalzustandes und das Eintreten des betreffenden
psychischen Zustandes. In Curve 3 bedeutet der senkrechte Strich
links das Aufhören der Traurigkeit. Ein Steigen der Üurve in dieser
iFigor bedeutet eine Hebung des äquilibrirten Unterschenkels: also
eine Zunahme des Tonus im Musculus quadriceps. Ein Senken der
Curve entspricht einer Senkung des Unterschenkels. Wie weit diese
Senkung des Unterschenkels auf eine Contraction der Beugemuskel
oder nur auf eine Abnahme des Tonus der Streckmuskulatur zurück-
zuführen ist, geht aus der Yersuchsanordnung nicht hervor.
Die Versuchsanordnung selbst war natürlich eine unwissentliche. Nicht
nur dass die Versuchsperson nicht nur nicht über die Resultate aufgeklärt
wurde : sie hat sich auch stets Mühe gegeben^ den das Beobachtungsobject
204 Oskar Vogt.
darstellenden motorischen Erscheinungen keine Aufmerksamkeit zuzu-
wenden. Natürlich gelingt 6^ nicht absolut. Dass aber, trotzdem
die Veränderungen des Kniephänomens und des Muskeltonus nicht etwa
— auch nur teilweise — autosuggestiy bedingt sind, geht aus zwei That-
sachen hervor:
1. aus derjenigen; dass — wie weitere Mittheilungen zeigen werden —
auch die anderen Versuchspersonen trotz gewisser individueller Eigen-
thümlichkeiten die gleichen Veränderungen zeigen;
2. aus derjenigen des Parallelismus zwischen Kniephänomen und
Muskeltonus: einer Thatsache, auf die ich noch eingehend zariick-
kommen werde.
Im Folgenden sind nur die ohne Weiteres erkennbaren Aendenmgen
des Kniephänomens und des Muskeltonus beschrieben. Auf die Dar-
stellung solcher, die sich erst aus dem genauen Ausmessen der Carren
vielleicht noch für diese Versuchsperson ergeben, bei anderen Versuchs-
personen aber deutlicher hervortreten, ist vorläufig verzichtet worden.
Es wird die Aufgabe weiterer Mittheilungen sein, zu zeigen, wie
weit das Kniephänomen und der Muskeltonus uns als eine noch feinere
Ausdrucksweise psychischer Zustände, sowie zur Aufstellung gleiche
individuelle Beactionen zeigender Individuengruppen dienen können.
A. Schildernng der Versuche.
L Das Kniephänomen und seine Veränderungen.
1. Das Kniephänomen im Normalzustande.
Abbildungen des Kniephänomens im Normalzustande, d. h. dem
gewöhnlichen Wachsein bei Abwesenheit irgend einer intensiveren Be-
wusstseinserscheinung, finden wir in den Figuren 1 — 5 links von N.
In den in Fig. 1, 2 und 4 wiedergegebenen Versuchen haben wir den
gleichen Beiz, in dem der Fig. 3 einen etwas stärkeren, in dem der
Flg. 6 einen wesentlich stärkeren Reiz einwirken lassen. Die Ver-
schiedenheit in der Intensität des Reizes hat einen verschieden hohen
Ausschlag veranlasst. Aber die Form der entstandenen Curve ist
stets die gleiche geblieben. Sie zeigt einen durchaus normalen Tjrpns
und nichts von den Abnormitäten, die S o mm e r als abnorme oder patho-
logische Erscheinungen beschreibt. ^) Nach dem ersten starken Aus-
') Sommer, loc. cit., pag. 29ff.
Ueber den Einflass einiger paychiflcher Zustände auf Kniephänomen etc. 805
schlag zeigt die Gurve noch eine bis zwei kleine INachschwingungen^ um
dann wieder das ursprüngliche Niveau zu erreichen. Schwankungen
des ur8|)rünglichen Niveaus kamen bei richtiger Aequilibrirung
des Berns nicht zur Beobachtung.
In Bezug auf den Verlauf von Reihen zeigen Fig. 4 und
Fig. 5 in bestimmten Grenzen eine y^Verschiedenheit des Ausschlags
bei gleichem Beiz". ^) Irgend eine Gesetzmässigkeit habe ich in Bezug
auf diese Intensitätsschwankungen nicht beobachten können.
2. Das Kniephänomen bei Heiterkeit.
Curven des Ejüephänomens bei Heiterkeit sind abgebildet in
Fig. 1 eine Curve rechts von T, Fig. 2 zwei Curven links von H
und in Fig. 3 vier Curven links von H.
Im Vergleich mit den Curven des Kniephänomens des Normal-
zustandes finden wir zwei Aenderungen:
1. in Bezug auf die Stärke des ersten Ausschlags,
2. in Bezug auf die Nachschwingungen.
In Fig. 1 und 2 sehen wir die sehr starke Zunahme des ersten
Ausschlags. Wir haben hier die stärkste Zunahme vor uns, die ich
überhaupt in Folge Aenderung des Bewusstseinszustandes habe be-
obachten können.
In Bezug auf die Nachschwingungen zeigt die Curve der Fig. 1
eine einfache Zunahme der Intensität und der 2iahl. Verglichen mit
einer Normalcurve könnte uns diese Gtesamtcurve einfach als eine
vergrösserte Normalcurve erscheinen, die ihrer Form nach ganz im
Bahmen des Normaltypus bleibt. Die beiden Curven der Figur 2
zeigen aber jene Veränderung der Nachschwingungen, die Sommer
als „Anschwellen einer nach der ersten Hebung liegenden Hebung über
die Höhe der vorhergehenden" beschrieben hat. ^
Fig. 3 lehrt uns weiter, dass diese Aenderungen der Nach-
schwingungen sogar statthaben kann ohne Steigerung des ersten Aus-
schlags. Die letzte Curve der Fig. 3 endlich zeigt, wie diese Steigerung
der Nachschwingungen die Form eines wirklichen Clonus annehmen kann.
Die Heiterkeit selbst wurde bei der Versuchsperson durch das
Erzählen von Witzen u. dgl. hervorgerufen.
^) Sommer, loc. cit., pag. 29.
*) Sommer, loc cit^ pag. 47.
206
Oskar Yogi.
3. Das Eniephäjaomen bei Tianiigkeit.
Ouryen des Kniephänomens bei Traurigkeit jOnden sich in Fig. 1
und 2 zwischen T. und N. Fig. 2 zeigt drei Curyen. "Wir sehen, dass
der erste Ausschlag bereits sehr klein geworden ist und dass yon Nach-
i
1 r
cT
L
Fig. 1.
schwiQguDgen nur in zwei Fallen noch die enbd Senkung ezistiiL b
der Fig. 1 haben die Beize 1, 3 und 4 überhaupt keinen Baflex herror-
gerufen^ bei 2 haben wir einen relativ sehr starken Ausschlag ohne
irgend welche Nachschwingung.
Das Kniephänomen bei Traurigkeit zeigt einen nicht zu Terkeoneo-
den Gegensatz zu dem bei Heiterkeit. Hier haben wir Steigtrnog des
Ueber den Einfluss einiger payeliiflclier Zuatande auf Eniephänomen etc. §ffj
ersten Ansschlags und Vennehrang der Nachiohwingangen, dort haben
wir eine Verminderang des ersten Ausschlags und eine Abnahme der
Nachschwingungen.
Die Traurigkeit selbst rief sich die Versuchsperson durch willkttr-
liebes Sichyorstellen trauriger Situationen hervor.
Figr. 2.
4« Bas Eniephänomen bei Einwirkung einer Salzlösung.
IMe Yersuchfl^rson behielt während des V^suchs eine beträcht-
liche Kenge concentrirter Salzlösung im Munde. Die Geschmacks-
empfindung war der Versuchsperson höchst unangenehm; sie wirkte
aber gleichzeitig — nach eigener Angabe der Versuchsperson — stark
erregend auf sie ein.
208
Oskar Vogt.
Eine Abbildung von 3 Curven, die wir nnter diesen Versachs-
bedingnngen erhalten haben^ findet sich in Fig. 4 links von ,,Salzlö8iuig'^
Wir constatiren als einzige Aenderung eine Steigerang des ersten Aus-
schlags. Im Vergleich zu derjenigen Steigerung dieses AosschlagB^
welche wir unter dem Einfluss der Heiterkeit beobachteten, können
wir dieselbe als eine mittelstarke bezeichnen.
kV^AlVI
Fig. 3.
6. Das Kniephänomen bei Einwirkung einer Zuckerlösung.
Die Versuchsperson behält während des Versucbs eine ZuckerlösnBg
im Munde. Die Versuchsperson beobachtete gleichzeitig in sich ein
angenehmes Moment und eine leichte Erregung.
2 Ourven hierher gehöriger Versuche sind in Fig. 3 links ton
„Zuckerlösung'' abgebildet. Wir constatiren als einzige Aenderung im
Vergleich zur Normalcurve eine leichte Zunahme des ersten Ausschbes*
AehnUche Curven beobachtete jch unter Einwirkung von Vanille-
CrSme und süss-sauren Bonbons. Auch in diesen Fällen gab die Ver-
suchsperson an, neben einem angenehmen Moment eine leichte Erregnng
zu beobachten.
yjt/KjAj0bö4^
- db(jücKji^^^^^^^^
i^alģ6^^4Ai^
210 Oskar Vogt.
6. Das Eniephänomen bei Schmerz.
Der nicht sehr intensive Schmerz wurde durch einen electrischen
Hautreiz herrorgerufen. Die Versuchsperson beobachtete ein un-
angenehmes Moment und eine mittelstarke Erregung.
Die beobachteten Curven glichen denen, die wir bei Einwirkimg
der Salzlösung erhalten haben.
7. Das Eniephänomen bei angenehmem Sichgehenlassen.
Die Versuchsperson gab sich einem angenehmen, behaglichen Sich-
gehenlassen hin.
In diesen F&llen beobachteten wir eine deutliche Verminderong
der Höhe des ersten Ausschlags.
8. Das Eniephänomen bei hypnotischen Zuständen.
Die Versuchsperson wurde theils in einen diffusen hypnotischen
Zustand, theils in denjenigen des partiellen systematischen Wacbseins
versetzt.
In beiden Fällen zeigt sich eine Verminderung der Intensität des
Eniephänomens. In Fig. 6 zwischen H und C finden wir eine solche
Abnahme während des partiellen systematischen Wachseins abgebildet
9. Das Eniephänomen bei willkürlicher Erwartung.
Die Versuchsperson hatte bei „1'^ ein „2^' zu erwarten.
Der Einfluss dieses willkürlichen Erwartens auf das E^niephänomeD
war gering. Immerhin ging eine geringe Abnahme der Intensität des
Eniephänomens aus den Versuchen hervor.
10. Das Eniephänomen während intellectueller Arbeit
Die Versuchsperson hat zwei verschiedene intellectuelle Arbeiten
verrichtet. Einmal hat sie complicirte Multiplicationen ausgeführt. Das
andere Mal hatte die Versuchsperson unmittelbar vorher auf ein ihr
zugerufenes Wort mit dem ersten, das ihr in den Sinn kam, geantwortet
und suchte jetzt durch retrospective Selbstbeobachtung den Mechanismas
dieser Association aufzudecken. In beiden Versuchsreihen wurde das
Resultat gamicht genannt, um jede Aengstlichkeit bezüglich der Bich-
tigkeit des Resultats etc. zu vermeiden. Die Versuchq>erson gab an,
den Eindruck einer intensiveren geistigen Arbeit bei der Selbstbeobachtang
als beim Rechnen zu haben.
Bei beiden Versuchsreihen zeigte sich eine starke Abnahme des
ersten Ausschlags. Bei der Selbstbeobachtung war sie indess grosser
>
fj^
212 Oskar Vogt.
als beim Brechnen. Corven, die sich bei der Selbstbeobachtung ergaben,
befinden sich links von C in Fig. 6.
11. Das Kniephänomen während einer Muskelarbeit.
Die Versuchsperson hatte bei ,,1^' den Jendrassik'schen^) Hand-
griff auszuführen. Bei ,,2'^ wurde dieser Handgriff unterbrochen.
Zwischen ,,1'^ und ,,2^^ zeigte das Eniephänomen eine starke
Steigerung des 1. Ausschlags. Wir finden entsprechende Abbildmigen
Fig. 4 links von ,,Jendrassik^' und Fig. 6 Curre rechts. Der Reiz,
der zur Auslösung des Reflexes angewendet wurde, war in den beiden
abgebildeten Fällen der gleiche.
12. Das Eniephänomen bei der willkürlichen Unterbrechung einer
Willenshandlung.
Es wurde das Eniephänomen beobachtet, welches sich zeigte, wenn
der Beiz gerade in dem Moment stattfand, wo die Versuchsperson auf
ein gegebenes Zeichen entweder die Selbstbeobachtung oder den
Jendrassik 'sehen Handgriff unterbrach.
In beiden Fällen wurde eine starke Zunahme des ersten Aus-
schlags beobachtet. Da, wo es sich um eine Unterbrechung des
Jendrassik 'sehen Handgriffs handelte, war diese Zunahme noch be-
trächtlicher als diejenige, welche sich während jenes Handgriffs zeigte.
Unter gewissen Yersuchsbedingungen, auf die ich in einer zweiten
Mittheilung erst näher eingehen möchte, kam bei dieser willkürlichen
Unterbrechung einer Willensbandlung — wie in schwächerem Grade
während des Jendrassik' sehen Handgriffs — ein Phänomen znr
Beobachtung, welches Sommer bereits beschrieben hat: das Phänomen
einer Niveausteigerung am Schluss der Curve. Ich möchte aber als
individuell-psychologisch wichtig hervorheben^ dass dieses Phänomen bei
der Versuchsperson im Vergleich mit anderen Versuchspersonen sehr
gering ausgeprägt war.
n. Der Muskeltonus und seine Veränderungen.
Wir haben den Muskeltonus in denselben psychischen Be?rasst-
seinszuständen studirt, wie das Kniephänomen. Wir werden dement-
sprechend auf eine Schilderung der Versuchsbedingungen im Folgenden
verzichten können.
*) Vgl. Jendrassik, Zur üntersucinmgsmethode des Kniephänomeos.
Neurol. Gentralbl. II, pag. 413. f
üeber den EinflusB einiger psychischer Zustände auf Kniephänomen etc. 213
1. Der Moskeltonus im Normalzustand.
Im Normalzustand beobachtet man keine Schwankungen des
Muskeltonus.
Fig. 6 Nr. 1 giebt eine Cur?e des Muskeltonus im Normalzustand
wieder. Die Curre stellt eine Gerade dar, die ganz parallel der
Längslinie der Zeitbestimmung verläuft.
2. Der Muskeltonus bei Heiterkeit.
Wir finden eine Curve in Fig. 6 Nr. 2. Wir sehen ein schub-
weises Steigen des Niveaus, wie es in dieser Stärke einzig dasteht.
3. Der Muskeltonus bei Traurigkeit.
Wie Fig. 6 Nr. 3 zeigt, tällt die Curve des Muskeltonus bei
Traurigkeit in einzig dastehender Stärke. Der kleine senkrechte Strich
links bedeutet — wie schon oben gesagt — ein Aufhören der Traurig-
keit. Wir sehen denn auch links von diesem Strich ein langsames
Ansteigen der Curve.
4. Der Muskeltonus bei Einwirkung einer Salzlösung.
Wie Fig. 6 Nr. 5 lehrt, beobachten wir in diesem Fall ein mittel-
starkes Ansteigen der Tonuscurve.
6. Der Muskel tonus bei Einwirkung einer Zuckerlösung.
Fig. 6 Nr. 4 stellt eine solche Curve dar, welche die Aenderung
des Muskeltonus deutlicher zeigt als manche andere. Wir sehen kurze
Zeit nach Einwirkung der Zuckerlösung ein schwaches ruckförmiges
Ansteigen der Curve, die dann ganz allmählich — parallel der Ab-
nahme der Geschmacksempfindung — sich wieder senkt.
6. Der Muskeltonus bei Schmerz.
Wir beobachteten stets ein Ansteigen der Curve.
7. Der Muskeltonus bei angenehmem Sichgehenlassen.
Die Curve fallt leicht ab.
8. Der Muskeltonus in hypnotischen Zuständen.
Wie aus Fig. 6 Nr. 8 hervorgeht, senkt sich die Curve.
9. Der Muskeltonus bei willkürlicher Erwartung.
Eine regelmässige Aenderung des Muskeltonus konnte nicht con-
fltatirt werden.
Zeitschrift für Hsrpnotismas. X. 15
Ueber den Einfluss einiger psychischer Zustände auf Kniephänomen etc. 215
10. Der Muskeltonus während intellectaeller Arbeit.
Die Curve senkt sich, wie Fig. 6 Nr. 7 zeigt.
11. Der Muskeltonus während einer Muskelarbeit.
In der Fig. 6 Nr. 6 bedeutet „I" jedes Mal den Beginn eines Jen-
drassik'schen Handgriffes. Wir sehen jedes Mal bald nachher eine Steige-
rung der Curve. Ich will aber gleich bemerken, dass diese Steigerung
nicht immer so deutlich und regelmässig hervortritt wie in der abge-
bildeten Curve.
12. Der Muskeltonus während einer willkürlichen Unterbrechung einer
Willenshandlung.
In der Fig. 6 Nr. 6 bedeutet „11^ jedes Mal das willkürliche
Unterbrechen eines Jendrassik 'sehen Handgriffes. Wir sehen hier jedes
Mal bald nachher eine Steigerung der Curve. Das Hervortreten einer
solchen Steigerung setzt ein gewisses plöt2;liches Unterlassen des Hand-
griffes voraus* Die Steigerung ist des Weiteren um so intensiver als
die Unterbrechung eine plötzliche ist.
B. Einige Ergebnisse dieser Tersuche.
Entsprechend der Thatsache, dass wir das Eingehen auf gewisse
Details bis zur Schilderung weiterer Versuchsreihen verschoben haben,
werden wir auch hier nur solche Ergebnisse berühren, die sofort in
die Augen springen. Wir werden weiter daran sich anknüpfende
Fragen, ^) als dem Eahmen dieser Mittheilung nicht entsprechend, eben so
sehr vermeiden wie das Eingehen auf die Literatur. Es wird das die
Aufgabe einer grösseren Arbeit sein.
Wir können solche Ergebnisse allgemeinerer und speciel-
lerer Natur unterscheiden.
I. Allgemeinere Ergebnisse.
Unter den allgemeineren Ergebnissen wollen wir hier nur auf die
Beziehungen zwischen Eniephänomen und Muskeltonus
hinweisen.
*) Einzelne Punkte habe ich kurz erörtert in 0. Vogt, Sur la nature et la
genese de l'hysterie. Internat, medicin. Congress, Sect. f. Psychiatr. Paris 1900,
0. Vogt, Gontribution ä la psychologie des sentiments und 0. Vogt, Discussion
zum Vortrag des Herrn Prof. Sommer: beides 4. internat. Psychologencongress.
Paris 1900.
15*
216 Oflkar Vogt.
In einer bisher noch nie so feinen Weise ist die Abhängigkeit
der Stärke des Kniephänomens vom Muskeltonus der Streckmuskulatar
gezeigt. Wir haben nicht nur im Allgemeinen eine Zunahme der
Intensität des Ejiiephänomens, wo wir eine Zunahme des Muskeltoniis
beobachteten, und umgekehrt eine Verminderung des KniephänomenB
bei Abnahme des Muskeltonus, sondern die Grade der Zu- und Ab-
nahme stehen ebenfalls in durchaus proportionalem Verhältniss. Wir
haben die stärkste Intensitätszunahme des Kniephänomens bei der
Heiterkeit gefunden und wir beobachten ebenfalls unter dem Einfloss
der Heiterkeit die stärkste Vermehrung des Muskeltonus. Die Salz-
lösung ruft eine mittelstarke Zunahme des Kniephänomens hervor; der
Muskeltonus zeigt ebenfalls eine mittelstarke Zunahme unter den
gleichen Bedingungen. Die Zuckerlösung ruft massige Steigerung des
Kniephänomens ebensowohl wie des Muskeltonus hervor. Die willkür-
liche Erwartung vermindert in sehr geringem Grade das Kniephänomen.
Ein Einfiuss auf den Muskeltonus ist bei der — ja nicht sehr günstigen
— Versuchsanordnung nicht erkennbar. Andererseits haben wir mittel-
starke Verminderungen des Elniephänomens bei mittelstarker Abnahme
des Muskeltonus bei Hypnose und geistiger Concentration und stärkste
Abnahme beider Erscheinungen bei Traurigkeit. Wir können also in
einer bisher noch nicht möglich gewesenen Feinheit eine Proportionalitat
zwischen der Stärke des Kniephänomens und der des Muskeltonus der
Streckmuskulatur nachweisen.
Aber ein Vergleich der beiden Versuchsreihen zeigt uns noch ein
anderes wichtiges Phänomen. Die Zunahme oder Abnahme des Muskel-
tonus ist verhältnissmässig gering im Vergleich zu den betreffenden
Differenzen beim Kniephänomen. Fig. 6 Nr. 6 zeigt die stärksten Zu-
nahmen des Muskeltonus , die wir beim Jendrassik'schen Handgriff
beobachtet haben. Und doch beträgt das jedesmalige Steigen der Gurre
nur wenige Millimeter. Ein unter denselben Bedingungen ausgelöstes
Kniephäi^omen zeigt aber eine Steigerung von ebensovielen Centimetem.
Und das ist eine auch für die anderen psychischen Zustände characte-
ristisches Phänomen. Wie können wir dasselbe erklären?
Den Schlüssel zu einer Erklärung scheint mir die Curve links in
Fig. 7 zu geben. Die Curve rechts ist eine derjenigen, die während
des Jendrassik'schen Handgriffes zur Beobachtung kamen. Die
Curve links wurde während des nächsten Jendrassik'schen Hand-
griffs aufgenommen. Die Versuchsperson unterbrach aber dieses Mal
den Handgriff im Moment, wo der Hammer auf das Knie schlag.
Ueber den Einflue» einiger psychischer Zustände auf Kniephänomen etc. 217
Also, um die Curve mit Fig. 6 Nr. 6 vergleichen zu kömaeu, müssten
wir rechts — dicht vor Beginn der Curve „II" setzen. Wir sehen
nun zunächst einen normalen Verlauf der Curve, bis diese dann bei
A von Neuem plötzlich wieder stark ansteigt. Bei A ist der Zeitpunkt
erreicht, wo entsprechend Fig. 6 Nr. 6 die Curve um einige Millimeter
Fig. 7.
ansteigen würde. Aber wir haben hier einen Anstieg von mehreren
Centimetem. Ich habe diesen Versuch später mit dem gleichen Er-
folg wiederholt. Ich glaube daher die starke Steigerung darauf zurück-
führen zu dürfen, dass das Bein zur Zeit der Steigerung des Muskel-
tonus in Actio n war. Die nächstliegendste Erklärung dieser Steigerung
218 Oskar Vogt.
wäre dann die, dass bei einer motorischen Entladung, die bei Ruhig-
stellung des Körpers sich über diesen gleichmässig vertheilt, ein grösserer
Bruchtheil in ein zur Zeit thätiges Organ abfliesst.
IL Specielle Ergebnisse.
An speciellen Ergebnissen seien hier nur kurz zwei charac-
terisirt.
1. Als Vermittler bei der motorischen Rückwirkung der Heiterkeit,
der Traurigkeit, der Salzlösung, der Zuckerlösung, des Schmerzes und
der angenehmen Ruhe dürfen wir wohl die betreffenden emotionellen
Momente in Anspruch nehmen. Wir glauben uns dazu berechtigt, weil
der specielle intellectuelle Inhalt durchaus bedeutungslos ist. Wenn
dem aber so ist, so finden wir, dass
a) die Wirkung der Heiterkeit derjenigen der Traurigkeit entgegen-
gesetzt ist,
b) diejenige des Unangenehmen nur der angenehmen Ruhe ent-
gegengesetzt ist,
c) diejenige des Unangenehmen derjenigen der Heiterkeit und die-
jenige der angenehmen Ruhe derjenigen der Traurigkeit ähnelt.
2. Die Versuche haben femer einen Gegensatz zwischen der
Wirkung körperlicher und geistiger Arbeit gezeigt. Erst in einer
weiteren Mittheilung werde ich darauf eingehen, wie weit sich von diesen
beiden willkürlichen Bethätigungen die des Beginns und die der will-
kürlichen Unterbrechung einer Thätigkeit in ihrer Rückwirkung unter-
scheiden.
Zum Schluss möchte ich nur noch darauf aufmerksam machen,
dass das Neue meiner Befunde wesentlich der Verbesserung der Me-
thode zuzuschreiben ist. Auf diese Weise kommt Herrn Professor
Sommer ein wesentliches Verdienst am Resultat dieser, wie der fol-
genden Untersuchungen zu.
Zur Frage der neurologischen (hirnanatomischen und psycho-
iogischen) Centraistationen.
Von
Dr. Aug. Forel^
Tormalfl Professor der Psychiatrie in Zürich.
Die von dem verdienstvollen Bedacteur dieser Zeitschrift in Heft 3
des Bandes X angeregte Frage kommt nicht nur einem gewaltigen
Bedürfniss des Medicinstndinms^ sondern einem alten Traum entgegen,
den ich seit bald 30 Jahren mit mir führe, ohne je im Stande gewesen
zu sein, etwas für seine Verwirklichung zu thun. Dieser Traum war
ungefähr folgender: „Die Psychologie muss, als Erscheinung des Gehim-
lebens, mit dem Gehirn und seiner Function zusammen studirt werden.
Daraus kann und muss Grosses für unsere Erkenntniss folgen. In
der That! Was ist eine Seele ohne Gehirn? Was ist femer ein Gehim-
studium ohne Yerständniss für den Zweck seines Baues? Was ist
endlich ein Medicinstudium ohne Yerständniss für den Bau und die
Function desjenigen Organes, das im Menschen den Menschen aus-
macht xmd alles Andere leitet, indem es nicht nur von allen Funkten
des Organismus Nachricht erhält, sondern auch durch die Bewegungs-
und Secretionsnerven alles im Körper regulirt und coordinirt? Sie
kann nur Stückwerk sein, denn es fehlt ihr der Kopf; sagen wir es
rund heraus.^'
Herr Dr. Vogt hat den Finger auf den wunden Punkt gelegt.
Alte Gewohnheiten und Routine beharren krampfhaft in ihrem alten
Geleise, d. h. sie schwören auf Facheintheilungen, die den heutigen
Erfordernissen unserer Erkenntniss nicht mehr entsprechen.
Weil z. B. die Verwerthung von Thierexperimenten zur Aufklärung
220 A. Forel.
des Hirnbaues nicht „fachanatomisch" nnd nicht ,,fachphy8iologisch^^
ist, pflegen werth vollste methodische Studien dieser Art von Fach-
anatomen und Fachphysiologen yernachlässigt, manchmal sogar
ganz ignorirt zu werden. WeU combinirte und vergleichende Studien
dieser Art oder Experimente mit pathologischen Gehirnen nicht „fach-
psychologisch'' sind; werden sie auch von den Psychologen bei Seite
gelassen u. s. f.
So mussten die bisher erzielten Fortschritte in genannten Gebieten
mühselig und fragmentarisch, autodidactisch, meist in Irrenanstalten,
von einzelnen Forschem errungen werden. Diese Fortschritte sind
zwar recht erfreulich. Sie haben uns ganz neue Horizonte über das
Gehimleben des Menschen eröünet. Sie sind von enormer zukünftiger
Bedeutung. Aber die officielle Facheintheilung unserer Hochschuleo
gewährt ihnen noch keinen Platz. Nur so nebenbei hört derjenige
Student, der etwas lernbegieriger ist als der grosse Haufen seiner
Collegen, irgend etwas Fragmentarisches darüber, bei einem Privat-
docenteo. und so fahren unsere Aerzte fort mit Bezug auf das Hirn-
leben des Menschen in einer ziemlich krassen Ignoranz erzogen zu
werden, einer Unwissenheit, die ihnen auf Schritt und Tritt in ihrer
Praxis Lachgeht. Das ist eine schwere Lücke.
Ich musste leider bald einsehen, dass der Boden unserer kleinen
stets mit Finanznoth kämpfenden schweizerischen kantonalen Hoch-
schulen zum Beginn einer solchen Reform der denkbar ungünstigste
war. Ich habe vergebens versucht, ein Obligatorium der Psychologie
für die Medicinstudenten vorzuschlagen. Und wäre es mir gelungen,
so hätte der „Fachpsychologe'S wie Herr Dr. Vogt ganz richtig be-
tont, eine für Mediciner unverdauliche Psychologie gelehrt.
Mit der Erreichung des Obligatoriums der Psychiatrie musste ich
mich sehr zufrieden geben. Ich habe mich bemüht durch Separatcune
über Gehimanatomie und Hypnotismus (die Gehimanatomie überliess
ich später an Coli. v. M o n a k o w , als er sich als Privatdocent nieder-
liess), sowie besonders noch dadurch, dass ich in der ersten Hälfte
meiner theoretischen Psychiatrie Vorlesung über Psychologie las, die
Lücke einigermaassen auszufüllen. Was kann aber darin ein geplagter
Irrenanstaltsdirector und Psychiatrieprofessor noch leisten? Wie viel
Kraft bleibt ihm für eine solche Biesenaufgabe übrig? Und dennoch
habe ich davon recht gute und ermuthigende Früchte gesehen, nnd
haben mir dankbare spontane Bezeugungen früherer Schüler, die später
gereifte practische Aerzte geworden waren, die Ueberzeugung gegeben,
Zar Frage der neurologifchen (hirnAnatomifchen u. psychol.) Centralitationen. 221
dass ich auf dem rechten Wege, wenn anch mit total ungenügender
AusrüstuDg, stand.
Dieser persönliche Excurs wird dem Leser begreiflich machen,
wie lebhaft ich die Anregung des Herrn Dr. Vogt begnissen muss.
Und ich kann dies, nach endgültig abgeschlossener academischer Car-
ridre offen äussern, da mir nun dabei kein persönlicher Hintergedanke
unterschoben werden kann.
Nun liegt es klar auf der BLand, dass nur grosse Universitäten,
die mit den nöthigen Mitteln und Kräften ausgerüstet sind, den Anfang
mit der Sache machen können. Dieselben haben aber auch deshalb
die Pflicht, es zu thun.
Es ist eine grossartige und zukunftsreiche Aufgabe, Centralstationen
für das tiefere und allseitige Studium des menschlichen Seelenorgans
and der tausendfältigen Aeusserungen seines Lebens zu errichten.
Hier sollen die kleinlichen Facheintheilungen aufhören^), damit
der ganze stolze Bau und seine Dynamik endlich einmal einheitlich
studirt und verstanden wird. Es wäre dies eine würdige Krönung
mühseliger Arbeiten und Fortschritte des XIX. Jahrhunderts, mit
Bezug auf die Erkenntniss des Höchsten im Menschen selbst.
Uebrigens ist der Gedanke nicht neu. Unter seinen älteren Ver-
fechtern möchte ich jedoch nur den einen Karl Friedrich Bur-
dach, den genialen deutschen Erforscher des Gehirns und seines
Lebens nennen (Karl Fr. Burdach, Vom Baue und Leben des Gehirnes.
Drei Bände. Leipzig 1826), den ich in der 1. Nummer des L Bandes
dieser Zeitschrift, 1892 bereits angeführt habe. Wie würde er jubeln,
wenn er den heutigen Stand unserer Gehirnkenntnisse im Vergleich
mit den armseligen Methoden und Resultaten sehen könnte, die damals
seinem Scharfblick und seiner genialen Combinationsgabe allein zu
Gebote standen! Aber wie würde er sich zugleich wundern über den
Aschenbrödelplatz, den diese Resultate im heutigen Hochschulstudium
noch einnehmen.
Von den relativ Moderneren möchte ich Griesinger und Mey-
nert erwähnen, von denen, jeder in seiner Art, die gewünschte Einheit
zu erreichen suchte, Griesinger freilich ohne Spur von anatomischen
*) Einen „Facli"-Collegen, der die Neurologie von der Psychiatrie mit aller
Gewalt völlig trennen wollte, erlaubte ich mich einst zu fragen, an welcher Stelle
des Hirnstammes er den Schnitt zwischen den beiden Disciplinen auszuführen be-
absichtige! Im Licht dieser Frage oder ähnlicher Fragen erscheinen mir alle die
Sonderbestrebangen im Gebiet des Studiums des Gehirnes und seines Lebens.
222 ^- Forel. Zur Fragte der neurolog. (hirnanat. u. psychol.) GentralBtationen.
Eenntnissen, aber immerhin dadurch, dass er die Neurologie mit der
Psychiatrie verband.
Möge sich nun bald in maassgebenden Kreisen eine klare Einsicht
in diese so wichtige Frage bilden und eine positive practische Lösung
derselben herbeiführen. Wichtig ist sie in vielfacher Hinsicht
Die vertiefte klarere Eenntniss unseres Himlebens wird, wie Herr
Dr. Vogt schon sagte, zu einer gesunden Nerven- und Gehimhygiene,
zur Verhütung und Heilung von Nerven- und Geistesstörungen, zur
Aufklärung über das Wesen vieler socialen Schäden (Verbrechertham,
Alcoholismus etc.), zum Verständniss des gerade in diesem Gebiet so
hochwichtigen Wesens der Vererbung mächtig beitragen, zugleich aber
auch zu einer Bildungstätte für Philosophen, Psychologen, Anthro-
pologen, sogar auch für wissbegierige Juristen und Theologen werden.
Sie wird vor Allem den Aerzten das unentbehrliche Verständniss für
eine Unzahl Verrichtungen und Störungen des menschlichen Organismas
geben, welche direct oder indirect von der Functionirung des mächtigen
Kraftaccumulators und -Regulators, den wir im Kopfe tragen, unseres
Gehirnes, d. h. des Organes unseres Denkens, Fühlens und Wolleos,
abhängen.
Ein Fall von Aphonie nach Laryngofissur geheilt durch syste-
matische Sprachiibungen unter Anwendung der Hypnose.
Von
Dr. M, Sänger, Specialarzt für Laryngologie und Dr. W, Hilger.
I. (Dr. M. Sänge r.)
Die zur Zeit achtjährige Anna K., welche bereits seit etwa 10 Monaten heiser
war, und seit einigen Wochen an zunehmender Athemnoth litt, wurde mir am
27. Februar 1895 in höchst dyspnoischem Zustande in die Sprechstunde gebracht.
Die Untersuchung mit dem Kehlkopfspiegel ergab die Anwesenheit eines gestielten
Tumors im Kehlkopf ei ngang. Da der Tumor den Kehlkopf eingang nahezu aus-
füllte, und da er ferner, im Athmungsluftstrom auf- und abflottirend, durch die
krampfhafte Inspiration jedes Mal tiefer gegen die Glottis gesogen wurde, so war
die hochgradige Dyspnoe erklärlich.
Ich entfernte den Tumor mittels der kalten Schlinge, worauf die Dyspnoe
sofort verschwand. Die Neubildung erwies sich als papillomatöser Natur. Es
fanden sich auch noch — was das Fortbestehen der Heiserkeit erklärte — weitere
papillomatöse Geschwulstmassen, welche, breitbasig aufsitzend, nicht nur auf den
Stimmbändern vorhanden waren, sondern auch unterhalb derselben.
Innerhalb der nächsten vier Wochen entfernte ich die auf den Stimmbändern
sitzenden Papillome. Da es aus naheliegenden Gründen — die Patientin war ja
noch ein Kind — jedoch nicht gelingen wollte, auch die unterhalb der Stinun-
bänder befindlichen Papillome per vias naturales vollkommen zu entfernen, so rieth
ich zur Laryngofissur. *)
Die Eltern erklärten sich' hiermit einverstanden. Die Operation wurde im
hiesigen altstädtischen Krankenhause von dem damaligen Assistenzarzt, jetzigen
Oberarzt Dr. K. Habs ausgeführt and dabei die unterhalb der Stimmbänder noch
vorhandener Geschwulstreste entfernt.
[Wir entnehmen dem uns gütigst zur Einsicht gestatteten Protokoll der
Krankenanstalt Altstadt folgende Notizen: Aufnahme am 14. Mai 1895. Status:
*) Die bei der Operation angewandte Methode ist die von P. Bruns (s. unten
op. cit. „Die Laryngotomie etc.") empfohlene.
224 M. Sänger und W. Hilger.
Kräftiges Kind. An der Vorderwand des Kehlkopfes unterhalb der StimmbäDder
ein bohnengrosser papillomatöser Tumor, der bei Hustenstössen in die Rima ein-
tritt. Operation am 15. Mai 1896. Tracheotomia superior nach Böse. — Erwei-
terung der Tracheotomie-Oeffnung nach oben bis in die Mitte des Schildknorpels.
Der Tumor ist ein Papillom, dasselbe wird ezcidirt, der Grund mit Ferrum ver-
schorft. Tracheal-Kanüle in den unteren Wundwinkel. Tamponade des Lar}'nx
mit steriler Gaze.
Die Wunde bleibt reactionslos, Allgemeinbefinden dauernd gut, am 22. M&i
1895 Tampon entfernt, am 31. Mai Kanäle gewechselt, am 10. Juni Kanäle ent-
fernt. Am 28. Juni 1895 vollkommen geheilt entlassen. Im yordercn Stimmband-
winkel noch ein kleines Papillom. Pat. wird wieder Herrn Dr. Sänger über-
wiesen].
Etwa 6 Wochen nach der Operation — ich hatte bei Wiederaufnahme der
Behandlung das vorstehend erwähnte Papillom gleich in der ersten Sitzung mit
der Fränkel'schen Zange entfernt — zeigten die Stimmbänder und die übrigen
Theile des Kehlkopfes ein vollkommen normales Aussehen. Allein die Kranke
war und blieb aphonisch, der zur Stimmbildung erforderliche normale Glottis-
schluss kam nicht zu Stande.
Es fragte sich nun, ob diese Störung eine somatische Ursache habe, deren
Erkennung sich der laryngoskopischen Untersuchung entzog, oder ob dieselbe rein
functioneller Natur sei. Ich hatte den Eindruck, dass das Letztere der Fall sei
Ich versuchte die Stimmbandlähmung durch extralaryngeales und intralaryn-
geales Faradisiren, durch Galvanisiren, durch äusserliche Kehlkopfmassage, durch
Einblasen reizender Pulver und ähnliche Mittel zu beseitigen. Indess waren diese
Versuche, welche ich sehr lange — bis zum 27. September 1895 — fortsetzte, voll-
ständig erfolglos. Ich bemerke, dass meine gegen die Stimmbandlähmung in diesem
Falle gerichteten Maassnahmen zum grossen Theil auch in der Absicht, damit
suggestiv zu wirken, gewählt waren. Auch machte ich die Angehörigen der
Patientin darauf aufmerksam, dass eine psychische Beeinflussung das Uebel zu
heben im Stande sei, eine Weisung, die allerdings von dem Vater des Kindes io
etwas sehr drastischer Weise befolgt wurde. Das Kind blieb aphonisch. £s
ist wohl nicht zu leugnen, dass diese Erfahrungen geeignet waren, die Hofihuog auf
eine endliche Beseitigung der Aphonie erheblich herabzusetzen, zumal der Fall
auch dadurch eine Abweichung zeigte, dass z. B. auch beim Lachen und Weinen
die Stimme tonlos w^ar.
Eine Berücksichtigung der über die Laryngofissur veröffentlichten Literatur
schien auch die Prognose des Falles keineswegs in ein günstigeres Licht zu setzen.
So spricht Mackenzie*), indem er sich auf seine Untersuchungen („Brit. Med.
Journ." 1873 p. 488) und die von P. Bruns (s. unten) bezieht, es direct au*:
„Wir sehen daher, dass in der Majorität der Fälle die Operation selbst die FuDction
der Stimme in grosse Gefahr bringt.^ Doch konnte mich das Fehlschlagen der
beschriebenen Bemühungen nicht von der Ueberzeugung abbringen, es dennoch
mit einer functionellen Störung zu thun zu haben und schlug ich daher die An-
wendung der Hypnose vor. Der Erfolg war ein ausgezeichneter. Die Patientin.
^) Die Krankheiten des Halses und der Nase von Morel Mackenzie.
Uebersetzung von Dr. F. Semon, S. 446.
Ein Fall yon Aphonie nach Laryngoiissur geheilt. 225
welche auf mein Anrathen Ton Herrn Dr. H i 1 g e r in Behandlung genommen
wurde, gelangte wieder in den dauernden Besitz einer ToUkommen normalen,
kräftigen und melodischen Stimme. Ich hatte seitdem die Patientin wiederholt
zu beobachten Gelegenheit, fand die Stimme stets gleicherweise Torzüglich und
dabei das psychische Verhalten des Kindes durchaus im guten Sinne verändert.
Das frciher scheue und unzugängliche Kind erfreut jetzt durch ein heiteres und
mittheilsames Wesen.
n. (Dr. W. Hilger.)
Anna K. ^) kam am 18. Juli 1896 in meine Behandlung. Die Sprache des
Kindes war hauchend und kaum verständlich. Dabei zeigte das Kind in seinem
Benehmen ein eigenthümlich scheues Verhalten, wie man es als „sich geniren''
bezeichnet. — Da *mir Notizen über den Status, so weit ich ihn aufgenommen
habe, nicht vorliegen, so muss ich mich darauf beschränken, mitzutheilen, dass
sonstige besondere Störungen von mir nicht constatirt sind. — Die Behandlung
begann in Gegenwart der das Kind begleitenden Mutter mit einem Versuch der
hypnotischen Beeinflussung. Das Kind verfiel in den II. Grad der Hypnose.*)
Ich liess sie in dieser Hypnose rechnen. Sie sprach dabei lauter wie im Wach-
zustande vor der Hypnose. Auch nach dem Erwachen sprach sie dann lauter.
Auf dieser Beobachtung fussend nahm ich die nun folgenden planmässigen Sprach-
übungen täglich erst in Hypnose und dann nach der hypnotischen Sitzung vor.
Es zeigte sich dabei, dass die auf diese Weise erzielte Besserung zunächst täglich
immer wieder bis auf einen kleinen Rest verschwand, so dass sich die, einer
Sisyphus -Arbeit zu vergleichende Behandlung auf 122 Tage erstreckte. Abgesehen
von der Anwendung ennuthigender und zur Ausdauer ermahnender. Suggestionen
benutzte ich folgende Hülfsmittel; Es stellte sich heraus, dass die Stimme klarer
und deutlicher herausgebracht wurde, wenn das Kind sang, oder, was practisch
anwendbarer erschien, in singendem Tone sprach. Ferner erschien es wichtig, mit
dem Gebrauche der Sprache eine geistige Anspannung zu verbinden. Am Ein-
fachsten wurde dies natürlich erreicht, wenn ich sie auf von mir gestellte Fragen
antworten liess. Sie war aber bei diesen Antworten stets ungemein wortkarg,
abgesehen davon, dass diese Methode für den Arzt ja auch recht zeitraubend war.
Ich liess sie daher vor der hypnotischen Sitzung eine Anekdote (Hebels Schatz-
kästlein) lesen, welche sie in der Hypnose in singendem Tone oder (später) in
kurz accentuirter Sprache wiedergab. Auch Zahlenreihen konnten so Verwendung
finden dadurch, dass ich sie anwies, jede Zahl in der Reihe, welche etwa die
Zahl 7 enthält, oder durch 7 theilbar ist, auszulassen (auch als Gesellschaftsspiel
bekannt). Dann ging ich aber auch direct an die Bekämpfung des „Genirens".
Hier kam die Anwendung der Hypnose sehr zu Hülfe. Während sie auch in der
späteren Zeit der Behandlung sich im Wachzustande vor mir „genirte", war sie
*) lieber die erbliche Belastung des Kindes habe ich Folgendes eruirt: Von
den sechs Geschwistern ist eines als Säugling an Zahnkrämpfen gestorben, ein
Bruder stottert, der Vater war vorübergehend (1891) Potator, „vorher und nachher
nicht "*. Eine Schwester des Vaters schwachsinnig, ein Bruder der Mutter epi-
leptisch. Beide Grosseltern waren nervengesund.
*) Die Hypnose vertiefte sich im Laufe der späteren Behandlung bald zum
lU. Grade.
226 M. Sänger und W. Hilger.
in der Hypnose ganz frei von dieser Aengstlichkeit. Ich analysirte dann auch in
der Hypnose (nach Freud und Breuer) die psychische Veranlassung des „Genirens*^
(Nachwirkung der brüsken Behandlung des Vaters, Anwesenheit fremder Personen)
und gab die entsprechenden Heilsuggestionen. — Eine solche directe Einwirkung
war von gutem Erfolge begleitet. — Schliesslich wurde ihr zu allem diesem noch
ein htibsches Geschenk versprochen und als das nur theilweise half, ihr ganz
energisch (in Hypnose) der Standpunkt klargemacht, dass nun die Ziererei auf-
hören müsse etc. So kam schliesslich eine endgiltige Wendung zum Guten zu
Stande und sie konnte kurz nach dieser letzteren Vornahme entlassen werden.
Erst gegen diesen Schluss der Behandlung nahm auch die Stimme wieder die
characteristische Klangfärbung der normalen Stimme an und erwies sich als durch-
aus melodisch. Seit der Behandlung sind nunmehr 4 Jahre verflossen und kann
die Heilung, von deren Dauer ich mich immer wieder überzeugt habe, demnach
wohl als eine endgiltige angesprochen werden.
III. Was nun die einschlägige Literatur anbetrifft, so werden wir
weiter unten auf die von Mackenzie angeführte Arbeit von Bruns
zurückkommen. Die übrige, ja meistens chirurgische Fachliteratar
hatte Herr Dr. Perthes, Privatdocent der Chirurgie an der UniTer-
sität Leipzig, die grosse Qüte, in weitem Umfange für uns einer Durch-
sicht zu unterziehen. Wir sagen Herrn Dr. Perthes für seine freund-
liche Unterstützung auch an dieser Stelle unseren besten Dank. Herr
Dr. Perthes theilte mit, dass er keinen Fall von nervöser functioneller
Aphonie nach Laryngofissur in der von ihm daraufhin geprüften Lite-
ratur constatirt habe. Derselbe sah durch : das Centralblatt für Chi-
rurgie, das internationale Centralblatt für Laryngologie und Bhinologie
1890—1899, femer das „Handbuch der Laryngologie" von Heymann^
„die Krankheiten der oberen Luftwege" von M. Schmidt und mehrere
chirurgische Handbücher, femer „Deutsche Zeitschrift für Chirurgie^^
Bd. XXXVI, 3/4 (Pieniazek Laryngofissur), „Archiv für klinische
Chimrgie, Bd. XL, 4" (Alp ig er, Beitrag zur Erklärung des Shoks
nach Eehlkopfezstirpationen), „Münchener medic. Wochenschrift 1889,
16 — 18, K. Becker, Zur Statistik der Laryngofissur."
Wenn wir bedenken, dass der uns vorliegende Fall in seiner
Aetiologie keineswegs etwas Ausserordentliches bietet, es vielmehr
sehr erklärlich erscheint, dass ein Organ wie der Kehlkopf nach
so langer Inactivität und nach einer eingreifenden Encheirese schliess-
lich functionell gestört ist — so muss es uns fast auffällig erscheinen,
dass eine so umfangreiche Literatur keinen ferneren Fall von nerrös-
functioneller Störung des Kehlkopfes aufweist. Wir konmien daher
nochmals auf den oben citirten Ausspruch Mackenzie 's und auf die
Ein Fall yon Aphonie nach Laryngofissur geheilt. 227
uns Torliegende, yon Mackenzie angezogene Abhandlung von £ r u n s ^)
zurück. Brnns sondert yon 97 Fällen yon Aphonie nach Laryngo-
fissur deren 20 ans, bei welchen die Aphonie nur der Operation zur
Last zu legen sei, bei welchen also die Aphonie nicht durch Schädigung
des Kehlkopfes durch Recidiy oder yorgenommene Eesectionen etc.
bedingt ist. Bruns führt dann (S. 95) weiter aus, ,,dass in denjenigen
Fällen, in denen eine Störung der Stimme zurückgeblieben ist, über
die Ursachen derselben häufig gar keine Ermittelungen gepflogen sind'^
und führt dann schliesslich 5 Fälle an, die uns keineswegs sehr yon
unserem Falle K. yerschieden zu sein scheinen. So z. B. (S. 99) : „In
der 71. Beobachtung, in der nach der Entfernung eines gestielten
Tumors oberhalb der Glottis mittelst einfacher Spaltung des Schild-
knorpels fast yollständige Aphonie zurückgeblieben war (yoix ä demi
steinte) wurde in der Form und Färbung der Stimmbänder keine Ab-
normität gefunden.''
Jedenfalls scheint uns der Fall E. zu zeigen, dass in solchen und
ähnlichen Fällen zur Heilung der Aphonie auf eine ausgiebige Uebungs-
therapie, eyent. mit Anwendung der Hypnose nicht yerzichtet werden
darf.
*) Paul Bruns, Die Laryngotomie zur Entfernung intralaryngealer Neu-
bildungen. Berlin 1878.
Referate und Besprechungen.
Dr. W. Warda, Ein Fall von Hysterie, dargestellt nach der
kathartischen Methode von Breuer und Freud. Separatabdruck aus
Jahrgang 1900 der Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Verlag von
S. Karger, BerUn NW.
Verf. veröffentlicht einen Fall von Hysterie, den er nach der Methode von
Breuer und Freud behandelt hat. Die Behandlung wurde längere Zeit hindurch
fortgesetzt, musstc aber kurz vor dem Ende der Exploration aus äusseren Gründen
abgebrochen werden. Ein Heilerfolg war bis dahin im Grossen und Ganzen nicht
eingetreten. In mehreren anderen Fällen hat Verf. das Verfahren ebenfalls froher
oder später abbrechen müssen. So sieht sich Verf. veranlasst, die Indicationen für
diese Methode einer Kritik zu unterziehen, umsomehr, da Breuer und Freud
darauf nur sehr wenig eingegangen sind. Die Schwierigkeiten in der Anwendung
dieser Methode sind sehr grosse; sie fordert vom Patienten grossen moralischen
Muth und viel Denkarbeit, vom Arzt Interesse und Vertiefung in den Krankheits-
fall und viel Zeit. Contraindicirt ist das Verfahren bei Complication der Hysterie
mit einer Angstneurose; bei anderen Kranken treten störende hysterische Sym-
ptome auf, oder die affective Beaction ist zu heftig. Bei anderen kann die
Schwere der ätiologischen Erlebnisse eine Contraindication sein. Schliesslich traf
Verf. Patienten, die trotz der Erzeugung einer tiefen Hypnose mit nachheriger
Amnesie nicht dazu zu veranlassen waren, weitere pathogene Erinnerungen aus-
zusprechen oder solche Vorstellungsresiduen bewusst zu machen. Die Kranken-
geschichte ist ausführlich wiedergegeben und ist ein sehr interessantes Document
für das allmähliche Auftreten und immer stärkere Anwachsen hysterischer Er-
scheinungen. Isenberg -Berlin.
Zur Kenntniss des Einflusses einiger psychischer Zustände auf
die Athmung.
Von
Cr. Isenlwrg und 0. Togt
(Schlmn.)
B. Spannung, Erwartong, Wollen, Geistige nnd körperliehe Be-
thStlgnng, Saggerirte Bewegang, Entspannoi^, Hjrpnose.
1. SpanDung.
Zur Erzeugung eines Spannungszustandes stellte sicli Isenberg
vor, dass er einer spanuendeu Sceuerie, z. B. einem Kingkampfe, folgte,
wobei ihn der Ausgang ganz gleichgiltig liess, so dasa eine Last- oder
ünlustbetonung nicht auftrat. Das £«saltat der angestellten 14 Ver-
suche ergiebt sich aus Tabelle XX.
Tabelle XX.
Spanonng.
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230
Isenberg und Vogt.
Wir haben also in:
14 Fällen Niveausteigerung = 100%,
13 Fällen vorherrschend abgeflachte Athmung = 92,87%,
1 Fall vertiefte Athmung =» 7,13%. In diesem Falle waren aber
die Athemzüge nur sehr wenig tiefer als vor dem Versuch und
gar nicht tiefer als nach dem Versuch.
14 Fällen Beschleunigung der Athmung = 100 % von durchschnittlich
= + 1,31,
9 von 12 Fällen Beschleunigung des Pulses = 76 % von durchschnittlich
= + 0,25,
3 von 12 Fällen Verlangsamung des Pulses =^ 25 % von durchschnittlich
= — 0,13.
Abbildungen finden wir in Fig. 8 a und b. Fig. a zeigt eine Curve,
in der nur ein Theil der Athemzüge abgeflacht war. In Fig. b sind
alle Athemzüge abgeflacht.
/^^
'^^^^XtXAA
Fig. 8.
2. Erwartung.
Einen Zustand der Erwartung haben wir dadurch hervoigerofeiv
dass die Versuchsperson auf „ein'' „zwei** erwartete. Isenberg ver-
Zur Kenntniss des Einflusflea einiger psychischer Zustände auf die Athmung. 231
Tabelle XXI.
Erwartung.
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-
2.07
3,25
-
- 1,18
—
—
45
-.
(-
-)
2,61
3,63
—
- 1,02
—
—
46
•
?-
-)
2,39
300
_
-0,61
^_
—
47
—
— (-
-)
200
3,04
—
- 1,04
—
48
— +
—
1,54
243
—
-0,91
—
—
49
»
—.
1,67
2,42
—
-0,75
—
—
—
50
—
—>
174
2,46
-
- 0,72
—
51
—
-~
1,58
2,65
—
-0,07
—
^
52
—
—
1,70
2,52
—
-0,82
—
— .
53
-
~-.
1,60
2,13
-
-0,53
—
—
54
-
—
1,64
1,91
-
-037
—
—
—
16"
232
laenberg uod Vogt.
setzte sich in einen Erwartnngsznstand^ als ob er auf „zwei^ eine Reac-
tion ansführen sollte. In einem Theil der Versnche führte Isenberg
sogar eine Bewegung aus. Eine Uebersicbt über die Resultate der 54
Versuche giebt Tab. XXI, zu der ich noch bemerken möchte, dass
von Versuch 42 an die einzelnen sich so schnell gefolgt sind, dass in
der Zwischenzeit die Athemfirequenz nicht auf die ursprüngliche Norm
zurückgekehrt war.
Die Tabelle ergiebt:
in 54 Fällen Niveausteigerung = 100 ^Z^,
in 49 Fällen vorherrschend abgeflachte Athemzüge = 91%,
in 5 Fällen nicht vorherrschend abgeflachte Athemzüge «s 9%,
in 64 Fällen Frequenzzunahme der Athmung = 100% von durch-
schnittlich =r 0,82 %,
in 27 von 37 Fällen Frequenzzunahme des Pulses = 73 % ^^^ durch-
schnittlich = + 0,29,
in 10 von 37 Fällen Frequenzabnahme des Pulses = 27 % ^on durch-
schnittlich = — 0,32.
Abbildungen der Athmungscurve bei Erwartung finden sich in
Fig. 8 c und d; Fig. c repräsentirt Versuch 21, Fig. d. Versuch 20.
3. Bewusstseinszustand des Wollens.
Unter diesem Bewusstseinszustand verstehen wir denjenigen, der
daraus resultirt, dass die Versuchsperson sich vorstellte, etwas absolut
durchsetzen zu wollen. Tabelle XXII giebt eine üebersicht der Resul-
tate, die sich aus den mit Isenberg angestellten Versuchen ergaben.
Tabelle XXII.
Wollen.
Nr.
Niveau
Tiefe
ZAv
ZAw
ZAd
ZPv
ZPw
ZPd
1
_
__
1^
1,96
_
h0,62
6,15
6,44
-ü,29
2
-
—
1,29
1,65
-
-036
6,38
6,46
-0,07
3
-
—
1,31
1,06
-
-0.14
6,22
632
-0,10
4
-
1,36
2,66
-
-0,20
5,21
637
-036
5
-
±
1,34
1,86
-
-0,62
6,12
6,04
-032
6
1,23
2,24
-
- 1,01
5,11
6,45
-IM
7
- +
+ ~
1,07
1,90
-
-0,83
6,53
639
.036
8
+ -
-(+)
1,09
2,66
-
- 1,67
7,18
7,65
-0,47
9
—
+ -
1,30
2,00
-
-0,70
5,72
6,66
-0,93
Zur Kenntnifls des Einflusses einiger psychischer Zustände auf die Athmung. 233
Wir haben also:
in 6 Fällen ausschliesslich Niyeauerhöhung = 66,67 7o9
in 1 Fall ausschliessliche Niveausenkung s» 11,11 ^^/^^
in 2 Fällen theilweise Niveauerhöhung = 22,22%,
in 5 Fällen vorherrschend Abflachung der Athemzüge ^=^ 55,66%,
in 4 Fällen vorherrschend Vertiefung der Athemzüge «i 44,44%,
io 9 Fällen Vermehrung der Athemzüge «» lOO % von durchschnittlich »s
+ 0,66,
in 9 Fallen Vermehrung der Pulse = 100 % von durchschnittlich = -|- 0,64,
Fig. 9 a giebt Vers. 6 mit Steigung des Niveaus und Vertiefung
der Athemzüge, Fig. 9 b Vers. 6 mit Senkung des Niveaus und Ver-
tiefung der Athemzüge, Fig. 9 c Vers. 1 mit Erhöhung des Niveaus
und Abflachung der Athemzüge wieder.
AA/^^
Fig. 9.
4. Geistige Bethätigung.
Wir haben drei verschiedene Formen geistiger Bethätigung studirt,
die alle drei nach Angaben Isenbergs ohne bemerkbare Lust- oder
Unlustbetonung verliefen: a. Zählen der Bücher eines vor der Ver-
suchsperson befindlichen Bücherbords; b. Kopfrechnen ohne Nennung
des Resultats; c. Concentration auf das Erinnerungsbild anatomischer
Objecte. Die Intensität der geistigen Bethätigung nahm von 1 — 3 zu.
a. Der Einfluss des Zählens auf Thoraxgrundstellung und Athmung
ergiebt sich aus Tabelle XXIII.
Tabelle XXELI.
Zählen.
Nr.
Niyeftu
Tiefe
ZAv
ZAw ZAd
ZPv
ZPw
ZPd
1
2
3
4
T"
1,63
1,17
1,09
1,10
1,28
1,54
1,45
1,29
— 0,35
+ 0.37
-- 036
+ 0,19
530
5,29
5,47
5,39
5,50
5,83
+++
234
Isenberg und Vogt.
Wir haben also in:
4 Fällen Niveauerhöhung = 100%,
3 Fällen Abflachung der Athmung = 75 %,
3 Fällen Vermehrung der Athemzüge = 75^0 ^on durchschnittlich
= + 0,31,
1 Falle Verminderung der Athemzüge = 25% von durchschnittlich
= — 0,35,
allen 3 Fällen Pulsvermehrung = 100% von durchschnittlich = + 0,22.
Eine Abbildung des Anfangs des Versuchs 2 findet sich in Fig. 10 b.
b. Der Einfluss des Rechnens auf Thoraxgrundstellung und Athmong
ergiebt sich aus Tabelle XXIV.
Tabelle XXIV
Rechnen.
Nr.
Niv.
Tiefe ZAv
ZAw
ZAd
ZPv
ZPw
ZPd
1
2
3
--
1
1,25
1,14
1,11
133
1,45
1,29
+ 0.08
- - 0,31
+ 0,18
5,16
5,54
5,67
5,29
5,67
6,06
+ 003
- - 0,13
-f 039
Wir haben also in:
3 Fällen Niveauerhöhung = 100 %,
3 Fällen Abflachung der Athmung = 100 7o>
3 Fällen Vermehrung der Athemzüge »» 100% von durchschnittlich
= + 0,19,
3 Fällen Vermehrung des Pulses »^ 100% von durchschnittlich
= + 0,22.
Eine Abbildung des Anfangs des Versuchs 2 findet sich in Fig. 10 a.
Fig. 10.
Zar Eenntniss des Einflusses einiger psychischer Zustände auf die Athmung:. 235
c. Der Eiofluss der Concentration der Aufmerksamkeit auf das
Erinnerungsbild anatomischer Objecto ergiebt sich aus Tabelle XXV.
Tabelle XXV.
Concentration auf ein Erinnerungsbild.
Nr.
Niveau
Tiefe
ZAv
ZAw
ZAd
ZPv
ZPw ZPd
1
__
1,21
137
h 0,16
6,15
635 ! H
1-0,20
2
^
+ (-)
1,26
1,52
-0,27
6,44
6,76
-
h 032
3
-
1,24
1,61
- 0,37
—
4
-
+
1,18
1,29
-0,11
6,16
6,07
— 0,08
b
-
1,33
1,66
- 0,32
—
6
~
-
—
^'^!
1,70
-0,28
—
7
-
-
l,3ä
1,70
-038
—
—
8
-
—
1,38
1,52
-0,24
—
—
.1 ^
-
—
1,39
1,63
-0,24
—
10,
H
-
1,33
139
h0,03
— .
—
—
Wir haben also in:
10 Fällen Erhöhung des Niveaus = 100 %,
8 Fällen Abflachung der Athmung = 60 %
10 FäUen Zunahme der Athemfrequenz »= 100 % von durchschnittlich
= + 0,24,
2 Fällen von 3 Pulsvermehrung = 66,67 % von durchschnittlich =+ 0,26,
1 Falle von 3 Pulsverlangsamung = 33,33 % von = — 0,08.
Fig. 10 c giebt den Anfangstheil von Vers. 2 mit vorwiegend ver-
tieften Athemzügen, Fig. 10 d Versuch 7 wieder.
5. Körperliche Bethätigung.
a) In einer ersten Versuchsreihe hat Isenberg auf ein 1 . Zeichen
die Arme plötzlich gespannt und auf ein zweites Zeichen plötzlich ent-
spannt. Dabei haben wir noch zwei Versuchsmodi unterschieden. Bei
dem einen spannte Isenberg die Arme sofort mit aller Kraft an; bei
dem zweiten nahm die Anspannung auch einen so plötzlichen Anfang,
aber Isenberg liess die Kraftanstrengung erst allmählich anwachsen.
In der Tabelle XXVI wurde der 1. Versuchsmodus als „kräftigt, der
2. als „schwach^ bezeichnet. Fig. IIa giebt eine Gurve des ersten
Versuchsmodus wieder. Wir sehen gleich im Anfang eine maximale
Niveausteigerung. Dann sinkt das Niveau allmählich bis X- Bei X
vermehrt Isenberg von Neuem die Spannung der Arme. Wir sehen
hier wiederum eine Niveauerhöhung, die dann von Neuem allmählich
nachlässt. Die Gurve eines nach dem zweiten Modus angestellten
236
Isenberg und Yogt.
YerBuchs finden wir Fig. IIb. Der 1. Athemzng nach dem Zeichen
ist bereits stark abgeflacht. Es ist dies ein constantes Verhalten bei
Fig. 11.
allen 7 Versuchen. Die Niveauerhöhung erreicht denselben Grad wie
bei der ersten Versuchsanordnung; aber diese Steigerung ist eine ganz
allmähliche. Eine üebersicht über die Versuche ergiebt Tabelle XXVI.
(Siehe TabeUe auf Seite 237).
Aus dieser Tabelle ergiebt sich in:
20 Fällen Niveauerhöhung = 100 % ;
18 Fällen vorherrschend Abflachung der Athemzüge = 90%;
2 Fällen nicht vorherrschend Abflachung der Athemzüge ^» ^O^j^;
20 Fällen Zunahme der Athmungsfrequenz = 100 \ von durchschnittlich
= + 0,99.
b) in einer zweiten Versuchsreihe haben wir den Einfluss eines
willkürlichen Augenschlusses auf Thoraxstellung und Athmung gemessen.
Die dabei nothwendige Willensleistung war insofern etwas compUcirter^
als Isenberg die Aufgabe hatte, den Augenschluss ebenso langsam
und ebenso kräftig zu gestalten wie der gleich naher zu besprechende
suggerirte Augenschluss ausfiel. Die genannten Aenderungen waren
natürlich bedeutend geringfügiger als bei der ersten Versachsreihe.
Die Einzelheiten ergeben sich aus Tabelle XXVII.
Zur SenDtnug det Einflaues einiger payehiaelter ZuatSnde auf die Athraung. 337
Tabelle XXVI.
Willknrliche Span au Dg der Arme.
Nr.
NiveaD
Tiefe
ZAs
ZAw
ZA,1
Benierkung.
1
^
_
138
2.1«)
- 0,61
».■hwach
3
1.4H
2,48
- 1,02
«eh^v,^eh
3
-(-)
1,4«
2,28
- 0,82
icfinach
4
1,64
2,42
-038
ichwach
6
—
1,6?
232
-0,66
kräftig
S
'.
1,66
236
- 0,90
■chwach
7
1,67
236
-0,68
kräftig
8
+ -
1,W
1,74
-038
kiäftig
9
■
1,76
2,22
-0,46
schwach
10 .
-
-(+)
1,78
2,61
-033
kräftig
11
1*1
338
- 1,74
kräftig
12
1,43
2,10
-0,67
gebwach
13
1,S4
239
-106
kräftig
14
-
-(+)
1,67
4,41
r2,84
kräftig
15
h
134
239
hO,96
kräftig
16
t-
1,48
239
-1,11
kräftig
17
-(+)
137
2,99
H,12
kräftig
18
t
+ !-
1,72
233
.0.61
kräftig
19
+
~ (+)
2,15
3,08
.0,93
kräftig
20
h
-ffl
230
306
■036
kräftig
Tabelle XXVII.
Willkdrlicher Augen ichluBi.
Nr.
Niveau
Tiefe
ZAt
ZAw
ZAd
PZt
PZw
PZd
1
^
_
1^9
1^7
^
hO,18
636
533
~0fl3
1^
- (l;^()
5,77
6,71
3
130
136
■0,06
5,89
6,65
-0,24
1^
138
-0,06
0,24
5,00
- 0,24
6
+
+ -
1^
1^
H
hO,04
5,90
5;66
-0I4
Die Tsbelle ergiebt in :
5 Fällen Niveausteig^eraog .= lOC/o;
4 Fällen Abfiachung der Athmang ^ 80 '/^ ;
1 Falle theilweiae Abäachong der Athmung = 20 "/q;
6 Fällen Znnahine der ÄtbmnngsfreqaeDz = 100 "j^, von durchschnitt-
lich -=. + 0,13;
6 Fällen Abnahme der Pulsfrequenz = 100%, von durchschnittlich =
— 0,16.
6. Saggerirter AngeDschtuss.
Um den Einäuss einer suggerirten Bewegung auf Thorazstellaug
und Athmung mit derjenigen einer willkürlichen zu vergleichen, wurde
238
laeuherg und Vogt.
ein Augenschluss suggestiv ausgelöst. Der Augenschluss als solcher
gelang gut Aber er löste — infolge früher geschaffener AssociatioDen
— gleichzeitig ein Gefühl einer angenehmen Ruhe aus. So war der
Versuch nicht rein. Wenn wir ihn trotzdem hier registriren, so ge-
schieht es, weil das Resultat der regelmässigen Abnahme der Athem-
frequenz sich mit dem bei anderen Personen beobachteten deckt. Das
Resultat der 5 Versuche ist in Tabelle XXVIII registrirt.
Tabelle XXVICL
Suggerirter Augenschluss.
Nr.
Niveau
Tiefe
ZAv
ZAw
ZAd
ZPv
ZPw
ZPd
1
_i_
•_
1,39
1,30
0,09
6,36
6,33
0,C3
2
—
1,33
1,25
0,08
5,77
6,68
0,09
3
-(+)
1,30
1,20
0,10
6,89
6,10
--0^1
4
1,34
1,10
-0,24
6,29
5,32
--0,Ü3
5
—
+
1,37
1,08
0,29
6.01
6,69
0,42
Die Tabelle ergiebt in :
3 Fällen Niveauerhöhung = 60 % ;
2 Fällen Niveausenkung = 40%;
4 Fällen vorherrschend Abflachung der Athmung = 80 ^^j
1 Falle Vertiefung der Athmung = 20 % ;
5 Fällen Abnahme der Athemfrequenz => 100 7o ^^^ durchschnittlich
= -0,16;
3 Fällen Abnahme der Pulsfrequenz = 60 % von durchschnittlich = — 0, 18 ;
2 Fällen Zunahme der Pulsfrequenz == 40 % von durchschnittlich = + 0, 12.
7. Entspannung.
Ueberall da, wo wir unter dem Eiofluss eines psychischen Phäno-
mens eine Erhöbung des Niveaus beobachten: d. h. bei der Heiter-
keit, bei Angenehm, wo dieses durch eiue Zuckerlösung hervorgerufen
war, bei jeglichem UnaDgenehm, bei Spannung und Willensbethätigung
beobachtete Isenberg eine Spannung im ganzen Körper. Schätzungen
der Intensität dieser Spannung von Seiten Isenberg's zeigten Pro-
portionalität zur Stärke der Niveauerhöhung. Das dieser Niveauerhöhung
zu Grunde liegende Heben des Thorax hat mit den Bespirations-
bewegungen des Thorax direct nichts zu thuu, soweit es auch secuodär
zu diesen in Beziehung tritt. Dieses geht aus Fig. 11c zur Genüge
bervor. Hier hat bei I ein kräftiges Anspannen und bei 11 eine plötz-
liche Entspannung der Arme stattgefunden. Dabei hat Isenberg
Zur Kenntniss des Einfluues einiger psyehisoher Zustände auf die Athmung. 239
während dieser ganzen Zeit (zwischen X und X) den Athem angehalten.
Und doch haben wir stärkste NiveauTerändeniDgen.
Wo immer nun ein pfiychischer Zustand zu einer Erhöhung des
NiTeaus unserer Curven gefuhrt hat, sehen wir, wenn dieser Zustand
mehr oder weniger plötzlich schwindet^ ein entsprechend plötzliches
Herabsinken dieses Niveaus: in den meisten Fällen sogar unter das
Anfangsniveau. Subjectiv beobachtete Isenberg bei diesem Herab«
sinken des Thorax ein Nachlassen jener Spannung des ganzen Körpers :
eine Entspannung.
Mit diesem sich im Sinken des Niveaus unserer Curven kund-
gebenden Nachlassen der Spannung, konnte der Process der Ent-
spannung sein Ende erreicht haben. Eine solche ausgesprochene ein-
fache Entspannung ohne weitere besondere Folgeerscheinungen
beobachteten wir stets bei plötzlichem Schwinden der Heiterkeit. Fig. 3 B
zeigt die Curve einer solchen einfachen Entspannung bei „Halt^.
In anderen Fällen folgte dem Sinken des Niveaus als erster oder
einer der nächsten ein sehr tiefer Athemzug. Ja es können sogar
mehrere derartige tiefe Athemzüge sich folgen. Wir sehen eine der-
artige zusammengesetzte Entspannung z. B. in Fig. 12a beim
plötzlichen Nachlassen des Schmerzes, wo wir einen derartigen tiefen
Athemzug als dritten nach Beginn der Entspannung beobachten.
Während dieser tiefen Athemzüge beobachtete Isenberg stets einen
Zustand der Erleichterung. Diese zusammengesetzte Entspannung
beobachteten wir nach Unangenehm, Spannung und Thätigkeit: d. h.
nach Zuständen, die gegenüber der die einfache Entspannung zeigenden
Heiterkeit, insgesammt zu einer Abflachung der Athemzüge führen.
Dabei kann sich dieser zusammengesetzte Entspannungsprocess ebenso
gut bei unwillkürlicher Entspannung abspielen wie in dem Falle, wo
die Entspannung die Folge eines Willensactes war. Wir sehen in
Fig. 8 b bei einem willkürlichen plötzlichen Unterdrücken einer reprodu-
cirten Spannung und in Fig. IIa bei plötzlicher willkürlicher Unter-
brechung der Spannung der Arme eine Eutspannungscurve, die durch-
aus mit der bei plötzlichem Nachlassen des Schmerzes auftretenden
identisch ist. Eine gleiche Entspannung beobachten wir in Fig. 11 d.
Hier haben wir die Curve eines Reactionsversuches vor uns. Bei I
stellt die Versuchsperson ihre Aufmerksamkeit darauf ein, bei II
motorisch zu reagiren. Bei II erfolgt die Bewegung. Wir sehen
während derselben ein plötzliches Ansteigen des Niveaus und daran
sich die zusammengesetzte Entspannung anschliessen. Nach starkem
240 Isenbergr und Yogt.
Sinken des Niveaus folgt ab dritter Athemzug ein tiefer. Schliesslich
sei noch auf die Entspannung in der Fig. IIb aufmerksam gemacht
Obgleich dieselbe einer Bethätigung folgt, beobachten wir nur eine
einfache Entspannung. Ein nachfolgender tiefer Athemzug tritt nicht
auf. Trotzdem giebt die Versuchsperson an, einen Zustand der Er-
leichterung durchgemacht zu haben. Es geht daraus die wichtige
Thatsache hervor, dass dieses Bewusstseinsphänomen der Erleichterung
nicht etwa die Folge des tiefen Athemzuges sei.
Wir haben schon darauf aufmerksam gemacht, dass bei der Ent.
Spannung meist ein vorübergehendes Sinken unter das Anfangsniveau
stattfindet. Der tiefste Niveaustand wird nun auch da, wo ein sehr
brüsker Niveauabfall stattfindet, meist nicht sofort erreicht, sondern
erst im Verlauf der nächstfolgenden Athemzüge. So sehen wir in
Fig. IIa das Niveau seinen tiefsten Stand nach dem tiefen Athemzug,
in Fig. 11 d nach dem ersten, aber vor dem tiefen Athemzug, in
Fig. 8 b einige Athemzüge nach dem tiefen, in Fig. 12 a nach dem dem
tiefen Athemzug folgenden Athemzug erreichen. Fig. 11c zeigt dagegen
eiue — ja unter der ganz besonderen Bedingung des Athemanhaltens
aufgenommene — Curve, bei der sofort der tiefste Niveaustand erreicht
wird. Dasselbe Phänomen beobachten wir Fig. IIb.
In den Fällen, wo dieser Niveauabfall parallel einer langsameren
Entspannung weniger brüske stattfindet, beobachten wir eine Ver-
mischung der Tendenz des Niveauabfalls und der zu vertieften Athem-
zügen in der Weise, dass beide Phänomene mehr zu gleicher Zeit in Er-
scheinung treten. Der Niveauabfall ist nicht in so ausgesprochener Weise
zeitlich früher. Das führt dann zu Curven, wie wir sie in Fig. 7 A bei
„Halt^ nach Aufhören des Schmerzreizes und in Fig. 8d nach Auf-
hören der Erwartung beobachten. In diesen Fällen findet eine all-
mähliche Niveausenkung statt. Immerhin ist dieselbe aber schon ein-
geleitet, ehe der oder die tiefen Athemzüge auftreten. Dabei ist wohl
die Tendenz zur Niveausenkung wenigstens eine Theilursache dafür, dass
der erste Athemzug der Phase der Entspannung gegenüber den voran-
gehenden Athemzügen eine gesteigerte Abflachung zeigt. Als auf einer
noch weiter gehenden Verschiebung des zeitlichen Verhältnisses der
Tendenz zur Niveausenkung und der zu tiefen Athemzügen fassen
wir die Entspannungscurve von Fig. 8 c bei II auf. Hier zeigt der erste
Athemzug der Entspannungsphase eine Vertiefung. Dieselbe ist zwar
gering. Aber sie zeigt sich in dieser Form in einer ganzen B.eihe von
Curven. In denselben tritt dann später kein weiterer tiefer Athem-
Zar Kenntniss des Einflassea einiger psychisclier Zustande auf die Atlimung. 241
zug auf. Wir möchten daher annehmen , dass dieser erste « etwas
vertiefte Äthemzug der in diesen Fällen zeitlich vor der Tendenz zur
Niveansenkung auftretenden Tendenz zu tiefen Athemzügen entspringt,
dass aber die Curve nicht eine stärkere Vertiefung zeigt, weil gleich
darauf das Sinken des Niveaus beginnt. Eine Curve endlich, die die
zeitliche Verschiebung der beiden Tendenzen noch deutlicher zeigt, ist
das Ende von Fig. 10 d.
Schliesslich zeigt das Ende der Curve der Fig. 8 c, wie all-
mählich das Niveau wieder die Höhe des Anfangsniveaus zu erreichen
tendirt und Fig. 7 A die Curvenform, bei der die Niveausenkung nicht
die Tiefe des Anfangsniveaus übersteigt, was bei Fig. 10 d des Weiteren
nur im schwächsten Grade der Fall ist.
8. Hypnose.
Isenberg hat sich in den hierhergehörenden Versuchen — nach
entsprechender vorheriger Einübung — autosuggestiv eine oberflächliche
diffuse Hypnose hervorgerufen. Es handelte sich um einen oberfläch-
liehen Schlummer. Der Zustand war sehr angenehm.
Fig. 12.
Fig. 12 d zeigt den Beginn einer solchen Hypnose. Der Beginn
ist durch den kleinen senkrechten Strich angedeutet. Der erste und
namentlich der zweite Äthemzug sind stark vertieft. Dabei tritt von
vornherein eine Verlangsamung der Athemzüge auf. Schliesslich con-
statieren wir eine leichte Niveausenkung. Im weitersn Verlauf der
Bypnose beobachten wir eine etwas schwankende Niveausenkung,
Verlangsamung und zunehmende Abflachung der Athem-
züge. Oelegentlich werden diese abgeflachten Athemzüge durch einen
242 Isenberg nnd Vogt. Zur Kenntniss des Einflusses etc.
tieferen. Athemzug nnterbrochen. Ein solcher tiefer Atbemzog fahrt
meist unmittelbar zu einer noch grösseren Verlangsamung und Ab-
flachuug der nächstfolgenden Athemzüge bei gleichzeitiger ausgeprägterer
Ni^eausenkung. Fig. 12 c zeigt den Schluss dieser Curve. Bei dem
kleinen senkrechten Strich tritt auf ein 2ieichen willkürliches Erwachen
ein. Dieses ist durch einen sehr tiefen Athemzug dokumentirt. Einige
weniger tiefe Athemzüge folgen noch.
Diese gesammten Erscheinungen sind typisch für die verschiedenen
beobachteten Hypnosen. Fig. 12 b giebt die Cuire eines andern Sich-
einschlafens wieder, wo während dieses Stadiums drei tiefe Athemzüge
auftreten.
Als Ergebniss dieser zweiten Gruppe von Versuchen
möchten wir besonders heryorheben, dass bei Isenberg:
1. die Zustände der Spannung, der Erwartung, des
Wollens, der geistigen und körperlichen Bethätigung
zu Niveauerhöhung, Abflachung und Frequenzzunahme
der Athmung führen;
2. ein schnelles Aufhören irgend eines Zustandes,
der zu einer stärkeren Niveauerhöhung geführt, zu
einem schnellen Sinken des Niveaus und zwar meist
vorübergehend unter die Tiefe des Anfangsniveaus führt
und dass weiterhin alle Zustände dieser Art, die gleich-
zeitig von einer Abflachung der Athemzüge und sub-
jectiv von einem gewissen unangenehmen Gefühl be-
gleitet waren, nach ihrem Aufhören zu einem oder
mehreren vertieften Athemzügen und gleichzeitig sub-
jectiv zu einem Gefühl der Erleichterung führen;
3. eine suggerirte Bewegung zu einer Verlangsamung
der Athmung führt;
4. der Eintritt und das Aufhören der Hypnose ron
stark vertieften Athemzügen begleitet ist, während im
weiteren Verlauf derselben Niveausenkung, Verlang-
samung und Abflachung der Athmung in Erscheinung
treten.
Das Eingehen auf weitere Einzelheiten und Folgerungen behält
sich der eine von uns fUr die Mittheilung weiterer Versuchsreihen ror.
Irrenhaus und Buhne.
Von
A. Grohmann-Zürich.
In einem kleinen, yiel Ton Arbeitern, aber auch Ton besseren
Kreisen besuchten Theater, in der Schweiz gelegen, wurden eine Zeit
lang zur Aufhülfe der Kasse in endlosen Wiederholungen gewisse
Sensations-Zugstücke gegeben. Sie bestanden ausschliesslich aus zwei
Sorten: 1. den unvermeidlichen mit dem Capitain Dreifus als Helden,
2. Irrenhaus-Stücken. Die Skandale in einigen grossen Anstalten der
benachbarten deutschen Königreiche und ProTinzen aus einer Zeit von
etwa 4 — 10 Jahren von heute zurück gaben den StofiF.
Der Verfasser eines dieser Stücke, das sein eigenes Durchbrennen
aus einer deutschen Irrenanstalt schildert, trat als der Darsteller seiner
eigenen Person auf: eine neue Dreieinigkeit; das war selbstverständlich
noch über der Kunst, denn er brauchte sich ja gar nicht erst zu ver-
stellen.
Wiederholt habe ich diese Stücke besucht und die Bekanntschaft
des Verfassers des letztgenannten gemacht, um mir über manches hier
klar zu werden. Die Stücke haben entschieden eine aufreizende Wir-
kung gehabt, — darin ganz congruent den Dreifusstücken. Es war
etwas wie der Hass des Volkes gegen den Judas-Darsteller im Ober-
ammergauer Passionsspiel. In den Zwischenpausen sprachen, um die
Biertische sitzend, sich auch Fremde an und Alles war sofort gut
Freund im Einklang der angefeuerten und erbosten Stimmung.
Und da^ Alles auch angesichts der gemüthlichsten Albernheiten des
Stückes : z. B. der meldende Oberwärter bekennt zitternd und stotternd,
dass ihm soeben füner durchgebrannt sei. In der Verlegenheit verirrt
er sich in ein lustspielgemässes Wortspiel-Monstrum in seiner Schande
244 ^« Grohmanu.
vor dem gestreDgen Herrn. Dafür zieht er auch unter höbnenden
Beschimpfungen des Publikums ab.
Der Psychiater — komischer Alter und Väterrollen, — für einen
Psychiater mit vielen Patienten zu dick, aber nicht so für seine heutige
Kolle, eine Art Sultan nach der Vorstellung des Volkes, im Schlafrock,
mit langer Pfeife beim Morgenkaffee, neben seiner Frau Director auf
dem Kanapee.
Vor den Beiden steht ein auffallend reich besetzter Frühstücks-
tisch, in der Mitte ein grosser Gugelkopf aus Papiermache. Diese
Esswaaren haben eine erregende Wirkung aufs Publikum ausgeübt und
sie waren Embleme der Schmach des Psychiaters, — warum, das werden
Sie gleich sehen, — und das Alles, trotzdem das anwesende PubUknm
sich schon an dieses Inventarstück sollte gewöhnt haben. Noch den
Abend vorher, und an vielen Abenden schon, war derselbe Gugelkopf
im Stücke „Gapitain Dreifus auf der Teufelsinsel^ aufgestellt vor
eiuem bitterbösen Kriegsmin ister in Paris und auch für ihn, diesen
gewissenlosen Prasser, galt der Gugelkopf zum Vorwurf.
Die erregende Wirkung aufs Publikum war aber da. Einem
Gugelkopf an sich gelingt das nicht, es gelingt ihm aber im Kompromiss
mit einem Socius, durch Kontrastwirkung: Vorher war der „armselige
Frass" der Patientin UI. Glasse vorgeführt worden in einer Scene ans
den hinteren Abtheilungen der Anstalt, — einer gruseligen Catatonie-IdjUe.
Durch diesen Kontrast war die moralische Wirkung des Backwerb
gegeben: „Und die lassen sich da noch Wohlsein!"
Wie auf einer Landkarte mit zwei Farben konnte ich am Stück
gewisse Inseln und Brocken sehen, in denen ein Routinier auf dem Ge-
biete der Theaterstückschreiberei seinen Theil geliefert hatte, so z. B.
die Verlegenheit des Oberwärters, wohl ein Kompromiss zwischen £r-
fahrung und gutem Willen: Cassa und Autorschaft.
Und nun die Hauptsache: Mit Ausnahme bei der Oberwärter-
Scene habe ich vergebens nach einem lachenden Publikum gesucht
Das Wortspiel hatte seine niefehlende Wirkung gehabt, aber schon
beim Kehrt Euch des armen Tropfs war wieder das erboste Publikum
da, um ihn unter Schimpfen weggehen zu heissen.
Am Lachen fehlte es. Das hätte mir etwas Harmlosigkeit in der
ganzen Sache gezeigt. Es war eine ärgerliche Erregung vorhenschend.
und in den Pausen tauschten sich zufallig Zusammensitzende ihre
Irrenhauskenntnisse aus. Durchaus habe ich den Eindruck bekommen,
als ob das Volk hineingeht, zum Theil, um sich einen specifischen
Irrenhaus and Bühne. 246
Irrenhausärger zu yerschaffen. (Bei uns ist das auch demokratische
Gewissenssache: man will keinen mächtigen Staatsbeamten.)
Das Stück endet mit einer melodramatisch-patriotisch angehauchten
Scene : der gesunde Geisteskranke kniet nieder, dankt dem lieben Oott,
dass er ihm geholfen hat, aus den Händen der deutschen Psychiater
zu entfliehen und in die freie Schweiz zu gelangen, und bittet ihn, ihn
den tit. Behörden würdig erscheinen zu lassen der Verleihung des
schweizerischen Bürgerrechts.
So was hören wir hier natürlich gerne. Das Stück ist also nicht
nur instructiy, sondern auch patriotisch. Auf die Tendenz kommt's an.
Auch eine hinten angehängte zählt. Hoch das Edelweiss im Alpenglühn !
Man könnte da auf die Vorstellung kommen : Es handelt sich hier
um etwas, das sich schon stark eingefressen hat. Wenn wir bei
anderer Gelegenheit die starken und individuellen Triebe von Inter-
esseneinfluss und Leidenschaft bei vielen Carambolagen in Irrensachen
sehen, hier findet das Gegentheil statt. Sicherlich war nichts der zehnte
Theil der Besucher im mindesten in Irrensachen interessirt, aber bereit
waren sie Alle, sich einen Abend lang in dem interessanten Felde zu
ergehen und seine Stimmungen zu kultiviren. Und um dieser Nach-
frage zu entsprechen, arbeiten da Dutzende von Menschen in schönster
Harmonie zusammen, bei all den Vorarbeiten, die zu diesen Dingen
gehören. Alles klappt.
Man sieht nirgends in anderen Fragen diese Naivität und Selbst-
verständlichkeit, mit der auf irgend einen herbeigezogenen Prügeljungen
losgedroschen wird zum Gaudium, oder nein, zum gewünschten
A erger von Hunderten und Tausenden von Menschen, die wir doch
in ihrer Summe als Durchschnittlinge ansehen müssen.
Hier darf man wohl von gefundenem Fressen reden. Etwas halb-
wegs Aehuliches sehen wir im höheren Geld-Schacher, aber da schämen
sich die Leute und halten die Sache verborgen.
Und auf das Tieferliegende, Eingerostete der Sache könnte in
unserem Beispiel auch dieses Nebeneinander mit der Dreifus-Sache ver-
muthen lassen: Das empörte Bewusstsein des Volkes für Gerechtigkeit.
(Aber einen von den Behörden am gleichen Orte vollständig zugestandenen
Capital- Justiz-Irrthum, der für den schon seit Jahren unschuldig VerurtheUten
noch schlimmer sein musste als die gleichzeitige bei Dreifus, hat hier das öffent-
liche Rechtsbewusstsein viel weniger berührt als die fernliegende und damals noch
unaufgeklärte Dreifussache (vor seiner Rückkehr nach Frankreich), trotzdem für
sie ebenfalls viel Druckerschwärze in Action getreten war. Dreifus war eben der
berühmtere von den beiden und der andere hatte keine Marquisen.)
2^it8chrift f&r Hsnimotismas etc. X. ^'^
246 A. Grollmann.
Aber ich möchte die Sache anders bewerthen. Ich glaube, dass
alle diese Yorstellungsaffairen Sache des Rummels sind, der Massen-
suggestion plus Geschäftsprofit, auch Vorstufe und leichtere Fonn
des Erawalles.
Wie es gekommen, so wirds vergehen. Gekommen ist es, da eine
Zeitlang sich einige besonders missliche Vortälle in Irrenanstalten ereig-
net hatten. Kommt anderes aufs Tapet, ein Krieg, und ist er noch so
weit weg, irgend eine nihilistische Grossbrand-AfFaire, sei es, was es
wolle, und das Auge ist nicht mehr für den Rummel zu fesseln. In
der That waren diese Dreifus-Stücke und die Irrenhaus-Stücke Ton
jener Bühne bald yerschwunden.
Das deutet auf das Bewegliche, auf das Einzel-periodiche der
Sache.
In den Sternen steht geschrieben: Derselbe Gugelkopf oder seine
nachgegossenen Brüder und dasselbe Publikum oder seine Kinder sind
noch ganz anderen Grössen Vorwürfe zu machen berufen. Heute mir,
morgen dir, nach Wahl der Herren Skribenten.
Dass die Irrenärzte auch da eingeschlossen sind, — das ist freilich
tragischschofel. *)
Aber das Gedächtniss des Publikums ist kurz. Länger ist das der
Männer der Wissenschaft, und es steht zu hoffen, dass das, was aus
jenen deutschen Irrenhausaffairen zu lesen war, ins geschichtliche
Notizbuch der Psychiater eingetragen worden ist
Freilich ist es anders mit den gedruckten Brochüren; die bleiben
vielfach liegen und finden 5 oder 10 oder 20 Jahre später noch einen
Leser.
Vollständig auf gleicher Stufe mit der Idee der Irrenanstalt auf
der Bühne ist Folgendes:
Einige aus Deutschland durchgebrannte Querulanten haben schon
'*') Aus dem mir zugäuglichen, geringen Material scheint heryorzugehen, dass
das erste specifische Irrenliaus-Sensations- und Verleumdungssiück Tor etwa 50
Jahren erschienen ist: „Die Mutter im Irrenhaase''. Von da ab scheint bis auf
heute, wo in Paris das Drama „En paix" gegeben wird, in kurzen Interrallen di^
Sache ziemlich gleichartig geblieben zu sein: d. h. kein innerer Zusammenhang
und keine Schule und Entwickelung liegt vor, wie etwa bei allen anderen Er-
zeugnissen für die Bühne. Immer wieder neue, für sich isolirte Motire, und das
Kommen und Verschwinden, Gleichheit besteht nur darin, dass die BiUme sich
herrleiht.
Irrenhaus und Bühne. 247
seit Jahren Bednerbühnen und Reisegeld erhalten, um in schweizerischen
Lokalen Vorträge über „ihre Sache^ zu halten, und aUe unter ein-
ladenden Zeitungsreferaten, ähnlich denen der Irrenhausstücke.
Ich habe die Bekanntschaft einer Reihe solcher Personen gemacht,
ihre Vorträge besucht imd mich daTon überzeugt, wie die Zuhörer
Peuer und Flamme waren für all diese interessanten Dinge, die viel
weniger trocken waren als Agitations- und Vereinsmeierei, denen der Ver-
ein und sein Lokal an anderen Abenden gewidmet sind.
Dass einer dieser Vortragenden, der in urgemüthlichem Schwäbisch
— für den Schweizer ist der „Schwab" schon an sich die komische
Figur — 4 Stunden lang sprach, in Folge eines von ihm begangenen
Todtschlags seinerzeit den Irrenärzten Torgefuhrt worden war, hatte
er mit dem treuherzigsten Ausdrucke im Vortrag erledigt mit „einige
Differenzen mit einem Bekannten von mir".
Und merkwürdig, dass auch hier ein grosses Material Ton schlechten
Witzen und dgl. Torkam, derart schlecht, dass eigentlich darin ihre
<7Üte lag, — und dass auch sie die Sache unterstützen konnten.
In Basel, Bern, Zürich hat er Vorträge gehalten, und immer ohne
eigoaes Einkommen zu haben und er soll so bis nach Ungarn hinabge-
kommen sein, unterstützt und getragen von den Mächten, die gegen das
Irrenhaus sind.
17'
Terminologie und Weltsprache.
Von
Dr. A. Forel.
Der Aufsatz von Prof. Toennies im Bd. X. Heft 3 der „Zeit-
schrift für Hypnotismus^ hat mich sehr interessirt und in mir einen
fast erloschenen früheren Lichtstrahl der Hofifhung geweckt, es könne
vielleicht endlich ein Mal ein ernster Versuch zur Entwirrung des
Babel thurms unserer heutigen Welt gemacht werden.
Ja! Babelthurm der Worte imd der Begriffe — nicht etwa nur
im Bereich der Psychologie und Psychopathologie (s. m. Aufsatz über
Talent und Genie im gl. Helft dieser Zeitschr.) — nein auch sogar
z. B. in der simplen Anatomie, besonders in der vergleichenden und
in derjenigen des Gehirnes, sowie so ziemlich in allen Gebieten. Man
denke nur noch z. B. an die Qual eines Lateinschülers, der in ein
anderes Sprachgebiet übersiedelt.
Die Worte sollten freilich dehnbar und wandelbar wie die Begriffe
sein können, um einen bleibenden Werth zu behalten. Nehmen wir
einen recht einfachen Fall. Als Tramway hat man städtische Strassen-
Omnibusse auf Eisenschienen, durch Pferde gezogen, zuerst bezeichnet
Nun traten solche Dinge ohne Pferde, zuerst durch Dampf, dann durch
Electricität getrieben hinzu, und heissen auch Tramways (oder Strassen-
bahnen). Dies bedeutet eine Erweiterung des Begriffes des Wortes
Tramway. Aber nun schafft man allmählich die Tramway-Pferde alle ab,
und in Amerika ist die That bereits vollzogen. Da wird der Begriff wieder
eingeengt, aber gerade an der Stelle beschnitten, wo er zuerst begonneD
hatte. Somit wird er ganz verschoben. In den TT. S. giebt es hente
nur noch eine Tramway, die electrische Strassenbahn. Diese dehnt
sich aber bereits ausserhalb der Städte, auf den Feldwegen aus. Das
ist wieder eine neue Erweiterung des Begriffes. Am Genfersee giebt
es sogar Eisenbahnzüge ohne Gepäck, die an allen kleinen Ortschaften
Terminologie und Weltsprache. 249
balteD, und die man Trains tramways nennt. Die Zukunft wird uns
neue Tractionsmetboden, vielleicht auch veiänderte Schienen bringen. —
Und 80 wird der dem Wort „Tramway^ zu Grunde liegende Begriff
bald erweitert, bald im anderen Siune eingeengt, schliesslich mehr
oder minder in verschiedenen Hinsichten inhaltlich verändert. Aber
das starre Wort bleibt gleich — oder dann muss man andere Worte
fdr Theilbegriffe schaffen u. s. f.
Je nach den metaphysischen-religiösen Anschauungen wechselt
wiederum der Begriff des Wortes Moral, u. s. f. —
Ich will dadm'ch nur andeuten, dass die erwünschte Akademie
selbst aus Kautschuk gemacht sein muss, wenn sie im Stande sein
will, den wechselnden Bedürfnissen stets anpassungsfähig zu bleiben.
Solche Krystalle, wie die alte französische Akademie sind Todtengräber
der Sprachen. — Unter genannter Bedingung würde auch ich eine
Weltsprachenakademie herbeisehnen. — Sollte sie jedoch dem mensch-
lichen Geist eine starre terminologische Zwangsjacke anlegen — dann
„Vade retro Satanas!" — Lieber noch der Chaos!
In einem Punkte kann ich mit Prof. Toennies nicht überein-
stimmen. Eine Neubelebung des Lateins halte ich für eitlen Wahn,
es sei denn, man behielte nur die Wurzeln. —
Zwar bin ich durchaus für die Idee der Weltsprache begeistert
Aber diese Idee hat bisher an vielen Kinderkrankheiten gelitten, die
zunächst mitsammt ihren Missbildungen verschwinden müssen. —
Griechisch und Latein waren für ein Zeitalter gut, wo der
Mensch Zeit hatte, sein Leben mit sprachlichen Complicationen zu ver-
thon. Sie sind heute todt und werden nicht mehr aufleben. Es mag
vom ästhetischen Standpunkt aus schade sein, aber gerade die Ver-
suche der modernen Hellenen, das alte Griechische zu restauriren,
zeigen, wie wenig diese Sprache fiir heute passt. Die Philologen müssen
schliesslich einsehen lernen, dass die Sprache für den Menschen, nicht
der Mensch für die Sprache da ist. — Wir können in unserem heutigen
Entwickelungsgang nicht mehr zurück.
Schleyer hat mit seinem Yolapük allen bestehenden Sprachen,
auch dem Chinesischen gerecht sein wollen. Ex hat dadurch eine Sprache
geschaffen, deren Grammatik und Syntax relativ einfach, deren Wort-
schatz jedoch für alle Völker — chinesisch — ist. Das war ein Grund-
fehler, der das Yolapük getödtet hat. Ich habe seinerzeit angefangen
es zu lernen, imd merkte dann bald, worin der Grund seiner Aussichts*
iosigkeit lag.
250 A. Forel.
Doch hat es den grossen Verdienst, den Beweis erbracht zu haben,
dass die Schaffung einer künstlichen, von allen unnützen grammatica-
lischen und syntactischen Schwierigkeiten befreiten Sprache für die
ganze Welt ein Ding der Möglichkeit ist. Denn, trotz der grossen
Schwierigkeit des Vokabulars , hat das Volapük eine Zeit lang Fort-
schritte gemacht, wurde viel geschrieben, sogar gesprochen.
Ja die Volapükisten haben zugleich den practischen Weg gezeigt^
wie man einer solchen Sprache zur Eroberung der Welt verhelfen
kann; es ist der Folgende:
A. Gründung einer Weltsprachen-Akademie.
B. Verbreitung der Weltsprache zunächst da, wo das materielle
Bedürfniss am greifbarsten ist, nämlich im Handel, zum internatio-
nalen Verständniss der Kaufleute.
C. Es wild an dem Princip festgehalten, dass die internationale
Weltsprache die Nationalsprachen nicht ersetzen soll. Sie soll neben
denselben für internationale Zwecke gelernt werden.
Andere Leute behaupten, die englische Sprache wird so wie so znr
Weltsprache ; man müsse somit abwarten. Abgesehen davon, dass dies
zu bedauern wäre, da man doch eine phonetische Weltsprache haben
sollte, und die englische Sprache ziemlich das Gegentheil davon ist,
ist bei der Eifersucht der Nationalitäten eine Einigung über die eng-
lische Sprache nicht zu erwarten. Man muss um diese Schwierigkeit
herum und zugleich etwas Besseres und Vollkommeneres zu erreichen
suchen.
Welche müssen nun die Grundeigenschaften einer Weltsprache
sein? Darin haben Esperanzo mit seiner Pasilingua, Lott und Andere
verdienstvoll vorgearbeitet. Ich greife hier nur die Hauptpunkte heraus:
a) Die Weltsprache muss soviel als möglich aus Wurzeln bestehen,
die alle Culturvölker mehr oder weniger kennen, und vor Allem solche
Wurzeln nehmen, die von den Hauptcultursprachen verwendet werden.
Die alten Wurzeln aus dem Sanscrit, Griechischen, Lateinischen, Ger-
manischen, müssen also herhalten. Dadurch wird von vorneherein die
Erlernung der Weltsprache so leicht, dass eine Hauptschwierigkeit
ihrer Verbreitung schwindet.
b) Sie muss phonetisch sein. Jeder Vocal soll nur ein Zeichen
haben, jeder Consonant ebenso, und umgekehrt. Dabei aber sollen
alle in den Cultursprachen vertretenen Hauptnuancen ermöglicht werden.
c) Grammatik und Syntax müssen zugleich das erträgliche Maxi-
mum der Einfachheit und das erträgliche Maximum der Biegsamkeit
Terminologie und Weltsprache. 251
bieten. Alle Ausnahmen müssen weg. Ebenso muss das altmodiseh
complicirte Decliniren durch den Artikel ersetzt werden. — Die Welt-
sprache muss wie Kautschuk sein, die Wortneubildung ungemein er-
leichtem. — Ausserdem muss sie wohlklingen.
d) Sie muss zugleich eiue leichte internationale Handelsverstän-
digung und zugleich eine Weltsprache für Wissenschaft, Kunst und
Philosophie werden können. — Man erschrecke nicht darüber. Nur
das Vorurtheil findet darin eine Unmöglichkeit. Es giebt in allen
Sprachen so yiel unnöthige Absurditäten und Complicationen, dass ihre
Abschaffung allein Baum für ein grosses Gebäude schafft.
Man denke nur an den ganzen Unsinn der Unregelmässigkeiten,
der mit etwas gutem Willen leicht abzuschaffen ist. Femer an die
Absurdität der allen möglichen Dingen künstlich verliehenen Geschlechter :
La lune, der Mond; le soleil, die Sonne: Das Weib, die Wand,
der Tisch u. s. f. (sogar das echt Weibliche wird zum Neutrum!).
— Die englische Sprache hat kurzweg diesen ganzen Ballast abge-
schüttelt und fahrt wohl dabei. —
Ich will nur ein Beispiel einer der besten mir bekannten Vor-
schläge einer Weltsprache anführen, dasjenige von Julius Lott in
Wien (Grammatik der Weltsprache; Leipzig, Druck von Frankenstein
und Wagner, von Julius Lott, Wien, II. 2, Schütteistrasse 3 ; Suplent
folie ad mie intemazional lingue, derselbe, August 1891; Le Kosmo-
polit, Gazette prol. amikes de un lingue universal, Leipzig, 1. Nov.
1893, Redaction Wien III, 2, Untere Weissgärberstrasse 6 u. s. f.) —
Hier folgt ein kurzer Abschnitt aus der Suplent folie von Julius
Lott :
„Le Vokabular.
Le Studie de un mondolingue dove esere facil et util. Un simpel
et regulär gramatik ne eser6 difikult praktikare et usare; ergo, le
difikulte de soluzion de il problem ue forma le gramatik ma le Voka-
bular. Guant plu notorios ese le vokables tant plu inteligibl et facil
pro noi. Omne verb ne ese intemazional ma qualkun member de un
verbfamilie ese notorios p. e. patria, patriot ergo pater, paternal; im-
pertinent ergo pertinent; parlament ergo parlare
Le ortografie et le alfabet.
Le ortografie de un mondolingue pote esere fonetik et simpl o
historik. Le modern lingues intende un fonetik ortografie ile ese un
fiakt, et il tendenz ese pro un universal lingue de plu grand importanz
quam le historik skripzion p. e. filosof, fosfor. Si anke le intema-
252 A. Forel. Terminologie und Weltsprache;
zional skripzioii — sequand le nazional pronunciazion — ese Dostre
basis, anke un simplifika^ion de le ortografie, ad le ezempl de le bis-
panik liugue, ne eser6 inscieotifik.
Le doktes iuter si pote usare le historik ortografic, ma le homo
de komercie ese saep in dubie en use de dublkonsonantes p. e. scelerat
= scellerato (it.) vasalo, Vasall (ger.) ; yassal (angl. et fr.) vasallo (it.
et hisp.). Sin perdite pro le klaritö noi pote tolerare le skripzion:
gramatik pro grammatika, profesor pro professor. In il question le
majorite aver6 le decision.
Un simpl alfabet et sue konform, inminnzios pronunciazion ese
absolut necesar. Si noi fixa : g ese egal a le grek germanik guturalton
g p. e energie, pagine, agio (ne asliio) o j ese pronunciat kome in le
latinik et germanik lingue (j) et ne kome in le hispanik (ge-, gi) p. e.
jubile, Juni, Juli, ile ne ese plu difikult ."
Eine solche Sprache ist fast ohne Erlernung für den Gebildeten
verständlich.
Sie mag beim ersten Anblick befremden. Doch wenn man sich
irgend eine fremde Sprache (Ungarisch, oder Schwedisch, oder Spanisch,
für den, der diese Sprachen nicht kennt) besieht, wird man zunächst
ebenso sehr befremdet. Das nähere Studium zeigt aber bald die un«
geheuren Vortheile der Einfachheit in Aussprache, Grammatik, Syntax,
Satzbildung, Wortbildung für neue Begriffe etc. —
Leute, die auf Grund von Erfahrung tief in die Frage blickten,
haben vor vielen Jahren schon gesagt: Zuerst muss das Volapük ab-
sterben. Erst auf seinen Buinen muss die neue durchfuhrbare Welt-
sprache entstehen.
Nun ist das Volapük so ziemlich todt. Es wäre an der Zeit, auf-
zubauen. Würden sich hochstehende Persönlichkeiten für die Frage inter-
essiren, eine Weltsprachenakademie gründen und dieselbe mit weitgehen-
den Mitteln und Befugnissen ausstatten, so wäre der erste Schritt gethan.
Dann, aber erst daon, könnten einerseits der Handel die Sache
practisch verwerthen, andererseits Philosophie und Wissenschaft sich
an eine internationale terminologische Arbeit machen, die grossartige
Früchte tragen müsste.
Es wäre der Triumph des menschlichen Geistes über den Babel-
tfaurm und würde den Weltfrieden anbahnen, ohne die Nationalsprachen
und Eigenthümlichkeiten zunächst zu zerstören. Wird Jemand den
Muth, die Mittel und die Kraft haben, dieses Werk im Beginn des
XX. Jahrhunderts zu unternehmen? Dem Bahnbrecher die Ehre!
Casuistische Beiträge zur Suggestiv-Therapie.
Von
Dr. Georg Wanke, z. Z. in Jena.
1. Fall. Wilhelm G., 19 Jahre alt, aus gesunder Familie. Eltern beide
gesund und sehr rüstig; ebenso die 5 Geschwister.
Körperlicher Status: Kräftiger Körperbau. An den inneren Organen
nichts Abnormes nachweisbar. Geringe Asymmetrie des Gesichts, Supraorbital-
druckschmerzpunkt beiderseits. Kopfpercussion leicht schmerzhaft. Keine Druck-
empfindlichkeit im Abdomen, keine Spinalirritation. Haut- und Sehnenreflexe
nicht gesteigert. Puls 76 in der Minute, regelmässig. Radialis gut gespannt. —
Patient kommt im November 1896 in die Sprechstunde und klagt über Mangel
an Schlaf und Appetit, leichte Ermüdbarkeit und Unlust zur Arbeit und über
gelegentliche Anfälle von Blutandrang nach dem Kopf, Schwindel und Herzklopfen,
worauf gewöhnlich Kopfschmerzen folgen, die dann längere oder kürzere Zeit be-
stehen bleiben. Pt. hat sich bereits yerschiedentlich ärztlich behandeln lassen,
„es hat aber keine Arznei bis jetzt geholfen^\ Der letzte Arzt hat ihm gesagt,
er solle nur noch einige Jahre warten, das verginge von selbst wieder, wenn er
älter und stärker würde.
Anamnese: Pt. gab an, seit ein paar Jahren an Schwindelattackcn mit
Blutandrang nach dem Kopf gelitten zu haben. Dies sei der Anfang des Leidens
und vielleicht dadurch verursacht gewesen, dass Pt. (er war Eisenformer) viel in
gebückter Haltung und dabei oft bei hoher Temperatur arbeite. Mit diesen
Schwindelanfällen trat gelegentlich auch Herzklopfen auf und bald folgten ge-
wöhnlich Kopfschmerzen auf diese Anfälle. Dann begann auch der Nachtschlaf
zu leiden, der Appetit liess nach und mit einer an sich geringfügigen Abnahme
der Körperkräfte trat allmählich Unlust zur Arbeit und Verstimmung auf. So
war es eine Weile weiter gegangen.
Wenn Pt. sich allzu schwach fühlte in Folge seiner Anfälle, schonte er sich
mal ein paar Tage und dann g^ng es wieder leidlich mit der Arbeit. Aber das
Leiden blieb doch bestehen und zeigte bald noch weitere Folgen für das psychische
Leben des Patienten.
254 Georg Wanke.
Die Schwindelanfälle kamen öfter. Dire directen, bereits geschilderten Folgen
traten intensiver und hartnäckiger auf. Pt. wurde dadurch immer mehr rer-
stimmt und zog sich Ton seinen Altersgenossen zurück, er wurde menschenscheu.
Das äusserte sich weiterhin darin, dass er viel für sich allein war und nicht nur
den Verkehr mit seinen Freunden mied, sondern sogar wenig oder gar nicht mit
seinen Eltern und Geschwistern sprach, sich vielmehr am liebsten zu Haus ein-
schloss und stundenlang allein blieb. Dies waren aber noch nicht alle Folgen der
gehäuften Anfälle. Noch eine ernste Erscheinung stellte sich allmählich ein: Ft.
bekam Angst, es könne ein Anfall kommen und da er sich während des Schwindel-
anfalls selbst unfähig zur Arbeit fühlte und Fehler zu machen fürchtete, traten
nunmehr die Anfölle fast alle mit Angstgefühlen auf, welche sich auf das Be-
wusstsein der eigenen Insuffizienz gründeten. Der Zustand war endlich ein solcher,
dass Pt. Angst hatte, während des Schwindelanfalls in der Arbeit Fehler zu
machen oder nach etwas gefragt zu werden, z. B. nach der Zeit: er fürchtete,
dann die Uhr nicht lesen zu können oder auch wohl lesen zu können, aber doch nicht
im Stande zu sein, dem Fragenden eine richtige Antwort zu geben. Und in solcher
Lage war es ihm dann auch schon wiederholt passirt, dass er, durch Angst und Be-
klommenheit gehemmt, kein Wort hatte sprechen können. Der weitere Verlauf
des peinlichen Zustandes war dann der, dass Pt. schliesslich auch ohne die
somatischen Erscheinungen Angstanfälle bekam, deren Begleiterscheinungen mit-
unter geradezu den Eindruck des Zwangsirreseins machten.
Wie war der jetzige Krankheitszustand des Patienten nun zu ver-
stehen? Ich erinnere hier an die Klagen, mit denen Pt. zur ersten
Consultation kam: Mangel an Schlaf und Appetit, leichte Ermüdbar-
keit, Unlust zur Arbeit und „gelegentliche" Anfalle von Blutandrang
nach dem Kopfe, Schwindel und Herzklopfen mit folgenden Kopf-
schmerzen. — Man sieht, Pt. schilderte seine Beschwerden naturgemäss
in der Reihenfolge, wie sie ihm ins Qedächtniss kamen. Des chrono-
logischen Zusammenhangs der einzelnen Erscheinungen war er sich nicht
bewusst, geschweige denn des ätiologischen. Er hatte es inzwischen
ganz vergessen, dass die Schwindelanfälle das Primäre waren, und die
psychologische Begründung der Angst als Folgeerscheinung des Be-
wusstseins seiner Insuffiziens war ihm auch nicht klar geworden. Ja,
aus den spontanen Angaben darf man schliessen, dass er der Angst
mit ihren Begleiterscheinungen gar kein besonderes Gewicht als Krank-
heitserscheinung beimass, da er sie eben gar nicht nannte und erst
über sie berichtete, als er, durch Fragen veranlasst. Schritt für Schritt
die Ent Wickelung seines Krankheitszustandes schilderte.
Dass er sich des Zusammenhangs der einzelnen Erscheinungen
nicht klar bewusst war, geht auch noch daraus hervor, dass Pt neben
den Erscheinungen der Erschöpfung nur von „gelegentlichen" Anfällen
von Blutandrang nach dem Kopf und Schwindel sprach. Dass diese
Gafluiatische Beiträge zur Suggestiv-Therapie. 265
Anfalle ursprQDglich immer mit den anderen Erscheinungen aufgetreten
waren, ja, dass sie das auslösende Moment für alle seine Beschwerden
geworden waren, hatte er vergessen, da sich allmähliüh ein Zustand
heraus gebildet hatte, in welchem alle jene ErscheinuDgen der allge-
meinen Erschöpfung bestanden, ohne direct von einem bestimmten
Schwindelanfall ausgelöst worden zu sein und in welchem sogar zeit-
weise nur die rein psychischen Erscheinungen der Angst auftraten und
zwar der Angst, mit Menschen zusammen zu kommen, von ihnen ge-
fragt zu werden u. s. w.
Die Erkenntniss der Pathogenese des auf den ersten Blick ein-
fachen, nach sorgfältiger Analyse aber sich als durchaus nicht einfach
erweisenden Falles zeigte mir den Weg für die Therapie und ebnete ihn.
Da dem Patienten anderweitig bereits allgemeine hygienische Mass-
nahmen verordnet worden waren und Nervina, Stomachica und Robo-
rantia sich als unzulänglich erwiesen hatten, beschluss ich eine metho-
dische Hypnotherapie einzuleiten. Der junge Mann, dem ich eröffnete,
wie ich ihn zu behandeln gedachte, erklärte sich zu dieser Behandlung
bereit, da er von allem anderen bisher keine Hülfe bekommen hatte.
Pt. setzte seine Arbeit während der sich über sechs Monate er-
streckenden Behandlung nicht aus. Da er täglich bis 7 Uhr Abends
arbeitete, kam er jeden Abend um 8 Uhr zu mir. Die Sitzungen dauerten
1 — 1^/2 Stunden und wurden nur dann ausgesetzt, wenn ich anderweitig
abgerufen wurde. Die ersten 15—30 Minuten benutzte ich gewöhnlich
zur beständigen systematischen Wiederholung der Suggestionen. Während
der übrigen Zeit lag Pt. späterhin fast immer in tiefer Hypnose. —
So setzte ich die Behandlung zwei Monate lang fort. Im dritten Monat
hypnotisirte ich den Pt jeden zweiten Tag, im vierten wöchentlich
2 Mal, im fünften wöchentlich 1 Mal und im sechsten Monat im Ganzen
2 oder 3 Mal. In den folgenden Monaten wiederholte ich die Sitzungen
nur gelegentlich und vom zehnten Monat ab war Pt. ohne Hypnose.
Ich begann nun zunächst dem intelligenten Patienten nochmal
kurz vorzuführen, wie sein Leiden sich entwickelt habe und hatte die
Befriedigung, dass er mir mit einem gewissen Staunen zugab, dass das
wohl alles so gekommen sein möge. Nachdem ich auf diese Weise
schon sein Vertrauen gewonnen hatte, erklärte ich ihm auch, wie er
nun seine volle Gesundheit wieder erlangen könne: es sei das nur da-
durch möglich, dass er Buhe fände, dass er wieder schlafen lerne, dass
er guten Appetit bekäme und dadurch erstarke und den Anforderungen
seines Berufes immer besser gewachsen sei. Alle diese Suggestionen
256 Georg Wanke.
wurden immer und immer wiederholt und wurden auf diese Weise dem
FatieDten zu ganz geläufigen Gedankenreiben, die er allmählich selbst-
ständig zu reproduciren lernte (siehe unten). Wenn er so bald merke,
fuhr ich fort, dass die Kräfte wiederkehrten, dass er wieder guten
Schlaf UDd Appetit habe, dann würde er auch die Arbeit wieder mit
mehr Freude thun und würde auch nach und nach das Vertrauen zu
sich selbst wiedergewinnen und in demselben Maasse die Menschenscheu
überwinden, d. h. keine Angst mehr haben, durch Fragen in Verlegen-
heit gebracht zu werden und sich überhaupt nicht mehr vor dem Ver-
kehr mit seinen Familienangehörigen und mit seinen Altersgenossen
furchten ....
Der Patient hatte gesehen, wie ich seine geheimsten Gedanken-
gänge, über die er nicht einmal selbst zu voller Klarheit hatte kommen
können und die er vor den Menschen bisher ängstlich zu verbergen
bemüht gewesen war, vor ihm entrollte und zugleich entwickelte, wie
ihm Hilfe zu bringen sei. Es war nicht zu leugnen, dass meine Be-
lehrung befreiend und ermuthigend auf den Kranken wirkte. Ausdauer
und dankbare Anerkennung von Seiten des Patienten lohnten meine
Bemühungen.
Ich erstrebte nun in den einzelnen Sitzimgen zunächst, dass Ft.
prompt und tief einzuschlafen lernte. Ich wandte Vogt's combinirte
Methode an (kurze Fixation in Verbindung mit Verbalsuggestionen und
leichtem Streichen) und zwar das „fraktionirte" Verfahren. *)
Pt. gehörte nicht zu den sehr leicht hypnotisirbaren Kranken.
Ich hatte ihn aber doch nach etwa 10 Sitzungen soweit gebracht, dass
er das kataleptische Stadium erreichte und auf entsprechende Suggestion
ruhig weiterschlief, bis ich ihn weckte und bald auch im Stande war,
bei einem bestimmten Glockenschlage zu erwachen.
So hatte Pt. gelernt, wieder gut und fest zu schlafen und, was
fast noch mehr werth war, er hatte die Ueberzeugung gewonnen, dass
die Art der Behandlung, die ihm doch ganz neu war, sich durchaus
bewährte.
Ich weckte den Pt. niemals, ohne ihm die eindringliche Suggestion
gegeben zu haben, dass er zu Hause ebenso schnell einschlafen und
ebenso gut weiterschlafen werde, wie er es bei mir gethan habe; er
möge nur an meine so oft wiederholten Worte denken und sich recht
») Siehe Zeitschrift für Hypnotismus, Bd. VH, 1898, S. 279, „Zur Methodik
der hypnotiBcheu Behandlung**, Ton K. Brodmann.
CaauiBtische Beiträge zur Suggestiv-Therapie. 267
lebhaft vorstellen, er schlafe bei mir auf dem Sopha. Allmählich lernte
er, die snggerirte Yorstellnngsreihe selbständig reproduciren und meine
Fernsnggestionen realisirten sich. Ft. schlief auch zu Hause schnell
ein und genoss alsbald einen ausgezeichneten Nachtschlaf. Noch mehr!
Ft. hatte mir erzählt, dass er Nachmittags oft sehr müde bei der Arbeit
sei, dass er sich aber frisch fühle, wenn er nach dem Mittagsessen kurze
Zeit schlafen könne. Allein, das wäre nur selten möglich, da die
Mittagspause zu kurz sei. Durch meine Suggestionen erreichte ich es,
dafis Fatient sofort nach der Mittagsmahlzeit sich niederlegte und —
mit Autohypnose — augenblicklich einschlief. Wenn er sich dann nach
einer Viertelstunde wecken liess, war er frisch. — Ich ging noch
weiter!. — Ft. klagte, dass mitunter bei der Arbeit noch Anfälle von
Schwindel und Blutandrang nach dem Kopf kämen und dass er sich
dann sehr matt und unfähig zur Arbeit fühle. Es gelang mir, ihn so
zu erziehen, dass er beim Nahen eines Schwindelanfalls sich sofort in
eine ruhige Ecke zurückzog und sich, meist sogar in sitzender Stellung,
in eine nur wenige Minuten währende Autohypnose versetzte, tius
welcher er ein für alle Mal die Dauersuggestion hatte, frei imd frisch
zu erwachen.
Ich brauche nicht zu erwähnen, dass Ft. nun völlig in meine Hand
gegeben war. Es war mir jetzt ein Leichtes, ihm diese oder jene Er-
scheinung wegzusuggeriren. Ich hatte eine unfehlbare Macht gewonnen
über sein ganzes körperliches und seelisches Leben. Ich beseitigte
ihm Herzklopfen, wenn es zufallig bei der Hypnose bestand. Ich ver-
trieb sein Müdigkeitsgefühl. Ich verscheuchte seine trüben Gedanken
und gab ihm dafür eine heitere Stimmung. Ich nahm ihm seine Angst
und schenkte ihm dafür Selbstvertrauen und Freude an der Welt und
am Umgang mit Menschen.
Am hartnäckigsten erwiesen sich seine Kopfschmerzen, die von den
häufigen auf Blutandrang nach dem Kopf beruhenden Schwindelanfallen
als ein fast chronisches Leiden zurückgeblieben waren. Diese Kopf-
schmerzen waren der hypnotischen Suggestion in einem solchen Masse
zugänglich, dass es mir allmählich möglich war, sie augenblicklich
durch Handauflegen und Streichen aus einem Bezirk des Kopfes in
einen anderen zu dirigiren. Ich machte davon auch stets Gebrauch
und erreichte durch öfter wiederholtes Streichen von der Stirn aus bis
zum Hinterkopf regelmässig, dass der meist in der Stirn lokalisirte
Schmerz nach hinten zog und sich in eine Wärmegefühl verwandelte,
welches vom Hinterkopf in Nacken und Rücken ausstrahlte, um dort
als angenehme warme Empfindung bestehen zu bleiben.
S68 Georg Wanke.
Ich weiss nicht mehr, wie oft ich diese Reihe von VorsteUangen
uBd Empfindungen dem Patienten suggerirte. Aber der geschilderte
Kopfschmerz war das Symptom, welches zu allerletzt wich und erst in
den letzten Wochen der Behandlung ganz wegblieb. Ich hatte den
Pt. so erzogen, dass er, in tiefer Hypnose liegend, mich aus dem Neben-
zimmer sofort rief, wenn er Kopfschmerzen fühlte. Durch geduldig
ausgeführtes Streichen brachte ich ihm jedesmal Linderung und schliess-
lich Heilung.
Ich hatte die Freude, den Pt. völlig genesen xu sehen und habe
mich in den darauffolgenden Jahren davon überzeugen können, dass
die Heilung anhielt. — Was seinen Verwandten während und nach
der Behandlung am meisten auffiel, war der Umstand, dass Pt. seine
Menschenscheu allmählich verlor. Er, der früher ein lebenslustiger,
aufgeweckter Junge gewesen war und dann durch die Krankheit ver-
driesslich und menschenscheu wurde, sich zurückzog und mit Niemand
verkehrte, wurde wieder heiterer. Er fiind wieder Freude am Verkehr
mit seinen Altersgenossen (dies speciell war wohl den diesbezüglichen
Suggestionen zuzuschreiben) und trat zum grossen Erstaunen seiner
Eltern sogar einem Turnverein bei, da er plötzlich Vergnügen daran
fand, im Kreise jugendfrischer Genossen seine Körperkräfte zu üben. —
2. Fall. Louis 0., Eisenformer, 18 Jahre alt. Kam, da er durcli den vorigen
Patienten von meiner „neuen Behandlungsmethode'^ gehört hatte, am 21. Jan. 1897
mit der folgenden Krankheitserzählung zu mir:
Im Januar 1895 wurde ich, während ich mit meinen Kameraden bei der
Arbeit war, fälschlich beschuldigt, einen Mitarbeiter mit Sand geworfen zu haben.
Ich war damals noch Lehrling und ein Geselle schlug mich mit einer Schaufel
über das Kreuz. Dann setzte es noch Ohrfeigen, so stark, dass ich gleich betäubt
war. Als ich mich verantworten wollte und, der Wahrheit gemäss, behauptete,
dass ich meinen Kameraden nicht geworfen habe, setzte es wieder Ohrfeigen. Ich
wurde sehr wüthend und dann musste ich heftig weinen. Als dies nachgelassen
hatte, schalt ich die Anderen, dass ich die Strafe zu Unrecht erhalten habe. Zorn
Meister geführt und im Begriff^ mich zu verantworten, erhielt ich noch ein paar
Ohrfeigen, welche zur Folge hatten, dass ich mich nicht wieder beruhigen konnte
und auch zu Hause den ganzen Abend noch weinte. Ausserdem trat zu Hause
noch Herzklopfen auf und ein Zucken im ganzen Körper, besonders in den Ober-
schenkeln und in den Augen. Ich musste wegen dieser Erscheinungen 14 Tage
zu Hause bleiben. Der Arzt verordnete mir eine Arznei und hiess mich, fleiasig
in die frische Luft zu gehen. Nach 14 tägiger Pause ging ich wieder an die Arbeit,
aber ich musste mich dazu zwingen. Die eben geschilderten Beschwerden, du
Zucken in den Gliedern und Augen, traten immer wieder auf, wenn auch nicht
so stark, dass ich die Arbeit aussetzen musste. Ich verlor allmählich den Appeütt
der Schlaf wurde unregelmässig und meine Arbeitsfreude und Lebenslust war hin.
GasuutMche Beiträge zur SuggestiT-Therspie. 869
denn ich bin seit zwei Jahren fast niemahi ganz frei von Beschwerden gewesen.
Die Arbeit wurde mir schwer; ich kriegte nichts mehr fertig; konnte nichts mehr
machen; es war nicht mehr möglich. — Ich habe Verschiedenerlei Tom Arzt rer-
ordnet bekommen, aber es hat mir nichts geholfen. Auch jetzt habe ich noch immer
keinen Appetit, keinen Muth und leide noch immer an Herzklopfen. Dasselbe tritt
meist auf, wenn ich zu Bette gehe ; zugleich habe ich dabei fast immer kalte Füsse und
oft heissen Kopf. Ich schlafe dann meist erst gegen Morgen ein und fühle mich bei
Tage matt. Auch das Zucken in den Augen tritt zuweilen noch auf, meist beim scharfen
Hinsehen während der Arbeit und besonders im rechten Auge. — Nun habe ich
Ton meinem ArbeitscoUegen G. gehört, dass Sie ihn bei sich schlafen lassen. Ich
weiss, dass er auch ähnliche Beschwerden hat wie ich und möchte Sie fragen, ob
es mir auch helfen würde, wenn Sie mich so behandelten wie ihn^S Soweit der
natürlicJi durch Zwischenfragen so erschöpfend gegebene Bericht.
Während es sich bei dem vorigen Patienten um einen früher gesunden jungen
Mann aus durchaus integrer Familie handelte, war dieser Pt. entschieden erblich be-
lastet: er hatte eine schwächliche Schwester. Der Vater war an einer Lungenkrank-
heit gestorben und die Mutter bot hysterische Symptome. Pt. selbst hatte ausser
den Kinderkrankheiten nichts erhebliches durchgemacht. Er war in den letzten 2
Jahren sehr schnell gewachsen und bei einer Grösse von 178 cm von hagerem
Körperbau. Es bestand Spinalirritation in der Lendenwirbelgegend, Druckempfind-
lichkeit im Abdomen rechts und Supraorbitaldruckschmerzpunkt rechts. Sensi-
bilitätsstörungen waren nicht mit Sicherheit festzustellen.
Ich schritt zur Hypnose. Ft. war sehr leicht zu beeinflussen. Jedenfalls
trug der Umstand dazu mit bei, dass er yon den Erfolgen, die ich bei seinem
Kameraden erzielt hatte, wusste. Es gelang mir schon in der zweiten Sitzung,
den tiefsten Grad der Hypnose mit Katalepsie, automatischem Gehorsam und
Amnesie herbeizuführen. Ich behandelte den Pt. nur drei Wochen, täglich eine
Sitzung. Die Beschwerden Hessen zwar nach, aber, wie bei so vielen Hysterischen
ging auch hier mit der leichten Suggestibilität ein festes Haften der Suggestionen
nicht Hand in Hand und Pt. gab mir selbst zu, in dem Kreise seiner Arbeits-
genossen, wo er so viel Unrecht gelitten habe, nicht gesund werden zu können.
Er blieb, als er einige Besserung fühlte, von selbst aus der Behandlung fort und
wählte sich bald darauf einen anderen Arbeitsplatz. Als er dort ein halbes Jahr
gewesen war, kam er zu Besuch nach seiner Heimath und theilte mir gelegentlich
mit, dass er sich jetzt ganz wohl fühle. Er könne wieder arbeiten; er hätte auf
meinen Bath nicht mehr an die unerquicklichen Ereignisse gedacht. Die körper-
lichen Beschwerden seien verschwunden. Er wäre ein ganz anderer Kerl ge-
worden.
3. Fall, Fr. B., Eisenbahnarbeiter (Schmied), 38 Jahre alt, wurde mir im
September 1899 von seiner Krankenkasse zugesandt, mit einem Gutachten des
Kassenarztes, wonach er am 1. Juli des Jahres an „Schüttelfrösten, Zuckungen
and allgemeinen Erscheinungen von Nervenschwäche'* erkrankt war und sich seit-
dem nicht hatte erholen können.
Der Patient klagte bei seiner Aufnahme über Kopfschmerzen, unruhigen,
mangelhaften Schlaf, öftere Angstanfälle, Herzklopfen, Verdauungsstörungen,
Magen- und Leibschmerzen, Rückenschmerzen. „Zuckungen** bestanden zur Zeit
nicht, auch habe ich während der Behandlung des Pt. keine bemerkt. —
260 Georg Wanke.
Die Untersachung ergab nichts positives für die Annahme irgend eines orga-
nischen Leidens. Dagegen fiel auf eine erhebliche Steigerung der Hautr^exe;
Steigerung der Schmerzempfindlichkeit. Palpation des Abdomens schmerzhaft
Der Ernährungszustand des Pt. war ein untermittelmässiger.
Pt. war vorher zwar nicht übermässig kräftig, aber doch nie eigentlich krank
gewesen. Seit dem 1. Januar war er leidend und zwar waren die ersten Krank-
heitserscheinungen Magenbeschwerden: Schmerzen, saueres Erbrechen mit viel
Schleim, meist 2 Stunden nach dem Essen. Dabei war der Stuhl meist trage.
Der Appetit fehlte. Die Beschwerden Hessen mal nach in ihrer Heftigkeit, um
bald darauf wieder stärker hervorzutreten. Im Juni 1899 hatte Pt. leidlich
arbeiten können. Am 1. Juli aber war er wieder ernstlicher erkrankt.
Anamnese und Befund schienen auf ein organisches Magenleiden
hinzuweisen und es bestand wohl auch kein Zweifel, dass ein Magen-
katarrh bei der Erkrankung eine EoIIe mitspielte. Die tägliche Unter-
haltimg mit dem Kranken eröfinete mir jedoch bald noch andere Ge-
sichtspunkte. Pt. war von jeher etwas schwächlich gewesen. Die
Schmiedearbeit war wohl im G-anzen zu schwer für ihn. Er fühlte
sich derselben nicht ganz gewachsen. Trotzdem hatte er jahrelang die
harte Arbeit ohne Nachtheil für seine Gesundheit verrichtet.
Ft. war in guten äusseren Verhältnissen und seine Arbeitsgenossen
hatten diesen Umstand in den letzten Jahren in dem Sinn auszubeuten
verstanden, dass sie gelegentlich auf seine Kosten zechten und prassten.
Anfanglich hatte Pt. gute Miene zum bösen Spiel gemacht und, gut-
müthig wie er war, dann und wann die Zeche bezahlt. Als sich diese
Dinge aber zu oft wiederholten, hatte er erklärt, dass er wohl an seinem
Geburtstage und bei ähnlichen Veranlassungen mal alle frei halten
wolle, dass er aber nicht Lust habe, dies weiterhin so oft zu thun wie
in der letzten Zeit.
Die Mitarbeiter hatten sich über seine plötzliche Zurückhaitang
geärgert und se kam es, dass Patient von ihnen, wo es ging, cbikanirt
wurde und zum Beispiel öfter vom Vorarbeiter Arbeiten zugewiesen
bekam, zu denen seine Körperkräfte nicht recht genügten. Man gab
ihm, um ihn „mürbe" zu machen, mit Vorliebe die schwersten Arbeiten
(letzteres wurde mir von anderer Seite bestätigt). Einerseits nun die
schwere körperliche Arbeit, andererseits aber auch der Gram über die
TyrannisiruDg durch seinen Vorarbeiter und über das hässliche Be-
nehmen seiner Mitarbeiter gegen ihn setzten dem Pt. stark zu und bei
seinem durch die harte Arbeit erschöpften Zustande war es um so
leichter geschehen, dass Aerger und Verdruss gelegentlich Uebelkeit
Magensclimerzen und Erbrechen veranlassten. Die Verdauungsstörungen
Casuiftifche Beiträge znr SuggetÜT-Tlierapie. 261
wirkten ihrerseitB wieder schwächend auf den Organismus und dieser
war nun um so eher der Einwirkung der psychischen Noxen ausgesetzt.
Dieser Cürkel hatte mit der Zeit den ganzen traurigen Zustand herbei-
geführt, in welchem Pt. bei mir erschien.
Ich wandte auch hier neben allgemeinen diätetischen und hygie-
nischen Massnahmen wieder die Hypnose an. Ft lernte jetzt erst die
Vorgänge, welche seine Erkrankung verursacht hatten, in ihrer Be-
ziehung zu derselben ganz verstehen und kritisiren. Er hatte dieselben
bisher selbst so wenig als ursächliches Moment geschätzt, dass er erst
durch mein fortgesetztes Fragen darauf gekommen war, jene Vorgänge
mit seinen Arbeitskameraden könnten für die Entstehung seiner Krank-
heit von Wichtigkeit sein.
Alle jene Vorgänge und die Erinnerung an dieselben verloren da-
durch, dass Ft. lernte, sie klar zu durchschauen und sie zu kritisiren,
dadurch dass Pt. ein fär alle Mal mit ihnen als Urhebern seiner Er-
krankung abrechnete, ihre üble Wirkung auf den Kranken. Das
G-Jundübel war unschädlich gemacht worden, der Cirkel war zerrissen
und bei richtiger Hygiene und Diät trat allmählich völlige Heilung
und volle Erwerbsfahigkeit wieder ein.
Pt. wurde nach 6 Wochen wesentlich gebessert entlassen. Er
hatte gelernt, sobald sich irgend welche Beschwerden zeigten (besonders
Herzklopfen und Magenschmerzen) sich selbst durch Handauflegen zu
curiren und theilte mir nach einem halben Jahre mit, dass er sich
wohl befinde und wieder arbeiten könne wie früher. —
Ich möchte hier noch hinzufügen, dass diesem Patienten, der Stei-
gerung der Hautrefiexe wegen, die usuellen Streichungen, die manchen
Kranken so angenehm sind, unangenehm waren, ja, geradezu Schmerz-
empfindungen auslösten. Ich erreichte mein Ziel bei ihm am schnellsten
durch ruhiges Handauflegen auf die Magen- und Herzgegend, je nach*
dem die subjectiven Magen- oder Herzbeschwerden sich unangenehm
bemerkbar machten. -—
4. Fall. Augost W., Eisendreher, aufgenommen am 17. Sept. 1898. Kräftig
gebauter junger Mann von 28 Jahren. Organe gesund. Reflexe normal. Keine
Druekpunkte. Keine Sensibilitätsstörungen. Anämie. Anamnese: Patient, an-
geblieh nicht erblich belastet, war bis Januar 1898 noch nicht ernstlich krank ge-
wesen, hatte bei der Garde gedient.
Im Januar 1898 starb sein Vater, der längere Zeit leidend gewesen war,
plötzlich in den Armen seines Sohnes, welcher soeben seine Mittagsmahlaeit ein-
genommen hatte. Dem Patienten yerursachte die aufregende Scene Hersklopfen,
Magendruck, Uebelkeit und bald darauf Erbrechen. Diese Erscheinungen traten
Zeitsehiift fOr Hypnotismus. X. 18
36S Georg Wanke.
TOn nun an jeden Tag nach der Hauptmahlzeit auf. Pai. mochte sieh nodi to
wohl fahlen und mit Appetit das Essen einnehmen; sobald er fertig war, traten
jene Erscheinungen wieder auf und jedes Mal folgte nach seinen Angaben aoeh
das Erbrechen.
Litt nun die Ernährung schon durch die gestörte Kahrungsaufnahme, so tnU
eine wesentliche Verschlimmerung des Zustandes noch ein, als im Frnlgahr des
Jahres auch die Mutter des Kranken plötzlich an Apoplexie zu Qrunde ging.
Infolge des Kummers stellten sich allmählich Appetitlosigkeit ein, KopfBchmenen,
besonders Druck über den Augen, Schlaflosigkeit, Reizbarkeit, jetzt öfter auf-
tretendes Herzklopfen und schliesslich Angstgefühle.
Da die Magensymptome besonders in die Augen fielen, war Patient bisher
immer als magenleidend und blutarm betrachtet und behandelt worden und hatte
Chinin, Pepsin und Arsen fast ununterbrochen schlucken müssen. Er hatte aber
bislang keine Hülfe gefunden. Jeden Mittag, eine gewisse Zeit nach der Mahlzeit,
trat das Erbrechen ein und Pat. wagte schliesslich garnicht mehr, sich satt za
essen, da ja doch alles wieder herauskam. Bei den übrigen Mahlzeiten trat das
Erbrechen zwar nicht ein, aber der Appetit war nun schon lange yerloren; die
Körperkrafte nahmen bei der mangelhaften Ernährung immer mehr ab ; Pat. ward«
missmuthig und niedergeschlagen. Fast alle Symptome hatten sich in den letzten
Wochen yerschlimmert.
Die Anamnese wies mit einer absoluten Sicherheit darauf hin, dsss
das ganze Leiden durch Schreck und Kummer verursacht nnd dass
sein Anfang auf den psychischen Shoc im Januar zurückzuführen s^.
Ich setzte dem Patienten auseinander, wie ich seine Erkrankung
auffasste und wie ich ihm zu helfen beabsichtigte. Der kurzen Be-
lehrung folgte die erste Hypnose. Ich veranstaltete in den ersten
14 Tagen täglich zwei Sitzungen. Meine Suggestionen gingen dahin,
dem Patienten den Kopfdruck zu nehmen und ihm ein angenehmes,
warmes, beruhigendes G-efähl in der Magengegend zu erwecken, welches
besonders auf den Magen „stärkend einwirkte und ihn kräftigte, so dass
er im Stande war, die Nahrung zu behalten und zu verdauen.'' —
Fat. hatte die Weisung, sobald er irgend eine lästige Empfindung
spürte, dies mir zu melden. Ich fand auf diese Weise Gelegenheit
ihm sein Herzklopfen, seine Angstgefühle, seinen Magendruck und alle
anderen Beschwerden sofort im Keim zu ersticken.
Zu meiner Freude behielt Pat. gleich die erste Mittagsmahlzeit
bei sich. Die mit Vorsicht gegebene Suggestion, er würde schon gleich
nach der ersten Hypnose in Folge der nachdrücklichen Durchwärmmog
einen widerstandsfähigen Magen haben, hatte sich realisirt und die
Hypnose hatte nun eine souveräne Gewalt über den Patienten. Er
brachte der ihm neuen Behandlung vollstes Vertrauen entg^n nnd
war eigentlich durch die erste Hypnose geheilt. Die weitere Behand-
GasaUtische Beitrfige zur SuggestiT-Therapie. 2(S3
Inng hatte die Aufgabe zu erfüllen, die dann und wann noch auf-
tretenden Beschwerden zu beseitigen und das Erreichte zu festigen.
So z. B. hatte sich auch die Angst bald rerloren, trat aber am zehnten
Tage der Behandlung nochmal deutlicher henror. Als ätiologisches
Moment konnte aber eine Tags zuTor geschehene körperliche üeber-
anstrengung durch zulange fortgesetztes Bergsteigen nachgewiesen
werden. Die Angst wich der entsprechenden Suggestion und kehrte
nun auch nicht wieder.
Von der dritten Woche ab wurde Fat. täglich einmal hypnotisirt.
Die Heilsuggestionen setzte ich dabei etwa eine Viertelstunde fort,
liess den Kranken dann etwa eine Stunde schlafen und weckte ihn
darauf, nachdem ich ihm vorher die üblichen prophylactischen Sug-
gestionen gegeben hatte.
Fat. wurde nach vier Wochen gesund und arbeitsfähig entlassen.
Sein Körpergewicht war Ton 161 auf 186 Ffd. gestiegen. Seine sub-
jecti?en Beschwerden waren sämmtlich verschwunden. Seine Stimmung
war eine durchaus heitere. Mit neuer Kraft, mit Lust und Hoffnung
ging er wieder an die Arbeit und theilte mir ein halbes Jahr später
mit, dass er gänzlich gesund geblieben sei und wieder im Stande sei,
zu arbeiten wie vor der Erkrankung.
5. Fall Frau M., 37 Jahre alt, von sehr kräftigem Körperbau, läset mich
eilig rufen, sie ,Jitte an Gallenblasenkrämpfen, ich möchte gleich die Morphium-
spritze mitbringend^
Die Frau erzählt mir dann, vor etwa 3 Jahren sei sie zum ersten Mal von
einem solchen Krampf befallen worden. Sie habe schreckliche Schmerzen gehabt
und sofort zum Arzt schicken müssen. Derselbe habe gesagt, sie Utte an Gallen-
steinen und ihr Morphium eingespritzt. Dann sei es besser geworden. Darauf
sei sie lange gesund gewesen. Dann aber wären die Krampfanfälle noch einige
Male wiedergekehrt, in den letzten beiden Jahren ungefähr 5 — 8 mal im Jahre. —
Auf weiteres Befragen giebt die Frau noch an, dass sie niemals gelb gewesen sei.
Stuhl war immer in Ordnung. Appetit nur nach dem Anfall geringer, sonst
normal. £s sei ihr aufgefallen, dass die meisten AnfäUe während der Periode
oder kurz Yor derselben gekommen seien.
Die Anamnese und noch mehr die ganze Art, wie die Kranke ihr Leiden
schilderte, regten in mir den Verdacht an, es könnte sich hier nicht um Gallen-
steine, sondern um psychisch bedingte Beizerscheinungen handeln. Ich fahndete
deshalb auf das auslösende Moment des ersten Anfalls. Die Frau konnte sich zu-
nächst nicht besinnen, unter welchen näheren Umständen der erste Anfall aufge-
treten sei, an den sie sich im Übrigen noch sehr genau erinnerte. Ich kam ihr
zu Hülfe und fragte nun direct, ob sie an jenem Tage einen Schrecken oder einen
Ärger gehabt hätte. Sie yemeinte dies. Ihr Gesichtsausdruck und ein flüchtiges
Erröthen sagten mir jedoch, dass ich auf der richtigen Fährte sei und ich sagte
18*
264 Georg Wanke.
nun der Frau geradezu auf den Kopf zu, ich hätte Grund, anzunehmen, daa lie
vor jenem ersten Anfall einen grossen Aerger gehabt hatte, sie mochte mir nur
alles frei sagen, ich würde ihr dann auch helfen können. Die Frau besann sich
und nach einigem Zögern erzahlte sie mir dann Folgendes: Vor drei Jahren habe
ihr damals 14jähriger Sohn sich eines Sonntags betrunken und sei dann in eine
Schlägerei gerathen und mit beschmutztem Anzüge nach Hause gekommen. Ihr
Mann habe sich über den Zustand des Sohnes sehr angeregt und habe ihn, im
Zorn aufbrausend, mit einem Scheit Holz in unbarmherziger und roher Weise
geschlagen. Darüber habe sie sich heftig erschrocken und sei mit ihrem Mann
dann noch in Streit gerathen, so dass sie einen grossen Aerger gehabt hätte. Den-
selben Abend noch sei der erste Anfall gekommen.
Es wäre ihr peinlich über diesen Vorgang zu reden, fügte sie noch hinzu.
Sie dächte auch nicht gern mehr daran, weil sie sich damals zu sehr angeregt
hätte und wenn ihre Gedanken mal darauf kämen, dann suchte sie die Erinnerung
an jenen Tag schnell los zu werden.
Ich war nun meiner Sache gewiss und sagte der Frau, nachdem
die körperliche Untersuchung mir weiter nichts ergeben hatte als eine
gesteigerte Druckempfibidlichkeit der Magengegend, sie leide nicht an
Gallensteinen, sondern an krampfartigen Schmerzen, welche durch jenen
Aerger herrorgernfen seien und nun bei neuer Erregung oder Er-
schöpfung leicht wiederkehrten.
Ich liess die Frau eine bequeme Rückenlage einnehmen. Dann
legte ich ihr die Hand auf die Magengegend und sagte ihr, sie werde
bald eine angenehme Wärme unter meiner Hand fühlen. Diese erste
Suggestion realisirte sich und nun waren weiteren Suggestionen die
Wege geebnet Die Wärme dehnte sich bis in den Rücken aus und
erfüllte bald den ganzen Körper. Auch in den Augen entstand eine
warme Empfindung, die Augenlider wurden schwer und zugleich trat
eine unwiderstehliche Müdigkeit auf. Die Frau war bald eingeschlafen
(tiefe Hypnose) und gab mir in suggestiv erzeugter Hypermnesie dann
noch mal eine detaillirte Schilderung jenes Zwistes, wobei ich sofort
die einzelnen Affectwallungen nach der kathartischen Methode behan-'
delte und die Hypnose nicht eher unterbrach, als bis mir eine „Paci-
fication^ aller damals in Aufruhr versetzter Provinzen ihres Bewosst-
seins gelungen war. Als ich die Frau dann weckte, war sie schmerz-
frei. Sie wunderte sich, was mit ihr vorgegangen sei, und konnte nicht
begreifen, dass die heftigen Schmerzen ohne Einspritzung verschwanden
waren. Ich gab ihr noch einige Wachsuggestionen und Verhaltangs-
massregeln, zeigte ihr, wie sie bei drohendem Magenscbmerz selbst die
Hand auflegen und so den Schmerz verhindern oder beseitigen könne,
machte der Sicherheit halber ein paar Tage darauf noch einen hyp-
Gasaistische Beitrage zar Saggestir-Therapie. 265
notischen Versuch und hatte die Freude, dass die Frau in den drei
darauf folgenden Jahren, wo ich sie noch controlliren konnte, keinen
Anfall mehr hatte. Sie war nicht blos geschickt genug, bei drohender
Krisis sich selbst zu behandeln, sondern es unterlag auch keinem
Zweifel, dass, auch abgesehen Ton der E^atharsis in der Hypnose, schon
meine eingehende Beschäftigung mit der Kranken im Sinne von Breuer
und Freud abreagirend gewirkt hatte. —
6. Fall. Frau L., junge, schwächlJche Frau (23 Jahre). Im Juli erste Geburt,
normaler Verlauf, keine Eklampsie.
Die Frau kam im Dezember 1896 in meine Behandlung mit folgenden Be-
schwerden: Das Wochenbett war zunächst normal yerlaufen. In der dritten Woche
hatte sich aber ein nur wenige Tage dauerndes Fieber eingestellt. Die bis dahin
spärliche Milch rersiegte nun ganz und Patientin konnte sich gar nicht recht er-
holen. Mit Unlust zur Arbeit trat allmählich Verstimmung ein, die schliesslich so
schlimm wurde, dass die Frau an nichts mehr Freude hatte, „nicht einmal an
meinem lieben Kinde . . . und sehen Sie nur, Herr Doctor, was es für ein nied-
liches Kindchen ist, aber ich kann mich gar nicht darüber freuen . . ." Dieser Zu-
stand hatte sich immer mehr yerschlimmert. Es waren schwere Angstaffecte hin-
zugetreten. Die Frau wurde unfähig zur leichtesten Arbeit. Es traten Akoasmen
auf und die Kranke hatte dann eine Zeitlang in einem Sanatorium im Harz gelebt.
EEier war zwar eine gewisse Besserung erzielt worden, aber die Verstimmung, die
Angst, die Gleichgültigkeit gegen sonstige Lebensinteressen und auch gegen das
eigene Kind, die Unfähigkeit zur Arbeit waren doch nicht ganz gewichen. Sie
hatten sieh im Gegentheil zu Hause, wo die Anstaltsdisciplin fehlte, wieder in yer-
starktem Maass gezeigt. — Die Frau hatte auch Ton meiner „arzneilosen Be-
handlung'' gehört und fragte mich, ob ich ihr helfen könnte. Sie stammte aus
einer erblich schwer belasteten Familie und nach ihren Angaben waren der augen-
blicklichen Erkrankung schon ein paar leichtere Phasen eines gestörten psychischen
Gleichgewichts vorausgegangen.
Die Kranke wohnte zu weit von meinem Wohnort und ich konnte
sie deshalb wöchentlich nur zweimal hypnotisiren. Gleichwohl gelang
es mir, ihren Zustand bald zu bessern, indem ich sie zur Selbstbehand-
lung erzog. Ich liess sie in bequemer Bückenlage auf dem Sopha
Platz nehmen, versetzte sie nach der Vogt' sehen Methode in Schlaf
und erzeugte ihr an Stelle der Angst, welche meist als Fräcordialangst
auftrat, ein angenehmes warmes Gefühl. Dabei wurde sie recht müde
und kam trotz einer sonst bestehenden Unruhe und Unfähigkeit zum
schnellen Einschlafen verhältnissmässig rasch in einen wenn auch noch
so kurzen, erlösenden Schlaf, aus welchem sie frei und wohl erwachte.
Ich wies sie an, in meiner Gegenwart sich selbst die Hand aufzulegen
und, in lebendiger Erinnerung an meine Worte, sich alle jene Empfin-
266 Georg Wanke. Garabtische Beiträge zur SaggesÜT-Tlierspie.
dangen der Rohe, der Wärme^ der wohligen Ermüdong und des Ein-
schlafens Torznstellen nnd sich auf diese Weise selbst zu behandeln.
Die Kranke hatte in wenigen Wochen gelernt, bei der geringsten In-
disposition sich sofort zu legen und jede Anwandlung Yon VerstimmuDg
oder Angst nach Möglichkeit im. Keim zu ersticken.
Der durch Autohypnose erzielte Schlaf, so hatte ich die Patientin
Ton Anfang an unterwiesen, durfte nie länger dauern als eine halbe
Stunde. Nach Ablauf dieser Zeit wachte sie jedes Mal frisch und firei
auf, so lautete meine ein für alle Male gegebene Suggestion. Auf
diese Weise war es mir gelungen, zu yerhindem, dass sie mit der Auto-
hypnose Unheil stiften konnte. —
Der Zustand der Kranken hatte sich im Verlauf von vier Wochen
(neun Hypnosen) soweit gebessert, dass ich es wagen konnte, sie auf
ihren speciellen Wunsch aus der Behandlung zu entlassen. — Ich sah
Patientin dann erst im nächsten Sommer wieder und sie erzählte mir
lachend, dass jetzt Alles wieder gut sei, sie freue sich auch über ihr
Kind und habe wieder Lust an der Arbeit. —
Man mag nun bei diesem Fall einwenden, dass die Prognose der
Puerperalpsychosen im Allgemeinen überhaupt eine gute ist und dass
eine solche Erkrankung bei jeder zweckmässigen Behandlung in der
Begel nach einer gewissen Zeit in Heilung übergeht: ich habe die
TJeberzeugung, dass in diesem Fall die hypnotische Behandlung ein-
schliesslich der Erziehung der Kranken zur Herrorrufnng einer streng
normirten Autohypnose den Heilungsprocess wesentlich beschleunigt hat
(Fortsetzung folgt.)
Weiteres über „Suggestion duroli Briefe^'.
Von
A. Orohmanih ^)
Wer BacUländleraiizeigeii and Annoncen verfolgt, kann sich davon
überzengen, dass in den letzten Jahren das Interesse für die populäre
Behandlung der Graphologie — oder vielmehr die dümmste Spielerei
mit ihr — sich stark vermehrt.
Hier ist ein Gebiet angestochen worden, dass dem Bedürfniss nach
Tändelei und Gefühlsduselei manchen unserer Mitmenschen so recht
adäquat ist
Auffallend vermehren sich z. B. auch die ^^graphologischen Plauder-
ecken'' in den Familienblättem und einige Graphologinnen von euro-
päischem Bruf lassen sich als distinguierte Grössen ,4i^terviewen'' und
„con8ultiren''| — eine weibliche Manier der Beru&befliätigung inner-
halb eines Faches, das völlig ausreichend mit Briefpapier und Post-
coruverts als Vermittler und Boten aller Weisheit zu erledigen ist
Auch unter den Autoren von graphologischen Werken finden sich
recht viele Frauen.
„und mit Becbt'*! — so schrieb ein Becensent männlichen
Oeschkchts als Berichterstatter über eines dieser Bücher, denn die
Graphologie sei eine intime feine Kunst, die viel Geftihl erfordere.
Die fürs Volk jetzt breitgetretene Graphologie verquickt sich auch
gelegentlich mit allen möglichen „]Kachbargebieten'', wie das so genannt
wird, und als solche Nachbargebiete treten auf der Spiritismus, die
Theeeophie etc., eigentlich alles Denkbare. Sogar Grrübelden über
ScKualperversionen — die jetzt im Buchhandel in populären Schriften
>) Vgl. diete Ztoehr., Bd. IX.
268 A. Grohmftnn.
ausgeschlachtet werden — habe ich bei psychopatiiischen Menschen
schon mit G-raphoIogie verquickt auftreten gesehen.
Im ,,Tagesanzeiger der Stadt Zürich'^, der 60 000 Abonnenten hat,
steht am 21. YU. 1900 im Briefkasten : ^^Man sieht eine herannahende
Geisteskrankheit lange, ehe sich medicinisch etwas sicheres constatiren
lässty deutlich aus der Schrift/' Einem wegen der zunehmenden Geistes-
krankheit seines Freundes besorgt Anfragenden wird die Consultation
eines (natürlich nicht medicinischen) Graphologen empfohlen.
Der Graphologe Liebe (er hat, wie ich damals vermuthete, wirklich
einen weniger suggestiven Namen) annoncirt jetzt recht flott in den ver-
breitetsten Journalen. Unter den Zusendungen, die mir mein Aufsatz
über ihn brachte, befindet sich auch eine Mittheilung von Herrn Prof.
Pick aus Prag. Er war so freundlich, mir drei Expertisen Liebe's
einzusenden, die den Besteller, einen späteren Patienten in Prof. P.'b
E^linik, beeinflusst hatten. Einige Proben aus diesen Schriften Liebe's,
die ich hier bringe, werden genügen, umsomehr als ich schon im ersten
Aufsatz eines seiner Gutachten in extenso mitgetheilt hatte und dieser
Graphologe nach einer ziemlich einfachen und wenig ändernden Methode
arbeitet. Lnmerhin bringe ich soviel, um den Leser etwas über den
Inhalt zu orientiren, da Prof. Pick mir zugesagt hat, im Anschlnss
an Vorliegendes einige Mittheilungen über die Psychose seines Patienten
und ihre Beziehungen zu den drei Schriftstücken Liebe's hier anschliessen
zu wollen.
. 1. Psychographologisches Porträt.
,^ine tüchtige Characteranlage ist Ihnen eigen. Können sehr gleichgfiltig«
ja zugeknöpft sich vor Menschen zeigen, denen Sie nichts zu sagen haben. Sin\d
sonst für gewöhnlich gesellig, heiter, liebenswürdig. Besitzen Scharfsinn und
Urtheilskraft" etc. . . .
„Wo Sie es nöthig finden, können Sie yerblüffend deutlich werden und einen
famosen Kraftausdruck herausschwirren lassen^^ etc. . . .
„Sie sind Feinschmecker in Bezug auf den höheren Lebensgenuss und selbst
dieser macht Ihnen nicht immer Freude'' etc. . . .
In diesem Stil geht es weiter. (Der Umfang ca. 700 Worte.)
2. Psy chographologischer Menschenspiegel.
Auch hier ist ein Gedankenaufbau nicht vorhanden. Es ist ein Spielen mit
Heminiscenzen aus der Literatur der Belletristik und der Psychologie. Kur ein«s
zieht sich wie ein rother Faden durch dieses zweite „Elaborat": Der Klient wird
als eine bedeutende Persönlichkeit hingenommen, und mit allgemeinen Redens-
Weiteres über „Suggestion durch Briefe^^ 369
arten auf sein Fatum hingedeutet, an verschiedenen Stellen, die einen grübelnden
Psychopathen gewiss sympathisch ansprechen, dennoch ganz harmlos sind.
Nach einer geistent wickelnden Einleitung, zu der Euripides herangezogen
wird, beginnt Liebe „die tiefere Erforschung*' des Wesens seines Klienten, ernst,
tief, gehaltreich, denn „mit Phrasen möchte ich selbst bei Ihnen nichts auszu-
richten.**
„Oft fühlen Sie sich psychisch und physisch so gestahlt zum Kampfe, so ge-
wappnet; gerade dann können Sie die Beobachtung an sich machen, dass eine
unbedeutende Widerwärtigkeit grössere Elraft über Sie hat, dauernde Depression
ausübt, als wenn sie im gewöhnlichen Zustande erscheint. Manchmal gehen Sie
einer Thätigkeit aus dem Wege und rerrichten eine andere Arbeit, weil Ihnen
erstere schwerer dünkt, merkten aber nicht, dass Sie diese vorgefasste gleichsam
verfolgt, hypnotisirt, und in der zweiten aufhält; gehen Sie nach langem Zaudern
ZQ derselben über, so machen Sie die Beobachtung, dass sie im Ganzen einfach,
sobald der Anfang gemacht. An einem anderen Tage beginnen Sie sehr viel,
verrichten Alles auf einmal, wie Sie Ihr Werk übersehen, haben Sie nichts gethan.
Aehnlich erging es Ihnen, wenn Sie eine Gewohnheit besiegen wollten. Sie
machten ihr immer wieder Concessionen ; heute noch eine Ausnahme** etc. . . .
„Sie machen sich an die Ausführung eines Planes; so lange die Sache nach
Ihrem Sinne und Wunsch geht, scheinen Sie auch guten festen Muth und eine freie
Ruhe zu haben — ein Widerpart und Sie werden oft und lange der Sache über-
drüssig** etc. . . .
„Es ward mir gar nicht so leicht, mich in dem Labyrinthe Ihres Wollens,
das doch an sich betrachtet, trotz allen Wechsels in den Lebensanschauungen
stets ein gutes bleibt und in den verzweigten Fäden Ihrer oft keine Concentration
aufweisenden Ideenwelt zurecht zu finden. Und doch haben Sie es zum weitaus
grössten Theile letzterer zu danken, dass Sie den Zufall nicht mehr als die dunkle
Macht, sondern als den niedrigsten aller menschlichen Begriffe, das Schicksal aber
als den Gewaltigsten in sich tragen. Schicksal erscheint Ihnen heute als das Alles
Beherrschende, was jenseits über Verstand und Zweck, über Ordnung und Gesetz
hinausragt, dass die Menschen sich beugen. Nur in besonders finsteren Stunden
ist es Ihnen noch zu Muthe, als müssten Sie die Macht, die Ihnen gegenübersteht,
vom Zufall zum Schicksal erheben, vom Niedrigsten zum Höchsten und zugleich
eben dieses Schicksal mit den Eigenschaften Ihrer Persönlichkeit — Sie sind eine
Individualität — umkleiden, als könnten Sie in dem Wirrsal des Lebens mit seiner
scheinbaren Uebermasse an Leid in einem persönlichen Kampf, mit gleichsan*
persönlichen Beziehungen zum Schicksal, eintreten.**
„Und darum manchmal ein Harren und Zuschauen gegenüber einer Ent-
scheidung, die Sie erwarten zu müssen glauben, darum ihre passive Hingabe an
den Zufall und seine Bestimmung auf der andern Seite und die active Anwendung
Ihrer eigenen Geisteskräfte und das Vertrauen darauf auf der andern Seite** etc.
Der Schluss lautet: „]^Iag manch* ein Wort, so sehr ich in meinem Arbeiten
academische und abstracte Erörterungen vermeide, Ihnen heute schwer scheinen.
Die Stunde kommt, wo Ihnen das Ganze als ein helles, theils kaltes, theils freundliches
Liioht erscheinen wird. Ihre Gedanken nach gründlichem Studium dieses Elaborates
werden Sie die Güte haben, zu fixiren." (Umfang circa 22000 Worte.)
S70 A. Grohmann. Weiteres über ,jBiigs^ion doreh Briefe".
3. Entwicklung, Innenleben, Führer.
Das Muster einer Zusammenstellung von Bedensarten und Binaenweishdt.
Einen Auszug zu liefern ist hier noch weniger möglich. Ein paar Sätze mögen
angeführt sein:
„Menschliche Glückseligkeit, das lassen Sie sich gesagt sein, kann für den
Gebildeten und nach Bildung Strebenden nur durch Weisheit, durch Erweitemn^
des geistigen Horizonts und die Erweckung aller inneren Fähigkeiten, Tor Allem
der Güte des Herzens auch, erreicht werden'^ etc. . . .
„Ja, schauen Sie um sich und in sich, und Sie müssen entdecken, dass dsi
Kind der Finsterniss, die Dummheit immer Irrthum und Bosheit zu Gefflirten hat,
und den Menschen unfehlbar ins Verderben führt** etc. . . .
Dann ein Ausschlachten der „Gedanken und dunkeln Empfindungen** da
Klienten.
Die folgenden zwei Stellen mögen nicht den Klienten, aber den Graphologen
vorführen: „Ihre Traurigkeit hat auch einen geschwächten Nerreneinfluss sur
Folge; (das letztere erwähne ich deshalb, weil ich das Wesen der Nerrodtät dem
ganzen Umfange nach an mir selbst studiren musste)** und die folgende, die den
schreiblustigen Grübler illustrirt: „Lassen Sie sich sagen: Eines der besten Büdier
ist ein Buch Schreibpapier, das bildet Geist und Herz. Sie lächeln? Ja, aehreiben
Sie nur ein, was Sie erfahren an sich und Andern, Ihre Pläne und das Vereitdn,
Ihre Wünsche und ihre Erfüllung, Ihre Schwächen und Ihr grosses Sehnen naeh
schweren Räthseln, wie Sie gestrauchelt und sich gehalten, in die Niederung ge-
sunken und auf den Flügeln des Geistes wieder in die Höhe kamen und wie ei
Ihnen klar wurde, dass des Menschen Character zum grossen Theil schon sein
Schicksal bedeute. — Diese Aufzeichnungen wären mehr als ein Tagebuch für Sie,
ein Buch des Lebens und mehr und mehr würden Sie die goldene Wahrheit er-
kennen und verstehen lernen, dass die wahre Grösse des Menschen nicht im
Aeussern, sondern in ihm selbst, im Innern liegt.** (Umfang ca. 35000 Worte.)
Nachtrag zu dem vorangehenden Aufsätze.
Von
Prof. A. Pick,
Vorstand der psychiatriachen Üniversitäts-KIinik in Prag.
Die Bemerkungen, die Herr Grohmann in seinem ersten Auf-
sätze^) über die Schäden der ^^Seelenanalysen^' gemacht, gaben mir
Veranlassung, ihm Ton einem Falle Mittheilung zu machen, der auf dem
Wege über das Strafgericht in meine Klinik gekommen und in dessen
Psychose solche Seelenanalysen eine wichtige Bolle gespielt hatten;
gerne komme ich seiner Aufforderung nach, über diesen Fall Einiges
für die Oeffentlichkeit mitzutheilen.
El handelt sich um einen jungen Mann von 27 Jahren in niederer Beamten-
Stellung, der am 7. Mai t. J. in meine Klinik gebracht wurde, nachdem er wenige
Tage vorher gegen einen Landesgeriehisrath, dessen Tochter er ehelichen wollte,
einen Mordversuch gemacht hatte und von den Gerichts&rzten als geistesgestört
erkannt worden; er war an demselben Tage an dem Aufenthaltsorte der Beiden
mit der Absicht angekommen, um das Mädchen definitiv anzuhalten, hatte dann
im Anechluss an ihnen als confuse auffallende Reden, zuerst den Vater ange-
fordert, ihn zu todten und als dieser abwehrte, diesen zu Boden geworfen und
mit dem Säbel des Bathes, der im Zimmer stand, zu erstechen gedroht. Ver-
haftet und als auffallend den Aerzten vorgefiihrt, entwickelte er durchaus ruhig
und orientirt ein complicirtes Wahnsystem, das er in der gleichen Weise auch in
der Klinik zum Besten gab; in der jetzt als Hölle anzusehenden Welt seien die
Männer die Bestien, die Frauen die Engel, bestimmt in der zu einem Paradiese
unuragestaltenden Welt zu herrschen; die geschlechtliehe Vereinigung zwischen
Mann und Weib solle durch Augenspiel, Berührung des Kopfes, Herzens und
Genitales mit der ünken Hand (die rechte hat zu viel Aergemiss in der Welt
vemTsaeht) geschehen, wobei die Beiden Rfieken an Bücken ständen, da sieh in
0 Vgl. diese Zeitschrift, Bd. IX.
272 A. Pick.
dieser Stellung die beiden Korper am besten vereinigen (siehe dazu die electrisehen
Empfindungen bei Annäherung an den Bücken der „Braut"!), nach vollzogener
Vereinigung solle die männliche „Bestie" sofort wie die Drohne zu Grunde gehen;
das Weib bedürfe nicht des Ernährers, da im Paradies reichliche Nahrung vor-
handen sein würde ; dort wären auch die drei Gebote „Leiden, Mitleid und Scham-
gefühl" überflüssig. Diese Sünden unserer Welt, speciell die Leiden, müssten be-
seitigt werden, selbst durch Opferung von Menschenleben und deshalb habe er den
Bath gebeten, ihn zu erstechen und da dieser nicht wollte, diesen zu jenem Zwecke
zu erstechen versucht; er glaube, dass man mit ihm jetzt einer Ansicht sei, andern-
falls müsste er den Mordversuch nochmals machen ; inhaf tirt sei er nur der „Wahr-
heit" wegen. Der Mordversuch sei keine Sünde; „das ist direct von Herzen ge-
handelt". An diesem Wahnsystem hielt der Kranke auch während des ganzen
Aufenthalts in der Klinik im Wesentlichen fest, Alles was er sonst noch angab,
betraf nur Details, die soweit nöthig, noch hervorgehoben werden sollen ; besonders
betont sei, dass die anfänglich gehegte Yermuthung, dass etwas Conträrsezuales
dem Ganzen zu Grunde läge, sich nicht als zutreffend erwies.
Anamnestisch konnte festgestellt werden, dass der sonst nicht aufföllige und
stille Mann in den letzten Tagen vor seiner Beise etwas unruhig erschien, und am
Schlüsse des noch später zu erwähnenden Abschiedsbriefes an seinen Herrn ge-
schrieben hatte : „Ich habe die Wahrheit gefunden, ich muss zu ihr, ich muss dort
ehrlich leben".
Als Antwort auf die Fragen nach seinen Ideen von der Welt entwickelt er
ein phantastisches System von Analogien zwischen Menschen und Pflanzenwelt,
in welchen die „Ideenwelt" und „Bäthsel der Ewigkeit" eine grosse Bolle spielen;
aber ausser den vielen unverstandenen Lesefrüchten sind auch deutlich patholo-
gische Glieder in diesem Theile seines Denkens nachweisbar; so ist ihm die Idee
bezüglich der Bücken an Bücken zu vollziehenden geschlechtlichen Vereinigung
dadurch gekommen, dass, wenn er sich seinem Mädchen näherte, sie sich so stellte,
dass er mit seinen Bücken dem ihrigen sich nähern konnte, und jedesmal ein Frost
über ihn und sie gegangen, wie das Ueberlauf en eines electrischen Stromes ; das dürfte
davon abhängen, dass dort Gehirn und Bückenmark seien ; auch eine Photographie
des Mädchens, die dasselbe vom Bücken aus darstellt, spielt dabei eine Bolle;
etwas Aehnliches scheint auch der zuvor erwähnten Vorstellung von der Be-
deutung der linken Hand zu Grunde zu liegen. Bei der Besprechung der Anamnese
kommt Pat. selbst auf Liebe's Psychographologie zu sprechen, deren Studium er
seit etwa 2 Jahren betreibe ; er wollte zunächst seinen und seines Mädchens Gha-
racter auf die Weise kennen lernen, um sich nicht zu irren ; dann habe ihm Liebe
sein Buch „Jahrhundert-Moderne und Seelenaristokraten" als Leitfaden für das
Leben empfohlen, das er auch (für theures Geld) erworben, ohne es zu bereuen:
der Inhalt desselben, das dem Verfasser vorgelegen, entspricht dem, sich in den
von H. Grohmann hier ausgezogenen Analysen spiegelndem Geiste, üeber den
etwaigen Zusammenhang seiner Ansichten mit Liebe's Analysen wiederholentlich
examinirt, lehnte er einen solchen immer ab, will ganz selbstständig zu denselben
gekommen sein, aber Aeusserungen wie die „Es war mir ganz recht, dass ich ein
Characterleben durch die Schrift, also mein eigenes finden konnte" lassen
deutlich Liebe's Einfluss erkennen; eine wichtige Bolle in seinen Beziehungen za
seiner Braut spielte offenbar auch die von Liebe gegebene „Besultante, aus der
Nachtrag zu dem vorangehenden Aofiatze. 873
henrorgehen sollte, ob Mann und Weib zu einander passen" die unser Kranker
verlangt hatte, um die üebereinstimmung der Gharactere kennen zu lernen; nicht
minderen Einfluss auf ihn hatte Liebe's Analyse der Schrift seines Herrn, die er,
wie er selbst angab, einschickte, um zu wissen, wie er sich für die weitere Zu-
kunft benehmen solle ; die Wirkung äusserte sich in einem etwss despectirlich ge-
haltenen Brief, den er vor der Abreise an jenen richtete, zu dessen Erklärung er
anführte, dass der Inhalt „beruht auf meiner wahren Weltanschauung, die ich jedem,
der mich verstehen will, deutlich erklären will**. Seine Ansicht bezüglich der
Analysen legt er in dem Ausspruche nieder : „Aus diesen Characterbeschreibungen
kann man den Mann sehr gut auf die Probe stellen** und welche Bedeutung diese
Ansicht für die Ausführung des Mordversuches hatte, geht daraus hervor, dass der
Kranke vor derselben dem Schwiegervater in spe erklärte, dass er den Gharacter,
die innere Denkungsweise seiner Tochter nicht kenne und dass daran die weiteren
Gontroversen bezüglich der erwähnten 3 Hauptsünden und schliesslich der Mord-
versuch anschlössen.
Auf Grund eines vom Verfasser dieses abgegebenen Gutachtens,
in welchem der Nachweis der bei dem Kranken vorhandenen Psychose
gef&hrt war, wurde die gerichtliche Untersuchung eingestellt. Der Fall
an sich nicht bedeutsam, erscheint als Beitrag zu den Ausfährungen
des Herrn Grohmann wohl auch für die Fachgenossen yon Interesse.
Literaturzusammenstellung
über
die Psychologie und Psychopatliologie der vita sexualis.
Von
Dr. Freiherm Ton 8c]irenck-Notzlng-(Mü neben).
(4. Fortsetzung.)
Gleichseitig mit den bahnbrechenden Stadien v. K rafft- Ebing'Sr
theilweise beeinflnsst yon ihm, theilweiae unabhängig, sind noch folgende
vor dem Jahre 1890 erschienene Arbeiten za erwähnen:
Wise Willardy Case of sezoal perversion, tbe Alienist et Kenrologist»
Jan. 1883.
Cantaranoy Contribuzione alla casoistioa della inversione doli' instinto
sessuale, Kapoli 1883.
Flosa, Das Weib in der Natur- und Völkerkunde, herausgegeb. y. Barteb,
Leipzig 1884.
Schönlank, Der Jungfrauentribut im modernen Babylon (Enthüllangen
der Fall Mall Gazette), deutsche Uebersetzung, Nürnberg 1885.
Fournier, De Tonanisme, 4. Aufl., Faris 1885.
L'Arr^at, Seznalit6 et altruisme, Bev. philos., Faris 1886.
Gull er e. Des perversions sexuelles chez les persöoutös, Annales mMico-
psychologiques, Faris Mars 1886.
Ireland, Herrschermacht und Geisteskrankheit, Stuttgart 1887.
Ball, Sur la folie 6rotique, Encöphale 1887.
Garliers, Les deuz prostitutions, 1887.
Leonpacher, Fsychische Impotenz, conträre Sezualempfindnngy Fried-
reich's Bl. für gerichU. Med., 18. Jahrg. 1887.
Bourneville et Sollier, Des anomalies des organs gönitanz ches let
idiots et les dpüeptiques, Frogrös mödical 1887.
Spitzka, Selbstbefleckung im Verh. zu Geisteskrankh., The Dublin jonrnal
1887.
Mantegazza, Fhysiologie der Liebe, Hygiene der Liebe und Fhysiologie
des Genusses, Leipzig 1888.
LiterstanasamineDstellung über die Psychologie und Psychopathologie etc. 276
KiernAiiy Sieben Fälle peryener Sexualempfindang, The Med. Standard
1888.
Krieae, Beitrag aar Lehre yon der oonträren Sexnalempfindung, Inang.-
DiM., Leipaig 1888, and Erlenmeyer'a Centralblatt 1888 Nr. 19.
Fftrbringer, Artikel i^Onanie'' in der Bealenoycl* der med. Wiaienaeh.
Bd. 14, 1888.
Haaae, Facultative Sterilität, Neuwied 1888, 5. Aufl.
Fair et, Sar lea perrerBiona genitales, Annalea medioo-psyohologiqnea,
iParifl 1888, p. 472.
Znccarelli, Invereione congenita del iatinto eesinale in dne donne, Neapel
1888.
Angnite Voisin, TTn caa de pervereitd moral (onaniame) gaöri par la
soggeation hypnotique, Bev. de Thypn. 1888 S. 130.
Tilier, L'inatinct sezuel ohea l'homme et cfaea leg animanx, 1889.
Forel, Zwei kriminalpBychologiBche Fälle, Zeitschrift für Schweiaer Straf-
recht, Bern 1889, S. 21.
Oynrkovezky, Impotenz, 1889.
Ben BS, La prostitatioD an point de vne d'hygidne et de radminiatration
en France et ä l'ötranger, Farie 1889.
Torggler, CaBaiatische Beiträge aar Pervereion dea weiblichen G-eschlechtB-
triebes, Wiener klin. Wochenechrift 1889 Nr. 28.
y. Schrenck-Notzing, Ein Fall von conträrer Sexnalempfindang, ge-
bcBsert durch hypnotiBohe SuggcBtion, Internationale klin. Bundaohaa
1889 Nr. 28.
Derselbe, Dn cas d'inversion sexuelle am61ior6 par la Suggestion hypnotique,
Comptes rendus du premier congrös international de ThypnotiBme,
Paris 1889, S. 319.
Derselbe, Zur Behandlung conträrer Sezualempfindung durch hypnotische
Suggestion (Nachtrag au dem Artikel in Nr. 40 d. Bl, 1889), Internat,
klin. Bundschau Nr. 40 1890.
Derselbe, üeber Suggestionstherapie bei conträrer Sexualempfindung, Nr. 26
1891. (Ein zweiter Nachtrag zu dem in Nr. 26 1889 d. Bl. ver-
öffentlichten Fall.)
La dam e, Inversion sexuelle ohez un d6g6n6r6 trait^e avantageusement
par la Suggestion hypnotique, Communication faitre au congrös inter-
national de mödöcine mentale, 1889, Bev. de l'hypn., Sept. 1889.
Garnier, Anomalies sexuelles, Paris 1889.
Forel, Einige Worte über die reglementirte Prostitution in Kiew und
über sexuelle Hygiene, Corr.-Bl. für Schweizer Aerzte Jahrg. XIX 1889.
Bobinson, Klinische Beobachtungen über Pollutionen beim weiblichen (Ge-
schlecht, Med. Ag. 1889 Nr. 7.
Laker, üeber eine besondere Form von verkehrter Bichtung (Ferversion)
des weiblichen OeschlechtstriebeB, Archiv für Gynäkologie, 34. Bd.
Heft 2, 1889 S. 293.
Während von den hier genannten Autoren Willard, Cantarano
caauistische Beiträge zur Perversion des Sexualtriebes bieten, ist das zw^-
276 ▼• Schrenck-Notzing.
bändige Werk yon PIobs, deren erste Aoflage 1884 erBchien, ein nnent-
behrlicheB HilfBmittel geworden für die ErforBchong and Beurtheilong der
weiblichen Sexualfanction in der Nator und in der Völkerkunde. Der entt
Theil beschäftigt sich mit dem Organismus des Weibes, mit der anthrapo-
l^^ischen, psychologischen and ästhetischen Anffossang desselben, mit den
ethnographischen Beaiehungen der Sexaalorgane, während die sweite, in
52 Kapitel getheilte, angleich grössere Hälfte das individuelle und sociale
Leben des Weibes vom Mutterleibe an bis aum Tode umfasst. Besonders
interessant sind des Verfusers Angaben über das Deformiren der 6e-
schlechtstheile, über künstliche Yergrösserung von Clitoris und Schamlippen
behufs Steigerung der geschlechtlichen Befriedigung beim Coitus (S. 141).
In China und Indien wird das Hymen bei den an Blindem vorgenommenen
Beinigungsversuchen aerstört; dasselbe hat als Zeichen der Jungfräulich-
keit, wie bei anderen orientalischen Völkern, keinen Werth. Gewisse
afrikanische und amerikanische Völker exstirpiren die Clitoris und ver-
kürzen die Labia minora, angeblich zur Beseitigung eines mechanischen
Hindernisses für Coitus und Befruchtung. Im nordöstlichen und centralen
Afrika begegnet man auch heute noch der Sitte der Infibulation, dem
vollständigen Verschluss der Schamspalte durch Vernähen der Labia (im
3. Lebensjahr), wobei nur eine minimale Oeffiiung zum Abfluss des Urins
ofiFen bleibt. Wenn ein solches infibulirtes Weib Braut wird, so werden
die Labien wieder aufgeschnitten und zwar zum Theil mit rohen und
bestialischen Bräuchen.
Das Schamgefühl ist nach Ploss keine Begung, die dem Menschen
ursprünglich angeboren ist ; Brauch und Sitte der Völker erzeugen erst die
Anlage dazu je nach den socialen und ethischen Verhältnissen. Auch die
Begräfe über Keuschheit und Jnngfrauschaft des Weibes variiren je nach
den klimatischen und kulturellen Lebensbedingungen der Völker.
In der Masturbation, Tribadie und ähnlichen geschlechtlichen Heizungen,
die auch im Thierreiche zu beobachten sind, erblickt Ploss einen allge-
meinen thierischen Trieb, — und nicht lediglieh ein Symptom der aos-
gearteten Civilisation. So ist z. B. bei den Noma-Hottentotten die
Masturbation unter dem jungen weiblichen Geschlecht so häufig, dass sie
als Landessitte betrachtet werden kann. Die Tribadie (= wollüstiges Ver-
halten zweier FrauenspersoDcn mit einander) ist besonders bei den Arabern
verbreitet; ihr gehen gewöhnlich künstliche Manipulationen zur Vergrösse-
rung der Clitoris und Nymphen voraus. Bei abnorm grosser Clitoris üben
diese Tribaden (Frictrices, Subigatrices) den Coitus untereinander aas.
Hetärismus und Prostitution trifft man in allen möglichen Formen und sn
allen Zeiten an, zum Theil sanctionirt durch Sitten, Gesetze und religiöse Cultor.
Die Polygynie ist neben der Monogamie — theilweise in gesetzlich
geregelter, theilweise in unerlaubter Form — fast überall in der Welt ver^.
breitet, während die Polyandrie als seltene Erscheinung und nur in Folge
von Sparsamkeitsrücksichten und Armuth vorkommt.
Der zweite Band des Werkes beschäftigt sich mit den Erscheinungen
der Oeburt, der Geburtshülfe, dem Wochenbett in dem Völkerglauben und
in der Ethnographie. Vier Kapitel sind der socialen Stellung des Weibes
LiterfttarzusammensteDaDg über die Psychologie und PsychopatliolDgie etc. S77
bei den Naturrölkani, 0owie den GoltiirTÖlkeni dei Alierthnnte und der
Neoaeit gewidmet.
Im Oanzen ist die Stellong der Frau bei den Nstnryölkem eine sehr
niedrige. Kauf- nnd Tausohefae, Polygamie, laxe Grundsätae im Verkehr
der Oeschleohter, religiöse und gastfreundliche Prostitation sind die Bctgel,
meistens ist die Frau nur Sklavin oder ein höheres Hansthier. £ine bessere
Behandlung erfahren die Franen in liakronesien, anf den Philippinen trota
der laxen sexuellen und polygamischen Einrichtungen ähnlich bei den
Thiinkit-Indianem Nord-Amerikas und den Basuthos in Transvaal und
einigen anderen Völkern. Bei den Mahdinegern in Gentralafrika dürfen sie
sogar an demselben Tisch mit den liannern essen und haben noch andere
Privilegien.
Die Frauen der Palaoinseln besitzen sogar ihre eigene Begiemng und
Gerichtsbarkeit — analog den Männern, ihre Stellung ist eine geachtete
und unabhängige. Bei der Trennung der Gesohlechter existirt kein* Familien-
leben ; das Geschlechtsleben ist völlig frei und ungeregelt ; der Sexualverkehr
beginnt schon im Kindesalter.
Die Polyandrie findet Ploss nur im oberen Industhal und im nord-
westlichen Himalaya, während sie bei den Tibetanern schon durch die Poly-
gamie des Islams verdrängt ist. In Ladak, Bapschu und Kulu wird die
Frau, welche der älteste Bruder heirathet, auch dadurch die Gattin aller
Brüder, ausserdem hat sie das Becht sich ausser der Gruppe von Brüdern
noch mehrere Gatten (nicht Liebhaber) zu wählen. Die Kinder geben den
Titel „Vater^' unterschiedslos den sämmtlichen Gatten der Mutter. Wahr-
scheinlich wird durch die meist mit grosser Armuth verbundene Polyandrie
die Zahl der weiblichen Geburten vermindert.
Auch in China und Japan besteht heute noch die Sitte, Frauen zu
kanfen. Maitressen sind in China erlaubt und leben in demselben Hause
mit der wirklichen Frau. Ebenso heirathen die Japaner, welche der Frau
grössere Freiheit und angenehmere Existenz gewähren, als die Chinesen,
eigentlich nur eine Frau, dagegen können sie Nebenweiber, die Öffentlich
und gemeinschaftlich mit dem Manne und der rechtmässigen Frau zusammen
leben, haben, so viele sie wollen. Auch bei den Hindus ist die Polygamie
gestattet. Die sociale Stellung der Frau bei den alten Aegyptem, den
alt^i Israeliten, im olassischen Griechenland ist hinlänglich bekannt. Im
alten Hellas, wo die Aufgabe der Gattin und der Geliebten nicht wie heute
von einer Person erfüllt wurde, waren Beligion, Politik, Kunst, Wissen-
schaft, und besonders der Kultus des Schönen mit der Blüthe des
Hetärentnms eng verknüpft. Einzelnen der Hetären wurden Statuen und
Altäre errichtet, so der Leäna in Athen und der Lamea zu Athen und
Theben. Bekannt ist die von Aspasia errichtete Hetärenschule, in der
freigeborene Mädchen und Frauen nicht verschmähten, zu lernen, was den
Männern zu gefallen und ihre Liebe zu fesseln vermag.
Die weitaus günstigste Stellung der Frauen des Alterthnms nahmen
die Bömer innen in der Ehe ein. Sie waren wirkliche Herrinnen im
Hauswesen, betheiligten sich an dem ganzen häusliehen Treiben, den Mahl-
■eäten nnd den Unterhaltungen des Mannes; sie empfingen Besuche und
Zeitichrift fttr HypnotiBmiui «ta 2L 19
278 ▼• Schrenck-Notzing.
^.wurden Ton allen Gliedern des Hauswesens als domina behandelt. Daneben
%. bestand aber Concubinat und Sklaventhum. Wenn man berücksichtigt, dass
"^ die Frauen selbstständig die YerwaltuDg ihres Vermögens besorgen durften,
^ das volle Eigenthumsrecht darüber und eine rasch zur Emancipation fuhrende
Freiheit besassen, so unterscheidet die ehelichen Verbindungen jener Zeit
V von der heutigen christlichen Ehe nur noch das Band der Liebe, weiches
\> ^jdaooala »ioht erforderlich war. Zu dem Besitze höherer Bildung gehörte
\ : damals die Kenntniss der griechischen Sprache und Literatur, sowie die
'^ Pflege der Musik (heute : französische Conversation und Klavierspiel !) Zur
Zeit der Scipionen standen geistreiche Frauencirkel im Mittelpunkt des
höheren Lebens ; „an die Stelle der alten beschränkten Hausmoral trat das
freie Wesen einer emancipirten Frauenwelt". Schliesslich nahmen auch
die Damen Borns an dem öffcDtlichen Leben, der Politik, lebhaften Antheil.
Die Ehelosigkeit wuchs — mit ihr eine ausgesuchte öenusssucht, welche
schliesslich das einzige Ziel des Weibes höherer Elreise wurde! Und so
nahm mehr und mehr jene ungeheure Sittenlosigkeit in Born überhand,
wie sie in solchem Grade und in solchem Umfange die Welt kaum je wieder
gesehen hat.
Erst mit dem Christenthume erwarb die Frau eine Stellung, wie sie
im Alterthume unbekannt ist. Neben der gleichberechtigten Stellung von
Mann und Frau, der kirchlichen Weihe, durch welche der Akt der Ehe-
schliessung erst seine Oiltigkeit erhielt, neben der streng monogamen Auf-
fassung des Geschlechtsverhältnisses, wird die Keuschheit zu einer
Tugend, deren Uebung bis dahin den heidnischen Völkern unbekannt
gewesen war. Allerdings nimmt noch in dem Grundgedanken einer streng
christlichen Auffassung das Weib im Wesentlichen eine dienende Stellung
ein. Ihr Gebiet ist die „dienende Liebe" — sowohl im Haushalt, in der
Eindererziehung, in ihren religiösen Pflichten, wie in der Armen- und
Krankenpflege. Persönliche Aufopferung und Hingabe bis zum Martyrium
bei solchem Liebesdienst ist ein Hauptgebot der christlichen Lehre. Durch
das christliche Keuschheitsideal entstand, was Ploss nicht erwähnt, der
für das psychologische Studium der Sexualverhältnisse so wichtig gewordene
Begriff der weiblichen Ehre. Die sexuellen Beziehungen werden lediglich
in den Dienst der Fortpflanzung gestellt und auf das nothwendige Minimum
in der Ehe beschränkt; jeder aussereheliche geschlechtliche Verkehr gilt
nach der christlichen Anschauung als sündhaft, mid der eheliche wird als
„nothwendiges Uebel" nur geduldet. ^^^ ;i^A^-vX^Cv\.
Es erscheint uns deswegen als wicntige Aufgabe einer historischen
Uebersicht über die Geschlechtsmoral der verschiedenen Völker gerade
gegenüber der unumwundenen Anerkennung der culturellen Verdienste des
Christenthums auch die Kehrseite der MedaiUe, die Nachtheile dieser Horal-
anschauung zu berücksichtigen!
Die heutige Gesetzgebung der verschiedenen Cnlturvölker ist in den
betreffenden Theilen ganz durch diese Moralauffassung beeinflusst, ja aas ihr
heraus entstanden!
Die natürliche Auffassung der Sexualverhältnisse, die nothwendige
Pflege dieser wichtigen Lebensfnnotion werden in demselben Grade ver-
LiteraturznBftmxneDBtellung über die Psychologie und Psychopathologie etc. 279
dringt und Berstört, in dem die Idee einer absoluten geschlechtlichen
Abstinens zur Herrschaft gelangt! Die ganae Poesie, die Unbefangenheit,
die Lebensfreudigkeit, die sich in den sezaell-religiösen Galten des Alterthams
ansspricht, die damit Tcrbundene Verehrung und Pflege des sinnenf&llig
Schönen Terschwindet yor dem christlichen Dogma der „geschlechtlichen
Ehre^i das jugendliche Feuer herannahender Geschlechtsreife, das schwärme-
rische Drängen der Pubertät wenden sich christlich- religiösen Gegenständen
zu ; der Selbstbetrug, die Heuchelei, die Ableitung natürlicher Geschlechts-
regungen in falsche und perverse Bahnen sind durch die intolerante und
tyrannische Behandlung des geschlechtlichen Trieblebens durch die starre
christliche Moral in einer noch lange nicht genug erkannten Weise gefördert
worden I In der Geschichte des Cölibats begegnen wir allen Formen der
aexuellen Psychopathologie! Dadurch dass man der noth wendigsten Hand-
lung für die Erhaltung der Art den Stempel des Sündhaften aufdrückte,
wurde jedes Vergehen gegen diesen Theil des christlichen Sittencodex einer
unbedingten Verurtheilnng von Seiten des menschlichen und göttlichen
Kichters preisgegeben!
Der dem Zwange seines Naturtriebes erliegende Sünder war also schon
aus Gründen der Erhaltung seines persönlichen Ansehens genöthigt, sein
Vergehen zu verheimlichen, zu heucheln, und noch mehr der bei dieser
Gelegenheit von einer Infection befallene!
Das noüi wendige entgegengesetzte Extrem eines intoleranten, aufmiss-
verständlicher Beurtheilung der Genital functionen beruhenden sexuellen
Moralprincips — ist Anwachsen einer Prostitution niederster Kategorie,
Zunahme ansteckender Geschlechtskrankheiten (Scheu vor ärztlicher Be-
handlung!), Förderung der Onanie und perversen Bichtungen des Ge-
flchlechtstriebes !
Wenn es keinem Zweifel unterliegen kann, dass die christliche Ge-
Bchlechtsmoral die Entwickelang der hier genannten Uebel erheblich gefördert
and das natürliche unbefangene Denken in geschlechtlichen Dingen über-
haupt verwirrt und erschwert hat, so ist die weitere Frage berechtigt, ob
die nun seit zwei Jahrtausenden auf eine möglichste Unterdrückung und
Zurückdrängung sexueller Impulse im Weibe gerichteten Bestrebungen des
christlichen Abstinenzideals dem Weibe nicht in der von der Natur beab-
sichtigten freien Entwickelung und Ausbildung seiner psychischen Sexual-
charaktere (besonders im Punkte der geschlechtlichen Erregbarkeit) geschadet
haben (nach dem Gesetz der degenerativen Verkümmerung). Denn auf-
fedlend ist die grosse Zahl frigider weiblicher Personen (nach Schätzung
einiger Autoren 40 — 50 %), sowie die geringe geschlechtliche Anspruchs-
fahigkeit, welche man unter den Frauen des Abendlandes beobachtet.
Die Schlusscapitel des hochinteressanten PI oss' sehen Werkes be-
handeln« das Weib im Verhältniss zur folgenden Generation, im Zustand der
Ehelosigkeit, nach dem Aufhören der Fortpflanzung im Greisenalter und
im Tode.
Sehr aufklärend für die Verbreitung sexueller Unsitten sind die Mit-
theilungen geworden, welche M. Stead 1885 über den Londoner Mädchen-
19*
280 ' ▼• Schrenck-Notzing.
hftndel in der f^VM Mall Gksette" veröfiFentlichte. Die EnihüllaDgen be-
treffen den Kauf, Verkauf und die Defloration von Kindern, die Beschaffiing
Yon Jungfrauen, die TTmgarnung der Opfer sowie den internationalen Mädchen-
handel. Man könnte diese specifisch englische Deflorationsmanie als eine
besondere Art psychischer Infection betrachten, wenn man berücksichtigt,
dass 2. B. ein einziger Mann jährlich 70 Jungfrauen consumirt hat! Auch
auf sexuellem Gebiet scheint die Mode ihren suggestiven Einfluss anssa-
üben. Möglicherweise haben aber solche Perversitäten eine pathologische
Grundlage (Paidophilie, Sadismus = active Algolagnie). Zu diesem schänd-
lichen Betrieb gehören die ärztlichen Atteste über vorhandene Jungfrau-
Bchaft, die künstliche operative Wiederherstellung des zerrissenen Hymens,
die Anwendung der Narcotica zur Betäubung der kindlichen Opfer etc.
Während Arreat in einer Arbeit die Bolle des Altruismus in der
Sexualität behandelt, enthalten die Aufsätze von Cullere, Ball, Bour-
neville, Sollier und Ire 1 and verschiedene Hinweise über das perverse
Geschlechtsleben bei Geisteskranken. Ireland nimmt auch wie Moll
Homosexualität bei dem König Ludwig II. von Bayern an. Die Aufsätie
von Leonpacher, Kiernan, Kriese, Falret, Zuccarelli,
Yoisin, Torggler, Forel, bieten casuistische Beiträge.
Die Frage der Onanie ist von Fürbringe r, ihre Beziehung in
den Geisteskrankheiten von S p i t z k a bearbeitet worden. Dazu vergleiche
man das in der zweiten Fortsetzung dieses Heferates besprochene Buch von
Garnier. Beiträge zur Prostitution lieferten zur gleichen Zeit Carlieri
und Heu SS.
An dieser Stelle mögren drei Werke Mantegazza's Erwähnung finden,
obwohl sie eigentlich wegen ihres poetischen und romanhaften Characters
mehr in die schöne, als in die wissenschaftliche Literatur gehören. Das
erste Werk „Physiologie der Liebe'' hat eigentlich nur eine sehr lose Be-
rührung zur Physiologie, sondern bringt im Wesentlichen populär- psycho-
logische Betrachtungen über Verführung, Keuschheit, Wollust, über die
Freuden, Hechte und Pflichten der Liebe etc. Das in Laienkreisen ver-
breitete, bereits in 22 Auflagen erschienene Werk enthält manche treffende
und feinsinnige Beobachtung, wenn auch die wissenschaftliche Ausbeute
trotz der 276 Seiten eine geringe ist. Aehnliches gilt von dem zweiten
Werke des Verfassers „Hygiene der Liebe^'. Verfasser schildert in den-
selben die physiologischen Erscheinungen beim Auftreten der Mannbarkeit,
die Zusammensetzung der menschlichen Sperma; drei Kapitel beschäftigeD
sich mit der Selbstbefleckung, den verschiedenen Formen der Impotens,
sowie der widernatürlichen Liebe. Der zweite Theil des Werkes behandelt
die Vererbungslehre, die Geschlechtswahl, die Unfruchtbarkeit, sowie die.
Zeugungskunst. Interessant sind Mantegazza's Untersuchungen über
die Zusammensetzung des Spermas bei Ghreisen (S. 17). Hiemach ergib
die Section von 185 Greisen im Alter von 64 — 97 Jahren in 41 Fälleo,
d. h. bei 39 ^/^ Anwesenheit von Zoospermen. Die Duplay' sehen Beob-
achtungen liefern sogar 72 ^/q der Greise zeugungsfähiges Sperma. Der
Durchschnitt der Feststellungen verschiedener Forscher ergiebt:
LiteratarzusammenstelluDg über die Psychologie und Psychopathologie etc. 281
bei 25 SeohaigjShiigen 68,5^/^ mit Zoospermen
bei 76 Siebzigjährigen 57,5% — —
bei 51 Achtzigjährigen 48,0 7^ — —
bei 4 Neunzigjährigen 0,0 7^ — —
In Bezug auf zezuelle Abstinenz nimmt Man tegazza an, dasa kurze
und theilweise Kenschheitsperioden die Oeschleohtaorgane stärken. Dagegen
erblickt er als Besultat einer längeren Keuschheitsperiode eine Schwächung
der Genitalorgane. Daher Tertragen Frauen die Keuschheit besser, als
Männer. Sinnliche an sexuelle Kost gewöhnte Naturen (junge Wittwen)
vertragen das Liebesfasten sehr schlecht. Sie können an Kopfcoogestionen,
Schwindel, Hysterie und anderen nervösen Zufällen erkranken. Die ge-
schlechtliche Auswahl hat BesseruDg von Mann und Frau zur Folge. Daher
verschönem die polygamen Bässen, die ihre Weiber bei verschiedenen
Völkern aussuchen, ihren Stamm. Dagegen verfeinert zwar Ehe unter
Blutsverwandten die Bace, führt sie aber durch Schwächung der Individuen
zur Unfruchtbarkeit, da sich die pathologischen Keime derselben Art durch
Vererbung vermehren. In vielen Punkten, wo Aufklärung und Belehrung
nöthig wäre, entspricht Mantegazza's Werk nicht dem gegenwärtigen
Standpunkt des Wissens, so sind in dieser Beziehung besonders bemerkens-
wertb die Kapitel über Onanie, über die Aphrodisiaca und über Anpassungs-
fEbigkeit des Geschlechtstriebes.
In dem dritten hier zu besprechenden Werk Mantegazza's der
„Physiologie des Genusses" sind mehrere Kapitel den Freuden des Tast-
sinnes, den geschlechtlichen Lustempfindungen und den Gefühlen der Liebe
gewidmet. Die der Wichtigkeit des Gegenstandes keineswegs angemessenen
mehr allgemeinen Bemerkungen des Verfassers genügen nicht mehr dem
Standpunkte der heutigen physiologischen und psychologischen Kenntnisse.
So fehlt vollständig die Unterscheidung von Gefühl und Empfindung, ebenso
eine Berücksichtigung der erogenen Zonen des Körpers etc. Durch Er-
örterungen wie die des Verfassers in dem genannten Werke würde auch
kaum ein Laie wirklich belehrt werden. Die wissenschaftliche Analyse
wird vielfach ersetzt durch poetische Phrasen und Gemeinplätze.
Im Jahre 1889 erschien femer Garnier's zweite Auflage der
„Anomalies sexuelles'' in Verbindung mit 230 Beobachtungen. Der schon
bei Besprechung seines Werkes über „Onanie" erwähnte Autor beginnt
dieses Werk mit einer allgemeinen Darstellung der sexuellen Anomalieen.
Er theilt sie ein in organisch bedingte und functionelle. Zur ersten Klasse
gehören Bildungsfehler des Genitalapparates, z. B. weibliche Geschlechts-
merkmale beim Manne und männliche beim Weibe, femer Infantilismus,
Bart- und Haarlosigkeit, Pseudohermaphroditismus und die localen Fehler
(Phimosis etc.) an den Geschlechtstheilen.
Zu den functionellen Anomalieen rechnet er die sexuelle Neurasthenie,
die verschiedenen Formen der psychischen Impotenz, die weibliche Frigidität,
femer Functionsstörungen in Folge von Syphilis, Masturbation, Anaphrodisie,
Priapismus (Fehler in der Erection), prolongirtes Cölibat. Zu den f^jacu-
lationsanomalieen zählt er unfreiwillige Samenverluste, Pollutionen, Asper-
matismus, Zoospermie; mit diesen Störungen correspondiren beim Weibe
282 V. Schrenck-Notzing.
Fehler in der MensimatioD, Sterilität eto. Die letzte Klasse der Anonudieen
bilden diejenigen des geschlechtlichen Instinktes, wie sezaelle Inversion,
Sapphismos, anormale erogene Zonen etc.
Verfasser nimmt nämlich erogene Heerde oder Centren an, deren Beizong
die TurgescenSy die Schwellung der zur Copnlation dienenden Organe mit
Nothwendigkeit veranlasst. Allerdings spielen auch hierbei die psychischen
Vorgänge eine dominirende Rolle. Als solche erogene Zonen betrachtet 6.
die Glans und den Anus des Mannes. Er sieht es als erwiesen an, dass bei
manchen Männern die Berührung und das Satzein des analen Orificiums
sicherer Erection erzeugt, als die Heizung der Olans. Diese vielleicht nicht
genug beachtete physiologische Erfahrung wird nicht selten der Ausgangs-
punkt für anale Masturbation und Päderastie. Die Berührung des Beetums
mit dem Fundus, der Urethra und der Prostata, mit den Samenbläschen und
den Ejaculationskanälen ermöglicht eine, viel directere und leichtere Beizung,
als vermittelst der Glans und Urethra.
Auch die Brustwarzen können, ähnlich wie bei Frauen, bei manchen
Männern erotische Empfindungen vermitteln, ebenso Zunge, Mund, Nase, ja
mitunter auch die Ohren. Bei den sexuellen Bapporten verlangen die
erogenen Zonen in erster Linie Berücksichtigung. Dieselbe Aufgabe er-
füllen beim Weibe Vagina, Clitoris, Mammae etc. Interessant sind femer
Oarnier's Beobachtungen über Bart und Haarlosigkeit. Wenn schon
das völlige Fehlen des Bartes (ans Anlage) beim Manne eine wirkliche Miss-
bildung darstellt, so ist das völlige Fehlen der Haare auf dem Mona veneris
beim Weibe, wie es Martineau beobachtet hat, eine noch seltenere Er-
scheinung, die vor Allem mit Sterilität und Bildungsfehlem des Uterus und
der Ovarien vereinigt vorkommen soll. Dass durch vielfache masturbato-
rische Frictionen das Volumen des Penis dauernd vergrössert werden kann,
ist auch von anderen Autoren anerkannt worden. Cölibat kann nach
Garnier, wenn es gewissenhaft aus religiösen Gründen durchgeführt wird,
eine allmähliche Schrumpfung der Genitalien zur Folge haben und eine all-
mähliche Abschwächung des männlichen Wesens.
Aus diesen Gründen hat Verfasser nicht Unrecht, das Cölibat als
pathologische Erscheinung aufzufassen.
Ein verhältnissmässig kurzes Schlusskapitel ist den Anomalieen des
Geschlechtstriebes gewidmet. Dasselbe enthält ausser der interessanten
Casuistik wenig für dieses Beferat Bemerkens werthes.
Ein für den Fachmann unentbehrliches Buch bildet die „Pathologie
und Therapie der männlichen Impotenz'' von Victor v. Gyurkovezkj.
Verfasser erklärt sich in der Einleitung als entschiedener Gegper jentf
medicini sehen conventionellen Lügen, welche über die grosse Bedeutung des
geschlechtlichen Factors hinwegzutäuschen suchen. Nach ihm ist die Wohl-
that, einem Impotenten seine verlorene kostbare Elraft wiederzugeben, oft
grösser, als einen Schwerkranken vor dem Tode zu bewahren. Denn die
ganze Thatkraft des Mannes, sein Muth, die Lust zur Arbeit und tarn
Leben hängen mit der geschlechtlichen Kraft zusammen. Die Anatomie nnd
Physiologie des Geschlechtsaktes wird präcis und anregend beschrieben,
wie überhaupt die ganze Auffassung des Verfassers einen tiefen Menschen-
LiteraturzuaammensteDuDg über die Psycliologie und Psychopathologie etc. 283
kenner und vortreffliohen SiiliBten Terräth. Die Thatsache, dasi im Früh-
jahr die meisten Verbrechen wider die Sittlichkeit begangen werden, erklärt
G. mit dem zu dieser Zeit lebhafter sich äussernden Geschlechtstriebe. Bei
den Formen der Impotenz unterscheidet Verfasser: Impotenz in Folge von
angeborener Missbildnng und Defecten der Sexualorgane und von erworbenen
Fehlem und Defecten derselben.
Consecutive Impotenz wird nach acuten und chronischen Krankheiten,
nach Verletzungen des Gehirns und Bückenmarks sowie durch den Einfluss
gewisser Gifte und Medicamente (wie Kaffee, Alkohol, Tabak, Digitalis,
Morphium, Arsenik, Blei, Jod, Quecksilber, Salycilsäure) beobachtet Zu
der ererbten Form der Impotenz rechnet der Autor auch die perverse
Sexualempfindung; seine Darlegungen stützen sich hierin ganz auf Krafft-
Ebing.
Die Meinung, dass Excesse in Venere zumeist von edler angelegter
Naturen begangen werden, dürfte nicht unwidersprochen bleiben. Eine
vernünftige Gymnastik soll die Geschlechtskraft bedeutend stärken, ohne
sonst der Gesundheit zu schaden. Die grösste Schädlichkeit der Onanie
liegt in der Unmässigkeit, mit der sie betrieben wird. Was G. über die
Ursachen der Onanie, sexuelle Neurasthenie, Pollutionen, Spermatarthoe
sagt, entspricht den bekannten Erfahrungen anderer Forscher.
Femer werden unterschieden eine psychische oder hypochondrische,
eine relative und temporäre Impotenz. Bei Individuen dieser Art sind die
Hemmungscentren höchst empfindlich. Ausserdem kennt G. eine Berufs-
impotenz bei intensiver geistiger Arbeit, wie eine senile Impotenz. Die
geschlechtliche Functionsfähigkeit beginnt vom 50. Lebensjahre an zurück-
zugehen und ist meist im 65. Jahre schon erloschen. In der Prophylaxe
und Behandlung der Impotenten spielen Begelung des Geschlechtslebens,
Beseitigung der Ursachen und Psychotherapie die Hauptrolle.
Die Frage der Impotenz beim Weibe wurde von Laker, Torggler
und Loimann^) erörtert, klinische Beobachtungen über weibliche Pollu-
tionen berichtete Bobinson. Wie Beferent an anderer Stelle (Suggestions-
therapie bei krankh. Ersch. des Geschlechtssinnes) ausgeführt hat, sind beim
Weibe nicht selten Störungen des Orgasmus zu beobachten, wenn vor
Eintritt des normalen Verkehrs masturbirt wurde. Durch die Anpassung
an die inadäquate onanistische Beizung wird die Anspruchsfähigkeit der
wollustvermittelnden Centren des Weibes bedeutend alterirt und für normale
Beize herabgesetzt. Ein solches Weib ist also insofern impotent, als der
natürliche Beiz durch Begattung nicht genügt, den Orgasmus hervorzur
rufen. Frauen dieser Art pflegen durch nachträgliche Onanie den begonnenen
Geschlechtsakt zu vollenden. Ausserdem kann durch gewohnheitsmässige
Beizung der Clitoris diese zu einer Hypererregbarkeit gebracht werden,
während der Introitus vaginae in seiner Empfindlichkeit beeinträchtigt wird.
Bei sachverständiger Analyse und Aufklärung sind diese Impotenzformen
oorrecturfahig.
*) Therapeutische Monatshefte 1890, S. 165: Dr. Gustav Loimann, Ueber
Onanismas beim Weibe als eine besondere Form verkehrter Richtung des Ge-
schlechtstriebes.
284 ▼• SchreDck-Notzing. LiteraturziuftinmeiutellnDg ete.
t)a8 Jahr 1889 bringt auch die ersten Veröffentlichnngen über erfolg-
reiche Saggeetivtherapie bei peychosexaellen Erkranknngen. Während gegen
Onaniamofl schon früher namentlich vonVoisiny B6rillon, LidbeauU
die Suggestion angewendet worde, sind Ladame, ▼. Krafft-Ebing und
Verfasser dieses Beferats die ersten gewesen, welche über erfolgreiche Ab-
snggerirang homosexueller Empfindungen berichten konnten. Bei Ladame
handelt es sich um homosexuelle Empfindungen bei einem D^^nerirten,
V. Krafft-Ebing hielt damals (8. Auflage der Psychopathia sexualis)
nur Fälle erworbener contrXrer Sexualempfindnngen für heilbar durch Psycho-
therapie; dagegen handelte es sich bei dem Tom Referenten behand^ten
Patienten um diejenige Form conträrer Sexualempfindung, welche v. Krafft-
Ebing als ,,angeborene'^ beseichnet. Ja gerade der vom Referenten be-
handelte Fall ist in mehreren Auf lagen t. Krafft-Ebing 's als typisches
Beispiel angeborener Homosexualität beschrieben. Der betreffende Patient
wurde soweit hergestellt, dass er heirathete, in glücklicher Ehe lebte und
mehrere Kinder erzeugte. Verfasser konnte die Heilungsdauer 7 Jahn
nach Entlassung aus der Behandlung beobachten und hat an verschiedenen
Stellen (3 Artikel in der Internat, klin. Bundschau, Beobachtung 143 in
des Ver&ssers Suggestionstherapie bei krankh. Ersch. des Öeschlechtssinnw
und in der Schrift : Zur Aetiologie der conträren Sexualempfindung, Wien,
H51der 1895) den jedesmaligen psychischen Status praesens nach den brief-
lichen und mündlichen Berichten des Geheilten mitgetheilt. Wahrscheinlich
handelte es sich in diesem Fall wie in vielen anderen als durch „erbliehe
Anlage präformirt'' angesprochenen Fällen lediglich um homosexuelle Be-
thätigung des Geschlechtstriebes bei einem erblich belasteten Psychopathen.
Seit der durch diese Besultate gegebenen Anregung wurde die Suggestion
vielfach nur Behandlung der psychosexuellen Störungen angewendet und
zwar von zahlreichen Autoren mit so befriedigendem Erfolge, dass msa
diese Behandlungsmethode heute ohne IJebertreibung als ein Spesificom
gegen Verirrungen und Abweichungen des geschlechtlichen Trieblebens be-
trachten kann.
Kleine Mittheilimgen.
Wfiniiuig Tor falscher Beelame.
(Missbrauch der Unterschrift bekannter Aerzte.)
I.
Im Annoncentheil von M. Harden's „Zukunft** und an anderem Orte wird
eine angebliche Liöbeault-LöTy'sche Heilmethode angepriesen. Die Kranken,
die sich dorthin wenden, erhalten den folgenden Prospekt:
1) „Yur Gesunde, Kranke und Nervöse.
Prospekt, Kritiken, Heilberichte
über die
Methode
Lidbeault-Leyy.
Wie werde ich energisch? allgemeine Psychogymnastik und spezielle
fioulogymnastik, eine vollständige Anleitung zur Erleuigung von Energie und That-
kraft etc.
2) Als Manuskript gedruckte Verordnungen
von Dr. W. Gebhardt.
Preis Mark 6.
Leipzig. Modem-medicinischer Verlag etc. . . .
Eine persönliche Behandlung übernimmt der Verfasser in keinem
Falle mehr ".
Der Ankauf des Werkes von Dr. W. Gebhardt zu Mark 6 ist also das
Schlussergebniss für die Heilmethode .
Unter der Ueberschrift „Aerztliche Zeugnisse** werden Gitate ans Büchern
der Unterzeichneten beigefügt, bei welchen Dr. W. Gebhardt, ohne Angabe
der Quellen, mit den Namen der betreffenden Verfasser (darunter Prof. Bern-
heim, Dr. Wetterstrand, Dr. Burckhardt, Dr. Bingier (Zürich), Prof.
Forel) unterzeichnet.
Es soll hierdurch der Irrthum erweckt werden, als ob unter Anderen die
Unterzeichneten die von Dr. Gebhardt sogenannte Liebeault-L6vy*sche Heil-
methode erprobt und empfohlen hätten. Dass diese Täuschung gelungen ist, kann
durch Anfragen bewiesen werden, welche, unter Bezugnahme auf das angebliche
Zeugniss, an Prof. Forel gerichtet wurden.
286 Kleine Mittheilungen.
Wir Unterzeichneten erklären hiermit: So bekannt der Name dea Herrn
Dr. Liebeault, des ehrwürdigen Entdeckers der Saggestionsmethode ist, so an-
bekannt ist uns Herr Gebhardt, sowie seine angebliche Liebeault-Lery betitelt«
Heilmethode. Herr Doctor P. E. Levy in Paris war früher Assistent des nnter-
zeichneten Prof. Bernheim, und hat eine Dissertation über Autosuggestion in
der Behandlung klinischer Kranldieiten geschrieben. Er verwahrt sich jedoch mit
Liebeault (siehe unten) gegen den Missbrauch seines Namens in dem Geb-
hardt'sehen Prospekte und hat nie eine Li^beault-Leyy'sche Methode inscenirt.
Keinem von uns ist es jemals eingefallen, ein Zeugniss über die Liebeault-Levy'sehe
Heilmethode zu geben, und wir verwahren uns nachdrücklich gegen diesen Kiss-
brauch unserer Namen. Wir halten uns hierzu im Interesse des Heilung suchenden
Publikums für verpflichtet.
Erkundigungen, die wir an competenter Stelle einholten, ergaben, dass die
deutschen Gesetze ein strafrechtliches Vorgehen für solche Fälle nicht zulassen.
Prof. Dr. H. Bernheim in Nancy.
Dr. Aug. Forel,
vormals Professor an der Universität Zürich.
Dr. G. Burckhardt in BaseL
Dr. G. Bingier in Zürich.
Otto G. Wetterstrand, pr. Arzt, Stockholm.
n.
Les soussignes tiennent a declarer qu'ils sont tout-ä-fait etrangers a la publi-
cation d'une brochure (signalee ci-dessus) et portant ce titre: „Sur la methode
Liebeault-LSvy" et regrettent vivement la publicite faite k cette occasion autonr
de leurs noms. Dr. A. A. Liebeault,
Dr. P. E. Levy.
ni.
Als Gegenstück zu der Bedame Gebhardt muss der Unterzeichnete gegen
folgenden auf Unwahrheit beruhenden reclamenhaften Missbrauch ebenfalls pro-
testiren :
Sowohl in Nord- Amerika, wie nun in Deutschland wird ein „Pastor Königes
Nervetonic; The Koenig Medecine G® Chicago; Depot Frankfurt
a/Main'Deutschland, Moselstrasse 30*^ verbreitet. Die bezügliche Redame-
Brochüre trägt vom die Bilder von Pastor Konig und von Dr. Carl Bertschinger,
Specialarzt für Nervenkrankheiten.
Letzterer titulirt sich „früher Privatassistent von Prof. Forel in
Zürich, sowie auch in dem Asyl BurghÖlzli (Schweiz). Beide Angaben
beruhen auf Unwahrheit. Dr. B. hat freilich in Zürich Medicin studirt, war jedoch
weder Privatassistent bei mir, noch war er jemals Assistent in der Anstalt Burg-
hÖlzli, weder vor, noch während, noch nach meinem Directorium jener Anstalt
Auch diese unrichtige Angabe veranlasste bereits Kranke bei mir darüber nach-
zufragen.
Dr. Aug. Forel,
ehemals Professor in Zürich und Director a. D.
der Anstalt BurghÖlzli.
Kleine Mittheilangen. 287
IV,
Durch einen Patienten fiel mir ein Prospect über eine Schrift:
Anleitung zum imponirenden Auftreten
nach der Methode dea
Don Juan Laatanosa
von Dr. med. W. Gebhardt
(Leipzig, modern-medicin. Verlag)
in die Hände, in welchem durch Selbstbehandlnng ohne ärztliche Hilfe-
leistung die Heilung aller möglichen körperlichen und psychischen Gebrechen
versprochen wird.
Nun das wäre heutzutage ja weiter nichts Auffallendes ; was mir aber auffiel,
war der Umstand, dasa ich unter den angeführten ärztlichen Zeugnissen die
Namen: Bechterew, Wetterstrand, Bingier, Bernstein (nebenbei auch
Eins en mit seiner Licht-Therapie) u. A. fand, von denen Allen es mir denn doch
zu überraschend erschien, dass sie auf ihre erprobte, freilich sehr mit der Person
des Arztes verknüpfte Thätigkeit Verzicht leistend, plötzlich Aposteln einer „Selbst-
behandlung nach der Methode Lastanosa-Gebhardf geworden sein sollten.
— Es handelt sich da m. E. um einen — gelinde, gesagt — recht eigenthümlichen
Gebrauch dieser Namen, und Zweck dieser Zeilen ist lediglich, die daran Be-
troffenen in dieser, unser geistiges Verkehrscentrum darstellenden Zeitschrift,
welche jedem Einzelnen von ihnen in die Hände kommt, darauf aufmerksam zu
machen.
Diese „Zeugnisse" sind nämlich, wie ich mit leichter Mühe feststellen konnte,
nichts anderes als einfach den Werken und Schriften dieser Schriftsteller wört-
lich entnommene Krankengeschichten; wörtlich bis auf den Umstand, dass eben
alles auf hypnotische Behandlung Bezügliche verschwiegen und so fälschlich der
Eindruck hervorgerufen wird, als bezögen sie sich auf die neue, angepriesene
und Vieles verheissende Behandlungsmethode „ohne Arzt" ; der Schluss dieser hier
als Zeugnisse figurirenden Krankengeschichten lautet dann auf diese Weise zuge-
stutzt, alle Mal recht kurz und practisch: „durch die Behandlung wurde Patient
in kurzer Zeit geheilt", oder „eine kurze Behandlung besserte etc.
Auch mein Patient Hess sich durch die ihm z. Th. bekannten Namen täuschen,
legte Mark 6,50 an, und erhielt ein dünnes, aus 10 Einzelheften (Briefen) be-
stehendes Werkchen, aus welchem er dann freilich in keiner Beziehung den er-
hofften und durch den Prospect in Aussicht gestellten Weg zur „radikalen Hei-
lung^' seines Leidens (Stotterns) durch Selbstbehandlung fand.
Dr. Axel Sjöström.
Referate und Besprechungen.
A. Smith, 1. Ueber einige neae Methoden zur fieatimmung der
Herzgrehzen. 2. Ueber objectiye Yerändernngen des Herseni
unter demEinfluss localer und allgemeiner Eleetritation. Separat-
Abdruck aus den „Verhandlungen des 18. Congresses für innere If edicin". GaMel
1900. Martin Wallach, Nachfolger.
Yerf. hat die beiden oben bezeichneten Vorträge auf dem 18. Congresae for
innere Medicin zu Wiesbaden gehalten. In dem ersten Vortrage bespricht Verl
zunächst die Herzgrenzenbestimmung durch Böntgen-Aufnahmen, durch Falpatton
und empfiehlt sodann warm das Bianchi-Bazzische Phonendoskop. Dawelbe ist
von ihm in 16000 Einzel-Untersuchungen erprobt und im Laufe Ton fünf Jahren
erfolgreich zur Herzuntersuchung benutzt worden. Verf. gebrauchte einen tob
Martin Wallach Kachf. in Cassel yerbesserten Bianchi-Apparat, an welchem „doreh
Oeffnen einer Klappe der dröhnende Character der dem Apparat innewohnenden
Eigengeräusche beseitigt und durch Durchbohrung des Stiftes die Schallleitung
von der Haut wesentlich verbessert wird". — Um Eigenbewegungen der Hand und
daraus erfolgende Schallreaction auszugleichen, macht Verf. die Streichbewegungen
nicht mit dem Finger, sondern mit einem elastischen „Borsten-Pinsel von einer
flach gebundenen, gewölbten Form, an den Seiten c. 0,6, in der Mitte c. 1 cm.
lang**. Die Streichungen führt er centrifugal und continuirlich aus, nicht „pini-
cato**. Verf. veröffentlicht die Abbildungen einiger Gardiogramme, die mit Hülfe
der Bianchischen Frictionsmethode und des Phonendeskopes aufgenommen wurdeiL
Es sind Versuche von Herzgrenzenbestimmung bei Einwirkung von Kola-PaatiUea,
ferner Aufnahmen während eines Herz-Collapses, bei Ueberhitzung des Körpen
durch heisses Bad, nach Goffein-Qenuss, nach Einwirkung des faradischen Stromes,
nach Alcoholwirknng bei Pneumonie. Verf. kündigt eine demnächst eracheineode
Monographie über Herzveränderungen an Gesunden und Kranken an, der er die
mitgetheilten Gardiogramme entnommen hat.
Den zweiten Vortrag bezeichnet Verf. auch zugleich als einen „Beitrag zur
Frage: Beruht die Wirkung der Electricität beim Menschen auf Suggestion oder
nicht?" Verf. giebt die Abbildungen von vermittelst des Phonendoskopen aufge-
nommenen Gardiogrammen bei Anwendung des galvanischen Stromes, local auf
das Herz und bei allgemeiner Application im Bade. Danach fand er im enteren
Beferate und Bespreehongen. 289
FtHl «Baeheinend keine Wirkung auf daa Herz, im zweiten eine Herzerweiterung.
Herserweiternd wirkten such Bogenüeht — Glfihlieht — Bäder und farbige auf
die Herzgegend gerichtete Bestrahlung. Das galvano-faradische Bad wirkte auch
erweiternd, aber weniger itark als das galranische Bad ohne faradische Combi-
nation. Der faradische Strom, local durch das Herz geleitet, allgemeine Fara-
disation, wie alleinige Durchströmung grösserer Muskelgruppen wirkte herzrer-
kleinernd. Die Wirkung des faradischen Stroms war geringer, wenn ein herz-
erweitemder Reiz Torausging. Wechselströme, bis zu 24 Volt Spannung, wirkten
wenig oder gar nicht auf das Herz. Bei 36 Volt sah Verf. wesentlich stärkere
Verkleinerung, als durch den faradischen Strom. Die Herzerweiterungen waren
Ton Unlustgeffihlen begleitet, die Verkleinerungen wurden angenehm empfunden.
Aach die statische Electridtät wirkte herzverkleinemd und ihre Anwendung
wurde angenehmer empfunden, als alle anderen Methoden. Die Vibrationsmassage
hatte auf das Herz die gleiche Wirkung wie die Faradisation.
Von besonderem Interesse ist der Versuch des Verf., einem Patienten in der
Hypnose eine Herzrerkleinerung zu suggeriren. Der Patient hatte bereits seit
mehreren Monaten faradische Bäder mit herzyerkleinernder Wirkung erhalten. Die
erste hypnotische Sitzung erfolgte zur Zeit des gewöhnlichen faradischen Bades.
Die einfache Suggestion einer eintretenden Herzverkleinerung verlief gänzlich
wirkungslos. In der zweiten Sitzung wurde dem Patienten der ganze Vorgang
des faradisehen Bades suggerirt: er ziehe sich aus, steige ins Bad, höre die Bat-
terie klappern, fühle es in den Beinen zucken, dann im Bücken, dann in den
Armen. Auf diese Suggestionen zogen sich nicht nur die Muskeln zusammen, wie
in dem faradischen Bade, sondern nach der Hypnose fand sich auch, genau wie
nach dem electrischen Bade, die gleiche, starke Verkleinerung des Herzens. Verf.
bezeichnet mit Recht diesen Versuch als einen objektiven Beweis für die Wirk-
samkeit hypnotischer Suggestionen, zugleich lehre derselbe aber auch, dass nur ein
dem zu hypnotisirenden Individuum bekannter und geläufiger Vorstellungsablauf
suggerirbar und von entsprechenden Gefühlen und Organverändernngen begleitet
sein könne. Auf das einfach suggerirte „Gefühl des Herzzusammenziehens" da-
gegen reagirt sein Patient in keiner Weise, da ihm für dieses Gefühl an sich jeg-
liches Substrat fehlte. Redlich -Riga.
J. Mourly Vold, lieber Hallucinationen, vorzüglich Gesichts-
hallucinationen auf der Grundlage von cutan-motorischen Zu-
ständen und auf derjenigen von vergangenen Gesichtseindrücken.
Allgem. Zeitschrift für Psychiatrie Bd. 57.
Verf. beschäftigt sich seit einer Reihe von Jahren mit experimentellen
Massenuntersuchungen über Träume, insbesondere mit Studien über Beeinflussung
der Träume durch cutan-motorische Reize. Er macht seine Versuche gleichzeitig
an 10 — 40 inteDigenten , gebildeten Personen. Ein oder mehrere Körperglieder
werden cutan-motorisch beeinflusst, indem die Versuchspersonen sich Abends ein
Band um Fussgelenk und Sohle banden oder die Hände in Handschuhen in leichter
Beugestellung fizirt werden. Die stattgehabten Träume wurden am nächsten
Morgen, unmittelbai^ nach dem Erwachen, von den Versuchspersonen aufge-
schrieben. In etwa 60— 80*/o der Fälle fand Verf. eine Beeinflussung des Traum-
lebens durch den applicirten Reiz. In den negativ ausfallenden Versuchen konnte
290 Keferste und Besprechungen.
fast in allen Fällen beim Erwachen überhaupt kein Traum reprodncirt werden.
Verf. stellt eine genauere Mittheilung über diese Versuche in baldige Aussicht
und kommt auf Grund derselben Torläufig zu den folgenden Besultaten. Er fand
eine Einwirkung auf das Traumleben durch cutane Keizmomente: der drückende
Gegenstand selbst oder ein ihm oder dem gedrückten Gliede in irgend einer Be-
ziehung ähnlicher (visuell, phonetisch) wurde in irgend einer Form im Traume
wahrgenommen. Ferner constatirte er die Wirkung cutan-motorischer Momente
mit besonderem Hervortreten des motorischen Elementes: Die YersuchspersoneQ
träumten die Ausführung von allerlei Bewegungen und Stellungen an sieh und
anderen Personen, wo bei diesen Träumen in irgend einer Weise die reale Lage
des Yersuchsgliedes zu Grunde lag. Verf. erklärt das Zustandekommen der
Träume durch cutan-motorische Spannungen (Drucke) und hält es im allgemeinen
für ausgeschlossen, dass aktuelle Bewegungen des betreffenden Gliedes den Traum
begleiteten.
Anf Grund solcher Beobachtungen und einer gewissen Analogie zwischen den
Hallucinationen des Wachzustandes und den Träumen sucht Verf. seine Resultate
zur Erklärung scheinbar central entstandener Hallucinationen zu yerwerthen, deren
Genese vielfach auf bisher unbekannte, resp. zu wenig beachtete periphere Reize
zurückzuführen sei. Insbesondere nimmt Verf. für eine grosse Reihe von Gesichts-
Hallucinationen an, dass in ihnen, ähnlich wie in den Träumen, ein „latent-moto-
rischer Zustand'^ zum Ausdruck kommt. Sie beruhen auf Spannungen in der
Haut und Musculatur, durch welche Gesichtsbilder von Bewegungen, resp. von
darauf bezüglichen Objecten, zum Theil auch ohne begleitende Bewegungsvor-
stellungen, entstehen. Verf. erläutert seine Hypothese an einer Reihe von Bei-
spielen aus der Literatur und zieht dieselbe besonders auch heran zur Erklärung
des Zustandekommens hypnagogischer Gesichtshallucinationen.
Inwieweit die von ihm erörterten Hallucinationen von bewegten und ruhigen
Personen, Thieren, Körpertheilen und darauf bezüglichen Dingen thatsächlich als
„cutan-motorische Reflez-Hallucinationen^^ aufzufassen sind, wagt Verf. nicht zu
entscheiden. Auch was die entsprechenden psychischen Vorgänge im Traum an-
langt, so vermag er noch nicht mit absoluter Sicherheit zu dieser Frage Stellung
zu nehmen. Als wahrscheinlich glaubt er, auf Grund seiner Versuche, festgestellt
zu haben, „dass abendliche abstrakte Vorstellungen einer Bewegung an sich keine
Traum-Hall ucinationen einer selbsterlebten Bewegung hervorzurufen vermögen —
es sei denn indirect durch das Hervorbringen einer entsprechenden Körperlage**.
Seine Experimente bezüglich der „Gesichts-Hallucinationen auf Grund ver-
gangener Gesichts-Eindrücke" bezeichnet Verf. als noch nicht abgeschlossen. Die
Versuchs - Personen mussten bei diesem Experiment Abends einen bestimmten
Gegenstand iixiren, unmittelbar darauf die Augen schliessen und vor dem Ein-
schlafen nicht mehr öffnen. Es zeigte sich, dass in den meisten Fällen Traome
eintraten, in welchen in mehr oder weniger veränderter Form das abendliche
Objectbild reproducirt wurde, resp. Momente enthalten waren, die anf dasselbe
hinwiesen. Verf. erhofft auch von diesen Studien eine Klärung der Frage von
der Genese der Wach-Hallucinationen. —
Nach Ansicht des Ref. wird Verf. in psychiatrischen Kreisen mit seiner
Hypothese : scheinbar central entstandene Hallucinationen seien in grosserem um-
fange, als bisher, auf bestimmte, periphere Reize zurückzuführen, kaum auf Wider-
Referate und Besprechungen. 291
Spruch stossen. Die Annahme einer centralen Entstehung vieler Hallucinationen
beruht ohne Zweifel nur auf der Beschränktheit unseres bisherigen Erkennens.
Inwieweit die Traum-Experimente des Verf. geeignet sind, die Grenzen unseres
Erkennens weiter hinaus zu nicken, darüber wird man sich erst ein abschliessendes
Urtheil erlauben dürfen, wenn die angekündigten genaueren Daten über die Ex-
perimente vorliegen werden. Be dl ich -Riga.
Arthur Mac Donald^ Experimental study of children including
anthropometrical and psycho-physical measurements of Washing-
ton School children, and a bibliography. United States bureau of edu-
cation. Chapters from the report of the commissioner of education for 1897 — ^98.
Ghapters XXI and XXV. Washington. Government printing office. 1899.
Der erste Theil der Arbeit giebt die Resultate anthropometrischer und psycho-
physiologischer Messungen wieder, die Verf. an 1074 Schulkindern in Washington
ausführte. Ferner wurden die socialen und Rasseverhältnisse berücksichtigt. Aus
seinem Material zieht Verf. folgende Schlüsse:
1. Dolichocephalie nimmt bei Kindern zu mit abnehmender Befähigung. Ein
hoher Procentsatz von Dolichocephalie scheint mit geistiger Beschränktheit zu-
sammenzuhängen.
2. Vor der Pubertät sind Hautempfindlichkeit (mit dem Tasterzirkel geprüft)
und Wärmesinn feiner als nachher.
3. Knaben haben diese Sinnesfähigkeiten weniger entwickelt als Mädchen.
4. Kinder nichtarbeitender Klassen haben für diese Sinnesqualitäten eine
grossere Empfindlichkeit als Kinder arbeitender Klassen.
5. Farbige Kinder sind gegen Hitze viel empfindlicher als die der weissen
Rasse. Wahrscheinlich heisst das, dass ihr Uaterscheidungsvermögen viel feiner
ist, nicht, dass sie unter der Hitze mehr leiden.
Schlüsse für alle Schulkinder:
6. Mit zunehmendem Kopfumfang nimmt die geistige Befähigung zu. ^)
7. SLinder nichtarbeitender Klassen haben einen grösseren Kopfumfang als
Kinder arbeitender EJassen.
8. Der Kopf umfang der Knaben ist grösser als der von Mädchen, bei farbigen
Kindern jedoch übertrifift der Kopf umfang bei Mädchen den bei Knaben um ein
Geringes.
9. Farbige Mädchen haben in jedem Alter einen grösseren Kopf umfang als
weisse Mädchen.
10. Eine wichtige Thatsache, die schon von Anderen festgestellt wurde, ist
die, dass zu einer gewissen Zeit vor und nach der Pubertät die Mädchen grösser
und schwerer als Knaben sind, sonst aber zu keiner Zeit.
11. Weisse SLinder haben nicht nur eine grössere Standhöhe als farbige
Kinder, ihre Sitzhöhe ist sogar im Verhältniss noch grösser; doch haben farbige
Kinder ein grösseres Gewicht als weisse — das heisst, weisse Kinder haben im Ver-
hältniss zu ihrer Höhe einen längeren Oberkörper als farbige.
12. Begabte Knaben sind in der Regel grösser und schwerer als unbegabte
Knaben. Hierdurch werden die Resultate von Porter bestätigt.
') Sofern die Rasse dieselbe ist.
292 £eferst6 und Beaiurechaiigeti.
13. Während die begabten farbigen Knaben die unbegabten iarbigen ELnabes
in der Lange übertreffen, überragen die unbegabten die begabten an Sitahohe.
Dies scheint eine Beziehung oder ein Zusanunenbestehen von geringerer Begabao^
und längerem Oberkörper für farbige Knaben anzudeuten.
14. Der Zeitraum der IJeberlegenheit der Mädchen in der Geiammthohe,
Sitzhöhe und Gewicht ist bei den arbeitenden Klassen beinahe ein Jahr länger
als bei den nichtarbeitenden.
15. Kinder nicht arbeitender Klassen haben in der Regel eine grossere
Stand- und Sitzhöhe und Gewicht als die Kinder der arbeitenden Klassen, Dies
bestätigt die Resultate der Untersuchungen ron Roberts, Baxter und B o w -
diteh.
16. Mädchen sind den Knaben in der Schule überlegen (siehe aber Folgerung 10).
17. Kinder nichtarbeitender Klassen zeigen in der Schule grossere Fähig-
keiten als die Kinder arbeitender Klassen. Hierdurch werden die ErgebnisK
Anderer bestätigt.
18. Die Vermischung verschiedener Nationalitäten scheint der Entwickelung
der geistigen Fähigkeiten nicht förderlich zu sein.
19. Mädchen zeigen in der Schule einen grösseren Procentsatz mittlerer Be-
gabung als Knaben und deswegen weniger Verschiedenheiten. Einige Forsdier
sehen darin vom Standpunkte der Evolution einen Mangel, siehe aber Folgerung 16.
20. Mit fortschreitendem Alter nimmt die aussergewöhnliche Fähigkeit ßa
die meisten Studienzweige ab, die Minderbegabnng nimmt zu, ausgenommen im
Zeichnen, Handarbeiten und Schreiben ; also in den mehr mechanischen Unterrichts-
zweigen.
21. Bei den farbigen SLindern nimmt mit dem Alter die Begabung zu, um-
gekehrt wie bei weissen Kindern.
Folgerungen für abnorme Kinder:
22. Knaben nicht arbeitender Klassen zeigen einen grösseren Frocentsatx an
Kränklichkeit als Knaben arbeitender Klassen.
23. Sprachstörungen finden sich bei Knaben häufiger als bei Mädchen.
24. Knaben zeigen einen weit höheren Procentsatz von Unlenksamkeit und
Faulheit als Mädchen.
26. Die unbegabten Knaben zeigen den höchsten Procentsata an Unlenk-
samkeit.
- 26. Anormalitäten zeigen sich bei Sandern am häufigsten zur Zahnungsperiode
und zur Zeit der Pubertät.
27. Kinder mit Abnormitäten stehen den übrigen Kindern in der Standhohe,
Sitzhöhe, Gewicht und Kopfumfang nach.
In einem weiteren Theil giebt Verf. zum Vergleich Messungen wieder, die
in anderen Theilen der Vereinigten Staaten und in Europa angestellt wurdra.
Es folgt ein Verzeichniss und die Beschreibung der zur Ausstattung eines psycho-
logischen Laboratoriums nöthigen Apparate. Zum Schluss giebt Verf. eine Usber-
sieht über die Resultate des Studiums des Kindes in den Vereinigten Stsatcn
und eine Bibliographie der das Studium des Eandesalters betreffenden Werke.
I ae n b e r g - BerHn.
Beitrag zur Entstehungsart hysterischer Symptome/)
Von
Dr. H. Deliiis in Hannover.
Meine Herren I Die Tielen Arbeiten, die in neuerer Zeit über die
Hysterie nnd besonders über ihre Aetiologie erschienen sind, zeigen
eine grosse XJebereinstinimung in der Auffassung, dass diese Krankheit
in der Psyche ihren Sitz habe; und zwar nimmt man dies nicht nur,
wie das ja selbstrerständlich ist, für die seelischen Aeusserungen der
Hysterie, die hysterischen Charactereigenschaften, die Launenhaftigkeit,
4bs schnelle Umspringen der Stimmung u. s. w. an^ sondern man fuhrt
s.nch die körperlichen Symptome, die die Hysterie macht, auf
psychische Ursachen zurück; und ich möchte hinzufügen, dass auch
da, wo ein organisches Leiden, z. 6. wie so häufig in den Generations-
organen, andere, hysterische Erscheinungen nach sich zieht, dieses locale
Organleiden nicht die Ursache der Hysterie ist, sondern nur die
Veranlassung abgiebt, dass die latente hysterische Veranlagung
durch Symptome sich äussert, die sich aas einer, wenn ich so sagen
darf, falschen seelischen Verarbeitung des ursprünglichen localen Leidens
entwickeln.
Es ist also eine vom Normalen abweichend verlaufende Associa-
tionsthätigkeit, der die hysterischen Phänomene ihr Dasein verdanken,
«in über die Ghrenzen des normalen Spielraums hinausgehendes Reagiren
auf Reize, die das Associationsorgan treffen.
Halten wir diesen associativen Ursprung der hysterischen Symptome
fest, so müssen wir, um einigermassen zu einer Erklärung derselben zu
') Yorkmg im üntlichen Verein m Hannover.
Zeitscbrift fBr Hypnotiflmiu. X. 20
294 H. Deliua.
kommen , die Abweichungen zu erforschen suchen , die eine zu hyste-
rischen Erscheinungen führende Associationskette gegenüber dem nor-
malen Associationsverlauf aufweist, und müssen sie andererseiia mit
normalen und pathologischen Associationen vergleichen, um die Ursachen
des anormalen Verlaufes kennen zu lernen.
Verfolgen wir in gegebenen Fallen das Zustandekommen hysterischer
Phänomene genauer, so können wir, falls wir in das Seelenleben des
Patienten einen hinreichenden Einblick zu gewinnen vermögen, immer
nachweisen, dass das Auftreten der Symptome von seelischen, und zwar
emotionellen Momenten begleitet wird, wofiir ich nachher Beispiele
anführen werde. Die Befürchtung z. B., dass dieses oder jenes Kopf-
schmerzen machen würde, ruft solche thatsächlich hervor. Das kommt
allerdings auch bei normalen Menschen vor. Denn es ist ja eine be-
kannte Thatsache, dass der Glaube oder die Furcht vor einer Er-
krankung die mannigfachsten Störungen hervorrufen und umgekehrt
auch beseitigen kann. Diese mit dem Namen Suggestibilität belegte
Erscheinung unseres Associationsorgans gehört durchaus in das Gebiet
des Normalen ; sie folgt den gewöhnlichen Associationsgesetzen.
Was aber die Hysterie von dem Normalen unterscheidet, liegt mit
darin, dass die Gefühlstöne, die schon das Denken und Fühlen
des normalen Menschen in erheblichem Grade beeinflussen, eine wesent-
lich erhöhte Kolle spielen. Die Empfindungen und Vorstellungen der
Hysterischen zeigen eine viel lebhaftere Gefühlsbetonung, eine Er-
scheinung, die dem ganzen Wesen dieser Kranken ihr Gepräge
aufdrückt.
Wenn wir also bei der Hysterie sehen , dass für normale Begriffe
geringfügige Keize die heftigsten Beactionen hervorrufen , sowohl reio
psychisch — irgend ein leichtes Wort des Tadels kann die schwersten
Weinkrämpfe auslösen — als auch in Bezug auf Empfindungen im
eigenen Körper (Somato psycho von Wernicke), so erinnert dieses
starke Beagiren an manche, auch anderweitig zu beobachtende Er-
scheinungen.
So finden wir bei jüngeren Kindern die Gefühlsbetonungen durch-
weg sehr lebhaft. Der Kummer über etwas Versagtes, die Freude über
ein Geschenk u. dergl. äussern sich beim Kinde in Gefühlsausbrnchen.
wie wir sie in solcher Lebhaftigkeit beim normalen Erwachsenen nicht
kennen. Das liegt daran, dass die seelischen Vorgänge in der früheres
Jugend noch einfacher sind. Es treten noch keine die Aeusseningen
der Gefühle hemmenden Vorstellungen auf, die durch den Einflnss der
Beitrag zur EntstehuDgaart hysterischer Symptome. 395
Erziehung and des Lebens im späteren Alter normaüter immer geweckt
zu werden pflegen.
Wir wissen femer, dass wir in der Hypnose Erscheinungen
künstlich hervorrufen können, die spontan auch bei der Hysterie zu
beobachten sind, und wenn wir weiter wissen, dass ganz analoge Vor-
gänge, wie bei der Hypnose und der Hysterie, auch beim normalen
Schlafe im Traume vorkommen, und dass diese Erscheinungen im
Schlafe und in der Hypnose, welch' letztere ja nichts anderes als ein
künstlich erzeugter partieller Schlaf ist, auf Hemmungen einzelner
Gentren und dadurch bedingten Bahnungen anderer Centren be-
ruhen,^) so werden wir auch die hysterischen Symptome auf Hemmungen
und Bahnungen einzelner Centren zurückzuführen versuchen dürfen, die
ihrem Wesen nach den Hemmungen des Schlafes sehr nahe stehen.
Wir dürfen also annehmen, dass, wie im Traume ein einmal er-
regtes Centrnm wegen der Hemmung anderer Centren über die Norm
stark erregt wird, weil eben die functionellen Beize anderweitig nicht
abfliessen können, auch bei der Hysterie die über die Norm hinaus-
gehende leichte Dissocürbarkeit auf einer Bahnung einzelner Centren
infolge von Hemmungen anderer Vorstellungscomplexe beruht.
Bei einer solchen Lage der Dinge ist es natürlich, dass eine Ab-
grenzung der hysterischen Erscheinungen von normalen manchmal sehr
schwierig ist Die Grenze ist keineswegs scharf. Auch mit der Neur-
asthenie, die ja auch seelischer Natur ist, collidirt die Hysterie
vielfach.
Wenn wir uns jetzt zur Analysirung eim'ger hysterischer Symptome
wenden, so brauche ich nicht mehr besonders zu betonen, dass die
Hysterie an normale Erscheinungen anknüpft, und das Krankhafte bei
ihr wesentlich in der Intensität der über das Normale hinausschiessenden
Symptome besteht.
Nehmen wir z. B. den Fall, dass ein heftiger Schreck eine hyste-
rische Bewegungsunfähigkeit von längerer Dauer hervorruft, so finden
wir ja auch bei vollständig normalen Menschen, dass sie gelegentlich
in Folge eines heftigen Schrecks für einen Augenblick nicht im Stande
sind weiterzugehen ; sie sind wie angewurzelt Zu erklären ist die Er-
scheinung so, dass das den Schreck verursachende Ereignis, sagen wir
mal das Herabstürzen eines Menschen von einem Baugerüst, so sehr
das Bewusstsein ausfüllt, dass die Vorstellung hinzulaufen, gar nicht
») Vergl. 0. Vogt, D. Ztschrft., Bd. in, S. 314 flF.
20^
296 H. Delius.
auftauchen kann, weil eben alle fnnctionellen Beize nach denjenigen
Neuronen abfliessen, die durch den schrecklichen Anblick gebahnt
worden sind. Wird nun im weiteren Verlaufe, die Vorstellnng, hingehen
und nachsehen zu wollen, einigermassen bewusst^ bleiben aber die Be-
wegungsimpulse noch aus oder zu schwach, so entsteht das Gefühl,
nicht fort zu können; die Beine sind steif und schwer, gerade wie
bei einer in der Hypnose auf suggestivem Wege erzeugten Katalepsie.
Während nun normaliter diesw Zustand schndl Tornbergeht, indem die
Nenrenwellen Ton den ursprünglich erregten Partieen nach den die Be-
wegung intendirenden Neuronen und weiter als Bewegungsimpulse nach
den Muskeln abfliessen, und so die Bewegung alsbald erfolgt, kaon
im gedachten Falle beim Hysterischen der Abflnss der Neorokyme
nach den die Bewegung intendirenden Neuronen wegen der Hemmung
der letzteren ausbleiben, indem die Nervenwellen nach denjenigen Neu-
ronen in Folge grösserer Erregbarkeit derselben gelangen, in denen das
Gefühl der Schwere und Steifheit in den Beinen bewusst geworden
war. In Folge der anderweitigen Hemmung stauen sich hier die Beize
und machen die Unfähigkeit, weiterzugehen, dauernder.
Ich will hier einschalten, dass wir analoge Vorgänge in der Form
der Schrecklähmungen in der Tierwelt als etwas Physiologisches
kennen. In den meisten Fällen wären sie ja höchst unzweckmässig
für das Indiriduum, da dieses seinen Verfcdgem leichter erliegen würde.
Aber wir haben die Schrecklähmung bei manchen Insecten, für die sie
augenscheinlich sehr nützlich ist. Es giebt Arten von Käfern, z. B.
die Marienkäfer, die bei einer Berührung sofort wie todt hinfallen und
sich erst nach einiger Zeit wieder weiter bewegen. Die Nützlichkeit
dieser Eigenschaft besteht darin, dass der Verfolger entweder überhaupt
keine todten Tiere frisst und deshalb den für todt gehaltenen Käfer
liegen lässt, oder aber, dass der sich todt stellende Käfer wegen seiner
Unbeweglichkeit nicht so sehr auffällt und leiditer übersehen wird. Es
ist ja bekannt, dass sich bewegende Körper leichter bemerkt werden
als in der Buhe verharrende, da erstere immer wieder neue Partieen
in der Netzhaut reizen, und so auch mehr Beize nach der Hininnde
gelangen. Doch das nur nebenbei.
Folgender Fall mag Ihnen nun meine Auffassung über das Psy-
chische der Ursachen hysterischer Erscheinungen und die Mitwirkung
besonders von Gefühlsbetonungen, von AfiEecten, zeigen.
Es handelt sich um eine junge Dame von 24 Jahren, die ich sehon fraher
wegen allgemeiner, mit Sdunerzen TerbaKideirar chorestischer Moakelxnnkiuigen,
Beitrag zur Entstehungsart hysterischer Symptome. 297
die aach hysterischer Natur waren, behandelt hatte. Nebenbei klagte sie damals
über einen Gervicalkatarrh, zeitweilige Diarrhöen mit heftigen Schmerzen, ab*
wechselnd mit Verstopfung, h&ufigen Urindrang und dergleichen. Organisch lag
aber nichts vor. Alle diese Erscheinungen wurden durch Gemüthsbewegungen her-
vorgerufen oder rerschlimmert, um mit dem Abklingen der Affecte auch wieder
nachzulassen.
Im Mai 1899 kam nun diese Patientin wieder zu mir, weil sie seit 6 Wochen
an einem heftigen, trockenen, bellenden Husten litt, der mit einer vollständigen
Aphonie verbunden war. üeber den Lungen war nichts Abnormes zu hören;
die Untersuchung der Stimmbänder war natürlich wegen des Hustens schwierig,
wenn sie aber gelang, sah ich das für hysterische Aphonien characteristische Zu-
sammensdin eilen der Stimmbänder an, also einen ganz normalen Ansatz zur
Phonation. In dem Moment aber, wo nun die Stimme normaliter erwartet werden
konnte, schnellten die Stimmbänder wieder auseinander, und es kam nur zu einem
Flüstern bei weiterer Stimmritze.
Yor Jahren von Herrn Prof. Beinhold hier auf dieses Bild aufmerksam
gemacht, habe ich es seitdem bei jeder hysterischen Aphonie beobachtet und
halte es direct für pathognostisch. Ich komme auf diese Erscheinung nachher noch
zurück.
Ich brauchte damals gerade 3 Wochen, um die Phonation wieder herzustellen.
Ich erfuhr später gelegentlich von der Patientin, dass sie früher, als sie wegen
ihrer choreatischen Erscheinungen bei mir war, von einer anderen auch an hy-
sterischer Aphonie leidenden Kranken gehört, bei ihr habe es damals 3 Wochen
gedauert, bis die Stimme wiedergekommen sei. Die Annahme liegt nun nahe,
wenn ich sie für diesen Fall auch nicht als erwiesen hinstellen will, dass sich bei
unserer Patientin hierdurch die Autosuggestion gebildet, die Aphonie würde auch
bei ihr 3 Wochen bis zur Heilung brauchen, umsomehr, als die Patientin, soweit
ich mich erinnere, bis dahin bei mir nicht mit anderen Aphonischen zusammen-
gekommen war, die ich in kürzerer Zeit geheilt hatte.
Neben dieser vollständigen Aphonie — sie konnte natürlich auch nicht singen,
lachen oder sich räuspern — bestand ein beständiger lauter, gellender Husten,
der die Kranke Tag und Nacht fast beständig quälte und ihr den Schlaf raubte.
Dabei war, wie gesagt, nicht der geringste Auswurf vorhanden. Die Stimmbänder
waren leicht geröthet, eine natürliche Folge des beständigen Hustens.
Gelang es mir, die Aufmerksamkeit abzulenken, so wurde der Husten
schwächer und es kam wohl zu einer Pause von wenigen Minuten. Der Husten
verschlimmerte sich immer am meisten, wenn er ihr am störendsten war ; so hustete
sie auf der Strasse und in meinem Wartezimmer, wo sie sich durch ihren Husten
anderen gegenüber genirt fühlte, besonders viel und stark; und im Anfange kam
es zu Beginn jeder hypnotischen Sitzung zu wahren Paroxysmen. Ich wurde dann
anfangs wohl ungeduldig und schalt sie aus, sie sollte sich doch etwas mehr zu-
sammennehmen u. dergl. Dadurch wurde es aber nur noch schlimmer. Da sie,
aus guter Familie stammend, eine im landläufigen Sinne gute Erziehung genossen
hatte, so ärgerte und betrübte es sie bei ihrer weichen Gharacteranlage, dass ich
meinen könnte, ihr Husten läge nur an ihrer geringen Energie. Sie sagte dann
wohl: „Aber Herr Doktor; wenn ich es könnte, würde ich es doch wohl lassen,
ich huste doch nicht zum Spass !" Wenn ich die Patientin nicht so genau kennte.
298 H. DeUus.
hätte ich bei solchen Gelegenheiten unbedingt angenommen, sie hustete mir zum
Trotz besonders stark, um mir eben zu beweisen, dass ich ihr Unrecht thate.
Ich habe bei dieser Kranken bisher zwei Rückfalle des Hustens und der
Aphonie beobachtet. Im Mai 1899 waren die Erscheinungen zuerst aufgetreten.
Dann kamen sie im Januar und endlich im August 1900 wieder. Jedesmal war
es schlimmer und, wie Sie sehen, waren auch die Zwischenräume kürzer geworden.
Was nun den Entstehungsmodus betri£Pt, so war das erste Mal zuerst
die Aphonie gekommen und spater das Husten. Sie hatte sich zusammen mit
ihren Eltern eine Erkältung zugezogen, die bei ihr als Angina auftrat. Sie war
dann heiser und schliesslich stimmlos geworden. Etwa 10 Tage später kam der
Husten dazu. Sie meint, dieser sei entstanden durch die Anstrengung, die ihr
das Flüstern macht.
Hier war also eine wirkliche Erkältung das Primäre. Wir dürfen auch
wohl annehmen, dass die sich anschliessende Heiserkeit auf einer Erkältungs-
Laryngitis beruhte. Während nun bei den anderen Familienmitgliedern die
Symptome mit dem Ablauf der katarrhalischen Erscheinungen wieder verschwanden,
entwickelte sich bei unserer Patientin yermöge der hysterischen Disposition aus
der Heiserkeit die Aphonie durch natürlich unbewusste, oder wenigstens unter-
bewusste Ueber treibungen der Funktionsstörung. Aus der Dysphonie wurde die
Aphonie, indem corrigirende, kritisirende YorsteUungen gehemmt blieben, und so
der durch den äusseren Insult — die Erkältung — geweckte Yorstellungscomplez
eine stärkere Bahnung erfahr. In derselben Weise entwickelte sich dann durch
weitere Bahnung auch der Husten. Bekanntlich ist das Flüstern anstrengender
als das laute Sprechen. Das Ermüdungsgefühl im Kehlkopf, oder vielleicht auch
schon das Gefühl, nicht phoniren zu können, riefen unbequeme Sensationen im
Kehlkopf hervor, die ihrerseits das Bedürfniss weckten, die Stimmbänder von
dieser Sensation durch Räuspern oder Husten zu befreien, geradeso wie ein Redner
sich räuspert, wenn ihm im Eifer der Rede die Stimme mal versagt. Da nun du
Räuspern natürlich nicht möglich war, weil es eine willkürliche Phonation be-
dingt, so trat der reflectorisch ausgelöste Husten an seine Stelle. Der Husten
konnte aber nichts beseitigen; im Gegentheil musste das Müdigkeitsgefühl im
Kehlkopf, das als unangenehmes Gefühl den Husten hervorrief, seinerseits durch
den anstrengenden, also ermüdenden Husten noch gesteigert werden. Der Husteo
schuf also neue unangenehme Sensationen, die durch die ständige Wiederholung
und dadurch associative Bahnung die Gefühlsbetonung des Reizes bekamen.
Bei dem ersten Rückfall im Januar 1900 war der Husten das zußrst Auf-
getretene. Die Patientin fühlte bald nach Weihnachten eine allgemeine Indispo-
sition. Wie sie selbst sagte, fürchtete sie gleich, den Husten wiederzubekonunen.
Dazu kam, dass ihr Dienstmädchen zu ihr sagte : „Wenn Sie nur den Husten nicht
wiederbekommen.^ und dann fing der Husten bald wieder an; er war geradezu
erwartet worden. Wenn sie nun hustete, äusserte ihr Yater mehrfach, sie sollte
doch das Husten lassen, sonst ginge die Stimme auch wieder weg. Und
auch das trat dann bald ein.
Man erkennt an dem ganzen Yorgange also deutlich, wie der Gefühls ton
der Furcht, die von der Umgebung noch genährt wurde, die Angst, es könnte
das gefürchtete Uebel wieder auftreten, das auslösende Moment war. Dieses Ge-
Beitrag zur EntstehnngBart hysteriBcher Symptome. 299
fühl weckte das ganze Krankheitserinnerangsbild als Zielrorstellung, und diese
wurde durch äussere suggestive Einflüsse noch weiter gebahnt.
Ich will hier einschalten, dass diesmal die Beseitigung der Erscheinungen für
mich schwieriger war, weil die Patientin, die in der Nähe von Berlin wohnt, auf
Empfehlung hin erst zu einem dortigen Laryngologen ging, der denn auch nach
Angabe der Kranken meinte, das Uebel würde in einer halben Stunde zu heben
sein. Er versuchte dann durch verschiedene suggestiv wirkende Manipulationen
intra- und extralaryngeal die Phonation zu erzielen, jedoch leider ohne Erfolg.
Und als er dann allmählich ungeduldig und heftig wurde, erreichte er nur, dass
die Patientin immer nervöser wurde und schliesslich nach etwa 10 Tagen die Be-
handlung aufgab. Dadurch hatte sich natürlich die Autosuggestion bei der Kranken
gebildet, dass diesmal die Sache ganz besonders schlimm sei. So wünschenswerth
ja im Allgemeinen gerade gegenüber der Hysterie ein bestimmtes sicheres Auf-
treten sein mag, so sehen Sie doch an diesem Falle, dass man andererseits wieder
mit der Prognose sehr vorsichtig sein nruss, rein aus therapeutischen Bücksichten,
um Misserfolge zu vermeiden.
Beim zweiten Bückfall — im August 1900 — war die Kranke bei einer
älteren Tante zu Besuch, der sie viel vorlesen musste. Sie fühlte, dass es sie sehr
anstrengte, mochte aber nichts sagen, sondern las täglich wieder vor. So wurde
durch die Ermüdungsgefühle, gerade wie das erste Mal, das Erinnerungsbild des
Hustens wieder geweckt, anfangs nur schwach — sie fing ab und zu beim Vor-
lesen an etwas zu husten — dann durch das Fortwirken des Reizes, nämlich der
beim fortgesetzten Lesen immer sich wieder erneuernden Ermüdungsgefühle stärker,
bis nach einer Beihe von Tagen der Husten vollständig wieder ausgebildet war.
Der Yorstellungscomplex des Hustens war wieder gebahnt und war nun so erreg-
bar geworden, dass er auch nach dem Aufhören der causa peccans, des Yorlesens«
weiter lebendig blieb. Alsbald folgte dann auch wieder die Aphonie, deren Er-
innerungsbild, associativ eng mit dem Hustenbilde verknüpft, diesmal wohl kaum
noch einer besonderen Bahnung bedurfte.
Am 10. November erfuhr ich brieflich von der Patientin, dass sie kürzlich
vorübergehend wieder gehustet habe, nachdem sie einem beständig hustenden Herrn
in der Strassenbahn gegenübergesessen. Es handelt sich da also diesmal um eine
Weckung des noch immer leicht erregbaren Hustenbildes einfach um eine Sinnes-
wahrnehmung desselben Vorganges bei einem anderen.
Auch während der Behandlung hatte ich oft Gelegenheit, vorübergehende
Verschlechterungen des Allgemeinbefindens, sowie des Hustens und der Aphonie
auf psychische Ursachen zurückzuführen. Wie bei der vorhin erwähnten Ver-
schlimmerung des Hustens in Gegenwart von Fremden, z. B. in meinem Warte-
zimmer, der Gedanke, andere mit dem Husten zu belästigen, gerade zu einer Ve r -
Stärkung des Hustenreizes führte, so wirkte auch in der ersten Zeit jede Hy-
pnotisirung hustenreizsteigernd. In beiden Fällen war der Wunsch, nicht husten
zu müssen, sehr stark; der Gedanke, einmal, andere zu belästigen, dann, durch
den Husten an dem gewünschten Einschlafen verhindert zu werden, lenkte aber
gerade die Aufmerksamkeit auf den Husten, regte den ganzen Vorstellungscomplez
des Hustenbildes zu besonderer Deutlichkeit an und liess deshalb den Beiz um so
stärker erscheinen.
Auch andere Bewusstseinsinhalte, die mit ihrer Krankheit gar nichts zu thun
300 H. DeUos.
liAtten, wirkten bei der Patientin doreh ihre unangenehme Gefiililsbetonang auf
den Husten erregend ein. So hatte aie mal eine schlechte Nachricht über den
Gesundheitszustand ihrer Grossmutter erhalten. Gleich vmrde der Husten wieder
stärker. Ebenso wirkten unangenehme Traume. Nach einem solchen hatte die
Patientin wieder stundenlang gehustet, nachdem der Husten schon seit 14 Tagen
ganz aufgehört hatte. Sie hatte geträumt, sie wollte auf einen Ball gehen, war
aber durch irgend eine Krankheit yerhindert. Das stimmte sie traurig. £ine
Freundin aber wollte hin; und nun wünschte die Patientin, wenigstens das Kleid
zu sehen, das die Freundin anziehen würde. Diese wollte es ihr aber nicht zeigen,
worüber sie noch mehr verstimmt wurde. Sie wachte in Thränen aufjgelöet auf.
Die Traumkette hat sich wahrscheinlich folgendermaassen entwickelt. Die Patientin
hatte am Abend zum ersten lial seit längerer Zeit wieder etwas genäht. Das
kann die Traumyorstellung des EJeides und diese die des Balles wachgerufen
haben. Dabei wurde als Contrastrorstellung die Vorstellung ihrer Krankheit ge-
weckt, und dass sie nun nicht hingehen könne. Diese Vorstellung verband sich
mit einem UnlustgefühL Letzteres beherrschte noch nach dem Erwachen die
Stimmung und weckte nun die mit dem labilen Gesundheitszustand assocürten Un*
lustgefühle und damit das Hustenbild selbst.
Noch gegen Ende der Behandlung rief ein schlechteres Allgemeingefühl
wenigstens die Vorstellung des Hustens wach, wenn auch der Husten s^bst
nicht mehr zum Ausbruch kam. Wenige Tage vor der Entlassung aus der Be-
handlung sagte mir die Patientin noch: „Wenn ich mich mal schlechter fohle,
so taucht auch sofort das Hustenbild wieder vor meiner Seele auf/ ein Zeichen,
dass der Gomplez noch immer sehr leicht erregbar war.
Ebenso wie der Husten im Laufe der Behandlung anfangs nur für kurze Zeit
nach den hypnotischen Sitzungen aufhörte, ging es auch mit der Aphonie. Am ersten
Tage, nachdem die Stimme wieder durchgekommen war, verschwand sie nach
2 Stunden wieder, dann nach 3, 6, 7 Stunden, und endlich blieb die Stimme bis
zur nächsten Sitzung nach 24 Stunden, um dann nicht mehr zu versagen.
Nur nebenbei will ich bemerken, dass diese Fälle natürlich nicht immer so
hartnäckig sind. Ich habe viele Aphonien behandelt, die in in wenigen Sitzungen
_ beseitigt waren und, soweit ich spätere Nachrichten habe, es auch blieben.
Vergleichen wir den eben besprochenen Fall nun mit Fallen von
hysterischer Astasie-Abasie, also der Unfähigkeit zu stehen und
zu gehen, Fällen, wie ich Ihnen einen vor einigen Jahren in seiner
Behandlungsart geschildert habe, so haben wir hier wie bei der Aphonie
Ton Yornherein die Erscheinungen der psychischen Hemmung. Ebenso
wie in dem einen Falle die aphonischen Eranken die Stimmbänder
leicht bewegen, aber nicht phoniren können, so ist in dem anderen die
Beweglichkeit der Beine und der anderen Eörperbewegungsmuskeln im
Liegen meist durchaus nicht behindert, aber Stehen und G^hen ist
unmöglich oder wenigstens sehr erschwert. Behindert oder aufgehoben
ist also der physiologische Effect der Muskelcontraction , der Ent-
zweck, den die betreffende Person in der intendirten Bewegung als
Beitrag zur EntstehungrMrt hyBterischer Symptome. 301
das Wesent liehe ansieht. Beim Gehen und Stehen ist das eine
Kraftleistnng in höherem Maasse, nämlich das Anfrechthalten und Yor-
wärtsbewegen des Körpers, während Bewegungen der Beinmuskeln
z. B. im Liegen dem Individuum nicht als solche Kraftleistungen zu
erscheinen pflegen. Diese letzteren Bewegungen sind also dann un-
gestört.
Handelt es sich dagegen z. B. um eine hysterische Ptosis der
Augenlider, so ist das Oeffnen der Augen selbst der Endzweck der
Bewegung des Levator palpebrae, die „Leistung^ dieses Muskels, und
so bleibt diese aus. Bei der Bewegung der Stimmbandspanner
endlich behufis Phonation ist der Entzweck die Stimmbildung.
Dabei ist noch eins zu beachten. Es giebt zwischen der Be-
wegungs-Vor Stellung, also der gewollten Bewegung, und der Em-
pfindung der ausgeführten Bewegung gar keinen psychischen, uns
bewusst werdenden Vorgang.^) Nur aus der Empfindung der Muskel-
contraction und der yeränderten Stellung der Glieder nach der Be-
wegung erkennen wir überhaupt, dass die Bewegung stattgefunden hat.
Der gewöhnliche Mensch aber beachtet meist nicht die Muskelcon-
tractionsempfindung als solche, sondern ihm wird die erfolgte Con-
traction der Muskeln in der Regel erst bewusst durch den Effect
der Bewegung; erst der gethane Schritt und die entsprechende Vor-
wärtsbewegung des Körpers geben ihm Kunde Ton der erfolgten Muskel-
thätigkeit.
Ich glaube, dass diese psychologische Thatsache bei der Erklärung
dieser hysterischen Erscheinungen eine Rolle spielt. Eben weil wir
keine Bewnsstseinserscheinungen haben zwischen der Bewegungsvor-
stellnng und der Empfindung der ausgeführten Bewegung, so fällt bei
den hysterischen sogenannten Lähmungen nur das weg, was dem Kranken
die Empfindung der erfolgten Bewegung geben würde: das ist beim
Gehen die Empfindung des gethanen Schrittes, der Kraftleistung,
beim Augenöffnen das Sehen von Gegenständen und beim Phoniren
der gehörte Ton.
Muskelcontractionen also, die stattfinden können, ohne dass oder
ehe der gewünschte Effect zum Bewusstsein kommen würde, finden
ungestört statt. Das klarste Beispiel hierfür haben wir in der hyste-
rischen Aphonie. Bei der Stimmbildung wird uns ja unter gewöhn-
lichen umständen die Contraction der Stimmbandspanner als solche
^) Ziehen, Leitf. d. Psychologie, S. 18.
302 H. Deliua.
nicht bewnsst. Erst der gehörte Ton sagt uns, dass ein Muskelact
stattgefunden hat. Deshalb können sich die Stimmbänder fast bis
zum Glottisschluss , d. h. bis zu derjenigen Verengerung der Stimm-
ritze und Spannung der Bänder, bei der ihre Schwingungen einen Ton
geben würden, contrahiren, ohne dass das Individuum von der Leistung
etwas merkt. Erst in dem Augenblick, wo der Glottisschluss eintreten
will, erschlaffen die Stimmbänder wieder, da ja der Effect, der aber
gehemmt ist, .durch die Gehörsempfinduug des Tones nun ins Bewusst-
sein treten würde.
So erklärt es sich, dass nur die letzte Phase ausbleibt.
Dieses giebt uns aber auch zugleich einen schlagenden Beweis
von der rein psychischen Natur dieser Art hysterischer Erschei-
nungen.
Bei organisch, also anatomisch bedingten Paresen oder Paralysen
ist jede Bewegung erschwert oder aufgehoben. Bei den hysterischen
Lähmungen finden wir aber die interessante Erscheinung, dass dieselben
Muskeln das eine Mal sich prompt contrahiren, während sie das andere
Mal versagen. So konnte meine Patientin trotz der Aphonie laut und
bellend husten. Zum Husten konnte sie also die Stinmibänder voll-
ständig spannen, zum Sprechen nicht. Es war also der jeweilige
Effect für das Können oder Nichtkönnen massgebend. Für das Zu-
standekommen dieses Phänomens ist es natürlich von Bedeutung, dass
sich die Kranke des gleichartigen Mechanismus beim Husten und
Phoniren nicht bewnsst war, imd mehr noch, dass die Innervirungen
der Stimmbandmuskeln beim Husten und Phoniren von verschiedenen
Centren ausgehen, das eine Mal von dem hauptsächlich reflectorischen
Hustencentrum, das andere Mal von dem willkürlichen Phonationscen-
trum, wenn ich der Kürze halber diese Bezeichnungen gebrauchen darf.
Gerade an dieses letztere müssen wir uns erinnern, wenn uns
diese auf den ersten Blick auffallende Erscheinung des Ausfallens be-
stimmter Arten von Muskelleistungen verständlich werden soU. Es
sind eben nur bestimmte VorsteUungscomplexe gehemmt.
Nicht die Muskeln waren gelähmt, nicht die nerv6sen Leitungsbahnen
zu den Muskelkemen waren unterbrochen, die subcorücalen Centren
waren intact, die Patientin konnte reflectorisch husten. Sie konnte
aber auch willkürlich husten; also fehlten auch die Leitungsbahnen
von und zu den Hustenvorstellungscomplexen in der Hirnrinde nicht,
und diese Erinnerungsbilder selbst waren erregbar. Es fehlte dagegen
die willkürliche Phonation. Es waren also die von imd zu dem kurz
Beitrag zur Entstehungsart hysterischer Symptome. 303
sogenannten Phonationscentrum gehenden Leitungsbahnen unwegsam,
oder das Phonationscentrum war unerregbar, oder beides. Dass beide
Theile nicht zerstört oder organisch gelähmt waren, beweisen die in
kurzer Zeit auf suggestivem Wege wieder hergestellte Function und
der Umstand, dass bei jedem Phonationsversuche die Stimmbänder sich
lebhaft contrahirten fast bis zu dem beabsichtigten Effect, wie man ja
im Spiegel beobachten konnte. Es bleibt also nur die Möglichkeit
einer psychischen, d. h. associativen Hemmung, und zwar nur der-
jenigen Vorstellungscomplexe, die sich auf die Phonation beziehen. —
Ich glaube, aus dem Gesagten geht einigermassen hervor, wie ich
mir das Zustandekommen hysterischer Phänome denke, sodass ich mich
darauf beschränken kann. Es dürfte kaum schwer fallen , in diesem
Bahmen alle hysterischen Erscheinungen unterzubringen von der
Anaesthesie bis zum hysterischen Schlaf und den hysterischen Krämpfen.
Ich hätte noch einen Fall anführen können, der vielleicht schon
mehr zur Neurasthenie zu rechnen ist, aber doch auf denselben Ur-
sachen basirt. Eine Dame, die meist an Verstopfung leidet, hat
zwischendurch wieder durch psychische Ursachen bedingte plötzliche
Diarrhöen. Diese treten besonders leicht in den Nachmittagsstunden
auf, wenn dann etwas an sie herantritt. Kommt z. B. Besuch, der ihr
nicht sehr vertraut ist, so muss sie unbedingt nach kurzer Zeit hinaus.
Ebenso geht es, wenn sie einen Weg zu machen hat, wo sie nicht jeden
Augenbick ein Closet erreichen kann. Der Drang tritt nicht auf, wenn
sie über die Ciosetfrage beruhigt ist. Auch im Walde, wo sie nöthigen-
faUs im Gebüsch verschwinden könnte , wird sie nicht belästigt. Da-
gegen kommt sie über ein grösseres freies Feld kaum ohne Schaden
hinweg. So musste sie sich mal auf einer Wanderung in den Alpen,
die sie mit ihrem Manne unternahm, mitten auf einem Gletscher nieder-
setzen. Es ist hier ja in der Hauptsache wieder die Angst, also ein
Affect, der bahnend auf das Defacationscentrum wirkt.
Ganz dasselbe haben wir bei einem augenblicklich von mir be-
handelten jungen Manne, der dieselben Erscheinungen betreffs des Urin-
lassens hat, wenn auch nicht ganz so schlimm. Ist seine Aufmerksam-
keit durch eine Arbeit absorbirt, oder ist er zu Hause, so kann er den
Urin viele Stunden halten und spürt kein Bedürfhiss. Befindet er sich
aber in einer Lage , wo er nicht ohne weiteres jeden Augenblick ver-
schwinden kann, wie z. B. bei Tisch in einer Gesellschaft, so kommt
der Drang in kurzer Zeit, und es kommt dann auch wohl zu unfirei-
willigem Urinabgang.
304 H. Delius.
Diese beiden Fälle haben ja Anklänge an physiologische Znstande.
Die Aussicht, eine lange Eisenbahnfahrt in einem Abtheil ohne Gloset
machen zu müssen, ruft bei vielen Tieuten vorzeitig Drang henror. Mir
erzählte mal ein Bekannter, dass er jedesmal, wenn er sich entkleidet
hatte, nm im Freien ein kaltes Bad zu nehmen, erst defaciren müsse,
obwohl er sonst mit seiner Verdauung durchaus in Ordnung sei Wie
überall, sind also auch in diesen Fällen die üeberg^Lnge Tom Normalen
zum Pathologischen sehr allmählich.
Casuistische Beiträge zur Suggestiv-Therapie.
Von
Dr. Georg Wanke^ Friedrichroda, ThUringeD.
(Fortsetzung und SchlusB.)
7. FaIL Carl K., Hüttenarbeiter, kam im November 1896 in meine Behand-
lung. Angaben des Patienten: Im Torhergehenden Sommer leichte Yerleisang
beider Augen durch Hineinspritzen yon glfUiendem Sand. Im Anschloss daran
heftige Entzündung beider Augen, sodass neben der Behandlung durch den Kassen-
arst die Hülfe eines Augenarztes in Anspruch genommen werden musste. Fat
mnsste eine Zeit lang im Dunkelzimmer bleiben.
Die Augenbeschwerden waren jetzt zum grossen Theil verschwunden, jedoch
klagte Fat über Anfälle von Brustbeklemmung, Herzklopfen und Angst, welche
im Lauf der letzten Monate immer häufiger aufgetreten waren und mitunter an-
scheinend ohne besondere Veranlassung sidi einstellten. Dieser AngstanfiUle wogen
bat Fat um meine ärztliche Hülfe.
Die Besichtigung der Augen ergab beiderseits leichte Homhanttrübungeii,
welche dem Patienten keine Beschwerden verursachten und massige Conjunctivitis.
Die Organe erwiesen sich als gesund, insonderheit auch das Herz. Der Puls war
etwas beschleunigt; die Arterien gut gefüllt; das Arterienrohr weich, nicht ge-
schlängelt. Ea bestanden leichte Verdauungsstörungen und zeitweise Schlaf-
lorigkeit.
Woher kam die Angst? Fat. hatte in setner FirzäMiing nicht bestimmt an-
gegeben, wann dieselbe zum ersten Mal angetreten war. Eingehender befragt,
machte er aber noch folgende Angaben: ^Als mir das Unglück pasrirt war,, ging
ich schnell nach Haus. Da die Augen brannten, liess ich mir kühlende Umsehläga
machen. Der eiüg herbeigerufene Ant besah die Augen genau und machte dabei
eine nicht mir direct geltende Bemerkung, aus welcher ick entndunen zu müssen
glaubte, dass die Möglichkeit einer Erblindung nicht ausgeschlossen sei. In demr
selben Augenblick, alt mir der Gedanke, „du kannst vi^loicht blind werden'*,
durch den Kopf schosa, bekam ich eine heftige Angpt, die Brust war mir wie
sammengepresst und ich hatte starkes Herzklopfen.
306 Georg Wanke.
Ich klagte dies dem Arzt. Derselbe suchte mich zu beruhigen und yer
sicherte mir, er glaube, die Augen würden wieder ganz gesund. Gleichwohl stieg
mir immer wieder die Befürchtung auf, ich könnte das Augenlicht verlieren und
jedesmal hatte ich dabei Herzklopfen und Angst. Die Augen wurden dann langsam
besser und ich musste noch lange einen Augenschirm tragen, aber die Angst wurde
eher schlimmer. Jedenfalls kamen die Angstanfälle mit der Zeit immer häufiger.
Es mag sein, dass der Umstand mit dazu beitrug, dass ich verstimmt war über
meine lange dauernde Erwerbsunfähigkeit, aber öfter kamen die Anfalle von Herz-
klopfen und Angst auch ohne dass ich wusste weshalb. **
Wieder haben wir hier also einen Fall, wo die Angst als Sekun-
där- oder Begleiterscheinung eines primären Affectes auftrat (der
Schreck über die unvorsichtige Aeusserung des Arztes!), im Lauf der
Zeit aber anscheinend selbständig in die Erscheinung treten konnte,
ohne dass der erste Affect oder ein ihm ähnlicher vorausging oder
wenigstens ohne dass ein solcher dem Patienten bewusst wurde.
Fat. wurde von mir einige Male hypnotisirt. Die Suggestionen bezogen sich
im Wesentlichen darauf, die Angst und die Sorge um die Augen zu vergessen, da
doch nun die Augen wieder brauchbar seien und kein Grund zur Befürchtung
einer etwaigen Verschlimmerung der Augenbeschwerden vorläge. Ausserdem aber
wurde dem Fat. in der Hypnose das Herz direct beruhigt, sodass er Angst und
Herzklopfen ^fraesente medico verlor und die Ueberzeugung gewann, dass sein
Zustand kein hoffnungsloser sei.
Für etwa wiederkehrendes Herzklopfen wurden dem Fat., da die Hypnose
nicht alle Tage ausführbar war, Baldriantropfen verordnet, welche um so bessere
Wirkung zeigten, als ihnen eine tüchtige Dosis Suggestion beigemischt war.
Nachdem die Hypnose ein paar Wochen (im Granzen etwa acht Sitzungen)
fortgesetzt war, konnte die Specialbehandlung ausgesetzt werden und nach einem
längere Zeit fortgesetzten Gebrauch der herzberuhigenden Tropfen — Yalerians
und Suggestion aa — welche erst regelmässig, später nur gelegentlich, genommen
wurden, war der Mann Angst und Herzklopfen los.
8. Fall. Frieda D., 18 Jahre alt, Dienstmädchen. Im Mai 1898 wurde ich
zu der Fat. gerufen. Ich fand sie in benommenem Zustand in activer Rückenlage
mit nur wenig erhöhtem Kopf im Bett liegen. Die Dienstherrschaft erzählte mir,
dass das Mädchen vor einigen Tagen einen ,31utsturz^* gehabt habe, wobei es ihr
schwarz vor den Augen geworden sei. Sie habe sich darauf nicht wohl befunden
und habe am nächsten Tage die Gelegenheit benutzt, auf einem offenen, nicht
sehr bequemen Wagen etwa % Stunden weit zum Arzt zu fahren, welcher die
Diagnose auf Magengeschwür und Magenblutung stellte und Wismuth mit Morphium
verordnete. Kaum zurückgekommen, erlitt das Mädchen eine neue Blutung und
konnte im Anschluss daran nicht sehen. Genaues über die Beschaffenheit und die
Menge des erbrochenen Blutes konnte man mir nicht angeben. Jetzt lag die
Kranke bereits 2 Tage in einem schlafähnlichen Zustand, aus welchem sie gar
nicht oder nur schwer zu erwecken gewesen war. Es gelang mir, die Kranke
durch lauten Zuruf zu erwecken. Die Amaurose bestand weiter. Der Fuls war
etwas verlangsamt, die Temperatur normal, Lungen und Herz gesund. Die sieht-
Casuistische Beiträge zar Soggestiv-Therapie. 307
baren Schleimhäute waren nichts weniger als blase, im Gegentheil machte das
stark entwickelte Mädchen einen vollblütigen Eindruck. Die liagengegend war
nicht erheblich druckempfindlich. Ein tieferes Abtasten vermied ich. Die Pupillen
waren übermittelweit und reagirten auf Lichteinfall (Lampenlicht) massig prompt.
Es bestand leichter Strabismus convergens beiderseits, links ein wenig mehr als
rechts. Die Kranke gab langsame, müde Antworten und musste sich erst lange
besinnen. Ich hielt den Zustand für einen hysterischen Dämmerzustand und der
Versuch mit einer sofort eingeleiteten Hypnose bewies mir geradezu mit der
Schlagkraft eines Experimentes, dass ich Kecht gehabt hatte: es gelang mir
in kurzer Zeit, die Amaurose völlig zu beseitigen. Das Mädchen hatte vor-
her angeblich gar nichts sehen können und konnte nach der Hypnose sehen wie
vorher, wenn es ihr allerdings auch vorkam, als schwebe ein Schatten über allen
Gegenständen. Der Strabismus war nahezu verschwunden. Die Pupillen reagirten
prompter.
Dass es sich um keine gewöhnliche Sehstörung, wie sie nach starken
Blutverlusten und besonders nach MagenblutuDgen gelegentlich auf-
treten, handelte, sondern um eine Amaurose, welche vielleicht momentan
durch den Blutverlust verursacht war, dann aber bald den Charakter
einer hysterischen Amaurose angenommen hatte, bewiesen mir ausser
ihrer schnellen Beseitigung in der Hypnose halbseitige Sensibilitäts-
störungen und vor allem ein wenige Tage nach meinem Besuch ein-
setzender hysterischer Erregungszustand, in welchem die Patientin mit
einem Küchenmesser umhertanzte und allerlei Unfug trieb, u. a. die
Umgebung bedrohte. £s gelang bald, dieser Erregung Herr zu werden
und es zeigten sich dann eine längere Zeit hindurch nur noch leichtere
Störungen beim Nahen der Periode. Diese Störungen, welche mit
Schwindelaufalien, Kopfschmerzen, Schwarzsehen und massigen Er-
regungszuständen einhergingen, wurden regelmässig durch Hypnose so-
fort günstig beeinflusst und traten von Monat* zu Monat schwächer auf.
Das Mädchen wechselte dann den Wohnort, sodass ich leider diesen
interessanten Fall nicht länger beobachten konnte. —
9. Fall. Hr. Br., Bremser, 34 Jahre alt, -will als Kind an Krämpfen gelitten
haben, welche mit Bewusstseinsverlust und angeblich ohne Zuckungen einher-
gingen. Auch in den letzten Jahren sollen derartige Anfälle vorgekommen sein,
der letzte angeblich am 27. März 1899. Bei diesem letzten Anfall verlor Fat. nach
seinen Angaben das Bewusstsein nach vorausgegangenem Schwindel. Hingefallen
will er dabei nicht sein. Er wurde darauf aus dem Fahrdienst entlassen und war
von da ab mit unwesentlichen Unterbrechungen beständig in Behandlung ge-
wesen, vorübergehend auch in Krankenhäusern. Seinen Klagen über allgemeine
Schwäche, über Schmerzen im ganzen Körper, Schwindel, Schlaflosigkeit und
Mangel an Appetit, wurde nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt; man hielt ihn
vielmehr für einen Simulanten, jedenfalls nahm man an, dass er stark übertreibe.
So kam der Fat. am 8. Juni 1899 in meine Behandlung. Zu den aufge-
309 Georg Wuxke.
zäUten Beschwerden waren in der letzten Zeit noch hiniugetreten: Yerd&naiig»-
echwäche; sehr schnelle Ermüdbarkeit (Fat. vermochte kaum eine Tiertektande
lang zu gehen); Kältegefühle, besonders in den Beinen; eher noch iBtensrrera
Schmerzen im ganzen Körper, in erster Linie krampfartige Schmerzen in Beinen
und Armen, sowie unerträgliche Kopfschmerzen, meist in der Stirn, Terbiinden
mit Schwindelanfallen; endlich noch Gedanken- und Gedächtnissschwäche.
Fat. gab mit nerrös schneller Sprechweise eine klare Darstellung seiner Er-
krankung und führte bittere Klage darüber, dass man seine Beschwerden ent-
weder zu leicht genommen oder ihm überhaupt keinen Glauben geschenkt habe.
^Ich habe das Vertrauen zu den Aerzten verloren und glaube nicht mehr an eine
Wiederherstellung, weil bisher alles vergeblich war."
Es sei noch bemerkt, dass die Mutter des Fat. angeblich viel «n Kopf-
schmerzen gelitten hatte. Ein siebenjähriges Kind des Fat. litt an iOinliehen
Krämpfen wie der Vater.
Die Untersuchung vermochte keine gröberen Organerkrankungen nachzu-
weisen. Vor allem konnte eine organische Erkrankung des Gentralnervensystenu
mit Sicherheit ausgeschlossen werden. Dagegen deuteten alle Erscheinungen auf
das Bestehen einer allgemeinen, schweren Neurasthenie: die Haut- und Sehnen-
reflexe waren fast alle gesteigert. Die electriaohe Erregbarkeit war bedeutend er-
höht, jedoch ohne Veränderung der ZuckungsformeL Neben der sensiblen war
auch die sensorische B.eizbarkeit betrachtUch gesteigert. Am meisten fiel in die
Augen eine übermässige Empfindlichkeit gegen optische und acustische Beize,
welche mitunter so unangenehm empfunden wurden, dass sie direct Sdunerzempfin-
düngen auslösten, wie denn überhaupt eine allgemeine Hyperalgesie nadiwei^Mr
war, und zwar mehr eine psychische Hyperalgesie. Ich möchte deshalb diesen
Fall mit zu der von Binswanger^) als psychische Neurasthenie characterisirten
Gruppe rechnen und zwar dürfte hier die hyperalgetische Form vorliegen, denn
auch bei unserm Fat. bildeten „die pathologisch erhöhte Empfönglichkeit für
sdunerzauslösende Beize, verbunden mit einer excessiven Irradiation der Sdimerz-
empfindungen'' die Hauptbeschwerden.
Es wurde sofort ein roborirendes Verfahren eingeleitet. Abwasc^QngeA und
electrische Massage, verbunden mit einer streng überwachten Terrainkur beseitigteo
bald die Gliederschmerzen und die leichte Ermüdbarkeit. Fat. vermochte allmäh-
lich mehrere Stunden lang durch Berg und Wald zu streifen, ünbeeinflusst blieben
aber lange Zeit die Erseheinangen d«r allgemeinen psychischen Hyperalgesie.
Hiergegen wandte ich die Hypnose an (theilweise Daueisehlaf). War Pal. anfing-
lieh leicht zu beeinflussen, so wurde die tiefe Hypnose jedoch erst nadi ciaer
längeren Reihe von Sitzungen erreicht und Fat. schlief dann regefanaasig unge-
stört, bis er geweckt wurde. Es gelang in der Hypnose, die bestehenden Sdunosen
zu beseitigen und die allgemeine Hyperalgesie zu mandem. Die Fsy^0 gwtarkts
zusehends durch die conseqnent watergeföhrte psydbotherapeutiaehe Behandkmgr
ao dass Fat. bald neue Hoffnung schöpfte, zumal iek ihm Gelegenheit gah^ sieh
durch drastische Erfolge von der Wirksamkdt der Hypnose zu übeneogen. lok
«teilte nämlich Denk- und Gedächtnissübungen mit ihm an und zeigte üun, dasi
^) Binswanger, Die Fathologie undTheri^ie der Neurasthenie. Jena, bei
bischer 1896.
CasnistiBche Beitri&ge aar Snggestiy-Therapie. 309
«r in der tiefen Hypnoee, welche übrigene toUieaBlich durck einfachen Zuruf
augenblicklich zn erseugen war, schärfer denken und «Ich schneller erinnern gönnte.
So gelang es nicht selten, Erinnerungsbilder sofort zu wecken, welche Pat. vorher
mit yiel Mühe und Zeit nieht hatte waohrafen können. — Krampfanfftlle kamen
während meiner zwölfwöehigen Beobachtung nicht Tor. Nach Ablauf dieser Zeit,
Ton welcher etwa 8 Wochen auf die hypnotische Behandlung fielen, konnte Fat.,
befreit tou allen Beschwerden der Schwäche und Hyperalgesie, ala geheilt ent-
lassen werden. Leider befolgte er die ihm gegebenen strengen Yerhaltungs-
massregeln, Ruhe, Beschäftigung und Diät betreffend, nicht genügend und wurde
bald rückfällig, so dass Binswangers Ansicht Recht behält, nach welcher der
hyperalgetischen Form der psychischen Neurasthenie eine besondere Stellung auch
hinsichtlieh der Prognose eingeräumt wird. Binswanger nennt diese Formen
recht langwierige und für unser ärstliches Können oft recht unfruchtbare Fälle.
Ich möchte bei dieser Gelegenheit auf die schädlichen Einflüsse
aufinerksam machen, denen solche Patienten ausgesetzt sind, wenn sie
«ben aus der streng überwachten Anstaltsbehandlung entlassen wurden.
Man kann ja suggestiv im Voraus gewisse Schädlichkeiten neutralisiren.
Allein im Allgemeinen lässt sich sagen, dass bei Nerrenleidenden der
Uebergang aus der Behandlung in die gewohnte Thätigkeit nicht Yor-
sichtig und nicht langsam genug gemacht werden kann. Dies gilt ganz
besonders für solche Kranke, deren Leiden auf einer Kette tou Ideen-
associationen sich auferbaut. Man schütze diese Kranken nach
Möglichkeit davor, dass keines der Glieder dieser Kette mit dem
„Blickpunkt" (Wundt) zusammenfallt. Denn ist dies geschehen, dann
besteht für alle übrigen Associationsglieder die Möglichkeit, dass sie
auch ohne in den Blickpunkt zu fallen appercipirt werden und man ist
dann bei dem Kranken wieder auf dem Status quo ante.
Schon die Reise in die Heimat hatte unsem Patienten übermässig
«rregt und in der darauf folgenden Nacht hatte er nicht geschlafen.
Die letzten Monate, während er meine Behandlung genoss, war nie mehr
eine Schlafstörung aufgetreten. Die Unterbrechung der regelmässigen
Lebensweise durch die Eisenbahnfahrt, das Ungewohnte der Umgebung,
des Nachtlagers — alles das kam zusammen, um den Patienten zum
Entgleisen zu bringen. Leider fehlte ihm in der Heimat der nötige
sofortige ärztliche Beistand. Vielleicht hätte sich eine Verschlimme*
rung noch yerhindem lassen. Da aber ärztlicher Bat fehlte, genügten
nach dem Shoc des ersten Tages schon kleinste Schädigungen, um das
ganze Heer der alten Beschwerden nach und nach wieder zu versammeln,
was noch dadurch befördert wurde, dass Pat., schon lange skeptisch
^egen ärztliches Können, die Arbeit von 12 Wochen in einem Tage
SKosts^lirif^ rar Hypnatkniiia eta ü, ^X
310 Georg Wanke.
Ternichtet sah und nan thatsächlich an allem yerzweifelte und so auf
seine Weise suggestiv zu weiterer Yerschlimmerung beitrug.
10. Fall. Max D., Laddrer, erkrankte im Lauf des Jahres 1898/99 an Kopf-
druck, Kopfsdimerzen , Schwindelanföllen , Hitzegefühl im Kopf und Kramp£ui-
fällen, über deren Natur ich nichts Genaueres eruiren konnte und deren bis da-
hin 6 vorgekommen sein sollten. Der behandelnde Arzt stellte die Diagnose auf
chronische Hirnhautentzündung.
Beim Eintritt in meine Behandlung (22. Juni 1899) klagte Fat. über „Nerven-
schwäche", welche sich in Schlaflosigkeit, Schreckhaftigkeit, Reizbarkeit, schneller
Ermüdbarkeit und leichtem Stimmungswechsel kund gab und über Kopfschmerzen,
Schwindel, Uebelkeit, saures Aufstossen, Magendruck und gelegentlich auftretende
Krampf anfalle, über welche Fat. jedoch auch jetzt nichts Näheres anzugeben
wusste.
Die Untersuchung ergab gesunde innere Organe, keine Anzeichen einer orga-
nischen Erkrankung des Gentral-Nervensystems. Auch wurde durch eingehende
Untersuchung ein Magenleiden ausgeschlossen. Eine specifische Infection fand an-
geblich nicht statt. Fötus bestand gleichfalls nicht. Fat. war bei der Untersuchung
und auch späterhin leicht erregbar, reizbar. Die „Schlaflosigkeit" äusserte sich
darin, dass Fat. jede Nacht um 7*3 ^^ aufwachte und dann lange Zeit wach
lag, ehe er wieder einschlafen konnte, ja mitunter überhaupt bis zum Morgen nicht
wieder schlief. Appetit und Verdauung waren während der Behandlung genügend,
ersterer sogar ein derartiger, dass man von Bulimie reden konnte.
Fatient wurde einem allgemeinen roborirenden Verfahren unterzogen und
ausserdem anfänglich täglich 3 mal, später 2 mal hypnotisirt.
Die auffällige Erscheinung, dass Fat. regelmässig Nachts etwa um ^t 3 auf-
wachte, zeigte sich auch während der Behandlung und es lag der Verdacht nahe,
dass das erste Erwachen durch eine von einem starken Affect begleitete Veran-
lassung bewirkt worden seL Im Wachzustand konnte Fatient keine Erklärung
dafür geben, wohl aber gelang es alsbald in der Hjrpnose zu eruiren, dass Fat
zum ersten Mal durch Feuerlärm vor längerer Zeit Nachts geweckt worden war.
Damals hatte er sich sehr stark erschrocken und hatte instinktiv nach der Uhr
gesehen, welche % 3 zeigte. Er war dann aufgestanden, um sich näher zu erkun-
digen, wo das Feuer ausgebrochen seL Der Schreck der Nacht hatte so nach-
gewirkt, dass Fat. fernerhin fast jede Nacht etwa um dieselbe Zeit erwachte und
oft mit Herzklopfen eine Weile schlaflos lag. Des kausalen Zusammenhangs
zwischen dieser Schlafstörung und dem ersten Aufwachen durch Feuerlarm war
sich Fat. nicht mehr bewusst. Vielleicht war ihm dieser Kausalnezus überhaupt
nicht klar und deutlich zum Bewusstsein gekommen, eine Thatsache, der wir gar
nicht selten bei unseren Fatienten begegnen. Die in tiefer Hypnose hervortretende
Hypermnesie hatte auf die Entstehung des Uebels hingewiesen und mit Leichtig^
keit gelang es sofort, unter Suggestion der Amnesie sowohl für jene erste nädit-
liche Störung wie auch für den Vorgang der Desuggestionirung selbst, das allnächt-
liche Erwachen zu verhindern. Fat. schlief von nun an jede Nacht durch und
gewann in seiner ganzen Lebensbethätigung eine grössere Ruhe.
Nach 3 wöchiger Behandlung trat ein epileptischer Anfall auf und nach Ablauf
von weiteren 6 Wochen ein zweiter. Da Fat. sich nach dem zweiten Anfall nicht
Casuistische Beitrage zur Suggestiy-Therapie. 31 X
recht erholen konnte und beständig über Magendruck, Aufstossen u.s.w. klagte,
erhielt er einige Galomeldosen und verlor dann Spuren einer Tänie. Ohne Säumen
wurde Fat. dann einer erfolgreichen Specialkur (Extractum Filicis) unterzogen.
Erst jetzt erholte sich der Kranke und konnte nach ein paar Wochen mit wieder-
erlangter Arbeitsfähigkeit entlassen werden. Die Besserung hielt an und nach
etwa 4 Monaten berichtete mir Fat., dass er bis dahin regelmässig habe arbeiten
können nnd sich wohl und kräftig fühle.
Eine weitere Beobachtung war mir nicht möglich.
Ich halte es nach dem von mir beobachteten Verlauf nicht für
ausgeschlosseD, dass Fat., an Symptomen einer massigen chronischen
HirDhantentzünduDg, welche allmählich zurückging oder ganz ausheilte,
leidend, durch besondere weitere Anlässe seinen epileptischen Insulten
ausgesetzt war. Für den zweiten von mir beobachteten Anfall war
entschieden die Tänie verantwortlich zu machen und für den ersten
konnte, wenn nicht etwa schon damals dasselbe ätiologische Moment
vorlag, ein Streit mit einem Bekannten, welcher am Tage vor dem
Anfall stattgefunden und den Fatienten sehr erregt hatte, als ursäch-
liches Moment angesprochen werden. —
Nicht so günstig wie der vorstehende Fall verliefen die beiden
folgenden zweifellos echten Fälle von Epilepsie.
11. u. 12. Fall. Es handelte sich um ein schwächliches anämisches Mädchen
von 14 Jahren und um einen sehr kräftig gebauten Brauer von 21 Jahren. In
beiden Fällen hatte man schon Jahre lang Medicamente gegeben, meist Brom.
Beide Fälle waren auswärts und so weit von meinem Standort, dass ich wöchent-
lich nur ein- oder zweimal dorthin kommen konnte.
Der Brauer besuchte mich inzwischen mehrmals zu Wagen und fand zunächst
eine recht befriedigende Beruhigung und Besserung. Die bisher täglich aufge-
tretenen Anfälle wurden seltner und traten schliesslich nur nach starken körper-
lichen Anstrengungen auf. Da der junge Mensch trotz meines Abratens seine
schwere Berufsarbeit ungehindert fortsetzte, war keine nachhaltige Besserung zu
erzielen und die Behandlung wurde deshalb bald ausgesetzt. Fat. hatte dann sehr
bald wieder mehr Anfälle. Besserung war also nur während der regelmässigen
Behandlung zu verzeichnen gewesen.
Im Falle des jungen Mädchens, welches seine Anfälle seltner hatte, etwa
1 — 2 mal wöchentlich, genügte schon eine 1 — 2 mal wöchentlich eingeleitete Hypnose,
um die Anfälle zunächst auf einen in jeder Woche einzuschränken und bald blieben
die Anfälle sogar 8, 9 und 10 Tage aus, sodass die verhältnissmässig spärliche Be-
handlung (wödientlich eine Hypnose) mit Aussicht auf Erfolg weiter fortgesetzt
werden konnte, zumal die Eltern auf meinen Vorschlag, das Mädchen mal einige
Wochen zu mir zu bringen, nicht eingingen.
Ein einziger Zwischenfall machte der Behandlung dann wider Erwarten bald
ein Ende. Ich kam eines Tages wieder in den entfernten Ort, um die gewohnte
wöchentliche Hjrpnose zu vollziehen. Im Hanse der Patientin war man mit einer
aussergewöhnlichen Arbeit beschäftigt und man bat mich, in nächster Woche wieder
21*
312 ^^<R Wax^e.
zu kosomei:!, d» die Fatientm heute weder Ruke nooh 2Mt lultie zum Schlafen.
Meine Bedenken, data ein Ansseteeo der gewohnten Behandlang dem Midehen
sphaden könne, wurden von den Eltern nicht getheilt. Bde Hypnose unterhüeb und
ala ich in der nächsten Woche wieder Yorspraoh, fa^tte das Mädchen inxwiachen
mehrere Anfölle gehabt. Mir war die Lust an weiteren Teraettelten Hypnosen
vergangen und auch die Eltern der Patientin zweifelten, dasa meine „Schlaf-
behandlung" der Kranken einen dauernden Erfolg bringen würde. Daas das Aus-
setzen der gewohnten Hypnose und die am Tage, an welchem sie hätte stattfinden
sollen, überstandene Mehranstrengung des schwächlichen Mädchens zwar die Be-
handlung von Wochen zu nichte gemacht hatte, aber das Missgeschick nicht den
Wert der Behandlung herabsetzen konnte, vermochten die Eltern nicht einzu-
sehen und so musste ich die Behandlung leider aufgeben, was mir um den damals
noch keineswegs aussichtslosen Fall sehr leid that.
13. Einige Fälle von Menstrnaticmsstomngen.
Den bekannten und von vielen Seiten gerühmten Erfolg der hypno-
tischen Suggestion bei MenstruationsstöruDgen war ich in der Lage
in einer Reihe von Fällen zu bestätigen und zwar trat der Erfolg stets
fast momentan auf. Es scheint, als gelänge die Hypnose während der
Periode ebensoleicht wie die Chloroformnarkose unter der G^eburt. Ich
greife folgende Fälle heraus:
Es handelte sich zunächst um 2 junge Mädchen, welche regelmässig während
der Periode die heftigsten Schmerzen hatten. Alle Hausmittel hatten versagt.
Die Schmerzen wichen sofort der hjrpnotischen Suggestion.
Ferner behandelte -ich u. a. zwei Frauen, welche über schmerzhafte und pro-
trahirte Menorrhagien klagten. Die eine schien mit dem in der ersten Sitzung er-
reichten Erfolg zufrieden zu sein, sie kam nicht wieder. Die andere wurde eine
Zeitlang jedesmal beim Einsetzen der Periode und während derselben behandelt.
Die Blutungen, welche anfänglich mindestens eine Woche lang angehalten hatten,
wurden allmählich schwächer und waren nach einigen Monaten auf eine normale
Dauer reducirt. Ebenso waren die Schmerzen auf ein erträgliches Maaas ein-
geschränkt.
Bei einer meiner Patientinnen handelte es sich um eine Frau im Klimakte*
rium (multipara), welche über Schmerzen und unregelmässige Menses klagte.
Nicht selten kam es zu beträchtlichen Menorrhagien. Die Schmerzen waren durck
h3^notische Suggestion leicht zu unterdrücken. Eine bestehende Anteversio wurde
durch einen einfachen Gummiring beseitigt und die Unregelmässigkeit der Blutungen
machte einem mehr regelmässigen Typus Platz. Ich habe die Frau noch einige
Monate beobachten können. Sie blieb frei von übermässigen Besehwerden. Die
menstruellen Blutverluste waren gering und erfolgten meist fast ganz ohne
Schmerzen.
14. In zwei Fällen hatte ich Gelegenheit Ghloroformnarkose und Hypnose
zu combiniren. Es handelte sich beide Male um kräftig gebaute, aber sehr sen-
sible Frauen, an denen ich eine schwierige Zahneztraotion auszuführen hatte. Bei
der einen Patientin wurden drei mal drei Tropfen Chloroform in Pausen au^T^
gössen, wobei der Patientin die Ueberzeugung beigebracht wurde, dass sie jedes-
Gasaistische Beiträge zur Suggestiy-Therapie. 313
mal eine nicht unbeträchtliche Menge Chloroform bekomme. Das genügte zur
Herbeiführung einer Ghloroformhypnose, tief genug, um den Zahn ohne Belästigung
der Patientin zu fassen.
In dem anderen Fall handelte es sich um eine Frau mit pathologisch vermin-
derter Widerstandsfähigkeit gegen Chloroform. Sie war bereits von einem Zahn-
arzt chloroformirt worden. Es war ihr aber dabei so schlecht gegangen, dass der
Zahnarzt die Operation nicht hatte vollenden können und ihr gerathen hatte, sich
nie wieder chloroformiren zu lassen. Ich machte deshalb auch hier den Versuch,
mit einer minimalen Menge Chloroform (vier bis fünf Tropfen im Ganzen) die
Hypnose zu combiniren, was mir glücklich gelang. Ich konnte der Frau, ohne
dass sie erhebliche Schmerzen fühlte, vier zerstreute Wurzeln entfernen. Sie
schlief, wie sie meinte, in Folge der Einathmung des Chloroforms, nach Entfernung
der Wurzeln eine volle Stunde ganz fest und war angeblich den ganzen übrigen
Tag schläfrig und matt.
Ich beschliesse hiermit die Reihe meiner Fälle. Sie bezwecken
weiter nichts, als einige der Typen zu illustriren, welche sich für die
Psychotherapie, speziell für die Hypnotherapie, ganz besonders eignen.
Zur Methodik der hypnotischen Behandiung.
Von
K. Brodmann.
(Fünfte Fortsetsnng^ und Schloss.) *)
m.
Die specielle hypnotiselie Technik.
Nachdem wir uns in den Yorangehenden Kapiteln mit den all-
gemeinen Grundlagen der hypnotischen Methodik beschäftigt haben,
kommen wir nunmehr zum zweiten Haupttheil unserer Abhandlung,
zur speciellen Technik der hypnotischen Behandlung.
In der Untersuchung der allgemeinen Principien einer hypnotischen
Methodik waren uns zunächst zwei Fragen aufgestossen : erstens die
Frage nach den Bedingungen eines Schlafzustandes überhaupt und
zweitens diejenige nach der Erfüllung dieser Bedingungen durch eine
hypnotische Methodik. Im Einzelnen mussten wir in eine Erörterong
darüber eintreten, einerseits welche äusseren und inneren Bedingungen
einen bahnenden Einfluss auf die Entstehung des Schlafes ausüben,
bezw. welche Bedingungen dem Eintritte des Schlafes entgegenwirken;
andererseits welche methodologischen Anforderungen zu erfüllen sind,
um auf Grund dieser natürlichen Schlaf bedingungen einen künstlichen
Schlaf hervorzurufen. In letzterer Hinsicht waren uns die von O. Vogt
aufgestellten Grundsätze für die Erzielung möglichst wirksamer Hypnosen
zur Richtschnur einer allgemeinen Methodik geworden und wir hatten
insbesondere untersucht, wie nach unserer Methode die einzelnen psycho-
logischen und physiologischen Schlafbedingungen zur Erzeugung eines
1) Fortsetzung aus Bd. VI. H. 1, H. 4; Bd. Vn. H. 1/2, H. 4 u. H. 6.
Zur Methodik der hypnotischen Behandlung. 316
künstlichen Schlafes verwerthet werden können. Dabei hatten wir die
Hypnose als einen im dreifachen Sinne wirksamen Heilfactor kennen
gelernt: 1. als einen Zustand gesteigerter psychischer Beeinflussbarkeit,
2. als einen kräftigenden resp. den Ausbruch von nervösen Anfallen
yerhindemden Schlaf, 3. als einen Zustand von Hypermnesie und ge-
steigerter Leistungsfähigkeit in der Analyse psychogener pathologischer
Erscheinungen.
Es wird nun die Aufgabe der speciellen Technik sein, an der
Hand von practischen Beispielen zu zeigen, wie sich im Einzelfalle
jenes Ziel möglichst wirksamer Hypnosen erreichen lässt, sei es dass
wir die Hypnose als einen therapeutischen Schlaf oder als ein intensives
Suggestionsmittel oder schliesslich zum Zwecke von Psychoanalysen ver-
wenden wollen. Diese Aufgabe zerfällt nun aber wiederum in zwei
Theile: erstens in die Beschreibung der technischen Ausführung einer
Einzelhypnose und zweitens in die Gestaltung der hypnotischen Ge-
sammtbehandlung unter dem Einfluss bestimmter, aus der Art des
speciellen Falles hervorgehender Indicationen.
1. Die technische Ausführung einer Einzelhypnose.
Wir haben früher eingehend den Standpunkt vertreten, dass
Suggestibilität und Tiefe der Hypnose einander parallel gehen, in
weiterem Sinne, dass die psychische Beeinfiussbarkeit überhaupt um
so grösser ist, je mehr ein monoideistisches , partielles Wachsein
ausgeprägt ist.
In dieser Auffassung können uns auch die von Löwenfeld ^)
neuerdings gemachten Einwendungen nicht beirren. Löwenfeld be-
streitet auf Grund seiner Erfahrungen eine durchgehende Proportio-
nalität zwischen Suggestibilität und Tiefe der Hynose ; er hat gefunden,
dass in einer nicht geringen Anzahl von Fällen bei tiefem Schlafe mit
folgender Amnesie nur eine recht bescheidene Empfänglichkeit für
Eingebungen besteht, während wir auf der anderen Seite mitunter bei
leichterem Schlafe ohne folgende Anmesie einer Höhe der Suggestibilität
begegnen, die hinter der „bei manchen Somnambulen anzutreffenden^' nicht
zurücksteht. Mit diesen Worten behauptet aber Löwen feld nur etwas,
was wir niemals bestritten haben und auch nicht bestreiten könnten.
Es geht daraus einfach hervor, dass Löwen feld den Kern der Frage
völlig missverstanden hat. Er stellt die Sache so dar, als ob wir be-
hauptet hätten, dass, wenn A. in oberflächlicher Hypnose sich durch
^) Löwenfeld, Der Hypnotismns. Wiesbaden, Bergmann 1901 S. 140 ff., 217 fif.
316 K. Brodmann.
eine sehr grosse Suggestibilität ansEeichnet, nun B. und C. und alle
anderen Menschen in relatir tieferer Hypnose, an absolutem Maassstabe
gemessen, eine noch grössere Suggestibilität besitzen müssten als A.
Wir sind aber natürlich weit davcm entfernt, eine so widersinnige An*
siebt zu vertreten. Man kann verständiger Weise doch nur sagen —
und das war und bleibt unsere Meinung — ^ dass bei einem und
demselben Individuum die Tiefe der Hypnose und der Ghrad der
Suggestibilität proportional sind; ein durchgehendes Verhältniss von
Schlaftiefe und Suggestibilität zwischen allen Menschen untereinander
statuiren zu wollen, würde allen psychologischen Grundsätzen Hohn
sprechen. Aber auch das von Löwen feld angeführte Beispiel^) ist
keineswegs geeignet, unsere Auffassung zu widerlegen, es beweist nur,
dass die betreffende Kranke in tiefer Hypnose manche SuggestioDen
nicht realisirt, während sie andere, zum Theil recht gewagte Experimente
in derselben Hypnose prompt ausfuhrt, üeber den Grad der Suggesti-
bilität dieser Kranken in leichter Hypnose oder gar im Wachsein sagt
uns Löwen feld überhaupt nichts.
Wir bleiben also bei der früher vertretenen und durch Experi-
mente *) hinreichend erhärteten Ansicht bestehen, dass die Suggestibilität
eines Menschen in proportionalem Vethältm'ss zur zunehmenden Tiefe
der Hypnose wächst. Daraus ergiebt sich aber für uns die prindpielle
methodologische Forderung, in allen Fällen, wo eine Indication dazn
vorliegt, eine möglicht tiefe Hypnose zu erstreben, denn Hypnose von
grösster Wirksamkeit ist unter dieser Voraussetzung gleichbedeutend
mit Hypnose von grösster Schlaftiefe. Damit soll indessen kraieswegs
gesagt sein, dass bei jedem Menschen, der zur hypnotischen Behandlung
gelangt, ein somnambules Stadium unbedingt erzielt werden müsse, wenn
man Heilerfolge haben will. Wir haben gesehen, dass für die Wiiksan-
keit der Hypnose im Einzelfalle der Grad der individuellen Suggesti-
bilität maassgebend ist. Reicht bei einem Menschen die Sugggestibilitst
in leichter Hypnose oder gar im Wachen für den speciellen thera-
peutisdien Zweck aus, so liegt kein Grund vor, hier einen Somnam-
bulismus erzwingen zu wollen. Zeigt sich dagegen ein Kranker m
wachen Zustande oder in oberflächlicher Hypnose gegen psychische
Beeinflussungen refractär, so wird die tiefe Hypnose zu einem thera-
peutischen Erfordemiss. Dasselbe gilt in allen den FäUen, wo man
die Hypnose mit protrahirtem Schlaf verbindet.
») 1. c. S. 217ff.
^ Vgl diese Zeitaohr. Bd , 9. die Arbeiten von ▼. S t raa t eu n. Ma r ci n o wsk i.
Zar Methodik der hypnotüchen Behandlong. 317
Wie in diesem Sinne der Begriff der Hypnose ron nns anfgefasst
yrirAj geht ans yerscbiedenen früheren Arbeiten dieser Zeitschrift her-
Tor. Um weiteren Hissyerständnissen vorzubeugen, hebe ich nochmals
den Grundgedanken henror. Nicht jeder suggestiv ausgelöste Schlaf-
zustand, mit anderen Worten, nicht jeder durch eine affectlose Ziel-
▼orstellung hervorgerufene Bewusstseinszustand gilt in unserem Sinne
als eine Hypnose^ sondern nur jene durch affectlose Zielvorstelluogen
ausgelösten Schlafzustände, in denen ein Rapportverhältniss zwischen
dem Schlafenden und dem Einschläfernden besteht, dürfen als Hypnose
bezeichnet werden. Nur wo der Schlaf jederzeit durch den Experi-
mentator in einen beliebigen Grad eines partiellen circumscripten Wach-
seins übergeführt werden kann, liegen nach unserer Auffassung Hypnose-
zustände vor. Die tie&ten derartigen Zustände sind also bezüglich
Ausdehnung und Tiefe der Schlafhemmung durchaus nicht identisch
mit einem tiefen allgemeinen Schlaf, sondern stellen eine sehr aus-
gedehnte tiefe Schlafhemmung bei einem in seiner Ausdehnung durch-
aus vom Experimentator abhängigen circumscripten Wachsein dar.
Der Heilwerth eines solchen Zustandes, gleichviel ob wir einen ein-
fachen therapeutischen Schlaf oder suggestive Einfiüsse't)der schliesslich
psychoanalytische Maassnahmen bezwecken, steht aber, wir wiederholen
nochmals, in proportionalem Yerhältniss zur Tiefe der erreichten
Schlaf hemmnng.
Nun haben Vogt und van Straaten gezeigt, dass die Frage
nach der möglichst besten Art und Weise, eine tiefe Hypnose zu er-
nel^ im Wesentlichen gelöst ist, wenn wir wissen, wie auf suggestivem
W^e überhaupt eine tiefe Schlaf hemmung erreicht wird. Der Grund
hierfür Hegt darin, dass es ohne Zweifel leichter gelingt, einen suggestiv
hervorgerufenen Schlaf in einen Hypnosezustand überzuführen, als aus
Vollem Wachen eine geeignete Hypnose zu erzeugen. Methodologisch
kommt es also nicht darauf an, zu bestimmen, wie am einfachsten ein
möglichst circumscriptes partielles Wachsein entsteht, sondern zu zeigen,
wie man am leichtesten durch affectlose Zielvorstellungen einen Schlaf
hervorruft, ungeachtet der speciellen Frage, ob er eine hypnoseartige
Bewusstseinseinengung oder eine allgemeine Schlafhemmung darstellt.
Diese Thatsache hat aber eine grosse practische Tragweite namentlich
ftir Ungeübte in der hypnotischen Technik.
Für die Darstellung einer speciellen Technik der Einzelhypnose
läuft also die Frage darauf hinaus, festzustellen, welches Verfahren
Biok am geeignetsten erweist, einen Menschen auf suggestivem Wege
318 K- Brodmann.
in tiefen Schlaf zu versetzen. Die allgemeinen methodologischen Ge-
sichtspunkte, nach denen man sich in der Verfolgung dieses Zieles zu
richten hat, hUden den Gegenstand des ersten Theiles dieser AbhaDd-
lung. Wir haben dort, um kurz nochmals darauf hinzuweisen, gesehen,
dass schon die E^eitung zu einer hypnotischen Behandlung nach dieser
Richtung bahnend wirken kann, indem der Elranke durch die Art der
Untersuchung, durch eine detaillirte Psychoanalyse seiner Persönlich-
keit, durch theoretische Aufklärung und practische Demonstration in
eine suggestive Stimmung versetzt wird. Wir haben sodann im aus-
führenden Theil der allgemeinen Methodik gezeigt, wie durch räum-
liche und zeitliche Gestaltung der Hypnose eine suggestive Atmosphäre
für die zu Hypnotisirenden geschaffen werden kann, welche die Beali-
sirung der Zielvorstellung des Einschlafens unterstützt und wie um-
gekehrt ungünstige äussere Umstände der Schlafsuggestion entgegen-
wirken und das Gelingen der Hypnose direct verhindern könneD.
Schliesslich sind wir dazu übergegangen, die Prindpien unserer Technik
des Hypnotisirens ganz allgemein klarzulegen und haben dabei den
Grundgedanken des von Vogt ausgebildeten sog. „fractionirten^ Ver^
fahrens im Besonderen besprochen.
Dieses Verfahren des Einschläfems soll nunmehr an einzelnen Bei-
spielen gekennzeichnet werden ; es soll unser Bestreben sein, an Fällen
aus dem practischen Leben zu schildern, wie maji im Einzelfalle vor-
zugehen hat, um rasch und sicher ausgedehnte Schlafhemmungen zo
erzielen und wie diese zu hypnotischen Schlafzuständen mit Rapport
zu gestalten sind. Dabei wird auf die aus der Individualität von Ant
und Patient und aus der Mannigfaltigkeit der krankhaften Stönmgeo
sich ergebenden Modificationen der Technik besonderer Werth zu legen
sein und es wird sich zeigen, dass unser Verfahren dem Bedürfniss
nach Anpassungsfähigkeit einer hypnotischen Methode an die Be-
sonderheiten eines Falles in weitgehendem Maasse Rechnung zu tragen
vermag. Die angezogenen Beispiele stammen aus der Praxis von Vogt
und mir und sind, was die Ausführung der Einzelhypnosen betrifft,
grösstentheils wörtlich den Protokollen entnommen.
Ich beginne mit der Darstellung der Ausfuhrung von Ersthypnosen
und werde zunächst einige Fälle schildern, in denen ohne Weiteres ein
beliebiger Grad von Hypnose im Sinne eines partiellen systematischen
Wachseins eintrat ; daran werde ich Beispiele anreihen, welche die ver-
schiedenen technischen Schwierigkeiten bei den ersten Hypnotisirungen
und deren Deberwindung illustriren sollen. Sodann gedenke ich an
Zar Methodik der hypnotischen Behandlang. 319
einer Kranken, die anfangs infolge der bei den Hypnotisirungsversucben
sich einstellenden hysterischen Erscheinungen refactär war, die syste-
matische Erzielung von Somnambulhypnosen zu demonstriren.
PrL H., 28 J. alt, Landmädchen, leidet seit Jahren an „nervösen'' Beschwerden,
besonders an allgemeiner Mattigkeit and Abspannung, Zittern in den Gliedern,
Schreckhaftigkeit, trauriger Verstimmung und Stimkopfschmerz. Hauptklage:
schmerzhafte Magenkrämpfe, welche früher erfolglos mit Morphium behandelt
worden waren. Schon lange arbeitsunfähig. Organe objectiy normal. Chloro-
tisches, schwächliches Mädchen, stark abgemagert, leidendes Aussehen. Starke
Drackempfindlichkeit der Magengegend, erhöhte Beflexerregbarkeit. Keine hystero-
genen Zonen.
I. Sitzung am 17. VI. 96. 11 Uhr. Anwesend Dr. Vogt und ich. Die
Hypnose wird unmittelbar im Anschluss an die erste Gonsultation von Dr. V. aus-
geführt. Patientin liegt im Bett, ist in aufgeregter, weinerlicher Stimmung. Es wird
ihr kurz mitgetheilt, dass ihre Beschwerden von Nervenschwäche herrührten und
dass sie, um die Nerven zu kräftigen und zu beruhigen, viel schlafen müsse; zu
diesem Zwecke wäre es gut, wenn man sie täglich einmal einschläfern würde,
damit sie rascher gesund würde. Patientin* erklärt sich mit der beabsichtigten
Behandlung einverstanden und wird sogleich hypnotisirt. Die Verbalsuggestionen
erfolgen in ruhigem, aber entschiedenem Tone.
1. Hypnose. „Schauen Sie mir einen Augenblick fest in die Augen. ^ „Ich
lege Ihnen meine Hand auf die Stirne und Sie werden bald fühlen, wie eine an-
genehme Wärme entsteht." — „Sie werden dabei immer ruhiger." — Pat. bekommt
einen müden, verschlafenen Gesichtsausdruck, in den Lidern tritt leichtes Zittern
ein ; nach wenigen Secunden fallen die Lider von selbst zu und es tritt Schlaf ein.
Pat. liegt ruhig, mit leicht geröthetem Gesicht und langsamer Athmung in starrer
Bückenlage. Auf Hautberührungen und Stiche erfolgt keinerlei Heaction. Nach
kurzer Pause Aufwecken: „Ich nehme die Hand fort und zähle bis 3 und Sie
sind wieder wach . . 1, 2, 3, Wach!"
Patientin schlägt die Augen auf und schaut verlegen um sich. „Haben Sie ge-
schlafen?" „Ja". — »Wie lange?" „Ich weiss nicht, ziemlich lange." — »Was ist
während des Schlafes geschehen?" „Ich weiss von gar nichts". Auch auf
Suggestivfragen bleibt absolute Amnesie selbst für den Vorgang des Einschläferns
bestehen.
2. Healisirung von Suggestionen im Wachen. „Sie. haben gesehen,
wie man Ihnen Schlaf beliebig erzeugen kann; im Schlafe werden Ihre Nerven
beruhigt und gekräftigt und man kann Ihnen Ihre Schmerzen wegnehmen. Nun
werden wir Ihnen zeigen, wie Ihre Nerven in derselben Weise im Wachen beein-
fluBsbar sind. Ich streiche über Ihre Hand . . (mehrere sanfte Streichungen des
linken Handrückens der Patientin) . . die Hand wird dadurch kühler . • immer
kühler, fühlen Sie schon?" „Ja." — „So und nun erlischt das Gefühl in der Hand,
die Hand hat gar keine Empfindung mehr. Nehmen Sie diese Nadel und stechen
Sie sich in die Hand. Sie werden gar nichts davon spüren, die Hand ist ganz
gefühllos."
Patientin sticht sich tief in die Hand und ist höchst erschreckt darüber, nichts
zu fühlen, weder Schmerz noch Druck. Sie äussert Angst, die Hand könnte ab-
320 ^' Brodmann.
gestorben sein und es werden ihr bera]iigende Wachsuggestionen gegeben. — „Ich
bauche jetzt auf die Hand und dann kehrt das Gefühl sofort wieder und Sie
werden die Nadel wie früher spuren. Die Hand wird warm und fühlt wieder.^
Bealisirt sich. — n^M soll Ihnen nur zeigen, wie man auf Ihre Xerren wirken
kanu . . Wie man die Hand unempfindlich machen kann, so ist das auch mit Ihrem
Jiagen, wir werden Ihnen jedes Schmerzgefühl aus dem Magen fortnehmen und
die Magenkrämpfe beseitigen, so dass Sie wieder essen können und gesund werden.*^
2. Hypnose. „Nun sollen Si^. nochmals schlafen . . Sie schlafen wieder ein.** —
Die Augen fallen zu und der Schlaf stellt sich momentan ein, nachdem kaum die
Stirnhand aufgelegt ist.
Der rechte Arm wird vom Experimentator langsam hochgehoben und bleibt
ohne eine entsprechende Yerbalsuggestion starr in der Luft stehen. Nach Art
der flezibilitas cerea kann ihm jede beliebige andere cataleptische Stellung
ertheilt werden; man hat dabei deutlieh das Gefühl eines tonischen Widerstandes
(contra Moll). Er wird wieder in Ruhelage gebracht und einige specielle thera-
peutische Suggestionen beschliessen die erste Sitzung:
„Indem ich Ihnen jetzt die Hand auf die Magengegend lege, sdiwinden die
Schmerzen aus dem Magen, die Krämpfe werden nicht mehr kommen, Sie kriegen
einen kräftigen Appetit, werden wieder essen lernen . . . Fühlen Sie die Schmerzen
schwinden ? . . (Patientin antwortet nicht) Sprechen Sie ruhig, Sie können sprechen
wie im Wachen und dabei weiterschlafen. Die Schmerzen sind jetzt fort und
bleiben fort. Fühlen Sie noch Schmerz?" „Nein*'. So geht auch ihre Müdigkeit
und Gliederschwäche fort, Sie werden ohne Beschwerden, frisch und munter auf-
wachen. Indein Sie täglich in dieser Weise schlafen, werden Sie bald gesund
sein. — Jetzt sind sie wieder wach: 1, 2, 3, Wach!"
Patientin ist wieder yöllig amnestisch, hat weder Erinnerung für die Gatü-
lepsie noch für die speciellen therapeutischen Suggestionen. „Wie fühlen Sie Sich
jetzt?" „Ganz gut — ich habe keine Schmerzen mehr." Patientin ist unglücklich
darüber, dass man ihr zu Hause nicht glauben könnte, man werde Sie nun wohl
für eine Heuchlerin halten, wenn ihr Leiden so rasch rerschwunden sei.
Die weitere Durchführung der BehaDdluBg soll uds unten noch
eingebender beschäftigen. Es war der Patientin üeberemahrung bei
möglichst absoluter Bettruhe und Dauerschlaf yerordnet worden. Sie
wurde zu diesem Zwecke täglich 2 mal hypnotisirt und schlief mit Aus-
nahme der Mahlzeiten, die sie allein auf ihrem Zimmer «innahm, den
ganzen Tag.
Epikritisch ist bezüglich der Technik nur wenig zu bemerken.
Die Methode schliesst sich, wie wir gesehen, durchaus an das Li6-
beault-Bernheim'sohe Verfahren . an. Das besondere fractionirte
Verfahren des Einschläferns (Vogt) kam überhaupt nicht eut Ab-
wendung, da Patientin sofort in tiefen Schlaf verfiel. Die äusseren
Bedingungen zum Gelingen der Hypnose waren die denkbar günstigsten;
was ihr eyentuell hätte hinderlich sein können, war die gemüthliche £r-
fegung, in der sich die Patientin Tor der Aasführung der Hypnose
Zor Methodik der hypnotuchen Behandlung. 331
befand. Eine fielehning über die Krankheit dnrch wenige Worte geht
▼orans, im üebrigen wird der Patientin einfach Yersiohert, das« es im
Interesse ihrer Gesundheit sei, wenn man sie öfters in einen Schlai
Yeröetze und dass man sie sogleich einschläfern werde. Pati^atin hat
noch nie von Hypnose gehört, weiss auch nicht, dass von uns die Hy«
pnose ausgefährt wird. Nun genügt die einfache Versicherung, dass sie
nachher einschlafen werde, um ohne detaillirtere Schlafsuggestionen den
Schlaf augenblicklich eintreten zu lassen. Die im Wachen angeregte
Schlafvorstellung, der entschiedene imperatorische Ton der Versiche-
rung, dass sie einschlafen werde, die suggestive Kraft der Autorität in
Verbindung mit der die Schlafvorstellung unterstützenden Bettruhe
wirken zusammen, um bei dem ungewöhnlich suggestibeln und wider-
standsunfähigen Geschöpf in der ersten Sitzung in wenigen Secundeu
eine tiefe Hypnose mit absoluter Amnesie (cataleptisches Stadium oder
dritter Grad nach Forel) zu erzielen. Dass es sich um einen wirk-
lichen Hypnosezustand, d. h. um ein monoideistisches partielles Wach-
sein bei sehr ausgedehnter allgemeiner Schlafhemmung, nicht um einen
gewöhnlichen Schlaf handelt, erkennen wir an dem erhaltenen Rapport.
Unterstützender Hülfsmittel hätte es in diesem Falle gar nicht bedurft,
weder Fiziren noch Handauflegen war an sich nöthig zur Realisirung
der verbalen Schlafsuggestion; in der zweiten Hypnose derselben
Sitzung und auch in den späteren Sitzungen tritt der Schlaf auf den
einfachen Befehl bin ein: „Sie schlafen.^ Offenbar hatte hier die
vorausgegangene Hypnose und die vorherige Demonstration im Wachen
bahnend, im gewissen Sinne vielleicht sogar als affectstarke Suggestion
gewirkt. Dazu kam ein ungewöhnlich hoher Grad von Wachsuggesti-
bilität. Auch das Gefühl der Müdigkeit (körperliche Mattigkeit und
Abspannung) kann im Sinne der Ausbildung einer Schlafhemmung
wirken, wenn diese durch eine verbale Schlafsuggestion, mag dieselbe
noch so allgemein gehalten sein, wie sie wolle, überhaupt angeregt ist.
Ich möchte zum Belege dessen ein- Beispiel anführen, das Jeder
in seiner Praxis gelegentlich wird bestätigen können. Eine Frau, sehr
anämisch und erschöpft, kommt in L. zur poliklinischen Sprechstunde
und klagt über grosse Abspannung, nervösen Kopfschmerz und Schlaf-
losigkeit. Es wird ihr Electrisiren des Kopfes verordnet. Während
der Ausfuhrung der Galvanisation sprechen wir darüber (Dr. W. und
ich), ob in solchen Fällen nicht eine hypnotische Behandlung speciell
eine hypnotische Schlafcur indicirt wäre und wir streifen dabei die
Frage nach der scblafmachenden Wirkung des electrischen Stromes.
322 K. Brodmann.
Das Gespräch dauerte wenige Minuten. Unterdessen ist die Patientin
auf ihrem Stuhle tief eingeschlafen. Sie giebt nach dem Erwachen an,
gemeint zu haben, sie solle durch das Electrisiren einschlafen, sie habe
gehört; dass wir vom Schlafen sprachen und sei darüber so müde
geworden. Die Meinung schlafen zu sollen und der Glaube, dass die
Electricität schlafmachend wirke — also eine in doppeltem Sinne die
Schlafvorstellung erregende Suggestion — hatten hier autosuggestiv einen
allgemeinen Schlafzustand, nicht eine Hypnose erzeugt.
Dass in dem geschilderten Falle wirklich ein tiefer Schlaf (nicht
etwa Einbildung oder Verstellung) vorlag, bedarf keiner Erörterung.
Wir werden überhaupt auf die Symptomatologie eines Hypnose-
zustandes, auf die Frage der Simulation eines hypnotischen Zustandes
nicht weiter eingehen, da uns hier nur die Mittel und Wege interes-
sireu, mit denen man Kranke einzuschläfern vermag.
Derselbe tiefe Grad der hypnotischen Bewusstseinseinengnng wie
bei der ersten Patientin wird in einem zweiten Falle, der methodologisch
von dem ersten etwas abweicht, gleich in der ersten Sitzung erzeugt»
2. Frau S., ca. 40 J., kommt zur poliklinischen Sprechstunde, weil sie im An-
schluss an eine Influenza an Schlaflosigkeit und Nervenerschöpfung leidet. Sie hat
gehört, dass man sie durch Hypnose gesund machen könne. Hat angeblieh die
letzten Nächte kein Auge zugethan vor Aufregung.
I. Sitzung: £. 3. I. 1902. Vorbereitung mit kurzen belehrenden Worten.
Patientin glaubt nicht einschlafen zu können, da sie so aufgeregt und unruhig sei,
es zittere Alles an ihr. Sie nimmt auf einem Hypnosebett in Rückenlage Platz;
Stirnhand ohne Fixiren. Ausführung der Hypnose durch mich.
1. Hypnose. „Ich lege jetzt meine Hand auf Ihre Stirne, dann geht die
Wärme der Hand auf Sie über. Fühlen Sie die Wärme?** „Ja." „Die Wärme
kommt jetzt von der Stirne in die Augen und macht die Augen müde ... die
Augen werden ganz müde . . . Fühlen Sie das?" — „Ich fühle die Wärme." —
„Jetzt entsteht durch die Wärme auch Schwere in den Lidern, so dass die Augen
zufallen wollen und Sie werden dabei ganz schläfrig. Fühlen Sie die Schwere?'^
„Ja." „Jetzt nimmt das zu, immer mehr zu, die Augen werden so schläfrig, dass
sie von selbst zugehen. Sie können die Augen nicht mehr offen halten, so müde
und schläfrig wird es Ihnen im Kopf, Sie werden dabei immer ruhiger and wohler
und spüren das Verlangen, einzuschlafen . . . Schliessen Sie die Augen." — Unter
leichtem Druck der auf den Bulbi ruhenden Finger gehen die Augen zu. Ntch
kurzer Pause, in der Patientin ruhig daliegt, wird die erste Hypnose unterbrochen.
„Ich wecke Sie jetzt wieder auf. Oeffhen Sie die Augen und Sie sind wach!** —
Bealisirt. — „Was haben Sie nun gefühlt?" „Es war ganz schön." — „Haben Sie
die Wärme und Schwere gefühlt?" „Ja." — „Sind Sie auch schläfrig and ruhiger ge-
worden ?" „Ja, ich bin jetzt viel ruhiger." — „Dann soll es jetzt nochmals wieder-
holt werden. Sie sollen tiefer hineinkommen." —
2. Hypnose. „Es entsteht von meiner Hand aus wieder eine angenehme
Zur Methodik der hypnotischen Behandlung. 323
Wärme in der Stime und in den Augen. Die Wärme breitet sich im Körper
aus und es wird Ihnen ganz behaglich. Sie fühlen, wie jetzt die Augen gewalt-
sam zugehen. Sie werden immer mehr einschlafen (die Augen fallen wie vorhin
zu) ; jetzt beginnt der Schlaf auch im Körper sich auszubreiten, die Glieder er-
schlaffen, Sie können sich gar nicht mehr bewegen, so wohlthuend ist Ihnen die Ruhe
und jetzt schlafen Sie ein.'' (Pause, während der Zeigefinger und Daumen meiner
Hand sanft auf den Augenlidern ruhen). , . . „So, jetzt nehme ich meine Hand
weg und Sie sind im Schlaf . . . Sie können die Augen nicht mehr öffnen, ver-
suchen Sie es . . . es geht nicht mehr, die Augen sind fest geschlossen, versuchen
sie es nur!** (Patientin macht vergebliche Versuche, die Augen zu öffnen.) „Nun
schlafen Sie noch tiefer ein und werden sich schön ausruhen und Ihre Nerven
wieder zur Ruhe und Kräftigung kommen lassen und von jetzt ab werden Sie
wieder schlafen können, Appetit haben und sich Tag für Tag besser und wohler
fühlen. Verstehen Sie mich?" „Ja** (leise, zögernde Antwort). „Was wird mit
Ihnen geschehen?" „Ich werde schlafen und gesund werden.**
Patientin schläft etwa 10 Minuten weiter. Ich gehe hinaus und hole eine
dritte Person herein, um ihr einige Experimente zu zeigen. Es werden beliebige
cataleptische Erscheinungen und automatische Bewegungen — ich wiederhole, zu
Demonstrationszwecken — erzeugt. Der Automatismus ist sehr ausgeprägt, ich
ergreife z. B. die beiden Arme der Patientin, hebe sie hoch und drehe sie einige
Male, ohne ein Wort dabei zu sprechen, radförmig um sich herum; die Drehung
besteht dann so lange ohne mein Zuthun weiter fort, bis ich die Arme zum Still-
stand bringe und herunternehme. Ich steche Patientin an verschiedenen Stellen
tief in die Haut, richte ihren Rumpf auf und lege ihn wieder zurück; Patientin
reagirt nicht darauf, unmittelbar nach diesen Proceduren wecke ich sie auf mit
folgenden Worten:
„Sie haben jetzt ausgeschlafen, werden sich nach dem Erwachen wohl fühlen,
ruhig sein und schlafen können, so viel Sie wollen. Sie können jederzeit nach
Ihrem Willen einschlafen, wenn Sie müde sind und werden dadurch wieder zu
Kräften kommen. Nun sind Sic wieder wach und können die Augen öffnen."
Wird realisiert.
Es besteht nach dem Erwachen fast völlige Amnesie, nur rudimentäre Er-
innerungen für einzelne intrahypnotische Vorgänge hat Patientin. „Haben Sie
geschlafen?** „Ja, ganz tief, aber ich weiss nicht, wie lange.** Patientin weiss, dass
eine dritte Person ins Zimmer kam, von ihrem Weggang hat sie aber ebensowenig
wie von meinem Weggehen und Kommen eine Ahnung. Sie weiss, dass sie auf
der Haut berührt worden ist, kann aber die Stellen nur theilweise und ungenau
angeben. „Warum haben Sie die Arme herumgedreht?** „Ich weiss nicht warum . .
ich musste wohl**. „Wie fühlen Sie sich jetzt?** „Es ist mir so gut geworden
und ich bin gar nicht mehr aufgeregt.** — „Dann werden Sie von jetzt an wieder
schlafen, wie in Ihren gesunden Tagen.**
Auch in diesem Falle, einer acuten Erschöpfungsneurose, liess sich
bereits in der ersten Sitzung ein tiefes Stadium der Hypnose mit
cataleptischen und automatischen Erscheinungen erzielen. Die erste
Hypnose der ersten Sitzung ist noch oberflächlich, es werden einzelne
PartialTOTsteUuDgeD des Schlafes (WärmeempfiBdangeD, Schwere der
Lid^, Müd^eit) verbalsiiggeBtiT geweckt und realisirt. Ick ODterbreche
die Hypnose^ lasse mir aus der Erinnerang die EmpfindungeD, welche
Patientin während des Hypnotisirens gehabt hat, erzählen und indem
ich den suggestiven Charakter der reaUsürtan Suggestionen audi im
Wachen berrorhebe, verstärke ich die Suggestibilität, wie es im ersten
Falle durch Sealisirung bestimmter Wachsuggestionen geschehen war;
dadurch wirke ich bahnend für die Ausbildung einer tieferen hypno-
tischen Scblafhemmung, die wir dann auch sofort eintreten sehen.
Der Augenschluss erfolgt auf eine einfache Suggestion hin, es tritt mit
einem Schlage eine tiefe partielle Schlafhemmung ein. Die Willkttr-
musculatur ist jetzt, wie wir gesehen haben, vollkommen dem Willen
entzogen, Patientin sucht Impulse im Sinne der intendirten Bewegung
(Hebung der Lider) zu ertheilen, aber es kommt nicht zu der Aus-
führung der beabsichtigten Bewegung ; die hypnotisirte Person hat in
diesem Stadium der Hypnose, wie man sich durch nachträgliche Ex-
ploration häufig genug überzeugen kann, die Bewegungsvorstellung der
intendirten Bewegung, sie hat auch den Willen, die vorgestellte Be-
wegung auszuführen, aber die Glieder gehorchen dem Impulse nicht
mehr. Die Kranken suchen entsprechend ihrem Bildungsgange in ver-
schiedener Weise diese psycho-motorische Lähmung zu erklären ; meist
sagen sie: „ich weiss nicht, wie es kam", andere: „ich konnte nicht, die
Glieder waren mir schwer wie Blei'', oder auch: „ich habe ja ge-
schlafen, da kann man sich doch nicht rühren**. Offenbar liegt hier
eine anologe Erscheinung vor, wie sie häufig im Traumbewusstsein
sich zeigt : wir träumen, eine einfache Bewegung oder eine Handlung aus-
führen zu sollen, wir meinen z. B. im Traume fliehen zu müssen^ eine Last
bergan heben, ein Hindemiss aus dem Wege räumen zu sollen. Die
sinnliche Deutlichkeit dieser Traumvorstellungen kann so gross sein,
dass wir uns nach dem Erwachen nicht nur des ganzen Vorganges,
sondern auch aller Einzelheiten erinnern, wie wir im Schlafe Willeos-
anstrengungen machten, um die Muskeln zur Contraction zu bringen,
wie wir sogar die Etmpfindung der ruckweisen Muskelanspannung
hatten und wie wir peinlich dadurch berührt wurden, dass die Be-
wegung nicht zu Stande kommt. Man könnte vielleicht versucht sein,
diese Erscheinungen des Traumlebens auf dieselbe Ursache zurück-
zuführen, wie die verwandten cataleptischen und automatischen Hy-
pnosesymptome, nändich auf die Dissociation der Bewegungsvorstellungen.
Eine noch tiefere und ausgedehntere Schlaf hemmung mit paitiellein
Zar Methodik der hypnotischeo £ehandlaDg. 3g5
eystematischem Wachsein d. h. erhaltenem Rapport zum Experimentator
zeigt der folgende Fall. Auch hier kommt beim zweiten Versach das
somnambule Stadium mit yölliger Amnesie zu Stande. In der zweiten
Sitzung werden posthypnotische Suggestionen ohne Bewusstsein des
suggestiven Characters der betreffenden Erscheinungen realisirt.
Paul Seh., 21 Jahre alt, Goldschmied, leidet seit einem EisenhahnunfaD, hei
dem er mit dem Schrecken und einer Ohnmacht davongekommen war, an Neu-
rasthenie mit einer Unsumme von Beschwerden. Hauptklagen: Grosse Schwäche
und Mattigkeit, Schwindel, Zittern und Taubsein der Glieder, Stechen im Yorderkopf,
dumpfer Schmerz im Hinterkopf, Brennen in den Augen. Appetitlosigkeit, Üebel-
keit, Schlaflosigkeit, Angstträume, Beklemmungen, grosse Reizbarkeit, Missmuth,
gedrückte Stimmung. Er ist seit dem Unfall absolut arbeitsunfähig.
1. Sitzung: A. 25. YII. 96. Anwesend Dr. Vogt, Dr. van Renterghem und
ich. Vorbereitung wie üblich.
1. Hypnose. Bückenlage auf Hypnosebett, nicht yerdunkeltes Zimmer.
Stirnhand. Dr. V.: „Sehen Sie mir fest und ruhig in die Augen. — Ich lege
Ihnen die Hand auf die Stirne, dann geht die Wärme meiner Hand auf Ihren Kopf
über." — n«^*-" — »^iß Wärme breitet sich allmählich aus unter meinen Fingern
und geht auf die Augen über .. fühlen Sie das?" — »Ja«" (zögernd). — „Die
Wärme lässt jetzt ein Gefühl der Schwere entstehen, Sie fühlen, wie die Wärme
auf die Augen übergeht und die Augen schwer macht . . Das wird ganz deutÜch . .
Sie fühlen das jetzt!" — n^^'^ — (Patient schliesst die Augen von selbst.) „Nun
wird Ihnen recht angenehm, Sie fühlen, wie mit dem Augenschluss Buhe in Ihren
Körper kommt, — . . (längere Buhepause) . . — nun wecke ich Sie nochmals auf
und nachher kommen Sie tiefer hinein — . . 1, 2, 3, Wach!" — Auf Befragen:
^Die Augen sind mir schwer geworden und gingen von selbst zu." — ^Nun werden
Sie sogleich tiefer in die Hypnose kommen und wirklich einschlafen."
2. Hypnose. Stirnhand, kurzes Fixiren: „Die Augen fallen jetzt schneller
zu . . es kommt ein Krampf in die Lider (Lidschluss) . . es wird Ihnen dusehg im
Kopf . . die Gedanken gehen durcheinandex . . es kommt Schlaf über Sie . . immer
mehr . . die Glieder werden so schwer . . der Körper wird warm . . Sie schlafen
tief ein." — Pause. Stirnhand abgenommen. Der rechte Arm wird hochgehoben
und fällt schlaff herunter. — „Nun hebe ich den Arm wieder hoch". — V. thut
es und streicht dabei von unten nach oben, indem er gleichzeitig an den Finger-
spitzen den Arm in die Höhe zieht: unter den Streichungen tritt starre passive
Catalepsie des hochgehobenen Armes ein . . „Wenn ich den Arm jetzt anblase,
fällt er wieder sachte herunter (realisirt) und ist nicht mehr steif — . . Schlafen
Sie nun weiter und kümmern Sie Sich um gar nichts . . die Augen bleiben zu." —
Während einer längeren Unterredung zwischen den Anwesenden bleibt Patient
▼ölhg regungslos liegen, er athmet tief und regelmässig. — Nach etwa 6 Hinuten :
^Haben Sie gehört, was gesprochen wurde?" — Keine Antwort. — „Sie können
Alles hören (Stirnhand) und können auch antworten . . schlafen Sie ruhig weiter.
— Was haben Sie gehört?" — „Ich habe sprechen hören, wie ein Gemurmel, aber
was, weiss ich nicht." — »Nun schlafen Sie weiter . . Sie können Alles thun im
Schlafe, was Ihnen der Arzt sagt . . sprechen und gehen, Sie dürfen auch die Augen
Zeitschrift flür Hypnotismns. X. ^
336 K. Brodmann.
offiien and sdÜBfen doch weiter . . offiien Sie die Augen and stehen Sie anf . . Sie
bleiben dabei im Schlafe (wird realisirt) . • Nun gehen Sie vorwärts zur Thfire,
Sie können ganz gut gehen ohne aufEuwachen . . Der Herr Doctor wird mit Ihnen
in ein anderes Zimmer gehen, dort schlafen Sie, bis Sie geweckt werden.** — Ft.
wird hinausgeleitet, wandert durch einen langen Corridor, legt sieh in einem an-
deren Zimmer auf suggestives Geheiss wieder nieder und schliesst auf SoggeitioD
die Augen. Er wird 2 Standen sich selbst aberlassen und dann aufgeweckt: „Non
haben Sie ausgeschlafen . . der Schlaf hat Ihnen gut gethan. Sie fühlen sich frischer
und wohler ; Sie werden täghch in derselben Weise mehrere Stunden schlafen, . .
dadurch wieder einen gesunden Nachtschlaf bekommen und so gesund werden . .
Haben Sie verstanden?*' — n^^^ — »^^ zähle bis 3, dann sind Sie wieder ganz
wach und frisch . . der Kopf ist frei von Schmerzen . . 1, 2, 3." Patient schl^
die Augen auf und findet sich erst gar nicht zurecht. Es besteht Amnesie für alle
Vorkommnisse, er weiss nicht, wie er in dieses Zimmer gekommen und ob er über-
haupt geschlafen hat, oder was mit ihm vorgefallen ist. Subjectiv fühlt er sich
wesentlich erleichtert, der Kopfschmerz ist geschwunden.
Dieser Fall bringt vor Allem eine schlagende Widerlegung jener
Ansicht, welche behauptet, dass Traumatiker nicht hypnotisirbar wären,
und dass überhaupt die traumatische Neurose eine Contraindication
gegen die hypnotische Behandlung abgebe.
Einige Rückblicke auf die Psychogenese der Hypnosen scheinen mir
daher angebracht zu sein, ßeim ersten Versuch gelingen zunächst die
gewöhnlichen allgemeinsten Suggestionen ; das Wärmegefuhl der Stime
wird sinnlich lebhaft erregt einfach durch Handauflegen, die Wärme
wird nun der Ausgangspunkt einer bahnenden Erregung, welche durch
den Einfluss der Verbalsuggestion, dass die Wärme sich auf die Augen
ausbreitet, unterstützt und verstärkt wird. Damit ist bereits ein dis-
sociativer Zustand geschaffen, der das unmittelbare Resultat einer
Reizzuleitung zu dem Gentrum der Wärmeempfindung mit entsprechen-
den Ableitungen (Hemmungen) auf anderen Gebieten darstellt. Dieses
Centrum ist nun aber seinerseits durch frühere gleichzeitige Erregungen
durch eine gut leitende Bahn mit dem Centrum der Schliessmuskeln der
Augen verbunden. Die verbal angeregte Vorstellung, dass die Augen
durch die Wärme schwer werden, genügt in Folge dessen, eine Inner-
vationsempfindung im Orbicularis-oculi durch das Gefühl der Schwere
auszulösen. Ohne weitere suggestive Bahnung kommt es nun sofort zu
einer reflectorisch ausgelösten Contraction der Orbicularis und damit
zum Augenschluss. Der Kranke gab nachher characteristischer Weise
an, dass die Augen schwer wurden und dann von selbst zufielen; eine
Suggestion des Augenschlusses war nicht ausgesprochen worden. Es
ist dies jene Erscheinung der „subjectiven Eh-gänzung von Suggestionen'^
Zur Methodik der hypnotischen Behandlung. 327
durch den Hypnotbirten, die man sehr häufig findet, und welche viel-
fach zu Irrihümem bezüglich der Symptomatologie der Hypnose An-
läse gegeben hat Beim zweiten Versuch vollzieht sich der Augen-
schluss sofort roflectorisch ; mit dem Augeoschluss stehen andere Partial-
erscheinungen des Schlafes in assodativer Verbindung, Schwere der
Glieder, Wärme des Körpers, Verwirrung der Gedanken etc., diese
associiren sich durch gegenseitige Bahnungen zu dem Complex der
Schlafyorstellung, die Schlafvorstellung wird ausserdem verbalsuggestiv
erregt und damit rufen wir eine allgemeine tiefe Schlafhemmung her-
vor. Die Hemmung macht sich besonders auf motorischem Gebiete
geltend, man hebt den Arm hoch und er fallt wie im tiefen Schlafe
schlaff herab, es besteht eine so hochgradige Herabsetzung der Erreg-
barkeit der Bewegungsvorstellungen, dass es erst bahnender peripherer
fieize bedarf, um dieselbe zu erregen, und damit eine Muskelcontraction
(Katalepsie) zu bewirken. Dasselbe zeigt sich auf dem Gebiet der
Sprechbewegungen, der Hypnotisirte kann zunächst direct nach dem Ein-
schlafen auf Fragen nicht sprechen, es besteht eine Sprachlähmung.
Erst durch die bahnende Erregung einer Verbalsuggestion werden die
Bewegungsvorstellungen des Sprechactes wieder geweckt und das
Sprechen ermöglicht. Die monoideistiscbe Dissociation geht bei dieser
Person so weit, dass überhaupt nur noch suggestiv erregte Bahnungen
bestehen, alle anderen Bahnen sind gelähmt. Sie versteht den Inhalt
des Gesprochenen nicht mehr, sie hört unser Gespräch nur als undeut-
liches Gemurmel, sie nimmt nichts wahr, sie ist motorisch bewegungslos,
bis ihr alle diese Fähigkeiten suggestiv wieder ertheilt werden. Darin
aber liegt gerade das Griterium des tiefen Hypnosezustandes begründet.
Es besteht eine möglichst ausgedehnte tiefe Schlafhemmung, die sich
auf alle Gebiete der corticomotorischen und corticosensorischen Func-
tionen erstreckt, daneben aber kann in Folge des erhaltenen Rapport-
verhältnisses zum hypnotisirenden Ae^ jeder Zeit ein ganz beliebiges
circumscriptes Erwecken herbeigeführt werden, mit anderen Worten,
es lässt sich aus der tiefen Schlafhemmung heraus ein circumscriptes
Wachsein herstellen, das in seiner Ausdehnung durchaus vom Ex-
perimentator und seinen Suggestionen abhängig ist So sehen wir den
eben noch sprach- und regungslos scheinbar in tiefem Schlafe Da-
liegenden auf einen suggestiven Antrieb hin sprechen, sich bewegen
*) Vgl. bezüglich der Mechanik der Gatalepsie die Adnotationen von Vogt
in Porel, Der HypnotiBmuB pag. 123 ff.
22*
328 ^* Brodmann.
und handeln, er gebt mit offenen Augen in tiefer hypnotischer Be-
wusstseinseinengung umher, legt sich in einem anderen Zimmer nieder,'
schläft weiter und hat an alle diese Dinge nach dem Aufwecken nicht
die geringste Erinnerung.
Am Vormittag des folgenden Tages wird Patient zum zweiten
Male hypnotisirt. Auf einfache Yerbalsuggestion : „Sie schlafen wieder
ein" in Verbindung mit kurzem Fixiren und Handauflegen tritt wieder
tiefe Hypnose ein. Nach einstiindigem Schlafe Aufwecken wie üblich.
Vorher erhält er die Suggestion, dass er nach Tisch um 2 Uhr zum
Zimmer der Aerzte kommen und sich melden werde. Punkt 2 Uhr
erscheint er bei dem Arzte, weiss aber keinen Grund für sein Kommen
anzugeben und geräth darüber in grosse Verlegenheit; er entschuldigt
sich, es sei ihm plötzlich, wie es 2 Uhr schlug, die Idee gekommen,
zum Doctor zu gehen, er habe sich nichts Besonderes gedacht, viel-
leicht solle er wieder eingeschläfert werden. An die intrahypnotische
Suggestion erinnert er sich im Wachen nicht, dagegen kann in späteren
Hypnosen die Erinnerung an Vorgänge früherer Hypnosen stets geweckt
werden.
An den drei vorgenannten Fällen haben wir typische Beispiele
einer ohne besondere Schwierigkeiten in der ersten Sitzung sich voll-
ziehenden Somnambulhypnose kennen gelernt. Das Verfahren des Ein-
schläferns war überall in der Hauptsache dasselbe, in ESinzelheiten
etwas abweichend, je nach der Art der zunächst sich realisireoden
Schlaf hemmungen. Wir beginnen bei allen Kranken, wenn es sich
nicht um wissenschaftliche Versuche handelt, die erste Hypnose stets
in derselben Weise, suggeriren zunächst, als Partialvorstellungen des
Schlafes, einzelne Ermüdungserscheinungen, besonders an den Augen
und gehen dann erst zu allgemeineren Eingebungen der Ruhe und
Schläfrigkeit über. Dabei können wir aus der Art und Weise, wie
der Kranke diese ersten Eingebungen verwirklicht und wie er auf
unsere Fragen antwortet, alsbald erkennen, ob man langsam und mit
detaillirten Suggestionen vorsichtig vorzugehen hat oder ob die Sug-
gestibilität der Person ausreicht, um auf einfache imperatorische Sag-
gestion hin momentan eine ausreichende Schlaftiefe zu erzielen.
Löwenfeld ^) ist von dieser Art des Einschläfems durch Sug-
geriren einzelner Ermüdungserscheinungen mit der Zeit abgekommen;
er glaubt davor warnen zu sollen, da nach seiner Erfahrung die Vor-
») L c. pag. 111 ff.
Zur Methodik der hypnotischen Behandlung. 329
anstellung und Detaillirung der auf die Augen bezüglichen £ingebungeu
vielfach die Realisirung dieser SchlaferBcheinungen erschwere und da
sich femer bei vielen Menschen die Fizinmg eher als ein Hindemiss,
denn als ein Förderungsmittel der Hypnotisirung erweise. Er hat sieb
daher sein eigenes Verfahren ausgebildet, bei dem die einschläfernden
Eingebungen zunächst nicht das Auge, sondern allgemeine Ruhe und
Ermüdung betreffen; erst in zweiter Linie suggerirt er Ermüdunge«
erscheinuDgen an den Augen und daran schliessen sich dann weitere
Eingebungen an, welche hauptsächlich die dem Einschlafen unmittelbar
vorangehenden psychischen Veränderungen betreffen. Nach dem, was
wir im allgemeineren Theile gesagt haben, ist es überflüssig, in eine
Kritik dieser Anschauungen einzutreten. Wir haben dort ausdrück-
lich betont, dass jeder Arzt sich sein eigenes Verfahren des Hypnoti-
sirens ausbilden müsse und dass Jedermann mit seiner Methode die
besten Erfolge haben könne. Im Allgemeinen hat sich uns das oben
geschilderte Verfahren namentlich bei den Anfangshypnosen durchaus
bewährt, die Kranken gewöhnen sich dabei von vornherein an das
Bapportverhältniss mit dem Hypnotisirenden, und es drängt sich ihnen
sofort das fiewusstsein der Beeinflussbarkeit aus einer oder der anderen
realisirten Suggestion auf. Allerdings wird man in vielen Fällen, wenn
z. B. stärkere psychische Erregung, motorische Reizerscheinungen und
ähnliche krankhafte Erscheinungen bestehen, zweckmässiger Weise den
speciellen Ermüdungssuggestionen einige allgemein beruhigende Ein-
gebungen vorausschicken. Wir werden unten noch solche Beispiele
kennen lernen. In der Regel jedoch halten wir uns bei der Einleitung
einer hypnotischen Behandlung an das geschilderte fractionirte Verfahren.
Bei der Patientin H. stellt sich fast augenblicklich ohne detaillirte
Suggestionen tiefer Schlaf ein, bei den beiden Anderen bedarf es erst
einiger specieller Schlafsuggestionen. Alle Hypnotisten von Erfahrung
stimmen darin überein, dass man eine derartige momentane Hypnoti-
sirung bei vielen Menschen erreicht und man darf nicht meinen, dass
blos neuropathische Personen, Schwachköpfe und Hysterische einer
solchen Hypnose unterliegen, sondern das Gros der Leute aus dem
Volke, Gebildete, soweit sie nicht „überbildet" und voreingenommen
sind, Militär, Beamte sind mit denselben einfachen Mitteln in Hypnose
zu versetzen. Es bedarf eben nur einer passiven Hingabe der Ver-
suchsperson oder noch besser, wie Bernheim ausführt, einer gewissen
Mitwirkung durch zustimmende Erwartung, um durch die einfache
Vorstellung des Einschlafens den Schlaf herbeizuführen.
330 K- Brodmann.
Bei vielen Personen, namentlich bei Kindern, genügt es oft, dass
sie wissen, sie sollen einschlafen, man schliesst ihnen dann die AngSD,
hält sie durch wenige Momente unter leichtem Druck yon Daumen und
Zeigefinger geschlossen und sie schlafen sogleich ein. Manchmal ist
es nöthig, dass man in versicherndem Tone hinzufügt: „Sie schlafen
jetzt" und dann erst tritt wirklicher Schlaf ein, oder man verbindet
damit leichte Streichungen der Stime oder ein kurzes Anschauen der
Augen des Experimentators und suggerirt dabei (wie es auch in unseren
Beispielen geschehen ist) nur einzelne Empfindungen des EünschlafenSf
um jede beliebige ausgedehnte Schlaf hemmung zu erzeugen.
Man wird derartigen Augenblickshypnosen, die eine Unterart der
Fascination darstellen, gelegentlich immer wieder begegnen, doch
können wir sie für die Praxis nicht empfehlen. Man kann von vorn-
herein nie wissen, ob man es nicht mit einem widerstrebenden oder
voreingenommenen oder concentrationsunffthigen Individuum zu thun
hat, das jeder allgemeinen Schlafsuggestion gegenüber sich vielleicht
refractär verhalten und in Folge des Misslingens dieser Suggestion io
der Folge auch grösseren Widerstand bereiten würde. Nach unserer
Erfahrung empfiehlt es sich daher ausnahmslos in der Praxis, sich bei
jeder Ersthypnose an das von uns gekennzeichnete Princip der detail-
lirten Suggerirung von Schlafsymptomen zu halten.
Wie bei verschiedenen Personen ein im Einzelnen verschiedenes
Vorgehen beim Einschläfern sofort zum tiefsten Stadium der Hypnose
führt, haben wir an obigen Beispielen gesehen. Es ist indessen nicht
gesagt, dass man immer auf den ersten Versuch in der ersten Sitzung
die tiefsten Grade erreichen müsse oder auch nur erreichen kömie.
bei manchen Menschen ist in der ersten Sitzung gar kein oder nur ein
geringer Einfluss zu erzielen, in der zweiten Sitzung kommen wir sofort
zum Ziele, bei Anderen bedarf es einer mehrmaligen Wiederholnng,
der hypnotische Einfluss steigert sich dann jedes Mal bei den spateren
Versuchen, schliesslich genügt es, die Stimhand aufzulegen und zu sagen:
„Sie schlafen jetzt wieder ganz tief ein", dann schliessen sich die
Augen und der Schlaf stellt sich ein. Alle diese Variationen an ein-
zelnen Beispielen durchzusprechen, würde ermüden. Ich möchte daher
nur einige der häufigeren Hemmnisse, sowie pathologische Störungen,
welche einen abnormen Verlauf der Anfangshypnosen bedingten, be-
sprechen und das Verfahren, wie man ihnen entgegenwirken und sie
überwinden kann, an geeigneten Fällen schildern.
Zunächst bringe ich kurz einen Fall, wo die ersten Hypnosen
Zur Methodik der hypnotiachen Behandlang. 331
durch einen unwiderstehlichen Zwang zum Lachen gestört und die
hypnotische Behandlung in Folge dessen aufgegeben wurde.
FrL B., 28 Jahre, Lehrerin, hysterische Faraparese der Beine seit Jahren.
1. Sitzung A. 9. DC. 96. Dr. Vogt und ich anwesend.
1. Versuch. Handauflegen und kurzes Fiziren der Augen des Experimentators.
Es tritt nach kurzem Augenzwinkern alsbald eine regungslose Starre der Augen
«in, die Bulbi in Endstellung geradeaus gerichtet, fixiren nicht mehr. „Sie
fahlen jetzt die Wärme von meiner Hand auf die Stirne übergehen." — Keine
Antwort. — „Die Wärme tritt in die Augen und macht die Augen schläfrig, fühlen
Sie das?" — Keine Antwort, statt dessen bricht Fatientin in ein explosives Lachen
aus und unterbricht dadurch den Versuch. Sie weiss nicht, warum sie gelacht hat.
2. Versuch. Wie vorher. Fatientin fängt an zu lachen, sobald die Sug-
gestionen beginnen. Unterbrechung des Versuches.
3. Versuch. „Sie werden sich jetzt mehr zusammennehmen können . . das
Lachen tritt nicht mehr ein . . . versuchen Sie es nur . . . gar kein Zwang zum
Lachen mehr . . (wiederholtes kurzes Auflachen) . . nehmen Sie sich ordentlich zu-
sammen . . achten Sie auf meine Worte . . Sie denken an gar nichts sonst, achten
scharf auf mich . .^ — Es folgen wieder detaillirte Schlafsuggestionen. — Fatientin
verhält sich längere Zeit ruhig und scheint den Worten des Experimentators zu
folgen, dann bricht sie wieder in Lachen aus und wendet sich ab. —
4. Versuch. Beherrscht sich auf energische Verwarnung etwas mehr, ver-
mag aber den Worten des Hypnotiseurs nicht zu folgen, ist ganz zerstreut, beant-
wortet dessen Fragen nicht und föngt immer wieder an zu lachen. Die Versuche
werden unterbrochen. — Fatientin auf später bestellt.
IL Sitzung desselben Tages. Die einzelnen Versuche werden wieder durch
Lachanfölle gestört, wie vorher; sie concentrirt sich nicht.
m. Sitzung. Ein nochmaliger Versuch führt wieder zu Lachanf allen, Fa-
tientin erklärt jetzt, sie 'habe^ überhaupt keine Lust, sich einschläfern zu lassen, das
komme ihr so lächerlich vor; es wird daher von weiteren Versuchen Abstand ge-
nommen.
Hier hatte ausser dem hysterischen Lachen die von Anfang an
mangelnde Lust zu der hypnotischen Behandlung das Gelingen ver-
eitelt. Energisches Wollen hätte trotzdem auch hier noch zum Ziele
führen können. Die Neigung zum Lachen im Beginn der Hypnosen
ist, wie auch Forel und Bernheim erwähnen, keine gerade seltene
Erscheinung, doch konnte sie von uns meist durch wenige energische
Oegensuggestionen und durch Fesselung der Aufmerksamkeit auf die
Worte des Experimentators sofort, ohne den weiteren Verlauf der
Hypnose zu stören, unterdrückt werden. Weinaffecte kommen eben-
falls, wenn auch weniger häufig, bei den Anfangshypnosen gelegentlich
als störende Begleiterscheinungen vor, sei es, dass eine pathologische
Oemüthsdepression vorliegt, sei es, dass Schmerzen oder andere krank-
hafte Erscheinungen die Verstimmung und das Weinen veranlassen.
333 K* Brodmann.
Es hält zuweilen schwer, bei TorherrscheDder depressiTer Stimmung der
zu Hypootisirenden, besonders bei gleichzeitiger Neigung zumWeineo,
die nöthige Concentration zu erlangen. In solchen Fällen wird man
gut thun, die Hypnose aufzuschieben, bis Gemüthsruhe eingetreten ist.
Im folgenden Falle gelang eine mitteltiefe erfolgreiche Hypnose trotz
bestehender weinerlicher Stimmung und trotz mehrfacher Weinausbriiche.
Frau B. klagt über nervöse Yerstimmungf und Magenachmerzen. Sie ist sehr
deprimirt, beständig zum Weinen geneigt und wird bei ihrer Erzählung wiederholt
zu Thränen geröhrt. Trotzdem wird ein Versuch gemacht, sie einzuschläfern, da
sie selbst das Verlangen danach hat.
1. Sitzung A. 12. IX. 96. Nach einigen beruhigenden Worten: „Nun lege
ich die Hand auf Ihre Stirne . . dann wird es warm unter meiner Hand und Sie
fühlen die Wärme auf der Stirne." — »J&-^ — ,,Nun geht die Wärme auf die Augen
über Yon der Stirne . . die Augen werden müde und schwer ... sie werden so
schwer, dass sie zufallen wollen . . immer schwerer . .^ (Patientin fängt wieder an
zu schluchzen.) „Warum weinen Sie ?" — „Ach Gott, ich bin so elend und habe solche
Schmerzen . . ich werde wohl nicht mehr gesund." — »^un beruhigen Sie sich
nur, es wird Alles gut werden . . Sie sollen jetzt nicht weinen, wenn Sie gesund
werden wollen . . . Wir wollen noch einen Versuch machen."
2. Versuch. „Sie werden jetzt ganz ruhig, immer mehr kommt Buhe in
Ihr Inneres und Sie fühlen sich leichter werden . . Sie können diesmal ganz ruhig
bleiben . . nicht mehr weinen . . Nun kommt auch Müdigkeit in die Augen . J^
— „Ja." — „Sie fühlen, wie es die Augen zuzieht und wie Sie schläfrig werden . .
statt der Trauer wird es Ihnen leichter ums Herz . . es geht eine behagliche Buhe
durch den Körper ... Die Augen gehen immer mehr zu — jetzt fallen sie ron
selbst zu . . . Sie wollen gar keinen Widerstand mehr leisten . . schüessen Sie die
Augen, dann stellt sich bald noch mehr Buhe und Schlaf ein." — unter leichtem
Druck der Finger schliessen sich die Augen langsam. — Pause. — rNuu sind Sie
wieder wach und Sie können bald tiefer eingeschläfert werden." — Nach dem
Wecken : „Es ist mir ganz wohlthuend geworden ; ich fühlte, wie ich zur Buhe
kam." —
3. Versuch. Beginn wie oben: Augenschluss realisirt sich auf Suggestion
schneller. Die Suggestion der Beruhigung und des Schwindens der Magenschmenen
lösen wieder einen Weinaffect aus. „Warum weinen Sie?" — „Ich habe solche
Schmerzen im Magen, ich kann nicht einschlafen." — „Dann halten Sie sich jetzt
nur ruhig, ich werde Ihnen die Schmerzen erst wegnehmen, dann schlafen Sie
ein . . . Ich lege Ihnen meine Hand auf den Magen und es entsteht durch meine
Hand ein Wärmegefühl, wie vorher auf der Stirne und in den Augen ... Sie
fühlen jetzt deutlich die Wärme?" — „Ja." — „Die Wärme dringt jetzt immer
mehr in die Tiefe und indem ich den Magen leicht reibe, zertheilt sich der Schmers
unter der warmen Hand ... er wird jetzt immer geringer . . fühlen Sie schon eine
Abnahme des Schmerzes?" — „Ja, er wird schwächer."
Der Schmerz schwindet unter fortdauernden Suggestionen, Patientin wird
ruhiger: „Sie bleiben in dieser Buhe, die Traurigkeit weicht yon Ihnen .. Sie
werden wieder lebensfroh und heiter, bekommen Freude an der Arbeit und können
Zur Methodik der hypnoiiichen Behandlang. 333
arbeiten . . . schlafen Sie weiter . .** — Pause. Wecken nach einigen Minuten.
Die Schmerzen sind beseitigt, kommen aber bis zum nächsten Tag wieder. In den
nächsten Sitzungen tritt regelmässig ohne Weinaffect sofort ein behaglicher Ruhe-
zustand ein. Es entsteht eine mitteltiefe Hypnose, die nach kurzer Zeit eine
wesentliche Besserung der Beschwerden herbeiführt.
Etwas Aehnliches habe ich wiederholt bei Rnctus gesehen. Nur
ein Beispiel. Ein an nervösen Beschwerden leidender Mann will sich
hypnotisch behandeln lassen. Er kommt znr festgesetzten Stunde zur
ersten Hypnose, wird aber nun seit mehreren Stunden von einem un-
überwindlichen Ructus gequält. Ein Versuch, den Buctus einfach
durch verbale Suggestion zu beseitigen, gelingt nicht. Der Ructus
ist so heftig, dass dem Kranken eine Concentration auf den Vorgang
des Einschläfems nicht gelingt. Ich lasse nun den Kranken einen
Schluck Wasser trinken, lege ihm die Hand auf die Stirne, drücke
ihm sanft die Augen zu und heisse ihn langsam zählen; nach ganz
kurzer Zeit ist der Ructus verschwunden und ich schliesse sofort einige
Schlafsuggestionen an. Ich unterbreche in üblicher Weise den Versuch
und sofort kommt der Ructus wieder. Dieselbe Procedur wie vorher
wird nochmals wiederholt, gleichzeitig lege ich dem Kranken die eine
Hand unter mäfsigem Druck auf den Magen und versichere, dass nun-
mehr der Zwerchfallskrampf dauernd verschwinden werde und dass er
nachher in eine richtige Hypnose komme. Der Ructus verschwindet
allmäiilich ganz und es tritt ein angenehmer Ruhezustand ein. Ein
dritter Versuch schliesst sich an und gelingt vollkommen, der Ructus
bleibt aus und von da an nehmen die weiteren Hypnosen einen nor-
malen Verlauf.
Schwieriger pflegt sich der Verlauf der Ersthypnosen zu gestalten,
wenn störende Dauersymptome, welche in dem Wesen der Krankheit
selbst begründet sind oder vielleicht gar die hauptsächliche Krankheits-
erscheinung überhaupt ausmachen, vorliegen. Ich verstehe darunter
namentlich motorische Störungen bei Hysterischen, wie Schütteltremor,
Krampferscheinungen, wirkliche hysterische Anfälle etc. Auch Angst-
zustände und Beklemmungen sind Symptome, welche die Ausführung
der ersten Hypnosen häufig erschweren. Femer wird man nicht selten
finden, dass intensive Schmerzen irgend welcher Art im Beginne einer
hypnotischen Behandlung dem Wirksamwerden von Schlafsuggestionen
sich entgegenstellen. Besonders sind es Kopfschmerzen, welche in Folge
der Unfähigkeit des Kranken, sich zu concentriren, den Vorgang des
Einschläfems stören. Dasselbe haben wir bei Zwangsvorstellungen und
nosophobischen Oedanken gefunden. Derartige Symptome erfordern
334 ^- Brodmann.
nach unserer Erfahrung die meiste Geduld und das grösste Geschick
seitens des Arztes, um nur überhaupt die Kranken zur Buhe zu bringen.
Will man nicht in dem Patienten das Gefühl aufkommen lassen, dass
bei ihm die Hypnose gar nicht durchführbar ist, so muss man bestrebt
sein, in den ersten Sitzungen schon die störenden Erscheinungen durch
Yerbalsuggestionen oder auf anderem Wege soweit zurückzudrängen^
dass sie wenigstens eine Concentration des Kranken auf die Worte
des Arztes zulassen. In Fällen von heftigen Kopfschmerzen ist es
stets angezeigt, schon im Beginn der ersten Hypnose einige Suggestionen
zu geben, welche auf eine Verminderung oder ein Schwinden des
Schmerzes sich beziehen, damit der Kranke nicht zu sehr durch den-
selben abgelenkt wird. Da bei vielen Menschen die physiologische
Suggestibilität im Wachen hinreichend gross ist, so gelingt es häufig
genug, ehe ein Hypnosezustand herbeigeführt ist, einen quälenden
Schmerz zu beseitigen. Bei sehr hartnäckigen Schmerzen, welche ebe
langdauemde Behandlung erfordern, z. B. habituellem Kopfschmerz,
migräneähnlichen Schmerzen, haben wir es uns zur Gewohnheit gemacht,
bei jeder Hypnotisirung, nicht etwa nur in der ersten Sitzung, stets
zuerst den Schmerz suggestiv zu beseitigen und dann erst den
Kranken einzuschläfern. Wir werden unter den suggestivtherapeutischen
Wirkungen der Hypnose noch solche Fälle kennen lernen.
Zunächst möchte ich noch den Verlauf der Hypnose bei einem
Falle von hysterischem Tremor mit Oppressionsgefühl ausführlich
schildern.
Es handelt sich um ein etwa 20jährige8 Mädchen (FrL J.), das seit 5 Jahren
an Bleichsucht mit allgemeinen nervösen Beschwerden (Kopfschmerz, Mattigkeit,
Gliederschwere, Herzklopfen und Gemüthsverstimmung) leidet. Yerschlimmerang vor
ca. 1 J. im Anschluss an eine anstrengende Krankenpflege mit Nachtwachen. Ton
da an Schlaflosigkeit, Appetitmangel und Zittern in den Armen und Beinen. Seit
einer Gemüthsbewegung (Schreck auf der Strasse) Zitteranfalle: Patientin kann
überhaupt nicht mehr auf die Strasse gehen, die Beine versagen ihr ganz, and sie
wird von krampfartigem schüttelndem Zittern des ganzen Körpers befallen.
Nahrungsaufnahme minimal, weinerliche Stimmung, Lebensunlust, Arbeitsunfähig-
keit in Folge der allgemeinen Schwäche.
Patientin kommt zur Sprechstunde und bittet um hypnotische Behandlang.
Sie habe gehört, dass ihr dadurch geholfen werden könne. Sie ist in grosser Auf-
regung, klagt über innere Angst und Beklemmung auf der Brust, athmet stosa-
weise, der Körper befindet sich in dauernder Unruhe: Arme, Beine und Kopf
zeigen ein lebhaftes, parozystisch sich steigerndes schüttelndes Zittern. Die erste
Hypnose wird mit Einwilligung der Kranken sofort vorgenommen. Organisches
Leiden wird ausgeschlossen durch die Untersuchung.
Zur Methodik der hypnotischen Behandlung. 335
I. Sitzung: 14. October 96. Anwesend Dr. Y., Dr. S. und ich. Kurze Be-
lehrung wie üblich, beruhigende Wachsuggestionen, Ermahnung zur Geduld und
Ausdauer, Versicherung, dass der Zustand absolut heilbar sei und durch eine hyp-
notische Schlafcur geheilt werde.
Während der folgenden Hypnotisation besteht der Tremor in schwankender
Stärke weiter. Patientin nimmt auf einem Schlafstuhl Platz und Dr. Y. be-
ginnt dann:
1. Hypnose. „Schauen Sie mir ruhig und fest in die Augen. Ich lege
Ihnen meine Hand auf die Stirne und da fühlen Sie, wie die Wärme der Hand
auf Sie übergeht. Fühlen Sie es?*' „Kein.** „Die Wärme nimmt jetzt unter der
längeren Berührung ganz allmählich zu und Sie fühlen sie deutlich auf der Stirne.**
„Ja.** — Stärkerwerden des Schütteltremors. — „Sie werden ganz ruhig, immer
ruhiger . . . achten Sie auf meine Worte . . ganz ruhig werden . . das Zittern lässt
schon nach und hört bald ganz auf . . es kommt Ruhe in Ihren Körper, nun zittern
nur noch Ihre Arme . . das lässt auch bald nach, athmen Sie ganz langsam und
ruhig . . immer ruhiger .. 1 .. 2 ... 3 ... so ist es schön . . ganz ruhig sind Sie
geworden . . das wird schon gehen . . Wenn ich die Hand auf die Stirne lege,
kommt immer mehr Ruhe über Sie.** — Der Tremor lässt vorübergehend nach. —
„Sie fühlen, wie die Wärme yon der Hand sich allmählich ausbreitet, wie sie auf
die Augenlider übergeht und wie unter der Wärme eine Schwere in den Lidern
und eine Müdigkeit in den Augen entsteht.** „Ja, ich fühle es, die Glieder werden
mir schwer und es wird mir ganz warm.** „Gewiss, die Wärme ist Ihnen recht
angenehm und behaglich, die Schwere nimmt mehr und mehr zu, Sie werden so
müde in den Beinen und im ganzen Körper, dass Sie sich gar nicht mehr be-
wegen mögen. Sie werden ruhiger dabei, das Zittern wird geringer und Sie können
sich ganz einer wohlthuenden Ruhe hingeben, wie Sie sie vorher nicht gefühlt
haben." — Der Tremor wird unter diesen Suggestionen wieder schwächer und
verschwindet bald ganz. — „Die Augen sind Ihnen jetzt immer müder geworden, der
Blick verschleiert sich, die Lider fangen an zu spannen und werden jetzt zu-
gezogen . . . Die Augen schliessen sich, sie fallen von selbst zu.** — Augenschluss
erfolgt, allgemeines Zittern am ganzen Körper. Patientin fängt an stürmisch zu
athmen, öffnet die Augen, richtet sich schreckhaft in die Höhe. Sie klagt über
Herzbeklemmung und Augenflimmern, weiss jedoch keinen Grund dafür anzugeben.
Anhaltendes Zittern, besonders der Arme. — „Haben Sie geschlafen?** „Nein.** —
„Warum haben Sie die Augen geschlossen?'* „Es war unwillkürlich.** — „Warum
sind Sie aufgefahren?" „Ich weiss nicht.** —
2. Hypnose. „Dann wollen wir es noch einmal versuchen, Sie dürfen ganz
ruhig sein, es kann Ihnen nichts geschehen, Sie sollen nur einige Minuten schlafen,
um zu sehen, wie weit Sie zu beeinflussen sind. Das Zittern wird schwächer und
bald ganz aufhören . . . Sehen Sie mich jetzt wieder scharf an und halten Sie die
Augen eine Zeit lang geöffnet, Sie werden dann die Müdigkeit um so mehr spüren.
Sie fühlen jetzt, wenn ich Ihnen die Hand auf die Stirne lege, die Wärme und
die Schwere in den Augenlidern.** „Ja.** „Dann beginnt wieder allmählich eine
Schwere und Müdigkeit im Körper, es macht sich ein Ruhebedürfniss geltend . . .
die Beklemmung auf der Brust lässt nach, die Angst schwindet und das Zittern
wird immer schwächer, . . . Sie denken gar nicht mehr an Ihren Körper, . . . immer
mehr verliert sich das Zittern und es kommt eine behagliche, wohlthuende Ruhe
336 K- Brodmann.
ober Sie, jetzt hört das Zittern ganz auf . ." — Pause. — Die Augen sind unter-
dessen spontan zugefallen und bleiben unter leisem Drucke der Finger geschlossen.
Die Zitterbewegungen werden unter den Suggestionen allmählich schwächer und Ter-
schwinden ganz. — n^^^ fühlen Sie sich jetzt?" „Ich fühle mich wohler, die Be-
klemmung ist fort, nur der rechte Arm zittert mir noch und ich habe ein Gefühl
Ton Unruhe in demselben." „So, dann schlafen Sie jetzt immer tiefer ein und je
mehr Schlaf über Sie kommt, desto ruhiger werden Sie. Der Arm wird jetzt auch
ganz ruhig, wenn ich mit der Hand darüber streiche, fühlen Sie, wie er sich er-
wärmt und wie er ganz allmählich aufhört zu zittern, die Muskeln erschlaffen voll-
ständig, nicht die geringste Bewegung im Arm; der Arm rührt sich jetzt gar nicht
mehr, Sie können ihn auch willkürlich nicht mehr bewegen." — Der Tremor ist
jetzt vollkommen verschwunden. — »Wie ist Ihnen jetzt zu Muthe?" „Ich bin
ganz ruhig geworden, nur fühle ich noch ein innerliches Zittern im rechten Arm."
— „Dieses wird jetzt auch gänzlich schwinden und Sie können sich vollkommen
einer schlafähnlichen Ruhe hingeben . . Die Ruhe geht allmählich in bewusstlosen
Schlaf über. Sie fühlen, wie die Sinne Ihnen anfangen zu schwinden und es ganz
still wird um Sie her. Sie mögen nichts mehr denken und nichts mehr hören
und verfallen jetzt in tiefen Schlaf." — Völlige Ruhe, kein Zittern mehr. — PJotz-
lich reisst Patientin die Augen auf und ist völlig wach. Sie fühlt sich ruhig und
ohne alle Oppressionsgefühle, Amnesie ist nicht vorhanden. Einen Grund für das
Oeffnen der Augen weiss Patientin nicht anzugeben.
Es wird ein dritter Versuch in analoger Weise wie vorher gemacht, dt
jedoch Patientin immer wieder von Zittern befallen wird und ein dauernder
Augenschluss nicht zu erzielen ist, so wird für heute abgebrochen mit einigen all-
gemeinen Suggestionen:
„Sie werden später jeden Tag tiefer hineinkommen, Sie können ganz nihig
bleiben bei der nächsten Hypnose, Sie werden sich nicht mehr ängstigen, Sie
werden festes Vertrauen zu der Behandlung fassen, dann wird schnelle Besserang
eintreten. Für heute ist es genug ; der erste Erfolg ist ein guter, da Sie Ihr Zittern
vorübergehend ganz verloren haben, trotzdem nur oberflächlicher Schlaf eintrat
Sie werden sich nach dem Erwachen viel wohler und ruhiger fühlen und den ganzen
Tag eine entschiedene Besserung verspüren. Wenn ich auf 3 zähle, wachen Sie
auf und fühlen sich ganz wohL"
Patientin bestätigt die Euphorie. Es wird ihr nochmals die günstige Dispo-
sition zur Hypnose versichert und dann wird sie auf den folgenden Tag besteUi
II. Sitzung am folgenden Tag. Patientin giebt an, bereits etwas ruhiger
zu sein, die Beklemmung und Angst sei geringer, sie sei hoffnungsvoller und froher
geworden durch die Worte von Dr. V. — Massiger Tremor der Arme. — Aus-
führung der Hypnose durch mich.
I.Hypnose. Stirnhand. Fixiren der Augen. Suggestionen : Abnahme und
allmähliges Schwinden des Zitterns . . Beruhigung, gelinde Erleichterung, der Dmek
auf der Brust lässt nach. — Realisirt. Das Zittern schwindet innerhalb einer Mi-
nute unter einigen sanften Streichungen über die Arme; inneres Zittern besteht
noch fort. Kein Augenschluss.
2. Hypnose. Stirnhand. Fixiren. Suggestionen: „Auch das innere Zittern
schwindet jetzt ... es wird Ihnen ganz leicht . . schauen Sie mich fest an . . nun
beginnen Ihnen die Augen schwer zu werden . . . der Körper wird müde, alle
Zur Methodik der hypnotiichen Behandlung. 337
Spannung läast nach . . Sie schauen mir noch immer in die Augen und nun merken
Sie, wie die Kraft nachlässt . . der Blick wird trübe, es tritt wie ein Schleier vor
die Augen . . ea wird neblig und Nacht um Sie . . nun werden die Augen zu-
gezogen ... sie können keinen Widerstand mehr leisten — sie fallen von selbst
zu" — Augenschluss tritt ein. — „Sie athmen ganz ruhig und leicht . . mit dem
AugenschluBS wird Ihnen so wohl und behaglich und Sie fühlen, wie Schlaf über Sie
kommt." — Athmung verlangsamt, ruhig. — „Immer mehr Schlaf kommt in die Ge-
danken . . . Sie hören nur undeutlich auf mich . . die Sinne fangen an zu schwinden . .
Sie schlafen ein.'' — Längere Pause. Der Kopf sinkt nach vorne auf die Kissen.
Patientin ist eingeschlafen . . Der linke Arm wird von mir sachte angefasst und
langsam hochgehoben, es ist bei der Bewegung ein deutlicher Widerstand zu
fühlen, er bleibt senkrecht aufgerichtet stehen, Patientin ist auf Geheiss nicht im
Stande, ihn herunterzunehmen. — Aufwecken: . . „Ich wecke Sie durch Zählen
wieder auf . . Sie werden nachher wieder tief einschlafen und so täglich viele
Stunden schlafen können ... 1, 2, 3, Sie sind wach und ganz wohL** — Es be-
steht nur eine verschwommene Erinnerung an die Catalepsie, die Worte hat sie
vergessen.
3. Hypnose. „Nun werden Sie einen Schluck Wasser trinkeu und dann
fiofort tief schlafen'^ (thut es). Somnambules Stadium nach wenigen Suggestionen
mit Handauflegen und Fixiren. „Sie werden nun täglich in derselben Weise ein-
schlafen, indem Sie einen Schluck Wasser trinken in der Absicht, dadurch sich
einzuschläfern . . Heute Mittag nach Tisch legen Sie sich Punkt 2 Uhr nieder,
nehmen einen Schluck Wasser und schlafen ebenso, wie hier sofort ein. Sie schlafen
ruhig und ungestört genau 2 Stunden und dann wachen Sie frisch und munter
und ohne Beklemmung und Zittern von selbst auf. Ebenso schlafen Sie jetzt
Nachts sofort ein und morgen vormittag kommen Sie um 10 ühr wieder her zur
Hypnose.'' — Nach dem Erwachen besteht absolute Amnesie, völliges Wohlbefinden.
Die posthypnotischen Suggestionen werden pünktlich realisirt ; am folgenden Morgen
kommt Patientin Schlag 10 Uhr und meldet sich zur Hypnose, obwohl ihr im
Wachen nichts davon gesagt worden war. Sie hat Nachts besser geschlafen, aber
mit dem Aufstehen ist wieder Zittern eingetreten.
m. Sitzung. Das Einschlafen vollzieht sich, wie tags zuvor, fast momentan auf
einen Schluck Wasser und auf die Suggestion: „Sie schlafen ein und das Zittern
hört dann sogleich auf.'' — Dauer des Schlafes 2 Stunden.
Die folgenden Hypnosen verlanfen ebenso. Wir sehen hier also
nach einmaligem Misslingen in Folge der durch die krankhaften
Symptome begründeten Störungen in der zweiten Sitzung bereits eine
tiefe Somnambulhypnose eintreten. Von da an bleiben alle Störungen
aus. Hartnäckigerem Widerstände bin ich beim folgenden Falle von
hysterischem Erbrechen begegnet.
Frl. St. leidet im Anschluss an eine acute Infectionskrankheit an unstillbarem
Erbrechen. Sie behält- seit etwa 2 Wochen fast keine Nahrung bei sich, Morphium
und andere Beruhigungsmittel, die in grossen Mengen vom Arzte verordnet worden
waren, versagen vollständig; sie ist hochgradig abgemagert und entkräftet. Auf
Bitten der Eltern hypnotische Behandlung. In den ersten Sitzungen ganz refractär;
338 K. Brodmann.
Patientin kann sich nicht concentriren , befindet sich in ängstlicher innerer
Spannung und Erregung, sie realisirt nur vereinzelte Suggestionen in der ersten
Sitzung (Wärme der Lider und Spannung in den Augen). Auch der Versuch,
das Erbrechen durch Wachsuggestionen zu beseitigen, scheitert; Patientin kann
zwar essen und behält von den ersten Hypnoseversuchen die Speisen bei sich^
so lange der hypnotisirende Arzt zugegen ist, nach dessen Weggange bricht sie
aber wieder Alles aus. Nach Stägigen vergeblichen Versuchen erkläre ich der
Kranken, dass dies die letzte Sitzung sein könne, da ich abreisen musste (ich
hielt mich an dem Ort nur vorübergehend zu Besuch auf), sie müsse jetzt in
Schlaf kommen, sonst wäre ihr nicht zu helfen. Sie solle sich nur energisch zu-
sammennehmen, dann werde es schon gehen. Der Versuch gelingt, Patientin wird
unter gehäuften Detailsuggestionen ruhiger, verwirklicht Ermüdungseingebungen
und konmit in einen Zustand von Hypotazie, in dem ich sie eine halbe Stunde
liegen lasse. Vor dem Aufwecken ertheile ich ihr energische Suggestionen, die sich
auf die Nahrungsaufnahme und das Aufhören des Erbrechens beziehen, lasse sie
dann in der Hypnose Milch trinken und Eier essen und von da an blieb das
Erbrechen aus. Nach % Jahre erhielt ich einen dankerfüllten Brief der Eltern,
in dem sie mir mittheilten, dass das Erbrechen von jenem Tage an nicht wieder-
gekehrt und dass ihre Tochter ganz gesund geworden sei.
Hier hatte offenbar eine krankhafte Autosuggestion, die auf dem
Boden einer pathologisch-autosuggestibeln Hysterie entstanden war, das
Eintreten des Schlafes wie einzelner Suggestiverscheinungen verhindert.
Erst einer affectstarken Suggestion, der etwas gewagten, aber mit
Absicht ertheilten Eingebung, dass der letzte Versuch zum Ziele
führen müsse, wenn überhaupt Heilung eintreten solle, gelang es, der
Autosuggestion Herr zu werden.
Manche Kinder unter einem bestimmten Alter erweisen sich zu-
weilen ebenfalls ganz refractär, aucb wenn keine direct störend
wirkenden Symptome bestehen. Die Ursache des Misslingens der
Hypnotisirung darf in solchen Fällen weniger in einer krankhaften
Autosuggestion gesucht werden, als vielmehr in dem mangelnden Yer-
ständniss für den Vorgang des Hypnotisirens resp. in der Unfähigkeit
sich auf die Worte des Experimentators zu concentriren. Mir ist aus
unserer Praxis ein Fall in Erinnerung geblieben, bei dem ich nach
wiederholten Fehlschlagen weitere Hypnoseversuche bereits anheben
wollte und schliesslich durch einen einfachen Tric doch noch eine tiefe
Hypnose mit einem Schlage erzielte.
£. K., 6 — 7 jähriges Kind vom Lande, hysterische Zuckungen und Schrei-
krämpfe seit 1 Jahre, kann in Folge häufiger Anfälle und der Ansteckungsgefahr
die Schule nicht besuchen. Die ersten Hypnotisirungen ganz erfolglos trotz der
yerschiedensten technischen Kniffe, wie Fizirenlassen, Zudrücken der Augen bis
zu einer halben Stunde, Streichen der Stirne, monotones Suggeriren, Befehl etc.
Mit dem Einyerständniss der £ltern wurde ein Versuch unter Zuhülfenahme toq
Zar Methodik der hypnotischen Behandlung. 339
Chloroform gemacht, der aber gleichfalla nicht zum Schlaf führte, sondern eine.
Angsterregong auslöste. Am folgenden Tage nochmaliger Versuch. Ich schicke
die (affectstarke) Suggestion voraus, dass sie nun einschlafen müsse, sonst werde
man wieder das Biechmittel anwenden müssen, dann lasse ich die kleine Patientin
wie früher auf dem Sopha sich niederlegen, decke sie warm ieu und spreche einige
beruhigende Worte mit ihr, yermeide aber diesmal sowohl das Fiziren wie andere
HülfsmitteL Nach längerem ruhigen Liegen markire ich selbst Schläfrigkeit und
fange an zu gähnen, ich sehe, wie Patientin selbst schläfrig wird und gähnen muss.
Nach wenigen Minuten schliesst sie die Augen, ich flüstere ihr, indem ich sachte
die Hand auf die Stirne lege, einige Schlafsuggestionen zu und erkenne bald an
dem veränderten Athmungstypus, dass Schlaf eingetreten ist. Ich überlasse nun
Patientin eine halbe Stunde sich selbst; wie ich wiederkomme, sie zu wecken,
liegt sie in einem so tiefen Lethargus, dass der Rapport verloren gegangen und das
Erwachen auf suggestivem Wege in keiner Weise zu erzielen ist. Ich gebe nun
mit lauter Stimme bei aufgelegter Stirnhand energisch die Suggestion. „Du wirst
jetzt noch eine Stunde weiter schlafen, wenn ich hinausgehe, später auf Zureden
jedesmal leicht und schön einschlafen können und sobald ich nachher wieder herein-
trete, an dem Geräusch der Thüre erwachen und munter sein. Diese Suggestion
wird nachher prompt realisirt. Die folgenden Hypnosen vollziehen sich normal.
Es ist methodologisch interessant, wie bei diesem Kinde auf dem
Umwege durch eine FartialvorstelluDg des Einschlafens, das Gähnen,
der Schlaf mit Leichtigkeit herbeigeführt werden konnte, während vor-
her alle anderen Schlafvorstellangen wirkungslos gewesen waren. Wie
aber das Gähnen ansteckend wirkt und wie inuig der Gähnreflex mit
der Schläfirigkeit associativ verknüpft ist, sehen wir täglich ; hier löste er
fast momentan Schlaf aus. Die Anwendung von Chloroform zur Unter-
stützung der Hypnose würden wir nur als äussersten Nothbehelf zu-
lassen können. Einen wirklichen Nutzen haben wir weder in diesem
Falle noch sonstwo gesehen.
AVir wollen jetzt noch an einem Beispiele die systematische Er-
ziehung zur Somnambulhypnose illustriren. Im allgemeinen Theil hatten
wir die Frage aufgeworfen, wie weit man einerseits in der ersten
Sitzung bei einem anfanglich Refractären gehen kann und wie lange
andererseits die hypnotischen Versuche bei einer wenig empfänglichen
und ungenügend hypnotisirten Person überhaupt fortgesetzt werden
dürfen. Dabei waren wir zu dem Grundsatze gekommen, dass im All-
gemeinen bei geeigneten Fällen der Versuch zu machen sei, nüfi
Somnambulhypnose durch consequente Disciplinirung
zu erziehen'*.
Ich wähle aus unserer Praxis einen Fall von Hysteria gravis, der im Beginne
der Hypnotisirung die grössten Schwierigkeiten machte. Es handelt sich um eine
schwere Form polysymptomatischer Hysterie bei einem 20 jährigen Mädchen, welches
340 ^ Brodmann.
fichon jahrelang aueh in Anstalten ohne besonderen Erfolg behandelt worden
war. Die Mutter, welche früher mehrfach hypnotisch behandelt worden wir,
wünschte einen Versuch mit Hypnose durchaus. Mutter und Schwester sind eben-
falls hysterisch.
L Sitzung: A. 20. Y . 96, 6 Uhr Nachmittags. Anwesend Dr. Y . und idt
Patientin liegt auf einer Chaise longue, zeigt grosse Unruhe und Aengstlichkeit,
zuckt von Zeit zu Zeit am ganzen Körper' krampfhaft zusammen und wirft sieh
jeden Augenblick hin und her.
1. Yersuch. Dr. Y. ohne Händeauflegen. „Legen Sie sich ganz bequem. . .
Sie können ganz ruhig liegen . . . immer länger werden Sie liegen können, ohne
sich herumwerfen zu müssen . . . versuchen Sie es einen Augenblick . . . so . . .
es geht ganz schon . . . nun ist es fertig . . .*^ Dauer wenige Secunden. „Sehen
Sie, es wird schon gehen, haben Sie nur Muth und Yertrauen.**
2. Yersuch. „Es geht schon besser ... Es kommt keine Aufregung und
Unruhe mehr über Sie . . . immer ruhiger werden Sie.** Patientin zuckt wieder
angstvoll zusammen, bedeckt die Hände mit dem Gesicht und wendet sich sb.
„Liegen Sie ganz ruhig, es wird schon gehen . . . Sagen Sie sich selbst innerlich
vor , dass Sie ruhiger werden . . . die Ruhe wird immer länger dauern . . .
— Schluss — '*^ Dauer einige Secunden.
3. Yersuch. „Diesmal werden Sie noch länger ruhig liegen können ... es
gelingt Ihnen schon besser . . . keine Angst haben ... so recht ruhig bleiben . . .
(wiederholtes Auffahren). Schluss*^ Dauer wie vorhin.
4. Yersuch. Wir werden es nochmals versuchen, es wird schon besser gehen
. . . „Liegen Sie wieder ruhig und schauen Sie mich an . . . nur einen Augen-
blidc . . . so . . . immer länger wird die Ruhe dann . . . immer länger und tiefer
. . . sprechen Sie innerlich nach, Sie werden ganz' zur Ruhe kommen, schauen Sie
mich fest an ... es gelingt schon. '^ Sie wird plötzlich erregter, erklärt es gehe
heute nicht. Die Sitzung wird abgebrochen.
U. Sitzung: A. 21. Y. 96. Dieselben äusseren Yerhältnisse. Ohne Fliiren.
1. Yersuch. „Sie sollen nicht schlafen, Sie sollen nur ruhig werden . ..
es wird Ihnen immer leichter werden, ruhig zu sein, mit der Zeit kommen Sie
-dann tiefer hinein ... so nun sehen Sie, wie es schon geht . . . inmier besser
lernen Sie sich beherrschen, die Aufregung hört auf und diese Zuckungen Issseo
nach . . . So, es geht ganz gut . . . nun dürfen Sie sich bewegen. **
2. Yersuch. „Wieder versuchen, Ruhe zu halten ... es geht immer leichter,
-die Spannung lässt nach ... es kommt allmählich etwas Müdigkeit über Sie . . .
eo, das wird sich steigern, Sie werden ganz müde . . . ganz müde und ruhig . . >
(Pause von 10".) Schluss."
3. Yersuch: „Nun wird es immer weiter gehen . . . die Glieder werden
ruhiger, es kommt Schwere in die Glieder und Schwere in die Augen ... die
Augen werden müde, fühlen Sie das?" . . . „Nein, ich fühle gar nichts, ich bin
so aufgeregt." — „Sie können doch immer längere Zeit ruhig liegen, die Aufregungen
werden seltener, sie werden bald ganz fortbleiben, so dass Sie schlafen lernen.'*
4. Yersuch. Suggestion wie oben: Ruhe und grössere Beherrschung,
Schwere der Augenlider und der Glieder, Müdigkeit. Unterbrechung der Sitzung
nach 5 Minuten mit der Yersicherung, dass es von Tag zu Tag besser gelingen
werde. Einen Einfluss hat Patientin noch nicht gespürt.
Zur Methodik der hypnotiichen Behandlung. 34X
«
III. Sitzung 22. Y. Wie oben gans kurze Einzelversuche durch Fau3en
unterbrochen, die Suggestionen werden spärlicher gegeben und folgen sich in
längeren Zwischenräumen.
1. Versuch: Suggestionen der Ruhe und Müdigkeit in den Augen.
2. Versuch: Dasselbe: Ruhe, Müdigkeit, „die Augen werden müde und sich
bald von selbst schliessen.''
3. Versuch: Immer mehr Ruhegefühl, Müdigkeit des Körpers, „Athmen Sie
ganz regelmässig und tief.** (30 Secunden Pause.) „Die Ruhe hält immer länger vor
... es wird Ihnen ganz angenehm , . J^
„Sind Sie schon müde?" „Nein, ich fühle nichts".
4. Versuch: „Schliessen Sie die Augen von selbst . . . Sie werden dann
noch ruhiger (Pause bei geschlossenen Augen). Oeffnen Sie die Augen wieder und
athmen Sie ruhig und tief dabei, dann werden Sie nicht ängstlich werden . . .
so keine Aufregung" (Augen offen. Pause). — Patientin yerhält sich ruhig. Die
Augen fallen wieder von selbst zu. — „Sind Sie müde geworden?" „Nein". — „Dann
kommt jetzt mit der Ruhe immer deutlicher auch Müdigkeit ... die Aufregung
schwindet immer mehr, athmen Sie gleichmässig tief." — Pause 20 Secunden. Plötz-
liches angstvolles Auffahren mit Gesichtsverzerrung. Ablenkung durch einfache
Fragen aus der Pflanzenphysiologie. Mehrere Minuten Ruhe, dann wieder plötz-
liches Zukneifen der Augen und Erregung.
5. Versuch: Es wird versucht, das Entstehen des Wärmegefühles und deu
Augenschluss durch Auflegen der Hand auf die Stirne zu unterstützen. Patientin
zeigt dabei grosse Erregung, bedeckt das Gesicht mit ihren Händen, wendet sich
mit dem Ausdruck des Absehens ab, sträubt sich aufs Lebhafteste gegen jede Be-
rührung durch Dr. V. — „Warum sträuben Sie sich dagegen?" „Ich weiss nicht". —
„Dann schliessen Sie die Augen von selbst und es kommt so die Ruhe über Sie."
— Anhaltende Unruhe. Examen über allgemeine Physiologie aus dem Thier- und
Pflanzenreich. Beruhigung tritt ein.
6. Versuch: Einfache Suggestionen der Ruhe, Behaglichkeit und des Augen-
schlusses. Die Augen bleiben activ geschlossen und es besteht einige Zeit Ruhe
ohne Ablenkung. — „Oeffnen Sie die Augen wieder und Sie werden jetzt bei
offenen Augen meine Hand auf der Stirne ertragen können." Hand aufgelegt.
Lebhaftes Sträuben und Abwehrbewegungen. Die Hand bleibt liegen, es tritt ein
allgemeines Zittern im Körper ein, das sich allmählich verliert und grössere Ruhe
erreicht, trotz aufgelegter Hand. — »^^ Ihnen die Hand noch so unangenehm ?"
„Sie war noch sehr unangenehm, ich fühlte sie wie einen electrischen Strom und
als ob sie sich bewegte, aber sie war nicht so unangenehm wie das erste Mal."
7. Versuch: Suggestion der Ruhe, tieferen Athmung und Toleranz gegen die
Hand. Ständige kurze Zuckungen am ganzen Körper, so lange die Hand von
Dr. V. auf der Stirne ruht ; Patientin sucht die Hand immer wieder fortzunehmen.
Es wird nun die Suggestion der Toleranz gegen eine andere Hand erteilt : — „Sie
werden jetzt die Hand von Dr. B. ganz gut ertragen, es wird kein Unbehagen
und keine Angst eintreten, Sie werden sich gar nicht gegen diese Hand sträuben."
— Diese Suggestion realisirt sich sofort.
8. Versuch: Ich nehme den Platz von Dr. V. ein, lege die Hand auf die
Stirne der Patientin und schliesse einige allgemeine beruhigende Suggestionen an :
„Sie werden jetzt die Berührung meiner Hand auf der Stirne immer ertragen, die
Zeitschrift für Hypnotismus. X. 23
342 ^- firodxnanD.
Berührunf^ bringt Umeo eine angenehme Wärmei die Wärme geht von der Stirne
auf die Augen über, es tritt eine behagliche Buhe im Kopfe ein. Fahlen Sie
die Wärme und Ruhe?" „Ja." — n^^® Augen werden Ihnen schwerer, Sie
werden müde im Körper und haben Verlangen einzuschlafen." — Patientin schliesst
die Augen spontan. — „Warum schüessen Sie die Augen?" „Ich weiss nicht, ich
kann nicht widerstehen." — „Die Augen bleiben jetzt geschlossen und Sie werden
immer müder und schläfriger im ganzen Körper." — Schläfrigkeit und allgemeine
Müdigkeit wird nicht realisirt, dagegen lässt sich suggestiv ein Wärmegefühl in
der rechten Hand erzeugen, das schliesslich auf den Oberarm übergeleitet werden
kann: „Ich lege meine Hand auf Ihre rechte Hand, dann wird durch die Be-
rührung bald eine deutliche Wärmeempfindung entstehen . . . die Wärme wird
jetzt ganz deutlich, immer deutlicher . . . fühlen Sie schon?" „Nein" — „Ich lasse
die Hand länger liegen, dann überträgt sich die Wärme allmählich auf Ihre
Hand und Sie empfinden die Hand wärmer als die linke . . . das wird jetzt ganz
deutlich . . . achten Sie darauf, dann fühlen Sie es . . . haben Sie die Wärme?"
„Ja". — „Nun wird sich die Wärme langsam ausbreiten, die Wärme strahlt auf
den Arm aus, geht TOn der Hand auf den Vorderarm über, Sie fühlen ganz
deutlich, wie die Wärme sich ausbreitet, rechts empfinden Sie ihren Arm wärmer
als links, ist es nicht so ? „Doch, ich habe eine Wärmeempfindung im Vorderarm.'^
— »Nun wird durch die Wärme der Arm auch schwerer, es kommt eine grosse
Schwere in den rechten Arm, so dass sie ihn kaum hochzuheben vermögen, der
linke Arm ist federleicht dagegen . . . probiren Sie es . . . die Schwere ist rechts
ganz deutlich . . . Sie werden deutlich den Unterschied merken." — Patientin macht
den Versuch und g^ebt an, den rechten Arm kaum bewegen zu können, er sei
wie gelähmt. Ein Versuch, dieselbe Erscheinung suggestiv auf den linken Arm zu
übertragen, misslingt, auch allgemeine, auf den ganzen Körper bezügliche Sug-
gestionen der Müdigkeit und Schläfrigkeit werden nicht realisirt. Patientin liegt
jetzt seit 5 Minuten ganz ruhig, Krampfbewegungen sind nicht mehr au^etreten.
Ich beende diesen Versuch mit der nachdrücklichen Suggestion: „Dasselbe, was
durch meine Einwirkung eingetreten ist, wird jetzt auch durch Dr. V. gelingen.
Sie werden die Berührung der Hand von Dr. V. ohne jedes unangenehme Geföhl
ertragen, er wird die Hand auf Ihre Stirne legen können, ohne dass Sie Angst
bekommen und sich abwenden müssen. Oeffnen Sie die Augen."
9. Ve r s u ch : Die Stirnhand wird ertragen ohne Angst und Abwehrbewegungen.
„Weshalb ging das früher nicht?" — „Ich weiss nicht, es war mir ausserordentlich
unangenehm, abscheulich sogar, so dass ich es nicht aushalten konnte, Angst hatte
ich eigentlich nicht." — Detaillirte Suggestionen der Ruhe, der Wärme, der Schwere
in den Lidern und des Augenschlusses realisiren sich jetzt, Suggestionen all-
gemeineren Inhalts, wie Müdigkeit, Schläfrigkeit, Einschlafen werden dagegen
nicht verwirklicht.
In den zwei ersten Sitzungen war die Kranke, wie wir gesehen
haben, völlig refractär geblieben. Beständige Unruhe in Form Ton
hysterischen Abwehrzuckungen und lebhafte Affectausbriiche rer-
hinderten das Wirksamwerden der Suggestionen. Abgesehen Ton einem
einmaligen spontanen Augenschluss, der ebenfalls auf eine afifectrolle
Zar Methodik der hypnotischen Behandlung. 343
Vorstellung zurückzuführen ist, war das Einzige, was erreicht werden
konnte, ein grösserer Grad Ton Selbstbeherrschung und willkürlichem
Zwang zur Ruhe. Am Schluss der zweiten Sitzung gelang es der
Patientin, sich wenigstens Bruchtheile einer Minute regungslos zu ver-
halten, ohne dass Erampferscheinungen störten. Die dritte Sitzung
bot zunächst dasselbe fiild. Vorübergehende Beruhigung konnte durch
Ablenkung (Zwischenfragen indifferenten, wissenschaftlichen Inhalts)
erreicht werden. Die Intoleranz gegen jede Berührung seitens des
hypnotisirenden Arztes in Folge unmotivirter Unlustaffecte — wie
später angegeben wurde, in Folge vorgefasster Abneigung gegen den
Arzt — machte im Cebrigen alle Suggestionen illusorisch. Erst durch
einen Wechsel in der Person des Hypnotisirenden wurde die unüber-
windliche Abneigung gegen die Stirnhand beseitigt und die Toleranz
. verbalsuggestiv auch für Berührungen durch Dr. V. übertragen. Damit
gelangen dann auch eine Reihe von Detailsuggestionen und Patientin
kam in einen leichten Grad von hypnotischer Bewusstseinseinengung ;
insbesondere gelang die Beseitigung der angstvollen Erregung und der
dadurch hervorgerufenen hysterischen Zuckungen, es gelang suggestiv
locale Wärme- und Schwereempfindungen zu erzeugen und dadurch
der Patientin das Bewusstsein der Beeinflussbarkeit zu geben. Schliess-
lich vermochte Patientin längere Zeit in einem Zustand behaglicher
Ruhe zu liegen.
IV. Sitzung 23. V.
1. Versuch. Suggestionen: Ruhig in die Augen sehen und dann Augen
schliessen. — Realisirt sich. — Toleianz gegen die Stirnhand. — Es erfolgt wie
früher heim Versuch die Hand aufzulegen, heftiges Abwehren des Kopfes, all-
gemeines schreckhaftes Zusammenzucken der Glieder, ängstliches Verzerren des
Gesichtes und stossweise forcirte Athmung. — »Was haben Sie?'' Keine Antwort.
— Suggestionen der Beruhigung, des Schwindens der Aufregung und der Zuckungen.
„Athmen Sie gleichmässig, ruhig und tief, wie ich zähle ... 1... 2... 3... achten
Sie nur auf Ihre Athemzöge . . . 4 . . . 5 . .** — Rasche Beruhigung, mehrere Minuten
ruhiges Daliegen, nur einmaliges Zusammenfahren, dann wieder Ruhe. Wecken
nach 5 Minuten: „Oeffnen Sie die Augen, Sie sind wieder wach und werden
nachher noch tiefer zur Ruhe kommen . . 1, 2, 3!*' — „Es war mir viel besser, ich
konnte mich mehr zusammennehmen und bekam keine Angst mehr."
2. Versuch. Suggestionen: Ruhigliegen und Augenschluss. — Augenschluss
spontan, einige Secunden Ruhe, dann angstrolles Auffahren. — Suggestionen tieferer
Ruhe und Lösung der Spannung, grösseres Behagen im Liegen. — Es tritt sofort
wieder Ruhe ein. Wecken nach 3 Minuten. — „Es war mir zum Schlüsse ganz
behaglich, ich war ruhig geworden, ich hätte die Augen noch öffnen können, aber
•es kostete mir keine Mühe, mit geschlossenen Augen zu liegen.''
23*
S44 K. Brodmmnn.
8. V e r 8 u eh. DetaiUirteB Suggferiren der einselnen Momente des Angenichlnascs:
Wärme, Schwere in den Lidern, Zaaammensiehen der Lider, Trabong des Blickes,
Verschwimmen der Gegenstände, Müdigkeit der Augen, Zufallen der Lider. — Nseh
Secunden realisirt, keine Zuckungen mehr beim Augenschluss, Ruhe 3 Minuten.
Wecken. — „Ich habe selber das Gefühl, dass, wenn sich der Zustand noch Ter»
tieft, ich dadurch grosse Erleichterung b^äme.^
4. Versuch. Einmalige Suggestion des Augenschlosses. — Beaüoirt; korns
Zittern des Körpers. — Suggestionen der körperlichen Kühe und des Behagens,
Verlangen nach ruhigem Liegen und Erleichterung dadurch. „Es kommt jetzt
auch eine behagliche Buhe Ihres Geistes . . die Gedanken werden träge und gehen
durcheinander . . Sie mögen gar nichts mehr denken . . es wird Ihnen mehr und
mehr gleichgiltig . .^ — Ruhe 3 Minuten. Wedcen. — „Es war mir angenehm,
ich konnte auf Ihre Worte hören und wurde ruhiger dabei. Schläfrigkeit habe ich
nicht gefühlt.*'
5. Versuch. Nur kurze Ruhe auf Suggestionen, dann allgemeine Unruhe
und Zuckungen. — „Warum unruhig?" „Ich habe eine Bewegung von Ihnen
bemerkt und gefürchtet, dass Sie mich berühren wollen . . das war mir so unan*
genehm, dass mich die Krämpfe befielen.** —
6. Versuch. Suggestionen: Dauerndes Schwinden dieser Angst vor Be«
rührungen, angenehme körperliche und geistige Ruhe, keine Aufregungen mehr,
zunehmende Schläfrigkeit. — Ruhe 5 Minuten. Wecken. — „Es war mir jetzt
sehr angenehm."
Nochmalige Belehrung und Aussprache im Wachen, beruhigende Versiche-
rungen. Patientin bestreitet aber noch, beeinflussbar zu sein.
V. Sitzung 25. V. Vormittags. Stirnhand ohne Fiziren.
1. Versuch. Suggestionen der Stirn wärme, des Augenschlusses und Rnhig-
liegens. — Augenschluss erfolgt spontan sofort, anfänglich ruhig, dann Erregung
mit couTulsivischen Zuckungen. — „Warum aufgeregt?" „Ich weiss nicht recht . .
ich fühle mich überhaupt in den letzten Tagen nicht wohl."
2. Versuch. Suggestionen: Augenschluss, Schwinden der Unruhe und der
Zuckungen, Schwinden der Aengstlichkeit, grösseres Vertrauen und grössere Selbst-
beherrschung. — Bei jeder Bewegung des Experimentators angstvolles Zusammen-
schrecken. Scharfe Rüge: „Nehmen Sie sich etwas mehr zusammen, Sie könnten
sich etwas mehr beherrschen, Sie müssen nur wollen, über die Angst Herr zu
werden, dann gelingt es schon." — Suggestionen: Ruhig liegen können, Selbst-
beherrschung, Wiederkehr der inneren Beruhigung und längeren behaglichen
Liegens, tiefe gleichmässige Athmung. — Rasche Beruhigung tritt ein. Aufwecken
nach 3 Minuten: „Es ist mir jetzt besser."
3. Versuch. Suggestionen: Nachlassen aller Spannungen, Nachlassen der
Zuckungen, Gleichgiltigkeit gegen Geräusche und Bewegungen. — n^^^ ^^ Ihnen
jetzt!" „Der Zustand ist mir bereits angenehmer, oder vielmehr weniger onan-
genehm." — „Sie werden immer energischer wollen können, gegen diese unbegründete
Angst und Erregung anzukämpfen, Sie brauchen nur zu wollen, dann kommt auch
die Kraft, die Aufregungen und Anfälle in der Hypnose zu unterdrücken, dann
werden Sie auch tiefer in die Hypnose gelangen. Wie fühlen Sie sich jefet?"
„Der Zustand, in dem ich mich befinde, ist angenehmer wie vorher, aber immer
noch unangenehm aufregend . . es ist, wie wenn Alles in mir erstarrte.** — Suggestion :
Zur Methodik der hypnotischen Behandlung. 346
^^etst sehwindet der letzte Best dieses Unangenehmen . . die Starre im Innern
löst sich . . es wird recht wohl und behaglich^ wie ist der Zustand jetzt?" -^ JDi«
Starre ist beinahe gelost." — JSie verbinden von nun an mit der Vorstellung der
Hypnose stets die Vorstellung dieses Buhezustandes, des Aufhorens aller Aengst-
lichkeit und Spannungen, der Behaglichkeit und Lösung." — Längere Buhe. —
^ Jetzt ist yöllige Buhe eingetreten ... ^ie ist Ihnen jetzt?" — n^^^ Zustand ist
mir nicht mehr unangenehm, es ist mir jetzt wirklich angenehm in der Buhe." —
Sohlusssuggestionen : Wohlbefinden, gesteigerter Appetit, Schwinden des Wider-
willens gegen die Nahrungsaufnahme, tiefere Hypnosen in den folgenden Sitzungen.
— Wach. — „Es ist mir jetzt viel besser und ich fühle mich leichter."
VI. Sitzung 26. V. Nachmittags. Stirnhand ohne Fixiren.
1. Versuch. Suggestionen : Buhe, Behagen wie Vormittags, keine Zuckungen.
— Binige kurze Zuckungen und Torübergehendes Zittern im Körper mit ängst-
lichem Gesichtsausdruck, sonst ruhig. — Wach. — „Ich glaube, dass ich ruhig
werde."
2. Versuch. Suggestionen wie oben: rascher Eintritt der Beruhigung,
längere Buhe. — Mehrere Minuten absolute Buhe. — „Es wird mir schon be-
haglicher."
3. Versuch. Suggestionen: Dauernd ruhig liegen können, keine Störung
der Buhe durch ängstliche Vorstellungen, Verlangen nach tieferer Buhe und nach
Schlafenkönnen. — „Ich habe gut geruht und keine Angst mehr gehabt, es war
mir ganz angenehm."
4. Versuch: „Sie werden jetzt jedesmal sofort in diesen Zustand der an-
genehmen Buhe mit körperlicher Lösung gelangen . . Sie verbinden die Erinnerung
an diesen Zustand mit der Vorstellung des Hypnotisirtseins . . Sie werden immer
tiefer und momentan in diesen hypnotischen Zustand hineinkommen und jedesmal
Erleichterung fühlen . . dadurch wird Ihnen die Hypnose allmählich zu einem
wohlthnenden und erquickenden Zustand des Ausruhens . . Sie fühlen sich stets
besser danach . . Sie werden allein in dieser Buhe verharren können und dabei
tiefer in einen Schlafzustand kommen, das Bewusstsein schwindet Ihnen zeit-
weise . . Sie vergessen sich ganz und lernen immer länger schlafen . . Nun sollen
Sie ruhig schlafen bis ich Sie wieder wecke." — Entfernung der Stirnhand. Dr. V.
verlässt seinen Platz neben der Patientin, bleibt aber im Zimmer. 10 Minuten
ruhiges Liegen, nur vorübergehend ängstliche Spannungen im Gesicht, dann Wecken.
„Es war mir zeitweise sehr angenehm, ich konnte mich vergessen, nur einmal
wurde ich unruhig und fürchtete, dass es vorüber wäre, ich konnte mich aber
wieder beherrschen. Es ist mir wohler als vorher."
Vn. Sitzung 26. V.
1. Versuch. Kurze Buhe ohne Anfall. „Es war mir bereits behaglich."
2. Versuch. Tiefere Buhe, unterbrochen durch einen Erregungszustand,
der sich mit wenigen Suggestionen coupiren lässt.
3. Versuch. 16 Minuten ruhiges Liegen. Während der Hypnose noch
Spannung im Gesicht, Ck>ntraction der Corrugatoren. Beseitigung der Stirnfalten
durch einige Suggestionen in Verbindung mit Streichen der Stirne. Toleranz gegen
Berührungen.
Vni., IX. und X. Sitzung wie VII. Stets Buhezustand, aber mit dem Gefühl
der Activität, oft noch active Gontraction der Stirnmuskeln, vorübergehendes Ver-
346 K* Brodmann.
zerren des Gesichtes und leichter universeller Tremor : „Ich muss mich zusammen*
nehmen . . aber es ist mir nicht unangenehm/*
XI. Sitzung 29. Y. Weiter gekommen in der Beeinflussung.
1. Versuch: Suggestionen des Schwindens der Activität, Gefühl der passiven
Buhe, des körperlichen und seelischen Ausruhens, Gefühl der Erholung und Er-
frischung durch die Ruhe. — ,Jch habe noch etwas kämpfen müssen, die Angst
wollte wieder kommen.^' —
f 2. Versuch. Dieselben Suggestionen, Schwinden dieser grundlosen Aengst-
lichkeit, Ruhe wie im Halbschlaf, Ausbildung eines Schlummerzustandes mit Ver-
gessen der Umgebung und Abstumpfung gegen Geräusche. — „Es war jetzt kein
Gefühl der Anstrengung mehr dabei, aber bei jedem Geräusch fürchtete ich, einen
Anfall zu bekommen.*'
3. Versuch. Suggestion der schläfrigen Ruhe mit Gefühl der Passivität^
Indifferenz gegen Geräusche. ,Jch werde jet^t absichtlich ein Geräusch machen
und Sie werden nicht zusammenschrecken und sich ganz gleichgiltig dagegen ver-
halten können.*' — Wird realisirt: „Es war mir ganz gleichgiltig." — Weiter-
schlafen ohne jede Anspannung, — Nach 7« Stunde Wecken. — „Ich habe ange-
nehm gelegen ohne Anstrengung."
XII — XIII. Sitzung. Patientin wird täglich zweimal hypnotisirt. Kommt
jeweils auf kurze Zeit in denselben Zustand passiver Ruhe, der gelegentlich durch
schreckhaftes Zusammenfahren gestört wird; in eine tiefere Hypnose oder einen
wirklichen Schlaf gelangt sie nicht.
XIV. Sitzung. Hypnotisirung nach demselben Verfahren wie bisher..
Patientin bleibt heute einige Zeit allein liegen, nachdem Dr. V. wieder in das Zimmer
zurückkommt, ist sie eingeschlafen. Der Schlaf ist so tief, dass ein Rapport nicht
mehr besteht und daher auch das Aufwecken nicht ohne Weiteres gelingt.
Patientin erhält unter sanften Streichungen der Stirne die Suggestion, dass sie
ruhig weiterschlafen und durch nichts gestört werde, sobald sie sich wohl fühle,
werde sie von selbst aufwachen ; dieselben Suggestionen werden noch öfters wieder-
holt, Patientin liegt dabei völlig reactionslos; nachdem der Schlaf etwa 3 Stunden
gedauert, schlägt sie spontan die Augen auf und erwacht. Es besteht absolute
Amnesie auch für die ungefähre Dauer des Schlafes.
Von dieser Sitzung ab tritt sodann in jeder folgenden Hypnose ein mehr
oder weniger tiefer Schlaf ein, ohne dass aber jetzt das Rapportverhältniss ver-
loren geht, die Hypnosen nehmen vielmehr einen normalen Verlauf und werden
im Sinne eines protrahirten Schlafes angewandt.
Das Eintreten eines tiefen Hypnosezustandes nach einer ganzen
Beihe von Sitzungen, in denen nur eine sehr oberflächliche Hypnose
erzielt worden war, welche bei der Patientin selbst nicht das Gefühl dos
Hypnotisirtseins hinterliess, muss in dem eben geschilderten Falle
wiederum auf eine aflfectstarke Suggestion zurückgeführt werden. Wie
eine nachträgliche Analyse in der Hypnose ergab, war Patientin aus
Angst vor der Hypnose im Anfange nicht zu hypnotisiren gewesen.
Dazu kam, dass sie gegen Dr. Vogt von vornherein ein Vorurtheil
\
Zur Methodik der hypnotischen Behandlung. 347
gefasst hatte und darum seine Stirnhand nicht duldete. In den folgenden
Hypnosen kämpfte sie nun ständig mit der Angst, dass sie einschlafen
könnte und kam daher nie zur tiefen Hypnose. Schliesslich gewann
die affectstarke Angstvorstellung, sie könnte einschlafen, eine solche Ge-
walt, dass sie nicht mehr hemmend, sondern direct bahnend auf die
Schlafvorstellung wirkte und nunmehr kam es zu einem abnorm tiefen
pathologischen Schlaf (Lethargus) mit Verlust des Rapportes. Von da
an war nun aber auch in Folge des einmaligen Schlafens die Angst-
hemmung beseitigt, und es stand der weiteren Verwirklichung der
Schlafsuggestionen nichts mehr im Wege.
2. Die Gestaltung einer hypnotischen Behandlung.
Nach eingeleiteter Ersthypnose hängt die Fortführung und der
Verlauf einer hypnotischen Behandlung von vornherein von einer Reihe
von Factoren ab, auf welche der Arzt keinen oder nur indirecten Ein-
fluss hat, von der Art der Krankheit, der Individualität des Kranken,
den socialen Verhältnissen und Lebensgewohnheiten des Kranken. In
Fällen, wo eine hypnotische Dauerbehandlung in Frage kommt, können
diese Momente unter Umständen für die Methodik eine entscheidende
Rolle spielen. Ferner ist in den Arbeiten über Hypnotherapie viel
die Rede gewesen von einer zunehmenden Abstumpfung der therapeu-
tischen Wirksamkeit der Hypnose und von einer Verminderung der
Hypnotisirbarkeit überhaupt. Dieser Auffassung können wir uns nicht
anschliessen. In Fällen, wo die Unterbrechung einer hypnotischen
Cur angerathen erscheint, weil die erwarteten Erfolge ausbleiben,
wird man bei näherer Betrachtung finden, dass nicht Abschwächung
der psychischen Beeinflussbarkeit, im besonderen der Suggestibilität
oder Verlust der Hypnotisirbarkeit es ist, was die Hypnosen
therapeutisch unwirksamer macht, sondern irgend welche individuell
störenden, mit der Hypnose als solcher nicht zusammenhängende
Factoren, wie Mangel an Geduld seitens der Kranken, Ueberdruss an
der Hypnose und dadurch bedingter Widerstand, Autosuggestionen,
welche den therapeutischen Fremdsuggestionen hemmend entgegen-
wirken u. A. Gelingt es, solche schädlichen Momente nachzuweisen
und zu beseitigen, so wird auch in derartigen Fällen die Hypnose
nach wie vor wirksam bleiben.
Die therapeutische Wirksamkeit der Hypnose kann nun entweder
eine directe oder eine indirecte sein, und je nach den vorliegenden Indi-
cationen wird ein Hypnosezustand bald in diesem, bald in jenem Sinne
348 K. Brodmann.
Anwendung finden. Als directes Heilmittel kommt die Hypnose io
Betracht, wenn durch den hypnotischen Schlaf als solchen eine thera-
peutische Wirkung ausgeübt wird, ein indirectes Heilverfahren dagegen
stellt sie dar, wenn die hypnotische Bewusstseinseinengung dazu dient,
entweder die psychische Beeiniiussbarkeit eines Kranken zu erhöhen oder
andererseits die Möglichkeit einer Psychoanalyse zu erweitem. Diese
Terschiedenen Anwendungsformen der Hypnose erfordern nunmehr eine
getrennte Besprechung.
A. Die Hypnose als tkerapentlscher Seklaf.
Als ein Zustand des Schlafes findet die Hypnose, wie mehrfach
erwähnt, in dreifacher Weise therapeutische Verwendung, 1. als Dauer-
schlaf, 2. als periodischer Schlaf zur Verhütung von Erschöpfung bei
pathologisch gesteigerter Ermüdbarkeit und 3. als gelegentlicher Schlaf
zur Verhütung drohender oder zur Unterdrückung vorhandener An-
fälle (Krämpfe, Schmerzen, Gemüthsbewegnngen).
a. Der hypnotische Dauerschlaf und protrahirte Schlaf.
unter hypnotischem Dauerschlaf verstehen wir im Gegensatz zu
Wetterstrand im Allgemeinen nicht nur einen über Tage und
Wochen sich hinziehenden ununterbrochenen Hypnosezustand, sondern
jeden protrahirten hypnotischen Schlaf überhaupt, der sich über beliebige
Stunden ausdehnt und durch wache Zwischenzeiten unterbrochen wird.
Der Hauptnachdruck bei einer hypnotischen Schlafcur ist unserer
Meinung nach nicht auf die anhaltende Dauer des Schlafes, sondern
auf die Steigerung des Schlafquantums zu legen. Der hypnotische
Dauerschlaf wird also nicht nur in Verbindung mit absoluter Bettruhe
indicirt sein, wenn man z. B. ein hochgradig erschöpftes oder erregtes
Nervensystem rascher kräftigen bezw. beruhigen will, als es durch ein-
fache Bettruhe möglich wäre, sondern er kann, nach unserer Erfahrung,
eine dankbare und vor Allem viel häufigere Anwendung in allen den
Fällen finden, wo der Nachtschlaf aus irgend welchen Gründen nicht
ausreicht. In der Praxis lassen wir solche Kranken zu uns in die
Sprechstunde kommen, schläfern sie kurz ein und überlassen sie einige
Zeit sich selbst; sie verfallen dann regelmässig in einen tiefen allge-
meinen Schlaf. Natürlich wirkt hier der durch Hypnose und aus der Hyp-
nose entstandene Schlaf nicht nur dadurch, dass er einer durch Mangel an
Schlaf bedingten schwereren Erschöpfung vorbeugt, sondern zugleich
auch als bahnendes Mittel für den Eintritt des physiologischen Nacht«
Zur Methodik der hypnotisoben BehandluDg. 349
schlafe. Solche Kranken lernen, nachdem sie mehrmals in der Hyp-
nose eingeschläfert sind, sehr bald wieder spontan einschlafen. Es ist
dies ein Ausdruck der allgemeinen psychologischen Thatsache, dass
wiederholte Erregung einer Bewusstseinserscheinung die Erregbarkeit
derselben steigert; wir haben es hierbei mit einer auf Wiederholung eines
psychophysischen Vorganges beruhenden, als üebung und Gewohnheit
bezeichneten Wirkung auf dem Gebiete des Schlafes zu thun.
Ein Beispiel eines solchen prolongirten hypnotischen Schlafes ist die bereits
erwähnte Kranke H. (pag. 319). Jn der ersten Sitzung trat, wie wir sahen, ein
somnambules Stadium der Hypnose ein. Die weitere Behandlung gestaltete sich
nun derart, dass neben Üeberernahrung Dauerschlaf und möglichst absolute Bettruhe
Verordnet wurde. Die erste Zeit wurde Patientin im Bett hypnotisirt, zuerst frfih
9 Uhr, nachdem sie ihr Frühstück eingenommen hatte. Der Schlaf stellte sich
stets nach einigen Suggestionen oder auf die einfache Versicherung: „Sie schlafen
wieder, bis Sie geweckt werden^ ein und dauerte bis zur Hauptmahlzeit um
12 Uhr. Anfangs was es nöthig, dass der die hypnotische Behandlung leitende
Arzt beim Aufwecken zugegen war, später genügte die Suggestion: „Sie werden
am die und die Stunde von selbst aufwachen'', um das Erwachen pünktlich und
ohne unerwünschte Nebenerscheinungen eintreten zu lassen. Patientin blieb
1 Stunde wach, wurde dann wieder eingeschläfert, um den ganzen Nachmittag
durchzuschlafen. Abends war sie etwa 2 Stunden ausser Bett, dann erhielt sie
für die Nacht einige Suggestionen und verbrachte wieder die ganze Nacht
schlafend zu. Die ersten 14 Tage schon erholte sich Patientin körperlich und
psychisch so erheblich, dass zweimal täglich ein zweistündiger hypnotischer Schlaf
ausreichte.
Der Hypnose kommt in diesem Falle ausschliesslich die Bedeutung
eines therapeutischen Dauerschlafes zu. Specielle therapeutische Sug-
gestionen wurden zwar ab und zu ertheilt, um das gelegentlich wieder-
kehrende Krampfgefühl im Magen momentan zu beseitigen. Im
üebrigen aber ist die rasche Genesung wohl grösstentheils auf den
günstigen Einfluss des prolongirten Schlafes zurückzuführen, wenn man
auch nicht in Abrede stellen kann, dass bei dem äusserst suggestibeln
Geschöpf Autosuggestionen eine therapeutische Rolle mitgespielt haben.
Eine Complicationswirkung liegt vor, wenn ein hypnotischer Dauer-
schlaf zugleich zur Unterdrückung von Anfallen dient. Suggestive und
autosnggestive Einflüsse sind bei solchen Kranken, wie man durch hyp-
notische Analyse jederzeit feststellen kann, niemals auszuschliessen. Dies
ist z. B. bei der früher (S. 339 ff.) erwähnten Kranken der Fall gewesen.
Patientin wurde, nachdem einmal in oben geschilderter Weise eine tiefe
Hypnose durch systematische Dressur erzielt worden war, ebenfalls einer Schlaf cur
unterworfen. Sie kam täglich mehreremale in tiefen hypnotischen Schlaf; die
ersten Wochen der Behandlung dauerte der Schlaf jeweils längere Zeit, je nach
350 £• Brodmann.
Umständen 1 — 2 Stunden, später genügte Vi — ^ Stunde; für die Nacht erhielt
Patientin ebenfalls einige kurze Schlafsuggestionen. Schliesslich wurden nur ganz
kurze Hypnosen, als Arbeitspausen ausfüllender Ruhezustand angewendet und in
der weiteren Folge kam Patientin ganz ohne Hypnosen aus und konnte wieder
ihren Studien obliegen.
Der proIoDgirte hypnotische Schlaf übte nicht nur im Allgemeinen
einen kräftigenden Einfluss auf die Qesammtconstitution der sehr
heruntergekommenen Kranken aus, sondern es erwies sich zugleich als
ein wirksames Mittel, die hysterischen Krampferscheinungen, quälenden
Phobien und ängstlichen Erregungen fiir die Dauer des Schlafes fern-
zuhalten. Auf diese Weise gelang es , durch Dauerschlaf die Ejranke
für den grössten Theil des Tages anfallsfrei zu machen. Indem so-
dann durch specielle Suggestionen in der Hypnose allmählich ein post-
hypnotischer Einfluss auf den Wachzustand gewonnen wurde, traten mit
der Zeit auch die Anfälle im Wachen zurück.
Aehnlich liegt die Sache bei den meisten Kranken, bei denen eine
Indication zum hypnotischen Dauerschlaf besteht. Das Verfahren ist
dabei in der Haupsache überall dasselbe, sofern eine Anstaltsbehand-
lung in Frage kommt.
Herr S., 60 jähriger Beamter aus L., hat im Anschluss an eine heftige 6e-
müthsbewegung eine Netzhautablösung erlitten und leidet seitdem an schwerer
hypochondrischer Verstimmung und Schlaflosigkeit. Er hat es vollkommen ver-
lernt einzuschlafen, und wälzt sich Stundenlang aufgeregt im Bett herum, ohne
Schlaf zu finden; selbst der Nachmittagsschlaf, der ihm seit vielen Jahren ein Be-
dürfniss war, ist verloren gegangen. Ich machcT auf Wunsch des Kranken und
der Angehörigen einen Versuch mit Hypnose. Patient nimmt in der Sophaecke,
in der er gcwohnheitsgemäss seinen Verdauungsschlaf zu halten pflegte, halb
sitzend, halb liegend Platz; Stirnhand und kurzes Fixiren in Verbindung mit
detailirten Suggestionen. In der zweiten Hypnose tritt Augenschluss (ohne diesbezüg-
liche Suggestion] ein, ich gebe mit gedämpfter Stimme monotone Schlafsuggestioaen
und verhalte mich dann 10 Minuten bei aufgelegter Stirnhand schweigend. Patient
ist unterdessen tief eingeschlafen und schnarcht. Nach halbstündigem Schlaf
Wecken. Er bestreitet geschlafen zu haben, ist aber erstaunt, so lange gelegen zu
haben. In der nächsten Nacht Schlaf unverändert. Zweite Sitzung am folgenden
Tag. Es tritt nach wenigen Suggestionen sofort wieder tiefer allgemeiner Schlaf
ein. Ich gehe leise hinaus, rufe die Angehörigen herbei und wecke den Kranken
auf. Er ist nun überzeugt, geschlafen zu haben und schläft bereits die nächste
Nacht leichter ein. In den folgenden Sitzungen verbinde ich mit den Schlaf-
suggestionen im Beginne der Hypnose regelmässig die Eingebungen, dass sich in
derselben Weise nun auch der Nachtschlaf wieder einstellen werde, es besteht
aber noch etwa 2 Wochen ein grosser Schlafmangel fort, den ich durch längeres
Liegenlassen in der Hypnose ausgleiche. Allmählich entfalten die hypnotischen
Suggestionen auch posthypnotisch ihre Wirksamkeit, das Bewusstsein, wieder ein-
Zur Methodik der hypnotiachen Behandlung. 351
schlafen zu können, wirkt autosuggestiy bahnend auf den Schlafrorgang und nach
Verlauf von Tagen stellt sich dann regelmässig wieder der Nachtschlaf yon
selbst ein.
Epikritisch ist bemerkenswerth, dass Patient unter den Suggestionen
rasch in einen allgemeinen tiefen Schlaf mit völligem Verlust des Be-
wusstaeins und des Rapportes verfiel. Es handelt sich also nicht um
einen Hypnosezustand, sondern um einen suggestiv ausgelösten Schlaf.
Dieser aus der Hypnose sich unmittelbar entwickelnde allgemeine
Schlaf dauerte zwei Stunden und brachte dem Kranken die im Nacht-
schlaf nicht gefundene Erholung; dadurch wurde einer tiefergreifenden
Erschöpfung des Nervensystems vorgebeugt, bis durch suggestive Nach-
wirkungen der Hypnose dem Kranken allmählich wieder das Ein-
schlafen in physiologischer Weise gelang. In derselben Weise pflegen
wir in der Praxis bei den meisten Formen von Schlaflosigkeit zu ver-
fahren, nachdem einmal die Erstbypnosen eingeleitet sind und eine An-
gewöhnung an den hypnotischen Zustand eingetreten ist.
Der protrahirte hypnotische Schlaf kommt aber therapeutisch nicht
nur in Betracht, wo wir Ersatz für das Fehlen des physiologischen
Nachtschlafes schaffen wollen, sondern auch in den Fällen, wo zu viel
oder zu stark intellectuelle Anstrengung oder lebhafte Affecte oder
nervöse Krisen irgend welcher Art zu einer Erschöpfung geführt haben
oder zu führen drohen. Der Schlaf als intensivste Form der Ruhe
bildet hier selbst in oberflächlichen Stadien allein schon durch das
Fortfallen erschöpfend wirkender intellectueller oder emotioneller oder
somatischer Erregungen das beste Prophylacticum gegen das Umsich-
greifen der Erschöpfung. Die Methodik im Einzelnen und die Durch-
führung einer Behandlung mit protrahirtem Schlafe hat sich auch in
diesen Fällen ganz an das obengeschilderte Verfahren anzuschliessen, es
sei nur nochmals hervorgehoben, dass je protrahirter und tiefer der
Schlaf ist, desto grösser auch seine therapeutische Wirksamkeit ist.
b) Der periodische hypnotische Schlaf.
Die zweite Form, in der die Hypnose als ein Zustand des Schlafens
therapeutische Bedeutung gewinnt, ist der periodische, Arbeitspausen
ausfüllende Schlaf. Wir wenden denselben derart an, dass zwischen die
Arbeitszeiten in kürzeren oder längeren Intervallen wiederholte Schlaf-
pausen eingeschoben werden. Der therapeutische Nutzen periodischer
Hypnosen beruht einestheils auf der kräftigenden Wirkung des Schlafes
überhaupt, anderentheils auf der öfteren, möghchst vollkommenen Ruhig-
353 ^ Brodmamt.
stellnng des Nerrensystenis bei gleichzeitiger Durchführung einer Be-
schäftiguDg. Der Anwendung eines solchen Schlafes sind die weitesten
. Grenzen gezogen bei jeder Art von Reconvalescenten, ferner, io Ver-
bindung mit Beschäftigungstherapie, überall dort, wo es Aufgabe des
Arztes ist, die Lebensweise Constitutionen erschöpfbarer Individuen zu
regeln I oder acut geschwächte und überermüdete Kranke zu einem
grösseren Grade von Leistungsfähigkeit zu erziehen. Dabei bleibt es
in das Belieben des Arztes gestellt, wie er im Einzelnen die Schlafcur
durchführen will; manchmal werden, je nach den äusseren umständen,
kurze und häufige Hypnosen am Platze sein, in anderen Fällen dagegen
ist es rathsamer, nur wenige, aber längere Buhepausen mit Schlaf in
die Tagesarbeit einzuschieben. Bei stärkerer Erschöpfbarkeit und sehr
verminderter Leistungsfähigkeit empfiehlt es sich, wenn man trotz der
Erschöpfung noch ein gewisses Maass von Arbeit leisten lassen will
und nicht den protrahirten Schlaf vorzieht, den Kranken derart zu
erziehen, dass er sich von Zeit zu Zeit selber in einen Schlafzustand
versetzt, in dem er beliebig lange aasruht. Ein derartiges wiederholtes
Schlafen in Form von suggestiv ausgelösten Autohypnosen lässt sich
bei vielen Kranken auch in der Privatprazis durchführen, namentlieh
wenn der Arzt nicht in der Lage ist, ständig den Patienten um sich
zu haben und in seiner Thätigkeit zu überwachen.
Ein typisches Beispiel des periodischen hypnotischen Schlafes ist
das Folgende:
Frl. D. J., Malerin, 36 J., von Jeher Neoropathin, gerieth unter dem EinfltuB
verschiedener schädigender Momente in einen Zustand absoluter Apraxie mit
den Erscheinungen einer nervösen Erschöpfung. Sie ist zur geringsten Arbeitsleistoag
nicht mehr im Stande. Tiefe Hypnose in den ersten Sitzungen, dann zunächst
Schlafcur mit Bettruhe im Sinne des Dauerschlafes, darauf erst, im Stadium der
Erholung, „periodischer Schlaf". Patientin muss sich zunächst darin üben, ohne
Steigerung der Ermüdungserscheinungen ausser Bett zuzubringen; sie hat daher
jedesmal sofort sich niederzulegen und einzuschlafen, sobald sich Anzeichen der
Erschöpfung einstellen. Dies findet im Beginne der Behandlung oft schon nach
7a Stunde statt. Zu diesem Zwecke erhält Patientin in der Hypnose die Ein-
gebung, stets Yon selbst einzuschlafen, sobald sie sich erschöpft fühle, sie brauche
sich nur hinzulegen und langsam bis 20 zu zahlen, dann werde sie mit dem Aus-
sprechen der Zahl 20 sofort in Schlaf versinken. Daa Erwachen erfolge stets eben-
falls von selbst, nachdem der Schlaf 6 Minuten gedauert habe. Dieser Vorgang
der Autohypnose wird zunächst einige Tage vom Arzte überwacht, dann vollzieht
er sich stets automatisch und ohne jede Störung in der gewünschten Weise. Im
zweiten Stadium der Schlafcur werden nun in die schlaffreien Zwischenzeiten ge-
ringste Arbeitsleistungen eingeschoben, die zunächst nur in wenigen Pinselstriehen
oder in einigen Linien an einer Zeichenskizze bestehen. Durch langsame Ver-
Zar Methodik der hypnotiiolien Behandlung. 353
kfoning der Schla&eiten mit entsprechender Steigerung der Arbeitsleistung im
Wachen, kommt Patientin in wenigen Wochen soweit, dass sie wieder im Freien
nach der Natur malen kann, erst nur Bruchtheile Yon Stunden, dann mehrere
Standen nacheinander an einem Tage. Dabei bleibt nach wie yor die Ver-
ordnung bestehen, dass Patientin in grösseren Zwischenräumen, alle 1^8 Stunden
einmal wie früher von selbst einschlafen solle, um das Nervensystem für Momente
zur Ruhe kommen zu lassen. Patientin verhalt sich hierbei folgendermaassen : sie
stützt, auf ihrem Malstuhle sitzend, den Kopf auf eine Hand, schliesst die Augen,
zählt auf 20 und versinkt für Augenblicke in tiefen Schlaf, aus dem sie erfrischt
und mit dem Gefühl der Ejräftigung wieder aufwacht. Später werden auch diese
korzdanemden periodischen Schlafzustände überflüssig und Patientin kehrte wieder
arbeitsfähig in ihren Beruf zurück.
Durch vorsichtige Anpaflsung der Schlafzeiten an das jeweilige Be-
dürfniss uod durch entsprechende Gestaltung der Arbeit mit Bück-
sicht auf das vorhandene Ejräftemaass erreichte diese Kranke bald eine
recht beträchtliche Steigerung ihrer Leistungsfähigkeit. Diese Steige-
rung ist wohl hauptsächlich anf die Vermeidung resp. Yerhütang
stärker hemmend wirkender Ermüdungssymptome durch den stets zur
rechten Zeit sich einstellenden Schlaf zurückzuführen. Natürlich übte
der gehäufte Schlaf in diesem Falle nicht nur eine directe Heilwirkung
als Schlafzustand aus, sondern es verbanden sich mit ihm im Laufe
der Zeit natürlicherweise starke Suggestivwirkungen und sicherlich
auch Autosuggestionen. Der kurze, durch eine suggestiv ausgelöste
Autosuggestion herbeigeführte Schlaf verband sich allmählich mit der
Vorstellung der Erfrischung und grösseren Leistungsfähigkeit und wirkte
im Sinne einer affectstarken Suggestion auf die Kranken dadurch
günstig, dass er deren Selbstvertrauen und Hoffiiungsfreudigkeit hob.
Eiue ähnliche Steigerung der Leistungsfähigkeit auf umschriebe-
nerem Gebiete habe ich bei einem anderen schweren Neuropathen be-
obachtet, ebenfalls unter dem Einflüsse eines wiederholt am Tage herbei-
geführten hypnotischen Schlafzustandes.
Herr F., 25 J. alt, chronische Neurasthenie mit dem Symptombild der
Akinesia algera ; Patient kann, ohne die heftigsten Schmerzen im Rücken, auf der
Brust und in den Schultern zu haben, nur wenige Schritte gehen. Auch das
Sitzen und selbst ruhiges Liegen auf einem Flecke verursacht ihm unerträgliche
Schmerzen. Dieselben Schmerzen hat er in den Augen nach kurzem Lesen. Die
Hypnose erreicht nur die leichtesten Grade psychischer Einengung. Es wird
nun im Laufe der hypnotischen Behandlung, die zunächst zu keinem Erfolg geführt
hatte, der gehäufte periodische Schlaf versucht. Täglich 4—5 mal kurze Hypnosen
mit daran anschliessenden Gehübungen resp. Leseversuchen, Suggestion des Aus-
ruhens sobald Ermüdungsschmerzen stärker werden. Deutliche Fortschritte,
Spaziergänge bis zu ^a Stunde nach einiger Zeit.
354 ^' Brodmann. .
Der die Erschöpfung verhütende wiederholte hypnotische Schlaf
in Verbindung mit dem Moment der Einübung (und selbstverständlich
mit den dem Schlafe associirten allgemeinen Heilsuggestionen) kommt
auch hier darin zum Ausdruck, dass bereits nach kurzer Zeit bei einer
an sich minimalen Leistungsfähigkeit relativ hohe Leistungen, aller-
dings auf ein enges Gebiet beschränkt, erzielt werden.
In etwas anderer Weise kam der periodische Schlaf bei folgendem
Falle zur Anwendung.
Herr B. stud. iar. Nervöse Erschöpfung in Form der Cerebrasthenie in Folge
von Ueberarbeitung durch Vorbereitung zum Examen. Kopf druck, Benommenheit,
verdriessliche reizbare Stimmung, Schlafmangel, besonders quälend das völlige Ver-
sagen der geistigen Kräfte nach kürzester Arbeit (V« stündiges Lesen). Hypnose
zunächst ganz leicht, ohne das Gefühl des Beeinflusstseins, aber mit objectiven
Zeichen des Hypnosezustandes ; einmal täglich Hypnose von etwa '/« Stunde in der
allgemeinen Sprechstunde. Intrahypnotische Suggestibilität mittleren Grades, post-
hypnotische Wirksamkeit der Suggestionen bleibt die erste Zeit ganz aas. Patient
kann nicht einschlafen, weil er zu aufgeregt ist und den Schlaf gespannt erwartet.
Um dieser störenden Selbstbeobachtung entgegenzutreten und ein öfteres spontanes
Einschlafen zu ermöglichen, verfahre ich in folgender Weise. Ich rufe in der
Hypnose ein oft gebrauchtes Phantasiebild hervor, auf das der Kranke seine Auf-
merksamkeit zu fesseln hat; er sieht auf einer Landstrasse eine Schaf heerde auf
sich zukommen und hat nun, wie die Heerde langsam an ihm vorbeizieht, die
Schafe einzeln zu zählen, dabei geräth er in einen Zustand von Zerstreuung
und Apathie, an die sich bald eine tiefere Ruhe und ein Zustand geistiger
Trägheit mit Schläfrigkeit anschliesst. Ich ertheile sodann die Suggestion, dass
sich Patient zu Hause in derselben Weise selber in einen Schlafzustand werde
versetzen können, indem er sich zu genau bestimmter Zeit niederlege und in Ge-
danken an die H3rpnose das eben gesehene Phantasiebild reproducire, er werde
dann bald einschlafen und auch der Nachtschlaf werde sich auf diese Weise rasch
einstellen. Das Experiment gelingt nach einigen Wiederholungen in der Hypnose,
Patient versetzt sich selbst 3 mal täglich in eine vorher nicht gekannte angenehme
Buhe, in der er gedankenlos vor sich hinträumt und zuweilen auch duselig wird im
Kopf (Somnolenz). Der kurze periodische Schlafzustand ist für ihn jedesmal ein
Zustand geistiger Erholung, er kann nachher wieder mit vermehrten Kräften sich
an die Arbeit setzen und hat seine Leistungsfähigkeit bald wesentlich erhöht. Nachts
schläft er mit Hülfe desselben Kunstgriffs, der ihn von dem Vorgange des Ein-
schlafens ablenkt, rascher und leichter ein. Die Hypnose an sich kommt über den
ersten Grad (Hypotaxie) nicht hinaus.
Auch in diesem Falle zeigt sich bei einem erschöpften Nerren-
System die günstige Wirkung des wiederholten kurzen Schlafes an der
Zuuahme der Arbeitsfähigkeit« Man könnte vielleicht einwenden, dass
öfteres Ausruhen im Wachen dieselben Dienste leisten würde, wie diese
Form der periodischen Autohypnose und des periodischen hypnotischen
Zur Methodik der hypnotischen Behandlung. 355
Schlafes. Zugestanden, doch wird Niemand leugnen wollen, dass dem
Schlafe graduell ein tieferer Euhezustand der Nervencentren entspricht
und demnach auch ein höherer Grad der Restaurirung der Nervenkräfte
zukommt, als dem einfachen körperlichen Ausruhen. Dazu kommt,
dass erschöpfte Kranke, Neurastheniker , Hypochonder vielfach nicht
die nöthige Ruhe und Selbstbeherrschung besitzen, um längere Zeit
ruhig zu liegen, wenn sie nicht einschlafen. Wir ziehen also, wo es
aus äusseren Gründen angängig ist und wo ein hinreichender Grad von
psychischer Beeinfiussbarkeit besteht, dem einfachen körperlichen Aus-
ruhen den periodischen hypnotischen Schlaf vor.
c) Der prophylaktische hypnotische Schlaf.
Prophylaktisch kommt die Hypnose in Betracht als ein Schlaf-
zustand bei drohenden oder bereits in Ausbildung begriffenen Anlällen,
sei es zur Verhütung von Krampfanfällen, Schmerzparoxymen etc., sei
es zur Vorbeugung von nervösen Aufregungszuständen. Je nach der
Art dieser Anfälle kann ein mehr oder weniger protrahirter Schlaf oder
auch ein periodischer Schlaf indicirt sein. Der hypnotische Dauer-
schlaf ist z. B. angezeigt, wenn die Anfalle sehr gehäufte sind und in
ganz kurzen Zwischenräumen auftreten. Wir haben ihn Hysterischen
verordnet, bei denen im Wachsein durch jeden ungewohnten Sinnes-
eindruck Krämpfe ausgelöst werden, oder wo an sich dauernde Anfälle
irgend welcher Art bestehen. Die Durchführung ist dieselbe, wie bei
dem Dauerschlaf aus anderen Indicatiouen ; derartige Kranke werden
isolirt und schlafen bei absoluter Bettruhe mit kurzen Pausen für die
Nahrungsaufnahme und andere körperliche Verrichtungen den ganzen
Tag durch. Den periodischen prolongirten Schlaf verwenden wir
prophylactisch , wenn die Anfälle in längeren Pausen und serienweise
sich zeigen. Eine gelegentliche prophylactische Hypnose kommt bei
seltenen und vereinzelten Anfällen, sofern dieselben ein deutliches
Prodromalstadium haben, in Frage. Oft gelingt es, einen solchen An-
fall entweder ganz zu verhüten oder ihn wenigstens wesentlich ab-
zuschwächen. Ein Beispiel einer prophylactischen Dauerhypnose ist
das Folgende:
Er. Pr.y seit dem 12. J. Ejrämpfe, bald als Hysterie, bald als Epilepsie be-
handelt; täglich zahllose kleine Anfälle: stürzt ohne Bewusstseinsverlast einen
Moment zu Boden, knickt zusammen, femer myoclonische Erscheinungen : Schleudern
der Arme, Zucken des Kopfes; daneben seltener grosse epüeptiforme AnfäUe.
Dauerhypnose 6 Wochen mit Isolirung und Bettruhe; in der ersten Sitzung
Sonmambulhypnose mit absoluter Amnesie, täglich dreimaliges Hypnotisiren durch
356 -K. BrodmMui.
kai^ei HftndAaflegen und Suggestion dei Einschlafens. DaneiscUnf mit 3 knzzsn
Unterbrechungen yon je einer Stunde für die Hauptmahlzeiten. Im Schlaf an-
fallsfrei, beim Aufstehen und während des Essens häufige Zuckungen. Langsame
Besserung, die Anfälle werden seltener; von der sechsten Woche ab ohne Anfall
Nunmehr zunächst Verkürzung des hypnotischen Schlafes. Patientin bringt einige
Stunden ausser Bett zu, nimmt an den gemeinsamen Mahlzeiten statt, dann Ver-
minderung der Hypnoaen, erst zwei, dann eine Hypnotisirung mit jeweiligen Heü-
Suggestionen ; Uebergang zu leichter Beschäftigung. Beendigung der hypnotischen
Cur nach vier Monaten.
Bei periodisch wiederkehrenden Krankheitsznstäoden, z. B. Migräne-
anfallen, nervösen Erregungen anf menstmeller BasiSi Angstparozysmen,
periodischen Dämmerzuständen kann man die prophylactische hypno-
tische Behandlung dem jeweiligen Character des Anfalles anpassen.
Die Dauer und Häufigkeit des hypnotischen Schlafes richtet sich natür-
lich ganz nach der Art des Leidens. Wir hypnotisiren die Kranken,
sobald sich die ersten Vorläufer melden und lassen sie dann entweder
während des ganzen Anfalls durchschlafen oder, bei mehrtägiger Dauer
des Zustandes, wird der Kranke täglich mehrmals in einen protrahirten
Schlaf versetzt, in dem er zwei und mehr Stunden liegen bleibt. Wir
hatten bei dieser Form der periodischen Hypnose oft noch Erfolge, wo
eine längere hypnotische Suggestivbehandlung versagt hatte.
Fr. G. Typische Higräneanfalle in regelmässigen Stägigen Pausen von mehreren
Stunden Dauer, seit den Mädcheigahren. Hypnotische Suggestivbehandlnng ohne
wesentlichen Einfluss. Patientin wird beim Herannahen des nächsten Anfalls, mit den
ersten Prodromalerscheinungen, hypnotisirt ; mehrstündiger Hypnosezustand leichten
Grades, der Anfall konmit nicht zur Entwickelung, es bleibt bei den Abortir-
erscheinungen ; der nächste Anfall, der in 8 Tagen fallig war, bleibt ganz ans, die
folgenden Anfälle können durch protrahirten hypnotischen Schlaf stets eoupirt
werden. In der Zwischenzeit keine Hypnosen.
Der gelegentliche prolongirte Schlaf wirkte hier zweifellos prophy-
laktisch, während posthypnotische Suggestionen das Entstehen eines
Anfalls nicht hatten verhindern können. Denselben prophylaktischen
Erfolg erreichen wir bei vielen Kranken durch gelegentliche Auto-
hypnosen. Wir wenden dieselben jedoch nur dann an, wenn die
äusseren Verhältnisse ein jedesmaliges personliches Eingreifen des
Arztes selbst nicht gestatten, wie es häufig in der Praxis der Fall isL
Man ertheilt in der Hypnose, eventuell in Verbindung mit larvirten
Suggestivmitteln die Suggestion, dass Patient, sobald er den Anfall
herannahen fühlt, sich selbst in Schlaf versetzen und dadurch den An-
fall unterdrücken könne. Methodologisch hat man dabei zu beachten,
dass alle Einzelheiten des Selbsteinschläfems, die Art des Einschlafens,
^
Zur Methodik dar bypnotiachen Behandlung. 367
die Daner, Tiefe und Wtrkaog de« Schlafet möglichst detulirt suggerirt
werden. Vielfach Terbinden wir mit den Verbabaggestionen irgend
eine Form bahnender Dressur. Eine solche Form der gelegentlichen
Autohypnose zu prophylaktischen Zwecken wurde bei folgender Patientin
eingeübt.
FrL T. R., 30 J., seit der Kindheit Migräne, schwere Neuropathin. Hyp-
notische Suggestiybehandlung seit 2 Jahren mit Unterbrechungen, Hypnose 2 mal
wöchentlich etwa Vi Stunde. Vertiefung des Schlafes in der Hypnose durch
folgenden suggestiv eingeübten Automatismus. Der Zeigefinger der rechten Hand
wird nach eingeleiteter Hypnose unter suggestiven Impulsen gegen die Nasenspitze
hoohgeaogen; mit diesem Vorgang verbindet sich die Suggestion, daas, sobald die
Eingerspitse die Nase berohrt habe, allgemeines körperliches Behagen und ein tieferer
Sehla&nstand eintreten werde. Diese Suggestionen realisiren sich in jeder Hypnose.
Um nun die unter dem Einfluss von Gemüthsbewegungen wieder verstärkt auf-
tretenden An^le zu coupiren, übe ich der Patientin eine Art Autohypnose ein.
Ich gebe ihr die Suggestion, dass sie sich zu Hause, sobald sie einen Migräne-
anlall befürchtet, in Gedanken an die Hypnose und mit der Vorstellung des Bin-
•oUafens niederlegen solle, dann werde sie sich intensiv darauf concentriren, wie
in der Hypnose jeweils ihr Finger von selbst und ohne ihr Zuthun nach der
Nasenspitze zugezogen werde, sie werde dann bald im Finger und im Arm ein
Gefühl der Muskelspannung bekommen, der Finger werde sich contrahlren und
wie in der Hypnose langsam nach der Nase zu sich bewegen. Die Berührung
des Fingers löse sofort einen richtigen hypnotischen Schlaf aus, der 1—2 Stunden
anhalte und den drohenden Anfall zurückdränge, bezüglicherweise die vorhandenen
Erscheinungen beseitige. Der Versuch gelingt nach einiger Einübung vollkommen
und die gelegentliche Autohypnose erweist sich in der Folge gegenüber den
Migräneanfallen als viel wirksamer, wie die posthypnotischen Suggestionen.
Statt einer einmaligen länger dauernden Autohypnose kann man
zur Unterdrückung häufiger Anfalle auch einen wiederholten auto-
suggestiven Schlaf mit kurzen Intervallen in der Form des periodischen
Schlafes einüben, wie wir es bei Frl. D. J. zur Ausfüllung von Arbeits-
intervallen gesehen haben. Folgendes Beispiel ist typisch hiefür.
Frl. B. J. Anfälle von hysterischem Zittern mit Angst und innerer Unruhe
öfters am Tage. Somnambulhypnose in der zweiten Sitzung, posthypnotisches
Haften der Suggestionen nicht ausreichend zur Unterdrückung der AnfäUe. Nun-
mehr greife ich zu dem Hülfsmittel der prophylactischen Autohypnose. Der
Naehtsohlaf wurde stets durch die intrahypnotische Suggestion herbeigeführt, dass
Patientin einschlafen werde, wenn sie vor dem Zubettgehen einen Schluck Wasser
nehme und an die Worte des Arztes sich erinnere. Derselbe Mechanismus ?rird
nun auch für das Selbsteinschläfern zur Unterdrückung des Tremors suggerirt.
Patientin nimmt einen Schluck Wasser, wenn sie anfängt unruhig zu werden und
den Zitteranfall befürchtet, legt sich auf das Sopha, reproducirt sich die Worte
des Arztes und schläft dann regelmässig für bestimmte Zeit ein. Diesen Vorgang
des Selbsteinschläfems wiederholt sie täglich 2 — ^3 mal und bringt die Anfälle auf
Zsitsohrift für Hypnotismos. Z. 2^
358 ^' Brodmann.
diese Weise zum Schwinden. Dadurch lernt sie allmählich, das Zittern im Ent-
stehen willkürlich zu unterdrücken, sie bekommt eine grössere Sicherheit und ein
grösseres Selbstvertrauen gegenüber den drohenden Ejrankheitssymptomen und
gewinnt wieder die Herrschaft über sich selbst. Genesung nach 6 Wochen.
Weitere Gestaltungsmöglichkeiten des prophylactischen hypno-
tischen Schlafes ergeben sich ans den individuellen Krankheitsfällen
von selbst.
B. Die specielle psychotherapeutlsohe BeeinfliiBSiing in der Hypnose«
Es kann nicht meine Aufgabe sein, allen möglichen Formen seeli-
scher Einwirkung in der Hypnose, soweit sie eine therapeutische Be-
deutung besitzen, nachzugehen oder gar deren therapeutische Wirksamkeit
und Indicationen im Einzelnen casuistisch zu prüfen. An anderer Stelle
ist durch Vogt^) die Vielgestaltigkeit der seelischen Einwirkungsformen
in therapeutischer Hinsicht beschrieben worden. Dieselben psychischen
Beeinfiussungsmöglichkeiten aber, welche Vogt dort aufgestellt hat,
besitzen speciell auch für die Hypnose ärztliche Bedeutung. Wo
also Hypnosen ärztliche Anwendung finden, stehen uns die gleichen
psychotherapeutischen Eactoren zur Verfügung wie im Wachen, und wir
haben nur zu untersuchen, wie der Arzt im Einzelnen vorzugehen hat,
um bei seinen Patienten in Hypnosezuständen die höchste Zugänglich-
keit für bestimmte psychotherapeutische Eingriffe zu erzielen. Dabei
gehen wir wiederum von der Voraussetzung aus, dass die Empfänglich-
keit überhaupt im Hypnosezustand grösser ist, als im Wachen und dass
andererseits die Empfänglichkeit in Hypnose für jede Art psychischen
Einflusses um so grösser ist, je tiefer die Hypnose ist.
Den ersten Rang unter allen psychisch wirksamen Factoren einer
Hypnotherapie nimmt die Verbalsuggestion ein. unter thera-
peutischer Verbalsuggestion verstehen wir die einfache wörtliche Ver-
sicherung, dass diese oder jene krankhafte Erscheinung schwinden, resp.
diese oder jene verloren gegangene Fähigkeit wiederkehren werde;
ist die verbal angeregte Zielvorstellung von ausreichender sugge-
stiver Kraft, so führt sie zu der adäquaten (suggerirten) Folgewirkung,
und wir haben eine therapeutische Suggestionserscheinung vor uns,
Dass und wie eine solche einfache verbale Ankündigung einer Er-
scheinung in Hypnose zu einer therapeutischen Folgewirkung führen
kann, haben wir an früheren Stellen des öfteren gesehen. In vielen
^) Diese Zeitschrift Bd. 9 u. 10. „Die möglichen Formen seelischer Ein-
wirkung" etc.
r
Zur Methodik der hypnotischen Behandlung. 359
Fällen genügt in derTbat die wörtliche Eingebung, um einen erwünschten
Heilerfolg, z. B. das Schwinden eines einzelnen Symptoms herbeizuführen.
So haben wir erst dieser Tage wieder erlebt, wie bei einer jetzt dreissig-
jährigen Person ein seit der Kindheit bestehender Kopfschmerz, einer
dnzigen verbalen Suggestion in mitteltiefer Hypnose wich und dauernd
beseitigt blieb. Grundbedingung für das Gelingen solcher aussergewöhn-
lichen Folgewirkungen verbal angeregter Zielvorstellungeo ist, dass
dem Arzte die nöthige Autorität zur Seite steht und dass die An-
kündigung mit dem nöthigen Nachdrucke erfolgt. In anderen Fällen
dagegen wird trotz der nachdrücklichsten Versicherung des Schwindens
eines Symptoms in der Hypnose die krankhafte Erscheinung nach wie
vor bestehen bleiben oder wenigstens nach Unterbrechung der Hypnose
wiederkehren. Hier setzen suggestive Unterstützungsmittel ein, sowie
alle übrigen psychotherapeutischen Verfahren, die wir als bekannt
voraussetzen müssen.
Eine Steigerung der Folge Wirkungen , d. h. der suggestiven Kraft
von Verbalsuggestionen lässt sich zunächst durch folgende Formen
seelischer Einwirkung erzielen: 1. Durch ViTiederholung, 2. durch Moti-
virung, 3. durch Larvirung, 4. durch stärkere Gefühlsbetonung der
Saggestionen und 5. durch causale Analyse der zu beseitigenden Symp-
tome. Der letzteren werden wir ein eigenes Kapitel widmen.
Die durch Wiederholung einer Suggestion bedingte
Steigerung ihrer Folgewirkungen beruht auf dem bahnenden Einfluss
jeder Wiederholung eines psychischen Vorganges überhaupt. Mit jeder
Wiederholung einer Bewusstseinserscheinung wird der associative Zu-
sammenhang der verschiedenen Glieder der wiederholt durchlaufenen
psychischen Reihe eine immer engere, die Erregbarkeit der einzelnen
Theilglieder wird immer grösser, sie reproduciren sich wechselseitig
immer sicherer und zwangsmässiger und damit wird der Vollzug der
ganzen Bewusstseinserscheinung ein rascherer und leichterer. So sehen
wir denn auch häufig, dass Suggestionen, welche Anfangs ganz unwirk-
sam blieben, nach öfterer nachdrücklicher Ankündigung in späteren
Hypnosen eine zunehmende Realisirungstendenz zeigen. Man braucht
also an der Heilbarkeit nicht zu verzweifeln, wenn die ersten Sugge-
stionen einem Symptom gegenüber versagen; es ist sogar methodo«
logisch von Wichtigkeit, dass man nicht den ganzen Erfolg auf eine
vielleicht sogar imperatorische Eingebung stützt, man tbut gut, wenn
man bei hartnäckigen und veralteten Symptomen erst Abnahme der
Intensität der krankhaften Erscheinungen und dann erst Schwinden
24*
MO K- finMkiiwui.
dee gsdazien ZüAtandes nc^erirt. Es ist fenuer zweckmässig, niclit eine
^suze Selbe oder gar alle Sysipkufte dmes polysymptonwitiflchen Krank-
keitslMldes auf eiiimai wegsaggerireo zu woUen^ soadem man geht aa
besten scbrittweise vor. Dabei kaim man sieh in der Wahl der xnerst
zu beseitigeDden ErscbeinuDgen bestiniiien lassen entweder durcii den
Gxad ihrer Beräiflnasbarkeit oder durch die Dringlichkeit ihrer Be-
seitigung. Eine allgemeine Regel dafür, wie man im Einzelfalle Torzu-
gehen hat, lässt sich nicht aufstellen, jeder Kranke erfordert seine indi-
▼iduelle Beurtheilong, ich möchte daher mir ein häii:%ere8 YoikoBm-
niss an einem Beispiel «riäutem.
Erl. R. kommt regelmaMig mit KopfBchmenen und Breoneo in den Augen
jBur Hypnoae, sie besitzt eine groMe Saggestibilität, troftzdmn gelingt es nkhi, sie
tief einzuschläfern, weil die Schmerzen sie am Einschlafen verhindern; ich nehme
ihr daher stets zuerst die störenden KopfBchmerzen: ich lege ihr die Hände unter
sanftem Druck an beide Schläfe, lasse sie langsam auf 20 zählen und snggerire ihr,
dass mit jeder weiteren Zahl der Schmerz um einen Grad geringer wird, bei 20 ist er
verschwunden. Nachdem der Schmerz auf diese Weise beseitigt ist, Terti«4t sich
die Hypnose alsbald und es realiairen sich andere therapeutische Eingebungen.
Bei motorisdxen Reizerscheinungen, Sensationen, Herzklopfen,
Angstgefühlen, quälenden Vorstellungen Yorfahrt man in derselben
Weise. Wiederholte Beseitigung eines Symptoms, mit anderen Worten
wiederholte Erzeugung einer Suggestionserscheinm^ steigert zugleich
die Suggestibilität für andere Symptome.
Motivirung der Suggestionen bedingt dbenfalls eine
Steigerung der suggestiven Folgewirkungen. Bekanntermaassen wird
eine Suggestion um so leichter angenommen, je plausibler sie erscheint,
während umgekehrt widersinnige Eingebungen oder solche, welche dem
natürlichen Empfinden der Hypnotisirten widerspredien, von voroberein
nur eine geringe Bealisirungstendenz haben oder vielfach kurzweg ab-
g^ehnt werden. Wir müssen daher bestrebt sein, dem Hypnotiärtea
die Annahme der ertheilten Suggestionen dadurch zu erleichtem, dass
wir sie irgendwie begründen. Eine solche Begründung kann in ver-
schiedener Weise erfolgen; man kann die erwartete therapeutische
Stt^estionswirkung als eine Folge der heilenden Kraft der Hypnose
darstellen , man suggerirt nicht einfach : „die Krankheit ist jetzt ver-
schwunden^, sondern man kleidet die Eingebung ein: „die Er-
scheinung^i sind eine Folge der geschwäohten Nerven, der hypno-
tische Schlaf kräftigt die Nerven und bringt ihnen Buhe, dadurch wird
das Leiden gehoben^ ; oder man kann die Suggestionen durch logisdie
XTeberzeugung, oder durch Belehrung und Aufklärung motiviren. Wir
Zar Methodik dtr bypnotischen Behaodlang. Ml
luübmi bereits friäier hervorgehoben, wie ein von der Vonielkiiig be^
faerrschter Stadent, an inneren Pollutionen za leiden , dadurch geheilt
wurde ^ dass man ihm die medizinieehe Widersinnigkeit eines solchen
Gedankens in der Hypnose logisch auseinandersetzte. Aehnlich kann
man sich nosojdiobiseben Vorstellungen, hypochondrischen Klagen,
Zwaagsgedanken gegenüber verhalten« Eine psychisch bedingte Parese
etiles Beines, wekhe der verbalen bypnotiscben Suggestion wider-
standen hatte und auch der Belehrung im Wachen nicht gewichen war,
sah ich schwinden, indem ich dem Kranken in Hypnose die Psycho-
genese seiner Lähmung erklärte und dann snggerirte, durdi die Hyp-
nose werde seine Willenskraft gestärkt, er brauche nur energisch zu
wollen, dann werde die Bewegungsfähig^eit wieder da sein; indem ich
die Wiederkehr der Bewegung nachdrücklich soggerirte, passiv die Be-
wegux^n vormachte, und den Willen des Kranken anspornte, ver-
mochte der Kranke das Bein in der That wieder zu gebrauchen. Bei
Schmerzlähmunigen haben wir durch intrahypnotische Belehrung den-
selben Erfolg erzielt, nur dass man ausserdem erst die Schmerzen
suggestiv wegnehmen muss, bevor man an die Beseitigung der Lähmung
geht und die Bewegung ausfuhren lässt.
Die Larvirung der Verbalsuggestionen übt eine svgge»
stionsstelgernde Wirkung aus theils durch Erweckung von Autosugge-
stionen, theils dadurch, dass sie dem Krauken die wörtlichen Ver-
sicherungen motivirt erscheinen lässt. Es ist eine heutzutage unbe-
bestrittene Thatsache, dass beabsichtigten oder unbeabsichtigten larvirten
Saggestionen und Autosuggestionen ein grosser Antheil an allen
therapeutischen Wirkungen unserer physikalischen Heilmethoden zufallt«
Desgleichen wissen wir,, dass hypnotischen Suggestionen, die mit einem
greifbaren Verfahren verbunden sind, vielfach eine grössere Bealisirungs-
tendenz zukommt, als der Suggestion durch das Wort allein. Die Zahl
der larvirten Suggestivverfs^en ist eine unendlich grosse. Es handelt
sich um lavirte Suggestion gleichviel, ob ich dem Hypnotisirten die
Hand auf einen schmerzenden Körpertheü lege oder auf em gelähmtes
Glied haucbe und damit die Vorstellung verbinde, dass dadurch der
Sehmerz schwinde, die Lähmung beseitigt werde oder ob ich einen
Kranken einen Schluck Wasser trinken oder eine Brodpille einnehmen
lasse, damit er darauf einschlafe resp, Stuhlgang bekomme; larvirte
Suggestion ist es, wenn ich dem zu Hypnotisirenden die Stime streiche
und suggerire, sein Gehirn komme dadurch zur Ruhe oder weim ich
Streichungen über den Körper mache mit der Eingebung, dass sich
362 ^' Brodmann.
nunmehr ein Krampf seiner Glieder löse; um larvirte Suggestion
handelt es sich ferner, wenn ich einen £j:anken mit hysterischer
Lähmung des linken Beines in der Hypnose Bewegungen des rechten
nicht gelähmten Beines ausführen lasse, damit sich die Beweglichkeit
dadurch auf das gelähmte Glied übertrage. Larvirte Suggestionen sind
wirksam, wenn ich einen Kranken ins Bad schicke und daneben in
Hypnose die Suggestion ertheile, dass die Bäder sein Nerrensystem
kräftigen und beruhigen werden. Kurz, mit larvirten Suggestionen
haben wir überall zu rechnen, wo wir die Suggestion durch das Wort
Yerbiuden mit irgendwelchen äusseren Maassnahmen. Die therapeu-
tische Wirksamkeit solcher larvirten Suggestionen ist um so sicherer und
anhaltender, je motivirter und logischer wir ihre Folge Wirkungen dem
Kranken darzustellen wissen und sie ist grösser als die verbale hypno-
tische Suggestion allein, sobald der Kranke die Idee der Heilung mit
dem betreffenden Eingriffe verknüpft. Bernheim ^) berichtet folgende
Beobachtung: er behandelt einen an Hüftschmerzen leidenden Mann
electrisch in Verbindung mit Wachsuggestion ohne richtigen E2rfolg ; dann
hypnotisirt er ihn, aber der Effect ist gleichfalls nur ein geringer, der
Kranke steht unter dem Einfluss der Autosuggestion, dass die Hypnose
allein keine Wirkung auf seine Leiden ausübe, nunmehr greift er zur
electrischen Behandlung in Verbindung mit hypnotischer Suggestion und
heilt ihn in wenigen Sitzungen. Ich selbst habe folgenden Fall erlebt
Frau W. aus L., 61 J. Magenkrebs, schwere Schlaflosigkeit, anhaltendes Er-
brechen jeder Nahrung; Morphium und andere Mittel gänzlich wirkungslos.
Hypnose erzeugt nach der ersten Sitzung (Hypotaxie) mehrere Stunden Schlaff
beseitigt aber das Erbrechen nicht; ich lasse in Hypnose essen ohne Erfolg«
Patientin erbricht nach der H3rpnose wieder. Nunmehr lege ich in Hypnose ein
Kataplasma auf den Magen, mit der Suggestion, dass kein Erbrechen mehr eintreten
werde, solange der Umschlag aufliege. Die larvirte Suggestion war erfolgreich aoch
im Wachen und nach meinem Weggange. Patientin behielt wieder Speisen bei sich.
Eine Steigerung suggestiver Folgewirkungen erreichen wir schliess-
lich durch jede stärkere Affectbetonung der Verbalsng-
gestionen. Nach der Definition von V o g t ist die hypnotische Sugges-
tion gerade dadurch gekennzeichnet, dass sie durch eine afFectIose Ziel-
Vorstellung ausgelöst wird ; nun unterliegt es aber keinem Zweifel, dass
ein grosser Theil der realen Suggestionen, die durch ihre Folgewirknug
eine medicinische Bedeutung gewinnen, weil sie bei unseren Kranken ver-
wirklicht werden, eine starke Gefühlsbetonung besitzen. Derartige starke
^) Neue Studien p. 39.
Zur Methodik der hypnotischen Behandlung. 363
Gefühle engen aber ihrerseits die psychophysische Energie auf ihr intel-
lectuelles Substrat ein und unterstützen so die suggerirende Kraft der
Suggestionen. Wir verbinden daher zweckmässigerweise unsere Heil-
suggestionen in der Hypnose stets mit dem Affect der Hoffnung auf
Genesung, wir wecken mit der Vorstellung der Genesung freudige Ge-
danken, Wünsche und Strebungen, wir führen dem Kranken in der
Hypnose den Lebensgenuss und die Freude am Dasein nach erlangter
Gesundheit vor Augen; umgekehrt knüpfen wir an eine Suggestion,
welche die Unheilbarkeit oder den Eintritt einer Verschlimmerung oder
einer bestinamten Krankheitserscheinung betrifft, das Gefühl der Furcht
und yerstärken dadurch die Suggestivkraft der Zielvorstellung des
Gesundwerdeuwollens. In letzterem Sinne können wir direct von einer Ab-
schreckungstherapie sprechen. Ein interessantes vonForel berichtetes
Beispiel mag dieses Verfahren characterisiren. Eine Hysterische war
durch hypnotische Suggestionen von ihren Exampfanfällen, nicht aber
von somnambulen Anwandlungen geheilt worden. Es war bekannt, dass
sie starken Absclxeu vor dem Wasser hatte. Man erklärte ihr in
Hypnose, dass ein einziges ausgedehntes Bad sie heilen würde, Gess
sie dann den ganzen Tag im Wasser, und von dem Moment an sind
die somnumbalen Zustände nicht mehr erschienen.
An zweiter Stelle wären unter den psychotherapeutischen Hülfs-
mitteln einer Hypnosebehandlung alle übrigen Formen seelischer Ein-
wirkung zu nennen, denen auch im Wachen eine ärztliche Bedeutung
zukommt. Als solche kommen, natürlich immer in unmittelbarer Ver-
bindung mit der Verbalsuggestion, in Betracht willkürlich erzeugte
Autosuggestionen, eventuell auch in einem gleichzeitig geschaffenen auto-
hypnotischen Zustande, stärkere Gefühlserregungen, Anregung be-
stimmter Willenshandlungen, insbesondere die sog. Willens- oder Sug-
gestivgymnastik. Namentlich die letztere hat eine zunehmende Be-
deutung erlangt. Die Technik jedes einzelnen psychotherapeutischen
Eingriffes in hypnotischen Zuständen erfordert keine besondere Dar-
stellung. Die suggestive Uebungstherapie in Hypnose, wie sie für Läh-
mungen (auch organische), spastische Zustände, Coordinationsstörungen,
Bewegungsunfähigkeit infolge Zittems, Stottern etc. in Betracht kommt,
gründet sich auf die bahnende und hemmende Wirkung einer aus-
geführten Willenshandluug. Intendirte Bewegungen, welche im Wachen
nicht ausführbar sind und auch unter dem Einfluss posthypnotischer
Suggestionen nicht gelingen, kann man oft während der Hypnose
momentan wiederkehren sehen, wenn man die suggerirte Bewegung
364 £• Brodmann.
pasdy unterstützt ; die passive Beiregong wirkt bahnend auf die WiUeot-
zielvorstellung der betreffenden Bewegung. Ich möchte ganz kurz an
Beispiel einer hypnotischen SuggestivgymBastik skizziren.
Fr. C, seit Jahren cnnehmende lähmungaartige Schwäche der Beine mit
spsitischen Erscheinungen (Hysterie -f- maltiple Sderose?). Kann kaum mehr eiaige
Schritte mit Unterstützung gehen, atypischer spastischer Gang, in Rückenlage ist das
linke Bein willkürlich fast TÖllig bewegungslos. Hypnotische Verbalsuggestionen
unwirksam, ich übe nun in Hypnose unter Suggestionen die Bewegungen eLo, Issse
zunächst, passiv unterstützt, kleine Zehenbewegungen, dann Bewegungen des Fasses
und des ganzen Beines (Anziehen, Hochheben etc.) ausführen und gehe schliess^
iioh au Schrittübungen über. Nach Verlauf Ton 2 Monaten {ß mal woehentiieh
hypnotische Suggestirgymnastik) Bewegungsfähigkeit des linken Beines ungehemmt,
Gehfähigkeit wesentlich gebessert.
Aehnliche Erfolge haben wir bei anderen Formen yon Bewegus|^
Störungen functioneller Art durch eine hypnotische üebungstherspie
und Willensgymnastik erzielt.
C« IMe Ansfllhnuiy Ton Psyehoanalysen In der Hypnose«
Als ein Zustand gesteigerten Erinnerungsrermögens kann die Hyp-
nose, wie im Allgemeinen Theil ausgeführt ist, in doppelter Hinsicht
eine therapeutische Verwendung erfahren: 1. um die Pathogenie einzelner
(namentlich hysterischer) Symptome durch die hypnotische Hypermnesie
festzustellen, 3. um pathologische Amnesien zu beseitigen. In beiden
Fällen sind nach unseren früheren Auseinandersetzungen wiederum
tiefe Hypnosen in diesem Sinne wirksamer als oberflächliche oder als eine
Psychoanalyse im Wachsein. Wenn wir auch zugeben müssen, d»8
eine verständige und gründliche Psychoanalyse im Wachznstande
manchmal bis auf den Ursprung einer pathogenen Erscheinung zurosk-
führen kann, so möchte wir uns doch nicht der neueren Freud' sehen
Auffassung anschliessen , dass die Yerwerthnng der hypnotischen
Hypermnesie zum Zwecke von Psychoanalysen nunmehr entbehriieli
geworden sei. In Fällen, in denen es, wie bei der kathartiscfaen
Methode, auf ein möglichst affectroUes Erinnern eines pathogenen
Erlebnisses ankommt oder wenn eine pathogene psychische Yersn-
lassung Yon sehr peinlichem Inhalt, vielleicht sexueller Art, vorliegt,
welche die £j:anken im Wachzustande aus Schamgefühl verschweigen
würden, möchten wir eines hypnotischen Zustandes bei den Psycho-
analysen nicht entrathen. Derselbe macht die Kranken nicht nur
erinnerungsfahiger, sondern auch unbefangener. Dazu kommt der weitere
Umstand, dass man mit der Hypnose die Suggestion des Yergessens
Zur Methodik der hypnotische d Behandlang. 30(
der pathogeuen VorstelloDgen viel wirksamer rerbinden kann ab mit
dorn ToDen Wachsein, eine Suggestion, welche in rielen Fällen, wo das
einfache Aufdecken des pathogen wirkenden Vorganges und das Ab-
reagiren versagt, doch noch zur Beseitigung der aus dem psychischen
Trauma entstandenen und durch das unbewusste Fortwirken desselben
unterhaltenen Störungen führen kann. Folgender Fall ist das Prototyp
einer derartigen einfachen Psychoanalyse in Hypnose.
G. R., lOjähriges Mädchen, wird von der Mntter gebracht mit der Angabe^
du Kind zeige seit mehreren Wochen die eigenthümliche Erscheinang, daas es
plötilich ohne Grund tief aufseufze, in yeränderter Weise athme und dabei ängst-
lich sei. Dasselbe zeige sich Abends beim Zubettegehen, das Einschlafen sei ia-
folge dessen gestört; das Kind mache seit der gleichen Zeit einen yerängstigten
und scheuen Eindruck. Durch Exploration im Wachen erfahren wir von dem
Kinde, es bekomme öfters Angst und dann müsse es tief athmen. — „WoTor hast
Du Angst?*' „Ich kann es nicht sagen.'' — „Du kannst es sagen, wovor Du Angst
hast/ „Ich weiss nicht, wovon es kommt." — „Warum athmest Du Abends im
Bett so schnell?" „Ich weiss nicht . . . weil ich müde bin." — Zu genaueren An-
gaben ist Patientin trotz allen Drängens nicht zu bewegen. Sie wird durch Hand-
auflegen, Druck auf die Augen und verbale Beruhigung leicht hypnotisirt. Die
Psychoanalyse in dieser leichten Hypnose hat folgendes Resultat (22. IX. 96): —
„Hast Du gestern Abend wieder so tief athmen und seufzen müssen?" t^J*." —
„Warum? sag es nur. Du sollst es sagen, wenn Du es weisst." „Ich weiss nicht."
— „Du sagtest doch aus Angst?" „Ja, weil ich Angst habe." — „Wovor hat Da
Angst?" „Ich fürchte krank zu werden." — „Warum sollst Da krank werden?**
(Schweigt.) — „Wann hast Du zum ersten Mal das gehabt?** ,Jch weiss nicht
mehr.** — „Denk mal nach, wann ist zum allerersten Male der Gedanke gekommen,
daas Du krank werden könntest nnd wann war es, dass Du zuerst Angst gehabt
hast?** ,Jch weiss nicht.** — n^^ hast Du damals gemacht und wo warst Du,
besinne Dich nur, dann erinnerst Du Dich schon . . . wenn ich Dich stärker auf
die Stirne drücke, kommt Dir die Erinnerung wieder, denk nur nach.** — „Ich
hatte mich erkältet und lag zu Bett.** — „Was geschah da?" „Nichts." — „An
welchem Tage war es, weisst Du noch?" „Nein." — „Warst Du allein im
Zimmer ... in welchem Zimmer war es?" „In meinem Schlafzimmer." — n^®'
war bei Dir?" „Die Mutter war bei mir." — „Was passirte da, dass Du Angst
bekamst?" „Ich weiss nicht." — „Was that die Mutter, hat sie gelesen, hat sie
Dir Kaffee gebracht?" „Nein." — „Kannst Du sagen, welche Zeit es war?"
„Nein." — „Dann denkst Du jetzt darüber nach, so wirst Du Dich an Alles deut-
lich erinnern, es fällt Dir jede Kleinigkeit und jeder Gedanke, den Du gehabt,
genau ein, . . . denke fest nach, es fällt Dir schon ein . . . Was that die Mutter,
sass sie neben Dir?" „Nein." — „Hast Du ruhig zu Bett gelegen?" „Nein." —
„Was thatest Du denn?" „Ich habe geweint." — „Warum hast Du geweint?"
„Ich hatte Angst." — „Wesshalb?" „Dass ich krank würde." — „Warum hattest
Du Angst krank zu werden, was fürchtetest Du für eine Krankheit zu bekommen?**
(Schweigt.) — „Dachtest Du an Jemanden, der krank war?" „Ja." — „An wen?**
(Schweigt.) — „An wen dachtest Du, denke darüber nach and sag es ruhig . . ,**
366 K. BrodmanD.
„An Lottchen". — „Was war mit Lottchen?" „Sie hatte Diphtherie." — „Ist sie
wieder gesund geworden?" „Nein, sie ist gestorben." — „Wann ist sie gestorben?"
„Im April." — „Wer ist Lottchen?" ,J)ie Schwester meiner Freundin." — „Wo-
her hast Du erfahren, dass sie gestorben ist?" „Kan hat es mir gesagt." — »Wer
und wo? . . . Du weisst Alles ganz genau, denk nur nach, es fällt Dir schon ein."
„Alma Coner hat es mir gesagt." — „Wo sagte sie es?" „Im Schulzimmer." —
„Welche Worte gebrauchte sie?" „Ich weiss nicht mehr." — „Was thatest Du,
wie sie es sagte? Hattest Du Furcht oder war es Dir gruselig zu Muthe?*^
„Nein." — „Bekamst Du sofort Angst?" „Nein." — „Aber später?" „Ich musste
oft daran denken, wenn ich allein war." — „Hast Du dabei auch Angst gehabt?"^
„Nein." — „Aber damals wie Du krank zu Bette lagst, was war da, musstest Da
auch an Lottchen denken?" „Ja." — „Und bekamst Angst dabei?" „Ja." —
„Hattest Du Angst, es könnte Dir auch so gehen. Du konntest auch Diphtherie
bekommen und sterben? „Ja." — „Dann musstest Da seufzen und tief Athem
holen, wenn Du später daran dachtest?" „Ja." — (Patientin fing an heftig zu
weinen.) „Hast Du auch öfters geweint, wenn Du an Lottchen denken musstest ?''
„Nein." — „Aber wie Dir der Tod von Lottchen zuerst erzählt wurde?" „Nein,
ich hatte Angst auch krank zu werden und zu sterben, aber weinen musste ich
nicht." — „Erzähle nur Alles, was Du weisst, sprich Dich aus, wie es Dir ums
Herz ist. Du darfst schon weinen, dann wird Dir leichter? Es ist Dir immer
schwer geworden, wenn Du an den Tod der Kleinen denken musstest?" „Ja." —
„Da konntest keine Luft kriegen, weil Du Angst hattest und weil es auf Dich
drückte?" „Ja." — „Desshalb hast Du tief Athem geholt, weil Du keine Luft
kriegen konntest und weil Dir die Kehle wie zugeschnürt war?" „Ja." — „Hast
Du dabei gedacht, dass Du Diphtherie im Halse hättest?" „Nein, ich hatte nur
Angst, dass ich krank würde. ** — »Und die Angst schnürte Dir die Kehle zu, dass
Du tief und schnell athmen musstest?" „Ja." (Weint.) — „Nun weine Dich jetzt
nur aus, dann brauchst Du nie mehr zu weinen wegen Lottchen, Du wirst auch
nie mehr Angst haben, dass es Dir so gehen könnte wie Lottchen oder dass Da
Diphtherie bekommen könntest ... Du wirst auch nicht mehr seufzen und tief
Athem holen müssen und kannst schön einschlafen. Hast Du gehört?" „Ja." —
„Nie mehr sollst Du Angst haben, auch nicht wenn Du an den Tod der Kleinen
denkst, Du wirst Alles das vergessen . . . Hast Du jetzt noch Angst?" „Nein."
— „Dann denk jetzt nochmals daran und Du wirst doch keine Angst bekommen . . .
gar keine Angst ... Ist Dir ängstlich?" „Nein." — Bist Du traurig?" „Nein."
— „So wirst Du jetzt wieder ein fröhliches und heiteres Kind werden und ganz
gesund sein." Das Kind ist in der Folgezeit frei geblieben von den Angst-
symptomen.
Dieses Beispiel zeigt uds erstens, dass eine somnambale Er-
Weiterung des Gedächtnisses, wie sie Breuer und Freud ursprüng-
lich forderten, nicht nöthig ist, um eine erfolgreiche Psychoanalyse
durchzuführen, und zweitens, dass schon leichte Grade der Hypnose
ausreichen können, um ein pathogenes psychisches Moment aufzu-
decken, welches durch Ausforschung der Kranken im Wachzustande
nicht zu eruiren gewesen war.
Zar Methodik der hypnotischen Behandlung. 367
Wir hatten in diesem Falle die Analyse durch eine Reihe von
Fragen unterstützen müssen. £s liegt natürlich eine grosse Gefahr
darin, dass man durch solche Fragen suggestiv Erinnerungsfälschungen
auslöst; wenn man aber die vorstehende Analyse näher betrachtet, so
wird man denselben Eindruck bekommen, den auch wir hatten, . dass
die Kranke gleich suggestiv starke Fragen das eine Mal ablehnte, das
andere Mal prompt beantwortete, weil eben im letzteren Falle die
Suggestivfrage dem Bewusstwerden der pathogenen Erinnerung ent-
gegenkam. Eine derartige suggestive Nachhülfe bei der Durchführung
von Causalanalysen ist vielfach unumgänglich. Der Gefahr, dadurch
die Analyse in eine falsche Richtung zu leiten, wird man entgehen,
wenn man, statt eines beliebigen Hypnosezustandes, ein für eine exacte
Selbstbeobachtung geeigneteres partielles systematisches Wachsein, wie
es Vogt (Zur Methodik der ätiologischen Erforschung der Hysterie
Bd. 8, S. 65 ff.) empfohlen hat, anwendet.
Während im vorigen Falle eine einzige Psychoanalyse die Ursache
der vorhandenen Symptome und den psychischen Mechanismus ihres
Fortbestebens aufdeckte imd mit der Beseitigung des unterdrückten
Angstaffectes auch die begleitenden körperlichen Angstsymptome zum
Verschwinden brachte, macht sich in anderen Fällen ein wiederholtes
Abreagiren nothwendig, auch wenn es bereits in der ersten Hypnose
gelang, den veranlassenden Vorgang zu voller Helligkeit zu erwecken
und den begleitenden Affect wachzurufen. Man ist dann genöthigt,
dieselben Erinnerungsketten in der Hypnose nochmals oder auch wieder-
holt affectvoll durchleben zu lassen. Gerade dieses Factum veranlasst
uns, dem Abreagiren als solchem nur einen geringen directen Heil-
werth beizumessen; der autosuggestive Factor ist dabei niemals ganz
auszuschliessen.
In anderen Fällen hat die Analyse auch in der Hypnose nicht zu
einer Art von affectvollem Wiederdurchleben geführt, indem entweder
die hypnotische Hypermnesie nicht ausreichte, den im Unbewussten
ruhenden reichen pathogenen Inhalt der Vergangenheit aufzudecken,
oder indem die Affectbetonung bei dem Auftauchen der Erinnerungen
ausblieb. In noch anderen Fällen war auch in der Sonmambulhypnose
der Widerstand gegen das Ausforschen ein so grosser, dass es nicht
gelang, die pathogene Ursache aufzudecken. Folgende Beobachtung
ist ein characteristisches Beispiel dieser Art, das zugleich zeigt, wie
man durch anderweitige psycho-therapeutische Maassnahmen schneller
zum Ziele gelangen kann, sei es durch die Suggestion des Schwindens
368 ^* Brodmann.
der einzelnen Sympt^ne, sei es durch die Suggestion des Vergessens,
resp. Unwirksamwerdens der den Symptomen zu Grninde liegeaden
Affecterlebnisse.
Gl. B., 12 j. Mädchen wird yon der Mutter gebracht, weil seit 2 — 3 Jahren
beobachtet wird, dass das Kind sich in bestimmten Zeiträamen die Haare aof dem
Kopfe* und an den Augen ausreisst; Ursache dieses Verhaltens unbekannt, das
Kind selbst gibt keine Auskunft, weint auf Befragen. Hypnose auf Wunsch der
Eltern. Somnambul. Trotz mehrfacher eindringlicher Psychoanalysen ist eise
sichere Pathogenese der eigenartigen Erscheinung nicht zu erfahren, es läast sich
nur ein gewisser Zusammenhang mit masturbatorischen Acten auf dem Closet, bei
denen sich das Kind ertappt glaubte, mehr vermuthen als sicher nachweisen. Das
Kind sträubt sich trotz des somnambulen Stadiums gegen genaueres Ausfragen
und geräth dabei in hochgradige Erregung. Während der Behandlung hat sich
Patientin eines Tages wieder einen grossen Theil der Kopfhaare ausgerauft. Psycho-
analyse wieder erfolglos. Es wird nun die Saggestion ertheilt, dasa PaüentiD
jedesmal, sobald sie wieder in Versuchung komme, sich die Haare aoasuziehen,
ein heftiges Brennen in den Fingerspitzen spüren werde, das so lange währe, bis
sie Ton den Haaren ablasse. Die Suggestion ist yon der ersten Hypnose an wirk-
sam und das Kind wird in kurzer Zeit geheilt.
In anderen Fällen wiederum gelang uns die Psychoanalyse schon
im Wachen ohne irgend eine bleibende Heilwirkung; auch hier wurde
ein therapeutischer Erfolg erst durch andere psychische Einwirkungen
erzielt. Es gelang uns z. B. für einen SyDiptomcomplez , dessen
Psychogenese dem Kranken selbst absolut unbekannt war, weil die
krankmachende Veranlassung entweder zu weit zurücklag oder dem
Kranken zu unbedeutend erschien, bereits im Wachzustande eine er-
folgreiche Causalanalyse durchzuführen und sogar ein affectyolles Er-
innern zu bewirken, ohne dass dadurch ein Eiofluss auf die Krank-
heitserscheinungen bemerkbar war. In folgendem analogen Falle
wichen die Symptome erst speciellen hypnotischen Suggestionen.
Stud. iur. F., seit 3 J. Facialistic, etwas später ructusähnüeher Zwerdifrils-
krampf. ^tirn- und Augenmuskeln sind in ständiger zuckender Unruhe, zuweilen
wird der Kopf krampfhaft seitlich verdreht, ab und au erfolgt ein zwangsmässiges
lautes schluchzendes Seufzen. Patient kann die Erscheinungen nicht unterdrücken
und ist in Folge dessen von jeder Gesellschaft ausgeschlossen. lieber die Entstehung«-
Ursachen weiss er nichts auszusagen. Durch Psychoanalyse im Wachen stellen wir
Folgendes fest : Patient wurde im ersten Semester Ton seiner Corporation, der er
mit Leib und Seele angehört hatte, wegen „Kneifens'* ausgeschlossen, er soll auf
der ersten Mensur mit dem Gesicht gezuckt und den Kopf auf die Seite gedreht
haben. Obwohl er sich eines unmuthigen Verhaltens nicht bewusst gewesen war,
schämte er sich sehr und musste viel daran denken, wie er gezuckt habe. Bald
nach seiner Dimission merkte er nun, dass öfter ein unwillkürliches Zukneifen
der Augen und Zuckungen in der Stirne auftraten. Am Semesterschluss nad)
Hause zurückgekehrt, wurde er in Gesellschaft, in der sich auch eine yon ihm ge-
Zur Methodik ätr hypnoiiselieD Behandlang. 869
iic%te Dame befand, der Gegenstand des Spottes wegen seines Gesiehtenchneidens.
Als er sah, dass sieh auch die betreifende Dame Hber ihn Instig madite, kennte
er sich mit Miihe des Weinens enthaHen, anf dem Heimwege rermochte er ein
wiederhoKes krampfhaftes Schluchaen nicht au nnterdrücken ; dasselbe Sefalnehaen
stellte sich später ein, so oft er an die Scene in der Gesellsohaft dachte und
aOmählich ist es so zwangmSssig geworden, dass es andi ohne Brinaerung an den
Vorgang und gegen seinen WiUen regelmässig in bestimmten ZwisehenrI&amen,
besonders heftig bei Aufregungen auftritt.
Dieser Zusammenhang konnte durch detailirtes Ausfragen in der yorge-
schilderten Weise im Wachen aufgedeckt werden. Patient geräth, während er die
verschiedenen pathogenen Erlebnisse schildert, in starke affective Erregung; er
fangt wiederholt an zu weinen und schluchzt derart, dass er kaum der Worte
mächtig ist. Nach Beendigung der Erzählung und Abklingen des Affectes, ist so-
wohl der Tic, wie das krampfartige Schluchzen yoUkommen verschwunden; nach
einigen Tagen kehrten die Symptome in yerminderter Stärke wieder. Nunmehr
wurde Patient hypnotisirt und zu nochmaliger Schilderung aller Einzelheiten der
speciellen psychischen Traumen in der Hypnose veranlasst. Wesentlich neue
Momente kamen dabei nicht zu Tage ; das Erzählen der einzelnen Veranlassungen
blieb weniger affectvoll als im Wachen. Die Zuckungen verschwanden in der
Hypnose sofort, kehrten aber bald wieder; dasselbe wiederholte sich in den
folgenden Hypnosen. Erst als wir mit dem Wiederwecken der Erinnerung an den
veranlassenden Vorgang in der Hypnose die belehrende Suggestion verbanden,
dass nunmehr durch die starke Entladung die Gemüthsbewegung allmählich ihre
Kraft verloren habe und damit auch ihre körperlichen Begleiterscheinungen
schwinden würden, blieben späterhin die Zuckungen auch im Wachen ganz aus.
Trotzdem luer der psychische Mechanismus der Symptome van der
ersten Consultation an klar zu Tage lag, und trotzdem die erste
Psychoanalyse im Wachen mit der Erinnerung an den pathogenen
Vorgang einen lebhaften Affect auslöste, reichte auoh ein wiederholtes
affectvolles Erinnern in Hypnose nicht aus; erst die Suggestion des
Schwindens der mit dem Affecterlebnisse zusammenhängenden Ersehei*
nungen sowie die Belehrung über die Genese der einzelnen Symptome
und gemüthliche Beruhigung brachte einen vollen und dauernden Heil-
erfolg. Analoge Erfahrungen kann man häufig machen. Das psycho«
analytische Vorgehen ist dabei überall dasselbe und lässt sich von. den
geschilderten Beispielen ohne Weiteres auf den Einzelfall anwenden.
An einem besonders complicirten Eaile, der bereits im allgemeinen
TfaeiH) erwähnt ist, möchte ich, von methodologischen Gesichtspunkten
aus, die Durchführung solcher Causalaoalysen und deren mittelbare
Verwerthung noch näher illustriren.
^) Bd. Vn. pag. 33^^.
370 K., Brodmann.
Fr. 0. aas L , 28 J., schwere Hysterie, mit hysteriBchen Ohnmächten, halla-
cinatorischen Erregungen, Schlaflosigkeit, Kopfschmerzattaquen, Nahrungsver-
weigerung. Die Genese der Ohnmächten, der Aufregungszustände und der plötz^
liehen Kopfschmerzen war nicht zu eruiren gewesen, Patientin war äusserst scheu
und zurückhaltend, gab im Wachen über ihre Familienverhältnisse nicht genügend
Auskunft, die Entstehungsursachen ihrer Krankheit blieben ganz unbekannt.
Psychoanalysen im Zustande der hypnotischen Hypermnesie deckten die Ursache
der Erkrankung sowohl, wie die Entstehung der einzelnen Symptome auf.
1. Sitzung A. 16. y. 96. Anwesend Dr. Y. und Br. Patientin klagt wieder
über heftigen Kopfschmerz in der Schläfe; Hypnose durch Handauflegen mit
Yerbalsuggestion. Somnambules Stadium nach einigen Secunden. Der anfangs
lebhafte und häufige Lidschlag wird seltener und hört schliesslich ganz auf, bald
stellt sich Unruhe ein, es treten Zuckungen um die Mundwinkel auf, die Anne
machen zuckende Bewegungen, plötzlich fährt Patientin mit schmerzrerzerrtem
Gesicht auf, stöhnt laut und greift sich wie schützend nach Stirn nnd Hinterkopf
mit beiden Händen. Dieselbe Erscheinung wiederholt sich in kurzen Intervallen
des Öftern. Es wird nun versucht, den Inhalt dieses schreckhaften Tramn-
erlebnisses und der Schmerzen, über die Patientin im Wachen nie Auskunft ge-
geben hatte, zu erfahren und seiner Entstehung nachzuforschen.
„Was ist eben geschehen, warum sind Sie so erschrocken?" Keine Antwort.
— „Warum greifen Sie nach dem Kopf?** Keine Antwort, auf langes Zureden:
„ich habe solche Schmerzen." — „Woher kommen die Schmerzen, was ist passirt ?**
Keine Antwort. — „Sagen Sie es nur, das ist für Ihre Gesundung sehr wichtig
dass Sie sich aussprechen." n^as kann ich nicht sagen." — „Dann sagen Sie, wo
Sie sich jetzt befinden?" (Zögern.) „In der Kochs trasse." — „Wo genauer?" „In
der Wohnung, in meinem Schlafzimmer in L." — »»Wer ist noch da?" „Mein
Mann." — „Welche Tageszeit ist es?" „Vormittags 11 Uhr." — „Welcher Tag?«
„12. December 89." — n^^ geschieht nun, erzählen Sie von selbst." „Ich soU
etwas unterschreiben." (Wiederholtes angstvolles Zusammenschrecken.) — „Was?"
Nach langem Zögern: „Ich soll Bürgschaft leisten für eine Schuld meines Mannes
mit meinen Möbeln." — „Was thun Sie?" „Ich habe mich geweigert." — „Was
geschieht dann?" „Mein Mann wird zornig und droht mich zu sdilagen, wenn
ich es nicht thue." — „Weiter?" „Ich weigere mich und suche fortzulaufen." —
j,Dann?" „Er hält mich fest, schlägt mich mit der Faust gegen den ELinterkopf
und stösst mich gegen den Schrank." — (Patientin macht dieselben Abwehr-
bewegungen, wirft sich stöhnend hin und her und verzieht schmerzhaft das Ge-
sieht.) — „Wo hat er Sie hingeschlagen?" Patientin zeigt die linke Schläfe und
den Hinterkopf." — Nach kurzer Pause tritt erneute Unruhe mit krampfartigem
Zucken des Körpers ein. — „Was ist jetzt wieder?" „Es klingelt." — »Wo?"
„In der Wohnung der Kochstrasse." — „Welcher Tag ist?" „13. December." —
„Wer kommt?" „Mein Mann und der Agent." — „Welcher Agent?" Keine
Antwort, anhaltende Unruhe. — „Sprechen Sie sich offen aus, dann werden die
Schmerzen vergehen . . . Welcher Agent?" „Dem der Mann das Geld schuldet."
— „Was geschieht nun, wie die beiden kommen?" „Der Mann verlangt, ich aoll
unterschreiben." — „Und Sie?" „Ich thue es nicht." — „Dann erzählen Sie selbst
möglichst ausführlich." „Der Agent verlangt auch meine Unterschrift . • . oder . • .*'
— Stockt, lebhafte convulsivische Erschütterungen des Körpers, es erfolgt keine
Zur Methodik der hypnotischen Behandlung. 371
genauere Auskunft trotz eindringlichen Zuredens. — n^^ haben die beiden denn
noch gethan ?" y,Sie sagten, ich solle es mir bis zum andern Morgen überlegen, es
liege Alles in meiner Hand, dann sind sie fortgegangen/ — Schlusssuggestionen:
„Nun wird die Erinnerung an dieses Erlebniss bald ganz schwinden, Sie werden
den Schreck vergessen und die Schmerzen dauernd verlieren, die Schmerzen sind
jetzt weg . . . fühlen Sie es?" «Ja." — „Dann wachen Sie auf, 1, 2, 3" — Die
Schmerzen sind verschwunden. —
2. Sitzung 20. y. Schmerzen bald wiedergekehrt. Somnambulhypnose wie
oben. Hypnoide Delirien mit motorischer Unruhe.
„Wo sind Sie jetzt?" „Zu Hause im Wohnzimmer." — „Welcher Tag?"
„10. December 89." — „Wer ist noch da? . . ." „Mein Mann." — „Wer noch?"
— „Den Agenten hat er ins andere Zimmer geschafft." — „Was thut Ihr Mann ?"
„Er will Geld haben." — „Sie sagen?" „Ich habe keines." — „Und er?" „Ich
könne es ihm leicht verschaffen." — n^i^^" »1^^ 8&g®9 ich wüsste nicht wie."
(Stärkere Zuckungen). — „Dann?" „Er sagt, der Agent würde es mir schon
geben, wenn ich nur wollte." — „Weiter?" „Ich sage, das würde ich nie thun."
— „Und er?" „Er werde es mir schon eintränken." — „Was dann?" „Er
schickt mich ins andere Zimmer und da ist der Agent drinnen . . . mein Mann
schliesst die Thüre hinter uns zu . . ." (Patientin verbirgt das Gesicht mit den
Händen und schweigt lange.) — „Was dann? . . ." „Der Agent sagt, es freue ihn,
dass ich mit meinem Mann gesprochen und es mir überlegt habe . . . dann kommt
er auf mich zu." — „Sie?" „Ich sage, er solle sich nicht wagen, mich anzu-
rühren ..." — „Dann?" „Ich rufe meinen Mann." — „Und?" „Der kommt nicht
und droht mir." — „Der Agent sagt?" „Ich solle gescheit sein." — „Sie?" „Er
solle mich in Buhe lassen." — „Weiter!" „Ich springe nach dem Fenster und
will rufen ... er kommt mir nach . . . mein Mann stürzt herein ... er packt mich
an." — „Wer?" „Der Agent will mich fassen." — „Sie?" „Ich schlage ihm ins
Gesicht, dass er mich loslässt." — „Dann?" „Ich bin fortgerannt." — „Was ge-
schah dann?" „Mein Mann wollte nachkommen, ich hab' aber abgeschlossen." —
„Nun sagen Sie, haben Sie diese Scene heute erlebt?" „Ja." — „Sie wissen doch,
dass Sie in A. in der Heilanstalt sind?" „Ja." — „Wann haben Sie das Erlebniss
gehabt?" „Heute Mittag." — „Wie war da«? „Ich habe den Agenten vor mir
gesehen und meinen Mann . . . ganz leibhaftig, auch das Zimmer." — „Ist das
früher schon öfter vorgekommen?" „Ja, täglich." — „Bekommen Sie danach
jedesmal Schmerzen?" „Ja." — „Erleben Sie jedesmal, wenn Sie die Gestalt
sehen, die ganze ängstliche Scene?" „Nein, nicht immer." — „Aber Sie bekommen
stets Kopfschmerzen?" „Ja." — „Fühlen Sie den Schmerz wie einen heftigen
Schlag?" „Ja." — „Sind Sie sich im Wachen dieser durchlebten Scene bewusst?"
„Nein." — „Sie erinnern sich nicht mehr an die Vorgänge, wenn Sie wach sind?"
„Nein." — „Wie kommt es, dass Sie Alles vergessen haben?" „Ich weiss nicht."
— „Erinnern Sie sich im Wachen, dass Sie die Gestalt gesehen haben?" „Ja."
„Haben Sie jetzt noch Kopfschmerz?" „Nein." — „Dann vergessen Sie jetzt
diese Scene ganz und gar, sie kommt Ihnen nicht mehr in den Sinn . . . Sie ver-
gessen nicht nur die Einzelheiten, sondern den ganzen Vorgang; auch die Er-
innerung an die Gestalt schwindet ganz und Sie verlieren so den Kopfschmerz
gänzlich." — Wach. Der Kopfschmerz ist beseitigt.
3. Sitzung. Unmittelbar darauf Somnambulhypnose. Suggestion des ruhigen
372 ^ Brodmann.
WieitendiUeBi . . . plöislicliM «ngstTallai Znsammenfalireii, schreckliBfie Abugekr.
«Wm ist densi?'' ^ie GmUlt kommt.*" -- „Wo?'' „In der Schla&tube." —
„Wfik^ Btnxid«?" „Moi^ns 3 Uhr,'* — „Liegen Sie zn Bett?** „N^n, ich l>in
•uiffeatainden.'' — „Wesbafi)?* „Idi hörte die Beiden miteinander kommen.'' —
„Dann?'' „leh habe die Thüre zugescfaloflaen.'' — Patientin erzahlt unter Tielem
Stooken in abgerissenen Sätaen me bi^er: Der Hann verlangt Einlasi . . . ^e
beschwört ihn, den Agenten fortzuschicken, er behauptet allein zu sein, sie sofaiiesst
Didbt aoi, bis der Agent fort ist, dann kommt der Mann herein und fiingt an, mit
Schimpfen und Drohen auf sie einzudringen, er misshandelt sie, schlagt mit dar
Faust auf sie ein und stösst ihre Stime gegen den Schrank. Sie hat furchtbare
Schmerzen und damit er sie nur loslasse, yersprieht sie, morgen dem Agenten zn
Willen zu sein. £r fahrt mit Drohungen und Beschimpfungen fort, bis sie ins
andere Zimmer flüchtet und sich einschliesst. „Wann haben Sie dieses Erlebnias
gehabt?" „Heute.*' — „Was war die Ursache davon?" „Ich weiss nicht.'' —
„Haben Sie eii^e bestimmte Erinnerung gehabt, die das Eriebniss aoHriaehte?*
„Ich weiss nicht." — „Besinnen Sie sich, was Sie damals thaten, als die Beiden
znm ersten Kaie ins Zimmer traten . . . ?" „Ich habe einen Brief geschrieben." —
„An wen?" „An meinen Bruder." — »Was thaten Sie heute, als die Scene auf*
tauchte?" „Ich habe an denselben Bruder geschrieben." — „Und nun beeinnea
Sie sich auch, warum die andere Scene, die Sie vorher erzählten, auftauchte ! . . ."
Keine Antwort. — Nach längerer Pause wieder heftige allgemeine Zuckungen.
„Was ist jetzt wieder? Kommt die Gestalt wieder?" „Nein." — „Was geschieht
denn?" „Es hat geklingeU." — „Welches Datum?" „13. Dezember 9 Uhr fröli."
— „Wer kommt denn?" „Der Werkführer." — „Was wiU er?" „Ich soll nach
der Werkstatt kommen." — „Was ist dort?" „Der Gerichtsvollzieher ist da." —
„Was will der?" „Es ist Alles versiegelt und er verlangt, ich soll fnr meinen
Mann bürgen." — „Was thun Sie?" „Ich weigere mich und gehe fort." — „Was
geschieht dann?" — Patientin macht lange Pausen, antwortet oft nur mürriaefa,
man muss ihr die Fragen so vorlegen, dass sie nur mit Ja und Nein zu antworten
braucht, sonst verweigert sie die Auskunft. Auf diese Weise erfährt man: Nach*
mittags desselben Tages ging Patientin von Hause fort zu ihren Eltern, weil sie
den Gerichtsvollzieher wieder erwartete und befürditete, dass ihr Kann wieder
mit dem Agenten komme. Wie sie Abends zurückkommt, sitzt der Agent allein
in ihrem Schlafzimmer, sie verweist ihm die Stube, er beruft sich auf den Mann,
dar ihn hereingelassen, er sucht sie erst durch Zärtlichkeit, dann durch Drohungen
willfährig zu machen, sie entflieht schliesslich in ein anderes Zimmer, dort trifft
sie ihren Kann, sie macht ihm Vorhalte, dass er so etwas von ihr verlange, ea
kommt zu einem erneuten Auftritt und rohen Misshandlungen, er schlägt sie,
wirft sie zu Boden, stösst den Kopf gegen die Erde und tritt mit Füssen nach
ihr. „Was geschah dann?" „Er ging weg und sagte, Abends setze es noch laebr
ab." — „Haben Sie das Alles heute früh erlebt?" „Ja." — „Ausserdem jmA
mehr?" „Ja." — „Dann erzählen Sie Alles?" „Das kann ich nicht sagen." —
„Sie müssen es erzählen ..." — Pause. Lebhafte Convulsionen. «—
„Was ist los?" Keine Antwort. Durch Suggestivfragmi enthüllt sieh lang-
sam folgendes weitere Eriebniss: es ist 14. Dezember, der Tag nach obigem Er-
eigniss, nachts 4 Uhr, der Kann kommt betrunken nach Hanse, sie theilt ihm mit,
dass wieder Wechsel eingegangen, dass die ganzen Möbel versiegelt seien und
Zur Methodik der hjpnqtisohen Behandlang. 378
maeht ihm Vorhalte, dasa er sieh trotzdem die ganzen Nächte herumtreibe und
sieh mit Mädchen öffentlich abgebe, dass die Nachbarschaft davon spreche. Br
wird irüthend und wirft ein offenes Messer nach ihr, dass es in der Wand stecken
bleibt, dann greift er sie thätlich an und misshandelt sie mit Schlägen und Fuss-
tritten bis si« bewusstlos liegen bleibt. Als sie zu sieh kommt, ist es spater
Morgen, der Mann ist fort. — „Ist das nun wiridieh Alles, was sie heute dureh-
orlebt haben ?** „Ja.*' — „Andere Erinnerungen kanten Ihnen nicht?" „Nein."
— „Dann wird jetzt auch der Kopfschmerz yerschwunden sein und fortbleiben."
— Weiterschlafen Vt Stunde. — Beim Erwachen frei von Schmerzen. Ich über-
gehe eine Keihe von Analysen, welche nichts wesentlich Neues zu Tage förderten
und bringe kurz das Resultat einiger späterer Analysen, welche uns über den
Mechanismus gewisser Symptome und die Ursache von deren Auslösung Auf-
schluss gaben.
27. y. Patientin hat heute nach dem Kaffee Erbrechen gehabt und klagt
seitdem über heftige Leibschmerzen; eine Ursache weiss sie im Wachen nicht an-
zugeben. Im Zustand hypnotischer Hypermnesie wird folgender Zusammenhang
aufgedeckt. Patientin hat heute früh einen Brief von Hause erhalten, durch
den ihr die Erinnerung an ihren geschiedenen Mann wachgerufen wurde; wie sie
nun allein beim Kaffeetrinken sass und über den Brief nachdachte, sah sie plötz-
lich das Gesicht ihres Mannes mit drohender Miene durch das Fenster herein-
schauen; sie erschrack darüber ungemein und hatte dabei augenblicklich die Er-
innerung, wie eines Tages, es war der 17. Juni, ihr Mann ebenfalls nach Hause
kam, als sie gerade frühstückte, sie machte ihm Vorwürfe, weil ihr am Tag zuvor
mitgetheilt worden war, dass ihr Mann mit Mädchen Verkehr unterhalte, er
wurde wüthend, misshandelte sie und trat sie so gegen den Leib, dass sie damals
öfter Erbrechen hatte ; als heute früh das Gesicht auftauchte, spiärte sie momentan
einen starken Schmerz in der Magengegend, es wurde ihr übel und sie musste
erbrechen.
2. VI. Eine Ohnmacht bei Tische findet folgende Erklärung: am 15. Juni 89
sass Patientin mit ihrem Mann bei Tische, sie hatte ihrem Mann zu Liebe Kuchen
gebacken und wollte nun ein sübemes Dessertbesteck, das ihr zur Hochzeit ge-
schenkt worden war, aus der Kommode holen; das Besteck war fort und der
Mann musste zugeben, dass er es heimlich versetzt hatte. Sie verlangt das Be-
steck zurück, der Mann verweist sie an den Agenten, der würde es gerne aus-
lösen; schliesslich schlägt er sie, dass sie ohnmächtig wird. Die Erinnerung an
diesen Vorgang wurde heute Mittag durch ein ähnliches Tischbesteek wieder
wachgerufen, sie bekam sofort furchtbare Stiche in den Kopf, wie w«nn sie mit
einem scharfen Gegenstand gegen die Schläfe geschlagen würde und wurde in
Folge dessen ohnmächtig.
18. VI. Lief heute auf dem Spaziergang im Walde plötzlich aufgeregt davon,
rannte nach Hanse und schloss sich im Zimmer ein, klagt über heftige Schläfe-
schmerzen. Analyse ergiebt folgendes: Es war ein schöner Sommertag wie heute,
sie machte mit ihrem Bräutigam einen Ausflug in den Wald, sie setzten sich auf
einen frisch gefällten Baumstamm ; als sie vorhin im Walde Holzföller sah, tauchte
die Erinnerung an die glückliche Brautzeit in ihr auf und sie fühlte sich in ihrer
jetzigen Lage tief unglücklich ; dann sah sie plötzlich hsUucinatorisch auf dem Wege
ihren Mann auf sich zukommen, sie fürchtete sich vor ihm und flüchtete nach Hause.
Zeitschrift für Hypnotismos etc. X. 25
374 K. Brodmann.
21. VI. Dasselbe Ereigniss auf der Kegelbahn, ausgelöst durch die Er-
innerung an ein in ihrer Brautzeit verlebtes Kegelfest. Weiter giebt Patientin
an, dass sie schon lange von ihrem Manne sich verfolgt fühle, erst habe sie nur
sein Gesicht zuweilen gesehen, besonders in der Dämmerung sehe es zum Fenster
herein, in letzter Zeit ereigne es sich häufiger, die Gestalt stehe auf einmal leib-
haftig vor ihr, wie hingezaubert. Nachts höre sie ihn zur Thüre hereinkommen,
sie bekommt grosse Angst, fühlt dann plötzlich einen heftigen Schlag gegen die
Stirne, der ihr Kopfschmerzen verursacht und kann in Folge dessen nicht mehr
einschlafen.
Eine ähDliche Psychogenese liess sich bei dieser Kranken späterhin
für alle Einzelheiten des Krankheitszustandes durch Causalanalysen in
der Hypnose nachweisen. Die Aufdeckung des Zusammenhanges be-
seitigt« jedoch, obwohl es an der nöthigen Affectbetonung beim Wieder-
erwecken der Erinnerungen nicht fehlte, das durch den erinnerten Vor-
gaug hervorgerufene Symptom niemals, es bedurfte stets erst nachdrück-
licher Suggestionen des Schwindens der Symptome ; auch die Suggestion
des Vergessens dieser Erlebnisse hatte keinen bleibenden Erfolg ; voniber-
gehend wurden allerdings die pathogenen Vorgänge, für welche Vergessen
suggerirt worden war, nicht mehr reproducirt, sie schienen auch für das
hypermnestische Bewusstsein der Hypnose ausgelöscht, datür kamen
aber um so mehr andere, associativ verwandte pathogene Erinnerungen,
welche dieselben Symptome auslösten, zum Vorschein und schliesslich
kehrten auch die zeitweilig in Vergessenheit gerathenen Elemente wieder.
Häufig geschah es, dass dasselbe erinnerte Erlebniss nacheinander
wiederholt als Ursache verschiedener Symptome aufgedeckt wurde,
trotzdem in früheren Hypnosen bereits eine lebhafte Affectreaction auf
dasselbe stattgefunden hatte. Unmittelbaren Heileffect hatten also in
diesem Falle die Psychoanalysen und das mit ihnen verbundene Ab-
reagiren nicht, wir gewannen sogar die Ueberzeugung, dass durch das
häufige Wachrufen jener pathogenen Erlebnisse dieselben im Bewusst-
sein in grössere Bereitschaft gesetzt wurden, sich in Folge dessen
leichter reproducirten und dadurch pathogener wurden; es kam
während der Psychoanalysen soweit, dass jeder neue Eindruck patho-
gene Erinnerungen weckte und dadurch der Anlass für das Auf-
treten einer krankhaften Erscheinung wurde. Wir sahen uns daher
genöthigt, einen hypnotischen Dauerschlaf mit absoluter Bettruhe und
Isolirung anzuordnen, der denn auch bald Besserung brachte. Das
Breuer -Freud 'sehe Verfahren des Abreagirens hat also in diesem
Falle, wie wohl in allen anderen unserer Beobachtung, nur einen
mittelbaren Werth gehabt, indem es die psychische Genese des
Zur Methodik der hypnotischen Behandlung. 375
einzelnen Symptoms erkennen Hess und so unser weiteres thera-
peutisches Handeln bestimmte.
Eine eingehendere Nachforschung bezüglich der Angaben, die uns
die Kranke in ihren Analysen gemacht hatte, ergab nun aber, dass ein
Theil der in Hypnose wieder durchlebten Scenen keine realen Erleb-
nisse darstellten, sondern vielmehr Wiederholungen von Inhalten hyste-
rischer Delirien waren. Fragte man die Kranke selbst in der Hypnose
nach der Realität dieser Erlebnisse, so bejahte sie dieselben aufs Ent-
schiedenste, es fehlte ihr eben die klare Kritik über ihre Erinnerungen.
Dies hängt damit zusammen, dass wir in diesem Falle einfach einen
solchen Hypnosezustand schufen, in dem das Erinnerungsvermögen ent-
schieden gesteigert war, unbekümmert darum, ob nicht, bei der mehr
oder weniger spontanen Entstehung des Hypnosezustandes, parallel der
hypnotischen Einengung auch die Kritik eine Einbusse erlitten hatte.
Indem wir sodann späterhin jenen speciellen Zustand von partiellem
systematischem Wachsein schufen, in dem Kritik und Hypermnesie
zugleich vereinigt sind, gewannen wir allmählich einen tieferen Einblick
in die Natur der durch die Analysen reproducirten Erinnerungsketten
und lernten jene durch Mangel an Kritik seitens der Hypnotisirten be-
dingten Fehlerquellen der Causalanalysen vermeiden. Darin liegt ein
wesentlicher Fortschritt in der Technik der Psychoanalysen, obwohl
allerdings auch jetzt ein unmittelbarer Heilerfolg des Abreagirens nicht
eintrat. Wir möchten aber nur nochmals betonen, dass, wie Vogt
in früheren Arbeiten dieser Zeitschrift ausgeführt hat ^), eine zuver-
lässige Causalanalyse der Genese hysterischer Erscheinungen, nur im
Zustande des systematisch eingeengten Wachseins und nicht, wie Freud
will, in jedem beliebig erzeugten hypnotischen oder wachen Bewusst-
seinszustande möglich ist. Die Technik derartiger Analysen, sowie die
speciellen Indicationen hat Vogt ^) bereits an einer Reihe von Beispielen
ausfuhrlich dargestellt, so dass es nicht nöthig ist, nochmals im Einzelnen
darauf einzugehen. Die Technik der Beseitigung von pathologischen
Amnesien (hysterischen und epileptischen) im Zustande der hypnotischen
Hypermnesie hat durch die Arbeiten von Naef) und Gräter*) in
dieser Zeitschrift bereits eine erschöpfende Behandlung erfahren, so
dass ich auf deren Darstellung verzichten kann.
^) 0. Vogt, Zur Methodik der ätiologischen Erforschung der Hysterie. —
Diese Zeitschrift, Bd. VILI, p. 66ff. 0. Y o g t, Zur Kritik der psychogenetischen Br-
forschung der Hysterie. Daselbst S. 342 flF. «) Bd. V, S. 97. ») Bd. Vin, S. 129 ffl
25*
Zur Erweiterung unserer Zeitschrift.
Von
Oskur Togt.
unsere Zeitschrift beendet hiermit ihren zehnten Band. Wir haben
diesen Zeitpunkt abgewartet, nm eine wesentliche Erweiterung ihres
Programms eintreten zu lassen. Ja, wir haben schliesslich diesen
Termin um einige Monate hinausgeschoben, da die Lösung einer Beihe
technischer Fragen der weiteren Ausgestaltung unserer Zeitschrift vor-
angehen musste.
Unsere Zeitschrift ist unter sehr eigenthümlichen Umständen ge-
gründet worden. „Indem wir in deutscher Sprache,** sagte ForeP)
in dem Eröffnungsartikel, „eine wissenschaftliche Zeitschrift für Hypno-
tismus, — d. h. für die Suggestionslehre und für ihre practische Nutz-
anwendung ins Leben rufen, sind wir in die eigenthümliche Lage yer-
setzt, auseinanderzusetzen oder gar beweisen zu müssen, dass jene
Disciplin als ,. wissenschaftlich** zu betrachten sei, d. h. als berechtigter
Zweig der medicinischen und psychologischen Wissenschaft angehöre.
Würden wir eine Zeitschrift für Conchiologie, sogar für Balneotherapie
gründen, so würde man uns solchen Beweis erlassen. Aber sowohl er-
graute Häupter, wie jüngere Eiferer der Medicin fiahren in Einem fort,
zum Teil mit Hohn und Leidenschaft autoritäre, absprechende Ver-
dicte über den Hypnotismus zu veröffentlichen, als ob es zum «S^ten
Ton** gehören würde, so dass es höchste Zeit ist, einmal E^larheit
darin zu schaffen.** Und diese E^larheit konnte nur in einer eigenen
Zeitschrift geschaffen werden. Denn die Feindschaft gegen die
Suggestionslehre war eine so ausgesprochene, dass die meisten deutschen
medicinischen Zeitschriften die Aufnahme von Arbeiten über die
Suggestionslehre einfach verweigerten. So kam es zur Gründung
unserer Zeitschrift.
^) Diese Zeitschrift, Bd. 1, pag. 1.
Zur Erweiterung unserer Zeitschrift. 377
Als ich dann am Ende des dritten Bandes dem Drängen Forel's
nachgab und die Bedaction übernahm, war die Kampfzeit noch nicht
vorüber. Ich habe sie gründlich am eigenen Leibe erfahren müssen!
Ich hatte von vornherein die Absicht, der Zeitschrift diejenige Gestalt
zu geben, in der wir sie von nun an sehen werden. Aber der Zweck
der ursprünglichen Gründung legte mir zunächst starke , Fesseln an.
Die Zeitschrift hatte bei meiner Uebemahme der Redaction zwei
nächstliegende Aufgaben zu erfüllen. Einmal hatte sie den Ausbau
des Hypnotismus und seiner verschiedenen ^Nutzanwendungen, sowie
den der gesammten Psychotherapie zu fördern. Das war zugleich auch
der einzige Weg, „ofGciell" anerkannt zu werden. Dann war aber gleich-
zeitig auch der in der Praxis stehende Arzt in die für ihn wichtigen
Seiten unseres Gegenstandes einzuführen. Und dieses letztere war nach
mancher Richtung hin die schwierigere Aufgabe. Denn hier erfuhr ich gar
bald aus zahlreichen Beispielen, wie der heutige Arzt bei seiner ein-
seitig naturwissenschaftlichen Vorbildung nicht in der Lage ist, einem
zu concisen, viele psychologische Fachausdrücke enthaltenden Aufsatz
zu folgen. So wurde ich gezwungen, dankbar einfachere Beiträge aus
der Praxis von solchen Collegen anzunehmen, die für dasjenige ein
Yerständniss zeigten, was der practiscbe Arzt am nöthigsten hat. Ich
glaube nun, dass die Zeit gekommen ist, wo derartige casuistische
Aufsätze mehr in den Hintergrund treten können. Die Zeitschrift
hat ihrer genug gebracht, um noch auf längere Zeit demjenigen als
Fundgrube zu dienen, der dieselben sucht. Wer also vor allem
casuistische Beiträge zur Einführung in die Psychotherapie lesen will,
den verweisen wir auf die ersten zehn Bände unserer Zeitschrift. In
der Folgezeit sollen solche nur wesentlich referirt werden.
Statt dessen wollen wir uns jetzt ganz auf den weiteren Ausbau
des wissenschaftlichen Theiles unseres Programms concentriren. Und
diese Concentration wird uns um so leichter, da auch für den so hart
umstrittenen Punkt unseres Programms, die Psychotherapie, die
eigentliche Kampfzeit vorüber ist. Denn wenn ein hier in Berlin er-
scheinender Jahresbericht, der den Anspruch erhebt, das ganze Gebiet
der Psychiatrie und Neurologie zu behandeln, zwar über Klimatotherapie,
Mechanotherapie etc. berichtet, aber principiell die Psychotherapie
ignorirt, so ist doch dieser Standpunkt heutzutage im Allgemeinen
glücklicherweise ein überwundener. Er stellt nur noch einen isoMrten
Ueberrest ^iner vergangeneu Zeit dar.
Das „Journal für Psychologie und Neurologie^, wie fortan unsere
378 Oskar Vogt.
Zeitschrift heissen wird, soll, seinem Ursprung getreu, auch hinfort die
Lehre vom Hypnotismus pflegen. Die Symptomatologie des Hypno-
tismus ist in der Form, wie ich sie von jeher behandelt haben möchte ^),
durchaus noch nicht erledigt. Ebensowenig hat seine Bedeutung für
die psychologische Analyse bereits ihre volle Würdigung erfahren. Dar
gegen glaube ich nicht, dass die therapeutische Seite des Hypnotismus
noch emß grosse Vertiefung und seine therapeutische Anwendung eine
a^gcläeinere Verbreitung finden wird. Wir fassen die Hauptbedeutung
'oes Hypnotismus gegenüber der Gesammtmedicin als eine historische
auf: eine Anschauung, der auch andere Autoren Ausdruck gegeben
haben. Im hypnotischen Zustand ist die psychische Beeinflussung im
Vergleiche zum normalen Wachsein eine gesteigerte. In dieser That-
sache haben wir die Ursache dafür zu sehen, dass man erst bei An-
wendung hypnotischer Zustände auf den weiten Umfang psychischer
Einwirkung aufmerksam geworden ist. Aber nachdem wir nim einmal
diesen erkannt haben, bedürfen wir nun nur noch bei einem beschränkton
Bruchtheil von Nervenkranken dieser stärksten Form psychischer Ein-
wirkung. Im Uebrigen reicht das Wachsein eben aus, zumal früher die
Zunahme der Einwirkungsfahigkeit in der Hypnose öfter überschätzt
worden ist, da man den im "Wachsein möglichen hohen Grad von Beein-
flussbarkeit noch gar nicht kannte. Nachdem derselbe aber einmal
festgestellt ist, erweist sich die Anwendung der Hypnose nur noch für
ganz specielle Fälle als erforderlich.
^^ Wird dementsprechend der therapeutische Hypnotismus hinfort
mehr in unserem Programm zurücktreten, so werden dagegen die anderen
psychotherapeutischen Heilverfahren auch weiterhin einen Hauptpunkt
unseres Programms bilden. Psychotherapeutische Heilverfahren auf-
zudecken, theoretisch zu begründen, methodisch zu vervoUkomnmen
und in ihrer Indication immer schärfer zu präcisiren: darauf ab-
zielende Arbeiten wird die Zeitschrift auch hinfort zu bringen bemüht
sein. Gleichzeitig mit den therapeutisch wirksamen psychischen
Factoren werden dann aber auch die pathogenen und die für die
Prophylaxe in Betracht kommenden eine eingehende Würdigung
finden. Es werden eben alle nach irgend einer ärztlichen Richtung
bedeutungsvollen Formen seelischer Einwirkung auf Geist und Körper
auch fernerhin in unserem Journal eine Stätte der Pflege finden. Sie
verdienen dieses in hohem Maasse: einmal wegen ihrer für jeden
Arzt grossen practischen Wichtigkeit und dann, weil nur ein ein-
>) Vgl. Diese Zeitschrift, Bd. 3, pag. 356 ff.
Zar Erweiterung unserer Zeitschrift. 379
gehendes Studium ihnen bei ihrer Mannigfaltigkeit und Complicirthoit
gerecht zu werden im Stande ist.
Hiermit wird aber nur ein Punkt unseres Programms erledigt
sein. Ich habe schon bei meiner üebemahme der Bedaction der Zeit-
schrift darauf hingewiesen, dass eine weitgehende Programmerweiterung
beabsichtigt sei. Ich habe ebenfalls bereits damals die Richtung dieser
Erweiterung gekennzeichnet. Die Zeitschrift hat auch schon seit jener
Zeit manche Artikel in diesem Sinne gebracht. Aber erst heute sind
wir Yöllig in der Lage, damit zu beginnen, der Zeitschrift die von uns
von jeher erstrebte Form zu geben. Wir bedurften eines Instituts,
welches die Arbeitsgebiete vereinigte, die in unserer Zeitschrift be-
handelt werden sollen. Sollten aber selbst in einem solchen Institut
manche dieser Arbeitsgebiete, wie z. B. die Anatomie des Nerven-
systems und die Lehre von den körperlichen Rückwirkungen psychischer
Zustände wirklich gefördert werden, so bedurfte es bei der Veröffent-
lichung zahlreicher Abbildungen. Hier waren technische Vorarbeiten
nöthig, um bei einem verhältnissmässig geringen Kostenaufwand zahl-
reiche AbbUdungen in guter Reproduction bringen zu können.
Diese Vorbedingungen sind jetzt erfüllt. Ich habe der Realisirung
meines Planes von der Gründung einer neurologischen Centralstation
in dem von mir bereits in dieser Zeitschrift^) entwickelten Sinne näher
treten können. Das Journal wird das officielle Organ dieses „neuro-
biologischen Instituts^ werden.
Ebenso sind wir, Dank einigen photochemischen Reproductions*
verfahren, in der Lage, Abbildungen in gewünschter Zahl bei grösst-
möglichster Exactheit zu liefern.
So können wir jetzt die vollständige Erweiterung unserer Zeit-
schrift vornehmen. Sie soll nach zwei Gesichtspunkten hin erfolgen.
Einmal wollen wir an dem weiteren Ausbau der Psychopathologie
durch Vertiefung der psychologischen Analyse mitarbeiten. Hierbei
ist die Förderung der Psychopathologie Selbstzweck.
Daneben wollen wir aber von dem gesammten Gebiet der normalen,
pathologischen und vergleichenden Psychologie und Neurobiologie
(Anatomie und Physiologie des Nervensystems) gerade diejenigen Er-
scheinungen näher studiren, die geeignet sind, auf die Thatsachen eines
anderen Theilgebietes dieses ganzen Complexes aufklärend zu wirken.
Wir wollen so eine Wechselbefruchtung fördern zwischen Psychologie,
Anatomie des Nervensystems und Physiologie desselben, wie zwischen
>) Diese Zeitschrift, Bd. 10, pag. 170 ff.
380 OAur Vogt.
der Lehre vom Normalen und vom Pathologischen auf diesen Gebieten.
So werden wir z. B. die normalen Hemmungen in ihren psychologisdien
und physiologischen Aeusseruugen und Ursachen studiren, um auf diese
Weise ein Verständniss der pathologischen Hemmungen anzubahnen.
So werden wir versuchen, in die Complicationen des normalen Gefühls-
lebens an der Hand you pathologischen Carricaturen einzudringen.
Wir werden also ärztlich wichtige normale Erscheinungen vom Stand-
punkt des Arztes behandeln und umgekehrt für die Wiss^aachaft des
Normalen wertfavoUe pathologische Phänomene mit Rücksicht auf diese
ihre besondere Bedeutung. Femer werden wir z. B. diejenigen ana-
tomischen Fragen zu fördern uns bemühen, die zur Nenrenphysiologie
und zur Psychologie in näherer Beziehung stehen, während wir rein
morphologische Probleme vemachlässigeu werden. Wir wollen endlich
— um noch ein Beispiel zu citiren — bestrebt sein, aus der Thier-
psychologie Schlaglichter auf die menschlich« Psychologie zu werfen.
Es ist heute nicht meine Absicht, das Programm näher zu
detailliren. Eine Reihe besonderer Aufsätze in den ersten Heften der
neuen Folge werden diesem Zwecke zu dienen haben. Sie werden
gleichzeitig näher die Aufgaben umgrenzen, welche sich unser Institut
stellt. Dieser kleine Aufsatz sollte nur die allgemeinsten Umrisse
unseres Programms entwerfen : Umrisse, die wir zum Schluss noch
einmal kurz dahin zusammenfassen können, dass wir aus dem Gebiete
der normalen, pathologischen und vergleichenden Psychologie und Neuro-
biologie (Anatomie und Physiologie des Nerrensystems) solche Fragen
behandeln werden, die
1. Yon specieller Bedeutung für ein anderes der von uns gepflegten
Wissensgebiete oder
2. speciell ärztlich-psychologischer Natur sind : und zwar
a) entweder die psychische Genese, Therapie oder Prophylaxe von
Krankheitssymptomen oder
b) psychopathologische Probleme berühren.
Das „Journal für Psychologie und Neurologie^ wird in zwanglosen
Heften ausgegeben werden. 6 Hefte werden zu einem Bande ver-
einigt, der 20 Mark kosten wird. Jeder Band wird 15 Bogen, neben
Text und Illustrationen ca. 30 einfache oder 1 5 Doppeltafelu enthalten.
Das Journal wird vornehm ausgestattet werden und der Tafeln wegen
in vergrössertem Formate erscheinen.
Referate und Besprechungen.
Ä. 8. Woodworth, The accuracy of voluntary movement. The p«y-
chological review, edited by J. Mark Baldwin and J. Mc Keen Cattell. Series of
Monograph Supplements, Vol. III Nr. 2. July 1899. Published by the Macmillan
Company 66 Fifth Avenue, New York.
In der Einleitung hebt Verf. hervor, dass das Studium der willkürlichen Be-
wegungen bisher sehr wenig Berücksichtigung gefunden hat, man hat viel über die
Pereeption, aber nur sehr wenig über die Ausführung einer Bewegung geschrieben,
hat von der Einheit Willensimpuls, Ausführung und Pereeption einer Bewegung
überwiegend den rückläufigen Theil berücksichtigt.
I. Entsprechend obigem ist nur wenig Literatur vorhanden, wovon der grösste
Theil sich mehr mit der Genauigkeit der Pereeption als der Ausführung einer Be-
wegung beschäftigt. Goldscheider studirte die kleinsten wahrnehmbaren Be-
wegungen verschiedener Glieder, Wall und Hartwell, später Loeb verglichen
Bewegungen beider Arme, die gleich sein sollten. Loeb schloss aus seinen Ex-
perimenten, dass die Ausdehnung einer willkürlichen Bewegung zum grössten
Theile nach dem Willensimpuls beurtheilt wird. Delabarre hält die durch die
Bewegung ausgelösten Empfindungen für die Grundlage des Urtheils. Pullerton
und Cattell untersuchten die Geltung von Weber's Gesetz in Bezug auf die
Wahrnehmung und Reproduction von Bewegungen. Bowditch und Southard
bestimmten die Genauigkeit, mit der bei geschlossenen Augen ein Punkt getroffen
irerden konnte, dessen Lage vorher durch das Gesicht oder durch Berührung
festgestellt war. Münsterberg untersuchte den Einfluss, den Lust und Unlust
auf die Genauigkeit der Reproduction willkürlicher Bewegungen haben. Bryan
endlich studirte an Kindern von 6 — 16 Jahren die Genauigkeit und Schnelligkeit
Willkürlicher Bewegungen.
IL Methoden. Verf. benutzte zu einem Theil seiner Experimente ein um
leine horizontale Axe rotirendes Kymographion (Schtfelligkeit 1 — 6 mm per See),
von dem ein 24 cm breiter Papierstreifen ablief. Die Versuchsperson hatte nach
dem Takte eines Metronoms auf diesem Papier, von dem nur ein Theil durch einen
Schlitz sichtbar war, mit einer Bleifeder Linien zu ziehen. Die Aufgabe der Ver-
suchsperson wechselte in verschiedener Weise; theils sollte die zu ziehende Linie
38 S Referate and Besprechungen.
einer gegebenen, stets sichtbaren, theils der Torhergezogenen gleichen, theils nach
dem Gedächtniss reproducirt werden, oder von einer Parallele genau zur anderen
reichen.
Zu einer anderen Reihe von Experimenten wurde in kleine Quadrate ge-
theiltes Papier benutzt. Nach dem Takte des Metronoms hatte die Versuchs-
person in jedes einzelne Quadrat einen Punkt zu machen.
In einer dritten Versuchsreihe wurden die Ecken eines gleichseitigen Drei-
ecks von 15 cm Seitenlange mit einem Punkte yon 1 mm Durchmesser markirt.
Die Versuchsperson hatte nacheinander auf jedes Ziel einen Punkt zu machen.
Die Schnelligkeit wurde durch ein Metronom regulirt.
m. Beziehungen zwischen Genauigkeit und Schnelligkeit einer Bewegung.
Die Genauigkeit einer Bewegung nimmt ab mit steigender Geschwindigkeit, aber
nicht proportional dem Wachsen der Geschwindigkeit, sondern bei der rechten
Hand langsamer, bei der linken schneller. Werden die Versuche bei geschlossenen
Augen ausgeführt, oder so, dass die Versuchsperson ohne besondere Sorgfalt „aa-
tomatisch" arbeitet, so ergiebt sich anfangs eine geringere Genauigkeit, bei grosser
Geschwindigkeit aber ist für alle drei Versuchsanordnungen die Genauigkeit die-
selbe. Dies gilt sowohl für die rechte als für die linke Hand.
Die Faktoren, die bei der Ausführung einer bestimmten Bewegung in Be-
tracht kommen, sind die erste Anlage (initial adjustment) und die laufende Gon-
trolle (current control) — jedoch nur bei den langsamer auszuführenden. Steigt
die Schnelligkeit über ein gewisses Mass, so wird die laufende Controlle unmög-
lich; die Genauigkeit der Bewegung hängt dann lediglich davon ab, wie gleich-
förmig der erste Impuls, die Anlage, gegeben werden kann.
IV. Der Antheil der Anlage und der laufenden Controlle an der Genauig-
keit einer Bewegung. — Schnelle Bewegungen müssen im Ganzen ausgeführt
werden. Die laufende Controlle ist also nur bei langsamen Bewegungen möglieh.
Sie wird durch die Augen ausgeführt und zeigt sich darin, dass die Bewegung
kurz vor dem Ende sich yerlangsamt; ein Beweis dafür ist die Thatsache, dass
diese Verlangsamung fehlt, wenn die Bewegung bei geschlossenen Augen oder mehr
automatisch ausgeführt wird. Spuren dieser Controlle lassen sich noch bei 80 Be-
wegungen in der Minute gut erkennen. Die Gegenwart laufender Correcturen lasst
sich bei vielen Bewegungen des täglichen Lebens nachweisen.
V. Weber's Gesetz. — Bei Studien dieser Art drängt sich die Frage auf, ob
das Weber'sche Gesetz hier zutrifft. Bei einigen Experimenten nimmt in der
That die Genauigkeit ab proportional dem Wachsen der Geschwindigkeit, aber es
handelt sich nur um vereinzelte Fälle; im Grossen und Ganzen zeigt sich keine
Uebereinstimmung. Auch das von FuUerton und Ca t teil aufgestellte Geseta,
wonach die Genauigkeit abnehmen sollte proportional der Wurzel aus der Ge-
schwindigkeit, ist nicht anwendbar.
VI. Ungenauigkeit in der Perception und in der Bewegung. — „Eine Fehler-
quelle liegt in der Perception, eine andere darin, dass die Bewegung nicht genau
unseren Impuls ausführt; aber auch in dem Impids selbst, in dem Versuchen, die
Bewegung genau der Perception anzupassen, liegt eine Quelle für Fehler. Wenn
die Perception genau ist, ist die hieraus entstehende Ungenauigkeit gering; be-
trächtlich aber, wenn die Perception ungenau ist, weil dann der motorische An-
trieb theil weise willkürlich gewährt wird."
Heferate und Besprechungen. 383
VII. Sensorielle Basis für die Controlle der Bewegung. — In diesem Kapitel
analysirt Verf. die sensorielle Basis für die Controlle der Bewegungen. Bei den
langsamen Bewegungen ist die Aufsicht des Auges am wirksamsten; bei den
schnellen Bewegungen kann diese feine Controlle aber nicht mehr geübt werden.
„Es muss ein Gefühl geben für die Ausdehnung von Bewegungen, ein Gefühl, das
sich weder zurückführen lässt auf ein Gefühl der Kraft oder der Dauer einer Be-
wegung, noch auf eine für seine Anfangs« und Endlage. Dies Gefühl der Ausdehnung
ist wirklich die Basis, auf der die Controlle beruht. Die anderen mögen in ge-
wissen Situationen zur Hülfe herangezogen werden.*'
VIII. Einfluss Yon Ermüdung und Uebung.
„Die fortgesetzte Wiederholung einer bestimmten Bewegung bewirkt nur
eine langsame und geringe Abnahme in der Genauigkeit. Obgleich sehr klein, ist
diese Abnahme jedoch bei lange genug fortgesetztem Experimentiren unvermeid«
lieh; sie ist nicht die Folge blossen Erlahmens der Aufmerksamkeit." — Der Ein-
fluss der Uebung zeigt sich am deutlichsten bei langsamen Bewegungen, wo an-
fangs sehr ungleichmässige Resultate erhalten werden. Sind die Leistungen schon
im Anfang gleichmässig, oder ist die Schnelligkeit so gross, dass eine Controlle
über die Bewegung kaum noch geübt werden kann, so bringt die Uebung nur
einen geringen Fortschritt.
IX. Die beste Bewegung für das Schreiben. — Verf. fand bei seinen Ex-
perimenten, dass seitliche Bewegungen des Handgelenkes und des Unterarmes
länger ausgeführt werden konnten, als Bewegungen der Finger und des ganzen
Armes. Verf. schlägt vor die Bewegungen des Vorderarmes, die schneller und
leichter zu erlernen sind, zum Schreiben zu benutzen.
Isenberg, New York,
Dr. Freiherr v. Schrenck-Notzing (München), DerFallMainone. (Verbrechen
gegen die Sittlichkeit an einer Hypnotisirten, verhandelt vor dem Schwurgericht
in Köln am 7. und 8. Mai 1901.) Archiv für Kriminalanthropologie, Bd. VII,
8. 132—143.
V. Sch.'N. fügt zu den wenigen bekannten Fällen von Sittlichkeitsverbrechen
an einer hypnotisirten weiblichen Person einen neuen Fall, den ersten, der
nach dem bekannten Fall Czynski einem deutschen Schwurgericht zur Aburtheilung
vorgelegt wurde. Während es sich aber bei dem polnischen Berufsmagnetiseur
um die schwierige Beantwortung der Frage handelte, ob die, in der Suggestion der
Liebe bestehende hypnotische Beeinflussung der Frau v. Z. die Ursache ihrer
sexuellen Hingabe an den Hypnotiseur gewesen sei, die 3 Tage später im Wach-
zustande erfolgte, handelt es sich hier um „ein typisches, man kann sagen
klassisches Beispiel für den geschlechtlichen Missbrauch einer Hypnotisirten. **
Der Angeklagte Mainonc, der sich in 6 halbstündigen Unterrichtscursen bei
einem „Magnetopathen'' in Köln die Fähigkeit erworben hatte, alle Krankheiten
zu heilen,* gab an, die Maria K., ein 20 jähriges, sehr kurzsichtiges, unwissendes
und beschränktes Mädchen, von dem Augenleiden, das er als „Ansatz zum grauen
Staar" bezeichnete, durch magnetische Behandlung befreien zu können. Die ge-
richtlichen Feststellungen lassen es nicht zweifelhaft, dass Mainone das Mädchen wirk-
lich hypnotisirt hat, und zwar durch langes — bis zu 10 Minuten dauerndes — Anstarren-
384 Referate und Besprechnngen.
lassen einer auf einem Stifte betindlichen kleinen Meiallkttgel, durch Streichang-en
des Körpers und durch die Wortsuggestion des Eintritts von Mädigkeit und Schla£.
Bei der 3. „magnetischen" Sitasung entkleidete sich die M. R. auf Geheiss des M..,
der nun unzüchtige Manipulationen vornahm. In der 4. und 5. Sitzung voUfufarte
IL die vollständige Cohabitation. Die Manipulationen an den Genitalien moürirte
M. während der 3. und den folgenden Hypnosen seinem Opfer gegenüber damiit,
dass er ein flamleiden festgestellt hätte, und dass der „schlechte Harn** nun erst
heraus müsste. Erst nach dem 2. Goitus kam der M. R. die Sache verdächttgf
vor ; sie erzählte die Vorgänge bei dem Magnetiseur, so weit sie sich ihrer erinnert«,
ihrer Schwester, die eine ärztliche Untersnchang und dadurch die Aufklärang der
Angelegenheit veranlasste.
Die M. R. hatte für die Vorgänge bei der Defloration nur eine ganz summa-
rische Erinnerung, was für eine weitgehende Aenderang ihres Bewusstseinszustandes,
für das Vorhandensein einer tiefen flypnose spricht. Dife geistige Unreife nnd
Unerfahrenheit, eine gewisse Verstandesschwäche, Hessen sie den verbrechenscben
Plan des M. nicht durchschauen, so dass sie die merkwürdige Behandlung der
Augen, zu der eine vollständige Entkleidung gehörte, fortsetzte, ohne nur ihrer
Schwester, bei der sie wohnte, etwas davon zu erzählen. Vielleicht kann man in
diesem auf&llenden Schweigen eine länger dauernde Wirkung der hypnotischen
Beeinflussung sehen. Auch sonst war die M. R. zwischen den Hypnosen nicht
normal; sie war verwirrt und taumelig und geriet nach der letzten Hypnose in
einen Erregungszustand, der 2 Wochen dauerte.
V. Schr.-N. gab sein Gutachten dahin ab, dass Mainone die durch ihre
intellectuelle Widerstandsarmuth und ihre völlige Unwissenheit in geschlechtlichen
Dingen zur Vertührung und Suggerirung prädestinirte M. R. mittels hypno-
tischer Manipulationen in einen tiefen schlafartigen Zustand versetzt hätte, durch
den ihre freie WiUensbethätigung, die Möglichkeit, Widerstand zu leisten, völlig
aufgehoben gewesen wäre.
Die Geschworenen verneinten die Schuldfrage, ob M. eine in einem vdllenlosen
Zustande befindliche Frauensperson missbraucht habe, bejahten aber die andere
Schuldfrage, nach der die Manipulationen des M. während der 3. Hypnose eine „Be-
leidigung mittels einer Thätlichkeit** darstellen sollten. Das ganze Verhalten der
M. R. während der inkriminirten Handlungen und besonders nach ihnen schien
den Geschworenen unverträglich mit der Annahme zu sein, dass ihre fireie Willens-
bethätigung und damit die Möglichkeit des Widerstandes aufgehoben sei, während
der Sachverständige in diesen Eigenthümlichkeiten nur die Wirkung suggestiver
Beeinflussung zu erkennen glaubte, v. Schr.-N. glaubt, dass auch der Gerichtshof
seiner Ansicht gewesen sei und deshalb den theilweisen Freispruch der Geschworenen
durch eine verhältnissmässig hohe Strafobmessung für die thätliche Beleidigung
gewissermaassen habe corrigiren wollen. — Weshalb aber hält v. Schr.-N. den
14-tägigen Erregungszustand, den die M. R. nach der letzten Hypnose durchmachte,
für eine unzweifelhafte Folge der Hypnose oder des schlechten Hypnotisimngs«
Verfahrens? Es ist doch viel wahrscheinlicher, dass dieser Erregungsznstahd in der
Hauptsache durch das sexuelle Attentat selbst hervorgerufen wurde.
Georg Keferstein -Steglitz.
Lippert A Co. (O. Päts^sohe Bnohdr.), Naambnig a. S.
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