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ZEITSCHRIFT
lekinpfoig dir Eescbleehtskraetitieiteii.
Im Aufträge der Deutschen Gesellschaft
zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten
heraasgegeben von
Dr. A. Blaschko, Dr. E. Lesser,
Arzt ln Berlin. Professor a. d. Universität Berlin.
Dr. A. Neifser,
Geheimer Medizinalrat und Professor an der Unlversitlt Breslau.
Redaktion: Berlin W. 85, Potsdamer Straße 105*.
III. Band.
Leipzig 1905
Verlag von Johann Ambrosius Barth
BottpUta 17
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£ 2.0 \ • "2 A *
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5S75483
Inhalts-V erzeiehnls.
Origin&lbeitrfige.
R. de Campagnolle, H Über den Wert der modernen Instillationsprophy-
laxe der Gonorrhoe.S. 1 n.
XVI. Konferenz der deutschen Sittlichkeitsvereine am 2.—4. Oktober 1904
und internationaler Kongreß zur Bekämpfung der unsittlichen Lite¬
ratur am 5. und 6. Oktober 1904 in Köln.
R. Ko8smann, Darf der Arzt zum außerehelichen Geschlechtsverkehr
raten?.
Max Hirsch, Darf der Arzt zum außerehelichen Geschlechtsverkehr
raten?.
Hans Ferdy, Zur Geschichte des Coecal-Condoms.
Blokusewsky, Erwiderung auf Dr. R. de Campagnolles Arbeit „Über
den Wert der modernen Instillationsprophylaxe der Gonorrhoe“
Paul Kampffmeyer, Die Wohnungsmißstände im Prostitutions- und
im Schlafgftngerwesen und ihre gesetzliche Reform.
Im Loewenfeld, Über sexuelle Abstinenz.
E. v. Düring, Persönliche Ansichten über die Maßregeln zur Bekämpfung
der Geschlechtskrankheiten.S. 257 u.
R. de Campagnolle, Bemerkung zu Blokusewskis Erwiderung auf meine
Arbeit „Über den Wert der modernen Instillationsprophylaxe der
Gonorrhoe“.
Georg Rosenfeld, Alkohol und Geschlechtsleben.
Eggers-Smidt, Prostituiertenbriefe.
P. Kampffmeyer, Von der Erziehungsarbeit an Prostituierten . . .
Friedrich Hammer, Die Reglementierung der Prostitution S. 378 u.
Anna Pappritz, Welchen Schutz können Bordellstraßen gewähren? .
Reinhold Ledermann, Reichen die bisherigen Bestimmungen des
Krankeiiversicherungsgesetzes zur Heilung von Geschlechtskrank¬
heiten aus?.
M. Flesch, Tagebuch einer Verlorenen.
Seit«
51
116
125
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297
279
321
336
351
425
417
449
464
Referate und Tageageeohiohte.
Tagesgeschichte.S. 39 153, 281, 353, 386 u. 472
Referate.S. 32, 119, 150, 256, 295, 365, 408, 436 u. 471
Namenregister.481
Sachregister.482
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Zeitschrift
für
Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten
Band 3.
1904/5.
Nr. 1.
Uber den Wert der modernen Instiilationsprophylaxe
der Gonorrhöe.
Von
Dr. R. de Camp&gnolle, München.
Inhaltsübersicht
I. Entwicklung des Verfahrens. — Untersuchungsbedingungen. — Unter¬
suchungsergebnisse.
II. Die irritative Wirkung. — Beeinflußt die irritative Wirkung des Ver¬
fahrens die Akuität und den Verlauf einer trotz Anwendung desselben
akquirierten Gonorrhöe? — Die Bedeutung der Reiz Wirkung.
III. Bisherige Publikationen über Resultate der Instillationsprophylaxe. —
Andere Formen der Desinfektionsprophylaxe des Trippers. — Spezielle
Prophylaxe und „Gesamt“-Prophylaxe. — Neue Versuche in letzterer
Richtung.
I.
Entwicklung des Verfahrens. — Untersuchungsbedingungen.
„Gründliche Reinigung der männlichen Genitalien nach einem
Coitus impur. durch dünnere antiseptische Lösungen und prophy¬
laktische Einträufelung der gleichen Argentumlösung wie zur Pro¬
phylaxe der Ophthalmo-Blennorrhöe (2 Proz.) in die Fossa navicul.
und in die Harnröhrenmündung“ — mit diesen Worten inaugurierte
auf der Magdeburger Naturforscher-Versammlung 1884 ein Frauen¬
arzt, M. Sänger, damals Privatdozent in Leipzig, die spezielle
„Autoprophylaxe“ des Mannes gegen Gonorrhoe, und diese
Methode, die in der Folge bezüglich der gewählten Silberverhindung
einige Wandlungen durchgemacht hat, ist es, deren Wert auf
Grund während mehrerer Jahre gesammelter Erfahrungen in vor¬
liegender Arbeit untersucht werden soll.
Zeitschr. f. Bekämpfung d. Geschlechtskrankh. III. 1
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2
Campagnolle.
Für eine allgemein ethische und speziell ärztlich ethische Be¬
trachtung der Frage des Selbstschutzes und des durch den Arzt
empfohlenen Selbstschutzes — eine für unsere Epoche allerdings
außerordentlich charakteristische Frage, deren Aufwerfung vor
20 Jahren noch einfach undenkbar gewesen wäre, welchem Empfin¬
den meines Wissens nur Flesch-Frankfurt Ausdruck verliehen
hat — ist hier nicht der Ort; der Verfasser betrachtet angesichts
der enormen venerischen Durchseuchung der modernen Bevölkerung
die Notwendigkeit umfassender Eindämmuugsversuche als gegeben
und damit der Erprobung jeder zu diesem Zwecke empfohlenen
Maßregel auf ihre Tauglichkeit.
Die Autoprophylaxe erscheint als eine der wirksamsten und
wichtigsten Maßregeln, das hier zu erörternde neue Problem einer
solchen gegen gonorrhoische Infektion als eines der interessantesten
und originellsten der Gegenwart überhaupt
Merkwürdigerweise finde ich Saengers Namen, als des Vaters des
Instillationsverfahrens, in keiner einzigen mir bekannten diesbezüglichen
Publikation erwähnt. Hau ss man ns (1885) unabhängige Empfehlung
einer Einspritzung von 10 Tropfen Lapislösung eröffnet eine andere,
zweite Linie der Tripperprophylaxe, die der Schutzinjektionen, die
von dem Einträuflungsverfahren aus später erhellenden Gründen streng
unterschieden werden muß.
Beide Anregungen blieben ohne Widerhall; es mag an einer ge¬
wissen Reserve gelegen haben, mit der Kopp in seinem Lehrbuch 1889
das Haussmannsche Verfahren empfahl — jedenfalls trat die Allgemein¬
heit der Ärzte dem Vorschläge nicht näher.
Bekannter wurde die Prophylaxe erst, als Blokusewski 1895 das
Instillationsverfahren neuerdings anregte, gleichzeitig ein praktisches
„portatives“ Tropfröhrchen angab und Neisser einige warme,
wenn auch bedingte Empfehlungsworte der Methode mit auf den Weg
gab. Da ein solches Verfahren naturgemäß nur auf dem Wege des
Handels dem großen Publikum vermittelt werden kann, so ist Blo¬
kusewski unbedingt zuzusprechen, daß er die neue, längst vor ihm
von Sänger ausgesprochene Idee erst eigentlich fruchtbar und lebens¬
fähig gemacht hat. Blokusewskis Gebrauchsanweisung empfiehlt die
Eioträuflung von 1—2 Tropfen 2proz. Lapislösung möglichst bald, bis
spätestens eine halbe Stunde nach dem Beischlaf vorzunehmen, und als
zweckmäßig ein vorheriges Urinieren. Die Flüssigkeit soll 10—15 Sekunden
auf die Schleimhaut der Harnröhre ein wirken, dann abgeschüttelt oder
abgewaschen werden.
Allein, obschon Blokusewski angab, an 50 Männern der
Lassarschen Klinik die Einträuflung einer sogar 3proz. Höllen¬
steinlösung vorgenommen zu haben, „ohne daß dieselben irgend
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Uber den Wert der modernen Instillationsprophylaxe der Gonorrhöe. 3
eine besondere Empfindlichkeit gezeigt hatten" nnd, als hierdurch
bewiesen, die absolute Reizlosigkeit der Methode proklamierte,
wurden doch bald Stimmen laut, die eine völlige Unschädlichkeit
lebhaft bestritten.
Ullmann, der eine später zu besprechende Injektionsprophylaxe
angab, berichtete: „Die Lapisinstillation bereitet stets etwas, mitunter
auch sehr großen Schmerz, reaktive Schwellung und Eiterung, und ruft
gerade durch diese Symptome häufig ganz grundlos bei den betreffenden
Individuen den quälenden Verdacht einer stattgehabten Infektion hervor."
E. Frank schildert den Fall eines Offiziers, der vordem sexuell nie in¬
fiziert, bei zweimaliger Anwendung der Lapisprophylaxe jedesmal eine
Urethritis erlitt, die, abgesehen von dem erwähnten unangenehmen
Zweifel, zu Folgezuständen führte, die einer langwierigen instrumentellen
Behandlung zu ihrer Beseitigung bedurften. Neuerdings hat Schultze-
Berlin bei den Konsumenten öfters recht erhebliche Beschwerden beob¬
achtet und beschreibt den Fall einer eitrigen Urethritis. Loeb- Mann¬
heim sah in 82 Fällen von Lapisgebrauch neunmal profase Eiterungen
oder starke Schmerzen.
Nach all diesen Angaben steht nunmehr die Tatsache der
häufig stark irritierenden Wirkung der 2proz. Lapisprophylaxe —
die, wie ich gestehen muß, allen urologischen Erfahrungen mit
dieser Lösung zufolge (auch als ausgezeichnetes, vielfach gebrauchtes,
chemisches Provokativmittel bei Verdacht auf Gonokokkenlatenz)
eigentlich niemals berechtigten Zweifeln begegnen konnte — außer¬
halb jeder ernsten Diskussion, und es ist nur Blokusewski als
Autor des Lapis-„Samariters" zu verzeihen, daß er ungeachtet all
dieser Berichte in einer neueren Publikation 1903 bemerkt, er
hätte speziell die Angaben Franks über zu große Reizerscheinungen
als durch Zufälligkeiten bezw. durch unrichtige Apparate bedingt
sogleich zurückweisen können.
In eine neue Phase trat das Problem, als Ernst Frank 1898
vorschlug, zur Vermeidung dieser Reizwirkung statt des Höllensteins
das damals in Aufnahme gekommene Protargol zu verwenden und
den Wert dieser neuen Prophylaxe zugleich durch eine Serie
exakter Untersuchungen mittels Uberimpfung von Trippervirus auf
menschliche Harnröhren bekräftigen konnte.
In demselben Jahre hatte auch Welander die neue Silbereiwei߬
verbindung prophylaktisch, aber mittels Injektion unter großem Erfolge
verwertet; auch er hatte sehr wertvolle experimentelle Untersuchungen
angestellt, die ich jedoch, da sie für unsere Frage der Instillations-
prophylaxe keine Beweiskraft besitzen, hier übergehe.
1 *
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Campagnolle.
Konnte Bio kusewski die von ihm bei vorschriftsmäßiger An¬
wendung gewährleistete absolute Schutzkraft der Lapisprophylaxe
nur durch die Versicherung stützen, daß „Tausende von Samaritern
im In- und Auslande im Gebrauch seien, ohne daß ihm (oder
Neisser) eine ungünstige Mitteilung zugegangen sei“ und konnte für
die bakterizide Kraft der 2proz. Lapislösung nur der von Schäffer
und Steinschneider mittels Reinkulturen — also für die Praxis
nur sehr bedingt beweiskräftige — Nachweis einer Wachstums¬
hemmung der Gonokokken nach 5 Sekunden langer Einwirkung
derselben geltend gemacht werden, so bedeutete Ernst Franks
Publikation eine experimentelle Fundierung dieser Methode
und gleichzeitig eine wesentliche Verbesserung, also einen
Fortschritt nach zwei Richtungen hin.
Frank hatte 5 Männern frisch aus der menschlichen Harnröhre
entnommenes gonorrhoisches Sekret mittels Platinöse 2 mm tief in das
Orificium gebracht, hierauf 10 Minuten verstreichen lassen und hatte
dann zweien 1—2 Tropfen einer lOproz. Protargolglyzerinlösung auf
das Orificium aufgetropft, dann nach weiteren 5 Minuten noch 10 ccm
einer lproz. Protargollösung eingespritzt — aus letzterem Grunde
kommen diese ersten beiden Versuche wie die Welanderschen als Be¬
weismittel für die Instillationsprophylaxe in Wegfall —, den übrigen
3 Männern tropfte er einfach 2 Tropfen einer 20proz. Protargolglyzerin¬
lösung auf das Orificium auf; dieser letztere Modus wurde noch ver¬
sucht in einem sechsten letzten Falle, in dem jedoch das Sekret mehrere
Zentimeter tief eingeführt worden war. In den ersten 5 bezw. 3 Fällen
gelang der Versuch: die Infektion wurde verhütet. Der Kontrolle wegen
hatte Frank die Überimpfung jedesmal noch an einer zweiten Harn¬
röhre vorgenommen, die ohne Prophylaxe blieb: es trat stets Infektion
ein. Ferner wurden jene Männer, die nicht durch bereits früher akquirierte
Gonorrhöen bewiesen batten, daß sie nicht etwa immun seien, noch
nachträglich ohne Prophylaxe infiziert.
Aus dem Erfolge dieser tadellos ausgeführten und einwands¬
freien Versuche — freilich konnten, wie bemerkt, bei genauem Hin¬
sehen nur vier davon, wovon drei geglückt waren, in Betracht
kommen — schloß Frank, „daß es gelingt, durch einfaches Auf¬
tropfen einer 20proz. Protargolglyzerinlösung (es bedarf nach Auf¬
recht einer nur 5 Sekunden langen Einwirkung) nach der Kohabi-
tation auf das Orificium die Tripperinfektion mit Sicherheit zu
vermeiden, ohne daß dadurch die Harnröhre irgend welchen
Reizungen oder Schädigungen ausgesetzt wird“.
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Über den Wert der modernen Instillationsprophylaxe der Gonorrhöe. 5
Als weiteren wichtigen Vorzug der Protargolinstillation vor
der mit Lapis notierte Frank — neben der absoluten Reizlosig¬
keit — noch den, daß Protargol nicht durch Schleim und Sperma
chemisch alteriert werden und hierdurch an Wirksamkeit einbüßen
kann; aus diesem Grunde konnte er das von Blokusewski ge¬
forderte vorherige Urinieren als überflüssig, nicht zur Wir¬
kung nötig, bezeichnen — ein praktisch sehr bedeutsamer Vorzug,
da hiermit die Wirksamkeit von einer nicht stets erfüllbaren Be¬
dingung unabhängig gemacht, und überdies die Anwendung ver¬
einfacht wird.
Das nun erst wissenschaftlich sanktionierte Verfahren erfuhr
nun von verschiedenen Seiten warme Anerkennung unter Auf¬
forderung zu möglichster Verbreitung und konnte tatsächlich jetzt
mit ganz anderem Rechte wie früher empfohlen werden.
Ich selbst begann die Protargolinstillationen bald nach der
Frank sehen Publikation, während der Jahre 1899 und 1900, in
meiner Privatpraxis möglichst ausgiebig zu empfehlen; ich pflegte
dabei nicht auf diesbezügliche Anfragen seitens der Patienten zu
warten, sondern nahm Gelegenheit, alle wegen Geschlechtskrank¬
heit behandelten Patienten und auch diejenigen, die Gefahr zu
laufen schienen, geschlechtskrank zu werden, auf das neue Ver¬
fahren aufmerksam zu machen, unter Angabe eines nun auch von
Blokusewski mit Protargol gefüllten käuflichen „Samariters" oder
eines mit Benützung von Angaben Franks von den Farbenfabriken
Bayer-Elberfeld in den Handel gebrachten Tropfglases.
Diese Empfehlung geschahen im vollsten Vertrauen in die dem
Verfahren zugesprochenen Eigenschaften; das Präventivverfahren
wurde dabei sozusagen jedermann angeraten ohne irgend welche
Kautelen und Einschränkungen, und ohne daß ich mich um die
Resultate bekümmerte, da eben kein Grund zu einer Beobachtung
und Sammlung solcher der scheinbaren Vortrefflichkeit der Methode
wegen vorlag.
Niemals empfahl ich die spezielle Tripperprophylaxe allein,
sondern stets unter ausdrücklichem Hinweis auf die Halb¬
heit dieser Schutzmaßregel zusammen mit der von Neisser
und Joseph empfohlenen Einfettung des Glieds ante coitum.
Indessen mußte mir eine Reihe von Beobachtungen auffallen
(teilweise auch an Männern, denen von anderer Seite die Prophy¬
laxe empfohlen war), die mich annehmen ließen, daß es sich weder
mit der Sicherheit* noch mit der Gefahrlosigkeit des Verfahrens
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6 Campagnolie.
so verhalten könne, wie man aus den Versuchen Franks folgern
zu dürfen glaubte.
Von anderer Seite wurde nirgends über ähnliche Erfahrungen
berichtet; im Gegenteil erfuhr die Methode wiederholte günstige
Beurteilungen, ward also offenbar vielfach empfohlen und angewandt,
ohne daß anscheinend jemand bis dahin — Sommer 1901 — einen
Mißerfolg erlebt hatte; meine Beobachtungen schienen also völlig
isoliert zu stehen.
Unter diesen Umständen lag der Wunseh nahe, über den
Wert der neuen Prophylaxe durch weitere methodisch ange-
stellte Untersuchungen Klarheit zu gewinnen, dieselbe unter be¬
sonderen Bedingungen weiter zu empfehlen, zu erkunden, ob ich
noch mehreren, nunmehr einwandfrei basierten Fällen begegnen
würde, wo sich gesunde Männer trotz vorschriftsgemäßen Gebrauchs
der Prophylaxe gonorrhoisch infizierten oder irritative Urethritiden
davontrugen.
Es handelte sich dabei keineswegs um den Mißbrauch einer Privat¬
klientel zu Versuchszwecken, sondern einfach um die möglichst aus¬
gedehnte Empfehlung eines im freien Handel befindlichen, also
jedermann zugänglichen, durch autoritative Begutachtung ge¬
stützten Verfahrens, welches überdies weiterhin auch bei einigen Schiffen
der Kaiserlichen Marine versuchsweise in Anwendung gelangte, und das
zudem noch unter ganz besonderen Vorsichtsmaßregeln empfohlen
wurde, wie sie beim freien, ärztlich nicht vermittelten Gebrauch nach
den Anweisungen der Autoren nicht gegeben sind; schließlich habe ich
keinem ein Hehl daraus gemacht, daß ich mich trotz aller Empfehlungen
berechtigt glaubte, ein wenig skeptisch zu sein, sowohl nach der Richtung
der Reizlosigkeit wie der der Sicherheit hin.
Ich war mir wohl bewußt, wie schwierig es sein würde, eine
solche Erfahrungsreihe bei einem so delikaten Problem einwandfrei
zu basieren; Frank hatte, wie er mitteilt, einen statistischen Ver¬
such bald aufgegeben, Neisser schreibt: „Auch ich habe versucht,
eine Statistik nach dieser Richtung hin anzubahnen, aber ich
brauche nicht auseinander zu setzen, auf welche Schwierigkeiten
man hier stößt, wenn man brauchbare und vergleichbare Zahlen¬
reihen aufstellen will.“
Ich möchte hinzufügen: eine derartige Enquete ist in einer
Klinik überhaupt undurchführbar, obwohl man meinen könnte,
daß sie der überwältigenden Fülle des Materials halber gerade
Aufgabe einer solchen sein müßte. Sie ist ausschließlich in der
Privatpraxis möglich.
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Ober den Wert der modernen Instillationsprophylaxe der Gonorrhöe. 7
Kann es sich da auch nur um einen weit beschränkteren Kreis
von Beobachtungen handeln, so ist es doch lediglich hier möglich, zu
gebildeteren Männern in jenes fast vertrauliche, fast freundschaftliche
Verhältnis zu treten, das die oft nötigen, sehr diskreten Fragen seitens
des Arztes erlaubt, wie sie eben allein der intelligente Patient als be¬
rechtigt würdigen kann, der versteht, um welches wissenschaftliches
Interesse es sich für den Arzt dabei handelt, und welches diesem wahr¬
heitsgetreue Angaben verbürgt — bei allen sexuellen Erkundigungen
ein sehr beachtenswertes Moment. Nichtsdestoweniger habe ich
gegenüber den Angaben, vor allem betreffs tatsächlichen und
vorschriftsmäßigen Gebrauchs der Schutztropfen die nötige
Skepsis beobachtet; die größte Intelligenz, ein hoher Bildungsgrad
darf von vorsichtiger Auihahme aller auf Sexualität bezüglichen Mit¬
teilungen nicht entbinden, selbst wenn unter solcher Auslese eine-Statistik
sehr zusammenschmilzt. Mir kam sehr zu statten, daß ich eine relativ
große Anzahl von Medizinstudierendtu* unter memen Patienten zähle,
denn len zudem einige Teilnahme an dem Gegenstand einzuflößen ver¬
mochte. Auch auf eine gewisse, nicht gering zu bewertende Uneigen¬
nützigkeit, der ich vielfache wichtige Mitteilungen, anfklärende Besuche
und Bemühungen verdanke, dürfte nur in der Privatpraxis zu rechnen sein.
Vor allem war Sorgfalt erforderlich in der Auswahl der
Männer, denen zum Zwecke, ihre Erfahrungen zu verwerten, die
Prophylaxe zu empfehlen war. Wie mich meine früheren Beobach¬
tungen gelehrt hatten, und aus später darzulegenden Gründen,
durften dies nur bezüglich ihrer Harnwege völlig gesunde 1 )
Männer sein.
Nicht nur Tripperkranke, sondern auch Personen, bei
denen sich noch irgendwelche Erscheinungen des „post¬
gonorrhoischen Symptomenkomplexes“ (unter welchem sehr
passenden Namen Jadassohn sowohl den terminalen Katarrh,
wie die postgonorrhoischen Konsekutiverscheinungen begreift)
zeigten, mußten ausgeschlossen werden.
Die Empfehlung war also bedingt durch eine eingehende, viel¬
fach instrumenteile Untersuchung; hierdurch verlor ich manche
Personen für meine Enquete; der Mehrzahl allerdings ging das
Die Erfüllung von Fingere Postulat eines leukozytenfreien Fila¬
ments muß ja stets angestrebt werden, aber sie ist — darin werden mir wohl
alle Kollegen Recht geben — zuweilen unerreichbar; es handelt sich
dabei wahrscheinlich um in einigen tiefliegenden Drüsengruppen fortglimmende
Entzündungsreste. Die erfolgreichste Behandlung scheint mir noch eine vor¬
sichtige und beharrliche Sondenmassage. Solche Männer sind freilich, wie
übrigens auch die mit rein schleimigepithelialen Fäden, im strengsten Sinne
nicht „völlig gesund“ zu nennen.
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8
Campagnolle.
Interesse, über ihren wirklichen sexuellen Gesundheitsstand (ein
bekanntlich vielen selbst unklarer Punkt) orientiert zu sein und
eventuell sich heilen zu lassen, dem vor, nicht mehr infiziert zu
werden.
Es durfte keinerlei Sekretion der Harnröhre (Prostata und
Samenbläschen) bestehen, Filamente nur Schleim und Epithelien
führen; eine Einbettung von Leukozyten wurde nur dann unbe¬
achtet gelassen, wenn die übrigen Explorationen absolut nichts
Anormales ergaben, und wenn unter Alkoholexzessen dieser Cha¬
rakter der nur spärlichen Einlagerung von Eiterzellen nicht modi¬
fiziert wurde. Weder die Palpation der Prostata noch die Unter¬
suchung der aus dieser wie, wenn palpabel, den Samenbläschen,
weder die Kalibrierung der Urethra noch die Untersuchung des
über der Knopfsonde ausgedrückten Urethraldrüsensekrets (v.
Crippa) durften einen Testierenden Entzündungszustand nachweisen
lassen; die Drüsensekrete (Prostata und Urethraldrüsen) auch ohne
Gonokokken keine Eiterzellen führen.
Diese Untersuchungen wurden in allen Fällen von je be¬
standener Gonorrhöe, auch wenn keinerlei subjektive Erscheinungen
und keine Fadenbildung Vorlagen, ausgeführt, auch dann, wo ein
Faden- oder Flockengehalt des frisch entleerten Morgenharns mit
einer gegenteiligen Angabe der Betreffenden disharmonierte.
Wie notwendig die Untersuchung der exprimierten Sekrete beider
Drüsensysteme auch bei rein schleimig-desquamativen oder nur spärlich
Eiterzellen führenden Filamenten, bewiesen mir mehrfache Fälle, bei
denen Prostatasaft und Urethraldrüsenschleim eine überraschende Leuko¬
zytenmenge ergab. In der Regel sind freilich latente Affektionen der
Drüsensysteme durch stark leukozytenführendes Filament — die Affek¬
tionen der Litt röschen Drüsen und Morgagni sehen Krypten anscheinend
viel konstanter wie die der Prostata — begleitet.
Daher halte ich es für rationell, sofort nach Feststellung der Her¬
kunft der im frisch entleerten Morgenharn befindlichen Filamente durch
die Irrigationsprobe oder die Kromayersehe Färbung der Schleimhaut
der Anterior die Digitalexpression der Prostata und die Aus-
drückung der Harnröhrendrüsen über der Knopfsonde vor¬
zunehmen und diese Sekrete zu mikroskopieren, für rationeller sowohl
zur prompten Feststellung von Art und Sitz der Affektion wie ihres
gonorrhoischen Charakters als die Präparierung der Filamente (nach
Pipettierung, Abfiltrierung oder Zentrifugierung), obwohl dies als weiteres
interessantes Tempo der Untersuchung nicht versäumt werden darf; denn
einmal sind eben selbst rein epitheliale Fäden keineswegs beweisend
für einen rein schleimig-desquamativen, rein diffusen Katarrhund zweitens
gonokokkenfreie Filamente diagnostisch bezüglich latenter Gonorrhöe
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Über den Wert der modernen Instillationsprophylaxe der Gonorrhöe. 9
absolut nichtssagend. Ergeben sorgfältige and wiederholte Sekret¬
expressionen keine Gonokokken, dann wird man auch durch chemische
Provokation keine finden, nur unnötig die Schleimhaut reizen.
Im Gegenteil habe ich mich mehrmals überzeugt, daß eine recht ans-
giebige chemische Reizung keine Gonokokken produzieren konnte, während
das beim ersten Balaiement der Urethraldrüsen in reichlichster Weise ge¬
schah, oder auch die chemische superfizielle Entzündung brachte wohl
einige Gonokokken zur Diagnose, während das Balaiement eine ganze
Reinkultur davon ans Licht beförderte. —
Bezüglich der verwendeten Apparate ist folgendes zu bemerken.
Während ich vordem die mit 20proz. Protargolglyzerinlösung ge¬
füllten Tropfapparate, Blokusewskis „Samariter II“ und das
Frank sehe Röhrchen empfohlen hatte, verzichtete ich schon zu
Beginn meiner systematischen Untersuchung auf die allerdings
bequeme Empfehlung dieser käuflichen Füllungen, und zwar aus
nachstehenden Gründen.
Angesichts auffallender Reizerscheinungen, die ich wiederholt
beim Gebrauch der Protargolglyzerin enthaltenden Tropfapparate
konstatierte, war ich im festen Glauben an das Dogma der „abso¬
luten Reizlosigkeit“ des Protargol der Meinung, daß es der Gly¬
zeringehalt der Lösung sei, der dieselbe irritierend mache; ich war
dazu um so mehr geneigt, als ich öfters bemerkt hatte, daß ein
lOproz. Glyzerinzusatz zu Injektionsflüssigkeiten zwecks Erzielung
größerer Imbibitionsfähigkeit („Tiefenwirkung“) notorisch harmlose
Lösungen, wie die Ricordsche Injektion, unverkennbar irritierend
machte. Für diese Ansicht fand ich später eine Bestätigung:
Jesionek hat bei an männlichen und weiblichen Harnröhren
gerade mit 20proz. Protargolglyzerinlösung angestellten Unter¬
suchungen gefunden, daß dieses viel häufiger und in viel inten¬
siverem Grade eine Reaktion am Orificium veranlassen kann als
eine 20proz. wässerige Lösung; bei gleichen Untersuchungen mit
Eintropfen von Glyzerin allein, ergaben sich bei einem Drittel der
so behandelten Fälle entzündliche Reizerscheinungen.
Zweitens hatte schon im März 1901 F. Goldmann darauf
hingewiesen, daß es, sowohl um Reizungen zu vermeiden als die
bakterizide Kraft zu gewährleisten, in hohem Grade auf die Zu¬
bereitungsart und die Instandhaltung der. Lösungen ankomme.
Die Solutionen müssen in der Kälte hergestellt sein, die fertigen
Lösungen dürfen nicht erwärmt werden. Jesionek hat bei einer
größereren Zahl von klinischen Patienten die Abhängigkeit der
Wirkung von diesen Faktoren direkt zu beobachten Gelegenheit
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10
Campagnolle.
gehabt. Die Neigung zur raschen Zersetzung scheint mit der
Konzentrierung zuzunehmen, und F. Goldmann verwirft die hoch¬
prozentigen Stammlösungen und befürwortet frische Herstellung.
Da nun die im Handel befindlichen Tropfapparate sämtlich
das Protargol mit Glyzerinzusatz führten, die Zubereitungsart nicht
bekannt war, schließlich und vor allem aber naturgemäss keinerlei
Garantien gewähren konnten, daß sie eine frische unzersetzte
Lösung enthielten — aus den Apotheken entnommene Apparate
zeigen die Lösung meist dunkelbraun, bierähnlich, zuweilen trüb 1 )
— nahm ich von der Empfehlung der käuflichen Schutzmittel
völlig Abstand. Als ich vollends später im Herbste 1902 aus der
Erich Schultzeschen Arbeit erfuhr, daß im Juli desselben Jahres
im chemischen Laboratorium von Dr. Otto Meyer in Berlin eine
Untersuchung des Protargolgehalts zweier dem freien Handel ent¬
nommener Blokusewskischer Tropfapparate vorgenommen wurde
und die exakte chemische Analyse (an der Silbermenge bestimmt)
statt 20 Proz. Protargol nur 6 (!) resp. 14 Proz. ergab, da wünschte
ich mir im Interesse des wissenschaftlichen Wertes meiner Unter¬
suchungen Glück dazu, schon seit einem Jahre frühzeitig auf all
diese Apparate verzichtet zu haben.
Noch auf einen dritten Umstand mußte geachtet werden.
Gerade vor Beginn meiner Untersuchungen wurde darauf hinge¬
wiesen, daß die bisher angegebenen Tropfer unhygienisch waren,
denn sie dienten zum wiederholten Gebrauch; die Lösung konnte
nach jeder Instillation durch Regurgitieren von Sekreten bakteriell
verunreinigt, mindestens ihre Zersetzung dadurch gefördert werden.
Das Verdienst, auch hierauf als erster aufmerksam gemacht
zu haben, gebührt E. Frank.
Freilich, seinen im Frühjahr 1901 gleichzeitig angegebenen, nur
zu einmaligem Gebrauch bestimmten Apparat „Prophylactol“ zu ver¬
wenden, konnte ich mich aus den erstgenannten, Mischung und Qualität
der Füllung betreffenden Gründen nicht entschließen (zudem gab Frank
nicht die Zusammensetzung derselben an), ebensowenig die nach Franks
Prinzip konstruierten Tropfer Jacobsohns und Blokusewskis (neuer
Tropfer „Sanitas“).
Hier muß ich eines weiteren Apparats zu je einmaligem Gebrauch
Erwähnung tun, nämlich der Tübchen, die in dem seit 1902 existierenden
*) Auch Feibes bemerkt: „Die Protargollösung, die in den in den
Apotheken vorrätigen Schntzapparaten enthalten ist, ist, soweit ich das fest¬
stellen konnte, stets ganz dunkel gefärbt und fraglos zum größten TeU zersetzt.“
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Über den Wert der modernen Instillationsprophylaxe der Gonorrhöe. 11
Schatzbesteck „Viro“ enthalten sind. Diese bewundernswert sinnreich
konstruierten und praktischen Tübchen streben den Schutz mit einer
20proz. Protargolglyzeringelatine an. Auch auf ihre Empfehlung
mußte verzichtet werden, da eine Beeinflussung der bakteriziden Kraft
durch die Gelatinierung wahrscheinlich war; jüngst angestellte Kultur¬
versuche Dr. Aufrechts ergaben tatsächlich, daß die Gonokokken
in einer Minute noch nicht abgetötet waren; auch sollten die
Antigonorrhoicanur in jener Form angewendet werden, die die stärkste
bakterizide Kraft verbürgt, nämlich der wässerigen Lösung, und deren
Sicherheitdurch jene ein wandsfreie Versuche verbürgt schien.
Ich zog nun zunächst in Erwägung, eine frisch und in der
Kälte hergestellte 20proz. wäßrige Protargollösung ohne Glyzerin¬
zusatz in einem kleinen braunen Patenttropfglase zu verordnen,
mit der strikten Vorschrift, die Füllung nur 14 Tage lang zu be¬
nützen, ferner den Schnabel nicht ins Orificium einzusenken, son¬
dern die Lösung auf aas zwischen Daumen und Zeigefinger klaffend
gemachte Orificium einfach aufzutroplen, also nicht mit demselben
in Berührung zu bringen und nachher ab und zu die Lippen des
Orificiums aufeinander zu drücken; diese Anweisung hätte genau
dem von Frank bei seinen Versuchen befolgten Verfahren ent¬
sprochen.
Da aber Frank wie auch Blokusewski für den praktischen
Gebrauch Tropfgläser mit Ausflußrohr zum 2—3,bezw. 5—7 mm
tiefen Einsenken ins Orificium angeben, und ich den voraus¬
sichtlichen Einwand abschneiden wollte, als hätte ich meine Unter¬
suchungen unter ungünstigere Bedingungen gestellt als sie bei den
käuflichen Apparaten gegeben sind, mußte ich ebenfalls derartige
Instillationsapparate benützen lassen, die vielleicht kein tieferes,
aber ein reichlicheres Eindringen des Bakterizidums ermöglichen;
ferner hat zweifellos dies Einsenken des Apparats ins Orificium
den Vorzug, daß derselbe bezw. die Hand dabei eine Stütze findet,
wodurch die Manipulation an Sicherheit und Diskretion gewinnt.
Ich fand nun folgenden einfachen Modus: ich ließ die
betreffenden Personen einen der überall erhältlichen Tropfapparate,
besonders der bequem füllbaren Modelle, soweit sie nicht schon in
Besitz eines solchen waren, sich anschaffen und die darin enthaltene
(mit Glyzerin zubereitete, bezüglich ihrer Zubereitungsweise und
ihrer Konservierung zweifelhafte) Lösung wegschütten. Hierauf
wurden separat 5—10 g einer in der Kälte und frisch zu-
reiteten 20proz. Protargol- oder einer lOproz. Albarginlösung
bezogen und davon etwa ein Fünftel in den Tropfer gefüllt. Diese
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12
Campagnolle.
kleine Füllung durfte nur zu einmaligem Gebrauche dienen, der
Rest mußte („weil verunreinigt und unwirksam“) stets entfernt und
der Apparat mit Seifenwasser gründlich desinfiziert werden.
Der kühl aufzubewahrende Lösungsvorrat von 5—10 g war
nur, die Albargin- wie die Protargollösung, 14 Tage hindurch zur
Füllung der Röhrchen zu benutzen und mußte nach dieser Zeit,
wenn auch nicht oder nicht völlig verbraucht, erneuert werden.
Auf diese Weise war neben der Ausnützung der prakti¬
schen Apparate nach Möglichkeit der unzersetzte Zustand
einer richtig und frisch zubereiteten Lösung sowie der
hygienische Gebrauch derselben gewährleistet
Die Wahl des Protargols als Schutzlösung mußte ja jene Gold-
bergsche Publikation als höchst unglücklich erscheinen lassen,
denn wo wären die Bedingungen für eine rasche Zersetzung mehr
erfüllt als hier, wo eine 20proz., also sehr hoch konzentrierte
Lösung ständig, nach dem Wunsche eines Autors (Marschalko)
„in der Westentasche“ getragen, also warm gehalten wird. Wenn
ich mich trotzdem nicht entschließen konnte, gänzlich auf die
Verordnung dieser Silbereiweißverbindung zu verzichten, so geschah
dies, weil ich eben gerade das Antigonorrhoikum prüfen wollte,
womit jene als beweiskräftig für die Sicherheit des Verfahrens so
oft herangezogenen Versuche Franks ausgeführt worden waren.
Die erwähnte lOproz. Albarginlösung wurde etwa in der Hälfte
der Fälle verwandt; Albargin wird vor Protargol der Vorzug großer
Haltbarkeit zugeschrieben. Franks „Prophylaktol“ soll neuerdings,
wie Blokusewski bemerkt, ebenfalls eine Albarginlösung (20proz.)
enthalten; auch dieser läßt eines seiner Röhrchen mit 8 u. lOproz.
Albarginglyzerinlösung füllen. —
Was nun die Anwendungsweise der Prophylaxe betrifft, so
hielt ich mich zu Beginn meiner Untersuchungen ganz an die
Gebrauchsvorschrift Franks, des Autors der so bestechend ein¬
fachen Protargolprophylaxe, ließ gleich nach der Kohabitation ohne
vorhergehendes Urinieren 2—3 Tropfen instillieren, einen weiteren
Tropfen auf das Frenulum bringen; hierauf wurde bei zurück¬
gezogenem Präputium die ganze, vorher eingefettete äußere Glied¬
bedeckung unter besonderer Berücksichtigung der parafrenulären
Taschen mittels Seifenwassers gereinigt.
Bald jedoch nahm ich aus Gründen, die im nächsten Ab¬
schnitt darzulegen sein werden, die frühere für die Lapisprophylaxe
(Blokusewski) geltende Vorschrift, vor der Einträufelung zu uri-
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Über den Wert der modernen Instillationsprophyl&xe der Gonorrhoe. 13
nieren, auch für die Protargol- und Albarginprophylaxe wieder
auf („Urin vor beabsichtigtem Koitus anzuhalten ! <( ); im letzten
Jahre griff ich in diesem Punkte sogar auf den alten, von Blo-
kusewski mit Recht wieder empfohlenen Gebrauch zurück, unter
zeitweiligem Bedecken des Orificiums mit dem Finger zu urinieren,
um den Druckstrahl zu erhöhen und auch bei geringer Harnmenge
deren Druck wirksamer zu machen.
Noch nach einer weiteren Richtung hin glaubte ich im Laufe
meiner Untersuchungen im Interesse meiner Patienten die Vor¬
schriften der Autoren verschärfen zu müssen. Da Blokusewski
und Frank ihre Schutzlösungen für absolut reizlos und unschäd¬
lich hielten, gaben sie naturgemäß keinerlei Bestimmungen und
Beschränkungen betreffs der Häufigkeit der Anwendung der Bak-
tericida. Ich warnte davor, mehrere Instillationen rasch aufein¬
ander folgen zu lassen, dieselben vor 24 Stunden zu wiederholen.
Unter diesen Umständen waren allmählich meine Unter¬
suchungen unter günstigere Bedingungen gestellt, als der freie
ohne Vermittlung des Arztes erfolgende Gebrauch der Handels¬
ware sie bieten kann; meine Klientel benützte die Instillations¬
prophylaxe unter größeren Garantien für Sicherheit und
Unschädlichkeit, weil sie frischere Präparate gebrauchte, in der
vorschriftsmäßigen Anwendung persönlich unterwiesen werden
konnte, unter vorsichtigen Bestimmungen (vorheriges Urinieren)
und Einschränkungen (keine rasche Wiederholung der Prophylaxe)
instillierte.
Daß ich in allen Fällen die von Neisserund Joseph empfohlene
Gliedeinfettung gegen Lues als obligatorischen Komponenten des Selbst¬
schutzes unter eindringlicher Belehrung über die immer vor¬
handene Notwendigkeit dieser gleichzeitigen M aßregel 1 ) anordnete,
möchte ich hier nochmals erwähnen; eine luetische Infektion er¬
lebte ich dabei niemals.
Die Zahl der Personen, denen bei gesunden Harnwegen die
Instillationsprophylaxe in dieser Gestalt und unter den angeführten
Bedingungen empfohlen werden konnte, war freilich, da meine
Praxis noch jung ist, keine große. Einige früher beobachtete
*) Nor der Syphilitiker könnte, weil gegen neue luetische Infektion
immun, von der Luesprophylaxe entbunden werden. Es dürfte sich empfehlen
ihn auf diese Immunität nicht aufmerksam zu machen; er sollte nicht der
kleinen Mühe der Einfettung enthoben werden, die auch hier zuweilen gute
Dienste leisten wird als Prophylaxe — der Übertragung seiner eignen Lues.
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14
Campagnolle.
Fälle, über die ich mir genügende Notizen gemacht hatte, mitein-
gerechnet, waren es innerhalb dreier Jahre im ganzen 132 Männer.
Für meine Untersuchungen verwertbar waren die
Erfahrungen von 76 dieser Männer, verwertbar auf Grund
unbedingter Glaubwürdigkeit betreffs des Gebrauchs und der An¬
wendungsweise der Prophylaxe. Eine Bereicherung hätte mein
Material noch erfahren können durch mehrere Fälle, in denen
die Prophylaxe nicht von mir selbst empfohlen war; da ich hier
jedoch über den früheren Zustand der Harnröhre (latente Gonorrhöe?
terminaler Katarrh?) keine Orientierung besaß, ferner stets käuf¬
liche Füllungen benützt waren, verzichtete ich auf die Anreihung
dieser Fälle, zumal mir die Resultate meiner eigenen Umfrage zur
Klärung der Sache genügend erschienen.
Untersuchungsergebnisse.
Im Ganzen akquierierten 9 Männer trotz der Prophylaxe eine
Gonorrhoe. Da indessen von dreien die Installation uicht unmittel¬
bar, sondern erst einige Zeit (ca. 1 1 / 2 und 5 Stdn.) nach dem
Koitus vorgenommen worden war, kommen nur 6 Infektionen für
unsere Untersuchung in Betracht Jedoch sind auch jene Falle in
bestimmter Beziehung nicht uninteressant; sie finden sich daher
ebenfalls im Anhang beschrieben.
Sämtliche Infizierte hatten unter dem Gebrauch der Proyhylaxe
vor dem infizierenden Beischlaf mit einer oder mehreren Frauen —
einer mit einer notorisch tripperkranken Frau wiederholt — verkehrt,
ohne sexuell zu erkranken. In 8 Fällen erfolgte die Infektion bei
der ersten Kohabitation mit der betr. Frau, in einem Falle war
ein acht Tage zurückliegender Verkehr mit demselben damals
ereits zweifellos kranken Mädchen ungestraft geblieben.
Wie ist es zu erklären, daß der praktische Erfolg nicht hielt,
was die so sorgfältig ausgeführten Frankschen Versuche am lebenden
Menschen versprachen, daß sich diese als trügerisch erwiesen?
Das prophylaktische Verfahren selbst war hier wie dort das
gleiche, Frank hatte sogar die Schutzlösung bloß aufgetropft,
während ich direkt ins Orificium instillieren ließ, ein Modus, der
wohl ein kopiöseres Einbringen der Schutzlösung gewährleistet
Die nächste Erwägung ist nun: ob doch die Überimpfung
so einfach gleichgesetzt werden darf mit der natürlichen
Übertragung.
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Über den Wert der modernen Instillationsprophylaxe der Gonorrhöe. 15
Stellen wir uns den natürlichen Infektions Vorgang vor! Während
des Akts oder, da sich die Gonokokken, worauf Frank sehr richtig
aufmerksam macht, zum Teil auch in den äußeren Genitalien des
Weibes, in der Urethra, in den Lakunen und Drüsen des Vestibulums
aufhalten, vielleicht schon bei der Immissio penis dringen Sekretteilchen
in das Orificium ein. (Zuweilen mag das virulente Sekret wohl auch
an der äußeren Gliedbedeckung, an der Eicheloberfläche, im Sulcus, be¬
sonders den p&rafrenulären Taschen oder am Präputium haften, um dann
mangels gründlicher Reinigung erst kürzere oder längere Zeit nach dem
Akte, meist schon beim Vorziehen der Vorhaut über die Eichel, ins
Orificium za gelangen.) Das in die Harnröhre aufgenommene Sekret
haftet vor der Ejakulation mit dem zähen, fadenziehenden, von den
Litt röschen Drüsen bei der Erektion reichlich abgesonderten Urethral¬
schleim, nach der Ejakulation mit einem Gemisch dieses und des Samens
am Epithelspiegel.
Nun ist die Frage, wie tief sich wohl die Gonokokken nach
dem Akte bei der Detumeszenz des Gliedes in der Harnröhre
befinden. Neisser und mit ihm Blokusewski und Frank nehmen
an, daß durch die stoßenden Bewegungen des erigierten Penis ein Klaffen
des Orificiums zustande kommt und die Gonokokken 6—8 mm tief ein-
d ringen.
Dennoch hat Frank bei den oben beschriebenen 3 Ver¬
suchen, die für unsere Frage allein in Betracht kommen und
gelungen sind, das Impfsekret nur 2 mm tief in die Harnröhre
gebracht; es ist dadurch dem eingeträufelten Baktericidum zweifellos
der Kontakt mit den Gonokokken gegenüber natürlichen Verhältnissen
erleichtert worden, denn diese waren demselben bedeutend zugänglicher
gemacht
Auch ich schließe mich der Ansicht Neissers als der Regel ent¬
sprechend an. Manchmal, glaube ich, mag das Sekret wohl auch eben
zwischen den Lippen in den Kommissuren des Orificiums haften, anderer¬
seits in manchen Fällen weit tiefer als in der vermuteten Norm ein-
dringen 1 ) auf diese Möglichkeit werden wir durch das Analogon tief¬
tiefsitzender Urethralsklerosen, dringend hingewiesen. Auch Frank scheint
*) Bezüglich der Gründe sind nur Vermutungen möglich. Wendt 1827
war der Meinung, daß in dem starren Rohr, welches die Urethra innerhalb
des erigierten Urethralschwellkörpers darstellt, ein Vakuum entsteht, welches
zu einer Ansaugung des virulösen (gonorrhoischen oder luetischen) Sekrets
führt Hyrtl glaubte, daß die Orificiumlippen bei der Vorwärtsbewegung
des Membrum in der Scheide sich öffnen und bei jedem Zurückziehen sich
wieder schließen, der in der Vagina befindliche Ansteckungsstoff also förmlich
eingepumpt werde. Bei protrahiertem Akte, bei Detumeszenz des Glieds in
vagina mag durch die Friktionen auch Sekret tiefer in die Urethra hinein-
befordert werden. Endlich kann wohl auch, wenn beim Schlaffwerden des
Glieds die Harnröhre, ein eigentliches Lumen verlierend, sich in Längs- uud
Querspalten zusammenlegt, das aufgenommene Sekret teils zwar aus dem Ori¬
ficium quellen, teils aber auch weiter nach hinten transferiert werden.
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16
Campagnolle.
nun diese Eventualität angenommen zu haben, da er in dem vierten und
letzten der ftir uns in Betracht kommenden Fälle die Platinöse einige
Zentimeter tief entführte; in diesem Falle jedoch wurde die Infektion,
wenn sie auch mild auftrat, nicht verhindert.
Die drei geglückten Überimpfungsversuche Franks haben
demnach nur einer Möglichkeit der natürlichen Übertragungstiefe
Rechnung getragen. Beim infektiösen Akte dringt das Virus häufig
viel tiefer in die Urethra ein, als es von dem Antigonorrhoicum
erreicht werden kann, selbst wenn dieses ins Orificium mit ein¬
gesenktem Tropfer statt auf dasselbe unter Klaffendmachen der
Lippen instilliert wird, sei es, daß die Tropfen knapp in die Fossa
gelangen oder, falls wirklich Teilchen davon tiefer dringen, doch
mit den innerhalb der Längs- und Querfalten haftenden Gonokokken
nicht in Kontakt geraten. —
Weiterhin: ist es überhaupt gleichgültig, ob man wie
bei Franks und allen bisherigen Überimpfungsversuchen das in¬
fektiöse Material in die kollabierte Urethra des schlaffen
Gliedes bringt oder ob die Gonokokken wie beim natür¬
lichen Akte eine ad maximum entfaltete, kongestionierte,
hyperämische Mukosa antreffen?
Wenn wir den Epithelspiegel der gesunden Harnröhre als
völlig intakte lückenlose Fläche annehmen, dann sind für
unsere bakteriologische Einsicht keine Vorteile für die wäh¬
rend der Erektion eingedrungenen Kokken erkennbar.
Anders, wenn das Epithel der Pars glandaris partienweise zer¬
klüftet, aufgelockert oder gar in einzelnen Schichten abgestoßen ist.
Eine Quellung und Lockerung durch den in erectione produzierten
Drüsenschleim nimmt Finger als gewöhnlich an; mag dem sein, wie
ihm wolle, jedenfalls ist in allen Fällen von fadeuhaltigem Harn —
und diese sind ungeheuer häufig — das Bestehen von, natürlich mit
Epitheleffekten verbundenen, Entzündungsresten unmittelbar bewiesen
und gestattet die Annahme einer häufigen Lokalisation derselben in der
Pars glandaris, dem Tummelplatz zahlreicher, das Fortglimmen dieser
Entzündungsreste unterhaltender Mikroorganismen, Verhältnisse, die später
noch zu erörtern sein werden.
Diese Epithelzerklüftungen und Erosionen werden aber bei kolla¬
bierter Harnröhre den übertragenen Gonokokken nicht in dem Maße
zugänglich sein, wie bei ihrer natürlichen Übertragung auf die in
erectione maximal entfaltete, sozusagen gespannte Mukosa; hier werden
alle diese Lücken sofort in ganzer Ausdehnung klaffen, ein Haften
infolge vergrößerter Oberfläche und vermehrter Angriffspunkte erleichtern,
einen Unterschlupf in den bei der Detumeszenz sich schließenden Läsionen
ermöglichen.
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Ober den Wert der modernen Instillationsprophylaxe der Gonorrhoe. 17
Ferner maß man sich fragen, ob nicht gerade auch die
Erektion ans demselben Grunde, der maximalen Entfaltung
der Mukosa, dem transferierten virulösen Sekret die Drüsen¬
mündungen zugänglich macht und so ebenfalls zu einer raschen
Bergung von Gonokokken beizutragen imstande ist Diese Vor¬
stellung drängt sich auf, wenn man Harnröhren mit terminalem Katarrh
endoskopiert und bei der durch den Tubus bewirkten starken Entfaltung
des Lumens, die sich der bei der Erektion gegebenen annähem mag,
häufig gleich hinter dem Eichelteile die vorgewölbten rotinjizierten
klaffenden Krater der Lakunen bemerkt
Aber auch in der gesunden, nie vom Tripper befallenen Harnröhre
ist dem Verfasser ein physiologisches Klaffen der Litt röschen Drüsen¬
mündungen und der Lakunen in erectione wahrscheinlich.
Eeliquet und Guepin haben festgestellt, daß die gewöhnlich
geradlinigen Ausführungsgänge der Litt röschen Drüsen schräg gegen
das Orficium gerichtet sind, und zwar ist diese Richtung um so schräger,
je stärker das Kaliber derselben und je näher am Orificium eine Drüse
gelegen ist Ich glaube, diese Anordnung in nächstliegender und un¬
gezwungener Weise als Schutzvorrichtung dieser Drüsenausführungsgänge
gegen das Eindringen von Harn deuten zu müssen. Unter dem Seiten¬
drucke der die Harnröhre passierenden und dehnenden Harnsäule preßt
sich die hintere proximale Lippe der Mündung wider die vordere und
schließt die Mündung des Ausführungsgangs klappenartig — ein äußerst
sinnreicher Verschluß, ähnlich dem der Ureterenmündungen durch die
gefüllte Blase. Auf einen analogen Verschluß durch den Druck injizierter
und zurückgehaltener Lösungen, wodurch diese am Eindringen ebenfalls
verhindert werden, hat Behrmann sehr richtig hingewiesen. Anders
bei der Erektion. Man darf annehmen, daß während dieser maximalsten
Dehnung der Urethra die Drüsenmündungen weit klaffen und zwar ein¬
mal deshalb, weil die Harnröhre vor und nach der Ejakulation nicht
unter dem Seitendruck einer sie völlig füllenden Flüssigkeit steht und
weil weiterhin die Littröschen Drüsen gerade bei der Erektion, ent-
sprechendder ad maximum entfalteten und vergrößerten Schleimhautober¬
fläche, besonders lebhaft absondern; hierbei dürfen die Drüsenmündungen
nicht wohl verlegt sein.
Es darf also wohl mit Recht ausgesprochen werden,
daß die Erektion, wenn auch von kurzer Dauer, beson¬
ders aber die (infolge Rauschs, Wiederholung usw.) protrahierte
Erektion eine rasche Haftung und Bergung von über¬
tragenen Gonokokken begünstigt, weil sie die kleinsten
Epithelzerklüftungen, die sich in sehr vielen als „gesund“ zu be¬
zeichnenden Harnröhren gerade an dieser Stelle befinden, klaffend
ausbreitet, ferner auch die Lakunen und die Mündungen derLittrö-
Drüsen zugänglich macht, daß demnach die experimentelle
Überimpfung von Trippersekret in den schlaffen Penis
Zoitschr. f. Bekämpfung d. Geschlechtekr&akh. III. 2
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18
Campagnolle.
den darauf folgenden Desinfektionsversuchen viel günsti¬
gere Bedingungen bietet, eine viel leichtere Aufgabe stellt,
als die natürliche Übertragung, so daß die Frankschen drei
von Erfolg begleiteten Versuche auch aus diesem zweiten Grunde
für praktische Verhältnisse eine unbedingte Beweiskraft nicht be¬
sitzen konnten.
Da also die Disharmonie zwischen den experimentellen Er¬
folgen und den praktischen Mißerfolgen in einer unter natürlichen
Verhältnissen nicht völlig gegebenen Eontaktsicherheit
zwischen Baktericidum und Virus ihre genügende Erklärung findet,
unterlasse ich es, der Frage nach der wirklichen Desinfektions¬
kraft der zwei bis drei Tropfen 20proz. Protargol- und lOproz.
Albarginlösung, mit denen gearbeitet wurde, näher zu treten, der
Frage, ob, wenn wirklich ein Kontakt eintritt, das Virus auch tat¬
sächlich abgetötet wird; sie würde in der Erwägung gipfeln, ob
diese Schutztropfen stets voluminös, bezw. konzentriert genug sind,
um nicht durch reichliche Sekretmassen, wenn nicht uriniert werden
konnte, oder durch Urinreste eine Verdünnung oder Zersetzung
zu erleiden, welche die absolute und rasche keimtötende Kraft
derselben auf hebt. 1 ) Die sorgfältigsten Kulturversuche können eine
zuverlässige Antwort hierauf nicht geben.
Die Infektionsfälle finden sich einzeln, so kurz als angängig,
am Schlüsse der Arbeit beschrieben.
Der Verfasser hat hier zu bemerken, daß seine Untersuchungen
über die praktischen Resultate der Instillationsprophylaxe in einer
Publikation R. Loebs aus dem vorigen Jahre einen Vorläufer be¬
sitzen. R. Loeb-Köln hat über eine ähnliche, ebenfalls aus der
*) Bei Darlegung des Gegensatzes zwischen natürlicher Infektion und
Überimpfung sei hier beiläufig noch folgendes erwähnt. Der Umstand, daß
bei einer Überimpfung virulenter Eiter womöglich einer floriden Gonorrhoe
in reichlicher Menge übertragen wurde, darf nicht ohne weiteres als ein
Moment betrachtet werden, das eine besondere Sicherheit (und Schwere) der
künstlichen Ansteckung bedingen muß. Ich konnte mich wiederholt von dem
Zutreffen der Angabe P. Richters überzeugen, daß der dickgelb rahmige
Ausfluß durchaus nicht zahlreiche Gonokokken fuhrt, viel weniger als man
nach Entfernen desselben im spärlichen, mit der Platinöse unter leichtem
Druck der Fossa-Schleimhaut entnommenen Sektrete findet. — Im allgemeinen
sind wohl die Gonokokken bei der natürlichen Übertragung in einem viel
kopiöserenMedium, bestehend aus dem in erectione reichlich abgesonderten
Urethraldrüsen schleim und Sperma suspendiert, ihre Abtötung ist also hier,
falls nicht uriniert wird, erschwert, da die Schutztropfen sowohl größerer Ver¬
dünnung wie leichterer Zersetzung ausgesetzt sind.
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Ober den Wert der modernen Instillationsprophylaxe der Gonorrhöe. 19
Privatpraxis stammende Statistik berichtet, auf welche unten noch
näher eingegangen werden soll. Vorgreifend möchte ich hier nur
mitteilen, daß Loeb in Hinsicht auf die Sicherheit des Verfahrens
zu Ergebnissen gelangt ist, die sich völlig mit den meinigen
decken.
Bei den übrigen 67 Männern beobachtete ich keine Infektion.
Dieser positive Teil ist ja naturgemäß im Grunde zur Be¬
urteilung der Sicherheit des Verfahrens entbehrlich, sobald Infektions¬
fälle in einwandfreieier Weise festgestellt sind. Indessen gestattet doch
eine Gegenüberstellung der nach Möglichkeit auf ihren Beweiswert
gesichteten positiven Fälle eine präzisere Abwägung des prophy¬
laktischen Wertes. Man könnte meinen, daß, obwohl freilich der
einzelne positive Fall in der Regel nur relativ beweisend ist des
meist unbekannten Gesundheitszustands der betr. Frau wegen,
dennoch das numerische Gewicht der Summe dieser Fälle (erhöht
noch durch den Umstand, daß nichtinfizierte Männer natürlich eher
geneigt sind, einen Bericht zu unterlassen, als die Infizierten)
diesem positiven Teile ohne weiteres eine gewisse absolute Beweis¬
kraft verleihe, die wohl dem negativen annähernd ein statistisches
Gleichgewicht halten könne; dies ist jedoch nicht richtig und führt
zu täuschenden Schlüssen.
Die notwendige Auslese der zugunsten des Verfahrens
sprechenden Fälle kann von verschiedenen Gesichtspunkten aus¬
gehen.
R. Loeb bewertet in seiner Statistik die positiven Fälle nach der
von ihm beobachteten Dauer der unter dem Gebrauch der Prophylaxe
erhaltenen sexuellen Gesundheit, verglichen mit dem Gesamtaspekt des
früheren sexuellen Gesundheitszustands der betreffenden Männer mit
spezieller Berücksichtigung der Gonorrhöe.
Der Verfasser hat sich eines anderen, vielleicht nicht minder
verlässigen Kriteriums zur Beurteilung der relativ positiven Fälle
bedient.
Dieses will die Relativität an ihrer Wurzel, der Unkenntnis über
die geschlechtliche Gesundheit der betreffenden Frau, beheben und will
die schwankende Beweiskraft dieses Teils der positiven Statistik mög¬
lichst gleichwertig machen mit jenen absolut positiven Fällen, in
welchen mit notorisch tripperkranken Frauen (sei es, daß die
weibliche Gonorrhöe ärztlicherseits konstatiert wurde oder aus dem
Schicksal anderer Besucher zu folgern war) ungestraft verkehrt
2 *
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20
Campagnolle.
wurde. Es handelt sich darum, Kenntnis zu haben, ob der
Gesundgebliebene mit einer bestimmten Zahl von Frauen —
eine freilich diskrete Frage — verkehrt hat, welche mit einiger
Wahrscheinlichkeit, die mit der Zahl der Versuchspersonen steigt,
einen unreinen Verkehr anzunehmen erlaubt.
Beim Stadium vor allem der statistischen Erhebungen Blaschkos
kam ich zu der Überzeugung, daß man mit einem auf die gegenwärtige
Kenntnis von der Ausbreitung der geheimen und öffentlichen Prostitution
in den Großstädten, von der Ausbreitung der Gonorrhöe unter dieser
einerseits, unter den Studenten, Kaufleuten, jungen Künstlern anderer¬
seits begründeten Rechte annehmen kann, daß ein Mann, der mit drei
verschiedenen Frauen verkehrt, einmal gonorrhoische Infektionsgefahr
läuft. Es mögen wohl manche diese Wahrscheinlichkeitsrechnung als
zu schwarzseherisch betrachten und damit diesen an den positiven Teil
meiner Beobachtungen anzulegenden Maßstab als zu günstig für das zu
prüfende Verfahren; dies ließe sich leicht korrigieren.
Derart gesichtet stellt sich der positive Teil der Resultate in
folgender Weise dar: 4 Männer hatten mit notorisch tripperkranken
Frauen, einer darunter wiederholt, verkehrt. Bei 17 Männern
konnte mit hoher Wahrscheinlichkeit eine unreine Kohabitation
angenommen werden, da sie mit mindestens 8 Frauen Umgang
gehabt hatten (4 Männer könnten doppelt gerechnet werden).
46 Männer scheiden aus; da sie nur mit einer oder 2 Frauen unter
Gebrauch der Prophylaxe verkehrt hatten, bewies ihr Glück im
Einzelfalle nichts für die Schutzkraft des Verfahrens, höchstens
könnte man nach demselben Schätzungsmodus etwa bei einem
Drittel dieser Gesundgebliebenen einen Coitus impur. rechnen.
Diese Ergebnisse ergänzen noch 6 Fälle unter meinen 9 schließlich
Infizierten, insofern als 4 von ihnen mit mindestens 3 Frauen von
fraglicher sexueller Gesundheit, einer mit einer notorisch tripper¬
kranken Frau wiederholt, einer mit der ihn schließlich infizierenden
Frau vor der Infektion ungestraft verkehrt hatten.
Im ganzen sind also von diesem Gesichtspunkte aus, der
Frage nach der vermutlichen Unreinheit der Kohabitation 27 Männer
im positiven Sinne verwertbar: 6 Männer, die mit notorisch, 21, die
mit wahrscheinlich gonorrhoisch erkrankten Frauen koitierten, sind
durch die Prophylaxe vor Infektion geschützt worden.
Aber darf nun eine unvoreingenommene Beurteilung das Ge¬
sundbleiben dieser Männer ohne weiteres den Instillationen
zugute schreiben?
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Über den Wert der modernen Instillationsprophylaxe der Gonorrhöe. 21
Nein, denn wir alle wissen, daß der Verkehr mit einer tripper¬
kranken Frau nicht unbedingt zur Infektion führen muß. Jeder
Arzt erinnert sich einer Reihe von Klienten, die sich trotz wahl¬
losen sexuellen Umgangs in ihnen selbst auffallender Weise über¬
haupt nie oder Jahre hindurch, ohne Schutzmittel zu gebrauchen,
niemals gonorrhoisch infizieren. Ja selbst der ungestrafte Verkehr
mit Frauen, die notorisch am Tripper leiden, ist eine geradezu
häufige Erscheinung.
Was schützt diese Männer?
Von einer angeborenen Immunität 1 ) kann allen Er¬
fahrungen nach nicht die Rede sein. Man hat der häufig an¬
geborenen Stenose des Orificiums und der kurzen Dauer des Akts
zuge8ckrieben, das Eindringen des virulösen Sekrets in die Harn¬
röhre erschweren zu können. Dies trifft wohl für einzelne Fälle
sicher zu, im allgemeinen aber findet man unter jenen „Immunen“
ebenso viele Leute mit weiten Orificien, sogar Hypospadiker, und
ebenso viele, die den Akt durchaus nicht kurz abgebrochen haben.
Untersucht und examiniert man systematisch eine größere
Reihe solcher „Immuner“, dann geht klar hervor, daß die Haupt¬
rolle bei dieser scheinbaren Immunität eine Herausbeförderung
des bereits ein gedrungenen Virus durch sofortiges oder bal¬
diges Urinieren spielt. Ein charakteristischer Fall machte mich
auf die Bedeutung dieses natürlichen Schutzes aufmerksam.
Ein Herr besuchte mich mit dem nicht seltenen Anliegen: er hatte
ohne Prophylaxe mit einem Mädchen Umgang gepflogen, das, wie er
erfuhr, einen Bekannten infiziert hatte. Er war gesund geblieben; das
Mädchen, das er mir zur Untersuchung zuschickte, hatte starken Fluor
mit massenhaften Gonokokken im Cervikalsekret. Dieser Herr hatte
ein weites Orificium und hatte den Akt ziemlich protrahiert, aber er
hatte sich sofort gründlich gereinigt und ausgiebig uriniert.
Ich habe dann stets den Gründen solcher auffälliger Immunität
nachgeforscht und bin dabei immer wieder auf die Befolgung
dieser einfachen, freilich nicht stets ausführbaren Schutzmaßregel
gestoßen. Fast ausschließlich handelt es sich dabei um
Männer, welche noch nie Gonorrhöe gehabt haben; auf die
mutmaßlichen Gründe werden wir später zurückkommen.
l ) Eine — an eine bestimmte Zeit gebundene — erworbene Immunität
kennen wir nur bei Fiebernden (Finger) und bei manchen chronischen
Gonorrhöen.
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22
C&mpagnolle.
Die Schutzkraft des Urinierens post coit. ist keine absolute,
sie ist an gewisse selbstverständliche Voraussetzungen geknüpft.
Ein Herausspülen der Gonokokken wird desto wahrscheinlicher
sein, je frühzeitiger uriniert wird, je kräftiger der Harnstrahl, je
reichlicher die Harnmenge, ferner je dünnflüssiger das übertragene
gonokokkenführende Vehikel ist, bezw. das Sekretgemisch, welches
dieses mit dem zähen Urethraldrüsenschleim eingegangen hat.
Auf zwei Momente, welche einer gründlichen Elimination des Virus
im Wege stehen, muß weiterhin aufmerksam gemacht werden.
Erstens tritt eine maximale Entfaltung der Urethra, wie sie bei
der Erektion — hier allein besteht ein vorgebildetes, starres Rohr —
gegeben ist, bei der Urinpassage nicht ein, es steht also das Lumen,
das sich der Hamstrahl bildet, an Durchmesser nach, so daß die Aus¬
waschung in Falten haftender zäher Sekretreste auch bei langem, starkem
Harnen nicht unbedingt eintreten wird. Zweitens begünstigt die Ampulle
der Fossa eine Wirbelbildung seitlich des Harnstrahls, welche die Aus¬
waschung dieses gerade wichtigsten Ortes erschwert, namentlich in jenen
nicht seltenen Fällen, wo das Lumen hinter der Ampulle sich zu einem
engen Ringe — enger zuweilen als selbst das Orificium — zusammen¬
zieht und infolgedessen der Harn in dünnem Strahl die Fossa passiert.
Diese ungünstigen Umstände sucht ein ziemlich bekannter,
bereits erwähnter Modus des Urinierens aufzuheben: es wird durch
zeitweiliges Bedecken der Öffnung mit dem aufliegenden Finger
(nicht durch Zusammendrücken der Lippen, Blokusewski) der
Strahl unterbrochen, ein nicht gerade reinliches, aber höchst zweck¬
mäßiges Verfahren, um die Urethra maximal zu füllen, die ganze
Schleimhautoberfläche zu bespülen und außerdem die Kraft des
Strahls (um die elastische Kraft der Harnröhre) zu verstärken;
auch geringe Harnmengen werden hierdurch wirksamer.
Bei Erfüllung der genannten Bedingungen, besonders aber bei
Befolgung des letztgenannten Gebrauchs ist dem Urinieren post
coit in Verbindung mit einer äußerlichen Reinigung 1 ) eine be¬
deutende Schutzkraft, die Verhinderung vieler Gonorrhöen zu¬
zuschreiben und ich teile die Ansicht Fingers, der diese älteste
Tripperprophylaxe als sehr rationell bezeichnet.
*) Auch daa zweckmäßigste Urinieren kann illusorisch werden, wenn es
nicht mit einer gründlichen Reinigung von Eichel und Vorhautsack kombiniert
wird, weil eben hier haftende Sekretteile erst nach Vorziehen der Vorhaut
ins Orificium gelangen können
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Über den Wert der modernen Instillationsprophylaxe der Gonorrhöe. 23
Sie wurde bereits von Argelata, Laufranc, Gaddesden,
Fallopia, Palmarius, Harrison empfohlen, in neuerer Zeit von
Dieterich undProksch. Letzterer schreibt in seinem sorgfalltigen
Werke: „Die Vorbauung der venerischen Krankheiten“. „Als Vor-
bauungsmittel gegen den Tripper ist das Urinieren gewiß wirksamer
als alle bis dato empfohlenen Einspritzungen. Baldiges Urinieren
nach einem verdächtigen Beischlaf ist immer zu empfehlen, denn
außer dem Condom ist es ganz bestimmt das sicherste Prophylak-
tikum gegen den Hamröhrentripper.“
Die Kenntnis dieses natürlichen Vorbeugungsmittels scheint
weit verbreitet zu sein (in Deutschland anscheinend besonders im
Norden); auch die häufige spontane Mitteilung Infizierter, sie
hätten doch uriniert, aber dies hätte nichts genützt, beweist dies.
Gibt man sich in diesen Fällen die Mühe, nach dem Modus
dieses Urinierens zu forschen, so wird man überrascht sein, wie
regelmäßig sich herausstellt, daß „allerdings“ nicht sofort oder nur
spärlich Wasser gelassen werden konnte oder daß keine oder nur
eine oberflächliche gleichzeitige Waschung stattfand. So meint
auch Proksch. „Für ein absolutes Schutzmittel wird es wohl
niemand halten, dennoch wage ich zu behaupten, daß die sich
häufig erweisende Nutzlosigkeit nur in einer zu späten oder
ungenauen und ungeschickten Anwendung dieses Mittels ihren
Grund hat.“
Diese Beobachtungen waren es, die mich im Interesse meiner
Klienten zur Wiederaufnahme der für die Lapisprophylaxe ge¬
gebenen, für die Protargolprophylaxe in Wegfall gebrachten Vor¬
schrift führten, unmittelbar nach dem Beischlaf vorder Einträufelung
zu urinieren. Sie könnte etwa in drei Viertel der Fälle befolgt
werden; dieser Teil meiner Untersuchungspersonen stand also unter
doppeltem Schutze. Im letzten Jahre standen die Verhältnisse
für meine Klienten noch günstiger, da auf mein Anraten hin viel¬
fach unter zeitweiliger Bedeutung des Orificiums uriniert wurde.
Von jenen 6 Männern, die mit notorisch tripperkranken Frauen,
ohne sich zu infizieren, verkehrten, hatten vier ausgiebig und sofort
uriniert, einer auf die erwähnte zweckmäßige Weise (dabei gaben
zwei dieser gesund Gebliebenen an, schon früher in ihnen selbst
auffallenderweise von Tripper verschont geblieben zu sein, was beide
ihrer Gewohnheit, sofort post coit Wasser zu lassen, zuschrieben),
speziell jene beiden, die die gefährliche Kohabitation wiederholten,
hatten stets uriniert Andererseits hatte derjenige unter meinen
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24
Campagnolle.
Infizierten, welcher mit der ihn schließlich ansteckenden Frau
zuvor ungestraft verkehrt hatte, nie uriniert. Im Ganzen hatte
von den 6 trotz rechtzeitiger, d. h. sofortiger Einträufelung In¬
fizierten die Hälfte uriniert, einer wenig, einer sehr ausgiebig; von
den drei Infizierten, welche die Prophylaxe erst später Vornahmen,
hatten zwei, jedoch in geringer Menge Wasser gelassen.
Wurde also auch durchaus nicht immer oder nicht in zweck¬
mäßiger Weise die eigentliche Instillationsprophylaxe durch voraus¬
gehende Miktion unterstückt, so steht doch für mich ein recht
großer Anteil der letzteren an der Verhinderung von In¬
fektionen, am Umfang des positivenTeils meinerResultate
außer Frage. Es waren wohl in vielen Fällen die Gonokokken längst
herausgespült, als das Baktericidum in die Urethra eingeträufelt
wurde. In anderen mögen sich die beiden Vornahmen ergänzt haben
in der Weise, daß vom Harnstrahl nicht abspülbare gonokokken¬
führende Sekretreste vom Baktericidum bequem erreicht und des¬
infiziert werden konnten.
In den Fällen schließlich, wo ohne zweckmäßiges Urinieren
eine Ansteckung ausblieb, ist der Instillationsprophylaxe allein der
Schutz zuzuschreiben. Daß diese Methode unter geeignet gelagerten
Verhältnissen — ich habe eine notwendige Bedingung, die des
Kontakts von Antigonorrhoicum mit Virus des näheren beleuchtet —
die Infektion verhindert, darf natürlich absolut nicht bestritten
werden. Andererseits fällt aber schwerer ins Gewicht, daß trotz
des Urinierens in 5 Fällen die Einträufelung wirkungslos blieb,
insofern als selbstverständlich auch die unzulänglichste Miktion
durch teilweise Elimination von Gonokokken die Prophylaxe unter¬
unterstützen wird.
Resümieren wir unsere Erfahrungen bezüglich der Sicherheit
der Instillationsprophylaxe, so glauben wir im Zusammenhalt mit den
statistischen Ergebnissen R. Loebs und ohne der etwas höheren
Zahl der Infektionsfälle der vorliegenden Untersuchung als zu¬
fälliger Häufung besonderen Wert beizumessen, die Schutzkraft der
mit Miktionsschutz kombinierten Instillationsprophylaxe nicht eben
als eine hohe bezeichnen zu können, wohl aber als eine so be¬
trächtliche, daß man diese Kombination, vorausgesetzt, daß dem
Verfahren keine Nachteile anderer Richtung anhaften, empfehlen
könnte.
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Ober den Wert der modernen Instillationsprophylaxe der Gonorrhöe. 25
n.
Die irritative Wirkung.
Primum , non noccre.
Die irritative Nebenwirkung des Verfahrens spielt in der kurzen
Geschichte desselben, wie wir sahen, eine bedeutende Bolle; sie
führte zum Ersätze des Höllensteins durch Protargol als bakteri-
cide Schutzlösung. Die Eigenschaft des Höllensteins, selbst in
starken Verdünnungen auf den Schleimhäuten Reiz Wirkung hervor¬
zurufen, ist jedem Praktiker bekannt ; es handelt sich dabei, pharma¬
kologisch betrachtet, je nach dem Konzentrationsgrad um eine ad¬
stringierende oder Ätzwirkung unter Eiweißfällung.
Daß man der neuen Protargolprophylaxe mit größerem Rechte
eine völlige Unschädlichkeit zuschreiben zu können glaubte, ist
leicht verständlich, wenn man sich erinnert, mit welcher Leiden¬
schaft die absolute Reizlosigkeit dieser neuen Silbereiweißverbindung
proklamiert wurde, obwohl man sich gestehen muß, daß diese nur
für die schwachen, der Injektionstherapie dienenden */ 4 —2proz.
Lösungen behauptet wurde und eigentlich nicht ohne weiteres auf
20proz. Lösungen übertragen werden durfte.
Das Dogma der Reizlosigkeit der Protargolinjektion erfuhr
nun etwa vom Jahre 1900 an starken Widerspruch; die beobachte¬
ten Irritationserscheinungen wurden, wie schon erwähnt, von
F. Goldmann und bald darauf von Jesionek auf Grund klini¬
scher Erfahrungen vor allem in unzweckmäßiger Zubereitungsart
der Lösungen (mit warmem Wasser), in der leichten Zersetzlich¬
keit hochkonzentrierter Solutionen (Benützung von Stammlösungen)
und in dem Glyzerinzusatz gefunden.
Es konnte nun nicht überraschen, wenn allmählich von ver¬
schiedenen Seiten berichtet wurde, daß auch unsere prophylaktischen
Protargolinstillationen ähnlicli wie die mit Capis Irritationserschei¬
nungen hervorzurufen vermögen, zumal ja bei einer so hochkonzen¬
trierten Lösung als Handelsware die Möglichkeit einer baldigen
Zersetzung in hohem Grade besteht.
Bemerkens werter weise hatte schon Frank selbst, eine Mitteilung
Welanders bestätigend, bereits seine erste wichtige Publikation, die
das Protargol als völlig reizlosen Ersatz für Höllenstein als Schutz¬
lösung empfahl, mit der Bemerkung schließen müssen, „daß er, ebenso
wie der schwedische Autor, bei seinen Schutzinjektionen von 5—6 g
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26
Campagnolle.
einer 4proz. Protargollösung mehrfach nach 12—24 Stunden einen
reinschleimigen Ausfluß gesehen habe, der aber nicht mit den ge¬
ringsten subjektiven Beschwerden verbunden und ohne Behandlung
nach der gleichen Zeit verschwunden sei. Die endoskopische
Untersuchung zeige nicht die geringste Spur einer Reizung, ge¬
schweige denn einer Atzung, wie dies bei den Blokusewski sehen
Einträufelungen nicht ausgeschlossen sei.“ Jesionek sah im An¬
schluß an Protargolapplikationen drei starke Urethritiden, die er
vorzugsweise auf den Glyzeringehalt zurückführte. Feibes bemerkt,
er könne der von verschiedenen Autoren aufgestellten Behauptung,
daß die Prophylaxe nur ein ganz unbedeutendes Prickeln hervor-
rufe, nicht beistimmen, da diese nicht allein von ihm, sondern auch
von vielen seiner Klienten als stark reizend empfunden wurde,
der beiden Silberverbindungen, so sehr ich Albargin als Injektions¬
und Irrigationsmittel schätze, gleichstellen.
Auch mit dieser Beobachtung, wie mit jener der Unsicher¬
heit, sah ich mich geraume Zeit hindurch völlig isoliert stehen;
es fanden sich nirgends Berichte über ähnliche Erfahrungen mit
dem Protargolprophylaktikum, und die allmähliche Verdrängung
des Protargol in den patentierten Tropfapparaten durch Albargin
schien nur in seiner Zersetzlichkeit begründet.
In der neuesten Literatur häufen sich die Mitteilungen über irri-
tative Katarrhe infolge Benutzung der käuflichen Schutzläsungen . l )
In der Erkenntnis, daß mit Protargol gefüllte Tropfer als
Handelsartikel niemals Garantien für Unzersetzlichkeit bieten
können wurde von den beiden besonders um den Ausbau des
neuen Verfahrens bemühten Autoren Frank und Blokusewski
*) Galewsky teilt mit, daß er im Anschluß an den Gebrauch der Gonorrhöe-
Prophylaktika in den letzten zwei Jahren seit dem häufigeren Gebrauch dieser
Apparate öfter Urethritiden zu sehen Gelegenheit gehabt hat; es handelte
sich dabei fast stets um eine stürmischer einsetzende, akutere Urethritis, die
als Irritations-Urethritis aufzufassen war und sofort auf hörte, sobald der Reiz
wegblieb. (Galewsky, Über chron., nicht gonorrhoische Urethritis.)
Waelsch beobachtete eine bereits 14 Tage bestehende Urethritis infolge
Instillation der 20 proz. Protargolglyzerinlösung bei lange fortgesetztem,
mindestens wöchentlich einmal erfolgtem Gebrauche derselben. Waelsch
läßt die Möglichkeit offen, daß die mit einem gleichzeitig bestehenden, infolge
gewohnheitsmäßigen Uberstreichens der Eichel mit der Schutzlösung ent¬
standenen Ekzema glandis verbundene Entzündung sich per continuitatem
auf die Schleimhaut der Fossa fortpflanzte. (Waelsch, Über nicht-gonorrh.
U., Archiv f. Denn. u. S. LXX 1. Heft.)
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Über den Wert der modernen Instillationsprophylaxe der Gonorrhöe. 27
das Protargol völlig oder bei einem Teil ihrer Apparate durch
Albargin ersetzt, welches den Vorzug großer Haltbarkeit be¬
sitzen soll.
Ich selbst war bei meinen Empfehlungen zum gänzlichen Ver¬
lassen des Protargols nicht gezwungen, weil mein Verordnungsmodus
den Konsumenten sehr wohl den Gebrauch eines frischen, richtig
hergestellten und nicht glyzerinhaltigen Präparats zu sichern ver¬
mochte.
Allein trotz der Ausschaltung jener in erster Linie
für die irritative Wirkung des Protargol verantwortlich
gemachten Faktoren und trotz der häufigen Verwendung
von Albargin statt desselben drängt sich dieses wichtige
Moment der Reizung in den Mittelpunkt meiner Unter¬
suchungsergebnisse; es beeinflußte schon den Umfang derselben
in hohem Grade, indem es häutig meinen Klienten den Weiter¬
gebrauch der Prophylaxe verleidete. Die irritierende Wirkung
haftet auch der frisch und richtig zubereiteten wässrigen
Protargollösung an und nicht wenigerder lOproz. Albargin-
lösung. Der letzteren glaubte ich anfänglich in diesem Punkte
einen Vorzug einräumen zu können, muß aber bei Abschluß meiner
Beobachtung die reizende Wirkung der beiden Silberverbindungen
gleichstellen, so sehr ich Albargin als Injektions- und Irrigations¬
lösung schätze.
ln R. Loebs, dem meinen voranlaufenden statistischen Be¬
richte konnte ich eine Bestätigung meiner eigenen Erfahrungen
finden. Loeb operierte auch mit Protargoleinträufelungen ohne
Glyzerinzusatz und notierte „5 Fälle profuser Eiterung (einmal
fast 3 Wochen dauernd), in 7 Fällen trat so unerhörter Schmerz
ein, daß die weitere Applikation des Mittels versagt wurde, von
26 Männern wurde das Verfahren ohne allzu unangenehme Neben¬
wirkungen fortgebraucht“. Weiterhin in dem Referate Jesioneks
über mehrjährige klinische Erfahrungen mit Protargol; dieser
Autor bemerkt: „So absolut reizlos, wie das Protargol —
auf dessen richtige und frische Herstellung (ohne Gly¬
zerin) hier sorgfältig geachtet wurde — im allgemeinen
in seiner Einwirkung auf die Schleimhäute geschildert
wird, habe ich es nicht gefunden. Eine oft nur sehr
geringe Menge einer ^proz. Lösung, in eine gesunde
Urethra gebracht, vermag eine Reaction hervorzurufen,
welche an und für sich gerade nicht hochgradig ist, aber
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28
Cainpagnolle.
wohl kaum auf den mechanischen Insult der Schleimhaut
allein zurückgeführt werden kann. Vergleiche mit der Re¬
aktion der Schleimhaut auf unter den gleichen Kautelen vorge¬
nommene Injektionen von Borwasser oder phys. Kochsalzlösung
vermögen das an einer Reihe von Individuen zu beweisen. Und
je höher der Konzentrationsgrad, umso intensiver — ich
gebe allerdings zu, nahezu immer innerhalb mäßiger
Grenzen sich haltend — sind die reaktivenErscheinungen.“
Vor allem ist es ein Umstand, welcher diese wichtige Frage
nach Schädlichkeit oder Unschädlichkeit der Instillationen mit
Silbersalzen und Silbereiweißverbindungen kompliziert und manchen
Widerspruch der Autoren erklärt, nämlich der, daß tatsächlich
eine Reihe von Harnröhren auf die Einträufelungen —
dank einer besonderen Toleranz des Plattenepithels der Fossa —
nicht eine Spur von Reizung erleiden. —
Um den Voraussetzungen für diese variierende Reaktion der
Schleimhäute auf den Grund zu kommen, ist, wie auch um den
Charakter der Reizungen und den Umfang ihrer Bedeutung klar¬
zustellen, eine systematische, eben „statistische“ Beobachtung einer
größeren Anzahl das Instillationsverfahren anwendender Männer
erforderlich.
Es muß fernerhin nicht allein die Reaktion der Harnröhre,
bei einer einmaligen, sondern besonders auch bei wieder¬
holter Anwendung kontrolliert werden.
Es muß drittens speziell nach diesem Momente ge¬
forscht werden.
Wer auf spontane Mitteilung seitens der Patienten wartet, dem
werden zwar die intensiven Reizfälle nicht entgehen, aber er wird über
den Umfang der irritativen Wirkung im allgemeinen und über die häufig
stufenartige Entwickelung der Irritation kein Bild gewinnen. Denn so
überängstlich viele jedwedem Ausfluß gegenüber sind, so indifferent ver¬
halten sich andere einer Sekretion gegenüber, die nicht mit sub¬
jektiven Beschwerden verbunden ist oder rasch schwindet, und die
sie deshalb nicht für Tripper und für belanglos zu halten geneigt sind. Die
Sensibilität der Urethralmukosa, besonders der Pars gland. variiert aber in
eigentümlicher Weise außerordentlich; es kann, ohne daß über Schmerzen
geklagt wird, eine ganz bedeutende chemische Alteration eingetreten
sein, wovon ich mich früher bei provokatorischen Injektionen oder
Kupierungsversuchen zu überzeugen öfters Gelegenheit hatte. Die auf¬
fälligste Beobachtung berichtet Blaschko in der Mitteilung über sein
Abortivverfahren; es hätte ihn und jeden Kollegen, der sein Verfahren
kennen lernte, überrascht, daß die erste starke Einspritzung von 10—12 g
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Uber den Wert der modernen Instillationsprophylaxe der Gonorrhöe. 29
einer 2 proz. Lapislösung gar nicht oder nur äußerst wenig schmerzhaft
ist, und sich erst nach Verlauf einiger Stunden eine mehr oder minder
beträchtliche Schmerzhaftigkeit einstellt neben der Sekretion, die serös¬
blutig bis rein eiterig sei. (Es handelt sich dabei vielleicht um die
sekundäre Wirkung der Silberalbuminatdecke als Säure und 0 aus¬
scheidendes „Salpetersäurereservoir“, siehe P. G. Unnas Definition der
Höllensteinwirkung.) So klingt auch die Angabe Blokusewskis ver¬
ständlich, daß er bei etwa 50 Männern der Lassarschen Klinik Sproz.
Höllensteinlösung eingeträufelt habe, ohne daß dieselben irgend eine be¬
sondere Empfindlichkeit gezeigt hätten; wie es aber mit dem Ausfluß
bestellt war, darüber macht Blokusewski keine Angabe. Diese Be¬
obachtungen gelten nicht nur für den Höllenstein, sondern ebenso für
Protargol und Albargin. Von Leuten, die noch nie an Tripper gelitten,
wird zuweilen auch bei Ausbleiben von Schmerzen der Ausfluß als krank¬
hafter Vorgang nicht erkannt, oder es wird das hinter verklebtem Ori-
ficium stehende und nur auf Druck entleerbare Sekret gar nicht bemerkt.
Man muß also die Versuchspersonen aufFordern, unter allen Umständen
auf das Auftreten von Sekret zu achten, nicht allein bei Schmerz¬
haftigkeit sich einzufinden.
Daß durch täglich wiederholte Präparate das Sekret als nicht-
gonorrhoisch bestimmt werden muß, bedürfte keiner besonderen
Erwähnung; differentialdiagnostisch müssen ferner event. auch
Urethralherpes und Urethralulcera, schließlich auch Syphilis der
Harnröhre berücksichtigt werden.
Nicht minder notwendig aber und im Grunde ebenso selbst¬
verständlich ist die Forderung, daß die Untersuchungspersonen
bezüglich der Gesundheit ihrer Harnröhre, vor der Empfehlung
der Prophylaxe, genau kontrolliert sind, und es geschah mit
Rücksicht eben auf diese Frage der irritativen Wirkung, daß nicht
nur bei Tripperkranken, sondern aucli bei Männern mit postgonor¬
rhoischen Katarrhen von der Empfehlung der Prophylaxe Abstand
genommen wurde. Andernfalls, bei nicht mit Sicherheit auszu¬
schließendem Bestände von Urethritiden jeder Art und jeden Grades
ist ja die exakte Diagnose einer Reizung nicht zu stellen, noch viel
weniger sind im Falle protrahierter Reizkatarrhe diese als selb¬
ständige Erkrankung abzugrenzen, ein Umstand, der hier noch be¬
sondere Bedeutung gewinnen wird. Bestand z. B. vor der Instil¬
lation ein auch nur geringfügiger terminaler Katarrh, so kann, falls
auf die Einträufelung eine intensive Urethritis folgt, jene nicht als
Ursache beschuldigt werden, weil es sich einfach um eine chemisch
provozierte Exazerbation jener Resturethritis handeln kann.
Auf welche Weise diese Voruntersuchung in allen Fällen geführt
wurde, ist schon im ersten Abschnitte genau dargelegt werden. Er-,
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30
Campagnolle.
gänzend möchte ich noch bemerken, daß auch der vorherige Bestand
einer jener nicht gonorrhoischen Urethritiden auszuschließen sein mußte,
deren große, namentlich französische Kasuistik Guiard gesammelt und
klassifiziert und die Barlow auf der Basis des für alle künftigen
Untersuchungen dieser Richtung grundlegenden Postulats, daß
bei solchen der Vorbestand einer Gonorrhöe unbedingt ausgeschlossen
werden müsse, kritisch gesichtet hat. Auf die einzige unter dieser Aus¬
lese neben der traumatischen von Barlow noch anerkannte Harnröhren¬
entzündung, der interessanten, vermutlich kontagiösen chronischen veneri¬
schen Urethritis, wird später noch zurückzukommen sein. Vielleicht wäre,
um — im Gegensätze zum terminalen, postgonorrhoischen Katarrh —
die vollkommene Selbständigkeit dieser Urethritisformen und ihre Nicbt-
bedingtheit durch die Gonorrhöe zu kennzeichnen, die Bezeichnung als
„extragonorrhoische“ Urethritiden nicht unpassend. —
Wenn ich jene unwesentlichen Grade von Entzündung, die
sich nur in schwacher Hypersekretion der Urethraldrtisen, in leichter
Verklebung des Orificiums und entsprechend reichlicher Schleim¬
wolke im Harn unberücksichtigt lasse und nur die Fälle mit aus¬
gesprochener, spontan oder auf mäßigen Druck am Orificium sich
zeigender Sekretion in Rechnung ziehe, die ich entweder selbst
beobachtete oder die mir in glaubwürdiger Weise berichtet wurden,
dann sind es unter meinen 76 Klienten (mit Einschluß derjenigen,
die sich schließlich trotz der Prophylaxe infizierten) 34, welche
infolge der prophylaktischen Instillation — teilweise mehrmals —
irritative Urethritiden akquirierten. 1 )
Nur 12 unter diesen zeigten die Erscheinungen des schleimigen
bis purulenten Katarrhs bereits nach dem ersten Gebrauche;
nach dem zweiten oder dritten trat die erste Reizung auf bei 17,
erst nach dem vierten oder einem späteren bei 5 Männern.
Andere wieder ließen sich durch einmalige oder wiederholte Irri¬
tationen, in einigen Fällen selbst durch schwerere Urethritiden nicht vom
Fortgebrauch der Methode abschrecken, teils im festen Glauben, daß sie
derselben in Ansteckungsgefahr ihre Gesundheit verdankten, teils aus
Toleranz einem „Katarrh“ gegenüber, der kein Tripper war und zudem
minimale Beschwerden verursachte.
*) Diese Ziffern sind nicht in prozentuale Relation zu setzen, da meine
Auswahl von 76 unter 182 Klienten, denen die Prophylaxe empfohlen war
(abzüglich jener, die überhaupt keine Mitteilungen über ihre Erfahrungen
machten) vom Gesichtspunkte unbedingter Glaubwürdigkeit aus, vor allem
hinsichtlich der tatsächlichen Anwendung des Verfahrens, getroffen wurde und
eben gerade die Beobachtung der charakteristischen Irritation zu den Momenten
zählte, die mir eine solche bezeugte. Immerhin bleibt die Zahl der irritierten
Männer eine hohe.
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Über den Wert der modernen Instillationsprophylaxe der Gonorrhöe. 31
Bei anderen war es teils der feste Glaube, daß sie dem Mittel in
Ansteckungsgefahr ihre Gesundheit verdankten, teils eine gewisse Toleranz
einem „Katarrh“ gegenüber, der kein Tripper war und zudem minimale
Beschwerden verursachte, der sie trotz einmaliger oder wiederholter
Irritation — in einigen Fällen nach selbst schweren Urethritiden — die
Methode weiter an wenden ließ. Von weiteren Momenten, welche mir
die interessante Beobachtung wiederholter Reizungen im Einzelfalle,
bezw. des Verhaltens einer Urethralschleimhaut gegenüber weiteren In¬
stillationen nach bereits einmal erlittenem Reizkatarrhe ermöglichten,
möchte ich noch den Wechsel zwischen den beiden verwandten Silber¬
eiweißverbindungen erwähnen, der — freilich meist unbegründet — eine
geringere Irritation erhoffen ließ; schließlich noch den schon berührten
Umstand, daß einige Mediziner ein Interesse an der Frage gewonnen
hatten und auch nach einer Reihe von Irritationen, ja nach protrahierten
Katarrhen vor dem Fortgebrauche nicht zurückschreckten.
(Fortsetzung folgt.)
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Referate.
Dr. med. S> Kogon, Fabrikarzt in Jekaterinoslaw. über die Bekämpfung der
venerischen Krankheiten in den Fabriken.
In der in Jekaterinoslaw vom 20.—24. August 1903 tagenden
„1* Versammlung der Hütten-, Fabrik- und Bergwerksärzte des Gouver¬
nements Jekaterinoslaw“ hielt Fabrikarzt Dr. med. S. Kogon einen Vor¬
trag „über die Bekämpfung der venerischen Krankheiten in den Fabriken“.
Vortragender begann mit dem Hinweise darauf, daß auch in Rußland das
starke Aufblühen der Industrie einer der Hauptfaktoren für die Ver¬
breitung der venerischen Krankheiten, und daß neben dem Soldaten es
der Fabrikarbeiter sei, der in sein Dorf zurückkehrend, dorthin als Ge¬
schenk eine venerische Krankheit mitbringt, die infolge der niedrigen
Kulturstufe der Bevölkerung die besten Chancen zur Verbreitung habe.
Daß man in Europa mit der Ausbreitung der venerischen Krankheiten
rechne, zeigen die Kongresse der letzten Jahre, die speziell zur Bekämpfung
dieser Krankheiten einberufen worden seien. Deutschland hat, wie immer
auch hier, zuerst den Kampf mit den venerischen Krankheiten aufgenommen;
dies beweise die Gründung der „Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung
der Geschlechts-Krankheiten“, an deren Spitze die größten Autoritäten
in diesem Fache, wie Neisser, Lesser und Blaschko stehen, welche
mit der Einberufung des ersten Kongresses in Frankfurt zeigten, wie
ernst sie es meinen. In Rußland sei aber noch nichts in dieser Hinsicht
geschehen. Wohl existiere in Jekaterinoslaw ein Zweigverein der „Ge¬
sellschaft zur Bekämpfung der infektiösen Krankheiten“ mit dem Sitz in
Petersburg, aber die venerischen Krankheiten spielen darunter eine unter¬
geordnete Rolle. So begnüge sich z. B. der Zweigverein mit der Ab¬
kommandierung eines Arztes in die stark von Syphilis durchseuchten Orte
zur Behandlung der Infizierten. Die moderne Medizin wolle jedoch nicht
nur die Krankheiten heilen, sondern auch ihnen Vorbeugen: Die Prophy¬
laxe der Krankheiten sei das goldene Blatt in der Geschichte der Medizin.
Dank der Prophylaxe haben manche früher Panik erregende Krankheiten,
wie z. B. Pest und Cholera, viel von ihrem Schrecken verloren, und der
Kampf mit der Tuberkulose zeige am besten, was man mit der Prophy¬
laxe ausrichten könne. Auch bei der Bekämpfung der venerischen Krank¬
heiten sei die Prophylaxe ein wichtiger Faktor.
Vortragender gibt daher der Versammlung folgende Wünsche zur
Begutachtung:
1. In anbetracht dessen, daß die niedrige Bildungsstufe unserer
Arbeiter eine wichtige Rolle bei der Verbreitung der venerischen Krank¬
heiten spielt, weil sie den Veränderungen in ihrer Geschlechtssphäre nur
infolge ihrer Unwissenheit gar keine Aufmerksamkeit schenken oder die
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Referate.
33
ärztliche Hilfe nicht in Ansprach nehmen, sondern sich hei Kurpfuschern
oder gar bei ihren Kameraden sich Rats erholen, also hei Leuten, die
auf derselben niedrigen Bildungsstufe stehen, was natürlich auf die
Verbreitung der Geschlechtskrankheiten nur von ungünstiger Wirkung
sein kann, so sind die Herren Kollegen io den Fabriken zu ersuchen,
zweimal jährlich, vor Weihnachten und Ostern, den Arbeitern in Ver¬
sammlungen auf klärende Vorträge über die Geschlechtskrankheiten zu
halten.
2. Mit Rücksicht darauf, daß, wie wohl niemand leugnen wird,
der Arbeiter auf alle Weise seine venerische Erkrankung vor dem Arzte
zu verheimlichen sucht und nur in Ausnahmefällen seine Hilfe in An¬
spruch nimmt, weil er entsprechend dem § 105 Punkt 5 der Gewerbe¬
ordnung aus der Fabrik entlassen zu werden fürchtet, so schlage ich
vor, die Versammlung^ zu bevollmächtigen, an die entsprechende Stelle
ein Gesuch um Abänderung dieses Punktes, in dem Sinne zu richten,
daß eine venerische Erkrankung eines Arbeiters in keinem Falle eine
Entlassung desselben aus der Fabrik nach sich zieht. (Punkt 5 des § 105
lautet nämlich: Falls bei einem Arbeiter eine ansteckende Krankheit
eruiert wird, kann das kontraktliche Verhältnis vom Fabrikdirektor gelöst
werden.)
3. Um dem Arbeiter die Verheimlichung der Erkrankung vor dem
Arzte unmöglich zu machen und ihn so vom ersten Momente der Er¬
krankung an unter Beobachtung zu stellen, sind die Herren Fabrikärzte
zu ersuchen, mindestens alle 2 Wochen (und wo es angeht allwöchentlich)
die Fabrikarbeiter zu untersuchen, wobei in anbetracht des außer¬
geschlechtlichen Infektionsmodus ohne Ausnahme ledige und verheiratete
Männer und ebenso die Frauen zu untersuchen sind.
Zum Schlüsse sprach der Vortragende seine Verwunderung darüber
aus, daß die Gonorrhoe nicht als Programmpunkt figuriere, da der
Tripper nicht weniger als die Syphilis die Kräfte des Arbeiters unter¬
grabe und sein Hab und Gut zerstöre; der Kampf müsse daher gegen
beide gerichtet sein. Autoreferat
L. Butte« Ärztliches Berufsgeheimnis und Reglementierung. Annales de thera
peutique dermatol. et syphiligraphique. Tome IV. Nr. 6. 1904.
Lucas hat die Beziehungen zwischen Reglementierung und ärzt¬
lichem Berufsgeheimnis erörtert in dem Sinne, daß der Arzt durch die
Anzeige der Krankheit der Prostituierten das Berufsgeheimnis verletzt
und demnach sich strafbar macht. Demgegenüber behauptet Butte,
daß der untersuchende Arzt die zu Untersuchenden nicht als Patienten
zu betrachten habe, sondern daß der Arzt bei Ausübung dieser Tätig¬
keit wie andere technische Sachverständige nur als Organ und im Auf¬
trag der Polizei handle. Diese muß auch die Verantwortung tragen.
Der Autor beruft sich auf eine persönliche Mitteilung von Brouardel,
dem Kompetentesten in Sachen des ärztlichen Berufsgeheimnisses, der
sich in ähnlicher Weise äußert. Das Mädchen vertraut sich bei der
Untersuchung nicht dem Arzt an, sondern kommt zur Untersuchung.
Zettsehr. L Bekämpfung d. Geschlechtskranke 111 . 3
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34
Referate.
Von einem Berufsgeheimnis ist hier keine Rede, also könne auch keins
vorletzt werden. Im übrigen lauten die Instruktionen so, daß dem Arzt
bei Widerstand sich der körperlichen Untersuchung zu enthalten em¬
pfohlen wird. Julius Baum (Berlin).
Prince A. Morrow. Syphilis und ärztliches Geheimnis. (J. C. D. Juni 1903).
In Erwägung der verschiedenen Umstände, unter denen der Arzt
einem Syphilisfalle gegenüber in Zwiespalt mit seinem Gewissen und
dem Berufsgeheimnis gerät, empfiehlt der Verf., sich auf sein angeborenes
Rechtlichkeitsgefühl zu verlassen. Niemand würde gegebenen Falles eine
Verurteilung auszusprechen wagen. Verf. glaubt auch nicht an die
Wirksamkeit eines vom Arzt ausgestellten Erlaubnisscheines zur Ver¬
heiratung, auch nicht an eine ähnliche gesetzliche Maßregel. In bezug
auf die ärztlichen Pflichten bei einer Konsultation nach der Verheiratung
des Patienten bietet diese Arbeit nichts Neues. Zur Begründung seiner
Schlußfolgerungen stützt sich der Autor hauptsächlich auf die zuletzt
über diese Frage erschienenen französischen Arbeiten. Bruno Sklarek.
R6gnault. La police des moeurs i Bordeaux. Annales de th6rapeutique
derm&tologique et syphiligraphique. Tome IV. Nr. 1.
In „Le Correspondant mödical“ veröffentlicht Rägnault folgende
Charakterisierung der Sittenpolizei in Bordeaux. Den Dienst der Über¬
wachung besorgen 10 Personen, die alle Abende ohne jeden Grund
Frauen anhalten, um sie zur Wache zu führen, aber stets an der nächsten
Straßenecke gegen eine Bezahlung von 40 Sous bis 3 Francs wieder frei
lassen. Eines Tages führten sie jedoch eine junge Ei zieherin, die Jung¬
frau war, zur Wache. Julius Baum (Berlin).
Jauneau. Studie Uber die venerischen Erkrankungen und die Resultate der gewerb¬
lichen Reglementierungen in Brest. (Th. Bordeaux, 23.1. 1903).
Die Zahl der venerischen Erkrankungen in Brest ist aus drei Haupt¬
gründen eine sehr hohe: 1. kommen sehr viele Matrosen und Soldaten
dahin, welche sich im Auslande infiziert haben, 2. sind daselbst sehr
viele verdächtige Frauenzimmer, welche besonders durch Seeleute und
Soldaten angesteckt werden, und 3. gibt es dort sehr viele Arsenal¬
arbeiter, welche die Geschlechtskrankheiten im Verkehr mit diesen Weibern
erwerben. Eine Abnahme der Erkrankungen ist gar nicht zu verzeichnen
und keine Reglementierung scheint etwas erreichen zu können.
Viel besser wäre daher eine rationelle Prophylaxe auf der Basis der
Bekanntschaft mit den Gefahren der sexuellen Erkrankungen und der
Verbreitung der Mittel zur Heilung. Bruno Sklarek.
Dr. Carl Alexander. Breslau. Sexual-Hygiene, Frauenproteste und Libido sexualis.
Der in der „Monatsschrift für Harnkrankheiten und sexuelle Hygiene“
(Verlag W. Malende, Leipzig) 1904 H. 4 erschienene Aufsatz knüpft
an den seitens der Frauen vereine erhobenen Protest gegen das „Merk¬
blatt“ der D. G. an, welcher sich gegen die darin enthaltene Empfehlung
von „Schutzmitteln“ zur Verhütung der Geschlechtskrankheiten richtete
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Referate.
35
und in der Sitzung der D. 6. in Berlin (6. März 1904) zu scharfer
Diskussion führte. Der wesentlichste Grund für die Verschieden¬
heit der Anschauungen — hier Frauen und einige Moralisten, die in
der Empfehlung der Schutzmittel einen Anreiz zu weiterer Unsittlichkeit
sehen und das Prinzip der totalen sexualen Enthaltsamkeit bis zur Ehe
ab einziges Mittel empfohlen wissen wollen, dort der überwiegende Teil
der Arzte und lebenserfahrenen Männer, die an die Wirksamkeit einer
solchen Empfehlung behufs Eindämmung der Geschlechtskrankheiten nicht
glauben und darum prophylaktische Maßregeln für notwendig erachten —
liegt in der so sehr verschiedenen Bewertung der Libido
sexualis, des Verlangens nach geschlechtlichem Verkehr,
welches die im allgemeinen „sinnlich-schwach veranlagten“ Frauen
(vergl. v. Krafft-Ebing, Litzmann, V. Adler u. a.) ab Faktor im Leben
des normal sinnlich stärker veranlagten Mannes viel zu niedrig einschätzen.
Die von den Frauen zur Stütze ihrer Behauptung von der absoluten
Unschädlichkeit der dauernden sexuellen Abstinenz herangezogenen Arbeiten
von Hegar und Bibbing können in solchem Falle nicht als beweisfähig
gelten, ebensowenig wie beim Ausbruch einer Epidemie in einer Schule
die gesund gebliebenen Kinder ab Beweis dafür anzusehen wären, daß
eine Epidemie nicht besteht. Entscheidend für die Frage nach den
Folgen der dauernden sexuellen Abstinenz sind also nicht die negativen,
sondern nur die positiven Fälle, in denen sie zu schwerer Schädigung
der Gesundheit geführt hat; und hierüber haben sich A. Moll, Erb,
v. Schrenk-Notzing, Eulenburg, Porosz, F6r6-BixÖtre u. a. eingehend ge¬
äußert, worauf hier (im Referate) nicht näher eingegangen werden kann.
Gegenüber den von wissenschaftlich hoch stehenden Männern beigebrachten
Beispielen schwerer Gesundheitsschädigungen durch allzulange geschlecht¬
liche Enthaltsamkeit berührt es sehr eigentümlich, wenn Fräulein Anna
Pappritz die Lehre von deren Schädlichkeit als einen „verderblichen
Aberglauben“ (siehe „Reglementierung der Prostitution“ Zeitschr. f. Bek.
d. Geschl.-Krankh. Bd. I, H. 4, S. 371) bezeichnet.
Der Hinweis auf die katholische Geistlichkeit, welchen die Frauen
und ihre Kampfgenossen zur Bekräftigung ihrer allgemeinen Keuschheits¬
forderungen anzuführen pflegen, paßt nicht ab Maßstab für die Bewertung
der Libido sexualis beim Manne im allgemeinen, bei welchem der eigen¬
artige, die normale Libido herabsetzende Einfluß der Umgebung im Kloster,
Konvikt und Seminar fehlt; ebensowenig paßt der Hinweis auf einige
„naturae frigidae“, welche auch unter den Männern Vorkommen und aut
Grund ihrer Anlage das Verlangen nach dem Weibe leicht unterdrücken
könaen. Der Durchschnittsmensch, der für uns allein bei Erwägung
der Maßregeln zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten in Frage
kommen kann, wird die Libido sexualis um so weniger lange
überwinden können, als sie durch einen physiologischen Zu¬
stand bedingt ist, und als das primäre Motiv für den Ge¬
schlechtsakt ein organischer Zustand bestimmter Körperteile
ist („Detumescenz“ und „Kontrektation“ im Sinne Molls), welchen
ab einen ihn „peinigenden“ der Mann zu ändern sucht. Die seelischen
Empfindungen höherer Art, welche im echten Liebesieben das Bild der
3*
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30
Referate.
Libido sexualis komplizieren, können hierbei, wo es sich ja im wesent¬
lichen um den außerehelichen Verkehr mit Prostituierten handelt, nicht
in Betracht gezogen werden. —
Allerdings läßt sich die Sinnlichkeit durch Sport, körperliche
Übungen, Femhalten aufregender Bücher u. dgl. und durch mäßigeren
Alkoholgenuß eindämmen, aber niemals ganz unterdrücken. Be¬
weisend hierfür sind der sogenannte „Samenkoller“ der körperlich gewiß
sehr in Anspruch genommenen Matrosen auf langer Meeresfahrt und ge¬
wisse Vorkommnisse bei Naturvölkern (welche in der Arbeit selbst näher
erläutert werden).
Daß unsre männliche Jugend sich in der Bestätigung des, durch
unmäßigen Alkoholgenuß oft übermäßig gesteigerten Geschlechtstriebes
etwas mäßigen könnte, darf man gewiß fordern. Offen bleibt aber die
Frage, wie lange sich der einzelne geschlechtlich-abstinent halten kann
ohne Beeinträchtigung seines Allgemeinbefindens; jedenfalls nur höchst
selten bis zur Eingehung einer Ehe, welche heutzutage aus sozialen
Gründen so viele Jahre später als der Eintritt der Mannbarkeit erfolgt.
Die Bestrebungen der Frauen, Männer, um sie keusch bis zum Ehebett
zu erhalten, zu sehr zeitiger Verheiratung zu veranlassen, sind im
Staatsinteresse zu bekämpfen, weil solche aus „sinnlicher Not“,
ohne Prüfung der Frage nach dem nötigen Lebensunterhalt geschlossene
Ehen nur zur Vermehrung des Volkes um körperlich schwächere Elemente
führen, „deren aus Not unterbliebene Erziehung und aus einer freud¬
losen Jugend entspringende staatsfeindliche Gesinnung sie zu gefährlichen
Gegnern der Gesellschaft macht“ (Severus). — Im übrigen bilden die
Ehemänner einen großen Prozentsatz der Geschlechtskranken. Nicht
immer ist der Alkohol schuld an der Verfehlung des Mannes; leider
ist es oft die eigene Frau, die den Mann in andere Arme
treibt und ihn sogar auffordert, sich anderswo zu „amüsieren“, weil
durch eine falsche Erziehung, welche alles Geschlechtliche, anstatt
als natürlich, als unsittlich und die eheliche Hingabe an den Mann
als ein mit in den Kauf zu nehmendes Übel, oder wenigstens als Opfer
hinstellt, das normale sinnliche Gefühl der Frau unterdrückt wird, bezw.
gar nicht zur Entfaltung kommt, so daß sie leider den ehelichen
Verkehr sehr häufig nicht als eine Lust, sondern als eine
Last empfindet. Diejenigen Frauen, die, wie Frl. Anna Pappritz
u. a., so viel von einer „Verfeinerung der sexuellen Ethik“ als wesent¬
lichem Mittel zur Bekämpfung der Prostitution sprechen, mögen zunächst
einmal im eignen Lager in der angedeuteten Richtung an fangen. Dann
werden sie den Prostituierten die geldkräftigsten und begehrtesten
Elemente — denn das sind die Ehemänner — entziehen. Bei dieser
Arbeit an den Frauen werden sie merken, daß alteingewurzelte Em¬
pfindungen sich nicht in einem Tage ändern lassen und werden dann
auch für die ganze männliche Generation nicht eine Umbildung der
sexuellen Anschauungen und Anlagen innerhalb kurzer Zeit erwarten.
Daraus folgt die Notwendigkeit der Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten
auf anderem, schnellerem Wege; und hierzu gehört die Anwendung von
„Schutzmitteln“ im geschlechtlichen Verkehr, deren Empfehlung freilich
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Referate.
37
nicht mit großartiger Gesch&ftsreklame betrieben, sondern dem Arzte
von Fall za Fall überlassen werden solL Autoreferat.
Friedrich Prinzing« Die sterilen Ehen. (Zeitschr. f. Sozialwissenschaft 1904.
VIL Bd. 1 . Heft S. 47.)
Der Prozentsatz der kinderlosen Ehen ist ein so großer, daß sie
für die Zunahme der BevÖlkerang wohl in Betracht kommen. Im medi¬
zinischen Sinne versteht man unter sterilen Ehen solche, in denen im
ganzen Verlaufe des ehelichen Lebens keine Konzeption eintritt, im
statistischen solche, in denen keine lebensfähigen Kinder geboren werden.
Man kann diese daher nur als kinderlos im Gegensätze zu den sterilen,
in denen nicht einmal Fehlgeburten Vorkommen, bezeichnen.
Die Zahlen, welche nach den in Frauenkliniken über sterile Ehen
aufgestellten Statistiken auf 7 J / 2 , 9 und 14,7 °/ 0 von den verschiedenen
Autoren angegeben werden, sind ungenau, weil allen diesen Ziffern der
Fehler an haftet, daß die Ehedauer unberücksichtigt geblieben ist. Sicher
steril ist eine Ehe, wenn die Frau das gebärfähige Alter überschritten
hat, große Wahrscheinlichkeit dafür besteht, wenn nach fünfjähriger Ehe
keine Konzeption eintrat. — Bei der Statistik der kinderlosen Ehen,
deren Prozentsatz auf 7—12°/ 0 berechnet worden ist, sind die Unter¬
schiede in den einzelnen Ländern nicht ganz unbedeutend. Die kinder¬
losen Ehen sind überall in den großen Städten häufiger als auf dem
Lande. Sehr groß ist die Zahl der kinderlosen Ehen bei den in den
Vereinigten Staaten geborenen Frauen, die auch sonst wegen ihrer ge¬
ringen Kinderzahl bekannt sind; es ist jedoch nicht festzustellen, inwieweit
diese Kinderlosigkeit auf Absicht oder auf Sterilität eines der Gatten
beruht. — Als ein physiologischer Grund für die Sterilität einer Ehe
ist das höhere Alter eines der Gatten anzusehen. Einige behaupten,
daß Heiraten unter Blutsverwandten weniger fruchtbar seien, während
andere sogar über großen Kinderreichtum in konsanguinen Ehen berichten.
Die Vermischung der Menschenrassen soll die Fruchtbarkeit wenig beein¬
flussen. Dagegen hat ein sehr großer Altersunterschied der Ehegatten,
insbesondere ein beträchtlich höheres Alter des Mannes häufig Sterilität
zur Folge. Die Konzeptionsfähigkeit des Weibes erlischt gewöhnlich
mit dem Aussetzen der Konzeption zwischen dem 45. und 50* Lebens¬
jahre, im Süden früher als im Norden, ebenso bei den niederen, schwer
arbeitenden Gesellschaftsschichten. Das Eintreten der Sterilität wird
durch frühzeitigen geschlechtlichen Umgang beschleunigt. Beim Manne
hört die Zeugungsfähigkeit im Alter von 65—70 Jahren auf. In etwa 2 / ß
der sterilen Ehen ist die Ursache beim Manne zu suchen. Die weibliche
Sterilität wird durch Fettsucht, Zuckerkrankheit, Rückenmarksschwindsucht,
Paralyse, Alkoholismus, Bleivergiftung, Entzündungen in der Umgebung
der Gebärmutter, Geschwulstbildung, Knickungen, Lage Veränderungen der¬
selben, Tripperinfektion (!), angeborenen Mangel oder fehlerhafte Ent¬
wicklung der Genitalien bedingt. Die Ursachen der männlichen Sterilität
sind Impotenz (verhältnismäßig selten), allgemeine Erkrankungen wie bei
der Frau und die Hauptursache die Azoospermie, wobei dem Samen das
wirksame Element, die Samenfäden, fehlen. Die Ursache hierfür ist
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38
Referate.
fast stets Gonorrhoe. — Die absichtliche Beschränkung der Kinderzahl,
bei Reichen mehr üblich als bei Armen, ist nur in einem engen Kreise
der Bevölkerung zu suchen, wo große Ansprüche an die Freuden des
Lebens gemacht werden, während das Einkommen diesen Ansprüchen in
keiner Weise entspricht. Bei den Vagabunden und Bettlern sind auch
sehr viele Ehen kinderlos. Die größere Zahl der kinderlosen Ehen in
den Städten wird leicht verständlich, wenn man bedenkt, daß die Ge¬
schlechtskrankheiten in den Städten viel häufiger sind als auf dem Lande.
Da in etwa 40—50°/ 0 der kinderlosen Ehen Geschlechtskrankheit der
Männer die Kinderlosigkeit direkt oder indirekt bedingt, so müssen wir
annehmen, daß in Deutschland etwa in 800000 (also 4°/ 0 ) der
Ehen, in welchen die Jungfrau im Alter von 15—50 Jahren steht,
Geschlechtskrankheiten des Mannes die Schuld tragen.
Bruno Sklarek.
Heinrioh Loeb. Circumcision und Syphilisprophylaxe. Monatschrift f. Harn¬
krankheiten u. sex. Hygiene I, 6.
Der Verf. zitiert die Statistiken von Po well, Breitenstein,
Joseph und Hutchison und fügt diesen seine eigenen Erfahrungen
hinzu, die er an 2000 nichtcircumzidierten und 468 circumzidierten
geschlechtskranken Patienten gemacht hat. Von den nichtcircumzidierten
Venerischen waren 89°/ 0 , von den circumzidierten 15°/ 0 an Schanker
und Syphilis erkrankt. Da es sich stets um Menschen handelte, die
infiziert worden waren, so kommen hier die persönlichen Verschieden¬
heiten, größere Ängstlichkeit, Vorsicht bei der Wahl der Beischläferin usw.
nicht in Betracht; auch das Zahlenverhältnis der Bevölkerung zwischen
Beschnittenen und Unbeschnittenen ist gleichgültig. Es müßten unter
einer größeren Anzahl von Patienten im großen und ganzen die einzelnen
Geschlechtskrankheiten einen gleichen Prozentsatz aufweisen, wenn nicht
ein äußerer Einfluß darin eine Änderung herbeiführte. Und dieser
äußere Einfluß ist nach Loehs Ansicht einzig und allein die Circumcision.
Die schädliche Wirkung des Präputiums erklärt der Verf. mit der
Balanitis, die den Boden für die Infektion präpariert; auch in den Fällen,
in denen keine ausgesprochene Balanitis vorliegt, aber die Oberfläche
der Glans unter der macerierenden Bedeckung der Vorhaut vielfach
Erosionen und Epitheldefekte zeigt oder die Epidermis leicht verletzlich
ist, bestehen für die Haftung des infektiösen Virus günstigere Verhält¬
nisse als bei intakter und infolge des Fehlens des Präputiums mehr
abgehärteter Epidermis. Der Verf. weist ferner auf die Beobachtungen
hin, die in ihrer prophylaktischen Bedeutung noch nicht gewürdigt sind
und sich auf das schwankende Größenverhältnis zwischen Präputium und
Glans beziehen; auch hierüber veröffentlicht Loeb eine Statistik, die an
270 Patienten gewonnen wurde. Als Resum6 seiner Erfahrungen stellt
der Verf. folgende Sätze auf:
1. Der Reinhaltung des Penis, der Verhütung und Behandlung der
Balanitis ist vom Standpunkte der Prophylaxe der Syphilis eine viel
größere Aufmerksamkeit zuzu wenden. 2. Die Circumcision ist imstande,
bei unserer städtischen Bevölkerung die Häufigkeit der Syphilisinfektion
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Tagesgeschichte.
39
auf über die Hälfte ihrer jetzigen Ausbreitung zu vermindern. 3. Es
ist deshalb in allen Fällen, in denen aus beliebigen Gründen die
Circumcision in Erwägung gezogen wird, deren Ausführung zu befür¬
worten. 4. Ein Zustand, der den durch die Circumcision geschaffenen
günstigen Verhältnissen nahekommt, kann von den meisten geschlechts-
reifen Männern dadurch herbeigeführt werden, daß sie das Präputium
hinter die Glans zu rückgestreift tragen, ein Umstand, auf den von ma߬
gebenden Faktoren bei passenden Gelegenheiten erhöhte Beachtung ver¬
wendet werden sollte. Max Marcuse (Berlin).
G. Mayer« Ober die Prognose der Syphilis. Vier Vorlesungen gehalten in
den ärztlichen Fortbildungskursen zu Aachen 1902—1903. Berlin.
S. Karger. 1904.
Der Verfasser, ein altbewährter Praktiker, versucht aus seiner
reichen, fast 5000 Fälle umfassenden Erfahrung und unter Zuhilfenahme
der Literatur ein Bild von den Aussichten zu entwerfen, welche diese
in ihrer Bösartigkeit so oft unter- und ebenso überschätzte Krankheit
für den von ihr Betroffenen in sich birgt. Wenn es auch mangels zu¬
verlässiger Statistiken und insbesondere wegen der überaus geringen Zahl
viele Jahre hindurch beobachteter Krankheitsfälle zurzeit nicht möglich
ist, ein solches Bild scharf und klar zu zeichnen, so liefern doch nament¬
lich die zahlreichen eingestreuten Krankengeschichten, die alle gut beob¬
achtet und zum Teil recht typisch sind, einen schätzenswerten Beitrag
für die Frage von der Prognose der Syphilis. Der Fachmann wird sein
eigenes Beobachtungsmaterial durch das in dem May ersehen Buche ent¬
haltene glücklich ergänzen können. A. Bl.
Tagesgeschichte.
Frankreich.
Außerparlamentarische Kommission über die Eeglemenüerung der
Prostitution.
(Fortsetzung und Schluß.)
Beim Beginn der fünften Sitzung legt Dr. Butte eine graphische
Kurve vor, welche folgendes beweisen soll: 1. die Vortrefflichkeit, man
möchte sagen den paradiesischen Gesundheitszustand der Pariser
Bordellmädchen; 2. die allgemeine Hebung der sexuellen Gesundheit der
französischen und der europäischen Bevölkerung in den letzten 35 Jahren;
doch ist zwischen 1882—1884 eine erheblichere Schwankung in auf¬
steigender Richtung zu verzeichnen, nach der sich sehr bald die Kurve
wieder nach unten wandte.
So sei es auch bei der Sanitätsstatistik der Pariser Bordelle. Nach
der Statistik des Herrn Butte (siehe diese Zeitschr. Bd. II, S. 487)
kamen 1902 auf 382 eingeschriebene Bordeilmädchen eine Syphili¬
tische und vier Venerische, 1903 auf 387 Internierte keine einzige
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40
Tagesgeschichte.
Syphilitische nnd acht Venerische. Nun aber hatte M. Augagneur
durch einen bezeichnenden Zufall auf der Antiquaille im Laufe des
Jahres 1903 drei direkt von Pariser Bordellen kommende Mädchen
zu behandeln. Diese Mädchen hatten „frische“ Syphilis in vollster
Blüte. Für das Jahr 1903 stimmt also M. Buttes Statistik nicht
ganz. Bezüglich des zweiten Punktes, der allgemeinen Abnahme der
Geschlechtskrankheiten glaubt Augagneur nicht, wie sein Kollege,
daß sie der ersprießlichen Tätigkeit der Sittenbehörde zu danken sei.
Auf die viel allgemeinere Ursache dieser Erscheinung habe er schon in
den Sitzungen vom 4. und 5. März hingewiesen.
Der Deputierte und ehemalige Maire von Pan, M. d'Iriart
d’Etchepare, glaubt, daß die von ihm in seiner Stadt gemachten Be¬
obachtungen für die meisten Provinzialstädte wohl typisch seien. In
M. Hennequins Bericht sei ihm aufgefallen, daß alle von den Maires
der Provinzialstädte erlassenen Verfügungen lediglich die äußere mate¬
rielle Ordnung, die Säuberung des Trottoirs bezweckten; diesem Ergebnis
wird alles geopfert, selbst die elementarsten Prinzipien des öffentlichen
Rechts. So fand Redner eine Verfügung, die den Mädchen verbot, auch
nur für eine Stunde täglich auszugehen. Solche Bestimmungen müssen
ausgemerzt werden.
Die Willkür herrscht in der Provinz noch viel empörender als in
Paris, die reiche Prostitution entwischt stets, die kleine Proletarierin
aber kann sicher sein, sobald ihr Geschlechtsleben etwas freier wird,
gefaßt zu werden. Ist sie angesteckt, so wird sie unweigerlich einge¬
schrieben. Das Elend ist der große „Lieferant“ junger Mädchen an die
Prostitution. Redner hat in Südfrankreich junge Arbeiterinnen gesehen,
die „6 */ 2 Sous“ (80 Pfennig) pro Tag verdienten. Die jungen Dienst¬
mädchen in der Provinz werden ebenfalls sehr schlecht bezahlt, so suchen
sie sich denn einen Zuschuß. Ein Dienstmädchen in der Provinz pro¬
stituiert sich eher als eine Pariser Arbeiterin, sie ist sehr häufig ver¬
seucht und durch sie werden wieder die Soldaten der Garnisonen ver¬
seucht. Die Soldaten denunzieren sie nicht beim Major, sondern geben
stets ein Bordellmädchen aus der Vorstadt an, das zwar nichts dafür
kann, aber .... Das Leben der Eingeschriebenen in der Provinz ist
unerträglich und hindert sie je wieder emporzukommen; wenn ein Mädchen
einen Rest von Haltung und Gefühl bewahrt hat, so ist es ihr unmöglich,
sich wieder aufzuraffen: in dieser Stadt ist sie gebrandmarkt, entehrt
für immer. Im Theater hat sie an einer bestimmten Seite einer bestimmten
Etage ihren bestimmten Platz .... Überall wird sie durch die Paragraphen
des Reglements an die Schande angenagelt. Redner hat als Maire von
Pau diese albernen Grausamkeiten zum Teil abgeschafft; durch Humanität
und Milde hat er ausgezeichnete Resultate erreicht, sogar auch bezüglich
der Regelmäßigkeit der sanitären Untersuchungen. Die Provinzkranken¬
häuser haben Reglements von einem geradezu stupiden Mangel an Humanität;
in Pau verweigert die Hospital Verwaltung den Venerischen die Aufnahme
und droht selbst mit der Demission, wenn man ihre Weigerung übergeht.
Übrigens will M. d’Iriart d’Etchepare nicht etwa die Regle¬
mentierung abschafien; er glaubt, daß das Bordell ganz unbestreitbare
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Tagesgeschichte.
41
Dienste leistet, besonders für die „Zugvögel“, für die Junggesellen, die
Geschäftsreisenden, die, wenn sie morgens in eine Stadt kommen, nicht
wissen, wo sie des Abends hingehen sollen (sic!). Andrerseits werden
sie oft zur Mausefalle für die gewerbsmäßigen Übeltöter, die meist dort
den Ertrag ihrer Diebstöhle und Verbrechen ausgeben — so Pransini-
Marseille etc. Redner will die heimliche Prostitution, die in der Provinz
wie in Paris gleich gefährlich ist, verfolgt wissen. Wenn man in einer
kleinen Stadt in einem Laden einen kleinen leeren Syphon sieht, so
bedeutet das, wie jeder weiß, soviel wie ein Firmenschild, wie ein großes
Warenzeichen. Die Polizei ist da in großer Verlegenheit: diese angeb¬
lichen Händler bezahlen Gewerbesteuer. Also was tun?
Nach einigen Abschweifungen über die männliche Prostitution und
das Delikt des Anredens durch Männer (das er in der Gegend der
Madeleine in Paris beobachtet hat), über die Notwendigkeit, kraft eines
Gesetzes die gefährdete Minderjährige, anstatt sie einzuschreiben in eine
Fürsorgeanstalt zu geben, über die wegen Vagabundierens verfolgten Zu¬
hälter, über die strafrechtliche Verfolgung der Verseuchung (die er ver¬
wirft, weil er fürchtet, daß sie zu gegenseitiger Erpressung verleiten
könnte, und weil der Nachweis, außer bei einer vergewaltigten Jungfrau,
zu schwierig ist), spricht sich Redner für den vom Polizeipräfekten L6pine
angekündigten Entwurf aus, einen Entwurf, der allen nichtrichterlichen
Beamten, also den Maires, den Zentral-Kommissaren, den Präfekten so¬
wohl in der Provinz als auch in Paris, jede juristische Macht nehmen
und sie den Zuchtpolizeigerichten geben will. Redner spricht sich gegen
die Schaffung eines neuen Delikts der Verseuchung aus, doch bleibt
darum dem krank gemachten Opfer immer die zivilrechtliche Verfolgung
des Schuldigen. Der Artikel 1382 des Code civil genügt jeder An¬
forderung in dieser Beziehung. Gleichwohl glaubt Redner, daß nicht
viel Gebrauch davon gemacht werden wird. Gegenwärtig üben die Zu¬
hälter in Paris in großem Maßstabe das „Fleddern“ (lentölage) zum
großen Entsetzen der zum Vergnügen oder in Geschäften nach Paris ge¬
kommenen Provinzialen, und dennoch klagt keiner: ein in seiner Stadt an¬
gesehener Bürger, ein Großkaufmann, verliert lieber sein Portefeuille,
als daß er vor einem Gerichtshof das Abenteuer beichtet, bei dem er
es verloren.
Prof. Augagneur konstatiert, daß die Kommission einschließlich
des Polizeipräfekten (der wahrscheinlich mit dem Conseil-Präsidenten
Rücksprache genommen hat) einstimmig die gegenwärtige Reglementierung
verdammt und preisgibt. Das ist eine ebenso wichtige Errungenschaft
der Debatte, wie die Resolution der ersten Sitzung: „Die Prostitution
ist an sich kein Delikt.“ Aber wenn sich bisher nur die Polizei mit
der Prostitution beschäftigt hat — man sieht ja, was sie dabei erreicht
hat —, so muß jetzt gezeigt werden, daß das Interesse der Gesellschaft
nicht durch andere Dinge davon abgelenkt wird. Zweifellos ist die
Prostitution ein gesundheitsschädliches Gewerbe, das man konzessionieren
müßte; die Kommission würde das aber nicht wagen. Wie können wir
nun unser Interesse dem Faktum der Prostitution gegenüber betätigen?
Da muß man denn erstens die Lage der Prostituierten betrachten. Ist
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Tagesgeschichte.
sie minderjährig, so muß sie geschützt werden. Ist sie majorenn, so muß
man sie ebenfalls schützen. Die meisten Mädchen prostituieren sich nur
aus Not. Man muß sie gegen den Zuhälter schützen und gegen den heute
offiziellen Vermittler, den Wirt. Dieser Unternehmer darf nicht, wie
heute, anerkannt und geachtet werden; es würde genügen, den Art. 334
des Code pönal, der die Verfolgung der Vermittler auf die Fälle be¬
schränkt, wenn sie „gewohnheitsmäßig die Unzucht oder die Verführung
der Mindeijährigen unter 21 Jahren erregen, begünstigen oder erleichtern“,
so zu verändern, daß er lautete: „die Unzucht anderer“. Ist einmal
tabula rasa gemacht, an welche Bestimmungen soll man sich dann
halten? Augagneur wendet sich gegen die Übertreibungen der Spezial¬
ärzte, die in beklagenswerter Weise die numerische Bedeutsamkeit und
die Schwere der venerischen Krankheiten vergrößern, und verwahrt sich
durchaus gegen den Vorwurf der Interesselosigkeit: Man muß sich eben
gegen alle Krankheiten schützen, die venerischen Krankheiten mit in¬
begriffen.
Zu diesem Zwecke schlägt Augagneur die folgenden Maßnahmen vor:
1. In allen Städten Frankreichs außer in den Großstädten mit
Universitäten und medizinischen Hochschulen sind diejenigen Kranken¬
häuser aufzuheben, welche solche abgeschmackten Vorurteile gegen die
Venerischen noch hegen. Noch jetzt, in diesem Augenblick, bestehen
ganz unglaubliche Vorurteile. In Brüssel sah Redner beim Besuch des
Krankenhauses der Venerischen vor zwei Jahren, daß die langen Capes,
in die sie gehüllt waren, auf der Schulter ein aufgenähtes Kreuz aus
schwarzem Stoffe trugen. In der Antiquaille in Lyon wird die Wilsche
für die Venerischen extra gehalten, sie wird extra gewaschen und dient
nur für die Kranken der Spezialsäle. Als Augagneur bei der Anti¬
quaille eintrat, durften die Venerischen nicht in die Höfe hinabgehen.
Der Wein wurde ihnen vorenthalten. Für die Mädchen war dort ein
Kerker. In Brüssel gibt es einen Polizeisaal für Venerische, wo nur
Wasser und trocknes Brot verabreicht wird. Es ist, als herrschte da
eine alte Tradition von dem Schrecken und den Sitten des 15. und
16. Jahrhunderts, die von der Krankenhausverwaltung wie auch von
den religiösen Gemeinschaften sorgsam aufrecht erhalten wird.
2. Am Sonntag und Wochentags abends sind Konsultationen ein¬
zurichten. Diese sollen für Venerische in allgemeinen, nicht in ab¬
gesonderten Dispensaires stattfinden, damit nicht dieser Geist, der
die venerischen Krankheiten verfehmt, in Permanenz erklärt wird.
3. Die Unterstützungsvereine sind zu zwingen, den Venerischen
beizustehen. Es gewährt einen zugleich lächerlichen und widerwärtigen
Anblick zu sehen, wie ärztliche Behandlung und Heilmittel an einen
abscheulichen Trunkenbold, Müssiggänger, Parasiten der Gesellschaft ver¬
schwendet wird, und wie man sie einem armen jungen Menschen, der
Pech gehabt hat, versagt.
4. Die Venerischen dürfen auf den Krankenkarten, in den Militär¬
pässen, nicht als solche bezeichnet werden: ein als „venerisch“ bezeichneter
Soldat wird nicht befördert, ist er Unteroffizier, so bekommt er eine
sohlechte Note.
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Tageegeschichte.
48
5. Bleibt noch die Frage der Einschreibung und Behandlung
Venerischer. M. Augagneur erklärt, daß er alles bekämpfen wird,
was an die Sittenpolizei erinnert. Die Kommission hat gehört, wie
M. Turot M. Löpines Beamte anklagte und wie der Herr Präfekt
lebhaft dagegen protestierte und die Sittenbeamten verteidigte. Es ist
sehr bedenklich, Beamten dieses Ranges, ohne Rücksicht auf ihre Moral
und ihre Rechtschaffenheit, öffentliche Gewalten zu verleihen. Redner
erinnert an die Affäre Forissier in Paris und an die Affäre Meyer
in Lyon. Sowohl M. Augagneur wie M. d'Iriart d'Etchepare
wollen übrigens diese Gewalt ebensowenig den Maires verleihen wie den
Polizeibeamten. Also keine städtischen Verordnungen, keine separate
Polizei. Überwachung nur durch Beamte der gewöhnlichen Polizei, keine
Präventiv-Verhaftungen, keine Einschreibung.
Das Anreden ist jedoch zweifellos ein Delikt, dem man
entgegentreten muß und zwar aus folgenden Gründen: Die Prostitution
existiert; die öffentlichen Gewalten konstatieren ihre Existenz und müssen,
wenn sie nicht ihren Beruf verfehlen wollen, sich dafür interessieren.
Es hängt nicht von ihnen ab, ob sie existiert oder nicht. Sie ist da
und richtet ungeheure Verheerungen an. Wenn sie auf die Straße
hinabgeht, so überschreitet sie ihre Rechte. Bleibt sie ge¬
heim, so ist sie frei und stellt kein Delikt dar. Sobald sie sich
aber auf Öffentlichen Wegen betätigt, hat die Gesellschaft das Recht
und die Pflicht, sich um sie zu bekümmern. Ein Weib, das der
gewohnheitsmäßigen öffentlichen Anreizung zur Unzucht über¬
führt ist, steht mit Recht im Verdacht, vom hygienischen
Standpunkt aus gefährlich zu sein. Sie wird wegen Über¬
tretung der Vorschriften über den öffentlichen Anstand be¬
straft werden und muß ein Gesundheitsattest vorweisen;
fehlt dieses Attest, so wird sie strenger bestraft. Bei diesem Attest
handelt es sich weder um Einschreibung, noch um zwangs¬
weise sanitäre Vorstellung, noch um den Polizeiarzt. Etwas der¬
artiges will M. Augagneur nicht. Aber, sagt er, ein Weib, das sich
öffentlich der Prostitution hingibt, hat die Pflicht, ihren Gesundheits¬
zustand zu überwachen, denn dieser spielt durch seine Folgen eine
wichtige Rolle. Wenn sie sich nicht darum bekümmert, so begeht sie
ein Unrecht an der Gesellschaft. Sie könnte sich dieses Attest von
einem Arzte ihrer Wahl ausstellen lassen, oder wenn sie es nicht be¬
zahlen kann oder will, von einem Arzte der Dispensaires oder der
Assistance publique. Dieser Arzt wird ihr raten, sich behandeln zu
lassen, wird sie aber nicht dazu zwingen können. Dann aber muß
auf Grund eines Gesetzes, das neben den anderen ansteckenden Krank¬
heiten auch die venerischen trifft, eine verschärfte Verurteilung ausge¬
sprochen werden.
Fournier und Balzer glauben nicht an die in früheren Reden
von Augagneur gegebene Versicherung, daß die venerischen Krank¬
heiten im Abnehmen begriffen sind. Augagneur antwortet mit der
Frage, wozu dann die Sittenpolizei gedient hat, wenn die venerischen
Krankheiten zugenommen hätten.
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44
Tagesgeschichte.
Generalinspekteur Auf fr et bemerkt, daß es wenigstens bei der
Marine unmöglich sei, ohne Spezialsäle für die Venerischen die Disziplin
des Krankenhauses aufrecht zu erhalten. Übrigens werden die Kranken¬
scheine der Venerischen stets mit chiffriertem Text versehen, niemals
wird die Krankheit mit vollem Namen bezeichnet.
Der Polizeipräfekt freut sich, mitteilen zu können, daß alles von
M. Augagneur Geforderte am Abend vorher im Rathause bewilligt
worden ist. M. L6pine drückt als Chef der Pariser Polizei seine leb¬
hafte Befriedigung aus, das Dezernat der Prostitution davon getrennt
zu haben. Er verlangt namentlich, daß sich die Mädchen bei der
Assistance publique melden. Das Recht zur Arretierung beansprucht
er nur für die Mädchen, die sich nicht bei der Assistance publique zur
regelmäßigen Untersuchung gemeldet haben.
Augagneur erwidert, daß seine Vorschläge mit dem System des
Herrn Lupine nichts gemein haben, dieses sei noch ganz Sitten¬
polizei, da es Nennung von Namen, Zivilstand und Adresse
verlangt.
Tu rot schlägt der Kommission vor, den Wortlaut der verschiedenen
im Rathause in der Sitzung vom 18. März abends angenommenen Anträge
als Ausgangspunkt für ihre Arbeiten zu nehmen.
Senator Berenger verlangt, daß M. Augagneur seinen Text und
M. Tu rot die Dokumente vom Rathause vorlegt und insbesondere auch
den Bericht der Herren Mithouard und Gröbauval über die italie¬
nischen Einrichtungen.
Präsident Disl&re bemerkt, die Kommission kann unmöglich in
eine gründliche Diskussion eintreten, ohne daß jeder diese Dokumente
vor Augen hätte, von denen man bisher nur gehört habe. Jeder dieser
Punkte müssen extra behandelt werden, z. B. die Frage der Bordelle,
der letzte Vorschlag des Oberstaatsanwalts Bulot, der Antrag von Prof.
Augagneur usw. Die Kommission wolle beschließen, daß die Debatte
nur an der Hand des gedruckten und verteilten Wortlautes fortgesetzt
werden kann.
Darauf beschließt die Kommission, daß nur noch die vorgemeldeten
Redner am Ende der Sitzung zu Worte kommen sollen und ihre Anträge
aus dem Manuskript Vorbringen dürfen.
Prof. Landouzy hat nie daran gedacht, die Gefahr der venerischen
Krankheiten zu leugnen, nicht einmal die des Trippers. Als allgemeiner
Arzt findet er diese Gefahr ebenso groß, größer vielleicht als die Spezial¬
ärzte; aber man muß immer wieder auf die Wirksamkeit oder Nicht¬
wirksamkeit der Reglementierung zurückkommen. Dies ist die Haupt¬
frage. Dem System Augagneur wirft er vor, daß es das Mädchen
allein bestraft, und zwar um so mehr, wenn sie krank ist; denselben
Vorwurf macht er dem System des Polizeipräfekten: Bei diesem System
ist die Sittenpolizei „ungesetzlich, unmoralisch und unwirksam“. Jedes
System, das sich gar nicht mit dem Manne beschäftigt, ist unvollkommen.
Wenn Zuhälter festgenommeu und als krank befunden werden, so kümmert
sich das System des Präfekten nicht um sie.
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Tagesgeschichte.
45
M. Lupine sagt, er habe kein Recht, die Männer zu untersuchen.
M. Landouzy erwidert, der Präfekt habe einen Fall angeführt,
wo ein Mädchen 85 Pompiers mit Syphilis angesteckt habe. Als Gegen¬
stück hierzu könne er von zwei Pompiers erzählen, von denen der eine
eine verheiratete Köchin, und mit ihr infolgedessen Gatten und Kinder
angesteckt habe. Der andere hat an einem kleinen Pariser Theater
eine wahre Syphilisepidemie verschuldet. Diese Pompiers sind also genau
so gefährlich gewesen wie ein Syphilisherd in einem Bordell. Auch
Landouzy verwirft die paradiesische Statistik der Bordelle. Vor kurzem
erst kamen zu ihm zwei junge Männer, von denen der eine Gonorrhoe,
der andere Syphilis in solch einem Pariser Hause acquiriert hatte. Kurz,
Landouzy erklärt, daß er jedes System, das den Mann unberücksichtigt
läßt, bekämpfen müsse. Selbst nach M. L6pines Hypothese von der
Gesundheitsgefährlichkeit der Prostitution (die übrigens Landouzy eben¬
sowenig zugibt wie Prof. Augagneur), was soll mit dem Manne ge¬
schehen, wenn er gefährlich wird? Vor allem muß das allgemeine
geistige und moralische Niveau gehoben werden, dann wird auch solch
ein trauriger Aberglauben, wie der von Südfrankreich erwähnte ver¬
schwinden, der durch den Kontakt mit einem Kinde Gonorrhoe zu heilen
vermeint. Dann werden auch die Krankenhausordnungen human und
vernünftig sein. Hierbei erwähnt Redner, daß, wie er als Interner in
einem Provinz-Krankenhause konstatieren konnte, die Kost der Venerischen
in Küchenabfällen und den Überbleibseln vom Essen der anderen Kranken
bestand!
M. Landouzy bekämpft aufs neue das System des Polizeipräfekten
und wirft ihm Haarspalterei vor. Redner geht dann auf das System
des Oberstaatsanwalts Bulot ein, der für die venerischen Krankheiten
(ohne Unterschied des Geschlechts der Kranken) die Meldepflicht ein¬
führen will — so wie sie für die anderen ansteckenden Krankheiten
bereits besteht —, um dadurch eine allgemeine obligatorische Behandlung
zu erzielen; er erklärt dieses System für unmöglich, da es die Ver¬
letzung des ärztlichen Geheimnisses nach sich zieht. „Ein junger Mann
mit frischer blühender Syphilis konsultiert mich, sagt M. Landouzy,
und erklärt mir, daß er sich in kurzem zu verheiraten gedenke. Ich
rate ab, ich verbiete es ... In fünf von sieben Fällen wird die Hoch¬
zeit dennoch stattfinden . . • Und dennoch kann ich diesen Kranken,
der sich mir anvertraut hat, nicht denunzieren/* Außer im Falle von
Ammen und Säuglingen ist die Anzeige des Krankheitsfalles für den
Arzt nicht möglich. Prof. Landouzy schließt, indem er gegen die
Verseuchung von weiblicher oder männlicher Seite her ein Einschreiten
mittels des gemeinen Rechtes sowohl auf zivilem als auf strafrecht¬
lichem Wege verlangt.
M. Lande, Maire von Bordeaux, wendet sich gegen die von
der Pariser und auch von der Bordelaiser Polizei aufgestellte Statistik,
welche die hygienische Überlegenheit der Bordellmädchen darzutun be¬
stimmt ist. Das ist ein reines Blendwerk. Kein Mensch wird glauben,
daß an 400 Pariser Bordellmädchen in einem Jahre nicht ein einziger
Fall von Syphilis vorkommt Niemand glaubt an den vortrefflichen
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Tagesgeschichte.
Gesundheitszustand der „Pensionärinnen“ von Bordeaux. Diese Unglück¬
lichen rekrutieren sich zum größten Teile aus der Menge der Unkon¬
trollierten, sie sind also fast alle bereits vor ihrer Einschreibung syphi¬
litisch. Die große Gefahr der Bordelle liegt darin, daß die Mädchen dort
enorm beschäftigt sind. Eine auf Redners Veranlassung aufgenommene
Statistik ergab, daß infolge des Zustroms zu einem Sängerfeste eine
unglückliche Prostituierte einmal an einem Tage 82 Männer em¬
pfing. In Paris weiß man nichts vou der Rolle, welche diese Häuser
in der Provinz spielen: Die Mädchen, die als leichtsinnig bekannt sind,
selbst die Minderjährigen, werden derartig von der Polizei
chikaniert, daß sie gezwungen sind, hineinzagehen. Zur Be¬
handlung der venerischen Krankheiten übergehend, sagt M. Lande, vor
80 Jahren sei diese Behandlung erbärmlich gewesen, heute habe sie sich
ein wenig gebessert. Vor 30 Jahren wurden die sexuellen Affektionen,
und selbst die nicht venerischen Uterusaffektionen im St Andrä-
Krankenhause in die Nachbarschaft der Müllkästen und der Klosetts ver¬
bannt. Der Vertrag von 1840 zwischen den Krankenhausverwaltungen
und den Kongregationen setzt fest, daß die Schwestern nicht verpflichtet
sein sollen, Venerische zu pflegen. Vor 15 Jahren beschloß man in
Bordeaux ein Spezialkrankenhaus für Venerische zu bauen. Die Pläne
zu diesem Krankenhause waren merkwürdig: der Architekt hatte den
Auftrag, eine Reihe von unterirdischen Kerkern vorzusehen, die für
solche Kranke bestimmt waren, deren Führung zu wünschen übrig
ließ. Später wurde das Gebäude nicht für Venerische benützt, sondern
es wurde eine dermatologische Klinik darin eingerichtet, und so kann
man noch heute diese Kerker sehen, nur haben sie ihre Bestimmung
geändert, man verwahrt darin die Vorräte, und ihre Eiskellertemperatur
ist ganz wundervoll für die Frischerhaltung der Gemüse. Der Munizipal¬
rat von Bordeaux hat diesen Zuständen auf Antrag eines seiner Mit¬
glieder, des Dr. Logat, soviel wie möglich abgeholfen. Er hat ein
unentgeltliches Dispensaire geschaffen, wo auch Verbände, kleine Opera¬
tionen und Einspritzungen gemacht werden, und das bei den Kranken
der unteren Bevölkerungsschichten ausgezeichnete praktische Resultate
ergibt.
Redner verliest eine Reihe von persönlichen Vorschlägen zu einer
völligen Reform des Sittenwesens. Er wünscht, daß alle Dokumente,
alle bestimmten Anträge dem Bureau eingereicht und von Unter¬
kommissionen weiter bearbeitet, klassifiziert, analysiert und zur Öffent¬
lichen Diskussion vorbereitet werden.
Prof. Fournier fürchtet, daß die außerparlamentarische Kommission
gar zu ehrgeizig sei und schließlich mit ihren Arbeiten und Reform¬
vorschlägen gar zu weit gehe. Sie wurde einberufen, um über die
Prostitution der Weiber, über das Sittenwesen zu beraten, sie darf
sich daher nicht mit anderen Dingen beschäftigen. Dreierlei Mittel gibt
es, um die Prostitution der Weiber und ihre Gefahren zu mindern:
moralische, administrative und medizinische. Will man den Wert dieser
drei Kategorien in Zahlen ausdrücken, so muß man die moralischen
Mittel mit etwa 20 °/ 0 , die administrativen mit 30 ü / 0 und die medi-
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Tagesgeschichte.
47
zinischen mit 50 °/ 0 veranschlagen. Die Kommission sollte sich darauf
beschränken, diese Mittel eingehend zu untersuchen. Eine wichtige
Reform wäre es, die Öffentlichkeit der Krankenhausunter¬
such uugen abzuschaflen. Redner entwirft ein Bild von den Unter¬
suchungen im Hospital St. Louis. Wenn ein Venericher einmal dort
war, so hat er genug und kommt gewiß nicht wieder. Fournier sah
im Untersuchungssaale für Männer 40 Vernerische dicht aneinander ge¬
drängt, und dazwischen und um sie her 50 Studenten, die sie unter¬
suchten und Notizen machten; die Kranken werden von angewidert.
Und die weiblichen Kranken haben es in ihrem Saale auch nicht an¬
genehmer, sie lassen sich ebensowenig wieder sehen.
Präsident Dis Ihre ersucht M. Lande, sowie alle Mitglieder, die
der Kommission Anträge unterbreiten wollen, sie in der nächsten Sitzung
schriftlich bündig formuliert dem Bureau einzureichen. Der Präsident
und M. Börenger verlangen, daß der Wortlaut aller Dokumente und
insbesondere die Berichte vom Pariser Munizipalrat verteilt werden, und
bittet den Generalsekretär, für diese Verteilung Sorge zu tragen. Die
Versammlung wird darüber entscheiden, ob diese Berichte und Anträge
als Material an Unterkommissionen zu überweisen sind.
Präsident Dislfere stellt der Kommission anheim, die allgemeine
Diskussion zu schließen und in die konkrete Behandlung der anzu¬
nehmenden Neuerungen einzutreten.
Dr. Fiaux gibt seinem Bedauern Ausdruck, daß die Verhandlungen
der Kommission anscheinend kurz abgebrochen werden sollen, ohne durch
eine Generalenquete (die Dr. Butte durch eine Enquete über die
Sittenpolizei in den Kolonien vervollständigen möchte), gleichzeitig einen
Beweis für die Arbeit der Kommission und eine Stütze für ihre wissen¬
schaftlichen Schlußfolgerungen zu liefern. Oberstaatsanwalt Bulot nimmt
das Wort und erklärt, daß diese Enquete seinem persönlichen Geschmack
zwar entsprechen würde, doch fürchte er, daß dadurch das Gebiet der
Kommission noch mehr erweitert würde. Mit dem in der ersten
Sitzung abgegebenen Votum: „Die Prostitution ist kein Delikt“, hat
die Kommission zugestanden, daß ein Weib, welches sich prostituiert,
keine Delinquentin ist, folglich auch nicht nach einem derartigen Gesetze
behandelt werden darf. Niemand in der Versammlung hat bestritten,
daß die Gesellschaft sich gegen die venerischen Krankheiten Syphilis und
Tripper schützen muß. Wieviel kranke Prostituierte gibt es in Frank¬
reich? Die Statistik antwortet Tausende und aber Tausende . . . man
beurteile danach die Anzahl kranker Männer. Das sanitäre Problem ist
demnach nicht, wie sehr richtig bemerkt wurde, ein einseitiges. M. Bulot
schlägt vor, die venerischen Krankheiten in das Gesetz vom 15. Februar
1902 einzubegreifen, das die Anmeldung der ansteckenden Krankheiten
betrifft. Wenn er die heutige Sittenpolizei abschaffen will, so beweist
das keine Interesselosigkeit für die Hygiene, da das Gesetz vom
15. Februar 1902 dann jedermann ohne Unterschied des Geschlechts
träfe. Der Oberstaatsanwalt will ebenso energisch der Ärgernis erregenden
Unzucht die Straße und die öffentlichen Orte verbieten. Aber dazu
genügt es, dem Artikel 330 des Code p6nal ein paar Worte anzufügen,
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Tagesgeschichte.
die das Anreden treffen; dann kann man im Namen der Öffentlichen
Verletzung des Schamgefühls das Treiben der Prostituierten auf der
Straße verhindern. Ebenso braucht man nur den Artikel 334 des Code
pönal, der die Minderjährigen gegen die Verführung schützt, ein wenig
zu erweitern, um die Kuppelei wirksam im Zaum zu halten.
Prof. Augagneur ist ebenso wie die Anhänger der Föderation
einer Meinung mit M. Bulot, daß das Gesetz Prostituierte als solche
nicht anerkennen darf. Prinzipiell darf kein Gesetz, keine Reglementierung
ausschließlich für die Prostitution gegeben werden. Dann ist zu unter¬
suchen, wie 1. die öffentliche Ordnung, 2. die allgemeine Gesundheit,
3. der Schutz des Weibes gesichert werden kann, nicht bloß der Minder¬
jährigen, sondern jedes erwachsenen Weibes. „Bisher, sagt er, hat man
sich um die Gesundheit des Weibes nur insoweit gekümmert, als diese
die Gesundheit des Mannes tangierte. Die ganze Debatte müßte von
jenen drei Fragen ausgehen.“
M. Turot will jede Vorlage unterstützen, die ein lediglich gegen
das Weib gerichtetes Regime abschafft.
Prof. Gaucher erinnert an seine und Prof. Landouzys Haltung
auf der Brüsseler internationalen Konferenz von 1902, wo er genau
mit den Gefühlen der gegenwärtigen französischen Kommission überein-
stimmte: Die Tatsache der Prostitution ist ebensowenig ein Delikt wie
die Syphiliskrankheit an sich; macht, daß die Leute geheilt werden, ge¬
währt ihnen die Mittel dazu, stellt jedermann unter das gemeine Recht;
nur die wissentliche Übertragung des Leidens ist ein Delikt.
Prof. Landouzy wendet sich gegen jede Aufrechterhaltung, auch
mit angeblichen Reformen, einer Sittenpolizei. Diese ist nicht nur eine
Ungerechtigkeit; es ist ein Nonsens in hygienischer und juridischer Be¬
ziehung, nur die syphilitische Prostituierte zu verhaften, den syphilitischen
Zuhälter aber immer frei zu lassen. M. Landouzy wendet sich ganz
besonders gegen die im Rathaus votierte angebliche Reorganisation,
wonach die Mädchen verpflichtet sind, ein durch Zwangsuntersuchung zu
erwerbendes Gesundheitsattest vorzuweisen. Nur ein allgemeines Recht
der Hygiene und der Gesetzlichkeit kann die wahre Ordnung herstellen
und der Verbreitung der venerischen Krankheiten Einhalt tun.
Der Polizeipräfekt konstatiert, daß der Schluß der allgemeinen
Diskussion verfrüht wäre, da die Diskussion, wie es ja in der Natur
der Sache läge, wieder lebhaft geworden sei. Der Präfekt hält das der
Kommission vom Minister erteilte Mandat für sehr genau begrenzt auf
die Prüfung der Reglementierung. Bulot wolle in einem einzigen und
einheitlichen Akte sexueller Gesetzgebung verschiedene Delikte, die ein¬
ander bisher fern standen, umfassen.
Bulot gibt zu, daß in der Tat seine Absicht ist, nicht nur die
Prostituierte zu treffen, die die Öffentliche Ordnung stört, sondern auch
den Prostituierenden, den Mann, welcher ihr Geld bietet und sie in
ärgerniserregender Weise anredet, und ferner auch den Zuhälter, kurz
den prostituierten Mann. Mit einem Worte, Bulot will jede auf¬
fallende Betätigung der Unzucht zwischen beiden Geschlechtern beider¬
seits getroffen wissen.
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Tagesgeschichte.
49
Prftfekt Lupine glaubt, daß Bulot den Vorwurf verdient, daß er
zuviel unternimmt und darum nichts richtig ausfährt. Dieser Gesetz¬
gebungsakt ist zu weitgehend und enthält die Gefahr, in der Praxis
alles abzuschwächen. Überdies schneidet er auch das Problem des ärzt¬
lichen Geheimnisses an. Er selbst ziehe bei weitem den Antrag, den
Senator Bärenger der Kommission bereits vorgelegt hat, und den er
wiederholen will, vor, er verlangt, daß dieser Antrag zuerst diskutiert
werde; in zweiter Reihe möge dann die Kommission als Zusätze die Vor¬
schläge der Herren Bulot, Augagneur, Gaucher und Landouzy beraten.
Senator Bärenger bittet ums Wort, um von neuem seinen Antrag
darzulegen. Er ist der Meinung, daß man ein Spiel mit Worten treibe,
wenn man vorgebe, daß man jede Reglementierung abschaffen wolle.
Und was tut Bulot? Er erkennt an, daß die Syphilis eine Gefahr
darstellt, da er sie ja unter das Sanitätsgesetz von 1902 stellt; daß das
Anreden ein Delikt sei, da er es unter den Artikel 880 des Code pänal
stellt. In Wahrheit führt Bulot wiederum eine Reglementierung ein.
Dabei macht es wenig aus, daß der Wortlaut des Gesetzes nicht von
Prostitution und Prostituierten spricht. Selbst wenn das Gesetz von
Prostitution spräche, so würde das noch nicht besagen, daß es sie an¬
erkennt; das Gesetz spricht vom Diebstahl und erkennt ihn doch auch
nicht an. Bärengers System ist von äußerster Klarheit und es ist
fortschrittlich, es fußt auf der Moral. Schon in der Einleitung kommt
das Wort Moral vor. Die Prostitution ist eine unleugbare Tatsache,
man muß sie anerkennen. Die Gesellschaft hat daher zwei Pflichten:
1. der Prostitution eine gesetzliche Behandlung angedeihen zu lassen,
2. dem Weibe alle Mittel zu gewähren, aus diesem Zustande herauszukommen.
Weit entfernt, die vom Munizipalrat in Übereinstimmung mit der Polizei¬
präfektur getroffenen Maßnahmen zu kritisieren, heißt Berenger sie gut
und hält sie für ein bis zu Ende durchzuführendes administratives und
sanitäres Experiment; aber er will, daß es auch vom Gesetz sanktioniert
werde. Im ganzen will also Bär enger die Einschreibung aufrechterhalten,
er will Bordelle, Zwangsuntersuchung und -internierung, lauter wichtige
Punkte, die seinen Antrag durchaus von dem des Herrn Bulot unterscheiden.
Professor Lande-Bordeaux erklärt, sich dem Anträge Bulot anzu¬
schließen.
Yves Guyot sagt, daß die Kommission jetzt in ihren Debatten
auf einem Punkte angelangt sei, wo nicht mehr vage Angaben, oratorische
Kundgebungen am Platze wären, sondern wo ihr genau formulierte An¬
träge vorgelegt werden müßten. Er wiederholt den von ihm bereits
gemachten Antrag, die drei Anträge von Bulot, Augagneur und
Bärenger jetzt dem Bureau vorzulegen.
Augagneur erklärt, seinen Antrag zurückzuziehen, wenn Bulot
eine Modifikation des Artikel 1 seines Antrages zugesteht. Dies geschieht.
Die beiden anderen Anträge lauten:
Antrag Bärenger: 1. Eine besondere Überwachung der
weiblichen Prostituierten ist zu organisieren. 2. Diese Über¬
wachung wird durch das Gesotz organisiert.
Antrag Bulot: 1. Die Regierung soll die Prophylaxe der
Zeitsohr. f. Bekämpfung d. Geschleohtakrankh. IQ. 4
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Tagesgeschichte.
venerischen Krankheiten mittels des Gesetzes vom 15. Februar
19 02 organisieren (Amendement von Professor Augagneur).
2. Gegen die Charlatane, die mit lügnerischen Vorspiegelungen
versprechen, die venerischen Krankheiten zu heilen, und die
„Docteurs d’urinoir“ wird im Strafverfahren vorgegangen.
8. Die Jugend soll zu geeigneter Zeit über die intersexuellen
Krankheiten unterrichtet werden. 4. Der Artikel 330 desCode
pänal ist zu revidieren, sodaß(ohneUnterschieddesGeschlechts)
das Ärgernis erregende Anreden unter diesen Artikel fällt
und durch ihn bestraft werden kann. 5. Der Artikel 334 des
Code pänal ist zum wirksameren und länger andauernden
Schutze der Minderjährigen beiderlei Geschlechts auszubauen.
Der Antrag B6renger erhält 10 Stimmen.
Der Antrag Bulot erhält die übrigen 19 Stimmen und ist somit
angenommen.
Italien.
Einer Anregung des Generaldirektors des öffentlichen Gesundheits¬
wesens folgend, hat der Minister des Innern im Anfang des Jahres
folgendes Zirkular an alle Präfekten des Königreiches Italien erlassen:
„Ich muß leider feststellen, daß der Geist und die wahre Bedeutung
der Bestimmungen betreffend die Prostitution und die Prophylaxe der
venerischen Krankheiten nicht immer richtig verstanden wird, so daß
ihre praktische Anwendung nicht nur zu unangenehmen Folgen in
gesetzlicher Beziehung führt, sondern daß sie geradezu geeignet sind,
einen wirksamen Schutz der öffentlichen Gesundheit schwer zu schädigen.
Jeder direkte Eingriff, um sich von dem Vorhandensein und der Be¬
handlung von Krankheiten zu überzeugen, ist ungesetzlich und besonders
für die öffentliche Prophylaxe schädlich, weil er in reichem Maße da¬
zu beitrügt, die Anzahl der Personen zu vermehren, die ihr Leiden ver¬
heimlichen und sich der Behandlung entziehen. Um gerade das zu
verhindern, hat das gegenwärtige Reglement jeden Zwang als eine Be¬
leidigung der Freiheit und Würde des menschlichen Individuums aus¬
geschlossen und hat die veralteten prophylaktischen Maßregeln jetzt durch
die imentgeltliche unbegrenzte Fürsorge und Krankenhausaufnahme auf
Staatskosten, sowie durch häusliche und ambulante Behandlung ersetzt,
wofür der Staat und die Gemeinden ebenfalls im weitesten Umfange
sorgen. Die notwendige Folge von alledem ist, daß das Gebiet der
Prophylaxe gegen die venerischen Krankheiten gänzlich getrennt wurde
von dem der Sittenpolizei und anderen Maßregeln der öffentlichen Sicher¬
heit. Die beiden Behörden haben verschiedene Zwecke und entwickeln
sich jede in eigenen Bahnen, da die erstere hygienische Zwecke verfolgt,
die andere mit zum Schutze der öffentlichen Ordnung beizutragen hat
Jede Vermischung ist gefährlich und unrecht; es ist daher ebenso
gesetzwidrig, ein Mädchen, gleichviel welchen Berufs, festzunehmen, einzig
zu dem Zwecke, ihren Gesundheitszustand feststellen zu lassen, wie es
gesetzwidrig ist, ein Mädchen durch die Behandlung in einem Saale für
Venerische ihrer persönlichen Freiheit zu berauben.“
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Zeitschrift
für
Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten
Band 3. 1904/5. Nr. 2 u. 3.
Über den Wert der modernen Instillationsprophylaxe
der Gonorrhöe.
Von
Dr. B. de C&mp&gnolle, München.
(Fortsetsung and Schluß.)
Im scharfen Gegensatz zn den frühzeitig Irritierten steht eine
Anzahl von Männern, die sich den gleichen Instillationen gegen¬
über äußerst resistent verhielten, die teils überhaupt nicht — es
sind dies unter jener zweiten Gruppe von 23, die Einträufelung
mindestens dreimal vornehmender Männer 7 —, teils erst nach
einer Reihe von Instillationen Reizungen erlitten (5). Hier ist freilich
zu bemerken, daß von den ersteren nur Einer die Prophylaxe
öfter als 6 mal, und vor allem fast Sämtliche dieselbe nur in
größeren Intervallen an wandten, was mir die VermÄtung nahelegt,
daß auf die Dauer wohl überhaupt keine Harnröhre die
bakterizideProphylaxe reaktionslostolerieren würde, wenn
diese Reaktion sich auch bei so großer Resistenz und bei mäßigem
Gebrauch in engen Grenzen hielte.
Es besteht also eine sehr variierende Disposition zu
diesen chemischen Reizungen, eine auffällig schwankende
Irritabilität
Diese konnte eine angeborene individuelle sein, begründet im
Grade der „Gewebsresistenz“; interessanter war es, zu erkunden,
ob sich diese Empfindlichkeit nicht auch großenteils als erworbene,
durch pathologische Zustände gesetzte erwies.
Da ergab sich nun das bemerkenswerte Resultat, daß unter
den Patienten, die früher nie vom Tripper befallen waren, nur
verschwindend wenige sich befanden, die gleich bei der ersten, ja
bei den ersten Anwendungen Reizkatarrhe davontrugen. Die
Zeitochr. f. Bekämpfung d. Geschlechtskrsnkh. 111. 5
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52
de Campagnolle.
Disposition hierzu, diese Irritabilität liegt fast aus¬
schließlich auf Seite der früheren Gonorrhoiker, speziell
jener großen Gruppe mit Fäden im reinen oder leicht
diffus getrübten Morgenurin, die allein oder größtenteils aus
der Anterior stammen. Würde ich solchen die Prophylaxe ohne
Auswahl empfohlen und nicht, wie schon mitgeteilt, außer von
einem absolut negativen Befund der Kalibrierung und der Prostata¬
palpation, der Expression der Prostata und der Urethraldrüsen,
weiterhin abhängig gemacht haben von der Zusammensetzung
jener Filamente, die Leukozyten nur in spärlichen Einbettungen
führen durften, sowie dem Ausbleiben von Sekretion auf exzessive
Lebensweise hin und schließlich von der Kon stanz der Zusammen¬
setzung der Fäden, die nicht einen stark vermehrten Eiterzellen¬
gehalt zeigen durften, gegenüber ebensolchen Reizen, dann würde die
Erklärung dieser Irritabilität keine Schwierigkeit bieten, wir hätten
einfach im günstigsten Falle eine exazerbierende Resturethritis vor
uns. Diesen Zustand, dieses rein filamentöse Stadium,
wo selbst auf kräftige Exzesse in Alkoholicis keine Re¬
aktion mehr erfolgt, müssen wir jedoch scharf trennen
vom terminalen Katarrh; diesen betrachte ich als wohlum¬
schrieben, scharf abgegrenzt zwischen dem ersten endgültig nega¬
tiven Gonokokkenbefund und dem ersten Probeexzess, der nach
Verschwinden der Sekretion keine solche mehr hervorruft und bei
Zurückbleiben von Filamenten Leukozyten nicht in reichlicherer
Menge in dendfelben auftreten läßt
Es handelt sich bei diesem Stadium exazerbationsfreier sta¬
biler Fadenbildung um eine dritte selbständige Abstufung der
Gonorrhöe, richtiger: des durch die Gonokokken eingeleiteten Ent¬
zündungsprozesses, um das wahre Endstadium der Gonorrhoe. Es
ist nämlich, wie der terminale Katarrh, auch bei den typisch rasch
ablaufenden Trippem deutlich ausgeprägt, wenn auch freilich von
ganz kurzer Dauer, nur zu häutig aber, wie allbekannt, ein un¬
geheuer protrahiertes. Deshalb finden wir fadenhaltige Urine enorm
häufig, bei Personen jeden Alters, nach weit, ja jahrzehntelang
zurückliegendem Tripper; die Brausersche Statistik hat hierüber
überraschende Aufschlüsse gegeben.
Welches ist wohl das anatomische Substrat dieser Faden¬
bildung, welches eine Empfänglichkeit der Harnröhre für chemische
Irritation setzt, worin bestehen die feinen anatomischen (und chem.-
biol.) Veränderungen, die nach der intensivsten Entzündung der
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Ober den Wert der modernen Instillationsprophylaxe der Gonorrhöe. 53
Harnröhre auf lange hinaus verbleiben und meist jeder therapeu¬
tischen Beeinflussung trotzen?
Untersucht man endoskopisch eine größere Zahl solcher im vorderen
Teil jenes geringfügige Sekret produzierender Harnröhren, das durch den
Hamstrahl koaguliert und zu Filamenten geformt wird, dann wird man
besonders häufig wiederkehrend folgendes Bild finden: Eine mehr oder
weniger starke fleck- oder zonenartige, zuweilen leicht desquamierende
Mattierung der Epitheldecke, besonders ausgeprägt im vordersten Drittel
der Pars pend. und an gnt vaskularisierten Schleimhäuten, ferner ge¬
rötete, gewulstete Krypten isoliert oder gruppenweise innerhalb dieses
Gebietes. Dieser Befund lehrt im Zusammenhalt mit der schon er¬
wähnten Beobachtung, daß in diesen Fällen häufig die Expression der
Urethraldrüsen über der Knopfsonde reichlichen Schleim zutage fördert,
daß wir es bei diesem Stadium der Fadenbildung (ohne daß dies stets
endoskopisch nachweisbar wäre) mit in vereinzelten Drüsen oder
Drüsenausführungsgängen fortglimmenden Entzündungsresten
nebst sekundärer Desquamierung des umgebenden Epithels
(Ausführungsgangs- und Lumenepithel) zu tim haben. Diese ist ja wohl zu¬
nächst als Folgeerscheinung der entzündlichen Hypersekretion der Drüsen
zu betrachten, welche das Epithel zum Aufquellen bringt und lockert.
Es entsteht nun ein Circulusvitiosus: diese Epithelmazerationen begünstigen
ohne Zweifel eine massenhafte Ansiedelung der Urethralbakterien, beson¬
ders in den vordersten Teilen der Urethra, welche ihrerseits wieder geeignet
sein dürfte, den Epithelverfall zu unterhalten, vielleicht den Drüsenkatarrh
selbst durch Einwucherung in die Acini, also in gewissem Grade pathogen
zu werden.
Diese pathologischen Veränderungen, die sich besonders in
den vordersten Urethralpartien finden, als Grundlage des Stadiums
der Fadenbildung betrachtet, machen nun die größere Irritabilität
solcher Harnröhren leicht erklärlich.
In Parenthese sei hier bemerkt, daß in dieser Definition auch eine
Begründung zu finden wäre für die Ansicht vieler Autoren, der frühere
Gonorrhoiker — dessen Ham nämlich noch Fäden führt — sei zur
Reinfektion mehr disponiert wie der vordem Gesunde. Ebenso für den
von Finger betonten Umstand, daß einmal an U. post, erkrankte In¬
dividuen im Laufe eines neuen Trippers fast stets wieder mit einer
Posterior zu rechnen haben; auch hier dürften Entzündungsreste ver¬
einzelter Drüsen der Anterior, Posterior und Prostata — in Verbindung
mit einer dadurch hervorgerufenen, wenn auch geringgradigen Kongestion
der ganzen Mukosa — die Aszendierung erleichtern. —
Weitere zur Irritabilität gegenüber den Einträufelungen dis¬
ponierende, aber bei weitem an Wichtigkeit nachstehende Momente
liegen in bestimmten konstitutionellen Anomalien oder Er¬
krankungen, wie chronischer Anämie und Skrofulöse (die „Rheu-
5 *
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de C&mpagnolle.
matiker“, die Leute mit reizbarem Schleimhautsystem im all¬
gemeinen) oder Lues, Adipositas; von geringerer Bedeutung deshalb,
weil hier meist die große Reizbarkeit der Urethralschleimhaut erst
durch einen überstandenen Tripper „ausgelöst" wird.
AuchchronischeKongestiyzustände der Harnröhre sind
noch anzureihen, fixe Hyperämien, wie sie bei Masturbanten (hier
bei exzessiver Onanie selbst zu Urethritis führend, „Masturbanten-
Urethritis“ Finger, Oberländer, Barlow), bei gewohnheits¬
mäßigem Coitus interruptus oder condomatus, aber auch bei
chronisch Obstipierten und Hämorrhoidariem mir gegeben scheinen.
Schließlich wird bei wiederholtem Instillieren eine große Em¬
pfänglichkeit zu Reizungen gesetzt durch den Vorbestand eben
einer solchen Reizung, worüber unten des näheren zu berichten
sein wird.
Das Bild dieser speziellen Art von artefizieller traumatischer
Urethritis stellt sich in kurzen Zügen folgendermaßen dar.
Drei bis fünf Stunden nach der Einträufelung zeigt sich serös¬
schleimiges Sekret, das im Laufe ungefähr der gleichen Zeit rein
eiterigen Charakter annimmt Die Sekretion ist meist reichlich,
anfänglich aus Schleim und Epithelien (Platten- und Übergangs¬
epithel) bestehend, neben körnigen, amorphen Massen (Bröckel von
Silberalbuminaten) und zuweilen auch roten Blutzellen, wobei
manchmal die Farbe des Sekrets dies nicht vermuten läßt, Kom¬
ponenten, die bald oft ausschließlich durch Leukozyten abgelöst
werden. Die subjektiven Beschwerden, Miktionsschmerzen und
Kitzelgefühl variieren, wie die Schmerzen bei der Instillation selbst,
wie schon bemerkt, außerordentlich, sie sind gewöhnlich nicht er¬
heblich. In Ausnahmefüllen zeigt sich die Sekretion profus und
blutig tingiert, unter Schmerzen, die jenen des floriden Trippers
in nichts nachstehen. Als äußere Inflammationserscheinungen sind
Rötung der Eichelspitze, gläsern derbes Oedem der Lippen des
Orificiums sehr häufig.
Aber dieses akute Einsetzen bildet nur eine Form des Auf¬
tretens unserer Reizurethritis, allerdings die, welche einzig einen
typischen Ablauf erwarten läßt.
Die Reaktion auf die chemische Reizung kann in exquisit
subakuter Form einsetzen, bei welcher es bei gleichem mikro¬
skopischen Bilde des Sekrets von vornherein nur zu einem spär¬
lichen Morgentropfen kommt bei ganz geringfügigen Beschwerden.
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Über den Wert der modernen I us tillationaprophy laxe der Gonorrhöe. 55
Stets aber, auch in diesen Fällen, manifestiert sich die irritative
Entzündung innerhalb der angegebenen kurzen Zeit; es ist
nicht etwa, wie häufig bei der Gonorrhöe, das subakute Auftreten
mit einer Verlängerung der Inkubation verbunden.
Der akut einsetzende Katarrh gestattet allein eine günstige
Prognose. Er kann nach rascher Abstufung zum schleimig-des¬
quamativen Stadium bereits nach 48 Stunden spontan geheilt sein,
er ist dies im typischen Falle, der die Regel bildet, in 4 bis
spätestens 10 Tagen. Jedoch auch dann, wenn letzteres nicht
zutrifft, wird die Vorhersage quoad durationem noch nicht un¬
bedingt ungünstig, falls nur der Entzündungsprozeß sich auf der
Höhe der floriden Akme hält Unter dieser Voraussetzung habe ich
in einer Reihe von Fällen noch eine Spontanheilung in 8 bis
6 Wochen gesehen, mit letztgenanntem allerdings als äußerstem
Termin.
Fällt dagegen der Entzündungsprozeß von der Akme ab,
ohne rasch zur Abheilung zu gelangen, dann wird die Prognose
— bei den subakut einsetzenden Katarrhen ist dies ohnehin Regel
— eine unbedingt schlechte. Wir haben dann stets das sattsam
bekannte Bild der insidiösen chronischen Urethritis vor uns.
Diesen chronischen Verlauf nehmen nun gewöhnlich erst
wiederholte Reizkatarrhe, Reirritationen; es entwickelt sich also
diese chronische Form meist erst nach mehreren vorhergegangenen
günstigen oder günstiger verlaufenen Reizungen. Allein manchmal
stellt sich bereits die erste irritative Urethritis, die ein Mann
akquiriert, in dieser ungünstigen Form dar; ein subakutes Einsetzen
pflegt dann häufig der Vorbote des Chronizismus zu sein.
Bedingen, wie wir sagen, Gonorrhöen mit Testierender Faden¬
bildung eine frühzeitige Irritabilität, so scheinen besonders
schwer verlaufene, wiederholte Gonorrhöen die Disposition
zu diesen a priori torpiden Reizkatarrhen zu setzen; in zweiter
Linie auch wieder jene konstitutionellen Anomalien, oft beide Mo¬
mente gemeinsam.
Der allgemeine klinische Aspekt der verschleppten Reiz-
urethritis deckt sich völlig mit dem jener beiden bisher am besten
studierten Formen nicht gonorrhoischer Urethritis, des post¬
gonorrhoischen Katarrhs und der extragonorrhoischen chronischen
venerischen Urethritis (Guiard, Barlow, Goldberg, Waelsch,
Galewsky, ferner Alfred Wolff, Reichmann, Bodländer);
gemeinsam sind vor allem die geringfügigen subjektiven und ob-
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de Campagnolle.
jektiven Erscheinungen, die Tendenz zu protrahiertestem Verlauf,
das in noch näher zu kennzeichnender Richtung refraktäre Ver¬
halten gegenüber unserer usuellen chemischen Therapie. Als
charakteristisch für das Bild unseres chronischen Katarrhs muß
ich speziell einen Zug betrachten, den ich nicht beim post¬
gonorrhoischen Katarrh, wohl aber — wie mir aus den Kranken¬
geschichten von Barlow, Waelsch und Galewsky hervorzugehen
scheint — auch bei der vermutlich kontagiösen Urethritis wieder
zu finden glaube: die Neigung zu einer auffallenden Toleranz und
Stabilität des chronischen Verlaufs und Entzündungsgrades gegen¬
über den Reizen der alltäglichen Lebensführung, auffallend im
Vergleich mit den bekannten Aggravierungen der gonorrhoischen
und postgonorrhoischen Urethritis unter dem Einfluß derartiger
Reize.
Das Endoskop zeigt bei der voll entwickelten chronischen
Urethritis stets die gesamte Schleimhautfläche der Anterior er¬
griffen. Schon in den akuten, rasch ablaufenden Fällen erwies
sich übrigens, wenn ich im Stadium decrementi endoskopierte, die
Rötung und leichte Verstreichung der Falten meist ein gutes
Stück aufwärts über die Pars pend. verbreitet.
Wie alle chronischen Urethritiden pflegt sich auch unsere
chronische traumatische Urethritis zu einem Stadium der Fila-
mentenbildung abzustufen, das therapeutisch schwer zu beein¬
flussen ist
Dieser Monotonie der klinischen Erscheinungsform entspricht
jedoch, wenn man sich der modernen Untersuchungsmethoden be¬
dient keineswegs in allen Fällen ein einfacher torpider, diffus fort¬
glimmender Katarrh ohne Komplikationen, um welchen es sich
beim terminalen und beim chronisch venerischen Katarrh zu
handeln scheint.
Gewiß bleibt der Prozeß in einem großen Teil der Fälle ein
rein diffus-katarrhalischer, desquamativer; als solcher heilte die
Hälfte der von mir beobachteten chronischen Fälle ab, bezw. per-
sistierte als solcher während der Beobachtungsdauer.
Jedoch wurde das Auftreten zweier Komplikationen festgestellt:
I. Die chronische traumatische Urethritis kann, allerdings, wie
es scheint unter bestimmten Voraussetzungen, den Sphincter extern,
überschreiten. Ich habe in 3 Fällen eine Beteiligung der Posterior
stets mit solcher der Prostata beobachten können.
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Über den Wert der modernen Instillationsprophylaxe der Gonorrhöe. 57
Es handelte sich zweimal um einen ahnten glandulären Katarrh
der Vorsteherdrüse ohne Palpationsbefnnd in Konfiguration, Empfindlich¬
keit and Temperatur derselben, lediglich ans dem starken Leuko¬
zytengehalt des nach vorgängiger Janetspülung exprimierten Sekrets
diagnostizierbar, im dritten Falle mit wahrscheinlicher Mitbeteiligung des
Parenchyms, da über ziemlich heftige und ausstrahlende Kreuzschmerzen,
Fremdkörpergefühl im Rektum und Sitzbeschwerden geklagt wurde, die
Prostata sich diffus geschwellt und druckempfindlich erwies.
Dieser letzte Fall war auch dadurch ausgezeichnet, daß hier die
Vorsteherdrüse mit scheinbarer Überspringung der Posterior ergriffen
wurde; wenigstens mußte dies aus den Befunden der Irrigationsproben,
Häkchen im nur ganz schwach diffus getrübten ersten und zweiten Ham
(nach Borspülung der Anterior) geschlossen werden. Finger hat zuerst
auf dieses paradoxe Vorkommnis aufmerksam gemacht. In den beiden
glandulären Fällen machte sich der Übergriff des Prozesses über den
Sphincter extern, mehr oder weniger stürmisch durch die bekannten Er¬
scheinungen des gehäuften, imperiösen Harndrangs, des terminalen
Tenesmus (einmal mit Blutung) bemerkbar. Eiue auch nur partielle
Mitbeteiligung der Blase ließ sich in allen drei Fällen ausschließen in¬
folge der. teils geringer trüben, teils völlig klaren Beschaffenheit der
letzten Hamportion. Zu sexuellen, auf Mitbeteiligung des Colliculus hin¬
weisenden Reizerscheinungen, Pollutionen, kam es in zwei Fällen.
Der Verlauf war durchweg ein günstiger; die subjektiven
Störungen der Harnsekretion, die prostatischen und sexuellen Reiz¬
erscheinungen schwanden in durchschnittlich 14 Tagen, die objek¬
tiven Anzeichen, die Befunde der Spülproben, der Prostatapalpation
und des exprimierten Prostatasekrets in 5—6 Wochen.
Außere Ursachen des Aszendierens waren in keinem Falle
zu eruieren. Sondierungen, Dilatationen der Anterior waren in
diesen Fällen niemals, Knopfsonden und Tuben nur bei einem
Patienten, und dies lange zuvor, bis zum Bulbus eingeführt
worden. Spülungen und Injektionen der Anterior waren mindestens
Wochen hindurch gut vertragen, in konstanten, nie schroff variier¬
ten Dosierungen appliziert worden. Kohabitationen wie Exzesse
in Kost und Bewegung glaube ich ausschließen zu können; in
einem Falle waren etwas gehäufte Pollutionen vorausgegangen.
Zwei von diesen drei Patienten, bei welchen die traumatische
Urethritis auf die Posterior Übergriff, hatten früher eine bezw. zwei
Gonorrhöen durchgemacht, und zwar ebenfalls mit Beteiligung der
hinteren Harnröhre. Eine dieser Posteriores hatte ich selbst be¬
handelt; sie zeigte alle typischen Symptome, dazu wiederholten
Spermatozoenbefund im zentrifugierten Sekret der hintern Harn¬
röhre (latente Spermatorrhöe), ohne daß sich übrigens sexuelle
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58
de Campagnolle.
ßeizerscheinungen bemerkbar machten. Über den Prostatabefund
hatte ich mir keine Notizen gemacht, subjektive Beschwerden in
dieser Richtung lagen jedenfalls nicht vor. Zwischen der völligen
Ausheilung dieses Trippers und dem ersten Gebrauch der Prophy¬
laxe lagen 1 J / 4 Jahre völliger Gesundheit, insbesondere normaler
sexueller Funktion.
Im andern Falle war aus der unzweideutigen anamnestischen
Angabe des gebieterischen Harndrangs, terminaler Hämaturie, mit
Sicherheit eine Posterior bei der vor 2 Jahren überstandenen
Gonorrhöe zu bestimmen. Auch hier in der Folge keine sexuelle
Funktionsstörung, keine neurasthenischen Anzeichen, ein Fort¬
glimmen einer chronischen Urethritis post daher auch hier aus¬
zuschließen.
Es hatten sich also beide Male vor dem Reizkatarrhe ent¬
zündliche Prozesse in der Posterior abgespielt
Finger hat auf die häufige Beobachtung hingewiesen, daß unter
solchen Umständen bei gonorrhoischer Reinfektion der Tripper stets
wieder die frühere Bahn beschreitet und die Harnröhre totaliter befällt.
Eine Erklärung hierfür habe ich schon oben damit zugeben versucht, daß
in solchen Fällen wohl eine klinische „Heilung“, aber keine wirkliche
anatomische Restitutio ad integrum bestanden haben möchte, indem in ein¬
zelnen Drüsen der Anterior wie der Posterior (Prostata) Entzündungs¬
reste fortglommen, die in Fadenbildung ihren Ausdruck fanden, und die
in Verbindung mit Kongestivzuständen der Mukosa, die durch sie unter¬
halten wurden, die Aszendierung einer neuen Gonorrhoe begünstigten.
Daß nun hierdurch für das Aufsteigen einer nicht gonorrhoischen Ure¬
thritis der Boden ebenso günstig präpariert ist, erscheint nicht wunderbar.
Aber auch beim dritten Patienten, der nie vom Tripper be¬
fallen war, handelte es sich bestimmt nicht um eine vor dem Reiz¬
katarrh völlig intakte Posterior. Derselbe, von im übrigen ro¬
buster Konstitution gab häufige Pollutionen in den vorhergegangenen
Jahren, beim Coitus präzipitierte Ejakulationen und verringertes
Wollustgefühl an; der typische Grund für diese Colliculitis, inten¬
sive frühzeitige Onanie, dann exzessiver ungeregelter Verkehr, wurde
ohne weiteres zugestanden. Da es sich hier nur um eine Er¬
krankung der hinteren Harnröhre handelte, hatte ich dem Patienten
die Prophylaxe nicht abgeraten.
Bei diesem letzten Falle trat späterhin trotz der Prophylaxe In¬
fektion ein; er findet sich unter den Infektionsfällen eingehend beschrieben
(Fall B). Die wichtigsten, hier interessierenden Daten der beiden übrigen
Fälle sind im Vorstehenden bereits angegeben.
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Über den Wert der modernen Instillationsprophylaxe der Gonorrhoe. 59
II. Allein nicht nur flächenhaft vermag sich der katarrhalische
Prozeß auszubreiten, bemerkenswerter noch erscheint, daß die
chronische, also meist durch wiederholte Instillation bedingte
Urethritis auch umschriebene, herdförmige Infiltrationen veranlassen
kann, und zwar beobachtete ich dies in 5 Fällen, darunter dreimal
bei Leuten, die noch nie Gonorrhöe akquiriert hatten.
Dies ist charakteristisch; wir kennen bisher „entzündliche“,
das isl infiltrativ strikturierende Prozesse (als Gegensatz zur trau¬
matischen Striktur) ausschließlich im Verlaufe, bezw. der Gefolg¬
schaft der echten gonorrhoischen Urethritis; es ist hier der all¬
gemeinen Annahme zufolge der konstante Reiz der im Gewebe
wuchernden Gonokokken und ihrer Toxine, der die bindegewebige
Hyperplasie bedingt und einleitet. Als Konsekutiverscheinung einer
nicht-gonorrhoischen Urethritis hat man dagegen bisher zirkum¬
skripte Infiltrationsprozesse nicht beobachtet. Nur eine Ausnahme
ist mir bekannt, die sich allerdings gerade auch auf prophy¬
laktische Instillation bezieht und von E. Frank selbst mitgeteilt
wurde. Es handelte sich um den Fall eines Offiziers, der infolge
von Lapiseinträufelungen eine mit Infiltrationsbildung verbundene
irritativeUrethritis acquierierte, die einer langwierigen instrumenteilen
Behandlung zu ihrer Beseitigung bedurfte.
Man könnte diese Infiltrate nun als rein traumatische, als
Atzstrikturen bezeichnen und an jene Epoche der Ricord-Diday-
schen Abortivkuren (Abortivversuche) mittels 1—3proz. wieder¬
holten Lapisinjektionen erinnern, in welcher gleichzeitig sehr zahl¬
reiche Strikturen zur Beobachtung gelangten.
Ich bin nun weit entfernt, die Möglichkeit einer Atzstriktur
als vernarbtes Kauterisationsgeschwür leugnen zu wollen, halte
jedoch eine sehr intensive Verätzung hierfür notwendig. 1 ) Eine solche
ist aber wohl weder durch eine 3proz. Lapis-, noch 20proz. Pro-
targollösung möglich; Finger hat an Hunden, denen er in die
vorher durch längere Kathetereinlage sogar bereits irritierte Urethra
bis 5proz. Lapislösungen einspritzte, nachgewiesen, daß die Koa¬
gulation höchstens die oberen Epithelzellschichten erreichte.
Das Trauma dürfen wir demnach weder für jene Lapisstrik-
turen der 60 er Jahre (in welchem Prozentsatz mag es sich hier
*) Einen Fall dieser Art sah ich selbst. Ein Mann steckte sich zu
prophylaktischen Zwecken einen großen Kalipermanganat-Rristall in die Harn¬
röhre und zerrieb ihn dort unter starken Schmerzen. Es entwickelte sich (ohne
Gonorrhöe) in kurzer Zeit hinter dem Orificium eine derbe Striktur.
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60
de Campagnolle.
um nicht kupierte, damals nicht diagnostizierbare Tripper gehandelt
haben!) noch für unsere Instillationsinfiltrate als selbständige Ur¬
sache betrachten. Ich glaube demselben in beiden Fällen nur
eine einleitende Rolle zuerkennen zu müssen und erkläre mir spe¬
ziell die Entwicklung unserer Instillationsinfiltrate auf folgende
Weise.
Nicht die einzelne Einträufelung, sondern die häufigen* viel¬
leicht mit kurzen Intervallen wiederholten Instillationen führen zu
einer progredienten Zerklüftung der Platten- und ev. Zylinder¬
epithelschichten. Dazu kommt, daß gerade diese Auflockerung
das Epithellager noch imbibitionsfähiger gegenüber den Einträu¬
felungen macht. Die Zerklüftung wird wiederum unterhalten und
gesteigert durch die reaktive Exsudation des Papillarkörpers und
so wird das subepitheliale Bindegewebe mehr und mehr
der fast direkten Einwirkung der kauterisierenden Silber¬
salzlösung preisgegeben. Preisgegeben auch — wie es scheint,
erst nach Erschlaffung der reaktiven Aktion des Papillarkörpers —
der Ansiedelung und dem Eindringen der Urethral¬
mikroben, die vielleicht, ohne eigentlich pathogen zu werden, für
diesen Teil der Mukosa, der nicht ihr natürlicher Nährboden ist,
einen starken Gewebsreiz bilden, ähnlich dem der Gonokokken
und ihrer Toxine. Diese beiden Momente: allmähliche künst¬
liche Zerstörung des Epithels und dadurch ermöglichte intensive
Tiefwucherung von Harnbakterien glaube ich als ursächlich für die
im Gefolge unserer Reizkatarrhe auftretenden zirkumskripten In¬
filtrate ansprechen zu müssen.
Einen Hinweis auf diese Rolle der Urethralmikroben fand ich
in dem Umstande, daß in mehreren dieser Infiltrationsfälle schon
frühzeitig, vor der Diagnose der Infiltration, die Expression der
Urethraldrüsen über der Knopfsonde nach vorheriger Borwasser-
durchspülung der Anterior bei stark vermehrtem Schleim reichlich
Leukozyten und dieselben Bakterien wie das Urethralsekret ergab.
Eine starke Mitbeteiligung der Urethraldrüsen am urethritischen
Prozeß dürfte eine notwendige Bedingung jeder Infiltrierung, d. i.
intensiven Bindegewebsreizung sein; definieren wir diese als bakte¬
rielle, dann ergibt sich hier ein Einwuchern der Bakterien (seien
dies Gonokokken oder Urethralsaprophyten) ins Bindegewebe aus
zwei Richtungen, vom Urethrallumen und von den Drüsen
(Drtisenausführungsgängen) aus.
Die Entwicklungsdauer der Infiltrate war — ich ziehe nur
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Über den Wert der modernen Instillationsprophylaxe der Gonorrhöe. 61
die Fälle in Betracht, wo sie nie vom Tripper befallene Männer
betrafen — eine beachtenswert kurze; der Nachweis der Dilatations¬
herabsetzung bezw. Strikturierung erfolgte ca. 3 1 / i , 4 und 5 l / 2 Monate
nach derjenigen Instillation, die überhaupt zuerst Reizerscheinungen
hervorgerufen hatte. Wir dürfen hieraus nicht folgern, daß der
hypothetische Ge websreiz jener Urethralbakterien dem der Gono¬
kokken an Intensität gleichkomme; näher liegt die Annahme, daß
die wiederholten Kauterisationen durch ihre sukzessive Zerstörung
des Platten- und Zylinderepithels und selbst des Bindegewebes die
Mikroben viel prompter in die Tiefe eindringen lassen, als dies den
Gonokokken, die sich selbst den Weg durchs Epithel zu bahnen
haben, bei der gewöhnlichen Blennorrhöe möglich ist.
Nur in einem Falle beobachtete ich eine mit der Knopfsonde
festzustellende Kaliberverengerung, in den übrigen stets nur mit
dem Urethrometer nachweisbare, allerdings teilweise sehr rigide
Herabsetzungen der Dilatabilität, je nach der Umschriebenheit des
Prozesses mehr oder weniger sprunghaft kontrastierend zu den Elasti-
zitätsmaximis der angrenzenden Partien. Es handelte sich also
einmal um eine Striktur im eigentlichen Sinne, im übrigen um
jene Infiltrationsphase, die Otis „weite Striktur“ nannte, Ober¬
länder bereits als „ersten Grad harter Infiltration“ unterscheidet.
Der Sitz der Infiltrate war in der Pars gland., einigemal
noch besser ausgeprägt in den angrenzenden Partien der Pars
cavernosa; die Lokalisation entsprach also der III. Region des
Tompsonsehen Strikturschemas.
Der endoskopische Befund differierte zunächst nicht von dem der
übrigen chronisch diffusen Urethritiden, weil eben ein solcher Katarrh
der gesamten Schleimhauttläche stets die Infiltrationsbildung begleitete
und maskierte; er lieferte also das Bild allgemeiner Erhöhung der Röte
und des Glanzes der Anteriormukosa, schwach oder gar nicht mehr er¬
kennbarer Längsfaltung und Zentralfigur mit kurzem Trichter; erst wenn
unter der Dilatations- und Massagebehandlung mit Sonden (Salbensonden)
oder Dilatator (Spüldehnung) die diffuse Entzündung herabgesetzt war,
begannen sich in den vorderen Teilen der Harnröhre matte, glanzlose
Zonen von meist gleichförmiger, nicht mit glänzenden Partien durch¬
setzter Mattierung zu differenzieren, innerhalb welcher, bei klaffender
Zentralfigur und verstrichener Längsfaltung, gerötete und gewulstete
Krypten und die Littr6schen Drüsenmündungen als Gruppen roter
Pünktchen und Dellen, von roten Höfen umgeben, hervortraten.
Ob dieser nichtgonorrhoische Infiltrationsprozeß ohne die so¬
fort oder baldmöglichst nach Erkennung desselben eingeleitete in-
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62
de Campagnolle.
Strumentelle Behandlung schließlich stets wie in jenem Falle zur
eigentlichen Striktur geführt hätte oder auch ohne Behandlung in
diesem Stadium der „weiten Striktur“ als Ausdruck rein super¬
fiziell-muköser (nicht auch periurethraler) Bindegewebshyperplasie
verharrt und vielleicht spontan unter Bildung oberflächlicher De¬
pressionsnarben geheilt wäre, ist natürlich schwer zu sagen.
Im folgenden seien die drei Fälle chronisch infiltrierender
Urethritis, wobei es sich um vorher nie am Tripper er¬
krankte Patienten handelte, so kurz als angängig beschrieben.
M., Ingenieur. Bisher nie sexuell erkrankt. Morgenurine faden-
frei. Nebenhoden, Samenstränge ohne Befund. Benützt Albargin-
Einträufelungen, welche zunächst weder von Schmerzen noch Sekretion
gefolgt sind. Nach mehrmaligem Gebrauch innerhalb einer Woche stellt
sich allmählich etwas Schmerz und nach 2—3 Tagen wieder schwindender
Ausfluß ein. Im Laufe eines solchen Beizkatarrhs koitiert M. neuer¬
dings gegen mein Verbot und instilliert auch wieder. Die Folge ist
eine ziemlich starke Eiterung, die sich zwar rasch verringert, aber trotz
guter Selbstpflege des Patienten in mäßigem Umfange verharrt. Das
Sekret wurde innerhalb der ersten Wochen 12 mal untersucht, stets mit
negativem Gonokokken-, überhaupt bakteriellen Befund. Etwa von der
vierten Woche ab zeigen sich die Präparate durch Bakterien verunreinigt
bei gleichbleibender Zusammensetzung aus Eiterzellen. — Die jetzt
systematisch vorgenommene Irrigationsbehandlung (sowohl Didaysche
wie Druckspülungen) mit den verschiedensten Adstringentien vermochte
keinerlei Besserung zu erzielen. Auch wochenlanges Aussetzen jeder
lokalen Behandlung, um eine eventuelle künstliche Unterhaltung des
Katarrhs ausschließen zu können, veränderte das Bild in keiner Beziehung.
— Das über der Knopfsonde gewonnene Drüsensekret zeigte ebenfalls
Leukozyten, dabei reichliche Bakterien derselben Art wie das Urethral¬
sekret. — 8 Wochen nach der ursächlichen Instillation mußte ich den
Patienten aus der erfolglosen Behandlung entlassen unter Anempfehlung
einer eingeschränkten Tripperdiät, Vermeidung des Beischlafs, Injektion
von Schüttelmixturen und der Bitte, mich nach einigen Wochen wieder
zu besuchen. — Nach 2 Monaten erscheint M. wieder; er hat unter¬
dessen nicht koitiert, auch Exzesse vermieden. Der Ausfluß in Form
eines schleimig-eitrigen Morgen tropfen s besteht noch, Patient fühlt den
Prozeß jetzt bestimmt an einer Stelle hinter der Eichel lokalisiert, die
von außen spulig, sklerosenartig zu fühlen ist. Die Knopfsonde ergibt
eine Striktur Nr. 23 bei Orificiumweite 29. Mit dem Urethrometer ist
die Stelle nur auf 25 zu dehnen unter nachfolgender Blutung. — Nach
9 Wochen instrumenteller Behandlung, innerhalb welcher Zeit es gelang,
die Dehnbarkeit wesentlich zu bessern — wobei auch wiederholte Nach¬
untersuchung der reaktiven Sekrete mit negativem Gonokokkenbefund
stattfand —, die Sekretion in die schleimig-desquamative Periode über-
/.uführen, entzog sich M. meiner Behandlung.
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Ober den Wert der modernen Instillationsprophylaxe der Gonorrhöe. 63
F., Kaufmann. Gibt an, nie Tripper, dagegen einmal nach dem
Verkehr mit einer Menstruierenden einen mehrtägigen, mehrfach auf
Gonokokken mit negativem Ergebnis untersuchten Ausfluß akquiriert zu
haben. Völlig reine Morgeourine, Nebenhoden und Samenstränge normal,
Prostatapalpation, ebenso das exprimierte Sekret ohne Befund. — Schwäch¬
liche Konstitution; Neurastheniker, zuweilen Phosphaturie. — Schon die
ersten Einträufelungen mit Protargol rufen Brennen hervor und ver¬
ursachen eine seröse Absonderung. Nachdem auf die dritte Instillation
ein 2 Tage anhaltender purulenter, gonokokken*, überhaupt bakterien¬
freier Katarrh folgt, vertauscht F. das Protargol mit Albargin. Er¬
zeugt dieses zunächst leichtere Reizungen, die rasch abklingen, so ver¬
läuft ein weiterer Katarrh, ohne akate Entzündungserscheinungen mit
mäßigem, rein eitrigem Ausfluß einsetzend, äußerst schleppend. — Die
lokale Therapie, die nach 20 Tagen ausschließlich diätetischer Behand¬
lung in Form von Injektionen (auch von Schüttelmixturen) und milden
Spülungen geübt wird, vermag das Entzündungsniveau nur ganz vorüber¬
gehend herabzudrücken. — Die Sekrete, die wöchentlich viermal unter¬
sucht werden, führen nie Gonokokken, dagegen von den ersten Tagen
an zahlreiche Mikroorganismen, namentlich Kugelkokken und kurze
schlanke Stäbchen. — Zu einer systematischen instrumentellen Massage¬
behandlung kann sich F. nicht entschließen. Nach 8 wöchiger Behand¬
lung erscheint Patient nur in größeren Intervallen, koitiert anch mehr¬
mals. Die Sekretion zeigt darauf hin, wie auf Exzesse in Baccho keine
Exazerbierung. Der bakterielle Befund ist stets der gleiche; die Ex¬
pression der Urethraldrüsea ergibt reichlich Leukozyten und massenhafte,
mit denen des Urethralsekrets gleichartige Bakterien. Die Posterior
bleibt stets frei (Irrigationsproben), Prostata und ihr Sekret normal. —
Mitte des fünften Monats ergibt die Exploration mit dem Urethrometer
eine Elastizitätsherabminderung im Beginn der Pars cavernosa mit ziem¬
licher Resistenz. Die jetzt eingeleitete instrumenteile Behandlung setzt
fast unmittelbar die Sekretion herab. Das Endoskop zeigt hierauf auch
den hintern Teil der Pars gland. in das Infiltrationsgebiet einbezogen.
— Nach einer 10 wöchigen Dilatationsbehandlung wird F. vorläufig ent¬
lassen. Die früher infiltrierte Zone ist gut elastisch, das Epithel bei
der Beleuchtung glänzend, wenig mehr schuppend, die Krypten ver¬
schwunden. Es restieren im Morgenharne reichliche schleimig-epitheliale
Filamente mit spärlich eingebetteten Leukozyten, die sich auf wieder¬
holte Probeexzesse hin nicht vermehren. —
F. enthält sich nun ein Vierteljahr hindurch des sexuellen Verkehrs,
er besucht mich, wie erbeten, nach dieser Zeit zwecks Nachuntersuchung
der Infiltrationsstelle auf Rezidiv, mit negativem Ergebnis. — Bei einer
der nächsten Kohabitationen, die ohne Instillationsprophylaxe ausgeübt
werden, akquiriert F. seine erste Gonorrhöe. Dieser Tripper begann
akut mit kurzer, aber noch normaler Inkubation, allein das Stadium
floritionis wich bereits 14 Tage post inf. einer torpiden Sekretion. Der
Prozeß blieb dauernd auf die Anterior beschränkt. — Nach knapp
2 Monaten post inf. bildete sich eine äußere, fühlbare, spindelförmige
Verhärtung der Harnröhre, die einer beginnenden Strikturierung — die
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de Campagnolle.
das Orificium eben noch passierende Knopfsonde läßt sich unter einigem
Druck durch das Infiltrat hindurchpressen — der früheren Infiltrations¬
zone entspricht.
Sch., Cand. jur. War nie an Tripper erkrankt, bemerkte jedoch
etwa vor einem Jahr auf eine prophylaktische Einspritzung mit über¬
mangansaurem Kali hin einen rasch schwindenden schleimigen Ausfluß.
— Morgenurine durchaus rein, ohne Filamente. Nebenhoden und Samen¬
stränge normal, etwas Varicocele. Die Exploration der Vorsteherdrüse
und ihres Sekrets, des Urethralkalibers, ohne Befand. — Auf die drei
ersten Instillationen mit Alb argin folgt nur etwas Verklebung, auf
zwei weitere kurze mehrtägige Katarrhe. Die sechste Einträufelung er¬
zeugt, ohne nennenswerte Schmerzen zu verursachen, eine purulente
Sekretion, die wohl ebenfalls binnen kurzem geschwunden wäre, hätte
Sch. nicht im Abheilungsstadium neuerdings instilliert. Hierauf erfolgt
zwar keine Exazerbation, der Morgentropfen jedoch, der mehrere Wochen
hindurch jeden zweiten Tag mit negativem Ergebnis auf Gonokokken
untersucht wird, besteht hartnäckig fort, ist durch keinerlei adstringierende
Lokalbehandlung günstig zu beeinflussen. Dagegen verringert sich die
Sekretion sofort, als nach 5 Wochen eine vorsichtige Massagebehandlung
mit kurzen Sonden eingeleitet wird. Leider kann dies nur eine Woche
hindurch geschehen, da der Patient verreist. — Nach der Rückkehr,
10 Wochen nach der irritierenden Instillation, derselbe bei neuerdings
wiederholter Untersuchung gonokokkenfreie Ausfluß; er soll sich auf
starken Alkoholgenuß nur unbedeutend vermehrt haben. Ähnlich dem
Patienten M. gibt Sch. die Harnröhrenpartie hinter dem Frenulum als
Sitz der Erkrankung an; tatsächlich ist zu Beginn der Pars cavernosa
urethrometrisch eine starke Resistenz gegenüber Dehnungsversuchen fest¬
zustellen; die Knopfsonde passiert diese Stelle, die den Eindruck einer
rauhen Fläche hervorruft, ohne Schwierigkeit. Die Rückbildung dieses
Infiltrats beansprucht, da Patient nur in unregelmäßigen Intervallen zur
Behandlung kommt, eine Dilatationsbehandlung von über 3 Monaten;
beim letzten Besuch zeigt die ganz schwache grauliche Sekretion nur
noch wenige in Mucinsträhnen eingebettete Eiterzeilen.
Über den bereits mehrmals berührten bakteriologischen
Befund der Sekrete unserer traumatischen Urethritis ist, allgemein
betrachtet, folgendes zu bemerken.
Niemals fanden sich im Sekret des akuten floriden Katarrhs
irgend welche Mikroorganismen. Erst gegen Ende des Stadium decre-
menti erschienen solche in einem Teil der Fälle im schleimig-epithelialen
Sekret, das nach sorgfältiger Sublimatdesinfektion der Eicheloberfläche und der
Orificiumlippen mittels Platinöse aus der Harnröhre entnommen wurde.
Auf der Höhe der Entzündung vollkommen frei und erst bei fort¬
geschrittener Regeneration der Schleimhaut verunreinigt erwiesen sich
auch die Sekrete der Mehrzahl jener mehr oder weniger akut einsetzenden,
auf der Akme länger persistierenden, spätestens in Monatsfrist abklingenden
Urethritiden, und zwar sowohl Urethral- wie Urethraldrüsensekrete.
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Über den Wert der modernen Instillationsprophylaxe der Gonorrhöe. 65
Ebenso kehrte diese Erscheinung wieder bei den subaknt einsetzenden
Fällen, die exquisit chronischen Verlauf nahmen, falls sich nur eine
stärkere Reaktion auf die Einträufelung zeigte. Von diesem aller¬
ersten Stadium abgesehen, war in allen chronischen Fällen der reichliche
Befund von Mikroorganismen im Urethralsekret ein konstanter. Diese
waren hierbei über das ganze Entzündungsgebiet, also die ganze Anterior,
verbreitet; festgestellt wurde dies durch Irrigation der vordersten Harn¬
röhrenteile mit Sublimat 1:4000 unter Kompression der Urethra etwa
in der Mitte der Pars pend., hierauf Entnahme des Sekrets der hinteren
Anterior mittels kleinknöpfiger Bougie & boule.
Was den bakteriellen Befund der Urethraldrüsensekrete be¬
trifft, so habe ich in zwei Fällen akut ablaufender Urethritis, als im
Stadium decrem. das Urethralsekret Bakterien enthielt, zu gleicher Zeit
nach yorausgehender Borwasserspülung der Anterior (bis zur völligen
Klärung des Spülwassers) die Drüsen über starker Knopfsonde exprimiert;
der nur einzelne Leukozyten führende (durch Methylenblau meist rötlich
violett gefärbte) Schleim enthielt nur eine spärliche Menge derselben
Flora, wohl aus den Ausführungsgängen stammend. In den chronischen
Fällen wurde diese Untersuchung stets vorgenommtn; hier zeigte sich
ein schon angedeuteter, mir bemerkenswert erscheinender Dualismus. In
einem Teil der torpiden Katarrhe erwiesen sich die Drüsensekrete wenig
eiterzellenhaltig und relativ (in Beziehung zum Urethralsekret) wenig
verunreinigt, wenn auch nie rein; dies waren im allgemeinen jene, bei
welchen sich der ganze Prozeß bisher als dauernd diffuser sowohl bei
den Dehnbarkeitsproben wie Durchleuchtungen gezeigt hatte. In den
übrigen Fällen war die Verunreinigung der Drüsensekrete bei reichlichem
Eitergehalt eine auffallend starke; dieser Befund betraf fast stets Fälle,
in denen sich herdförmige Infiltrate entwickelt oder bereits ausgebildet
hatten.
Die Mikroben selbst zeigten wie beim terminalen Katarrh eine
große Mannigfaltigkeit; sie variierten besonders von Fall zu Fall, weniger
von Präparat zu Präparat des einzelnen Falls. Eiterkokken waren selten;
von Diplokokken fanden sich $wei Arten, in der Größe wohl den Gono¬
kokken ähnlich, aber grambeständig, stets extracellulär und auch in
Form und Lagerung von jenen verschieden; kleine und große Kokken
in verschiedenen Gruppierungen; besonders häufig aber Bazillen arten,
namentlich Doppelstäbchen, nicht gram beständig, gerne auf Epithel ge¬
lagert. —
Wollen wir eine Deutung jener im allgemeinen konstanten
Befunde versuchen, so liegt zur Erklärung zunächst des regel¬
mäßigen Fehlens von Mikroben im ersten reaktiven Sekret
die Annahme nahe, daß eben die Silbersalzinstillationen die gewöhnliche
mikrobiotische Urethralflora durch Desquamierung der obersten
Zellagen abgestoßen hatte. Aber diese Erklärung ist nicht aus¬
reichend, weil dann die Mikroben doch sehr bald wieder zur Be¬
obachtung gelangen müßten, zumal nun die katarrhalischen Epithel-
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de Camp&gnolle.
Zerklüftungen doch jedenfalls einen besonders günstigen Nährboden
für dieselben bilden. Der bakterielle Befund bleibt aber oft lange
negativ (wohlbemerkt auch, wenn die Urethra nicht chemisch be¬
handelt wurde!), anscheinend regelmäßig bis nach Überschreitung
der Akme. Dies macht die Deutung wahrscheinlich, daß es die
reaktive Aktion des Gewebes, die akute Entzündung selbst ist, die
vielleicht vermöge der Temperaturerhöhung, an welche diese Urethral-
saprophyten nicht angepaßt sind, den Fortbestand, bezw. die An¬
siedelung dieser unmöglich machen.
Ob die bei ausgeprägtem Chronizismus stets vorhandene, durch
chemische Behandlung nur vorübergehend zum Verschwinden ge¬
brachte Flora eine lediglich saprophytische oder eine die chronische
Urethritis unterhaltende, pathogene Rolle spielt, hierüber ein
Urteil abzugeben, fehlt freilich jedes Argument
Finger und Janet schreiben den beim terminalen Katarrh zu
findenden (augenscheinlich identischen) Mikroorganismen, die vom Prä-
putialsacke aus oder per coitum in die Urethra gelangten, eine solche
Pathogenität zu; Finger erklärt den Umstand, daß diese Mikroben, die
de norma nur auf Plattenepithel wüchsen, auch in anderen Harnröhren¬
partien als der Pars gland. wuchern, einfach und einleuchtend mit der
Metaplasierung des Zylinderepithels und zufälligem Zusammenhängen
solcher neugebildeter Herde von Plattenepithel mit dem normalen der
Fossa (daneben können die Mikroben wohl auch auf isolierte meta-
plasierte Herde durch Instrumente übertragen werden).
Der Verf. neigt der Meinung zu, daß auch die bei unserem Reiz¬
katarrh im Stadium abgeschwächter Reaktion eintretende bakterielle
Überwucherung eine „sekundäre Infektion“ bedeutet; speziell der
reichliche Bakterienbefund im leukozytenhaltigen Urethraldrüsensekret
mit Infiltration verbundener chronischer Fälle — hier handelt es sich
also auch um Mikroben, die auch auf Zylinderepithel wachsen —
dürfte zu der oben ausgesprochenen Vermutung berechtigen, daß es der
konstante Reiz dieser (wohl auch das Bindegewebe durchwuchernder)
Bakterien ist, welcher wie der der Gonokokken und ihrer Toxine bei
der Gonorrhoe die Bindegewebshyperplasie anregt, womit eine Patho¬
genität derselben angenommen wäre.
Die Ausführungen über das Bild der Instillationsurethritis,
das ein erfahrenerer Beobachter gewiß durch weitere interessante
Züge hätte vervollständigen können, dürfen nicht abgeschlossen
werden ohne Erörterung der vielleicht aufzuwerfenden Frage, ob
nicht für die exquisit chronischen Fälle eine Komplikation mit
jener extragonorrhoischen chronischen, vermutlich konta-
giösen Urethritis angenommen werden könnte, hervorgerufen durch
ungeachtet der irritierenden Einträufelung erfolgte Infektion mit
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Ober den Wert der modernen Instillationsprophyl&xe der Gonorrhöe. 67
dem vermutlichen unbekannten Kontagion oder auch durch Über¬
tragung, „Aufpfropfung" dieses während eines bei noch bestehen¬
dem Reizkatarrh ausgeübten Koitus, ähnlich wie Waelsch und
Galewsky die Identität manches „terminalen Katarrhs" mit der
neuen'Urethritis vermuten.
Die Möglichkeit einer solchen Kombination und Aufpfropfung be¬
steht ja ohne Frage, mindestens einer letzteren; es wurde von mehreren
meiner Patienten während des über Monate protrahierten chronischen
Katarrhs weiterer Umgang mit und ohne Instillation gepflogen. Es ist
zweifellos, daß ein bestehender, auch leichtgradigster Reizkatarrh die
Haftung des mutmaßlichen Kontagions in hohem Grade erleichtert, und
es ist wahrscheinlich, daß die Infektion mit diesem durch die Silber¬
salzinstillation, wenigstens aus Kontaktgründen, nicht sicherer wie die
gonorrhoische verhütet wird. Es könnte jedoch an eine derartige Kom¬
bination bezw. Substituierung ausschließlich in unseren rein diffus sich
abspielenden chronischen Fällen gedacht werden, denn an der Hand der
bisherigen Publikationen über die neu entdeckte venerische Erkrankung
muß man diese (wie auch den postgonorrhoischen Katarrh) als rein diffuse
Entzündung definieren, nicht aber bei den mit Infiltrations Vorgängen
verbundenen chronischen Katarrhen. Hier erinnert nichts an den vene¬
rischen Katarrh, die Eigentümlichkeit der Infiltrationsbildung teilt unsere
traumatische Urethritis allein mit der echten Gonorrhöe. Bewiesen kann
natürlich auch im ersteren Falle die in Frage stehende Komplikation
niemals werden; denn eine bakterielle Differenzierung zwischen beiden
Urethritiden ist vorläufig unmöglich; die von Waelsch und Galewsky
bei der chronischen venerischen Urethritis gefundenen Bakterien können
nicht als für diese spezifisch betrachtet werden, und andererseits existiert
eine nicht-bakterielle Form dieser Erkrankung (Guiard und Barlow).
Interessant ist ein Gesamtüberblick darüber, wie sich die
einzelne Harnröhre wiederholten derartigen chemischen
Insulten gegenüber verhält.
Wie schon erwähnt, ließ sich im Gegensatz zu jenen Klienten, die
oft schon nach einer leichten Reizung das Schutz verfahren aufgaben
eine Reihe anderer durch selbst wiederholte Katarrhe nicht vom Fort¬
gebrauch der Prophylaxe abschrecken, sei es, daß sie derselben Rettung
aus Ansteckungsgefahr zu verdanken glaubten, sei es aus Toleranz einem
„Katarrh" gegenüber, der nichts mit Tripper zu tun hatte und nur mit
geringfügigen Beschwerden verbunden war. Von weiteren Momenten,
welche mir die interessante Beobachtung wiederholter Reizungen im
Einzelfalle bzw. des Verhaltens einer Urethralschleimhaut gegenüber
weiteren Instillationen nach bereits einmal erlittenem Reizkatarrhe er¬
möglichten, möchte ich noch den Wechsel zwischen den beiden Silber¬
eiweißverbindungen erwähnen, der — freilich meist unbegründet —
Zeitachr. f. Bekämpfung d. Geschlechtskranke. 111 6
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68
de Campagnolle.
eine geringere Irritation erhoffen ließ; schließlich noch den schon be¬
rührten Umstand, daß einige Mediziner ein Interesse an der Frage ge¬
wonnen hatten und auch nach einer Reihe von Irritationen, ja nach
protrahierten Katarrhen vor dem Fortgebrauche nicht zurückschreckten.
Als Gesetz gilt hier: Stets tritt, war einmal — sei es beim
ersten, sei es erst bei einem späteren Gebrauch — ein Reizkatarrh
eingetreten, bei jeder weiteren Anwendung der Methode ein neuer
ein. Wohl nehmen die subjektiven Beschwerden — analog einer
häufigen Wahrnehmung bei gonorrhoischen Reinfektionen — all¬
mählich vielleicht bis zum völligen Ausbleiben ab, aber eine „Ge-
wöhnungandieEinträufelung“ kann dadurch nur dem Patienten
vorgetäuscht werden, nicht dem Arzte, der stets eine, sich aller¬
dings modifizierende Sekretion konstatiert.
Prüft man solche Reihen von Katarrhen beim einzelnen, dann
gruppieren sie sich in zwei Typen. Den ersten Typ bilden Männer,
die stets akut gereizt werden und deren Katarrhe rasch abklingen;
den zweiten solche, bei denen sich allmählich ein immer schleppen¬
derer Verlauf der einzelnen Katarrhe präsentiert, bis sich früher
oder später der ausgeprägt chronische Charakter einstellt.
Allein diese beiden Gruppen stehen sich nur scheinbar gegen¬
über. Denn bei aufmerksamer Betrachtung der Fälle des ersten
Typs ergibt sich auch dort unverkennbar eine progressive Ab¬
schwächung der Tendenz zur Spontanheilung von Fall zu Fall
und eine Abminderung der entzündlichen Reaktion, ausgeprägt in
geringeren Inflammationssymptomen, objektiven wie subjektiven,
nur geht diese Wandlung allmählicher vor sich. Die Gründe,
denen dies günstigere Verhalten zu danken ist, sind stets in einem
der folgenden Umstände zu finden:
einer „widerstandsfähigen“, vor allem von keiner, höchstens einer
lange zurückliegenden Gonorrhoe befallen gewesenen Harnröhre, die sich
auch nicht in einem durch Masturbation oder Coitus interruptus gesetzten
Reizzustande befindet, bei kräftiger, nicht anämischer oder skrofulöser
Konstitution,
einem in größeren Intervallen stattfindenden, namentlich nie nur
durch Stunden getrennten Gebrauche,
guter Selbstpflege, besonders auch Abwarten des völligen Abklingens
des Katarrhs vor neuer Einträufelung.
Man darf annehmen, daß wie bei langem Fortgebrauche
schließlich auch die resistenteste Mukosa irritiert werden wird,
ebenso auch der Typ I sicher in den Typ II übergehen würde.
Stets also bemerken wir eine sukzessive Abnahme der
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Über den Wert der modernen Instillationsprophylaxe der Gonorrhöe. 69
Reaktionsfähigkeit der Schleimhaut gegenüber dem che¬
mischen Agens, sich manifestierend einerseits in immer
schwächer werdender Akuität des Einsetzens der Ure¬
thritis (dabei abnehmende Beschwerden: „Gewöhnung“), anderer¬
seits in mehr und mehr herabgesetzter Tendenz zur Ab¬
heilung, so daß die Prognose sich bei jeder neuen Reizung ver¬
schlechtert. Ja es kann schließlich jede Reaktion, sogar
eine subakute Entzündung, ausbleiben; es gibt Fälle, wo
bei noch bestehendem chronischen Katarrhe neue Instillationen
ohne jede Steigerung des Entzündungszustands vertragen werden.
Das Verhalten der einzelnen Harnröhre gegenüber wieder¬
holten gonorrhoischen Reinfektionen — diese interessante Frage
ist noch zu wenig erörtert worden, um hier Parallelen ziehen zu
können; dagegen findet der beschriebene Dualismus ein völliges
Analogon im Verhalten der Epidermis gegenüber artefiziellen
chemischen Insulten, welches Jadassohn schon zum Vergleiche
mit dem wechselnden Verhalten der chronischen Gonorrhöen gegen¬
über Superinfektion mit fremden oder umgezücliteten Gonokokken
in geistreicher Weise herangezogen hat. Die einen Individuen
erkranken immer wieder an akuten Schüben, sobald dasselbe
chemische Agens wieder ein wirkt; die andern reagieren immer
weniger auf dasselbe und können schließlich mit ihm hantieren,
auch wenn noch ein chronischer Entzündungszustand in der Haut
besteht, ohne daß sich dieser akut steigert.
Über die Behandlung der irritativen Katarrhe ist folgendes
zu bemerken.
Zunächst war in Ab Wartung eines spontanen Verlaufs die Therapie
stets eine rein diätetische und medikamentöse. Schon deshalb auch
durfte nicht sofort mit topischer Behandlung begonnen werden, weil
stets differentialdiagnostisch mit Gonorrhöe zu rechnen war, und durch
jene eventuell eine vorübergehende Latenz der Gonokokken hätte herbei¬
geführt werden können. Allzu rigorose Einschränkungen der gewohnten
Lebensweise anzuordnen, hütete ich mich; ich gewährte lieber in dieser
Beziehung einige Freiheit, um desto strenger den Koitus untersagen zu
können. Innerlich gab ich von Balsamen Copaiva, Santal, Libanol, das
Pichi-Fluidextrakt und das Buccopräparat Diosmal. Es wurde dafür
Sorge getragen, daß die Harnröhre mehrmals täglich, jedenfalls aber
nach der letzten Miktion vor Schlafengehen durch Injektionen mit reinem
Wasser von Urinresten gereinigt wurde. Das von manchen Patienten
vor jedem Wasserlassen beliebte Ausquetschen des Glieds nach Sekret
6 *
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70
de Campagnolle.
(„Melken“) wurde, weil ähnlich der Masturbation die Schleimhaut kon-
gestionierend, streng verboten.
Erst wenn nach Ablauf von 8—4 Wochen die Hoffnung auf spon¬
tane Ausheilung aufzugeben war, pflegte ich eine lokale Behandlung mit
adstringierenden Injektionen (darunter auch Schüttelmixturen), Diday sehen
Spülungen (gerne in Form der von Lohnstein angegebenen Massen¬
spülungen) oder Druck Spülungen der Anterior einzuleiten.
Ich kann jedoch sagen, daß jede chemische Lokalbehandlung,
auch wenn sie mit den schwächsten Lösungen, in geregelten Dosierungen
und mit Intervallen (um sich zu vergewissern, ob man nicht gerade die
Entzündung künstlich unterhält) geübt wird, absolut erfolglos ist.
Man erzielt wohl das bekannte vorübergehende Versiegen der Sekretion,
einfach bedingt durch die AdstriktionsWirkung, d. i. oberflächliche Ver¬
dichtung des Gewebes und Kontraktion der Gefäße. Aber nur zu bald
tritt dieselbe wieder auf, unter dem Einfluß der sekundären Fluxion
im Strat. papill. sogar vorübergehend verstärkt, um dann allmählich
wieder sozusagen ins Gleichgewicht des gewöhnlichen Sekretionsniveaus
zurückzukehren. Die wenigen Fälle, wo ich besonders mittels Injektionen
von Schüttelmixturen, von Finger für den terminalen Katarrh empfohlen,
einige Erfolge erzielte, waren durchweg Ausnahmen.
Weit bessere Resultate erreicht man mit einer nicht mit
Applikation von Adstringentien kombinierten mechani¬
schen Behandlung. Ich pflegte kurze gerade Metallstifte von
14 cm Länge, eingefettet mit sterilisiertem Olivenöl, täglich oder
jeden zweiten Tag einzufiihren (No. 23—30 Fil. Ch.). Man könnte
versucht sein, diese „instrumentelle“ Behandlung eines „einfachen
Katarrhs“ für einen allzu heroischen Eingriff zu halten, vielmehr
noch als die chemische Therapie geeignet, solchen Entzündungs¬
zustand zu unterhalten. Und doch ist das Gegenteil richtig!
Die Herabminderung der Sekretion, häufig schon nach einigen
vorsichtigen Applikationen, hat oft mich und den Patienten über¬
rascht Leider konnte ich einen großen Teil meiner chronischen
Fälle nicht zu dieser Behandlungsweise überreden, wegen Ängst¬
lichkeit oder aus Indifferenz gegenüber dem harmlosen Katarrhe.
Die Sondenbehandlung wirkt hier als milde Massage —
natürlich betrifft diese speziell die Pars cavernosa, weniger den
Bulbus —, sie dilatiert die Drüsenausführungsgänge und lockert
die sie verschließenden Sekretpfröpfe; sie erzeugt intensive Blut¬
drucksschwankungen in der vorher stabil kongestionierten Schleim¬
haut, ermöglicht dadurch eine Entleerung des stagnierenden (event
Mikroben führenden)Drüsensekrets — die Massage der Urethral¬
drüsen als Pendant zur Prostatamassage! —und stellt den
Gefäßtonus wieder her; sie bildet gleichzeitig die beste Prophylaxe
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Ober den Wert der modernen Instillationsprophylaxe der Gonorrhöe. 71
der kleinzelligen Infiltration und führt zur Resorption etwa bereits
in Bildung begriffener Herde. Natürlich muß diese Behandlung
eine äußerst vorsichtige sein, es darf stets erst dann zur nächst¬
höheren (franz. Skala) Sondenstärke gegriffen werden, wenn die
frühere ohne Reaktion vertragen wurde; im Falle einigermaßen
beträchtlicher reaktiver Exazerbation, übrigens bei Beobachtung
der nötigen Stetigkeit ein seltenes Vorkommnis, muß nach Ab¬
klingen derselben mit der nächsten Sondierung stets noch 1 bis
2 Tage gewartet werden.
Wenn die ähnlich wirkenden Druckspülungen der Anterior 1 ), die
bei subakuter Gonorrhoe gute Dienste leisten, hier versagen, so erkläre
ich mir dies nicht sowohl aus der gleichzeitigen chemischen Irritation
als aus dem wiederholten mechanischen Insult der einzelnen schroffen
Auftreibungen der vorderen Harnröhre; dieser ist schwer vermeidlich,
da der zu erzielende Kontraktionsschluß des äußeren Sphinkter eine ge¬
wisse Druckhöhe (150—200 cm) erforderlich macht, und aus demselben
Grunde ein Zurückhalten der Füllung untunlich ist. Bei den sich be¬
reits herdförmig umschreibenden Prozessen sind sie vollends nutzlos, weil
naturgemäß die gesünderen, elastisch gebliebenen Harnröhrenpartien es
sind, die den Flüssigkeitsdruck zum größten Teile übernehmen.
In allen infiltrativen Fällen wurde allmählich die kurze Metall-
soijde durch den Ko 11 mann sehen Dilatator ersetzt, der bei In¬
filtraten in den vordersten Urethralteilen nur bis zum Ende der
Branchen eingeftihrt werden darf; dieses Instrument kam bei
engerem Orificium allein in Betracht, zur Vermeidung der Spaltung.
Beeinflußt die irritative Wirkung des Verfahrens die Akuitat und
den Verlauf einer trotz Anwendung desselben akquirierten
Gonorrhöe?
Bei fünf unter meinen Infizierten 2 ) — es seien hier auch jene,
die nicht unmittelbar post coit. instillierten, herangezogen — zeigte
sich bereits nach 8—5 Stunden schleimiges oder schleimig-eitriges
Sekret; schon dieser Umstand ließ auf eine die Infektion komplizierende
*) Ich nehme dieselben nicht nach Kutner mit Handdruckspritze und
seinem kurzen Urethraln&atonkatheter, sondern mit Janetolive und längs
einer Skala hoch und niedrig zu verstellendem Irrigator vor. Dies gestattet
freilich eine rasche Regulierung der Druckstärke nicht ganz so bequem, er¬
möglicht dafür jedoch die Notierung der verwendeten und er¬
tragenen Druckhöhe = Dilatationsgrad und damit eine methodische
Dosierung.
*) s. die kurze Darstellung der Fälle im Anhang!
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72
de C&mpagnolle.
Irritation durch die Einträufelung schließen. Zweimal bestand zur Zeit
der Infektion noch ein sezernierender Reizkatarrh, dessen Sekret innerhalb
24—36 Stunden eine Vermehrung und Veränderung (unter Miktions¬
schmerzen) aufwies; in den übrigen Fällen waren mehrere solche
vorausgegangen, so daß ohnehin das Ausbleiben einer neuen Reizung
ungewöhnlich gewesen wäre.
Bei zwei weiteren Infizierten zeigte sich die erste Sekretion wie ge¬
wöhnlich am dritten oder vierten Tage; diese Patienten hatten vorher
die Einträufelung ohne Reaktion vertragen.
Bei einem Infizierten, der wohl einige kurz ablaufende Irritationen
erlitten hatte, konnte ich mich über das erste Auftreten der Sekretion
weder selbst orientieren, noch konnte mir derselbe verlässige Angaben
machen; es scheint sich jedoch ebenfalls um normale Inkubation ge¬
handelt zu haben. Der letzte, neunte Infektionsfall steht wegen eines
besonderen Umstands abseits.
Die beiden frühesten Sekretpräparate konnte ich 9 und 10 Stunden
post inf. et instill, anfertigen. Es fanden sich neben reichlichem Schleim
und Epithelien bereits zahlreiche Leukozyten, dazu beide Male Gonokokken,
meist in freien Haufen, seltener auf Epithelien. Die erste Untersuchung
zweier weiterer Fälle fiel in die 18. (20.) und 37. Stunde; beide Male
ausschließlich Eiterzellen, im jüngeren Falle vereinzelte, im anderen reich¬
liche intracelluläre Gonokokken. Das gleiche Bild ergab die zweite, am
folgenden Tage vorgenommene Untersuchung bei den ersteren früh be¬
obachteten Fällen. Bereits im rein eitrigen Stadium mit intracellulärer
Gonokokkenlagerung stand auch der fünfte Fall, den ich leider erst am
vierten Tage zu untersuchen Gelegenheit hatte. Am dritten Tage be¬
obachtete ich das gleiche Bild noch bei jenem eines besonderen Umstands
wegen isoliert stehenden Falle.
Dieser Patient hatte, nachdem er bisher nur von der regulären
Protargollösung einige flüchtige Reizungen erlitten, auf eigene Faust die
Instillation einer lOproz. Lapislösung vorgenommen. Es zeigte sich
2 Tage hindurch keinerlei Sekretion, nur machten sich ödematöse
Schwellung der Eichel, eine gewisse Turgeszenz des Gliedes und einiges
Unbehagen bei der Erektion bemerkbar. Am dritten Tage nach der
Morgenerektion bemerkte Patient die Abstoßung eines „Grindes“ aus der
Harnröhre, danach heftige Miktionsschmerzen. Die dickrahmige, etwas
blutig gefärbte Sekretion, die ich am gleichen Vormittag untersuchte,
ergab neben roten Blutkörperchen ausschließlich Leukozyten und massen¬
hafte in diese eingeschlossene Gonokokken.
Wenn ich den ersten Befund intracellulärer Lagerung der
Gonokokken als markanten Grenzpunkt zwischen dem prodromalen
und floriden Stadium betrachte und als frühesten Termin desselben
bei der normalen Gonorrhoe mit Bockhardt den 6. Tag annehme,
dann bedeuten diese ungewöhnlichen Bilder für die vier früh
beobachteten Fälle eine Abkürzung des Prodromalstadiums
um gut 3—4 mal 24 Stunden.
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Ober den Wert der modernen Instillationsprophyl&xe der Gonorrhöe. 73
Was nun die eigentliche Inkubation betrifft die in diesen
Fällen mit Irritation komplizierter Infektion natürlich nicht nach
dem ersten Sekret, sondern dem ersten Gonokokkenbefund berechnet
werden dar£ so beschränkte sich diese in jenen beiden früh zur
Untersuchung gelangten Fällen (9 —10 Stunden post inf.) mindestens
auf diese Frist; es darf wohl angenommen wercfen, daß in der
schon einige Stunden vorher einsetzenden Absonderung bereits
Gonokokken nachweisbar gewesen wären. Es handelte sich also um
eine beträchtliche Abkürzung der Inkubation, wenn nicht
um ein Fehlen derselben überhaupt
Dieser und der Abkürzung des prodromalen Stadiums ent¬
sprach naturgemäß auch eine raschere Entwicklung der subjektiven
Beschwerden und eine raschere Erreichung der Akrae. Der Ent¬
zündungsprozeß war in all diesen Fällen ein akuter, in zweien
davon der Ödeme der Glans und Vorhaut, der starken Beteiligung
des Lymphsystems wegen fast perakut zu nennen.
Ebenso rasch aber brach sich die Akuität, die Sekretion fiel
bald von ihrem Höhepunkte ab und verharrte auf der fatalen Stufe
spärlicher, aber eitriger Absonderung, wobei bekanntlich die Prä¬
parate keineswegs eine Abnahme der Gonokokken, bisweilen eher
eine Zunahme ergeben.
Überraschend war das akute Einsetzen in dem Falle G., wo es
sich um die dritte Gonorrhoe handelte, und der letzte Tripper in einem
Falle meiner eigenen Beobachtung zufolge subakut eingesetzt hatte. Es
fiel dabei weniger die Stärke der Sekretion auf, denn diese variiert bei
wiederholten Reinfektionen der einzelnen Harnröhre oft sehr und mindert
sich durchaus nicht von Tripper zu Tripper sukzessive ab; eine Abnahme
der subjektiven Beschwerden und der äußeren Entzündungserscheinungen
ist dagegen wohl beinahe Regel, und gerade die starken Miktions¬
schmerzen und die Vorhautschwellung veranlaßten den Patienten zu der
spontanen Klage, „das sei ja wie beim ersten Tripper!“
Der allgemeine Verlauf der fünf (sechs) durch Abkürzung der
Inkubation und des Prodromalstadiums ausgezeichneten Gonorrhöen
war in einem Falle (2 F.) ein typisch normaler, ebenso der
Zeit nach in einem zweiten, den allerdings ein frühzeitiger Über¬
griff der Gonorrhoe auf Posterior und Prostata komplizierte, in
den übrigen 3 Fällen war der Verlauf ein typisch chronisch-infil¬
trativer.
Mustert man all diese Fälle auf die schon vor der Infektion
akquirierten Instillationskatarrhe hin, dann ergibt sich, daß jene
beiden Patienten mit normal abheilender Gonorrhoe nur wenige
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74
de Campagnolle.
kurze Reizungen, alle übrigen teils solche in längerer Reihe, teils
schwere chronische Reizurethritiden erlitten hatten.
Allein nicht ohne weiteres darf in allen Fällen diesen der
komplizierte oder chronische Verlauf der späteren Gonorrhoe zur
Last gelegt werden. In zwei Fällen hatten nämlich bereits schon
frühere Gonorrhoen torpiden Charakter gezeigt, ein Umstand, der
ja den Chronizismus auch nachfolgender Tripper höchst wahr¬
scheinlich macht
Aus diesem Grunde ist vor allem interessant der Verlauf der
beiden Erstgonorrhoen, weil wir hier den Einfluß der irritativen
Urethritiden, der vorgängigen wie der die Infektion komplizierenden,
rein beobachten können.
Im Falle B. handelt es sich um die gonorrhoische Infektion
einer Harnröhre hei noch bestehendem, in geringem Maße sezer-
nierenden irritativen Katarrh, der auf die Posterior und Prostata
übergegriffen hatte. Die letzte, etwa 3 Monate vor der Ansteckung
vorgenommene Irrigationsprobe hatte Abheilung der Posterior, die
letzte Prostataexpression noch Leukozyten in deren Sekret ergeben.
Es kam zu einer ungewöhnlich frühen (9. Tag) Mitbeteiligung der
hinteren Harnröhre am gonorrhoischen Prozeß und zu einer akuten
abszedierenden parenchymatösen Prostatitis mit Durchbruch in das
Rektum. Wir dürfen nicht daran zweifeln, daß hier die irri-
tative U. der Gonorrhoe eine flächenhafte Vorarbeit geleistet hatte.
Im andern Falle St. war eine Reihe akut und rasch ver¬
laufender Reizkatarrhe vorausgegangen, der Urin führte zur Zeit der
Infektion noch eiterzellenhaltige Filamente. Der Tripper setzte
perakut ein; der Prozeß blieb auf die Anterior beschränkt, bildete
jedoch bereits innerhalb zweier Monate ein dichtes rigides Infiltrat
im Anfangsteil der Pars cavernosa. Diese frühzeitige Entwicklung
in Verbindung mit der Lokalisation gestattet die Annahme einer
vorbereitenden Rolle der Urethritis; zu dieser drängt auch das
analoge Bild des Tripperverlaufs im Falle F., der oben unter den
Fällen mit Infiltration verbundener chron. irrit. U. mitgeteilt
wurde. Auch hier handelte es sich um eine ohne Prophylaxe
etwa 4 Monate nach Wiederherstellung der Dilatabilität akquirierte
Erstgonorrhoe; diese verlief nun in fast völlig konformer Weise
mit der unseres Falles St., sowohl was den frühzeitig ausgeprägten
Chronizismus als die rasche Entstehung eines neuen (gonorrhoischen)
Infiltrats und dessen Sitz an der Stelle des früheren urethritischen
betrifft.
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Über den Wert der modernen Instillationsprophylaxe der Gonorrhöe. 75
Da nun hier zwischen dem urethritischen und dem frühzeitigen
gonorrhoischen Herde offenbar ein bedingender oder disponierender
Zusammenhang besteht, der die Intensität des gonorrhoischen
Infiltrationsprozesses erklärt, so liegt die Vermutung sehr nahe,
daß dieser auch im Falle St. auf Veränderungen zurückzuführen
ist, welche durch die wiederholten, wenn auch günstig ablaufenden
Reizkatarrhe gegeben waren.
Von Interesse ist in dieser Beziehung auch die Vorgeschichte der
beiden Infektionsffclle G. und S. Beide Male waren nämlich den zu
Infiltraten führenden schweren Reizkatarrhen Gonorrhoen vorausgegangen,
die selbst bereits chronisch-strikturierend verlaufen waren;
die (später noch kontrollierte) Heilung lag 6 bezw. 18 Monate zurück.
Vermag nun auch die irritative Urethritis zweifellos selbständig In¬
filtrationsprozesse einzuleiten, wie aus den drei mitgeteilten Fällen bei
vorher nicht am Tripper erkrankten Männern hervorgeht, so ist man
doch hier versucht, die im Laufe des Reizkatarrhs auftretenden Binde-
gewebsbyperplasien einfach als Rezidive der früheren postgonorrhoischen
Strikturen aufzufassen, entweder unabhängig von dem gleichzeitigen Reiz¬
katarrhe, vielleicht dessen Hartnäckigkeit bedingend, oder durch den
Entzündungsreiz des letzteren (bakteriellen Reiz s. oben) zur Wieder¬
entwicklung angeregt Die dann im Laufe der frischen Gonorrhoe des
Patienten G. neuerdings an der alten Stelle (von kleinen Verschiebungen
abgesehen) auftretende Striktur wird man wiederum als Rückfall an¬
sprechen, man wird sagen, es handelt sich hier stets um die alte
Striktur, welche unter den entzündlichen (bakteriellen) Reizen einmal der
imtativen Urethritis und dann der neuen Gonorrhoe rezidivierte.
Alle die auf Rechnung der irritativen Wirkung des Verfahrens
zu setzenden Beeinflussungen des Tripperverlaufs bieten, glaube
ich, keine Schwierigkeiten bei ihrer Erklärung.
Kombinieren sich in einer gesunden Harnröhre Kau¬
terisation und Infektion, dann muß man sich ohne weiteres
vorstellen, daß sowohl die schichtweise Eiweißfällung wie die ent¬
zündliche Reaktion, welche in der oben beschriebenen Weise den
Epithelspiegel lädieren, damit den nicht abgetöteten Gonokokken
förmlich den Weg bahnen und vorschreiben. Diese künstlichen
Läsionen betreffen naturgemäß hauptsächlich das Plattenepithel
der Fossa; damit ist aber eine Bresche gelegt in das stärkste
Bollwerk, das, wie Fingers epochale Autopsien lehren, den Gono¬
kokken das Eindringen in das subepitheliale Gewebe wehrt und
meines Erachtens die normale Inkubationsdauer der Gonorrhoe
bedingt, die mit der Invasion der oberen Bindegewebslage nach
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76
de Campagnolle.
aszendierender Fortwucherung der Gonokokken auf das Zylinder¬
epithel, das eine rasche Durchwucherung gestattet, ihr Ende findet.
Besonders günstige Verhältnisse werden die Gono¬
kokken dann vorfinden, wo es sich — und dies traf für alle
von mir beobachteten Fälle von abgekürzter Inkubation zu —
nicht um Infektion und Irritation einer vordem gesunden,
sondern einer Schleimhaut handelt, die bereits von einem
oder mehreren Reizkatarrhen befallen war und noch eiter¬
zellenhaltige Filamente produziert oder gar noch von
einem solchen sezernierenden Katarrh befallen ist
Die Chancen, die eine solche Aufpfropfung eines Trippers auf
eine Urethritis einem intensiven Einwuchern der Gonokokken bieten,
liegen auf der Hand. Das weithin zerklüftete und abgestoßene
Epithel sowohl des Lumens, wie der Drüsenausführungsgänge ge¬
stattet nicht nur eine ungewöhnlich energische flächenhafte Aus¬
breitung der übertragenen Gonokokken, sondern auch ein rasches
und massenhaftes — sonst ja sukzessives — Einwuchern der¬
selben in das Bindegewebe, in die Drüsenmündungen, in
die „Tiefe der Schleimhaut“ und damit eine intensive Vermehrung
in diesen geschützten Schlupfwinkeln. Dieses frühzeitige Befallen
der Bindegewebsspalten en masse erklärt auch die starke Be¬
teiligung des Lymphsystems in den beiden perakuten Fällen. Als
ein weiterer der Aktivität der Gonokokken förderlicher Faktor mag
nach längeren chronischen Katarrhen eine gewisse Erschlaffung
der reaktiven Fähigkeit des Papillarkörpers überhaupt angenommen
werden.
Aber auch in den Fällen, wo die irritativen Urethritiden nicht
mehr sezernieren, sondern nur mehr oder weniger eitrige Faden¬
bildung besteht, liegen dieselben forderlichen Verhältnisse für die
Gonokokken,wenn auch in ahgeschwächteremGrade vor; hierbestehen
eben — wie wir für das gleiche Stadium der Gonorrhoe dies oben
darzustellen suchten — gleichfalls noch partienweise Erosionen
des Epithels, vorzugsweise periglandulär, rings um entzündete
Drüsengruppen.
Alle diese Momente bedingen einen präzipitierten Verlauf des
gonorrhoischen Prozesses; so wird der frühzeitige Befund intra¬
cellulärer Gonokokkenlagerung, die Abkürzung der Inkubation und
des Prodromalstadiums verständlich. So findet auch jene in dem
Falle, wo die letzte Gonorrhoe subakut eingesetzt hatte, über¬
raschende Akuität der neuen Infektion ihre Erklärung. Auf diese
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Über den Wert der modernen Instillationsprophylaxe der Gonorrhöe. 7 7
massenhafte Über- und Durchwucherung einer großen Schleimhaut¬
fläche, wie sie der Vorbestand eines irritativen Katarrhs ermöglicht,
antwortet eben auch eine Schleimhaut mit kräftiger Reaktion, die
vordem durch subakutes Einsetzen der Gonorrhoe ein herabgesetztes
Reaktionsvermögen gegenüber dem blennorrhoischen Virus verraten
hatte. Auf Rechnung der Kauterisation war diese Akuität deshalb
nicht zu setzen, weil bei dem Patienten der letzte Reizkatarrh
einen akuten Charakter nicht (mehr) gehabt hatte und die be¬
treffende Einträufelung nicht etwa stärker oder reichlicher appli¬
ziert wurde.
Daß die Akuität des prodromalen und floriden Stadiums in
diesen wie überhaupt in sämtlichen durch einen ungünstigen Ver¬
lauf ausgezeichneten Fällen eine sehr vorübergehende war,
daß kaum ein gewisser Höhepunkt der Sekretion, der äußeren
Inflammationserscheinungen, der subjektiven Beschwerden zu be¬
merken war, als diese Akme schon wieder abfiel auf eine Stufe
schlaffer torpider Sekretion, dieses rasche Erlahmen der Ge-
websreaktion gegenüber den Gonokokken konnte dort nicht
überraschen, wo bereits früher ein Tripper chronisch verlaufen
war; in den beiden Fällen jedoch, wo es sich um Erstgonorrhöen 1 )
handelte, machte diese Erscheinung den Eindruck einer durch
die wiederholten protrahierten traumatischen Urethritiden
geschwächten Reaktionsfähigkeit der Mukosa überhaupt,
nicht mehr ausreichend zu jener kräftigen Elimination der Gono¬
kokken, die der vorher gesunden Mukosa eignet
Nicht minder bedeutungsvoll ist es, wenn der urethritische
Prozeß das Urethraldrüsensystem selbst lebhaft ergriffen
hatte. Dies wird hierdurch den Gonokokken auf wohl präparierten
Wegen rasch zugängig und mit ihm der sicherste Schlupfwinkel,
der sie vor jeder therapeutischen Einwirkung schützt. Die be¬
sondere Bedeutung der glandulären Gonorrhoe liegt aber wohl
darin, daß die Gonokokken von den Drüsen und Drüsenaus¬
führungsgängen aus, wo sie sich kolonienweise und wohl in
voller Virulenz vermehren, viel intensiver noch in das peri¬
glanduläre Bindegewebe durch die mazerierte Epithel¬
auskleidung hindurch einzuwuchern vermögen, als dies
*) Gewiß werden auch sonst Erstgonorrhöen häufig genug chronisch, doch
ist dies — gute Behandlung derselben durch Patient und Arzt voraus¬
gesetzt — Ausnahme.
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de Campagnolle.
vom Urethrallumen aus, wo ihre Vermehrung durch die bakterizide
Therapie und ihre Aktivität durch Verschlechterung des Nähr¬
bodens einigermaßen in Schach gehalten werden kann, möglich
ist. Diese intensive bakterielle Invasion des Bindegewebes von
beiden Richtungen her dürfte aber, wie oben schon bemerkt, die
wichtigste Bedingung darstellen zur Einleitung der Hyperplasie des¬
selben, zur herdförmigen Infiltration.
Auch dann ist den Gonokokken in dieser Richtung Vorarbeit ge¬
leistet, wenn wie in einigen unserer Fälle der vorlaufende urethritische
Prozeß bereits zu urethrometrisch diagnostizierbaren Infiltraten geführt
hatte, die vor der gonorrhoischen Infektion durch Dilatations¬
behandlung beseitigt waren. Auch eine lange und gründliche der¬
artige Behandlung, die zu einem endoskopisch befriedigenden Bilde be¬
sonders hinsichtlich des wieder hergestellten normalen Glanzes des
bedeckenden Epithels geführt hat — worauf Kollmann-Oberlaender
besonderen Wert legen —, schließt nach diesen Autoren nicht aus, daß
in tiefer gelegenen Schleimhautpartien Entzündungsreste persistieren;
diese veranlassen nun unter dem starken Reize der rasch eingewucherten
Gonokokken frühzeitig einen Rückfall des früheren Herds als neues
gonorrhoisches Infiltrat. Umgekehrt können alte unter endoskopischer
Kontrolle und Nachkontrolle zum Schwinden gebrachte Tripperstrikturen
rezidivieren unter dem irritierenden Reize eines chronischen Katarrhs.
Alle Gewebsteile, die von dem Katarrhe vor kurzem befallen
waren oder noch befallen sind, bieten den Gonokokken günstige
Ernährungsbedingungen, damit ihrer Vermehrung, ihrem Fort¬
schreiten, weisen also dem Tripperprozeß förmlich den Weg. So
ermöglicht der Katarrh eine ungewöhnlich rasche flächenhafte Aus¬
breitung der Gonokokken über die Fossa navic. hinaus, und auch
dieser Umstand wirkt mitursächlich für die Akuität des Prodromal¬
stadiums unserer Tripperfälle, weil eben in den ersten Tagen eine
viel [größere Schleimhautfläche im Kampfe mit den Gonokokken
steht und sezerniert als beim Tripper der zuvor gesunden Harn¬
röhre. Und ebenso läßt der Vorbestand einer U. totalis, einer
katarrhalischen Erkrankung auch der Posterior die Gonorrhoe
frühzeitig über den äußeren Sphinkter auf jene und, soweit meine
Beobachtungen reichen, die Ductus prostatici übergreifen.
Nach alledem könnte schließlich ernstlich die Frage aufgeworfen
werden, ob nicht das Verfahren geradezu eine Empfänglichkeit für
Gonorrhoe setze. Diese ironisch klingende Frage würde, präziser ge¬
stellt, deren zwei umfassen: schafft die bestehende durch das Verfahren
gesetzte artefizielle Urethritis, schafft die unter Fadenbildung „geheilte“
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Über den Wert der modernen Instillationsprophylaxe der Gonorrhöe. 7 9
Urethritis eine Disposition für Gonorrhoe? Da die entzündlich-katarrhali¬
schen Veränderungen häufig auf lange Zeiträume hin persistieren
— sei es unter Bildung von ausfließendem oder ausdrückbarem oder
nur so geringfügigem Sekret, daß dasselbe vom Harnstrahl koaguliert
in Fadenform erscheint —, viel länger persistieren, als die Patienten in
Anbetracht eines derartigen nicht ansteckenden Zustands sich sexueller
Abstinenz zu befleißigen pflegen, 1 ) wobei eine neuerliche Anwendung der
Prophylaxe selten ist, könnte diesem natürlich nur vermutungsweise zu
erörternden Momente praktische Wichtigkeit zugesprochen werden.
Ob der noch sezernierende Irritationskatarrh die Harnröhre für eine
Gonorrhoe empfänglich macht, diese Frage muß tatsächlich konsequenter¬
weise wenigstens gestreift werden, nachdem wir eben beobachteten,
welchen Vorschub ein solcher der Wucherungsintensität der übertragenen
Gonokokken nach Tiefe und Fläche leistet. Wir müssen wohl eine solche
Disposition für diskutabel halten. Alle jene Momente, die dort eine
Bolle spielen, dürften auch die Übertragung der Gonokokken
selbst, d. i. deren Haftung und Bergung begünstigen. Im be¬
sonderen sei noch hingewiesen auf die erhöhte Imbibitionsfähigkeit der
sukkulenten, von Epithelschollen bedeckten Schleimhaut, auf die vergrößerte
Angriffsfläche, die das zerrissene Epithel darbietet, Chancen, die in erectione
noch besondere Bedeutung gewinnen. Dazu sind alle diese durch die
Beizkatarrhe gesetzten Veränderungen naturgemäß besonders ausgeprägt
gerade im Anfangsteil der Harnröhre.
Die weitere Frage, ob auch mit Aufhören der Sekretion unter oft
ungeheuer protrahierter Fadenbildung geheilte, besser gesagt in Abheilung
begriffene oder stillstehende Katarrhe noch in gleichem Sinne disponieren
können, legt die Analogie der Gonorrhoe nahe. Wir haben oben die
auffallende Irritabilität früherer noch Fäden im Harn führender Gonor-
rhoiker mit anatomischen Veränderungen zu erklären versucht, deren
Ausdruck eben die Fadenbildung darstellt, und welche eine Herabsetzung
der Widerstandskraft des Gewebes involvieren; in diesen nämlichen Ver¬
änderungen haben wir weiterhin die Ursache für die von mancher Seite
behauptete Empfänglichkeit früherer Gonorrhoiker für Neuinfektionen zu
erkennen und damit jene Behauptung stützen zu können geglaubt. Es
besteht nun keinerlei Grund, für das filamentöse Endstadium unserer
traumatischen Urethritis ein differierendes anatomisches Substrat zu ver¬
muten; die Beschaffenheit der Harnröhre ist in beiden Fällen, ob durch
eine Gonorrhoe oder eine einfache Urethritis eingeleitet, völlig gleich¬
zustellen. Damit erscheint uns eine erhöhte Disposition für Tripper auch
auf dieser Stufe als nicht unwahrscheinlich.
*) Das bei den irritativen Urethritiden häufig vorhandene hartnäckige
Kitselgefdhl im Eichelteil erregt manche Männer direkt sexuell.
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80
de Campagnolle.
Die Bedeutung der Beizwirkung.
Resümieren wir zunächst in Kürze die Hauptpunkte unserer
diesbezüglich gewonnenen, in den beiden letzten Abschnitten dar¬
gestellten Ergebnisse!
I. Die prophylaktischen Einträufelungen, und zwar nicht nur mittels
richtig zubereiteter, unzersetzter 20proz. Protargollösung ohne Glyzerin¬
zusatz, sondern auch mit lOproz. frischer Albarginlösung, reizen die
Urethralschleimhaut in einer großen Zahl von Fällen, wenn auch nicht
stets schon bei erster Anwendung. Die irritative Wirkung steigt mit
der Häufigkeit der Instillationen; es ist jedoch wahrscheinlich, daß auch
den mäßigen Gebrauch keine Harnröhre auf die Dauer ohne Reaktion
verträgt. Als zur Irritabilität disponierende, im Patienten selbst ge¬
legene Momente sind in erster Linie vorausgegangene Urethritiden,
welche Fadenbildung hinterlassen haben, zu nennen, vor allem natürlich
überstandene Tripper, aber ebensosehr nichtgonorrhoische (extra¬
gonorrhoische) Urethritiden, wie unsere Instillationskatarrhe selbst;
letztere machen derart für weitere Reizungen empfänglich, daß fast
regelmäßig auf einen erlittenen Reizkatarrh bei neuer Instillation ein
weiterer folgt. Als weitere Momente, jedoch von untergeordneter Be¬
deutung sind anzureihen konstitutionelle Anomalien und Erkrankungen,
welche häufig durch Reizbarkeit des Schleimhautsystems ausgezeichnet
sind, vor allem Skrofulöse, dann chronische Anämie, Adipositas.
II. Das Resultat der Reizung ist bei variabler Schmerzempfindung
— diesbezügliche Angaben disharmonieren häufig derart mit dem ob¬
jektiven Befund, daß sie nur durchaus subjektiven Wert besitzen —
eine neue spezielle Form von traumatischer Urethritis.
Ihre wichtigsten und konstanten Merkmale sind das Fehlen einer
Inkubation und der typische negative Befund von Mikroorganismen vor
dem Abfall der Akme, wenn nur irgend eine stärkere entzündliche
Reaktion auf die Einträufelung erfolgt
Die Urethritis kann nämlich sowohl akut wie subakut einsetzen;
im ersteren Falle ist die Instillation innerhalb weniger Stunden von
einer purulenten Absonderung unter ebenfalls sehr wechselnden sub¬
jektiven Erscheinungen, im letzteren von spärlichem Ausfluß bei gering¬
fügigen Beschwerden gefolgt Stets ist die Akme rasch erreicht Die
in den Sekreten der subakuten Fälle frühzeitig, in den akuten vom
Stad, decrem. an zu findenden Mikroben zeigen nichts Charakteristisches,
sie bieten dasselbe Bild wie diejenigen des terminalen Katarrhs.
Die Abheilung kann nach Überschreiten der Akme unter raschem
Abfall des Entzündungsprozesses spontan erfolgen, oder es kann unter
Verharren desselben auf einer Stufe des Stad, decrem. ein eminent
chronischer Verlauf eintreten.
Häufig wird letzterer bereits durch ein subakutes insidiöses Ein¬
setzen signalisiert; im allgemeinen ist die Prognose desto günstiger, je
kräftiger, je akuter die Urethra auf das chemische Agens reagierte.
Die chronische traumatische Urethritis teilt mit jenen beiden am
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Über den Wert der modernen Instillationsprophylaxe der Gonorrhöe. 81
genauesten bekannten chronischen Harnröhrenentzündungen, dem termi¬
nalen Katarrh und der chronischen extragonorrhoischen (venerischen)
Urethritis die Neigung zu außerordentlicher Verschleppung und geringer
therapeutischer Beeinflußbarkeit bei geringfügigen subjektiven Beschwerden;
sie unterscheidet sich vom terminalen Katarrh durch eine ausgeprägte
Stabilität des Entzündungsniveaus gegenüber Exzessen in Baccho et
Venere, auf welche bei jenen Exazerbationen zu folgen pflegen, eine
Eigentümlichkeit, die ihr mit dem venerischen Katarrh gemeinsam zu
sein scheint.
Wie diese chronischen Katarrhe bleibt unsere Instülations-Urethritis
in einem großen Teil der Fälle ein rein diffuser Prozeß, lokalisiert
in der Anterior, freilich bei allen nicht ganz kurz ablaufenden Fällen
auf deren ganzer Oberfläche. Allein es kamen Komplikationen zur Be¬
obachtung, und zwar
I. ein Übergriff des Katarrhs auf die Posterior und die Prostata
(Prostatitis glandul.). Vorausgegangene in der hinteren Harnröhre lokali¬
sierte Tripper, ebenso auch bestehende chronische Colliculitiden (infolge
Masturbation oder usuellen Coitus interrupt. oder condomat.) schienen
hier disponierend und vorbedingend wirksam;
H. Bildung von Infiltrationsherden im Bereiche des chemischen
Insults, den vordersten Teilen der Anterior, auch bei Leuten, die vor¬
dem nie vom Tripper befallen gewesen; eine Komplikation, die bisher
nur im Anschluß an die echte gonorrhoische Urethritis beobachtet wurde.
Die Entwicklung dieser Infiltrate ist teilweise eine rasche und intensive;
sie können, wiß in einem Falle des Verf., zur merklichen Kaliber¬
verengerung führen, gewöhnlich handelt es sich um eine Herabsetzung
der Dilatabilität (weite Striktur — Otis, I. Grad harter Infiltration —
Oberlaender).
Bei trotz erlittener Reizung fortgesetzter Anwendung der Prophy¬
laxe gilt, wie schon bemerkt, als Regel, daß stets — sei jene erste
Irritation schon beim ersten Gebrauch oder erst später eingetreten —
wieder ein neuer Reizkatarrh erfolgt. Es tritt wohl allmählich eine
Abnahme der Schmerzempfindung ein; allein diese ist durchaus nicht
als Gewöhnung zu deuten, sondern ist der Ausdruck einer sukzessive
sich abschwächenden Reaktionsfähigkeit der Schleimhaut gegenüber dem
chemischen Agens, sich außerdem manifestierend in einer immer ge¬
ringeren Akuität der Katarrhe und immer ausgeprägteren Tendenz
derselben zum Chronizismus, so daß sich die Prognose quoad dur. von
Fall zu Fall verschlechtert Die Raschheit dieser Wandlung ist ab¬
hängig von der Widerstandskraft der Schleimhaut an sich, wobei vor
allem bereits überstandene schwere Gonorrhöen und konstitutionelle
Momente eine Rolle spielen, sowie von der Häufigkeit der Einträufelungen.
Sie kann sehr allmählich vor sich gehen, so daß die Patienten stets akut
und kurz gereizt scheinen, andererseits kann bereits eine der ersten
Irritationen sich chronisch verschleppen.
III. Außer dieser Bedeutung der irritativen Urethritis als selb¬
ständiger Erkrankung liegt eine weitere auch darin, daß die durch sie
gesetzten entzündlichen Veränderungen der Urethralmukosa diese zu
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82
de C&mpagnolle.
einem außerordentlich günstigen, geradezu präparierten Terrain für eine
(sei es trotz neuerlicher Instillation oder ohne diese) akquirierte, „auf¬
gepfropfte“ Gonorrhoe gestalten, ein in Anbetracht der häufig ungemein
protrahierten Dauer dieser entzündlichen katarrhalischen Veränderungen
praktisch bemerkenswerter Umstand. Sowohl die noch sezemierende wie
die unter Fadenbildung in Ausheilung begriffene Urethritis — hier
speziell, wenn die Infektion trotz neuerlicher Einträufelung erfolgte, sich
also Infektion und Reizung in einer noch Entzündungsreste führenden
Urethra kombinieren — beeinflussen ’ in einer unschwer zu erklärenden,
im vorletzten Abschnitte näher ausgeführten Weise den Charakter der
Gonorrhoe in bestimmter Richtung.
Es bestehen diese Modifikationen in einer beträchtlichen Abkürzung
der Inkubation (vielleicht in völligem Fehlen derselben) und des Pro¬
dromalstadiums, ferner, wie es scheint, in einer Verzögerung des Ver¬
laufs mit Neigung des Tripperprozesses zu einer Wiederholung derselben
Komplikationen, die im Laufe der irritativen Urethritis aufgetreten
waren, d. h. sich eventuell ebenfalls in der Posterior und Prostata zu
lokalisieren und an den Stellen rein urethritischer Infiltrate neue
gonorrhoische zirkumskripte Herde zu bilden.
IV. Allein mit den genannten individuellen Schädigungen, die
wir also keineswegs durchaus beschränkt sehen auf die Unbequem¬
lichkeit eines flüchtigen Katarrhs, ist die Bedeutung der Reiz¬
wirkung des InstillationsVerfahrens noch nicht erschöpft. Von all¬
gemeiner Tragweite ist der Abbruch, den dieselbe der Verbreitung
einer Methode tut, welche, um zur Eindämmung der Gonorrhoe
dienen zu können, vor allem Popularität erringen muß. Es bedarf
gar nicht einer langwierigen und komplizierten Urethritis, eine kurze,
vielleicht etwas schmerzhafte Reizung genügt, um Vielen die
Prophylaxe recht frühzeitig zu verleiden. Schon Uli mann hat
auf den quälenden Zweifel über die Natur des Ausflusses,
in welchen die Patienten versetzt sind, hingewiesen, ein Zweifel,
der erst nach wiederholten mikroskopischen Untersuchungen be¬
schwichtigt werden kann und darf,
Das Honorar hierfür nach jedem Koitus zu beschaffen, —
hierzu ist nur ein kleiner Bruchteil selbst der besser situierten
Jugend in der Lage und mit Recht willens, um nicht zu reden
von der männlichen Jugend der ärmeren Bevölkerungsschichten,
für die ein Verfahren mit so allgemein sanitären Zielen doch
ebenfalls berechnet sein muß; auch Zeit kosten diese wiederholten
Vorstellungen beim Arzte, für manche ein zweites Geldopfer.
Nun ist es ja freilich kein sicheres, kein vollkommenes Verfahren,
das durch all diese Umstände seiner Verbreitung selbst im Wege
steht, und insofern dies Moment nicht so sehr bedauerlich.
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Ober den Wert der modernen Instillationsprophylaxe der Gonorrhöe. 83
Wichtiger ist ein Übelstand, der eben aus dieser gleichzeitigen
Beizwirkung und Unsicherheit resultiert und der befürchten
läßt, daß die beabsichtigte Wirkung der Autoprophylaxe, zur Ein¬
dämmung der Gonorrhoe beizutragen, zuweilen ins Gegenteil ver¬
kehrt wird.
Es besteht die Gefahr, daß nicht verhütete Tripper
für Reizkatarrhe gehalten werden und daß dieses Ver¬
kennen nicht nur zu einer folgenschweren Vernach¬
lässigung der Erkrankung, sondern auch zu einer sorg¬
losen Weiterverbreitung derselben führt. Hier ist vor allem
an jene Konsumenten zu denken, welche die Apparate auf guter
Freunde Rat sich im Handel beschaffen, also ohne ärztliche Ver¬
mittlung und Anweisung gebrauchen und im blinden Vertrauen
auf die gewährleistete absolute Schutzkraft die auf die Ein¬
träufelungen folgenden Sekretionen nicht beachten. Junge Leute,
welche die Symptome des Trippers noch nicht kennen, werden
hier am wenigsten argwöhnisch sein; aber auch bei Erfahrenen
wird, wenn wie gewöhnlich die ersten Reizkatarrhe rasch vorüber¬
gingen, eine Sekretion, die einmal nicht prompt ab klingt, wenig
Befürchtungen erregen. War auch die Empfehlung ärztlicherseits
unter Beobachtung einer gewissen Skepsis erfolgt, so wird doch
der Konsument, der mehrmals mit flüchtigen Reizungen davon
kam, derentwegen er einen Arzt „grundlos“ honorierte, 1 ) nur zu
leicht geneigt sein, die weiteren auf den Fortgebrauch des „be¬
währten“ Schutzmittels, dessen Ruhm er verbreitet, folgenden
Sekretionen mit großer Indifferenz zu behandeln, auch wenn diese
einmal unter stärkeren subjektiven Beschwerden und hartnäckiger
auftreten. Bei sehr ausflußscheuen, gebildeten Klienten habe ich
die anfänglichen Skrupel einer blühenden Sorglosigkeit weichen
sehen. Die Sorglosigkeit eines Menschen aber, der ohne es zu
wissen und darauf zu achten, am Tripper leidet, ist gefährlich für
*) Hier, wo die exakte Steilung der Differentialdiagnose Gonorrhöe-
extragonorrhoische irritative Urethritis unbedingt und in einer gehäuften Zahl
von Fällen zu stellen ist — wir verdanken ja dem neuen Verfahren einen
nicht geringen Zugang von Patienten — gewinnt die Tatsache eine neue Be¬
deutung, daß viele Patienten gar nicht die Möglichkeit finden, sich
authentisch über die Natur ihres Ausflusses zu informieren, da noch viele Ärzte
die Unterscheidung „Tripper — nicht Tripper“ ohne Hilfe des Mikroskops
zu stellen pflegen, und den meisten Laien die Bedenklichkeit dieser Diffe¬
rentialdiagnose unbekannt ist.
Zeitschr. f. Bekämpfung d. Geschlechtokrankh. III. 7
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84
de Campagnolle.
ihn selbst und für andere. Er wird sich erst mit einer G. posterior
oder (wie mein Fall M.) mit einer Nebenhodenentzündung dem
Arzte vorstellen, nachdem er wie dieser Patient ungescheut koitiert
und vielleicht mit dem vermeintlichen Reizungssekret eine oder
mehrere Frauen infiziert hat.
HL
Bisherige Publikationen über Resultate der Instillationsprophylaxe.
Der vorliegenden Arbeit ging im Jahre 1902 die schon mehr¬
fach berührte Veröffentlichung R. Loebs-Köln voraus, welche über
die Resultate einer ebenfalls mehrjährigen Prüfung der Prophylaxe
in der Privatpraxis berichtet R. Loebs Beobachtungen erstrecken
sich auf ein reicheres Material, als dem Verf. zur Verfügung stand;
es sind 110 Männer, deren Erfahrungen bezüglich des Instillations¬
verfahrens er verwerten konnte.
Als Schutzlösungen wurden benützt:
I. 20proz. ProtargollÖsung mit und ohne Glyzerinzusatz in 45 Fällen;
II. 2proz. Arg. nitr.-Lösung in 32 Fällen und
III. eine Kombination letzterer mit 2proz. Coc. nitr.-Lösung 1 ) in
33 Fällen
Infiziert wurden unter Gruppe I 4 Männer, unter II 2, unter III
1 Mann, zusammen 7 Männer. In 3 Fällen war der Gonokokken¬
nachweis 12 Stunden bezw. am zweiten Tage nach der Infektion zu
führen — abgekürzte Inkubation. R. Loeb gelangt also in bezug auf
die Sicherheit der Methode zu Resultaten, mit denen meine später
publizierten durchaus harmonieren. Dasselbe ist der Fall hinsichtlich
der Reizwirkung; Loeb notiert unter Gruppe I: 5 Fälle profuser
Eiterung (einmal fast 3 Wochen dauernd), in 7 Fällen so unerhörten
Schmerz, daß die weitere Applikation des Mittels versagt wurde; von
26 Klienten wurde das Verfahren „ohne allzu unangenehme Neben-
wirkung“ fortgebraucht; unter Gruppe II: 5 Fälle profuser Eiterung,
in 4 Fällen starke Schmerzen; in allen diesen Fällen wurde vom Fort¬
gebrauch Abstand genommen, in den restierenden die Prophylaxe „ohne
allzu unangenehme Folgen“ weitergebraucht; unter Gruppe III: 3 Fälle
sehr erheblicher Eiterung, nur in einem Falle abundanter Schmerz.
Blokusewski übergeht in seinen beiden letzten Veröffentlichungen,
in denen er neue ihm patentierte Tropfapparate bespricht, diese wichtige
Arbeit R. Loebs, obwohl sie im gleichen Fachorgan erschien. Statt
*) Dieser Cocainznsatz kann und soll natürlich nur die subjektive Schmerz-
empfindung aufheben, nur die Fossa anästhesieren; die chemische Irritation
wird dadurch nicht verhindert
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Über den Wert der modernen Instillationsprophylaxe der Gonorrhöe. 85
dessen wiederholt er, daß „Tausende von Apparaten im In- und Auslande
in Gebrauch stunden, ohne daß ihm ein Mißerfolg berichtet worden sei“,
und beruft sich weiterhin zum Beleg der absoluten Sicherheit des Ver¬
fahrens, „soweit man von hygienischen Maßregeln eine solche verlangen
könne“, auf zwei Publikationen, denen er besonderen Wert deshalb bei¬
messe, weil es sich hier um Resultate bei unter fortgesetzter und sach¬
gemäßer Beaufsichtigung stehenden Männern handle.
Es sind dies die Berichte Michels und Dithmars. Wir
wollen unsererseits prüfen, was diese als Beweismittel für die
Sicherheit der Instillationsprophylaxe bedeuten, zumal sie auch
wiederholt von anderer Seite in Referaten über die Prophylaxe als
stärkste Stütze für deren Wert herangezogen worden sind.
Was zunächst die Mich eis sehe Publikation betrifft, so ent¬
spricht Blokusewskis Referierung: „Es gelang Michels, die
200 Mann starke Besatzung eines Dampfers durch Einträufelung einer
lOproz. Protargolglyzerinlösung, die allerdings frisch zubereitet wurde,
völlig vor Gonorrhöe zu schützen“ keineswegs den Feststellungen und
den eigenen Schlußfolgerungen des Originalberichts.
Michels hat als Scbiffsarzt eines Reichspostdampfers mit einer Be¬
satzung von 200 Mann, der auf 9 Tage den gerade damals venerisch
stark verseuchten Hafen Yokohama anlief — von der Mannschaft eines
andern Dampfers hatten sich dort kurz zuvor 23 Prozent fast nur
gonorrhoisch infiziert —, folgenden prophylaktischen Versuch unter¬
nommen. Er verteilte (neben Vaselin und Sublimatseife) 120 Fläschchen
einer lOproz. Protargollösung, die er selbst zubereitete, versammelte die
ganze in Frage kommende Mannschaft (150 Leute) vor dem Verlassen
des Schiffs um sich und gab die auch in Vervielfältigungen verteilte
genaue Anweisung, vor jedem Koitus einzuträufeln, nachher sofort
zu urinieren und darauf nochmals zu instillieren, im Erkrankungs¬
falle sich zu melden. Es gelangte nun kein einziger Tripperfall zur
Meldung.
Wenn nun Blokusewski dieses Resultat ohne weiteres „über¬
zeugend“ nennt, d. h. überzeugend beweisend für die Sicherheit der In¬
stillationsprophylaxe, so steht Michels selbst seinem Ergebnis gegenüber
auf dem Standpunkte kühler und klarer Objektivität. Er resümiert:
„Wenn wir uns nun die Frage vorlegen, welche von den gegebenen
Vorschriften zur Verhütung des Trippers am meisten beigetragen hat,
das Urinlassen unmittelbar post coit. oder die Protargolinstillationen,
so müssen wir von vomeherein zugestehen, daß die Trennung der Wir¬
kungen dieser beiden Faktoren nicht ganz strikt durchführbar ist.“ Aller¬
dings glaubt Michels aus dem Grunde, weil das Urinieren häufig
unterblieb und weil genügend Fälle bekannt sind, wo trotz zeitigen
Wasserlassens Infektion eintrat, den Hauptanteil an der Verhinderung
von Infektionen dem Protargol zuerkennen zu müssen; er schließt: „Wenn
ich auch einerseits weit davon entfernt bin, auf Grund dieses einen Erfolgs
die lOproz. Protargollösung als absolut sicher wirkendes Prophylaktikum
7 *
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86
de Campagnolle.
empfehlen zu wollen, so schien mir doch andererseits eine günstige
Wirkung so deutlich ausgeprägt, daß ich dem Versuch eine gewisse
Bedeutung für die Frage der Gonorrhöeprophylaxe nicht absprechen
konnte und daher seine Veröffentlichung für angebracht hielt“.
Auch ich stelle nicht im mindesten in Abrede, daß die Ein¬
träufelung vieler Infektionen zu verhüten vermag, glaube aber dem
Urinieren unter bestimmten, des näheren schon erörterten Um¬
ständen eine mindestens nicht geringere Schutzkraft zusprechen zu
müssen. Es ist jedoch zu dem gewiß auffallenden Erfolge Michels
noch folgendes zu bemerken.
Zunächst ließ Michels auch vor dem Koitus instillieren.
Diese Verdoppelung der Einträufelung bedeutet ebenso wie das
von Michels und von mir auch bei Protargol angeordnete Urinieren
eine wesentliche Verschärfung der Anordnung Franks
und Blokusewskis, sie trägt ohne Zweifel nicht wenig zur
Erhöhung des Schutzes bei. Das Epithel der Fossa mit seinen
häufigen Lädierungen ist dann eine Strecke weit in seiner obersten
Zellschicht mit einer feinen Silberalbuminatdecke überkleidet, was
die Haftung des Virus, falls es nicht tiefer eindringt, erschweren
muß, abgesehen davon, daß vor der Ejakulation übertragenes Virus
durch überschüssige Lösungsreste abgetötet werden kann. Es
handelte sich also keineswegs um den gewöhnlichen Mo¬
dus der Instillationsprophylaxe. Zweitens glaube ich, ohne
dem Werte dieses interessanten Versuchs nahetreten zu wollen,
daß wir das Ausbleiben der Krankmeldungen beim Schiffsarzte
nicht ganz unbedingt nehmen dürfen als Ausbleiben von Tripper¬
ansteckungen überhaupt
Der Verf. ist als früherer Schiffsarzt ebenfalls eines Reichspost¬
dampfers mit den einschlägigen Verhältnissen vertraut und glaubt, daß
bei der in der deutschen Handelsmarine herrschenden scharfen Disziplin
die mit einer Versammlung der gesamten Mannschaft vor Verlassen des
Schiffs, der Belehrung derselben, der Überreichung der Apparate und
hektographierten Vorschriften verknüpfte gewisse Feierlichkeit sehr wohl
eine Anzahl Leute veranlaßt haben mag, ihre Tripper nicht zur Meldung
zu bringen, teils aus Furcht vor Strafe, teils aus Scham vor den Kameraden,
und sich lieber an den Kurpfuscher wandte, der sich in Gestalt eines früher
lange Zeit auf Segelschiffen gefahrenen Maats auf jedem Dampfer befindet;
desgleichen hat wohl auch diese ungewöhnliche Zeremonie Viele von dieser
Besatzung ängstlich und vorsichtiger gemacht, trotz des furor maritimus.
Was mich aber weiterhin ganz besonders in der geäußerten
Vermutung bestärkt, ist das fast völlige Ausbleiben von Angaben
Michels über Reizungen. Wenn vor und nach dem Koitus
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Über den Wert der modernen Instillationsprophylaxe der Gonorrhöe. 87
installiert wurde und zwar jedenfalls wiederholt innerhalb 9 Tagen,
mußte meinen und R. Loebs, Jesioneks und Feibes Beobach¬
tungen zufolge eine Anzahl von Reizkatarrhen zur Konstatierung
gelangen, auch wenn nur lOproz. Lösungen zur Anwendung kamen.
Michels berichtet nur über zwei ganz leichte Fälle (nur leichtes
Brennen ohne objektiven Befund). Die Erklärung ist einfach. Der
Ausfluß wurde für Tripper gehalten und deshalb verheimlicht
Wie verhält es sich nun mit der zweiten Dithmarschen Ver¬
öffentlichung?
Es handelt sich um einen Bericht, den Dithmar im Jahre 1902
als Antwort auf eine Vorlage des Oberpräsidenten von Hannover „be¬
züglich der zur Steuerung der Zunahme der Geschlechtskrankheiten zu
ergreifenden Maßnahmen“ der dortigen Ärztekammer über günstige Er¬
fahrungen vorlegte, die in der kaiserlichen Marine zunächst bei den
Mannschaften einzelner Kreuzer mit dem Blokusewskisehen Verfahren
gemacht wurden und zur Einführung desselben beim ganzen ostasiatischen
Geschwader bewogen; gleiche Anordnungen wurden von den Chefs der
Marinestation der Nordsee und des Bildungswesens der Marine für ihre
Befehlsrayons getroffen. Dithmar zitiert den offiziellen, sehr dunklen
Bericht eines Kommandanten über die Wirksamkeit des Verfahrens, der
besagt, daß dasselbe von September 1900 bis Anfang Juni 1901 und
von Juli 1901 bis Oktober 1901 je auf einem Kreuzer von den be¬
treffenden Schiffsärzten angewendet worden sei und zwar „stets mit dem
Erfolge, daß nie ein Mann, der sich dieser Behandlung unterzog, an
Tripper erkrankte. Der Schanker wurde durch die in dem Verfahren
angegebene Weise zwar nicht immer verhindert, aber es hatte doch den
Erfolg, daß wenn ein Schanker (welcher Art?) zur Beobachtung kam,
dieser äußerst milde auftrat und in kurzer Zeit zur Heilung gelangte (?)“.
Soweit nun aus dem Referate ersichtlich, wurden die Einträufelungen
gar nicht als Autoprophylaxe, sondern als Präabortiwerfahren angewandt,
dem entweder alle an Land gewesenen Mannschaften oder nur freiwillig
sich Meldende am Tage nach der mutmaßlichen Infektion unter¬
worfen wurden. Dafür wurden 5—8 Tropfen einer 2proz. Lapislösung
(sehr empfindlichen Leuten vorher noch 1—2 Tropfen einer lOproz*
Kokainlösung) instilliert und 5 Minuten zurückgehalten.
Es ist also das in der Marine geprüfte Schutzver¬
fahren noch viel weniger wie das von Michels erprobte
mit der Blokusewski-Frankschen Prophylaxe identisch,
es besteht mit dem Verfahren Blokusewskis, dessen
Apparats man sich wohl bediente, nur eine äußerliche
Ähnlichkeit. Wir haben hier eine Desinfektion der Harnröhre
mit der 3—8 fachen Menge Lapislösung, und diese Lösung läßt
man 5 Minuten statt 10—15 Sekunden lang auf die Schleimhaut
einwirken. Wird nun auch diese heroische Applikation erst mehrere
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88
de Cainpagnolle.
Stunden nach dem Beischlaf vorgenommen, wo für manche Fälle,
besonders bei Vorhandensein von Epitheldefekten, ein bereits er¬
folgtes Einwuchern in die Drüsenmündungen und Lymphspalten
nicht unbedingt ausgeschlossen ist, so unterliegt es doch keinem
Zweifel, daß diese relativ große Menge der Höllensteinlösung und
ihre lange Retention ein tieferes Eindringen derselben in die Harn¬
röhre und die Desinfektion einer größeren Schleimhautfläche ver¬
bürgt, wie auch eine geringere Abschwächung der baktericiden
Kraft durch Verdünnung und Zersetzung, also größere Chancen
als die flüchtige Einträufelung von 2—8 Tropfen bietet, eine In¬
fektion zu verhindern bezw. eine bereits inkumbente Gonorrhoe
zu kupieren.
Dieser in der Marine gewählte Modus wäre in folgender Form:
Belehrung der Mannschaften, besonders über die Notwendigkeit
doppelten Schutzes und spezielle Vorschrift, einige Zeit vor dem
Beischlaf das Wasser anznhalten, nach demselben sofort zu urinieren
und gründlich zu waschen — Kaufgelegenheit von Waschseifencräme
an Bord (eventuell mittels Automat!) — Vornahme von Instillationen
bei den sich hierzu Meldenden am Morgen nach dem Beischlaf, besser
freilich schon am gleichen Abend vielleicht durch einen genau in¬
struierten Lazarettgehilfen —
wirklich als praktisch und nützlich zu begrüßen, wenn nicht die
Reizwirkung des Verfahrens hier naturgemäß noch in be¬
trächtlich intensiverer Weise, auch wenn Protargol oder Al-
bargin statt des Höllensteins verwandt würde, sich geltend
machen müßte; dabei bedenke man, daß bei den oft wochen¬
langen Hafenaufenthalten häufig kurz aufeinanderfolgende Ein¬
träufelungen nötig wären! Solche wiederholte Abortivkuren mög¬
licherweise inkumbenter Gonorrhoen — Präabortivkuren nennt
dies Fournier — müßten als geradezu frevelhafte Mißhandlung
der Harnröhre bezeichnet werden.
Dies Verfahren wird sich in der Marine keiner dauernden
Beliebtheit erfreuen 1 ), nicht allein auf Seite der Mannschaften,
sondern auch auf Seite der Marineärzte, denen — selbst wenn sie
meine Anschauungen über die Bedeutung der irritativen Urethri¬
tiden nicht teilten — die unbedingt erforderliche Differential¬
diagnose der „Ausflüsse“, welche nur mikroskopisch gestellt werden
kann, ein nicht geringes Quantum Zeit und Mühe kosten würde.
l ) Die „Viro“-Bestecke scheinen bereits mit demselben in Konkurrenz
zu treten, wie ich einer Reihe von Bestellungen seitens der Marine entnehme,
die die Viro-Gesellschaft veröffentlicht.
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Über den Wert der modernen Instillationsprophylaxe der Gonorrhöe. 89
Auch die von Dithmar mitgeteilten Resultate können also
bei voreingenommener Betrachtung keineswegs als Beleg für die
Sicherheit der Blokusewski-Frankschen Instillationsprophylaxe
gedeutet werden, ebensowenig wie gegen das eigene Urteil des
Autors die Ergebnisse Michels’, und zwar vor allem schon des¬
halb, weil es sich in beiden Fällen um wesentlich verschärfte, nur
äußerlich ähnliche prophylaktische Maßnahmen handelte, die eine
erhöhte Schutzkraft gewährleisteten.
Nach Abschluß meiner Arbeit erhalte ich Kenntnis von einer
interessanten Mitteilung, die Benario in einer Berliner Mitglieder¬
versammlung unserer D. Gesellschaft z. B. d. G. im März d. J.
machte und welche den offiziellen Bericht der Marinebehörden
über die geschlechtlichen Erkrankungen in den Jahren 1899 bis
1901 betrifft
Beim ostasiatischen Geschwader betrug 1899/1901 der Zugang an
venerischen Krankheiten noch 264°/ 00 ; in diesem Jahre wurde nun
die Prophylaxe begonnen; 1900/1901 sinkt der Zugang auf 184,6 °/ OÜ
um im Sommerhalbjahr 1901 seinen bisher niedrigsten Stand von 134°/ 00
Zugängen zu erreichen; ein späteres langsames Ansteigen wurde darauf
zurückgeführt, daß eine Anzahl von Leuten die Desinfektion (bezw. die
Meldung hiezu) uuterlassen hatten. 1 )
Die Mannschaften wurden folgendem Verfahren unterworfen:
Meldung post coitum.
Mechanische Reinigung des Glieds mit warmem Wasser und Seife.
Vorhaut stark zurück. Eichel und inneres Vorhautblatt mehrere Male mit
in 1 °/ 00 Sublimatlösung eingetauchten Wattebäuschchen stark abgerieben.
Wo Erosionen, diese mit Mullstreifen, getränkt mit gleicher Lösung,
bedeckt.
Fossa navic. mit Watte trockengerieben, mit Pipette
soviel 2 proz. Arg. nitr. Lösung, bis Überlaufen erfolgt.
Lösung 3 Minuten in der Harnröhre zurückgehalten, dann mit
Watte abgetupft, wobei Umgebung der Harnröhrenmündung
kräftig abgerieben wird (völlig schmerzlose Prozedur).
Dieses Desinfektionsverfahren wird als fast sicherer Schutz gegen
Tripper, als sehr erheblicher gegen Schanker bezeichnet.
Man sieht, hier noch offenkundiger wie oben: die in der
Marine erzielten Erfolge sind nicht unserer modernen Autoprophy-
*) Ähnliche Erfahrungen wurden beim ersten Geschwader gemacht, das
im letzten Jahre in Vigo-Spanien gelandet hatte. Ein Schiff hatte die Pro-
phylaktika an Bord, die andern nicht. Nach Gebrauch derselben trat, wie
Benario von der kompetentesten Seite berichtet wird, nur in zwei Fällen
Tripper auf, während die Schiffe, welchen das Präparat nicht zur Verfügung
stand, eine erheblich größere Anzahl von Trippererkrankungen aufwiesen.
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90
de Campagnolle.
laxe zu verdanken, die der Schutzbedürftige selbst mit vorsichtiger,
gewiß oft unsicherer oder genierter Hand instillierend vorzunehmen
hat, sondern sie sind das Resultat einer energischen von ge¬
schulter Hand im Großen ausgeführten Präabortivbehand¬
lung, welche die Möglichkeit bereits fortgeschrittenen epithelialen
Einwucherns und flächenhaften Fortwucherns der Gonokokken be¬
rücksichtigt und derselben in sachgemäßer Weise durch die be¬
sonders von Welander erprobte Ausreibung der Fossa und durch
Verwendung der tief einzuführenden Pipette begegnet.
Man muß diese verschiedenen, in ihrer Intensität so diffe¬
rierenden Methoden der Desinfektion der Harnröhre zur Verhütung,
bezw. Kupierung der Gonorrhoe durchaus streng auseinanderhalteil.
Andere Formen der Desinfektionsprophylaxe des Trippers.
Wenn nun auch der hier untersuchte Tripperschutz mittels
Instillation von Silbersalzlösungen, weil nicht unschädlich, als un¬
brauchbar zu bezeichnen ist, so schließt dies nicht ohne weiteres
aus, daß das in dieser Richtung angebahnte prophylaktische Ver¬
fahren Entwicklungsmöglichkeiten in sich birgt, daß Modifikationen
oder Parallelmethoden glücklichere Resultate erzielen können; es
ist ja mit den Instillationen ein ganz neuer, durchaus origineller
Weg betreten worden. 1 )
Wir werden hierüber am raschesten ins klare kommen, wenn
wir die Forderungen resümieren, welche mich die Ergebnisse der
vorliegenden Untersuchung an eine „Desinfektionsprophylaxe“ zu
stellen lehren, und an ihnen die übrigen, bis heute angegebenen,
in gleicher Linie laufenden Methoden auf ihre Tauglichkeit prüfen.
1 ) Es gibt drei Wege der Trippervorbeugung. Ein mit einer tripperkranken
Frau verkehrender Mann kann sich in dreierlei W eise gegen Infektion schützen:
I. indem er jede Berührung von virulentem Sekret mit seiner Urethral-
schieimhaut unmöglich macht — Condom;
II. indem das äußerlich anhaftende oder eingedrungene gonorrhoische
Sekret sofort wieder entfernt wird — Waschung, Urinieren, auch Injektion
indifferenter Flüssigkeiten;
III. indem das eingedrungene gonorrhoische Sekret, wenigstens was die
darin suspendierten Gonokokken betrifft, in der Harnröhre selbst des¬
infiziert wird.
Man unterscheidet wohl am einfachsten diese drei Wege durch die Be¬
zeichnungen Kontakt-, Eliminations- und Desinfektionsprophylaxe.
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Über den Wert der modernen Instillationsprophylaxe der Gouorrhöe. 91
Wir glauben, die Postulate der Sicherheit und Unschädlichkeit
in Kürze folgendermaßen detaillieren zu müssen:
I. Die Sicherheit einer Desinfektionsprophylaxe wird durch folgende
Punkte bedingt:
1. das Bactericidum muß mit den Gonokokken in Berührung kommen:
a) tief genug in die Urethra eindringen,
b) ihre Schleimhaut möglichst in dem Entfaltungszustande des¬
infizieren, wie er bei der Infektion in erectione gegeben ist und durch
die Ausspannung des in der Fossa überaus häufig defekten Epithels und
der Follikel (eventuell auch Falten) ein Bergen kleiner Virusteile er¬
leichtert.
2. Das Bactericidum muß, bei eintretendem Kontakt mit den Gono¬
kokken, wirklich in voller Stärke ein solches sein:
a) es darf durch Wärme nicht zersetzt werden, um im Apparat
haltbar zu sein;
b) es darf durch die, die Gonokokken in der Urethra suspendierenden
Medien (Urinreste, Sekrete, Sperma) nicht oder nur in engen Grenzen
zersetzt werden;
c) muß voluminös genug sein, um nicht [auch bei Erfüllung der
Punkte a) und b)] durch dieselben Medien zu stark verdünnt zu werden.
II. Die Unschädlichkeit macht dagegen erforderlich:
daß die desinfizierende Lösung weder durch eine starke Konzen¬
tration, zu deren Wahl eben die Zersetzungs- und Verdünnungsgefahr
hindrängt, noch durch ein zu langes Zurückhalten irritierend, zu kräftig
adstringierend oder ätzend wirke.
Daß und inwiefern diese Forderungen von unserer Instillations¬
prophylaxe, der tropfen weisen Einbringung geringster Quantitäten
eines hochkonzentrierten Antigonorrhoikums, nur sehr unzureichend
erfüllt werden, ist der Gegenstand eines großen Teils der vor¬
liegenden Erörterungen gewesen.
Die nämlichen Schwächen haften den Impressionen salben¬
artiger oder pastöser Desinfizientien aus mit entsprechendem An¬
satz fürs Orificium versehenen Tuben an. Gewährt auch vielleicht
die etwas größere Menge der desinfizierenden Masse die Möglich¬
keit eines tieferen Eindringens, so wird doch dieser Vorteil dadurch
wieder zunichte gemacht, daß (nach Kob. Koch) die Antiseptika
an Wirksamkeit einbüßen, wenn sie mit Fett oder 01 vermengt
werden. Für die eine gelatinierte 20proz. Protargollösung dar¬
stellende „Viro“-Masse ist eine Herabminderung der baktericiden
Kraft bereits durch Kulturversuch nachgewiesen worden; nach
Dr. Aufrecht braucht dieselbe 2 Minuten, um die Gonokokken ab¬
zutöten, während nach demselben Autor eine gleichstarke Protargol-
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92 de Campagnolle.
glyzerinlösung bereits in 5 Sekunden das Wachstum derselben mit
Sicherheit hemmt.
Das Postulat einer hohen Kontaktsicherheit wird
einzig erfüllt durch Injektionen, die in der von Neisser
geforderten Menge von 8—12 ccm die ganze Anterior füllen, damit
allein die bei der Erektion gegebene Maximalentfaltung der Urethral¬
mukosa herbeiführen, durch den Seitendruck auch eine ausgiebigere
Imbibierung ihrer obersten Schichten ermöglichen. Freilich ist auch
hier ein absolut sicherer Kontaktschutz nicht gegeben, weil dieser
Seitendruck die Drüsenmündungen selbst verschließt und sich den
Weg zu etwa hier eingedrungenen Kokken selbst versperrt.
Der Gedanke, mittels einer Einspritzung nach dem Beischlaf die
Harnröhre zu desinfizieren, stammt schon aus der Zeit, wo man den ab¬
zutötenden Krankheitserreger nicht kannte; Eichrodt empfahl 1810
verdünntes Chlorwasser zur Waschung und Einspritzung nach einem ver¬
dächtigen Beischlaf. Im Jahre 1885 schlug Haussmann eine Ein¬
spritzung von 10 Tropfen einer 2proz. Lapislösung, Ullmann 1897
die Injektion einer Sublimatlösung 1:10000 vor.
Welander wählte 1898 eine 4proz. Protargollösung, zu 5—6 g
appliziert und 10 Minuten zurückgehalten. Welander stützte sich bei
dieser Empfehlung auf eine der Frankschen ähnliche Versuchsreihe.
Er überimpfte frisches Trippersekret auf 15 gesunde Harnröhren und
injizierte nach einem bei jedem Versuche verlängerten Zeitraum; noch
bei einer Zwischenpause von 5 Stunden erfolgte keine Infektion, erst
bei einer solchen von 6 Stunden kam es zu einer milden Gonorrhoe.
Zwar kann diesen Versuchen eine zwingende Beweiskraft nicht ein¬
geräumt werden, denn Welander ließ stets nach dem Koitus urinieren,
so daß also eine Vorbeugung der Infektion hierdurch nicht aus¬
geschlossen ist und die Versuche eigentlich nur die Sicherheit einer
Kombination von Miktion und Injektion belegen; allein schon
aus den oben dargelegten theoretischen Gründen ist unbedingt der In¬
jektion größerer Lösungsmengen der Vorzug vor jedem anderen Des¬
infektionsmodus zu geben.
Wenn Blokusewski gelegentlich einer Kritik der Welander-
schen Prophylaxe gegen die Einspritzungen einwendet, daß „solche
doch nicht sicher sind, weil die Gonokokken, falls sie schon die
Eingangspforte überschritten, unter Umständen z. B. durch Falten
der Schleimhaut schwer erreichbar sein können“, so ist also gerade
das Gegenteil richtig, und gerade dies der Vorzug der In¬
jektion gegenüber der Instillation.
Diesem großen Vorzug einer hohen Kontaktsicherheit reihen
sich noch einige weitere an. Zunächst resultiert aus ihm der
praktisch bedeutsame Vorteil, daß auch eine später vorgenommene
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Über den Wert der modernen Instillationsprophylaxe der Gonorrhöe. 98
Injektion vermutlich noch schutzkräftig wirkt; weiterhin ist infolge
des großen Volumens der antiseptischen Lösung die Zersetzungs¬
und Verdünnungsgefahr durch die in der Harnröhre befindlichen
Sekrete eine beträchtlich geringere, so daß die Konzentration
derselben nicht so hoch gewählt zu werden braucht; schließlich
sei noch erwähnt, daß die Schutzinjektion gleichzeitig eine Eli¬
minationsprophylaxe in sich schließt, d. h. event. nicht abgetötete
Gonokokken auszuspülen vermag.
Allein trotz all dieser Vorzüge vor allen Präventivverfahren
mittels Instillation und Impression wird auch dieser Methode, als
Prophylaxe wenigstens, keine Zukunft beschieden sein, denn
die Lösungen müssen immer noch so hoch konzentriert sein, daß
ein Abtöten der Gonokokken in kürzester Zeit angenommen werden
kann; ein Zurückhalten derselben durch 6—10 Minuten, wie ein
solches Welander bei seinen Versuchen übte, verbietet verständ¬
licherweise der praktische Gebrauch. Aber auch bei nur so
kurzem Verweilen ist die Gefahr der Schleimhautirritation
vermöge der Einwirkung auf die große Oberfläche der
entfalteten Mukosa der ganzen Anterior (einer Einwirkung,
die zudem unter Druck stattfindet) eine sehr hohe. Auch die
harmlosesten der bisher bekannten Silbersalzlösungen wirken in
der noch nötigen Konzentration nicht minder irritierend wie in
der höheren zur Instillation verwendeten Stärke 1 ).
Und noch ein zweiter Nachteil der Injektionsmethode fällt
schwer ins Gewicht: eine zweckentsprechende Einspritzung ist eine
Fertigkeit, die bekanntlich Viele nicht aus der Lektüre der Ge¬
brauchsanweisung, sondern erst durch Demonstration erlernen
können — ein Umstand, der von vomeherein die Schutzinjektion
als populäres Mittel ausschließt.
Es ergibt sich demnach die Unzulänglichkeit aller Methoden,
die den Tripperschutz durch Desinfektion der Harnröhre
post coitum erreichen wollen; die Instillationen und Impressionen
9 Ich habe an mir selbst und einem mir bekannten Mediziner die Reiz-
wirkung von 8proz. Protargol- und 4proz. Albargininjektionen (letztere töten
die Gonokokken nach Piorkowski innerhalb 5 Sek.) 10 Sek. zurückgehalten
und jeden zweiten Tag wiederholt, ausgeprobt. Es kam beim einen sofort, beim
andern später, im allgemeinen noch prompter wie bei den Einträuflungen, die
wir uns früher appliziert hatten, zu stufenweise rasch an Intensität anwachsenden
irritativen Katarrhen; allerdings trat die geringere Reizwirkung des Albargin
hier deutlicher hervor wie bei den Instillationen.
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de Camp&gnolle.
sind bei großer Handlichkeit stets unsicher, die Injektionen bei
hoher Sicherheit unhandlich, alle diese Verfahren aber irritieren,
verstoßen gegen das prinzipielle Postulat der Unschädlichkeit.
Wohl werden dieselben ohne Zweifel noch verschiedentlich
modifiziert werden. Die vorliegende Untersuchung hat ihren
Zweck erfüllt, wenn sie dazu beizutragen vermag, daß
der irritativen Wirkung — die Feststellung der Bedeutung
dieses Faktors glaubt der Verf. in den Mittelpunkt seiner Ergeb¬
nisse stellen zu sollen — eine größere allgemeinere Beach¬
tung geschenkt wird. Wahrhaft fruchtbar wird dieser
Nebenwirkung wegen der Gedanke der desinfektorischen Tripper¬
prophylaxe nie werden; es ist nicht abzusehen, daß dieselbe jemals
mit einem indifferenten Antigonorrhoikum wird vorgenommen wer¬
den können.
Es bedeutet diese Prophylaxe — die große Toleranz des
Plattenepithels mancher Harnröhre ändert daran nichts — eine
fortgesetzte Malträtierung der Urethralschleimhaut. Damit soll
keineswegs geringschätzig über diese Bestrebungen geurteilt werden.
Sie waren ein neuer geistreicher und wichtiger Versuch, der ge¬
macht werden mußte, einfach als letzte Konsequenz der großen
bakteriologischen Entdeckung Neissers. Nur eignet sich die
menschliche Harnröhre nicht als Terrain für energische Abtötungs¬
versuche des Gonokokkus.
Spezielle Prophylaxe und Gesamt-Prophylaxe. — Neue Versuche
in letzterer Richtung.
Müssen wir nun den gescheiterten Versuch dieser Desinfektions¬
prophylaxe als eine verlorene Hoffnung auf ein glänzendes In¬
strument zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten ernstlich
beklagen?
Darauf kann, glaube ich, mit einem bestimmten Nein geant¬
wortet werden. Denn, um das Resultat dieses Kapitels voraus¬
zunehmen: gerade die desinfektorische Tripperverhütung kann
durch die Verbindung mit der (abgesehen vom Kondom) besten
bisher angegebenen Luesprophylaxe — der Einfettung des Glieds
ante coitum — die unbedingt nötige Ergänzung zu einer „Gesamt¬
prophylaxe“ nur in einer Weise erfahren, die den Grund¬
bedingungen eines zweckmäßigen Gesamtschutzes zuwiderläuft.
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Über den Wert der modernen Instillationsprophylaxe der Gonorrhöe. 95
Jede spezielle Tripperprophylaxe bedarf notwendig
der Kombination mit einer solchen gegen Lnes (der weiche
Schanker kann als relativ belanglos unberücksichtigt bleiben, zudem
schließt jede Luesprophylaxe eine solche gegen Ulc. molle ein)
und dies im Hinblick auf die nicht nur im Volke, sondern auch
unter den gebildeten Ständen weit verbreitete Unkenntnis der
sexuellen Krankheitsformen so sehr, daß meinem Dafürhalten nach
überhaupt Apparate zur speziellen Prophylaxe, auch wenn in der
Gebrauchsanweisung auf ihre Einseitigkeit aufmerksam gemacht
wird, separat nicht abgegeben werden dürften.
Blokusewski hat die Selbständigkeit der Tripperprophylaxe damit
verteidigt, daß ein großer Teil von Menschen, die augenblicklich oder
früher von Syphilis Befallenen, ja keinen Luesschutz mehr braucht,
ferner aber auch damit, daß für viele der Wahl ihres Umgangs wegen
nur der Tripperschutz in Frage komme. So wurde in der früheren
Gebrauchsanweisung zum „Samariter“ mit einigen flüchtigen Sätzen:
„der Tripper ist nicht weniger gefährlich wie die Syphilis“, „die An¬
steckung mit Syphilis erfolgt gewöhnlich durch gewerbsmäßige Personen“
(! dazu die langjährigen Erhebungen Blaschkos und anderer über die
Definierung der „Prostitution“!), über die Syphilis hinweggegangen; ganz
am Schlüsse war in klein gedruckter Anmerkung zu lesen: „Glaubt
man sich (!) zugleich gegen Syphilis schützen zu müssen, so fette man
vor dem Beischlaf usw.“ An der Hand solcher Aufklärungen wurde
also dem Ermessen des Laien selbst anheimgestellt, ob Luesgefahr für
ihn vorliege.
Der Virogesellschaft muß nachgerühmt werden, daß sie zuerst
die Notwendigkeit der Duplizität der sexuellen Prophylaxe
begreifend ihre Protargol - Tübchen nur unter Beigabe eines
ganz vortrefflichen, nach dem Prinzipe der Schleichschen
Wachspasta zusammengesetzten Wachsseifencremes (mit 5 Proz.
Lysoform, später 1 Proz. Formalin) in den Handel brachte
und beide Vorbeugungsmaßregeln als gleichwichtig, gleich obli¬
gatorisch anordnete. Hierauf fügte auch Blokusewski seinen
Tropfern eine ähnliche „Wachswaschseifencreme“ (mit 1,6 Proz.
Formalin) bei, zweien seiner Röhrchen ist diese zweite Tube an¬
geschraubt, das Ganze bildet also einen Apparat. Auch werden
in der neuen Gebrauchsvorschrift zu seinen Samaritern nur noch
die Syphilitiker von der Luesprophylaxe entbunden.
Sieht man die ungemein handlichen neuesten Bestecke, dann
möchte man geneigt sein, zu glauben, daß man, falls nur der des-
infektorische Tripperschutz zweckmäßiger gewesen wäre, einen
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96 de Campagnolle.
idealen Schutzapparat vor sich gehabt hätte. Und doch, glaube
ich, wäre dies ein Irrtum.
Zunächst aus dem Grunde, weil dieses kombinierte Schutz-
verfahren eine bestimmte Variante der Luesinfektion außer acht
läßt, das Eindringen von Syphiliskontagium in Kontinuitäts¬
trennungen der Urethra (Urethralsklerose). Ob das post coit.
installierte Antigonorrhoikum in die Harnröhre aufgenommene
Syphiliskeime vernichtet, muß dahingestellt bleiben, jedenfalls gerät
es mit solchen überhaupt nicht sicherer in Kontakt wie mit
den Gonokokken. Jedoch ist die Bedeutung dieses Moments
der Seltenheit dieses Sklerosensitzes wegen nicht allzuhoch anzu¬
schlagen.
Desto schwerer fällt ein zweites Moment ins Gewicht. Wir
können die Verbindung einer Kontaktprophylaxe gegen Lues und
Desinfektionsprophylaxe gegen Gonorrhöe deshalb nicht für glück¬
lich halten, weil es doch nicht allein auf die obligatorische
Kombination von Präventivmitteln gegen die beiden Krankheiten,
sondern ganz wesentlich auch darauf ankommt, daß diese das
Schutzverfahren nicht kompliziert. Eine Autoprophylaxe, welche
zur Eindämmung der Geschlechtskrankheiten dienen soll, kann
ihren Zweck nur erfüllen, wenn sie in allen Volksklassen Ver¬
breitung findet und populär wird. Dies setzt aber größtmög¬
liche Einfachheit voraus. Ein solches Verfahren darf nicht nur
für junge gebildete Leute passen, welche die volle Einsicht der
Gefahr, in der sie schweben, auch vor dem Altar der Venus, auf
dem Heimweg vom Altar des Bacchus, also in doppeltem Rausche
sich bewahren und nüchtern genug sind, um vor und nach dem
Akte mit Schutzmitteln zu hantieren, um vorher die große Tube,
nachher die kleine Tube vorzunehmen. Die Muße, die jedes Schutz¬
verfahren erfordert, ist ja ohnehin ein Ding, das sich der Natür¬
lichkeit des sexuellen Akts, zumal beim recht jungen und gesunden,
also besonders schützenswerten Menschen äußerst schlecht einfügt
— der Hinkefuß aller Autoprophylaxe. Ein Verfahren für
jedermann kann in seiner Handhabung nicht einfach, nicht selbst¬
verständlich genug sein, soll womöglich mit einem Apparate, vor
allem aber in einem Tempo, nicht durch den Beischlaf
getrennt, vorgenommen werden können. Es muß mit einem
Worte jenen Forderungen gerecht werden, die ein längst vorhandenes
Autoprophylaktikum in hohem Maße erfüllt: der Kondom.
Der Kondom ist als Gesamtschutzmittel (von seiner Eigen-
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Ober den Wert der modernen Instillationsprophylaxe der Gonorrhöe. 97
schaft, die Empfängnis zu verhüten, wird hier abgesehen) noch
nicht überholt worden.
Wohl haften ihm Mängel an, allein die neueren prophylaktischen
Versuche sind sicherlich viel weniger dem Wunsch nach einem Ersätze
für das Präservativ entsprungen, als sie durch den Reiz der Analogie
der Cr6d6schen Instillationen angeregt wurden. Sie sind die natürliche
letzte Konsequenz der Neissersehen Entdeckung. Auch den spärlichen
Gebrauch, der im allgemeinen vom Präservativ gemacht wird, dürfen
wir uns nicht lediglich aus seinen Fehlern erklären; vielmehr ist die
Ursache der geringen Popularität darin zu suchen, daß die Anwendung
von Schutzmitteln überhaupt dem natürlichen gesunden Empfinden des
Volks widerstrebt, und die furchtbare venerische Durchseuchung der
Bevölkerung, welche jene bei jeglichem freien Verkehr nötig macht,
eben noch lange nicht ins allgemeine Bewußtsein gedrungen ist.
Dem Kondom wird vor allem vorgeworfen, daß er Fleisch von
Fleisch trennt; dies macht ihn bei beiden Geschlechtern dort häufig un¬
beliebt, wo es zartere, aber beileibe nicht ungefährlichere Ketten sind,
die — eine Schutzmaßregel nötig machen. Dagegen ist der Einwand
der Unsicherheit (Zerreiblichkeit 1 ) — Permeabilität — Unbedecktlassen
der Peniswurzel) bei guten Fabrikaten und richtiger Anwendung ziem¬
lich hinfällig; der berühmte Witz Ricords ist in seiner zweiten Hälfte,
die von einem Spinngewebe gegen die Gefahr spricht, genau so hinkend,
wie manch anderes ins Ohr fallende würdigere Bonmot. Ebenso sind
Störungen der sexuellen Funktion, meist auf der Grundlage einer Colü-
culitis, doch wohl nur bei sehr ausgiebigem Gebrauche zu befürchten.
Ich halte den Kondom für einen Gesamtschutz, der an ein¬
facher und diskreter Handlichkeit nicht wohl überboten werden
kann, und dessen Sicherheit stets weniger von der An¬
wendungsweise abhängig sein wird wie die der chemischen
Prophylaktika; auch Finger erachtet ihn bei guter Qualität
den letzteren weit überlegen. Joseph bemerkt, „er halte es für
eine Pflicht jedes betreffs Ansteckungsschutzes befragten Arztes,
dem Patienten als Prophylaktikum gegen venerische Krankheiten
einzig und allein den Kondom zu empfehlen.“
Dennoch wäre ein neuer guter Gesamtschutz begrüßenswert,
allein schon der verhältnismäßigen Kostspieligkeit guter Präservativs
wegen.
Die klare Erkenntnis, daß ein solcher nur dann mit
dem Kondom erfolgreich konkurrieren kann, wenn er
1 ) Ich verweise diesbezüglich besonders auf die sorgfältigen, schon vor
1872 angestellten interessanten Versuche Prokschs (Proksch, die Ver¬
bannung der venerischen Krankheiten, Wien 1872).
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98
Campagnolle.
diesem an Einfachheit nicht allzu weit nachsteht, hat
neuerdings zu einigen sehr interessanten gesamtprophy¬
laktischen Versuchen geführt; sie knüpfen sich an die Namen
Strebei, Ed. Richter-Plauen und Feibel. Diesen Verfahren ist
eine Neuerung gemeinsam: sie wollen die Präventivmaßregeln gegen
beide Krankheiten dadurch in möglichst enge Verbindung bringen,
daß sie die doppelte Prophylaxe mit einer Schutzmasse anstreben.
Strebei, als erster, empfahl eine mit einem 4 cm langen elastischen
Röhrchen versehene Tube („Urethrophortube“), welche mit einer weichen
Protargolglyzerin-Bolusalba-Paste (mit der Beimischung von etwas Gummi)
zu füllen ist. Vor dem Koitus wird auf die äußere Gliedbedeckung
Inhalt ausgepreßt und allseitig verrieben, ferner auch in die Harnröhre
mit Hilfe des Röhrchens Paste eingebracht Nach dem Koitus Waschung,
Ausspülen der Harnröhre durch Urinlassen. Hierauf Impression von
Tubeninhalt in die Urethra.
Feibes gibt eine Tube an, welche statt des Röhrchens einen
Weichgummikonus trägt. Sie enthält eine „Protektor“ genannte, stark
konzentrierte Lösung von salizylsaurem Hg in einem schleimigen Vehikel,
das der Analyse zufolge, die mitgeteilt wird, Gelatine sein dürfte.
Die Gebrauchs Vorschrift weicht darin von der Streb e Ischen ab, daß die
Einbringung von Lösung in die Harnröhre vor dem Beischlaf nicht
obligatorisch ist, ferner darin, daß erst l / 4 — 1 / a Stunde nach der Appli¬
kation, um eine Reizwirkung durch längere Retention zu vermeiden,
uriniert werden soll.
Ed. Richter läßt den Beischlaf mit völlig ungeschütztem Gliede
ausführen. Hierauf wird uriniert, Vorhautsack und Eichel mit Urin
und Schwefelteerseife gereinigt, sodann die kegelförmige Spitze eines als
„Schutzkerze“ bezeichneten Salbenstiftes mit 40 Prozent grauer Salbe
und */ 4 Prozent Resorciu in der Urethra abgebrochen und in dieser
dem Schmelzen überlassen, der Schaft der Kerze „zur Einfettung und
Desinfizierung der Corona glandis und besonders der Frenulumtaschen“
benützt Statt der Kerze gibt Richter neuestens eine gleichzeitig zur
Injektion dienende Tube an, mit einer Salbe, bestehend „aus Salben¬
grundlage und 1 / 2 pro Mille Sublimat, desgl. Salicyl-Hydrargyrum und
Hydrargyrum succinimidatum, sowie kleineren Dosen von Hydrargyrum
vivum und Resorcin“. Richter fügt noch bei: „Ob diese Manipulation
vorher möglicherweise noch wirkungsvoller ist, wäre zu untersuchen“.
Leider müssen alle diese Methoden als unzulänglich sowohl
gegen Gonorrhöe als auch gegen Lues bezeichnet werden.
Im Punkte des Syphilisschutzes müssen schwere Bedenken
erhoben werden vor allem gegen die Ed. Richter sehe Methode.
Würden wir es wagen, selbst im Besitze eines das Syphilisvirus
absolut sicher vernichtenden Mittels, dieses erst im Gewebe zu
bekämpfen? Kaum. Und ist man berechtigt, das in Fett emul-
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Über den Wert der modernen Inetillationsprophylaxe der Gonorrhöe. 99
gierte metallische Quecksilber oder auch Sublimat in Salbenform
für ein solches Mittel zu halten? Dies wohl noch weniger.
Diese Inunktionsprophylaxe der Lues post coit. ist übrigens
von Behrmann übernommen, der dieselbe jedoch auf die ganze
Unterbauchgegend, Skrotum, Nates usw. ausgedehnt wissen wollte.
Behrmann verlangte auch die Einbringung eines linsengroßen
Stückes grauer Salbe in die klaffend gemachte Urethra unter
wenigstens 10maligem Offnen und Schließen des Orificiums, jedoch
anscheinend nur zur Verhütung von Urethralschanker, ohne wie
später Richter einen Tripperschutz damit zu bezwecken.
Eine ganz andere Sache ist es, beiläufig bemerkt, wenn die lues¬
vorbeugende Inunktion mit grauer Salbe antea vorgenommen wird, wie
dies R. Loeb vorschlug und ausprobierte. Wir haben dann eine Ein¬
fettung des Gliedes und damit jene hohe Sicherheit, wie sie der
Neisser-Josephschen Kontaktpropbylaxe der Lues zugesproeben werden
muß. Aber die Inunktion steht dieser, die indifferente Fette ver¬
wendet, weit nach; wie R. Loeb berichtet, reizt die graue Salbe stark,
ruft Ekzeme und Herpes hervor (was mit den dermatotherapeutischen
Erfahrungen übereinstimmt) und disponiert hierdurch unter Umständen
geradezu zur luetischen Infektion.
Wie R. Loeb halte ich die Neisser-Josephsche Einfettung
nach dem Kondom für den besten, wohl nicht zu übertreflfenden
Luesschutz; sie hat mit der von der Virogesellschaft eingeführten
Verwertung des Prinzips der Schl eich sehen Wachspasta eine
hohe Vollendung gefunden. Ich habe unter ihrem Gebrauch noch
keine luetische Infektion gesehen und kann mir auch ein Versagen
nur dann vorstellen, wenn die Einfettung oberflächlich unter
mangelhafter Berücksichtigung namentlich der parafrenulären
Buchten vorgenommen wird oder so spärlich, daß Einrisse nicht
vermieden werden. Wohl haftet ihr eine Schwäche, die wir schon
berührten, an: sie läßt die Urethra ungeschützt, doch dieser
Übelstand fällt nicht schwer ins Gewicht und kann, wie auszufuhren
sein wird, vielleicht vermieden werden.
Bedenklich sind auch die Mittel Strebeis und Feibes als
Syphilisschutz. Sie dienen zwar als Kontaktprophylaktika gegen
Lues, stehen aber ebenfalls an Zweckmäßigkeit hinter der Neisser-
schen Fetteinreibung zurück. Die weiche, flüssige Glyzerin-Bolus¬
paste und die gelatinierte Hydr. salicyl.-Lösung haften nicht,
weil beide, um gleichzeitig als wirksame Antigonorrhoika fungieren
zu können, absichtlich eine fettartige Beschaffenheit vermeiden. Es
besteht die Gefahr, daß sie während des Akts leicht abgestreift
Zeitsohr. f. Bekämpfung d. Geschlecht skraokh. III S
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de Campagnolle.
werden; bei der Paste ist der Kontaktschutz um so problematischer,
weil sie sich bei den Friktionen äußerst leicht mit den kontagiösen
Sekreten mischt Das Feibessche Prophylaktikum verfolgt gleich¬
zeitig den Zweck, das luetische Virus abzutöten, aber die Des¬
infektionskraft der schleimigen Hydr. salicyl-Lösung ist dem Lues-
kontagium gegenüber eine ebenso fragwürdige wie die der grauen
oder Sublimatsalbe. Ich würde mir nicht getrauen, einem Patienten
zu empfehlen, sich mit diesen beiden Einreibungen aufs Meer der
öffentlichen Liebe hinauszuwagen, noch viel weniger freilich völlig
ungeschützt, wie dies Ed. Richter riskiert
Die Unzweckmäßigkeit der drei Verfahren gegen Gonorrhöe
resultiert aus ihrer Eigenschaft als Desinfektionsprophylaktika. Sie
sind als Impressionen unsicher, mag auch der Protektor im
Kulturversuch ein annähernd so gutes Bactericidum für Gono¬
kokken darstellen wie unsere wäßrigen Protargol- und Albargin-
lösungen, was man hingegen von der grauen Salbe kaum wird
erwarten dürfen. Sie irritieren: nach Angabe der Autoren selbst
erzeugt die graue Salbe in der Harnröhre ein mehrere bis zehn
Stunden anhaltendes Brennen, für den Gebrauch des „Protektor“
wird als Tätlich angegeben, etwa */ 4 bis l / 2 Stunde danach das
Mittel durch Urinieren aus der Harnröhre zu entfernen, „um eine
weitere und unnötige Tiefenwirkung und damit jede Reizung und
spätere Empfindsamkeit zu vermeiden.“
Schließlich verstoßen auch diese Methoden mit Ausnahme der
ßichterschen gegen jene Forderung größtmöglicher Einfachheit,
die an eine populäre Prophylaxe gestellt werden muß, wenn sie
auch einen Fortschritt in dieser Richtung darstellen. Sie benützen
wohl ein Mittel, ein Antiseptikum, aber bei den Strebelschen
und F ei b es sehen Verfahren ist die Prophylaxe ebenso wie bei
„Viro“ und den Blokusewskischen Bestecken vor und nach dem
Akte auszuführen und jener Vorzug geht dadurch verloren.
Dieser Mißstand ist aber unvermeidlich, wenn man an einer
Kontaktprophylaxe gegen Lues festhält und nun damit eine
Desinfektionsprophylaxe gegen Gonorrhöe verknüpfen will. An
ersterer müssen wir festhalten; sie darf durch kein desinfek-
torisches Verfahren nach dem Akt ersetzt werden, solange uns
das luetische Virus und ein starkes Antiseptikum dagegen un¬
bekannt sind, und vielleicht auch dann noch. Aber sind wir zur
Vorbeugung der Gonorrhöe auf den desinfektorischen Weg an¬
gewiesen? Beruht die Inkonsequenz, die äußere Gliedbedeckung
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Über den Wert der modernen Instillationsprophylaxe der Gonorrhöe. 101
sorgfältig gegen Infektion za schützen and die Harnröhre derselben
preiszugeben, auf einer unüberwindbaren Schwierigkeit?
Mit dieser Darstellung stehen wir vor der Erörterung eines
neuen Problems: der Kontakt prophylaxe auch der Gonorrhöe.
Die Erwägung, daß das Glyzerin als Bestandteil der Protargol-
paste imstande sein könnte, vermöge seiner großen Diffusionskraft
und seines großen Adhäsionsvermögens sich fest in jene Epithel-
arrosionen einzusetzen, die man vielfach gerade für die vordersten
Partien der Urethra anzunehmen und als die Haftung der Gono¬
kokken vornehmlich begünstigend zu betrachten hat, und so neben
der Vernichtung der Gonokokken auch mechanisch das Eindringen
derselben zu verhüten, hat Strebei zur Wahl des Glyzerins als
Bestandteil seiner Protargolpaste und zu der Vorschrift bewogen,
bereits vor dem Koitus wie nach demselben Tubeninhalt in die
Harnröhre einzupressen. Der Gedanke einer reinen, chemischen
Kontaktprophylaxe, die das Ziel verfolgt, die Berührung der
Harnröhre mit den Gonokokken — analog der indifferenten Ein¬
fettung des äußern Glieds — überhaupt zu verhindern, ohne diese
gleichzeitig abzutöten, ist dagegen bisher noch nicht erwogen worden.
Es besteht praktisch die Frage: wird es gelingen, eine —
womöglich gleichzeitig zur Syphilisprophylaxe geeignete — völlig
indifferente fettartige Substanz zu finden, die ebenfalls vor
dem Akte mittels (der gleichen) Drucktube in die Fossa gebracht,
bei kurzem Verreiben von außen die Schleimhaut mit einer Fett¬
decke überzieht, stark genug adhärent, um durch die Ejakula¬
tion nicht fortgerissen, löslich genug, um durch den Harnstrahl,
teilweise wenigstens, ausgespült zu werden? Die Wasserlöslichkeit
darf eine gewisse Grenze nicht überschreiten, um nicht die Imper¬
meabilität der Urethralschleimhautdecke durch Mischung (Durch¬
tränkung) mit eingedrungenem Trippersekret zu gefährden und
nicht ebenso, falls, wie wünschenswert, dieselbe Masse zur Ein¬
fettung der äußern Gliedbedeckung dienen soll, eine Lösung und
Abstreifung dieses Fettüberzugs durch Scheidensekret bei protra-
hierterem Akte befürchten zu lassen.
Der Gedanke einer solchen Gesamt-Kontaktprophylaxe
hat etwas Verlockendes. Es ist vor dem Akte nicht nur das
Glied, sondern ebenso der vorderste Teil der Urethra mit
einer Schutzdecke, mit einem Kondom aus Fett überzogen.
Außerdem befindet sich noch Impressionsmasse im freien Lumen,
die wohl die Kraft des Samenstrahls abschwächt und dadurch,
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de Campagnolle.
worauf schon Strebei hinweist, die hypothetische Aussaugung von
virulentem Sekret durch den negativen Luftdruck verhindert. Die
Fettfüllung verengert zudem das Kaliber der Fossa und des Ori-
ficiums, ein Umstand, der gleichfalls das Eindringen von Sekret
in die Harnröhre erschwert. Etwa aufgenommenes Trippersekret
gelangt nicht in Kontakt mit der Schleimhaut und bleibt, auch
wenn nicht sofort, vielleicht erst nach Stunden durch ausgiebiges
Urinieren mit der Decke abgespült, unschädlich, da die Gonokokken
auf dieser Masse keine Aktivität entwickeln.
Die Vornahme der Prophylaxe wäre die denkbar einfachste
und selbstverständlichste: Impression zuerst in die Fossa, hierauf
auf die Eichel, dann kräftige Einreibung des ganzen Glieds, be¬
sonders der Unterseite stets vom Orificium an nach hinten;
damit wäre ohne diesbezügliche Anweisungen sowohl die Verreibung
des in der Harnröhre befindlichen Materials, wie die Berücksich¬
tigung der parafrenulären Taschen gewährleistet Nach dem Bei¬
schlaf Waschung. Hierauf könnte sich die ganze Gebrauchsvor¬
schrift beschränken.
Dieser universelle Kontaktschutz würde jedenfalls jener For¬
derung genügen, die dem Postulate absoluter Sicherheit noch
voranzustellen ist und, wie ich darzulegen versuchte, von einer
Desinfektionsprophylaxe überhaupt niemals erfüllt werden kann,
der Forderung der unbedingten Unschädlichkeit. Indessen wird
er diese Prophylaxe an Sicherheit übertreffen können? Ob ein
Fettkörper dargestellt werden kann, der die oben genannten Eigen¬
schaften besitzt, vor allem die, eine kräftig haftende Uberkleidung
der Urethralmukosa zu bilden, vermag gewiß letzten Endes der
Chemiker allein zu entscheiden; meine eigenen Versuche, die ich
mit verschiedenen vorhandenen Fettkörpern (darunter Ungt. Caseini,
Wachspasten) vornahm, wobei Bildung und Beschaffenheit der
Schleimhautdecke mit Tuben schwächeren Kalibers endoskopisch
kontrolliert wurde, führten allerdings zu keinem sehr ermutigenden
Resultate.
Am Schlüsse meiner Arbeit habe ich noch die angenehme
Pflicht zu erfüllen, den Herren Geheimrat Neisser und Blaschko
für einige wichtige Literaturhinweise geziemenden Dank auszu¬
sprechen.
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Über den Wert der modernen Instillationsprophylaxe der Gonorrhöe. 103
Anhang.
Infektionsfölle.
B., cand. med. — Frägt gelegentlich einer Aknebehandlung nach
einem Gonorrhoeprophylaktikum. — Noch nie gonorrhoisch erkrankt.
In letzter Zeit etwas gehäufte Pollutionen, präzipitierte Ejakulation,
verringertes Wollustgefühl. Gibt an, frühzeitig und lange masturbiert
zu haben. — Sehr robuste Konstitution, guter Ernährungszustand.
Leichte Varicocele links. Nebenhoden, Samenstränge, Orific. ur. ohne
Befund. Morgenurin in allen Portionen klar, fadenfrei. Prostata nor
mal, ihr Sekret ohne Leukozyten. Samenblasen nicht palpabel. Unter¬
suchung des Colliculus und Kühlsondenbehandlung nicht zugegeben.
— Beim Radfahren, das stark betrieben wird, manchmal Ziehen im 1.
Hoden, aber nie Miktionsschmerzen oder Sekret. —
Erhält Protargol. — Benützt dasselbe in Intervallen von zirka
8—10 Tagen ohne Schmerz und Ausfluß. Nachdem er die Instillation
einmal innerhalb weniger Stunden gegen meinen Rat wiederholt, tritt
regelmäßig etwas Stechen nach der Einträufelung ein und in den nächsten
Stunden etwas farbloses, rasch schwindendes Sekret. Nach ungefähr sechs¬
maligem Gebrauch stellt sich mir B. mit schleimig eitrigem Aus¬
fluß vor, der schon seit einer Woche auf gleicher Höhe bestehe; er
glaubt an eine Gonorrhoe, da die Miktion etwas schmerzhaft wird.
Täglich angefertigte Sekretpräparate, stets gonokokken-, überhaupt bak¬
terienfrei, bestätigen diese Befürchtung nicht; der irritative Katarrh
klingt rasch unter dem Gebrauch von Balsamicis und einiger Diätsorge
ab. — Etwa 2 Wochen später, nach der nächsten Instillation erscheint
B. neuerdings mit — gonokokkenfreiem — Ausfluß, dabei geringe Be¬
schwerden. Da der Katarrh diesmal trotz der genannten einfachen
Therapie nicht schwinden will, wird am 10. Tage mit milden Diday-
schen Kalipermanganatspülungen begonnen, aber nur mit dem Erfolge,
daß während 20—24 Stunden die Absonderung verschwindet, um dann
desto reichlicher wiederzukehren. Gonokokkenbefund bei täglich wieder¬
holter Untersuchung stets negativ. —
Am 20. Tage tritt plötzlich — ohne daß irgend welche Unter¬
suchungen der Posterior vorgenommen worden wären und ohne daß der
Patient seinen Angaben nach sich Exzesse hätte zu schulden kommen
lassen, es könnten höchstens eine mehrtägige Obstipation und mehrere
Pollutionen beschuldigt werden — gehäufter Harndrang, auch des Nachts,
bald auch Tenesmus ein. Der Urin in allen Portiouen trüb. Keine
terminale Blutung. Milchdiät, Aspirin, heiße protrahierte Sitzbäder,
Opiate beseitigen diese Miktionsstörungen innerhalb Kurzem, auch die
Sekretion der Harnröhre ist sehr gering geworden. Dagegen stellen
sich abendlicher Druck im Kreuzbein und gehäufte Pollutionen ein.
Die Palpation der Vorsteherdrüse ergibt keinen Befund, ihr Sekret
enthält zahlreiche Leukozyten und vereinzelte Spermatozoon, keinerlei
Mikroorganismen. Eine Massagebehandlung der Prostata wird
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104
de Campagnolle.
nicht zugestanden. Die subjektiven Erscheinungen seitens dieser und
des Colliculus nehmen rasch ab, dagegen ist der Leukozytenbefund im
Prostatasekret 8 Wochen später noch positiv, auch enthält nach der
Irrigationsprobe das erste Glas noch Filamente im leicht diffus getrübten
Urin. — B. hatte sich den ganzen Entzündungsprozeß, der ihm ab¬
gesehen von den akuten Symptomen von Seiten der Posterior sehr ge¬
ringe Beschwerden verursachte, sehr wenig zu Herzen genommen; er
nimmt in den Ferien seine alte Lebensweise wieder auf. Die geringe
Sekretion besteht seiner brieflichen Mitteilung zufolge nach viermonat¬
licher Dauer ohne Remissionen und Exazerbierungen noch auf ziemlich
gleichbleibendem Niveau unverändert fort.
Kurz nach Beginn des W.-Sem. erscheint B. wieder in meiner
Sprechstunde, nachdem er 37 Stunden zuvor koitiert und, ohne vorher
urinieren zu könneu, von einer frischen Albarginlösung instilliert hat.
Er klagt über zunehmende Schmerzen beim Harnlassen. Der fast rein
eitrige freie Ausfluß enthält massenhaft Gonokokken teils in freien
Haufen, meist intrazellulär. — 0,25 proz. Protargolinjektionen. — Am
12. Tage post infekt. stellen sich starke, in den Mastdarm irradierende
Kreuzschmerzen ein, besonders am Schluß der häufiger werdenden und
krampfhaft abschließenden Miktion. Es gesellen sich Schmerzen beim
Sitzen, bei der DefUkation hinzu. Die sehr schmerzhafte Rektalunter¬
suchung ergibt diffuse Schwellung der prominenten heißen Drüse; das
exprimierte Sekret ist rein leukozytär, aber ohne Gonokokken. Nach
5 Tagen erfolgt der Durchbruch ins Rektum, darauf Remission aller
Symptome.
12 Tage nach der Perforation ist der aus der Posterior stammende
Urin (Irrigationsprobe) bis auf einige zarte transparente Häkchen völlig
klar und fadenfrei, die Prostata klein, fest, unempfindlich, ihr Sekret
enthält noch vereinzelte Leukozyten. Die Gonokokken sind nach jener
Perforation aus den Präparaten verschwunden, sowohl aus den Urethral¬
sekreten, wie aus den über der Knopfsonde gewonnenen Drüsensekreten.
Der terminale Katarrh erweist sich trotz guter Selbstpflege des
Patienten und trotz Vermeidung einer künstlichen Unterhaltung desselben
durch allzu eifrige chemische Behandlung, als sehr hartnäckig.
v. C., Mediziner. — Bisher nie geschlechtskrank. Frägt
gelegentlich der Operation eines zu kurzen und straffen Frenulums, ob
es eine bessere Prophylaxe gäbe, als der „Samariter“ mit Höllenstein¬
füllung, den er in Berlin seit einigen Monaten mit zuweilen starkem
Brennen (auf Ausfluß hat er nicht geachtet), übrigens mit Erfolg —
nach Vorschrift urinierte er stets unmittelbar nach dem Verkehr —
gebraucht hat. Er fragt, weil ein Kollege von ihm sich trotz dieser
Prophylaxe infizierte.
Ich empfehle Protargol mit dem Rate, auch bei dieser Lösung
stets unmittelbar nach dem Akte zu urinieren. — v. C. gibt an, nach
den Protargoleinträufelungen geringere Schmerzen wie nach den Lapis¬
instillationen zu haben. Außer geringer Rötung des Orificiums, leichter
Verklebung desselben, etwas dunkler Färbung und Sukkulenz der Schleim¬
haut ist objektiv nichts zu bemerken. —
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Über den Wert der modernen Instillationsprophylaxe der Gonorrhöe. 105
Am 5. Tage nach der 8. Instillation erscheint Pat. mit muköser
Sekretion, die er am Abend zuvor bemerkte. Reichlich Gonokokken,
teils frei, teils intrazellulär. Pat. hält den Umstand, daß er gerade
diesmal post coit. nicht urinieren konnte, für den Grund seiner In¬
fektion.
Der Gonokokkenbefund ist bereits vom 12. Tag ab negativ. Pat.
wird nach 4 Wochen mit flockenreinem Morgenurin vorläufig, 14 Tage
später (Probeexzesse, Coit. condomat.) als definitiv geheilt entlassen.
St., cand. jur.. — Herp. praeput. — Erkundigt sich nach dem
„Samariter“. Bisher noch nie geschlechtskrank.
Erhält Protargol. — Wendet die Methode ungefähr einmal
wöchentlich fast 2 Monate hindurch an, stets sofort nach dem Koitus
urinierend. Nach den ersten Einträufelungen tritt weder Schmerz noch
der geringste Ausfluß ein. St. ist von der Prophylaxe so befriedigt,
daß er es wagt, den Umgang mit einem Mädchen nach Wochenfrist zu
wiederholen, an dessen sexueller Gesundheit er zweifelt; dieser Zweifel
erweist sich als begründet, denn ein Freund, welcher mit dem Mädchen
kurz vor Sts. erstem Verkehr Umgang hatte, tritt mit frischer Gonorrhoe
in ärztliche Behandlung. St. bleibt ohne jedes Sekret. Er gibt an,
schon einmal ein, wie er später erfuhr, tripperkrankes Frauenzimmer
ungestraft koitiert zu haben; er schreibt dies seiner Gewohnheit zu, so¬
fort zu urinieren. Auf die weiteren Einträufelungen stellt sich gelindes
Brennen ein, es kommt jedesmal zu einer schleimigeitrigen, sich immer
gonokokkenfrei erweisenden Sekretion, die anfänglich in wenigen Tagen
wieder verschwindet, sukzessive aber mehr Zeit, bis zu 8 Tagen zur
Abheilung beansprucht, auch als ich ein Vertauschen des Protargol mit
Albargin veranlasse.
Der letzte irritative Katarrh war noch nicht völlig geheilt — es
war zwar keine Sekretion mehr vorhanden, jedoch enthielt die erste
Portion des Morgenurins, diffus getrübt, leukozytenhaltige Flocken —
als sich St. trotz sofortigen, allerdings nicht reichlichen Urinierens und
trotz vorschriftsmäßiger Anwendung der Prophylaxe infiziert. St. stellt
sich mir bereits 9 Stunden post coit. et inst. vor. Das Sekret, das
sich äußerlich nicht von dem früheren irritativen unterscheidet, enthält
zahlreiche Eiterzellen, Gonokokken ausschließlich in freien Haufen, nur
wenige Epithelien mit ihnen bedeckt. Am nächsten Tage (33 Stunden
post, c.) hat der Ausfluß unter stark aggravierenden Miktionsschmerzen,
Fieber und allgemeinem Unwohlsein beträchtlich zugenommen. Das
Präparat zeigt jetzt einen kleinen Teil der Gonokokken in Eiterzellen
inkludiert, ferner Erythrozythen. Trotz Bettruhe und energischer Anti-
phlogose kommt es zu lymphangoitischen Erscheinungen (Schwellung des
ganzen Glieds und der dorsalen Stränge, Orificium und Vorhautödem),
die erst am 12. Tage sich involvieren. Damit bricht sich auch die
Akme, freilich werden die Kokken in dem verminderten Sekret nicht
weniger, eher nehmen sie zu. Dieses Stadium einer spärlichen muko¬
purulenten Sekretion hält nun unverändert an und ist bei guter Selbst¬
pflege des Patienten weder durch Didaysche noch durch Druckspülungen,
weder durch reine Antiseptika noch antiseptische Adstringentien irgend
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de Campagnolle.
günstig zu beeinflussen. Die Lokalisationskontrolle mittels Jadassohns
Irrigationsprobe zeigt dabei stets eine ausschließliche Erkrankung der
Anterior, Prostatapalpation und Sekret ohne Befund.
In der 8. Woche bemerkte ich eine von außen auch ohne Sonden-
einlage tastbare spulige Turgeszenz des ersten Drittels der Pars pend.,
etwa zur Hälfte der Pars gland., zur Hälfte der Pars cavern. angehörig.
Das Urethrometer (enges Orificium) ergibt ein Infiltrat dieser Urethral¬
partien, ohne eigentliche oder wesentliche Kaliberverminderung, dagegen
von ziemlich derber Resistenz.
Die Rückbildung unter Salbensonden (1—5proz. Ich thargansalbe)
und Spüldehnungen (Ichthargan und Hydr.oxycyanat. 0,25 bis 0,5:2000)
verlief sehr schleppend; das Infiltrat war fast geschwunden, äußerlich
nicht mehr tastbar, als die reaktiven Sekrete immer noch Gonokokken
führten. Die Behandlungsdauer von der Diagnose der weiten Striktur
bis zum ersten definitiv gonokokkenfreien Präparat betrug 11 Wochen.
M., Bankbeamter. — Phimose, Balanitis. Wird auf die hierdurch
erhöhte Ansteckungsgefahr und auf das Instillationsverfahren aufmerksam
gemacht. — Gibt an, vor 14 Monaten eine (erste) Gonorrhoe mit
Posterior durchgemacht zu haben, sei 6 Wochen in Behandlung ge¬
standen. — Morgenurine in jeder Portion vollständig klar, ohne Fila¬
mente. Prostatapalpation, Kalibrierung ergibt normalen Befund.
L. Yaricocele (früher exzessive Onanie). —
Erhält Albargin. Auf die ersten Einträufelungen bemerkt M.
keinen Ausfluß, dann konsultiert er mich zweimal wegen purulenten
Sekrets und Stechen in der Harnröhre mit der Frage, ob er sich trotz
der Prophylaxe infiziert habe. Beidemale erweist sich die Sekretion
gonokokkenfrei, als rasch schwindender irritativer Katarrh.
Zwei Monate später besucht mich M. wieder mit Ausfluß, der
bereits 3 Wochen bestünde; da er seit Nachts Frost und Ziehen im
linken Samen sträng fühle, sei er nun ängstlich, ob nicht diesmal der
Ausfluß doch ein Tripper sei; leider habe er letzter Tage einmal —
mit Kondom, wie er versichert, — koitiert. Er hätte die Sekretion
der geringen Schmerzen wegen wieder für einen Reizkatarrh gehalten
und es aus äußeren Gründen vermieden, früher sich vorzustellen. Vor
jener Instillation hat M. uriniert, erinnert sich aber nicht mehr, ob in
reichlicher Menge. — Gonorrhoe der ganzen Urethra. Die drohende
Epididymitis läßt sich trotz sofortiger Bettruhe, Laxantien, Hochlagerung
des Hodens und Applikation von Jodvasogen und Bleiwasser nicht mehr
aufhalten. Der Pat. entzieht sich meiner Behandlung 11 Wochen post
inf., Gonokokken waren unmittelbar vorher noch nachweisbar.
E., Rechtspraktikant. — Stand früher, vor 9 Monaten, einer
(ersten) Gonorrhoe wegen, die unkompliziert verlief, in meiner Behand¬
lung. — Der Urin zeigt im ersten Glas, bezw. bei der Irrigationsprobe
im Spülwasser, daß auch bei Verwendung einer größeren Menge von
Borlösung nie ganz klar abfließt, dieselben reichlichen scholligen Elemente
wie vordem bei E.s Entlassung. Aus dem Morgenham zentrifugiert,
erweisen sich dieselben wieder als vielfach mit Kokken und Doppelstäb¬
chen bedeckte Epithelien und Ketten von solchen. Kaliber der Urethra
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Über den Wert der modernen Ins tillationsprophy laxe der Gonorrhöe. 107
normal, nirgends Herabminderung der Dilatabilität, kein zirkumskripter
Prozeß. —
Erhält ProtargoL — Schon am Tage nach der ersten Instillation
stellt sich E. mit einem schleimeitrigen Ansfluß vor, der sich in geringer
Menge ständig zwischen den Lippen des Orificiums befindet. Das erste
Glas ist jetzt diffus stärker getrübt. Das Sekret wird stets bei täglicher
Untersuchung frei von Gonokokken, überhaupt Bakterien befunden und
verschwindet ohne Therapie am 3. Tage. Es restieren die früheren
epithelialen Schollen.
Nach bald darauf vorgenommener neuerlicher Einträufelung tritt
ebenfalls mehrere Tage hindurch eine viermal untersuchte gonokokkenfreie
Sekretion auf. 18 (20) Stunden nach dritter Anwendung der Prophylaxe
erscheint E. wieder mit Ausfluß. Dieser besteht fast ausschließlich aus
Eiterzellen mit Gonokokken, teils in freien Haufen, teils intrazellulär
gelagert. — Pat. hatte mit demselben Mädchen bereits eine Woche
vorher unter Anwendung des Schutzverfahrens, das den letzten irritativen
Katarrh zur Folge hatte, Umgang gehabt. Das Mädchen war bestimmt
schon damals tripperkrank, da es eiDgestand, bereits seit Monaten wegen
„Gebärmutterkatarrbs** in ärztlicher Behandlung zu stehen, den es wegen
nachlassenden Fluors nicht mehr für ansteckend hielt. E. hat stets sofort
und vorschriftsmäßig nach dem Akte instiiliert, gibt aber an, daß er
beidemale post coit. nicht urinieren konnte. — Die eitrige Sekretion
nimm t rapid zu unter steigenden Miktionsschmerzen. Die Gonorrhoe
bleibt auf die vordere Harnröhre beschränkt, die Gonokokken verschwinden
zu Ende der dritten Woche dauernd aus dem Sekrete. Nach Versiegen
der Sekretion zu provokatorischem Zwecke mehrmals vorgenommene
Metallsondeneinfuhrungen und vorsichtige Dilatierungen ergeben gute
Elastizität und in den prompt abklingenden reaktiven Sekreten niemals
Gonokokken. Der Morgenham bietet wieder das frühere Bild scholliger
leukozytenfreier Elemente, endoskopisch zeigen sich die vorderen Urethral¬
partien diffus graulich mattiert mit vereinzelten prominenten roten
Krypten. Nach reaktionslos, auch ohne Auftreten von Leukozyten in
den Filamenten vertragenen Probeexzessen in Alcoholicis und Coit. con-
domat Entlassung in der 8. Woche. Zu einem Versuch, den alten
desquamativen Katarrh mittels einer systematischen Massagebehandlung
(Sondenstifte) zu bekämpfen, kann sich E. nicht entschließen. —
K. — Ulcera gummat. an beiden Unterschenkeln. Vor drei Jahren
eine Gonorrhoe, die ohne Komplikationen unter Argonininjektionen trotz
anstrengender Bergtouren in 6 Wochen ausgeheilt sei. — Robuste Kon¬
stitution. Blühendes Aussehen. — Kein Befund an Nebenhoden, Samen¬
strängen. Morgenurin klar und fadenfrei. Prostata normal und ohne
Empfindlichkeit, ihr Sekret leukozytenfrei. Kaliber und Dilatabilität
der Harnröhre normal, das ausgedrückte Drüsensekret frei von Eiter¬
zellen.
Erhält Alb argin. — Wendet die Prophylaxe einmal ohne Brennen
und Ausfluß, auf den er sorgsam achtet, an.
Vier Tage nach der zweiten Einträufelung stellt er sich mit schleimig
eitrigem Ausfluß ein, den er seit Morgens bemerkt. Schmerzen sind
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de Campagnolle.
im Verhältnis za denen bei der ersten Gonorrhoe so gering, daß er
nicht an Tripper glaubt. Hat vorschriftsmäßig instilliert, gibt an, sofort
und ausgiebig uriniert zu haben. Intrazelluläre Gonokokken. Der
Prozeß bleibt auf die Anterior beschränkt. Vom 22. Tag ab Gono¬
kokkenbefunde ständig negativ, auch in den auf Probedilatationen fol¬
genden reaktiven Sekreten. Kurzer terminaler Katarrh. Es restieren
keine Filamente.
G., cand. med. — Dieser Pat. — lymphatische Konstitution, hell¬
blond — hat bereits zwei Gonorrhoen durchgemacht; die erste verlief
unkompliziert, der Verlauf der zweiten, die er vor l s / 4 Jahren akquirierte
und die ich zu Anfang und Schluß selbst behandelte, bot einiges In¬
teresse.
Der Tripper setzte typisch subakut ein mit kurzer Akme, die einer
Sekretion von bereits torpidem Charakter wich. Dieselbe war, als E.
9 Wochen post inf. in die Ferien abreiste, wo er in andere Behandlung
überging, noch rein leukozytär und gonokokkenführend. — Nach etwa
*/ 4 Jahre, also ungefähr 5 Monate post inf., kehrte Pat. mit schleimiger,
spärlich leukozytenführender gonokokken freier Absonderung und der
Diagnose eines terminalen Katarrhs in meine Behandlung zurück. Diese
Diagnose war gestellt worden auf Grund zweimaliger provokatorischer
Sublimatinjektion, worauf die reaktiven Sekrete sich gonokokkenfrei er¬
wiesen hatten.
Nach einigen Wochen frachtloser Selbstbehandlung mit verschiedenen
Schüttelmixturen ersucht mich Pat. um eine eingehende Exploration der
Harnröhre. — Irrigationsprobe: Posterior gesund. Prostata in Kon¬
figuration, Empfindlichkeit und exprimiertem Sekret normal. Das Urethro-
meter (enges Orificium) zeigte in der Mitte der Pars pend. eine beträcht¬
liche Dilatabilitätsherabsetzung — weite Striktur.
Am Tage nach der Untersuchung im vermehrten Morgensekret
reichlich Gonokokken. Unter mechanischer Behandlung zunächst mit
Metallstiften steigenden Kalibers, bestrichen mit 1 und 5proz. Ichthargan-
Vasogen, später Spüldehnungen (Ichthargan 0,5:1000) wurde in
2 1 / 3 Monaten der umschriebene Prozeß und der durch ihn unterhaltene
und ihn maskierende diffuse, vermeintlich postgonorrhoische Katarrh bis
auf schuppenfiörmige rein schleimig-epitheliale Filamente in der völlig
reinen Harnportion beseitigt. Ich entließ den Pat. vorläufig mit dem
Ersuchen, sich noch wiederholt in 6 wöchigen Intervallen zur urethro-
metrischen und endoskopischen Kontrolle auf etwaiges Rezidivieren des
Infiltrats bei mir einzufinden. — Die Dilatabilität blieb eine normale,
das endoskopische Bild der Mukosa zeigte stets guten Epithelglanz.
Trinkexzesse wurden ohne irgend eine Modifizierung der Zusammensetzung
des desquamativen Filaments toleriert. — G. enthielt sich dann fast ein
Jahr hindurch des Beischlafs und frug gelegentlich nach einem Tripper-
prophylaktikum , da er Kondoms nicht benutzen will.
Erhält Albargin. — Schon die erste Einträufelung erzeugt bei
geringem Schmerz einen 4 Tage währenden schleimigen Ausfluß, der
täglich untersucht niemals Gonokokken enthält. Vom 5. Tage ab zeigen
die ersten Morgenurinportionen wieder dieselben Filamente wie zuvor.
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Ober den Wert der modernen Instillationsprophylaxe der Gonorrhöe. 109
— Die zweite und dritte Instillation — es wird nun Protargol ver¬
wandt — wird innerhalb weniger Stunden vorgenommen. Am nächsten
Tage rein eitriger Ausfluß. Die Einträufelungen haben wenig Schmerz
gemacht, Miktionsschmerzen gering. Sekret stets gonokokkenfrei. Da
dasselbe spontan nicht schwindet, nehme ich auf Wunsch des Pat. täg¬
lich, später jeden zweiten Tag Didaysche, dann Druckspülungen der
Anterior mit übermangansaurem Kali vor. Daraufhin werden die
Leukozyten spärlicher, es treten Epithelien hinzu; ein weiterer Fort¬
schritt ist jedoch nicht zu erzielen, daher Sistierung dieser lokalen Be¬
handlung und Beschränkung auf diätetische Maßnahmen.
Nach 7 Wochen dasselbe Bild. Eine jetzt vorgenommene Kali¬
brierung läßt neuerdings ein allerdings noch nachgiebiges Infiltrat an
der alten Stelle erkennen, jedoch nach vorne gegen die Pars gland. hin
verbreitert. — Trotz des bestehenden Ausflusses wird sofort eine neuer¬
liche Dilatationsbehandlung begonnen. Es tritt keine Aggravierung der
Urethritis ein, im Gegenteil nimmt die Sekretion sukzessive ab. Nach
zweimonatlicher instrumenteller Behandlung ist die Dehnbarkeit wieder
hergestellt. Freilich besteht der muköse Katarrh auf geringer Höhe
noch fort und zwar auch nach Aussetzen jeder örtlichen Therapie, bleibt
aber auch auf wiederholte scharfe alkoholische Exzesse hin völlig stabil.
Eines Tages gesteht G., am Vorabend koitiert und aus Ängstlichkeit
am nächsten Morgen neuerdings installiert zu haben, es hätte sich jedoch
keine Verstärkung der bisherigen Absonderung eingestellt. Ich überzeuge
mich während der nächsten Tage selbst von dem Ausbleiben jeder
Reaktion. —
Ich sehe den Pat. nach einem Monat wieder. Da die letzte In¬
stillation ohne irritierende Folgen geblieben, hat er vor 3 Tagen nach
einem Beischlaf, aber nicht unmittelbar, sondern erst 6 Stunden nach
demselben wieder eine solche vorgenommen, vorher nicht uriniert. Es
ist darauf unter Miktionsschmerzen eine starke Vermehrung des ständigen
Sekrets eingetreten, das rahmigen Charakter annimmt. Die Diagnose
Gonorrhoe hat G. bereits selbst durch Präparate gestellt Intra¬
zelluläre Gonokokken. Der profuse eitrige Ausfluß, die stark an¬
wachsenden Schmerzen beim Wasserlassen, die rasch sich einstellende
Chorda veranlassen den Patienten, dessen zweiter Tripper meiner eigenen
Beobachtung zufolge typisch subakut eingesetzt hatte, zu der Bemerkung,
daß dies ja wie beim ersten Tripper sei. Die Eichelspitze und das
Präputium sind ödematös geschwellt, ebenso der dorsale Lymphstrang.
Dem Pat., der in die Herbstferien nach Hause reist, wird dringend an¬
geraten, unter Antiphlogose und strenger Diät von jeder topischen Be¬
handlung bis zum Abklingen der Entzündungserscheinungen Abstand zu
nehmen. G. beginnt jedoch zu Hause sofort in energischer Weise mit
bakteriziden Injektionen. Die Folge ist eine sehr protrahierte, etwa
fünfwöchige Akme. Die hintere Harnröhre bleibt stets frei, wie Pat.
selbst nach gründlicher Ausspritzung der Anterior mehrmals feststellt.
Als sich mir G. nach S 1 ^ Monaten wieder vorstellt, macht er
mich auf einige seit kurzem an der unteren Harnröhren wand fühlbare
körnige Einlagerungen aufmerksam; auf Druck besteht noch Morgensekret
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de Campagnolle.
mit Gonokokken. Ebenso enthält das nach Ausspülung der vorderen
Harnröhre mittels der Knopfsonde ausgedrückte Drüsensekret noch Eiter¬
zellen und Gonokokken. Die Palpation ergibt nach Sondeneinlage neben
jenen körnigen Einlagerungen eine gewisse Rigididät der vorderen Pars
pend. Das Urethrometer zeigt die Dehnbarkeit dieses Harnröhrenteils
in der ganzen Breite des während der irritativen Urethritis aufgetretenen
Infiltrats zum dritten Male und mit ziemlicher Resistenz herabgemindert.
S., Kaufmann. — Hat vor dem Gebrauch des Schutz Verfahrens
eine Strikturbehandlung bei mir durchgemacht. — Kräftige, etwas apo-
plektische Konstitution. Hämorrhoiden. Potator. — Einzige Gonorrhoe vor
zirka 4 Jahren, die ohne Komplikation in etwa 10 Wochen geheilt sein soll.
Striktur der Pars cavernosa vor dem Bulbus. Metallsonden 18 bis
28, Dilatationen 28—36, teilweise als Spüldehnungen. Die reaktiven
Sekrete werden 22 mal auf Gonokokken untersucht, stets mit negativem
Resultat. — Befund am Schlüsse der 3 monatlichen instrumentellen Be¬
handlung: die der Orifiziumweite entsprechende Sonde passiert die
frühere Strikturstelle ohne Widerstand, dabei äußerlich nur eine schwache
Verdickung an dieser Stelle palpabel. Die Dehnbarkeit ist dieselbe wie
an den vorderen Teilen der Pars cavernosa. Endoskopisch gute Faltung
und Farbe an der früheren Strikturstelle, die im Epithelglanz etwas
matter ist. Narben nicht erkennbar. Schleimig epitheliale Filamente
mit spärlichen Leukozyten in klarem Harn. — S. wird noch durch
5 Monate, während welcher er seine gewöhnliche Lebensweise wieder
aufnimmt, in 6 wöchigen Intervallen zur Kontrolle bestellt. Der urethro-
metrische und endoskopische Befund bleibt dauernd gut.
S. erhält auf Wunsch Protargol. — Die ersten Einträufelungen
erzeugen Brennen und Stechen bei der Miktion. Nach der vierten In¬
stillation — schon auf die dritte soll sich einiger Ausfluß gezeigt haben —
erscheint S. mit stark purulenter Sekretion. Die Präparate ergeben
einen irritativen Katarrh, der 5 Tage währt.
Nach einer der nächsten Einträufelungen erscheint S. wieder. Er
hat diesmal selbst einige Tage gewartet, ob der nun regelmäßig auf die
Prophylaxe sich einstellende Ausfluß nicht verschwinden würde. Dieser
erweist sich, jeden zweiten Tag untersucht, stets gonokokkenfrei, jedoch
trotz Beobachtung einer leichten Tripperdiät und später vorgenommener
milder adstringierender Spülbehandlung, die nur vorübergehend die Ab¬
sonderung herabzudrücken vermag, äußerst hartnäckig. Stets, wenn S.
stärker an Obstipation und Hämorrhoidalbeschwerden leidet, in den
Stadien praller Füllung der Knoten vermehrt sich merklich die Sekretion,
vermutlich unter dem Einfluß einer korrespondierenden Kongestion der
Urethralmukosa. Eine mechanische Behandlung des Katarrhs (mit Sonden¬
stiften) die in diesem Falle, wie der weitere Verlauf lehrte, zur Pro¬
phylaxe neuer Infiltration (bezw. Strikturrezidivs) sehr indiziert gewesen
wäre, gibt der seinem Katarrh gegenüber („lieber ein Dutzend Katarrhe,
als ein Tripper“) sehr tolerante Pat. nicht zu. Nach 7 Wochen erfolg¬
loser Behandlung des Katarrhs wird S. mit der Anordnung einer ein¬
geschränkten Diät, Zurückhaltung in Baccho et Venere und Sorge für
stets glatten Stuhl entlassen.
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Über den Wert der modernen Instillationsprophylaxe der Gonorrhöe. Hl
Bei seinem nächsten Besuche, ein Monat später, ist der Zustand
genau der alte. Das Morgensekret stark leukozytenhaltig, gonokokken¬
frei, durch zahlreiche Bakterien verunreinigt. Die Knopfsonde läßt eine
sammtartige Sukkulenz der gesamten Anterior, keine Kaliber Verminderung
erkennen; das mit derselben exprimierte Drüsensekret führt reichlich
Eiterzellen und gleichartige Bakterien; das Uretbrometer zeigt die Dilata-
bilität des mittleren Drittels der Anterior stark herabgesetzt, es ist ein
Infiltrat an der Stelle der alten Striktur in Ausbildung begriffen.
Die frühere Elastizität dieser Urethralpartie und ein endoskopisch
befriedigender Befund kann diesmal, da Pat. häufig abwesend war, erst
nach einer neuerlichen Dehnungskur (ausschließlich mittels Dilatator) von
wieder annähernd 3 Monaten erzielt werden. Während dieser sistiert
auch die Sekretion. Jedoch enthalten die Filamente nicht wenig Eiter¬
zellen. Die wieder aufgenommene gewöhnliche Lebensweise (viel Alkohol)
wird ohne Auftreten neuen Sekrets vertragen. —
Merkwürdigerweise hatte dieser langwierige irritative Katarrh —
das neue Infiltrat durfte in diesem Falle nicht ohne weiteres auf den¬
selben bezogen werden — dem Patienten nicht die Einträufelungen ver¬
leiden können. Er glaubte dem Verfahren wiederholte Rettung aus
Ansteckungsgefahr zu verdanken und war außerdem geneigt, all sein
Mißgeschick einer „von vornherein schlechten Behandlung“ seines
einstigen Trippers zuzuschreiben. Er vertauscht jedoch Protargol mit
Albargin.
Schon bei einer der ersten Kohabitationen, nach denen S. neuerdings
instillierte, infizierte er sich. Seiner Angabe nach hatte er wie früher
die Einträufelung nach Vorschrift vorgenommen, allerdings diesmal erst
1 l j 2 Stunden post coit., und uriniert, wenn auch nicht sehr ausgiebig.
Pat. erscheint schon am nächsten Tage, so daß ich das erste Sekret
10 Stunden post coit. untersuchen konnte; es fanden sich in spärlicher
Anzahl extrazelluläre Gonokokken, 24 Stunden später bereits einige
Leukozyten mit solchen gefüllt.
Da die Rezidive im fast analog gelagerten Falle G. mich neuerliche
chronisch infiltrierende Gonorrhoe befürchten ließ, hielt ich es für gut,
möglichst frühzeitig, ohne das völlige Abklingen der superfiziellen mukösen
Urethritis abzuwarten, bei also noch bestehender Sekretion zwischen die
Spülungen vorsichtige Spüldehnungen einznschalten. — Heute, zehn
Wochen post inf., ist der Gonokokkenbefund noch positiv, eine Herab¬
setzung der Dilatabilität nicht nachweisbar. —
H., Photograph. — Gibt an, vor einem Jahre eine etwa 10 Wochen
dauernde Gonorrhoe durchgemacht zu haben. Der Anamnese sowie der
Untersuchung der äußern Genitalien und der Prostata zufolge hat es
sich nur um eine Anterior gehandelt. Die Irrigationsprobe zeigt nur
im Spülwasser schleimig-epitheliale Filamente. Keine Kaliber- oder
Dilatabilitätsherabsetzung. —
Erhält Protargol. Am Tage nach der dritten Instillation stellt
sich H. vor, da ihm diese heftige Schmerzen verursacht habe. Die
beiden ersten Einträufelungen mit 20proz. Protargollösung sollen keine
Schmerzen, dagegen einen rasch schwindenden grauschleimigen Ausfluß
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112
de Campagnolle.
hervorgerufen haben; die gestrige Instillation habe er eine Stunde
nach dem Akte mit einer lOproz. Lapislösung (3 Tropfen) vorgenommen,
um ganz sicher zu gehen, da er an der Gesundheit des betreffenden
Mädchens zweifelte; uriniert habe er, aber nur in geringer Menge. —
Es besteht kein Ausfluß, die erste Urinportion vollkommen klar. Am
nächsten Tage derselbe negative Befund. Auffallend ist jedoch eine
zunehmende entzündliche Turgeszenz des Glieds, eine glasige Schwellung
der prall aneinanderliegenden Orificiumlippen, auch besteht ein dumpfer
Schmerz bei der Erektion.
Am dritten Tage kommt Pat. mit der Angabe, daß sich morgens
nach der Erektion ein „Grind“ aus der Harnröhre abgestoßen habe und
heftige Miktionsschmerzen eingetreten seien. Es zeigt sich eine dick¬
rahmige,. etwas blutig tingierte Sekretion, welche aus Eiterzellen mit
massenhaften Gonokokken, teils intrazellulären, teils freien neben Erythro¬
zyten besteht. Es hat sich ferner ein starkes ödem des Präputiums
und der Glans mit Rötung der dorsalen Lymphstränge ausgebildet.
Offenbar hatte es sich um einen Ätzschorf gehandelt, unter dessen Decke
die Gonokokken eine vollkommen geschützte Brutstätte fanden, mit
sekundärer Lymphangoitis infolge Sekretretention. Diese Erscheinungen
seitens des Lymphgefäßsystems schwanden unter Bettruhe und Anti-
phlogose rasch; erst dann wurde mit der lokalen Behandlung begonnen.
Nach kurzer starker Sekretion nahm der Tripper frühzeitig einen ex¬
quisit chronischen Charakter an; es war mir nach 8 Monaten — aller¬
dings wurde erst im 3. Monat eine mechanische Behandlung zugegeben,
— trotz angeblich vorsichtiger Lebensweise des Pat. nicht gelungen, die
Gonokokken aus dem Sekret zum Schwinden zu bringen. Der Pat. entzog
sich bald darauf meiner Behandlung. —
Acht Monate später erhielt ich von H. mit vorwurfsvoller Betonung
die Mitteilung, daß er an einer starken Striktur leide; sein Arzt habe
ihn gefragt, ob er nicht in den ersten Wochen mit zu konzentrierten
Lösungen behandelt worden sei? Ich bat ihn, er möge sich bestätigen
lassen, daß diese Striktur in der Pars gland. beginne und sich vielleicht
etwas über die Eichelfurche erstrecke, ferner möge er denselben genau
über die Konzentration seiner Lapisprophylaxe und die Anfangserscheinungen
seines Trippers informieren. Der Kollege bestätigte mir hierauf per¬
sönlich, daß der Kern der Infiltration tatsächlich im Bereich des ehe¬
maligen Ätzschorfes saß.
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Ober den Wert der modernen Instillationsprophylaxe der Gonorrhöe. 11S
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Unna, Allgemeine Therapie der Hautkrankheiten. Berlin-Wien. 1899.
Schleich, Neue Methoden der Wundheilung.
Zusatz zum Text
Auf Seite 30 unten ist vor dem letzten Absatz: „Andere wieder ließen
sich usw.“ der folgende einzuschalten:
Frühzeitige starke, namentlich mit Schmerzen verbundene Reizungen
(zuweilen freilich auch bloße Parästhesien) verleideten häufig den Be¬
troffenen den Weitergebrauch der Prophylaxe; dies war bei einem be¬
trächtlichen Teile jener Männer der Fall, die, weil nur im Verkehr mit
einer oder zwei Frauen das Verfahren an wendend, aus dem positiven
Teile meiner Statistik ausgeschieden werden mußten. Gruppiere ich die
Gesamtzahl meiner Klienten nach dem zur Sichtung der positiven Er¬
gebnisse benützten Gesichtspunkte der Anzahl der verschiedenen Frauen,
welcher ja annähernd auch über die Häufigkeit der vorgenommenen In¬
stillationen Aufschluß gibt, dann waren unter 53 Männern, die im Ver¬
kehr mit einer oder zwei Frauen instillierten, 18, unter 23 Männern,
die im Verkehr mit drei oder mehreren Frauen das Verfahren benützten,
16 Reizungen zu konstatieren. Auch unter der letzten Gruppe gaben
mehrere der Reizungen wegen das Verfahren frühzeitig auf.
Zeitochr. f. Bekämpfung d. Geschlechts krankh. 111.
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XVI. Konferenz der deutschen Sittlichkeitsvereine am 2.-4. Oktober
und Internationaler Kongreß zur Bekämpfung der unsittlichen
Literatur am 5. und 6. Oktober in Köln.
Es könnte befremden, daß die D. G. z. B. d. G., die doch neben
ihren rein hygienischen Zielen auch die Hebung der öffentlichen all¬
gemeinen Sittlichkeit auf ihr Panier geschrieben hat, an den Bestrebungen
der Sittlichkeitsvereine keinen direkten und tätigen Anteil nimmt, wenn
man nicht wüßte, daß unsere Ausgangspunkte gär zu verschiedene sind:
hier Wissenschaft, dort Dogma!
So können wir, trotzdem unsere Wege sich oft kreuzen, immer nur
getrennt marschieren und auch nur in äußerst seltenen Fällen vereint
schlagen.
Auch bei der Konferenz der deutschen Sittlichkeitsvereine,
die Anfang Oktober in Köln tagte — warm begrüßt und ermuntert von
vielen Behörden — hat sich das wieder gezeigt, und es ist dort wohl
keine einzige Rede gehalten worden, der wir bedingungslos zustimmen
könnten. Dagegen wurden vielfach Anschauungen ausgesprochen und
von der Versammlung mit lautem Beifall gutgeheißen, die den unsrigen
zum Teil diametral entgegengesetzt sind. Wir können sie unerörtert und
unwidersprochen lassen, solange sie sich in ihren Grenzen halten, aber
wir müssen dagegen Stellung nehmen, wenn sie in unser eigenes
Gebiet eingreifen wollen.
Die Programmreden des Vorsitzenden der Konferenz, Lic. Weber,
und des Generalsekretärs der Sittlichkeitsvereine, Lic. Bohn, der auch
eine reinliche Scheidung zwischen der höheren Ethik der Sittlichkeits¬
vereine und der laxeren der Föderation vornahm, den charakteristischen
Vortrag des Kirchenrats Prof. Lemme, Über den Einfluß der ver¬
schiedenen Weltanschauungen unserer Zeit auf die öffentliche Sittlichkeit,
den mit einer Niederlage endigenden Feldzug Pfarrer Hötzels gegen
den Karneval, brauchen wir nur zu registrieren. Das Referat des
Pastors Philipp-Plötzensee „Der Kampf gegen die Kontrolle“ fordert
jedoch zu lebhaftem Widerspruch heraus. Er verwirft jede Reglemen¬
tierung, will aber, im Gegensatz auch zu dem Standpunkte der Föderation,
die Dirnen — und die Zuhälter — unter Strafe stellen. Er will
die Befugnisse der Polizei einschränken, dafür aber die Ärzte mit größerer
Vollmacht versehen. Die vier Thesen, die er aufstellte, sind dazu an¬
getan, bei ihrer Ausführung, wenn diese überhaupt möglich wäre, gerade
das Gegenteil von dem hervorzurufen, was Redner damit erreichen will.
1. Sämtliche Ärzte sollen gehalten sein, unter Diskretion eine sorg¬
fältige Statistik anzulegen, die aber den Behörden zugänglich
sein muß.
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XVI. Konferenz der deutschen Sittlichkeitsvereine usw.
117
2. Die Ärzte sollen erkrankten Männern und Frauen Verhaltungs¬
maßregeln geben, deren Ausfährung in diskreter Weise zu über¬
wachen ist.
3. Zuwiderhandelnde werden zwangsweise interniert.
4. In gewissen Fällen, z. B. wenn ein Kranker sich verheiraten
will, soll der Arzt verpflichtet sein, das Dienstgeheimnis
zu brechen.
Die größte Gefahr droht der Allgemeinheit bekanntlich gerade aus
den Krankheitsfällen, die geheim gehalten und dem Arzte nicht anver¬
traut werden. Und am besten sorgt man also dafür, daß möglichst alle
Fälle von Erkrankung an Geschlechtskrankheiten vor den sachverständigen
Arzt gebracht werden, wenn man diesen Krankheiten das Odium des
Schimpflichen und des Abgesonderten nimmt und sie wie irgend eine
Infektionskrankheit betrachtet. Solange sich aber die daran Erkrankten
ihrer Krankheit schämen, wird nur das absolute Vertrauen in die Dis¬
kretion des Arztes sie veranlassen, sich ihm zu offenbaren.
Auf diesem Wege sind die dem heutigen System anhaftenden Mängel
gewiß nicht zu beseitigen. Selbst die Vertreterin der Föderation, Frau
Krukenberg, befärchtet von dem unmittelbaren Eingreifen der Polizei
Moralitätsriecherei und Denunziantenwesen. In erster Linie gelte es, die
wirtschaftlichen und sozialen Ursachen der Prostitution abzustellen. Das
Arbeitshaus sei kein Allheilmittel.
Im Anschluß an diese Konferenz der deutschen SittlichkeitsvereiDe
tagte am 5. und 6. Oktober ein Internationaler Kongreß gegen
die unsittliche Literatur, der im wesentlichen eine Wiederaufnahme
der Bestrebungen darstellt, die im Jahre 1900 zur Einbringung des
unter dem Namen „Lex Heinze“ bekannten Gesetzes führten. Jenes
Gesetz sollte besonders die Jugend gegen die Schädigungen schützen, die
ihr aus der unsittlichen Kunst und Literatur erwachsen. Wie will man
sich aber über Inhalt und Umfang des Begriffs unsittliche Literatur,
oder gar der von dem bekannten Zentrumsführer Hm. Roeren vorge¬
schlagenen Abänderung „anstößige Literatur“ so einigen, daß nicht der
subjektiven Auffassung eines beliebigen Richters allzu weiter Spielraum
gelassen wird? Wie sich der einzelne zu einem Erzeugnisse der Lite¬
ratur oder Kunst stellt, das ist vorwiegend Sache seines mehr oder
weniger guten Geschmackes. Wenn der Vorsitzende des Kongresses,
Lic. Weber, ausführt, daß die Schriftsteller nicht nach dem Motto ar¬
beiten dürfen: „Erlaubt ist, was gefällt!“, so hätten ihm Schriftsteller
und Künstler geantwortet, — wenn sie dem Kongreß nicht, wohl
wissend, daß eine Verständigung doch unmöglich ist, ferngeblieben
wären —: „Allerdings, erlaubt ist, was gefällt! Sorgt nur dafür, daß
ein guter Geschmack herrsche, so wird nur das gefallen, was sich ziemt“!
Es ist von vornherein selbstverständlich, daß eine kleine Gruppe von
Männern ausschließlich kirchlicher Observanz, mit einer für allein gültig
gehaltenen Weltanschauung, mit einer ausgeprägt einseitigen Geschmacks¬
richtung, nicht dazu geeignet sein kann, für ein ganzes Volk in litera¬
rischen Dingen die Vormundschaft zu übernehmen. Wenn es andrerseits
richtig ist, daß ein großer Teil des Volkes mit seinem Geschmack unter-
9 *
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118
XVI. Konferenz der deutschen Sittlichkeitsvereine usw.
halb eines wünschenswerten Niveaus sich befindet, so ergibt sich daraus
allerdings, daß dieser Geschmack einer Hebung und Richtung in gesunde
Bahnen bedarf. Es könnte nun so argumentiert werden: Haus und
Schule sind, — wie auch auf dem Kongreß ausgeführt wurde, — vor
allem dazu berufen, daran mitzuarbeiten. Folglich müssen wir die
Volksschule verbessern, für Fortbildungsschulen, Bibliotheken, Volkstheater
und sonstige belehrende und unterhaltende Gratisveranstaltungen Sorge
tragen, um die Mußestunden der Halberwachsenen in würdiger Weise
auszufüllen. Und wir müssen dem Hause die Mitarbeit ermöglichen,
indem wir das entsetzliche Wohnungselend beseitigen und indem wir
der Mutter durch Hebung der wirtschaftlichen Lage die Möglichkeit
geben, ihren Kindern mehr Zeit zu widmen, als ihr der harte Daseins¬
kampf heute übrig läßt. Dann wird ein Geschlecht heran wachsen, das
an den wirklich schmutzigen Erzeugnissen kapitalistischer Spekulation
auf niedere Instinkte kein Gefallen findet. Hat aber die Nachfrage nach
diesen Machwerken erst aufgehört, dann hört die Produktion des Schunds
von selber auf. Wir können heute im Zeitalter der Popularisierung der
Wissenschaften nicht mehr mit den Mitteln des Mittelalters operieren,
das die Ketzer, um ihnen recht gründlich den Mund zu schließen, ver¬
brannte. Aufklärung und Belehrung sind unsere Mittel zur Hebung
der allgemeinen Sittlichkeit, und da, wo aus reinen Motiven und in
würdiger Form selbst über das heikelste Thema gesprochen wird, da
wird unvergleichlich viel mehr Nutzen gestiftet, als durch die dickste
Mauer von Verboten. Es ist bekannt, daß die bestbezahlten, intelligen¬
testen Schichten der Arbeiterbevölkerung zugleich auch die sittlich am
höchsten stehenden sind. — Die Sittlichkeitsapostel wollen nun nicht die
Wurzeln des Übels, sondern durch kleine Mittelchen einzelne Symptome
desselben beseitigen. Dazu machen sie teils undurchführbare, teils ganz
undiskutable Reformvorschläge. Die Buchhändler sollen ihr Geschäft
weniger geschäftsmäßig betreiben. Den Dichtern wollen sie Scheuklappen
anlegen und ihnen nur gestatten, nach bewährten Rezepten Dichtungen
über erlaubte, bezw. empfohlene Probleme anzufertigen. Dem General¬
sekretär der Sittlichkeitsvereine, Lic. P. Bohn, war das schwierige Amt
zugefallen, zu präzisieren, was fortan den Dichtern zu dichten, den
Künstlern darzustellen erlaubt sein soll. Den finsteren Zeloten gegen¬
über, die es fertig bringen, Kunstwerke unsterblicher Meister, eines
Michel Angelo, eines Guido Reni zu verpönen, die Goethe unter
ihre sittliche Heckenschere nehmen möchten, schien er noch verhältnis¬
mäßig tolerant. Die Versammlung teilte jedoch den Standpunkt des Geh.
Justizrat Roeren, der nach dem Staatsanwalt rief, um noch besser als
es schon bisher möglich war, der unsittlichen, oder gar der „anstößigen“
Literatur beizukommen. Er meinte, die bezügl. strafgesetzlichen Bestim¬
mungen bedürften dringend einer Revision schon deshalb, weil die Technik
in den letzten 30 Jahren einen so enormen Aufschwung genommen habe,
daß ein damals gemachtes Gesetz für heutige Verhältnisse viel zu zahm sei.
So soll also die Jugend auf den Weg der Zucht und Sitte gebracht
werden! E. G.
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Referate.
K« Grölt, Oberarzt der dermatol. Abteilung des stfidtiscben Krankenhauses
in Christiania. Den individuelle Profylakse over for veneriske Sygdomme. (Tids-
skrift f. d. norske lageforening 1904, Nr. 12, 18.)
Verf. zitiert Niemeyer: „Die allein zu empfehlende Prophylaxe
gegen den Tripper ist die Vermeidung jeder Gelegenheit zur Ansteckung.“
Die Worte sind schön, aber der Gedanke praktisch nicht durchführbar,
und deshalb dürfen den Ärzten einige bewährte Maßnahmen nicht un¬
bekannt bleiben, wodurch man den Geschlechtskrankheiten entgehen kann.
Mit dieser Begründung bespricht Verf. die in den letzten Jahren
angegebenen prophylaktischen Apparate und Methoden.
Die Arbeit bringt sonst nichts Neues; aber sie hat eine Art von
Protest seitens eines älteren Kollegen veranlaßt, der findet, daß solche
Ratschläge die Ohren aller Sittlichkeitsfreunde beleidigen müssen, und
daß es der Ärzte würdiger wäre, sich der Niemeyer sehen Prophylaxe
anzuschließen. H. Hansteen.
Dr. Ustaedt, Gesundheitsinspektor. Bericht Uber die Verbreitung und die Be¬
kämpfung der venerischen Krankheiten in Christiania in 1903. (Tidsskrift f. d.
norske lageforening 1904, Nr. 20.)
In Christiania, wo die Geschlechtskrankheiten (wie die epidemischen
Krankheiten) von den Ärzten zum Gesundheitsamte angemeldet werden,
wurden im Jahre 1903 angemeldet 2851 neue Fälle von venerischen
Krankheiten, nämlich Gonorrhoe 1753, Ulcus molle 440, acquirierte
Syphilis 614 und hereditäre Syphilis 44. Die Einwohnerzahl war
223 649, und die Zahl der angemeldeten Geschlechtskranken betrug auf
100 Köpfe der Bevölkerung 1,27, die angemeldeten Syphilisfälle 0,29 °/ 0 .
Diese Zahlen sind beinahe dieselben wie diejenigen des vorigen Jabres.
20 von den 614 Syphilisfällen waren extragenital infiziert. Unter
den Anzeigen enthielten 187 solche Angaben über die Ansteckungsquelle,
daß sie zur Nachforschung führten. In 140 dieser Fälle wurde die an¬
gegebene Quelle gefunden und einer ärztlichen Untersuchung unterworfen.
Nur 10 mal mußten die als Ansteckungsquelle Angezeigten und dann zur
Untersuchung Einberufenen polizeilich eingeholt werden. H. Hansteen.
O. Jersild, Kopenhagen. Understfgelser over cervikalsekretet hos prostituerede-
(Untersuchungen über das Cervikaisekret bei Prostituierten. Ein Beitrag
zum Studium der gonorrhoischen Endometritis.) (Habilitationsdissertation.)
Jersild hat als Assistent am Vestre-Hospital in Kopenhagen
(Hospital für geschlechtskranke Prostituierte) vier Jahre hindurch syste-
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120
Referate.
matische Untersuchungen des Cervikalsekrets bei silmtlichen aufgenom¬
menen Patienten angestellt.
Seine Untersuchungen erstrecken sich auf eine Anzahl von 2000
Patienten, von denen die meisten in den betreffenden vier Jahren mehr¬
mals ins Hospital aufgenommen wurden. Die in einem Jahre (von
November 1899 bis Oktober 1900) aufgenommenen 609 Patienten hat
er einer statistischen Berechnung über die Häufigkeit der verschiedenen
Formen des Cervikalsekrets zugrunde gelegt. Diese 609 Patienten wurden
während dieses Jahres 1238 mal in das Krankenhaus aufgenommen und
6000 Mal auf das makro- und mikroskopische Aussehen des Cervikal¬
sekrets untersucht. Jersild hat jedoch nur die 4000 Untersuchungen
in Betracht gezogen, die er persönlich ausgeführt hat, wodurch seine
Arbeit natürlich sehr an Genauigkeit und Zuverlässigkeit gewinnt.
Das Krankenhaus hat zwei Abteilungen, die eine für Öffentliche
(bordeliierte) Prostituierte, die andere für die geheime Prostitution. Verf.
führt diese Trennung auch bei seinem Kranken material durch, weil man
unter den geheimen Prostituierten am meisten junge, iu dem Geschäft
neue, und somit also die Frühformen der Gonorrhoe zu finden erwarten
darf, unter den in Bordeilen wohnenden älteren Prostituierten dagegen
die Spätformen der Krankheit im allgemeinen vorherrschen.
Großes Gewicht legt Verf. auf die Untersuchungstechnik. Die
Portio muß in ein Rohrspekulum eingestellt, mit Watte abgewischt und
dann das Sekret aus dem Cervikalkanal durch gelinden Druck mit
dem Spekulum ausgedrückt werden. Der von der Portio herab¬
hängende Schleimstrang ist am meisten mit Eiterflocken von der Vagina
oder von Erosionen der Portio und mit Vaginalbakterien verunreinigt
und gibt deshalb kein wahres Bild des Cervikalsekrets. — In der Unter¬
lassung dieser Vorsichtsmaßregel liegt nach Verf.s Meinung die Ursache
vieler der widersprechenden Untersuchungsergebnisse in früheren Be¬
schreibungen des Cervikalsekrets bei Gesunden und Kranken.
Das mit einer Zange herausgeholte Sekret wird auf einer Glasplatte
(Objektglas) ausgebreitet und makroskopisoh in durchfallendem Licht und
dann mikroskopisch genau durchgemustert ; man wird auf der Glasplatte oft
kleine Eiter flocken entdecken können, die sonst nicht entdeckt worden waren.
Jersild hat bei seinen Untersuchungen die nachstehenden 3 Sekret¬
formen gefunden: 1. glasklaren Schleim (wie bei normalen Personen);
2. glasklaren Schleim mit Eitertropfen oder -flocken; 3. trübes, pseudo-
mucopurulentes Sekret, das nicht Eiterzellen, sondern Epithelzellen
enthält. Der Eiter kam niemals diffus mit dem Schleim gemischt, also
als trübes oder mucopurulentes Secret vor, sondern nur als umschriebene
Eiterflockeu oder -streifen in glasklarem Schleim oder in trübem, durch
Epithel getrübtem Schleim.
Das Sekret war in der jüngeren Klasse (bei den der geheimen
Prostitution Angehörigen) in den allermeisten Fällen (209 von 253,
also 83 °/ 0 ) glasklar, ganz wie bei Normalen. In einer großen Zahl
dieser glasklaren Sekrete wurden bei sorgfältiger Durchmusterung auf
einer Glasplatte kleine Eiterflocken gefunden (bei 124 von 209).
Trübes Sekret wurde bei 17 °/ 0 gefunden (44 von 253), und, wie
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Referate.
121
schon oben gesagt, war die diffuse Trübung nur durch Epithelzellen
verursacht. Umschriebene Eiterflocken wurden unter diesen 44 bei 24
gefunden. Alles eingerechnet wurde also Eiter bei 58 °/ 0 (148 von 253)
gefunden.
In der älteren Klasse (der öffentlichen Prostitution) war das Se¬
kret bei 42 °/ 0 glasklar wie bei Normalen (bei 314 von 750). Nur bei
110 von diesen wurden Eitertropfen im bellen Schleim gefunden. —
Durch Epithelzellen diffus getrübtes Sekret (pseudomucopurulentes)
wurde bei 5 8 °/ 0 gefunden (436 von 750), und von diesen wurden bei
58 umschriebene Eiterflocken im trüben Schleim gefunden. — Alles
eingerechnet fand er also in dieser Klasse Eiter bei 22 °/ 0 (168 von 750).
Gonokokken wurden bei 64 °/ 0 der jüngeren und 32 °/ 0 der
älteren Klasse nachgewiesen, alles in allem bei 409 von 1003 Unter¬
suchten. Bei denjenigen von beiden Klassen, bei denen Eiter im Sekret
gefunden wurde, ließen sich bei fast allen auch Gonokokken nach-
weisen. 3 6 mal wurden Gonokokken in glasklarem Sekret ohne Eiter¬
flocken und 98 mal in trübem, durch Epithel getrübtem Sekret ohne
Eiterflocken gefunden. Verf. glaubt, daß er vielleicht doch — wenigstens
bei einigen von diesen — kleine Spuren von Eiter übersehen haben könne,
weil bei denselben Patienten bei früheren oder späteren Aufnahmen ins
Krankenhaus Gonokokken und Eiter gefunden wurden. — 20 Fälle
wurden auf den Bakteriengehalt der Uterinhöhle untersucht. In 14 von
diesen wurden Gonokokken nachgewiesen, und in keinem der 20 Fälle
fanden sich andere Bakterien.
Verf. zieht u. a. die folgenden Resultate von seinen Untersuchungen:
1. Eiter in dem aus der Cervix ausgedrückten Sekret ist ein
wichtiges Zeichen der gonorrhoischen Endometritis in allen ihren Stadien,
wichtiger als man früher angenommen hat.
2. Der Eiter kommt nur als umschriebene Flocken bezw. Streifen
vor, niemals diffus im Schleim suspendiert (also nicht als mucopus). Das
trübe Sekret enthält Epithelzellen, nicht Leukocyten.
3. Trotz der Zumischung von Eiter bleibt der Cervikalschleim in den
ersten Stadien der gonorrhoischen Endometritis glasklar wie bei Normalen.
Ein eigenes Kapitel widmet J. den Untersuchungen des Cervikal-
sekrets bei Schwangeren. Verf. hat die Beobachtung gemacht, daß
das Sekret bei Schwangeren sehr zähe und sehr sparsam ist, so sehr
vermindert, daß bei mehreren der 37 zur Beobachtung gekommenen
Schwangeren eben durch dieses Zeichen die Aufmerksamkeit auf die
Gravidität gelenkt wurde, und zwar sehr früh, bereits in der 2. bis 3.
Schwangerschaftswoche. Eine Frage von nicht geringfügiger Bedeutung
ist es, ob diese während der Gravidität veränderten Sekretionsverhält¬
nisse als Schwangerschaftszeichen angewendet werden können.
Viel leichter, sagt Verf., als eine Gravidität zu diagnostizieren, ist
es doch, durch die Menge und das Aussehen des Cervikalsekrets eine
uterine Schwangerschaft auszuschließen. Wenn sich aus dem Orifi-
cium externum uteri eine reichliche Menge von dünnflüssigem, nicht
zähem Schleim herausdrücken läßt, der den ganzen Cervikalkanal füllt
und als ein Schleimstrang vom Orificium über Labium inferius colli uteri
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122
Referate.
herab läuft, dann kann man mit Sicherheit eine uterine Gravidität selbst
in den ersten Stadien ausschliessen. H. Hansteen.
Dr. W. Hanauer. Die Prostitution und die Dienstboten. (Monatsschr. f. soziale
Medizin 1904. Heft 9, S. 417.)
Bei einer Betrachtung der Prostitution ist nicht nur der sanitäre
Gesichtspunkt, daß die Prostitution die Hauptquelle der Geschlechts¬
krankheiten darstellt, sondern auch der anthropologisch-soziale Gesichts¬
punkt, daß die Prostituierten körperlich, geistig und sittlich degenerierte
Individuen sind, von Wichtigkeit. Man darf die Prostitution nicht als
etwas unabänderlich Vorhandenes ansehen und muß deshalb ihren Ursachen
nachgehen. — Bei der Erörterung der Beziehungen der Dienstboten zur
Prostitution fällt der große Prozentsatz, den sie hierzu stellen, um so
mehr ins Auge, als sie bisher in patriarchialischem Familien Verhältnisse
gelebt haben und in strenger Zucht gehalten wurden. In Berlin liefern
die Dienstboten zur Prostitution 60°/ o , in Frankfurt a. M. 30°/ 0 , in
Paris besteht das Hauptkontingent aller Prostituierten aus ihnen. Wir
dürfen uns aber, so seltsam es einem auch für den ersten Augenblick
erscheinen mag, nicht darüber wundern; sind ja der fünfte Teil aller
erwerbenden Frauen in Deutschland Dienstboten, deren Bezahlung zum
größeren Teil ein Naturallohn ist, und die sich der seit Jahrhunderten
bestehenden, nur etwas reformierten Gesindeordnung (mit Fortbestehen
des Züchtigungsrechtes der Herrschaften!) fügen müssen. Nur den Dienst¬
boten ist der Geist der modernen Sozialpolitik und zahlreiche Arbeiter¬
schutzbestimmungen nicht zugute gekommen; sie haben weder eine Ge¬
werbeordnung noch ein Gewerbegericht, kein Krankenkassen- und kein
Unfallversicherungsgesetz, keine beschränkte Arbeitszeit, kein Verbot der
Nachtarbeit und keine Sonntagsruhe. Ein Äquivalent hierfür wird ihnen
nicht geboten. Im Gegenteil, es läßt die Beköstigung und Wohnung
durchweg viel zu wünschen übrig. Dazu steht die Entlohnung im all¬
gemeinen im umgekehrten Verhältnisse zur Länge der Arbeitszeit; ein
Dienstbote hat, um denselben Verdienst zu erlangen, mindestens ein Drittel
mehr Arbeit zu leisten als eine Fabrikarbeiterin. Rechnet man noch
die oft lieblose Behandlung von seiten der Hausfrau, so kann es nicht
mehr auffallend erscheinen, daß ein so großer Prozentsatz der Dienst¬
mädchen die unangenehmen Verhältnisse ihres Standes gegen die unge¬
bundene Freiheit, leichten Verdienst, Vergnügen und Zerstreuung, mit
denen die Prostitution winkt, eintauschen. Wird doch auch eine
gewisse Anzahl durch Verführung seitens des Hausherrn oder der anderen
männlichen Mitglieder der Familie und nachfolgende Entlassung der
Prostitution in die Arme getrieben, in Paris von Stellenvermittelungs¬
bureaus den Bordellbesitzerinnen zugeschanzt. Auch ruiniert manche
rachsüchtige Dienstherrin durch Ausstellung eines schlechten Zeugnisses
im Dieustbotenbuch die Karriere so, daß dem Mädchen nur der Dirnen¬
beruf übrig bleibt. Der Verf. zitiert hier Still ich (Die Lage der
weiblichen Dienstboten in Berlin. 1902): „Die Damen unserer Gesell¬
schaft, die mit Emphase die sittliche Hebung der unteren Volksklasseo
fordern, ahnen gar nicht, welcher Schuldanteil an dem Lebensschicksal
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Referate.
123
eines gefallenen Dienstmädchens auf sie selbst zurückfällt.“ Als Reformen
sind neben der rechtlichen Änderung des Dienstbotenverhältnisses mit Ab¬
schaffung der Dienstbücher und der Gesindeordnung usw. in sozialer
Hinsicht notwendig die Trennung der Dienstboten von Tisch und Bett
der Dienstgeber und Limitierung der Arbeitszeit. Dann werden sich auch
die als Dienstmädchen brauchbarsten Elemente, die Stadtmädchen, welche
ihre Freiheit lieben, nicht mehr von diesem Berufe fernhalten, wenn sie
den ihrer Arbeit entsprechenden Barlohn erhalten, den sie ihren Eltern
zur Mitbestreitung des Haushaltes abliefern. Bruno Sklarek (Berlin).
Othmar Spann. Die geschlechtlich-sittlichen Verhältnisse im Dienstboten- und
Arbeiterinnenstande, gemessen an der Erscheinung der unehelichen Geburten.
(Zeitschr. f. Sozial Wissenschaft 1904. Heft 5, S. 287.)
Die Tätigkeit des Dienstmädchens wird als eine bildende Lebens¬
schule zur wirtschaftlichen Betätigung der Frau gewöhnlich höher ein¬
geschätzt als die der Industriearbeiterin, von der man annehme, daß sie
durch ihren Beruf der Familie entfremdet und so sittlich eher geschädigt
würde. Wenn die geschlechtlich-sittlichen Verhältnisse in beiden Berufen,
gemessen an der Erscheinung der unehelichen Geburten, untersucht werden
sollen, so ergibt sich zunächst,
„daß infolge der im allgemeinen hohen ehelichen Fruchtbarkeit der
industriellen Arbeiterbevölkerung die Erscheinung der unehelichen Geburt
wahrscheinlich in demselben Maße ein Ausdruck des unehelichen Ge¬
schlechtsumganges sein dürfte, als dies bei den Dienstmädchen zu er¬
warten ist;
daß infolge wesentlicher Gleichartigkeit der Altersgliederung der
ledigen Gebärfähigen in den beiden Gruppen die uneheliche Fruchtbar¬
keitsziffer (= Anzahl der unehelichen Geburten bezogen auf die Anzahl
aller gebärfähigen Ledigen) ein ziemlich gleichartiger und daher direkt
vergleichbarer Ausdruck der Erscheinung der Unehelichkeit in beiden
Gruppen ist;
daß endlich infolge wesentlicher Übereinstimmung des Heiratsalters
und der Heiratsaussichten in den beiden Gruppen die Legitimationsver¬
hältnisse einen ziemlich gleichartigen und daher direkt vergleichbaren
Ausdruck der sozialen und ethischen Bedeutung des unehelichen Ge¬
schlechtsumganges darstellen.“
Über ein Drittel der unehelichen Kinder Berlins und Wiens wird
von der Dienstbotenklasse geboren, in Frankfurt a. M. fast die Hälfte!
Bezüglich des Ortes der Niederkunft bilden die in Anstalten entbundenen
Dienstmädchen die Mehrheit, die in privaten Wohnungen entbundenen
die Minderheit, während von den Fabrikarbeiterinnen drei Viertel in pri¬
vaten Wohnungen entbinden, also weit weniger der Obhut und des Rück¬
haltes an der Familie entbehren als die Dienstmädchen. Hierzu wird noch
bezüglich der Anerkennung der Vaterschaft zur Zeit der Geburt nachge¬
wiesen, daß die in öffentlichen Anstalten Geborenen in ausgeprägt gerin¬
gerem Grade Verhältnissen entspringen, die von vornherein vorehelichen,
stabilen Charakter hatten, die in Anstalten Geborenen also den in Woh¬
nungen Geborenen gegenüber bezüglich der Legitimation stark im Nachteil
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124
Referate.
sind. (Nach H. Neumann kamen von den in Anstalten geborenen Unehe¬
lichen nur 54,1%, von den in privaten Wohnungen geborenen 82,8% in
unentgeltliche Pflege, welche nur halb so große Sterblichkeitsziffern auf¬
weist als die Haltepflege. So resultiert die größere Sterblichkeit der Dienst¬
botenkinder.) Von den Kindern der Arbeiterinnen werden um die Hälfte mehr
als von denen der Dienstboten legitimiert In Wien ist die Legitimations¬
zahl dieser ganz besonders erschreckend klein, sie beträgt nur 5,1 % und ist
um mehr als das Fünffache kleiner als bei den industriellen Arbeiterinnen.
Die Ursachen für so krasse und allenthalben auftretende Verhältnisse
kann nur die durch den Dienstbotenberuf selbst bewirkte starke Gefähr¬
dung der Mädchen sein. Das Landmädchen, welches das Hauptkontingent
der Dienstmädchen darstellt, scheitert in der Stadt mit seinen mitge¬
brachten Anschauungen von dem auf dem Lande nicht anstößigen, dort
viel häufiger als beabsichtigt wirklich zur Ehe führenden vorehelichen
Geschlechtsverkehr. Die Zeiten patriarchalischer Verhältnisse sind vor¬
über, es findet keine Einpflanzung des Dienstmädchens in eine neue
Familie, sondern nur eine Ausstoßung aus der eigenen statt. Dazu
kommt die unbegrenzt lange Arbeitszeit, welche die Mädchen jede sich
zum Vergnügen bietende Gelegenheit zu erhaschen treibt, was ihneo eher
verhängisvoll wird als den Industriearbeiterinnen, die, ihnen an ernster
Lebenserfahrung und Bildung weit überlegen, in ihrer Sphäre bleiben,
trotz ihrer frühen wirtschaftlichen Selbständigkeit nicht ihrer Familie
entfremdet werden und nicht mit unzutreffenden Anschauungen in fremde
Verhältnisse und Umgebungen verpflanzt, bei der fortwährenden Berüh¬
rung mit ihren Arbeitsgenossen den Becher bürgerlicher Freiheit weniger
heiß und hastig zu schlürfen brauchen. Aus all dem ergibt sich, daß
die Unehelichkeit der Dienstboten nicht nur sozial viel schädlicher und
damit auch ethisch minderwertiger ist als die der Industriearbeiterinnen,
sondern wohl aller größeren Berufsgruppen. Bruno Sklarek (Berlin).
Dr. Jos. Schrank. Der Mädchenhandel und seine Bekämpfung. Wien 1904.
Selbstverlag des Verfassers. J6 3.—.
Das Werk bespricht auf 254 Seiten den Mädchenhandel im all¬
gemeinen, die aktuelle Gesetzgebung in den verschiedenen Staaten betreffs
des Mädchenhandels und der Kuppelei, die Beschlüsse und Berichte der
Kongresse und Verhandlungen, die zur Unterdrückung dieses modernen
Sklavenhandels stattgefunden ‘haben, sowie ferner Berichte über die Tätig¬
keit von Vereinen und Privaten, die sich in dem angegebenen Sinne
beschäftigen.
Verfasser hält die Staatshilfe für das ausgiebigste und wichtigste
Mittel gegen diesen scheußlichen Handel. Die Vorschläge, die er zur
Unterdrückung des Mädchenhandels an führt, zielen weder auf eine Unter¬
drückung der Prostitution ab, noch auf eine Beseitigung irgendwelcher
Prostitutionsreglementierung. Der Mädchenhandel wird vielmehr als eine
Rechtsverletzung aufgefaßt, als welche die Prostitution selbst nicht an¬
gesehen werden kann. L. G. Heymann.
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Zeitschrift
für
Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten
Band 3. 1904/5. Nr. 4.
Darf der Arzt zum aufeerehelichen Geschlechtsverkehr
raten?
Von R. Kossmann, Berlin.
Unter der gleichen Überschrift hat Max Marcuse (Berlin)
kürzlich in der Monatsschrift für Hamkrankheiten und sexuelle
Hygiene einen Aufsatz veröffentlicht, in welchem er zu dem (auch
im Original gesperrten) Resumö gelangt: „Die Frage, ob dem
Arzte das prinzipielle Recht zusteht, den außerehelichen
Geschlechtsverkehr anzuraten, ist zu bejahen — und
zwar grundsätzlich sowohl dem männlichen, wie dem
weiblichen Patienten gegenüber“.
Eine bloße Kritik der Marcuseschen Arbeit zu schreiben
würde ich mich nicht veranlaßt sehen. Aber die Frage ist in der
Tat durch die Diskussion auf dem 1. Kongreß der Deutschen Ge¬
sellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten aktuell ge¬
worden, und ich sehe, daß sich außer He gar, dessen Schriften
zeitlich weit zurückliegen, ein Gynäkologe zu dieser Frage — von
gelegentlichen Bemerkungen abgesehen — nicht geäußert hat
Die letzten Worte des Marcuseschen Resumös einerseits und ihre
schwache Begründung zeigen aber, daß von unserer Seite auf die
fundamentalen Unterschiede, die in dieser Hinsicht zwischen männ¬
lichen und weiblichen Patienten bestehen, hingewiesen werden muß,
damit nicht ganz unbegründete Analogieschlüsse zu einer gewissen
autoritativen Geltung gelangen.
Allerdings werde ich nicht umhin können, von einer kritischen
Behandlung des generellen Inhalts der Frage auszugehen.
Der außereheliche Geschlechtsverkehr läuft den religiösen,
ethischen und sozialen Normen, die von einem großen Teile der
zivilisierten Menschheit, wenigstens theoretisch, anerkannt werden,
zuwider. Unter diesem Gesichtspunkte unsere Frage zu erwägen
Zeitschr. f. Bekämpfung d. Geschlechtakrankh. III. 10
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126
Kossmann.
und zu beantworten kann aber nicht als erste Aufgabe des Arztes
betrachtet werden. Er hat zunächst zu prüfen, welchen Schaden
und Nutzen die Enthaltung vom Geschlechtsverkehr, welchen
Schaden und Nutzen die Ausübung desselben der Gesundheit
bringt und ob und inwiefern der Nutzen auf der einen Seite
überwiegt.
Aus allen wissenschaftlichen Publikationen, die mir bekannt
sind, scheint sich zu ergeben, daß die Autoren an drei Möglich¬
keiten einer Gesundheitsschädigung durch die sexuelle Enthaltung
denken. Wir wollen sie als die neuromechanische, die neuro-
chemische und die psychische unterscheiden. Die neuro¬
mechanische Schädigung kann man sich etwa so vorstellen, daß
die Überfüllung eines oder mehrerer zum Geschlechtsapparat ge¬
höriger Organe einen mechanischen Reiz auf Nervenendigungen
oder Ganglien ausübt, der bei längerer Dauer pathologische Zu¬
stände im Centralnervensystem herbeiführt Die neurochemische
Schädigung würde man sich als eine Intoxication des Nerven¬
systems durch zurückgehaltene Secrete oder Excrete der Sexual¬
organe zu denken haben. Die psychische Schädigung endlich
würde darin bestehen, daß die Nichtbefriedigung eines natürlichen
Instinktes einen seelischen Konflikt und in dessen Gefolge Traurig¬
keit, Melancholie und andere Psychosen hervorruft.
Sowohl die neuromechanische, als auch die neuro¬
chemische Schädigung muß — wenn sie überhaupt existiert — durch
jeden Vorgang verhütet bezw. beseitigt werden können, der den
mechanischen Druck bezw. die Toxine, die auf die nervösen Organe
einwirken, beseitigt. Es ist also bezüglich des Mannes anzunehmen,
daß in Hinsicht auf diese beiden möglichen Schädigungen sowohl
die unwillkürliche Pollution, als der durch Masturbation
herbeigeführte Samenerguß bei gleicher Häufigkeit die gleiche
therapeutische Wirkung haben müssen, wie der Coitus. Da die
Existenz natürlicher Pollutionen bei abstinenten männlichen Per¬
sonen nicht bestreitbar ist, so würde zunächst anzunehmen sein,
daß der männliche Körper in der physiologischen Pollution das
natürliche Mittel besitzt, jene durch Retention des Spermas und
der accessorischen Secrete bedingten neuromechanischen und neuro-
chemischen Schädigungen zu verhüten. Es käme dann weiter in
Frage, ob bei solcher Retention etwa auch ein Ausbleiben der
Pollutionen stattfinden und zur Schädigung führen kann. Diese
Frage ist schwer zu beantworten, weil wir die Tatsache der Re-
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Darf der Arzt zum außerehelichen Geschlechtsverkehr raten? 127
tention am lebenden Menschen nicht wohl feststellen können. Wo
bei dem kräftigen Manne sowohl Coitus als Pollution angeblich
lange ausgeblieben sind, werden wir die etwa stattgehabte Mastur¬
bation, auch wenn sie bestimmt abgeleugnet wird, niemals mit
Sicherheit ausschließen können.
Damit aber kommen wir auch bereits auf denjenigen Grund,
der die Bedeutung aller jener Krankengeschichten, die in der me¬
dizinischen Literatur beigebracht werden, um die Schädlichkeit der
Abstinenz zu erweisen, auf ein Minimum reduziert Wir können
m. E. in keinem der berichteten Fälle die Abstinenz selbst, d. h.
auch die Abstinenz von Masturbation, für erwiesen erachten.
Wenn Marcuse (S. 8) „mit Bestimmtheit“ leugnet, daß es in
Wirklichkeit eine totale Abstinenz gebe, weil jeder Erwachsene
ohne Ausnahme in seinem Leben einmal Onanist gewesen sei, so
ist das natürlich übertrieben, und er widerspricht damit sogar
sich selbst, da er auf S. 12 zugibt, daß „die normal veranlagte
Jungfrau, die von sexuellen Beizen noch unberührt ist, eine eigent¬
liche Libido kaum kenne“. Immerhin aber steht es fest, daß die
Masturbation weit verbreitet ist und von sehr vielen Patienten
auch dem Arzt gegenüber hartnäckig abgeleugnet wird. Es ist
demnach durchaus möglich, daß die wirklich erwiesenen Gesund¬
heitsstörungen bei vermeintlich Abstinenten gar nicht von der Ab¬
stinenz, sondern von der Masturbation herrühren. Es ist dies
sogar ex analogia das Wahrscheinlichere, weil wir homologe Neu¬
rosen bei den in Abstinenz gehaltenen Haustieren nicht beobachten
können. Somit aber stünden wir vielleicht gar nicht mehr vor
der Frage, ob wir den außerehelichen Coitus zur Beseitigung von
Abstinenzerscheinungen, sondern ob wir ihn zur Beseitigung der
Masturbation empfehlen sollen.
Diese Frage hat mit der Retentionshypothese nichts mehr zu
tun. Die Masturbationsneurosen sind natürlich Erschöpfungsneurosen.
Sie treten — darüber sind die Neurologen wohl einig — nur bei aus¬
schweifender Ausübung der Masturbation auf; sie können ebenso¬
wohl bei ausschweifender Ausübung des außerehelichen Coitus auf-
treten. Man beobachtet sie vielleicht etwas häufiger bei erstererForm
der Ausschweifung, weil gerade die bereits neurasthenisch veran¬
lagten Individuen nicht willenskrältig genug sind, den erfolgreichen
Don Juan zu agieren oder den Ekel vor der käuflichen Venus
vulgivaga zu überwin den. Ob wir aber den neurasthenischen
Onanisten jemals von seinen Neurosen, ob wir ihn überhaupt nur
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128
Kossmann.
von seinem Laster heilen können, indem wir ihn eben dieser Venus
vulgivaga in die Arme treiben, ist doch sehr fraglich. Sehr zu
befurchten wäre wohl, daß er entweder beiden Lastern nebenein¬
ander fröhnen oder in dem neuen denselben Mangel an Selbst¬
beherrschung zeigen werde, wie in dem alten. Unsere Neurologen
dürften, wie mir scheint, für die Behandlung des Neurasthenikers
wirksamere und minder bedenkliche Mittel besitzen.
Betrachten wir nun aber von dem eben eingenommenen Ge¬
sichtspunkte aus das weibliche Individuum, so erscheinen die
Verhältnisse wesentlich anders. Die Überfüllung der Sexualorgane,
die Drucksteigerung im Uterus und im Ovarium, ist hier ohne
Mühe durch Palpation und Inspection nachzuweisen; sie fällt in
den Beginn der Menstruation. Ist hier also überhaupt eine neuro-
mechanische Schädigung vorhanden, so sorgt die Natur durch den
menstruellen Bluterguß selbst für deren Beseitigung, wogegen weder
der Coitus, der in dieser Zeit überhaupt nicht ausgeübt zu werden
pflegt, noch die Masturbation eine Druck Verminderung im Uterus
oder Eierstock herbeiführen können. Eine Entleerung der Bar-
tholinischen Drüsen kann allerdings bei Masturbation erfolgen, und
es gibt auch natürliche Pollutionen beim Weibe, bei denen eine
unwillkürliche Entleerung dieser Drüsen stattfindet. Da wir aber
bei Verhaltung ihres Secretes durch Verstopfung des Ausführungs¬
ganges keine neuropathischen Erscheinungen wahrnehmen, wird
niemand daran denken, lediglich zum Zwecke ihrer Entleerung
einer Patientin den außerehelichen Beischlaf anzuraten.
Fast ganz dasselbe gilt von den hypothetischen neuro-
chemischen oder toxischen Schädigungen. Wenn Eierstock und
Uterus solche Toxine produzieren, so können sie jedenfalls nur
durch die Menstruation — wie das ja auch die alten Arzte glaubten —,
aber niemals durch den Coitus entfernt werden, falls man nicht
etwa auch wieder, ganz willkürlich, die so unwahrscheinliche Hypo¬
these aufstellen will, daß das bez. Toxin in dem Sekret der Bar¬
th olini sehen Drüsen enthalten sei. Bei dieser Annahme aber
würde man wieder zu der Folgerung kommen müssen, daß eine
gelegentliche Masturbation behufs Entleerung dieser Drüsen hygie¬
nisch nützlich sei und jedenfalls genüge.
In Wahrheit wird diese weder nützlich, noch besonders schäd¬
lich sein. Die vermeintlichen Abstinenzneurosen der weiblichen
Individuen sind höchstwahrscheinlich die Folgen einer aus¬
schweifenden Masturbation, die Heilungen aber, die man bei
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Darf der Arzt zum außerehelichen Geschlechtsverkehr raten? 129
solchen Neurosen durch die Verheiratung hat eintreten sehen, be¬
ruhen vermutlich auf der Beseitigung oder Einschränkung der
Masturbation. Das Gemeinsamschlafen der Eheleute hält die junge
Frau entweder durch die »Scham vor dem Ehemanne von vornherein
von der Masturbation ab, oder dieser nimmt das Laster wahr und
sucht es zu unterdrücken. Diese günstige Wirkung des ehelichen
Verkehrs würde mit dem außerehelichen nur ganz ausnahmsweise
verbunden sein, einerseits weil derselbe nicht ein so stetes
Zusammenleben mit sich zu bringen pflegt, andererseits weil
der Liebhaber die masturbierende Frau alsbald wieder verlassen
würde.
Es bleibt nun schließlich die Möglichkeit einer psychischen
Schädigung durch die Abstinenz zu erwägen. Der Geschlechtstrieb
ist augenscheinlich einer jener durch Vererbung eingewurzelten,
instinktiven Triebe, dessen Verlust jede Rasse, auch die mensch¬
liche, dem Untergange weihen würde, dessen dauernder Mangel bei
bei einem Individuum der Rasse also als krankhaft angesehen
werden muß. Der Befriedigung dieses Triebes stehen nun in
Einzelfallen zahlreiche Hemmungen entgegen, zum Teil solche, die
die Ausführung eines mit dem Instinkte gleichlaufenden Vorsatzes
durch äußeren Zwang unmöglich machen, teils aber solche, die
einen diesem Instinkte entgegengerichteten Vorsatz in uns erzeugen
und aufrecht erhalten. Die letzteren Hemmungen bestehen ins¬
besondere in religiösen, ethischen, sozialen Stimmungen und Ur¬
teilen, die nicht, wie der Instinkt, ererbt, sondern durch unsere
Erziehung und sonstige Erfahrung in uns erzeugt worden sind.
Es ist nun sicherlich nicht zu leugnen, daß der Konflikt zwischen
dem Triebe, den Coitus auszuführen, und dem Vorsatz, ihn zu
unterlassen, unter Umständen, insbesondere, wenn diese beiden
entgegengesetzten Momente von zeitlich schwankender, aber im
Durchschnitt annähernd gleicher Stärke sind, zu einem aufreibenden
erschöpfenden, die Disposition zur Psychose schaffenden Seelen¬
kampfe ausarten kann. Daß jedenfalls Depressionszustände, Angst¬
neurosen und Melancholie aus einem derartigen Seelenkampfe ent¬
stehen können, muß zugegeben werden. Vergessen darf man aber
nicht, daß es sich auch in diesen Fällen oft nicht lediglich um den
Coitus handelt, sondern daß es in dem geschilderten Konflikt
sicherlich sehr häufig zur Masturbation kommt Wenn diese thera¬
peutisch unwirksam bleibt, so hat das gewiß oft seinen Grund darin,
daß dieselben religiösen, ethischen und sozialen Momente, die den
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130
Kossmann.
Patienten zur Abstinenz vom Coitus bewegen, ihm die Masturbation
ebenso verwerflich, ja schimpflich erscheinen lassen, womit sich oft
auch noch eine übertriebene Furcht vor ihrer Schädlichkeit ver¬
bindet. Zu alledem kommt nun nicht ganz selten noch der er¬
schwerende Umstand, daß der männliche oder weibliche Patient
nicht schlechthin von einem allgemeinen Geschlechtstriebe ge¬
stachelt wird, sondern sich zu einem bestimmten Individuum auch
durch dessen besondere äußere und innere Anmut hingezogen fühlt,
das seine Neigung nicht erwidert oder ihm aus anderen Gründen
versagt bleibt. Bei einer Abstinenz, bei der noch dieses Moment
mitwirkt, können begreiflicherweise besonders beträchtliche De¬
pressionszustände auftreten.
Daß nun dieser Seelenkampf durch die „Macht des Gemütes“
im Sinne Kants siegreich beendigt wird, ist wohl nur ausnahms¬
weise der Fall. In Depressionszuständen pflegen die hemmenden
Momente, Willenskraft, Überlegung und Vorsatz eher allmählich
zu erlahmen, die instinktiven Triebe die Oberhand zu gewinnen.
Zieht sich der Kampf mit wechselnden Chancen lange hin, so ver¬
schlimmert sich damit das Leiden des Patienten. Daher kann wohl
zugegeben werden, daß eine Beendigung des Konfliktes durch einen
Triumph des Geschlechtstriebes über alle entgegenstehenden Be¬
denken momentan eine beträchtliche therapeutische Wirkung haben
kann. So mag ein Mönch, der sich von seinem Keuschheitsgelübde
losreißt, ein Jüngling, der eine unglückliche Liebe in den Armen
einer Dirne erstickt, danach zuweilen ersichtlich in seiner Gesund¬
heit aufblühen. Dennoch würde mir der Arzt nicht berechtigt er¬
scheinen, zu solchen Schritten zu raten. Er kann nie voraussehen,
ob der Sieg des Instinktes über die hemmenden Momente ein end¬
gültiger sein und zum dauernden Frieden führen werde. Mit der
Befriedigung des Instinktes verliert dieser alsbald für einige Zeit
einen Teil seiner Stärke; leicht gewinnen dann jene Bedenken der
Religion, der Ethik usw. wieder die Oberhand; zu der früheren
Unruhe gesellt sich nun die Reue oder der Ekel über das, was
nicht mehr ungeschehen gemacht werden kann, und der Patient
ist schlimmer daran als zuvor.
Noch viel bedenklicher aber erscheint mir ein derartiger ärzt¬
licher Rat dem Weibe gegenüber.
Wie die sozialen Verhältnisse in unseren Kulturstaaten heute
liegen, hat der unverheiratete Mann, der außerehelichen Geschlechts¬
verkehr pflegt, außer den geschilderten seelischen Konflikten nur
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Darf der Arzt zum außerehelichen Geschlechtsverkehr raten? 131
noch die Infection zu fürchten, und von dieser kann der Arzt ihn
durch seine Ratschläge ziemlich sicher schützen.
Das Weib kann der Arzt nicht einmal davor schützen. Sehen
wir nicht, in wie zahllosen Fällen sie im Hochzeitsbett infizirt
wird? Wieviel größer ist die Gefahr, wenn nicht ein lange Zeit
vorher wohlüberlegter Entschluß des Lebensgefährten, sondern die
freiwillige Hingabe des Weibes selbst zu flüchtigem Liebesgenuß sie
bald diesem, bald jenem in die Arme wirft? Was könnte ihr der Arzt,
der ihr hierzu rät, zum Schutze gegen die Infection empfehlen?
Soll sie den Liebhaber, den sie sich gewählt, vorher auf seinen
Gesundheitszustand untersuchen lassen oder sich überzeugen, daß er
ein Kondom angelegt hat? oder gibt es irgend eine Einträufelung
oder Salbe, durch deren Anwendung das Weib sich schützen könnte?
Ja! wenn dem so wäre, so würde die Austilgung der Geschlechts¬
krankheiten ja nur die Frage weniger Jahre sein. Wir würden
die Prostituierten nicht mehr kontrollieren, sondern sie mit jenem
Schutzmittel versehen. Wie gerne würden sie selbst es anwenden!
Und wenn die Prostituierten damit von jeglicher Geschlechtskrank¬
heit befreit wären, dann wäre ja die Quelle versiegt, aus der die
Männer immer und immer wieder ihre Infectionen direkt oder in¬
direkt beziehen! Ein schöner Traum! Leider lehrt uns die Wirk¬
lichkeit, daß das Weib gegen die Infection nicht zu schützen ist.
Wer ihm den außerehelichen Geschlechtsverkehr anrät, macht sie
zum fast unfehlbaren Opfer der geschlechtlichen Infection.
Aber der Gefahren für das Weib gibt es noch mehr und
noch wichtigere. Das unverheiratete Weib, das Geschlechtsverkehr
pflegt, verzichtet zunächst auf fast alle Chancen einer Heirat und
damit auch auf alle Vorrechte, die einer Hausfrau eingeräumt werden.
Eine Heirat wird ihr nur möglich, wenn es ihr gelingt, ihren Be¬
werber zu täuschen, oder wenn dieser so erhaben oder so niedrig
denkt, eine nach dem Urteil seiner Mitmenschen Unwürdige nicht
zu verschmähen. Weiter aber: wenn das Weib seinen sexuellen
Verkehr nicht verbirgt, so ist sie gesellschaftlich geächtet; verbirgt
sie ihn, so gerät sie zunächst in die Abhängigkeit von Dienstper¬
sonal, Vermietern usw. Ferner: wem soll sie sich hingeben? Nehmen
wir den günstigsten Fall, daß sie einen auch ihren seelischen Be¬
dürfnissen ungefähr entsprechenden unverheirateten Mann fände,
der sie liebt, und mit diesem ein dauerndes Verhältnis ein ginge!
dann ist aber kein triftiger Grund vorhanden, warum beide dieses
nicht durch die Heirat sanktionieren sollten, denn ein getrennter
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132
Kossmann.
Haushalt kostet ihnen mehr, als ein gemeinsamer, falls sie nicht
etwa in diesem der Repräsentation unnötige Opfer bringen. Ist
dagegen ein dauerndes Verhältnis nicht möglich, muß das Weib
ihre Liebhaber öfters wechseln, wohl gar zu in der Kultur weit
unter ihr Stehenden hinabsteigen, so ist die Gefahr, daß sie sitt¬
lich völlig verwahrlose, wohl, milde gesagt, eine sehr große. Ein
Vergleich mit dem Manne ist da kaum möglich, da sie der duldende,
den Brutalitäten des anderen Teils wehrlos ausgesetzte, von dessen
Diskretion abhängige Teil ist. Endlich aber kommen wir zu dem
für den Gynäkologen wohl ausschlaggebenden Punkte, nämlich zu
der Frage der Conception. Hätten wir das von manchen Vor¬
kämpferinnen der Frauenbewegung geforderte „Recht auf die Mutter¬
schaft“, wäre die außereheliche Mutterschaft mit keinerlei gesetz¬
lichen und sozialen Nachteilen für die Mutter und die Kinder ver¬
bunden — wovon wir ja wohl noch sehr weit entfernt sind, — so würde
immer noch die Belastung einer alleinstehenden Frau mit den
Kosten, Sorgen und Verantwortlichkeiten der Erziehung der Kinder
ein Hemmnis sein, das die Ausübung jenes Rechtes in den aller¬
meisten Fällen unmöglich machen würde. Jedenfalls ist so, wie die
Sachen heute liegen, die Conceptionsverhütung oder die Abtreiberei
das fast selbstverständliche Korrelat des außerehelichen Geschlechts¬
verkehrs der allermeisten unverheirateten Weiber, soweit sie nicht
bereits durch gonorrhoische Infection steril geworden sind.
Wenn es nun, zumal hinsichtlich des Weibes, völlig unerwiesen
und wohl auch unerweislich ist, daß die völlige Abstinenz — auch
von der Masturbation — seiner Gesundheit schädlich sei, so ist
es dafür um so gewisser, daß dem Weibe der Coitus mit anti-
conceptionellen Maßregeln schädlich bezw. gefährlich ist. Bei jenen
unschuldigen Mittelchen, die nicht schützen, mag auch der Schaden
nicht groß sein; aber fast jeder Gynäkologe wird die lokalen
Affectionen kennen, die durch Cervicalstifte, Occlusivpessare u. dgl.
verursacht werden, wird wissen, daß der Coitus mit dem Kondom,
noch mehr natülich der Coitus interruptus in ihren schädlichen
Wirkungen auf das Nervensystem die Masturbation noch weit über-
troffen; daß auch das regelmäßige Ausspülen der Scheide, so wenig
es schützt, die Schleimhaut ihrer Schlüpfrigkeit beraubt und damit
den normalen Verlauf des Coitus oft wesentlich beeinträchtigt
Man wird aber noch einen Schritt weiter gehen können und sagen
dürfen, daß regelmäßiger Coitus ohne Konzeption an und für
sich das Weib schädigt. Die durch jenen bewirkte Hyperaemie
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Darf der Arzt zum außerehelichen Geschlechtsverkehr raten? 133
des Organes scheint stets allmählich zur metritischen Vergrößerung
des Uterus und zur Hyperplasie desEndometriums mit allen ihren
Folgeerscheinungen, unter denen die nervösen nicht die unerheb¬
lichsten sind, zu führen, wenn nicht von Zeit zu Zeit die große
Umwälzung, die die Schwangerschaft mit sich bringt, neue Ver¬
hältnisse schafft. Wenigstens machen wir Gynäkologen die Er¬
fahrung, daß Patientinnen, die uns nach Ablauf mehrerer Ehejahre
wegen Kinderlosigkeit aufsuchen, auch dann regelmäßig an Endo¬
metritis leiden, wenn die Kinderlosigkeit auf Azoospermie des Ehe¬
mannes beruht, der übrigens potent ist. Wenn also Marcuse
(S. 31) meint, für die Empfehlung der Schutzmittel gegen Concep-
tion könnten dem Arzt unmöglich andere Grundsätze maßgebend
sein, als hinsichtlich der Vorsichtsmaßregeln gegen Infection, so
kann ihm der Gynäkologe nicht rechtgeben. Gegen die Infec¬
tion gibt es — wenigstens für den Mann — Schutzmittel, deren
Wirksamkeit zwar nicht absolut sicher, deren Unschädlichkeit aber
erwiesen ist. Gegen die Conception gibt es für das Weib weder
einigermaßen zuverlässige noch zweifellos unschädliche.
Wäre dem nicht so, woher sollte dann die heute allerorten
herrschende Abtreiberei kommen, die so unzähligen Weibern die
Gesundheit zerrüttet, sie zu Sklavinnen ihrer Mitwisser und Mit¬
wisserinnen macht, vielen das Leben kostet? Wenn wir einem
Weibe den unehelichen Beischlaf angeraten und ihr zugleich, wie es
Marcuse will, anticonceptionelle Maßregeln angegeben haben —
sei es auch immerhin unter Ablehnung der Garantie — in welcher
peinlichen Situation werden wir uns befinden, wenn sie eines Tages
in der Verzweiflung über den Mißerfolg jener von uns angegebenen
Maßregeln zu uns stürzt und von uns verlangt, wir sollten sie von
der Schande erretten, in welche sie durch die Befolgung unserer
— wie auch immer verklausulierten — Ratschläge zu geraten im Be¬
griffe steht? Und wenn wir auch ihr mit dem Zuchthause bedrohtes
Ansinnen zurückweisen, tragen wir nicht eine gewisse moralische
Mitschuld auch dann, wenn sie sich nun von uns zu einer profes¬
sionellen Abtreiberin wendet und wohl gar unter deren Händen
jämmerlich zugrunde geht, oder entdeckt und zur Zuchthausstrafe
verurteilt wird?
Wie aber sieht es nun angesichts aller dieser Möglichkeiten
mit der vorgeschlagenen Therapie aas, wenn wir uns doch nun
einmal darüber haben klar werden müssen, daß jedenfalls beim
Weibe die Schädigungen durch die Abstimmung nicht neuromecha-
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134
Kossmann.
nische, oder neurochemische sondern höchstens psychische sein
können? Wie sollten wir uns mit irgend einem Grade von Sicherheit
überzeugt haben können, daß wir der seelischen Beunruhigung und
Depression eines Weibes, in dem der sexuelle Instinkt mit den
religiösen, ethischen oder sozialen Momenten streitet, dadurch ein
Ende machen könnten, daß wir sie zu einem Schritte verleiten,
der sie des Rechtes auf die Ehren einer Hausfrau, auf die Freuden
legitimer Mutterschaft für alle Zeit beraubt, sie zur Geheim¬
haltung ihres Lebenswandels zwingt, sie zur Beute der Lüstern¬
heit bald dieses bald jenes Menschen macht, ihre Gesundheit ernst¬
lich bedroht und sie schließlich wohl gar ins Zuchthaus bringen
kann!
Ich möchte mit dem Arzte, der diese Verantwortung auch
nur einmal in seinem Leben auf sich geladen hätte, nicht tauschen
und glaube auch, bis ich eines anderen belehrt werde, daß auch
diejenigen Arzte, die aus theoretischen Erwägungen heraus solche
Ratschläge für zulässig erklären, im praktischen Falle durch einen
ihrem Vorsatze widerstandleistenden Instinkt von der Ausführung
werden abgehalten werden.
Doch nicht genug damit! Ich glaube, daß der sozialhygienische
Gesichtspunkt, den der Arzt niemals vernachlässigen darf, ihn selbst
dann, wenn er dem außergeschlechtlichen Verkehr des Weibes
irgend eine Möglichkeit günstiger Einwirkung auf ihre Gesundheit
zuschreiben zu können glauben sollte, verpflichtet, davon ab¬
zuraten. Wir haben soeben daran erinnert, daß die Prostituierten
die Quelle für die Durchseuchung des Volkes mit Geschlechts¬
krankheiten bilden. Das trifft natürlich nur insofern zu, als der außer¬
eheliche Geschlechtsverkehr der nicht unter Kontrolle stehenden
weiblichen Individuen relativ geringfügig ist Das Weib aber, das den
außerehelichen Geschlechtsverkehr aus vermeintlichen Gesundheits¬
rücksichten gewohnheitsmäßig aber nicht gewerbsmäßig, also frei von
sittenpolizeilicher Kontrolle, ausübte, würde nicht nur der Infection,
wie wir gezeigt haben, ebenso schutzlos ausgesetzt sein, wie die
Prostituierte, sondern, einerseits eben wegen des Fehlens jener Kon¬
trolle, andererseits wegen des von ihren Liebhabern ihr ent¬
gegengebrachten Vertrauens, ihrerseits zur Verbreitung der Ge¬
schlechtskrankheiten mehr beitragen, als jene. Wer also Weiber
zur regelmäßigen Ausübung des außerehelichen Bei¬
schlafs anregt, der trägt fast unausbleiblich zur Verbrei¬
tung der Geschlechtskrankheiten bei!
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Darf der Arzt zum außerehelichen Geschlechtsverkehr raten? 135
Schließlich könnte man vielleicht von dem Gynäkologen,
nachdem er sich so ausgesprochen hat, Auskunft darüber verlangen,
was für therapeutische Ratschläge er denn seinerseits dem angeb¬
lich oder vermeintlich unter der Abstinenz leidenden Weibe erteilt
zu sehen wünsche. Unsere Antwort ist freilich aus dem vorher¬
gesagten zu folgern. Wir haben dargetan, weshalb wir an eine
neuromechmische oder neurochemische Schädigung des
Weibes durch die Abstinenz überhaupt nicht glauben können. Wo
neuromechanische oder neurochemische Symptome, die von den
Genitalien auszugehen scheinen, vorliegen, hat der Gynäkologe
deren wirkliche Ursachen zu suchen und das Leiden danach zu
behandeln. Insbesondere wird er der Masturbation seine Aufmerk¬
samkeit zuwenden; diese durch Empfehlung des außerehelichen Bei¬
schlafes zu beseitigen, heißt aber, den Teufel durch Beelzebub aus-
treiben. Die nicht spärlichen Mittel und Wege, über die wir sonst
verfügen, dieses Laster einzuschränken, brauche ich hier nicht auf¬
zuzählen. Daß die Empfehlung der Heirat nicht selten indiziert
ist, versteht sich wohl von selbst
Anerkannt haben wir — auch für das Weib — die Möglichkeit der
psychischen Schädigung durch die Abstinenz. Ich gehe in dieser
Hinsicht sogar einen Schritt weiter, als Marcuse und viele seiner
Vorgänger, indem ich die größere Frigidität des weiblichen Geschlechts
als mindestens sehr zweifelhaft ansehe, demnach auch zugebe, daß
ceteris paribus die Möglichkeit der psychischen Störungen beim Weibe
ebenso groß ist, als beim Manne. Ich bin weiter überzeugt, daß
das Gewicht der religiösen, ethischen und sozialen Bedenken gegen
den außerehelichen Coitus beim Weibe der heutigen Kulturvölker
viel größer ist, als beim Manne, daß daher die Abstinenz beim
Weibe viel allgemeiner ist und demnach auch die früher erwähnten
seelischen Kämpfe bei ihm viel häufiger Vorkommen als beim
Manne. Daß ein nicht unbeträchtlicher Teil der Depressionszustände
und Melancholien bei Jungfrauen und Witwen auf diese seelischen
Beunruhigungen zurückzuführen sei, ist auch mir nicht zweifelhaft
Wenn nun aber, wie ich gezeigt zu haben glaube, der außereheliche
Beischlaf diese Beunruhigungen eher zu vergrößern, als zu be¬
seitigen vermag, so liegt es auf der Hand, daß die richtige Therapie
immer nur eine im weitesten Sinne des Wortes psychische sein
kann und soll — im weitesten Sinne, sage ich, weil natürlich diejenigen
diätetischen Momente, die die Psyche beeinflussen, mit zu berück¬
sichtigen sind. Es muß also darauf hingewirkt werden, die Stärke
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136 Kossmann: Darf der Arzt zum außerehel. Geschlechtsverkehr raten?
des Geschlechtstriebes herabzusetzen, und die hemmenden Momente
zu stärken. In erster Beziehung ist Fernhalten von heimlich er¬
regenden Reizen aller Art nötig, mag es sich um Kunstwerke, wie
Dichtungen, Gemälde, oder um gesellige Unterhaltungen, oder end¬
lich um erregende Getränke, wie Wein, Kaffee, Tee handeln. In
der zweiten Hinsicht trägt die dauernde Inanspruchnahme von
Körper und Geist besonders zur Unterdrückung rein instinktiver
Regungen bei. Aufstehen unmittelbar nach dem Erwachen, Aus¬
füllung des ganzen Tages durch Arbeiten, eventuell durch Sport¬
übungen, die die ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen,
lebhafter Verkehr mit tatkräftigen, selbst dem Grübeln und Sich-
insichselbstversenken abholden Menschen, völlige körperliche Er¬
müdung vor dem Zubettegehn — das sind wohl die wichtigsten
Maßregeln, durch die der Mensch ein Überwuchern der instinktiven
Triebe bemeistert, ohne seine Psyche durch Überanstrengung zu
schädigen.
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Darf der Arzt zum aufserehelichen Geschlechtsverkehr
raten?
Von Dr. Max Hirsch, Berlin.
Es ist ein verdienstliches Unternehmen von Marcuse, diese
Frage, die so manches Mal als schwere Last das Gewissen des
Arztes drückt, einmal zusammenfassend in voller Freiheit von Wort
und Gedanken, lediglich vom Standpunkt des Arztes aus, erörtert
zu haben. Mit unerbittlicher Logik setzt er seine Prämissen, zieht
seine Folgerungen und kommt zu dem befreienden Schluß: es ist
erlaubt.
Nur einen verhängnisvollen Irrtum begeht er. Von Anfang
bis zu Ende gibt er sich dem Wahne hin, dem praktischen Ver¬
fahren einen Dienst zu leisten, und doch könnte man ihm auf
Schritt und Tritt beweisen, wie unendlich schwer und meistens
unmöglich es ist, seine theoretischen Erkenntisse in die Praxis
umzusetzen.
Am evidentesten tritt das zutage, wenn man die ganze Frage
einmal nur für das weibliche Geschlecht zu entscheiden versucht.
Da zeigt sich denn, daß auch hier wie in so vielen anderen
Dingen, das weibliche Geschlecht der leidende Teil ist und trotz
dem Feuereifer seiner Befreierinnen auch bleiben wird.
In der Arbeit von Marcuse, welche beide Geschlechter zu¬
gleich behandelt, tritt der Unterschied zwischen ihnen in dieser
Sache kaum hervor. Das erweckt naturgemäß eine falsche Vor¬
stellung und kann unendlichen Schaden stiften.
In den sozialen Verhältnissen liegt es begründet, daß die
Frauen der Abstinenz und ihren Folgeerscheinungen bedeutend
mehr ausgesetzt sind als die Männer. Ich muß den Frauen¬
rechtlerinnen zustimmen, die behaupten, daß die libido sexualis
bei beiden Geschlechtern gleich entwickelt sei. Vollkommen
keusche, von sexuellen Regungen unberührte Personen im ge-
schlechtsreifen Alter sind in beiden Geschlechtern seltene Er¬
scheinungen. Naturae fridigae, Personen mit geringem Sexualtrieb
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138
Hirsch.
finden sich freilich häufiger bei den Frauen. Doch ist das nicht
eine Eigentümlichkeit der weiblichen Anlage, sondern das Resultat
äußerer Verhältnisse. Ihr Hauptkontingent stellen die Proletarier¬
frauen, die neben schwerer Arbeit und unzureichender Ernährung
häufige Schwangerschaften, Geburten und Fehlgeburten überstanden
haben. Auf der anderen Seite aber steht die große Zahl aller mit
normalem Geschlechtsrieb begabten Frauen, die aus sozialen
Gründen weder ehelichen, noch unehelichen Beischlaf pflegen kann.
Auf diese übt die erzwungene Abstinenz den gleichen schädlichen
Einfluß „in Form leichterer Störungen des Wohlbefindens in all¬
mählichen Übergang bis zu schweren Störungen des Nervensystems“
wie auf die verhältnismäßig geringe Zahl von Männern, die unter
Abstinenz zu leiden haben. Denn von diesen übt ein Teil, wie
Markuse richtig sagt, schon von selbst den Beischlaf aus, sobald
sich ihm schädliche Folgen der Abstinenz bemerkbar machen.
Dieser Weg ist aber den Frauen versperrt. Und hierin liegt
das Punctum Saliens des Unterschiedes zwischen beiden Ge¬
schlechtern in dieser Frage. Nehmen wir einmal an, daß der Arzt
so rückhaltlos berechtigt wäre, wie Marcuse es meint, auch dem
weiblichen Geschlecht den Rat zum unehelichen Geschlechtsverkehr
zu geben. Während es dem Manne ein leichtes ist, den Rat des
Arztes in die Tat umzusetzen, wird der überwiegend größte Teil
der weiblichen Klientel diesen Rat ihres trefflichen Arztes mit nach
Hause nehmen, darüber nachdenken, verwundert die Köpfe schütteln
und angesichts der Undurchführbarkeit des Heilverfahrens viel¬
leicht noch tiefer in die Nacht der geistigen Depression versinken.
Und was ist das für ein ärztlicher Rat, der von vornherein
die Unmöglichkeit der Ausführung in sich trägt! Was ist das für
ein Arzt, der einen solchen Rat zu geben sich unterfängt!
Was aber wird der Arzt sagen, wenn die Patientin wieder
vor ihm erscheint und ihm die Frage stellt: „Herr Doktor, wie
soll ich es anstellen? Wohl will ich mich allen Gefahren der
Ansteckung und Schwängerung, die sich nach Ihrer Darstellung
zwar leicht vermeiden lassen, selbst der Gefahr der gesellschaft¬
lichen Brandmarkung will ich mich aussetzen, und doch, Herr
Doktor, — wie fange ich es an!“ So werden sie alle wieder¬
kommen und sprechen. Denn sie alle fast, die unter erzwungener
Abstinenz leiden, gehören den Gesellschaftskreisen an, welche der
Institution des „Verhältnisses“ im Sinne von Ernst Gystrow den
weiblichen Partner nicht zu liefern pflegen. Fürwahr, ich könnte
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Darf der Arzt zum außerehelichen Geschlechtsverkehr raten? 139
keine Antwort auf diese Frage geben. Den Arzt aber möchte ich
sehen, der da spräche, sei es mit geraden Worten oder in um¬
schriebener Form: „Mein Fräulein", oder „werte Frau", werfen
Sie sich einem Manne an den Hals. Und wenn Sie von dem ersten
verschmäht werden, versuchen Sie es zum zweiten und zum dritten
Male, es wird sich schon einer finden." Eine wahrhaft tragische
Größe — dieser Arzt! Der einem Theorem zuliebe allen mensch¬
lichen Empfindungen ins Gesicht speit.
Und noch eins. Es ist allgemein bekannt, daß man den
rechten Maßstab für die Würdigung eines Heilverfahrens am besten
dadurch findet, daß man sich die Frage vorlegt, ob man es seinen
nächsten Anverwandten oder Personen, die seinem Herzen nahe
stehen, ebenso unbedenklich anempfehlen würde. Ich habe vielen
mir bekannten Ärzten diese Situation dargelegt Sie alle wurden
von Schauder ergriffen bei dem Gedanken, daß man ihrer
Schwester raten könnte, zur Heilung ihrer Hysterie, Nymphomanie
oder Psychose den geschlechtlichen Verkehr zu suchen. Ich bin
überzeugt, manch eine Frauenrechtlerin in dem Bestreben, die
Emanzipation des Weibes auch auf dem Geschlechtsgebiete zum
Siege zu führen, wird diesen Standpunkt als rückständig verur¬
teilen. Und dennoch gibt es etwas jenseits der kalten Logik des
Verstandes, das ich mit dem Ausdruck des „rein menschlichen“
bezeichnen will, und dessen Verständnis viele Geschehnisse im
menschlichen Leben erklärt und entschuldigt, aber auch vieles
ungeschehen macht So auch hier.
Von größerer Bedeutung noch als die Intensität scheint mir
die Art des Geschlechtstriebes zu sein. He gar bezeichnet Ge¬
schlechtstrieb als Sammelbegriff für Begattungs- und Fortpflanzungs¬
trieb. Wenn er auch sagt, daß beim Kulturmenschen von einem
Triebe nach Fortpflanzung kaum noch die Rede sein könne, so
gibt er doch zu, daß der Ausdruck für das Weib noch eher passe
als für den Mann. Nach Darwin sind überall im Tierreich die
sexualen Funktionen den mütterlichen untergeordnet Lombroso
geht sogar so weit, zu behaupten, daß die Liebe des Weibes ihren
Ursprung nicht in der Erotik, sondern in dem Verlangen nach
Befriedigung des Mutterinstinktes hat Aber auch an gegenteiligen
Meinungen fehlt es nicht. Mir selbst erscheint es nicht gut mög¬
lich, den Geschlechtstrieb des Weibes so völlig loszulösen von der
ideellen Liebe und dem Wunsche, sich fortzupflanzen. Steht hinter
der libido sexualis des Weibes nicht das ganze große Gebiet aller
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140
Hirsch.
jener Empfindungen, die das letzte und höchste Ziel des Weibes
darstellen, die Vollendung in sich selbst, die Mutterschaft? In
seinem „offenen Brief“ an Neisser fragt Dr. von Rhoden, Ge¬
fängnisgeistlicher in Düsseldorf mit Bezug auf den Geschlechtstrieb:
„Aber was ist denn dieser naturwissenschaftlich biologisch gefaßt?
Er ist doch nichts anderes als Fortpflanzungstrieb und als solcher
von der Natur anerkannt und mit all den bekannten, von den
Poeten seit ■ Tausenden von Jahren besungenen körperlichen und
seelischen Reizen ausgestattet und geweiht. Gerade von diesem
Fortpflanzungstrieb will aber der außereheliche Geschlechtsverkehr
des Kulturmenschen durchaus nichts wissen.“
Wenn dem so ist, sollte da wirklich die Nichtbefriedigung
der Wollust allein schuld sein an den nervösen Störungen,
sollte sie allein die Ursache jenes Zustandes sein, den man mit
dem Namen der Altjungfernschaft belegt? Oder nicht vielmehr
der Mangel reiner Seelenliebe, der vergebliche „Schrei nach dem
Kinde“?
Die Sache so betrachtet, glaubt Marcuse dann noch die
weiblichen Psychopathen durch den Rat zum unehelichen Ge¬
schlechtsverkehr zu heilen? Ich meine, da ist denn doch der
Coitos mit Condom und Schutzpessar ein gar zu erbärmliches
Surrogat Da müßte der Arzt den Mut der Überzeugung haben
und seinen Patientinnen raten, in der Verbindung mit einem ge¬
liebten Manne zur Mutterschaft zu gelangen.
Aber diesem Schritt steht ein großes Hindernis im Wege.
Die Erzeugung degenerierter Kinder. Kein Arzt wird es vor
seinem Gewissen rechtfertigen können, zur Erzeugung geistes¬
schwacher Kinder Veranlassung gegeben zu haben. Andererseits
ist die Mutterschaft an einem solchen Kinde nicht geeignet, den
beabsichtigten Einfluß auf das labile Nervensystem der Mutter
auszuüben. Schließlich ist es, wie Marcuse selbst hervorhebt,
frivol, jemandem zur Ehe zu raten, der zurzeit krank, noch dazu
nervenkrank ist, um so mehr als da ein therapeutisches Mittel zur
Verwendung kommt, das im Falle des Versagens niemals wieder
ausgesetzt oder geändert werden kann. (Blaschko.)
Hindernisse überall. Der Weg ist ungangbar.
Mit großem Nachdruck betont Marcuse, daß dem Rate des
Arztes zum unehelichen Geschlechtsverkehr ein skrupulöses Ab¬
wägen der durch ihn heraufbeschworenen Gefahren vorauszugehen
hat Aber gerade in der Würdigung dieser Gefahren entdecke ich
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Darf der Arzt zum außerehelichen Geschlechtsverkehr raten? 141
bei ihm eine verhängnisvolle Vernachlässigung des weiblichen Ge¬
schlechts. Denn auch hierin ist es gegenüber dem männlichen
bei weitem im Nachteil. Die Gefahren sind groß und zum Teil
unabwendbar. Sie drohen von der Ansteckung und von der
Schwängerung.
Die Autoren, welche sich dem Kapitel der Prophylaxe der
Geschlechtskrankheiten zugewendet haben, geben ihren Rat fast
ausschließlich dem männlichen Geschlecht Und das hat seinen
guten Grund.
Denn abgesehen von minutiöser Sauberkeit hat das Weib
kein einziges Mittel, um die Gefahr der Infektion zu beschränken.
Was nützen Waschungen mit antiseptischen Mitteln, wenn der
Gonococcus bei der Immissio penis in die Harnröhre gelangt ist.
Was Spülungen, wenn er während des Aktes in die Ausführungs¬
gänge der Bartholinischen Drüsen hineinpassiert oder bei der
Ejaculatioseminis in den Cervixkanal gejagt wird. Vermag eine
Spülung mit Sublimat etwa die unsichtbare Erosion zu reinigen,
in deren Tiefe das Gift der Syphilis lagert? „Jeder, der mit einer
Prostituierten oder mit einem leichtsinnigen Mädchen verkehrt,
begibt sich jedesmal in eine große Gefahr.“ Wie viel mehr gilt
dieser auf den unehelichen Geschlechtsverkehr des Mannes bezüg¬
liche Ausspruch Blaschkos für die Frau, welche aller jener vor
dem Akt anzuwendenden Schutzmittel des Mannes, Blokusewski,
Viro und Condom, völlig bar ist? Wie viel mehr, wenn man
bedenkt, daß nach demselben Autor in großen Städten fast jeder
erwachsene Mann einmal, viele zwei- und mehrmals tripperkrank
gewesen, ferner unter 100 Männern etwa 10—12 syphilitisch sind?
Kurz, im Schutze gegen Infektion ist das Weib machtlos.
Angewiesen allein auf die Hilfe des Mannes, mit dem es verkehrt.
Passiv und im höchsten Maße leidend.
So viel über die Nähe der Gefahr einer Infektion. Aber auch
die Größe der Gefahr scheint mir Marcuse zu milde zu beur¬
teilen. Es ist richtig, wir sind imstande, eine Infektion zu heilen.
Ohne bleibenden Schaden zu heilen. Aber man versetze sich in
die Lage einer Person, die endlich den bisher entbehrten Geschlechts¬
verkehr erlangt hat, und nun als Frucht desselben nicht Heilung
ihrer nervösen Beschwerden, sondern zunächst eine Gonorrhoe oder
Syphilis davonträgt. Ein körperliches Leiden hinzugefugt zu einem
kranken Nervensystem. Noch dazu ein körperliches Leiden, welches
bekanntlich selbst wieder zu Alterationen des Nervensystems
Zeitschr. f. Bekämpfung d. Geschlechtskranke III. 11
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142
Hirsch.
disponiert Das Bewußtsein an einem Genitalleiden erkrankt zu
sein, sagt Kisch, wirkt tief und dauernd deprimierend auf das
Gemüt einer Frau, welche sich ihrer Weibespflicht bewußt ist
Angesichts dieses circulus vitiosus kann meines Erachtens der Arzt
die Gefahr einer Ansteckung nicht groß genug veranschlagen.
Aber schließlich — die Infektion läßt sich heilen. Anders
die Konzeption. Hier ist die Therapie verboten und nur die
Prophylaxe bleibt. Wahrhaft beneidenswert ist die Souveränität,
mit der Marcuse von der Sicherheit der antikonzeptionellen
Mittel spricht Und doch behaupte ich, ein zuverlässiges Mittel
außer dem operativen Verfahren der tubaren Sterilisation gibt
es nicht.
Kisch teilt die Präventivmittel in physiologische und arti¬
fizielle. Erstere, welche sich verwiegend auf Zeit und Zahl der
Kohabitationen beziehen, sind völlig unzuverlässig und verlassen.
Die artifiziellen Mittel dagegen, viel im Gebrauch und verschieden
beurteilt, verdienen eine strenge Kritik.
Am meisten verbreitet ist der Coitus interruptus. Seine
Schädlichkeit für das Nervensystem ist von allen Autoren aner¬
kannt Daher kann er überhaupt nicht Gegenstand des ärztlichen
Rates sein, am allerwenigsten in Fällen, wo gerade die Heilung
nervöser Leiden erzielt werden soll. Die mechanische Entfernung
des Sperma aus dem Genitaltraktus des Weibes durch Waschung
und Spülung, ein gleichfalls weit verbreitetes Verfahren, ist höchst
unvollkommen. Die zahlreichen Apparate, die dem Präventiv¬
verkehr dienen, haben den Zweck, zwischen Ei und Samen eine
Scheidewand zu errichten. In der Zuverlässigkeitsskala dieser
Mittel rangiert an erster Stelle der Condom. Der Riccord’sche
Ausspruch, der Condom sei ein Spinnengewebe gegen die Gefahr
und ein Panzer gegen die Wollust, besteht nicht mehr zu Recht.
Mit einem Condom aus gutem Material wird der präventive Zweck
erreicht, ohne Schädigung der Gesundheit des weiblichen Partners.
Aber hier ist es wie beim Schutz .gegen die Infektion. Die An¬
wendung des Condoms entzieht sich dem Machtbereich des Weibes.
Hierin liegt vielfach der Grund für den Kinderreichtum der Prole¬
tarierehen. Nicht aus Unvermögen, sondern aus Bequemlichkeit
und Indolenz verschmäht der Mann den Gebrauch dieses von der
Frau selbst so sehr gewünschten Mittels. Täglich bekommt der
Arzt kraftlose, durch zahlreiche Geburten und Wochenbetten
herabgekoinmene Frauenkörper zu sehen, beredte Zeugen der
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Darf der Arzt zum außerehelichen Geschlechtsverkehr raten? 143
Machtlosigkeit des Weibes im Gebrauch des sichersten Präventiv¬
mittels, des Condoms. Die viel zu vielen anderen Mittel, wie
Schwämme und Tampons, Schmelzpessare, Pulverbläser bedürfen
keiner Besprechung. Sie sind sämtlich zwar der Frau selbst in
die Hand gegeben, aber in ihrer Wirkung absolut unsicher. Ebenso
unzuverlässig, ja sogar gesundheitsschädlich wegen der Neben¬
wirkungen sind die Okklusiv- und Intrauterinpessare, insbesondere
das in neuerer Zeit viel angewandte aus Metall gearbeitete Uterus¬
schutzpessar (Obturator). Anwendbar nur für einen Uterus, ohne
Reizerscheinungen, ohne Adnexerkrankung, wird es selbst häufig
von gesunden Organen nicht vertragen. Aber auch für den
Präventivzweck bietet es keine hinreichende Gewähr. Dafür
sprechen auch die vielen minutiösen Postulate über Größe, Sitz
und Kontrolle des Pessars, deren Erfüllung meistens erst rück¬
läufig aus dem Erfolge bezw. Mißerfolge geschlossen werden kann.
Ich selbst verfüge über drei einwandsfreie Fälle der letzten Zeit, in
denen Schwangerschaft erfolgte, trotz exakter Befolgung der Ge¬
brauchsanweisung. In allen drei Fällen habe ich mich beim Ent¬
fernen des Pessars nach erfolgter Konzeption von seinem guten
Sitz überzeugt.
Das sind die zuverlässigen Präventivmittel, auf die gestützt
Marcuse den unehelichen Geschlechtsverkehr auch den Frauen
anempfehlen zu dürfen glaubt. Zugegeben selbst, daß er in
vielen Fällen damit Glück haben soll, ein einziger Fall, in dem
sie ihn im Stiche lassen, wirft das ganze stolze Gebäude seiner
Deduktionen in den Sand. Ein einziger Fall von Schwängerung als
Frucht seines Heilverfahrens, von Schwängerung mit ihren Folgen
gesellschaftlicher Ächtung, materieller Not, Bastardelend, körper¬
lichen und geistigen Ruins bei schon vorher psychopathischen
Individuen.
Eine erdrückende Last schwerer Anklagen. Nie und nimmer
kann ein Heilverfahren empfohlen werden, das diese Gefahren so
nahe mit sich führt.
Weder theoretische Überlegung noch praktische Anwendbar¬
keit rechtfertigen den Satz, daß es dem Arzte erlaubt ist, dem
unverheirateten Weibe den Geschlechtsverkehr zu raten. Wenn
auch von ehrlichem Streben geleitet, hat Marcuse die Menschen
einen Weg gewiesen, der weit weg führt vom Wohle des einzelnen
und der Gesamtheit.
li*
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Zur Geschichte des Coecal-Condoms.
Von
Hans Perdy (A. Meyerhof in Hildesheim).
Vor einigen Jahren hat Herr Dr. Helbig in Serkowitz auf eine
Erwähnung des Condoms im klassischen Altertum aufmerksam gemacht.
In der 41. Metamorphose des Antoninus Liberalis wird die Art und
Weise beschrieben, wie Prokris dem Minos zu Nachkommenschaft verhalf:
„Sie schob die Blase (das Coecum?) einer Ziege in die Natur (Scheide)
eines Weibes.“ Ziege, Schaf und jugendliches Kalb sind die drei Haus¬
tiere, deren Coecum sich zur Verfertigung eines Condoms eignet 1 ). Wäre
nicht die Kenntnis dieser Art von Verwendung des Coecums im Mittel-
alter völlig verloren gegangen, dann hätte Gabriel Falloppius keine Ver¬
anlassung zu der weit primitiveren Erfindung eines „lintei involucrum“
gehabt, die er seinen Schülern anno 1555 so vorträgt: „ego inveni
linteolum imbutum medicamento .... linteolum ad mensuram glandis
praeparatum.“
In Deutschlands medizinischer Fachliteratur wird in einer großen
Anzahl von Lehrbüchern aus dem 19. Jahrhundert ein englischer Arzt oder
Kavalier am Hofe Karls II. (Stuart), dessen Name Condon oder Conton
gewesen sein soll, für den neuzeitlichen Erfinder des Condoms ausgegeben.
Das Instrument selber wird dann zugleich als „Fisch blase “-Condom
bezeichnet.
Der genaue Kenner der englischen Sexual-Literatur, Herr Dr. Iwan
Bloch (Eugen Dühren), den ich im Oktober 1903 um Auskunft anging,
hatte die Güte, mir zu bestätigen, daß weder John Evelyn noch Samuel
Pepys, die beiden hervorragendsten Memoirenschreiber der Regierungszeit
Karl’s II., einen Arzt Condon oder Conton erwähnen. „Woher der Name
»Condom« stammt, ist bisher ein ungelöstes Rätsel“, schrieb er mir.
Das Wort „Condom“ ist nicht englischen Ursprungs. Das „New
English Dictionary“, edited by James A. H. Murray, das erst bis zum
Buchstaben K gediehen und da bereits 5 Foliobände, von je 1300 Seiten
etwa, umfaßt, hat in Vol. H, Oxford 1893, das Wort „Condom“ nicht.
Der englische Ausdruck für dies Instrument lautet „French letter“, und
gibt nicht, wie ich früher annahm, eine Herkunftsbezeichnung des
Instrumentes selber, als vielmehr der Krankheit, welcher es Vorbeugen
soll. So wie die Syphilis im englischen als „French disease“ oder
l ) Bei einer Ziege im Gewichte von 17,5 kg wies das frisch untersuchte
Coecum, zu einem Drittel mit Wasser gefüllt, einen Umfang von 21 cm, bei einer
Länge von 40 cm auf. — Bei zwei sechsmonatlichen Schaflämmern, deren
Coeca ebenfalls frisch untersucht wurden, ergaben sich bei vollständiger
Wasserfullung der Umfang zu 21 cm, die Länge zu 46 cm.
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Zur Geschichte des Coecal-Condoms.
145
„French gout“ bezeichnet wird, so bedeutet „French letter* 4 so viel wie
„impeditor luis gallicae* 1 .
Alle Andeutungen in der deutschen med. Fachliteratur des 19. Jahr¬
hunderts über den Arzt Conton und über das „Fischblase“-Condom,
seine Erfindung, schienen letzten Endes auf Christoph Girtanner sich
zurückführen zu lassen. Girtanner lebte bis zum Jahre 1788 als Arzt
in Pyrmont. Im April 1789 war er nach Göttingen übergesiedelt Hier
compilierte er anfangs medizinische Schriften und beackerte später als
politischer Schriftsteller die französische Revolution.
Ich lasse zunächst das Zitat aus Girtanner’s Abhandlung folgen,
jene Stelle, die, wie wir sehen werden, als omnium, errorum fons et
origo in dieser Sache sich erweist
Girtanner zählt fünf Klassen von Mitteln auf, welche „zur Vor-
bauung der Lustseuche“ vorgeschlagen sind. 1 )
„IV. Klasse. Mechanische Mittel“.„Eines dieser Mittel muß
ich indessen doch erwähnen, weil es heutzutage allgemein im Gebrauch
ist, und von ausschweifenden Wüstlingen für untrüglich gehalten wird.
Bei dieser Gelegenheit fühle ich, sowie an verschiedenen andern Stellen
gegenwärtiger Schrift, wie schwer es ist, von einem Gegenstände, wie
der den ich behandle, so zu sprechen, daß die Pflichten eines Arztes
beobachtet, von dem, was zum Besten des menschlichen Geschlechts
gereichen kann, nichts übergangen, und dennoch die Sittsamkeit nicht
beleidigt werde. Die deutsche Sprache scheint zu keusch, um für so
schändliche Gegenstände, decente Worte zu liefern. Indessen ist doch
die Sache viel zu wichtig, als daß ich ganz davon schweigen dürfte.
Ich spreche von den allgemein bekannten und gebrauchten, dünnen Fisch¬
häuten, womit, um die Ansteckung zu verhindern, während dem Bei¬
schlafe das männliche Glied überzogen wird. Diese schändliche Erfindung
(wodurch der einzige natürliche Zweck des Beischlafes, das Kinderzeugen,
gänzlich verhindert wird) schreibt sich aus England her, wo diese
Maschinen, unter der ausgelassenen Regierung Karl’s II., zuerst gebraucht
worden sind. Noch heutzutage tragen sie den Namen ihres Erfinders. Sie
vermindern das Vergnügen, vernichten den natürlichen Zweck des Bei¬
schlafes, und sind als Vorbauungsmittel nicht hinreichend, indem die
kleinste Öffnung eine Möglichkeit der Ansteckung zuläßt, oder auch
wohl, während dem Beischlafe, durch allzustarke Ausdehnung, die Haut
reißt*). In Paris, London, Berlin und St. Petersburg werden solche
öffentlich verkauft, und die Nachlässigkeit der Polizei, welche den Ver¬
kauf einer so schändlichen Erfindung, die mehr als irgend eine andere
der Bevölkerung schadet, nicht zu verhindern sucht, ist in der Tat un¬
begreiflich.* 4
So weit Christoph Girtanner. An der mit einem Sternchen ge¬
kennzeichneten Stelle gibt er (l c., pp. 282 et 283) in einer Anmerkung
ein längeres lateinisches Zitat aus einer Schrift des Johannes Astruc.
*) Abhandlung über die venerische Krankheit von Christoph Gir¬
tanner, der Arzneiwissenschaft und Wundarzneikunst Doctor. Bd. I, S. 280
—282. Göttingen 1788.
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146
Ferdy.
Dieser war einer von den Ärzten Ludwig’s XIII. Seine, 1788 in erster
Auflage erschienene Schrift über die venerischen Krankheiten galt zu
ihrer Zeit als klassisch, so daß noch fünfzig Jahre später Girtanner
in der Vorrede auf S. VII seiner oben angeführten Arbeit mit gutem
Grunde behaupten konnte: „Astruc’s Abhandlung habe ich mir zum
Muster vorgestellt.“
Girtanners vorerwähntes lateinisches Zitat aus Astruc wird
interessant, nicht sowohl durch das, was es bringt, als durch das,
was er mit Vorbedacht verschweigt. Demgemäß ergänze ich
aus der Quelle selbst 1 ): „Audio a perditissimis ganeonibus, qui mere-
tricios amores effraenate sectantur adhiberi nuper in Anglia folliculos
e tenui et inconsutili pellicula in vaginae formam confictos et Anglice.
Condum dictos, quibus congressuri obvolutum penem loricant, ut a
periculis puirnae semper dubiae tutos se praestent. Autumant scilicet
ita caiaphractos hastisque eo modo clypeatis se vulgivagae veneris dis-
crimina subire impune posse. Sed errant quidem maxirae.“
Girtanner beginnt erst mit Astruc’s Worten: „Autumant
(scilicet) ita“ das Zitat, dessen spätere Ausführungen seine eigene An¬
sicht unterstützen sollen.
Das Wichtigste aus Astruc für unsern Zweck ist die Stelle: „und
im Englischen Condum genannt“; nach der englischen Aussprache des
Wortes klingt das u wie ein kurzes offenes o. Astruc gibt auch eine
Beschreibung, die erkennen läßt, daß sein Gewährsmann im Jahre 1738
oder früher in England das noch heute gebräuchliche, aus dem Coecum
des Schafes verfertigte Instrument vor Angen gehabt hat. Die literarische
Quelle, auf welche Astruc bei dieser Gelegenheit zurückgreift, ist ver¬
hältnismäßig kurz und einsilbig in bezug auf diesen Punkt. Es ist die
Abhandlung über Syphilis eines Londoner Arztes, Daniel Turner, der
darüber nur sagt 2 ): „Das Condum ist das beste, wenn nicht das einzige
Vorbeugungsmittel, welches unsere liederlichen Burschen ausfindig ge¬
macht haben.“ Aus diesen, im Jahre 1717 geschriebenen Worten, im
Zusammenhang mit denen des Astruc aus dem Jahre 1738 ergibt sich,
daß bereits im Jahre 1717 das heutige Coecal-Condum in England im
Gebrauch war, und da andererseits Daniel Turner auch der Erfindung
des Gabriel Falloppius gedenkt, so wird man Girtanners Zeit¬
bestimmung mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit „als tatsächlich er¬
wiesen ansehen dürfen, daß also zur Zeit der Regierung Karls II. (gest.
1685) in England die Erfindung Falloppii in der Weise verbessert
ward, daß man wieder, wie einst die Prokris beim König Minos, ein
Coecum an Stelle von Falloppii Leinwand verwendete.
Dahingegen ist es pure Erdichtung, eine Privatleistung des Christoph
Girtanner, daß das Wort „Condum“ mit dem Namen des Erfinders
etwas zu schaffen hätte; keine ältere Quelle unterstützt diese Behauptung.
*) De morbis venereis libri sex. auctore Johanne Astruc. Liber III,
Caput II, § 2, p. 209. Parisiis 1738.
*) Syphilis, A practical dissertation on the venereal Disease by Daniel
Turner of the College of Physicians, London; p. 74. London 1717.
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Zur Geschichte des Coecal-Condoms.
147
Festgestellt ist nur dieses: Das Condum, oder, wie wir heute um der
Unterscheidung von dem gleichartigen, aus Gummi gefertigten Instru¬
ment willen uns auszudrücken genötigt sind, das Coecal-Condum, war
vor dem Jahre 1717 in London in Gebrauch.
Im Jahre 1738 kennt es Astruc in Paris nur erst vom Hören¬
sagen. Am Tage Allerheiligen des Jahres 1753 stibitzt Giovanni
Jacopo Casanova einer Nonne in Venedig aus ihrem Schreibsekretär
den Vorrat an Schutzmitteln und praktiziert ein Gedicht an deren Stelle.
Allein er läßt sich durch ihr Bitten erweichen, und „gibt ihr zurück,
was so kostbar für eine Nonne, die dem Amor opfenr will“. Im
Jahre 1788 verkauft man das Coecal-Condum öffentlich außer in
London, auch in Paris, Berlin und St. Petersburg.
Girtanners im Jahre 1788 geschriebene Syphilis-Abhandlung weist
naturgemäß gegenüber jener des Astruc vom Jahre 1738 erhebliche
Fortschritte auf, allein an dem Punkte, der speziell unser Interesse in
Anspruch nimmt, ist der Rückschritt bei Girtanner gegenüber dem
Astruc unverkennbar. Nüchtern und sachlich dient der Franzose seiner
Wissenschaft; unbefangen berichtet er das, was ist.
Im Gemüte des Deutschen trägt der Pastor über den Arzt den
Sieg davon; ein ängstliches Verschweigen! Er meint, er müßte zu¬
vörderst der „Sittsamkeit“ dienen. Die übel traktierte Wissenschaft
reagiert mit einer Metamorphose. Ein unverstandenes Fremdwort als
Bezeichnung des Instruments gewinnt Sinn als „Name des Erfinders“.
Das „ungenühte Häutchen von Vaginalform“ wird mit anatomischem
Scharfblick als „dünne Fischhaut“ bestimmt, worunter G. sich an¬
scheinend die Schwimmblase eines Fisches vorstellt. Und doch kannte
Astruc 1738 das Instrument nur vom Hörensagen, währenddem Gir¬
tanner, wie er in der Vorrede seiner Arbeit erwähnt, vor 1788 in
London und Edinburgh gewesen und es auf diesen Reisen wohl in natura
kennen gelernt haben dürfte.
Die bisher gebräuchlich gewesene und nun als unrichtig nach¬
gewiesene Schreibweise Condom anstatt Condum hat mich noch vor
kurzem, nämlich in Anmerkung 1, auf S. 176 meiner „Sittlichen Selbst¬
beschränkung“ dazu verführt, das Wort Condom von der gleichnamigen
Hauptstadt des französischen Departements Gers abzuleiten. Meinen Irr¬
tum muß ich jetzt berichtigen.
Das Wort „Condum“ ist, wie oben erwähnt, kein englisches. Es
ist ein schon vor 1717 in Gebrauch gewesenes Fremdwort, welches
später wieder aus der Sprache verschwand. Ich vermute bestimmt, daß
eine der lateinisch geschriebenen Syphilis-Abhandlungen gelegentlich den
Ausdruck „condus“ im Akkusativ gebraucht hat, und daß der Ausdruck
mißverständlich in dieser Form in allgemeinen Gebrauch gekommen.
Condus bezeichnet denjenigen, der etwas aufhebt, verwahrt. Alsdann
wäre das Wort hier als „receptaculum seminis“, oder als Verwahrer
gegen etwas, als „impeditor luis venereae“, ganz dem Sinne der heu¬
tigen Bezeichnung „french letter“ entsprechend gebraucht worden. Der
angemessene Ausdruck wäre alsdann: „Der Coecal-Condus“.
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Erwiderung auf Dr. R. de Cantpagnolles Arbeit
„Ober den Wert der modernen Instillationsprophylaxe der Gonorrhoe“
(Bd. III, Heft 1, 2 u. 3 d. Z.)
von Dr. Blokusewski.
Der mir zur Verfügung gestellte Raum gestattet nur kurze Be¬
merkungen; Campagnolle sagt bez. der Mißerfolge S. 14:
„Von 132 Männern, denen er während 3 Jahren das Verfahren empfahl,
waren auf Grund unbedingter Glaubwürdigkeit nur 76 verwertbar. Von
diesen akquirierten 9 eine Gonorrhoe. Da indessen von 3 die Instillation
nicht unmittelbar, sondern erst einige Zeit (ca. I 1 /*—5 Stunden) nach dem
Koitus vorgenommen war, kommen nur 6 Infektionen in Betracht.“
Weiter S. 24:
„Von diesen 6 hatte die Hälfte uriniert, einer wenig, einer sehr aus¬
giebig; von den ersten 3 (späte Instillation) hatten 2, jedoch in geringer
Menge, Wasser gelassen“ und weiter: „trotz des Urinierens blieb in 5 Fällen
die Einträufelung wirkungslos.“
Unter vorschriftsmäßiger Prophylaxe verstehe ich aber eine
Instillation, die möglichst bald, spätestens nach 1 / 2 Stunde vorgenommen
wird und zwar nach der von mir angegebenen Art des Urinierens
(zeitweises Bedecken der Harnröhrenmündung mit den Fingern zur Er¬
höhung des Druckes des Urinstrahls selbst bei geringer Urinmenge.
Wenn in der Gebrauchsanweisung das Urinieren nicht als conditio sine
qua non hervorgehoben wird, so hat das den praktischen Grund, daß
nicht etwa bei zufälliger Unmöglichkeit des Urinierens auch die Ein¬
träufelung unterlassen wird. Aus den ausführlichen Krankengeschichten
der 9 Infizierten ist aber zu entnehmen:
1. 4 Personen haben zu spät (1—37 Stunden) eingeträufelt (Fall I,
VII, VIII, IX), davon außerdem I und VII ohne Urin, VIII und IX
bei wenig Urin; IX ist ferner verdächtig, weil er 10°/ o Arg. benützte,
obwohl er 1 Stunde nach dem Koitus bereits einträufelte. Jedenfalls
fallen nicht 3, sondern 4 ohne weiteres fort.
2. Von den bleibenden 5 haben II und V gar nicht uriniert, III
und IV wenig bezw. zweifelhaft und nur VI gibt an, alles vorschrifts¬
mäßig besorgt zu haben. Leider ist gerade bei diesem Fall (K. ohne
Angabe des Standes) die Krankengeschichte auffallend knapp. Als positiv
ungünstig bleibt also nur dieser eine Fall unter 76, eventuell unter 132,
da ja die fortgelassenen 56 möglicherweise Männer waren, die Cam¬
pagnolle nicht konsultierten, weil kein Grund vorhanden war. Da aber
Campagnolle S. 13 bezw. 23 sagt, daß im letzten Jahr seine Klienten
unter günstigeren Verhältnissen waren, weil er auf meine alte Vorschrift
betreffs der Art des Urinierens zurückgriff, bei den Infizierten aber die
genauere Jahreszahl nicht angibt, so könnten doch auch nach dieser
Richtung Fehlerquellen bestehen.
Nicht ganz richtig finde ich auch die Berechnung der positiven
Erfolge (S. 20), denn Campagnolle rechnet die 46 Männer nicht hin¬
zu, die, nur mit 1 bezw. 2 Frauen verkehrend, sich nicht infiziert hatten,
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Erwideruug auf de Campagnolles Arbeit: Über den Wert usw. 149
obwohl er selber angibt, daß bei einem Drittel nur coitus impurus an¬
genommen werden dürfte.
Auf die Reizungen wird wohl von spezialistischer Seite geantwortet
werden. Sollten dieselben so gefährlich sein, wie Campagnolle angibt,
so müßten die derart disponierten Männer die Einträufelungen ganz
unterlassen bezw. andere noch weniger reizende Mittel (Argonin) oder
schwächere Lösungen benutzen. Dieses für den einzelnen Fall zu be¬
stimmen wird Sache des Arztes sein, zumal anscheinend der einzelne
auf die verschiedenen Mittel verschieden reagiert. Diesen Erwägungen
habe ich durch meinen Apparat „Amicus“ Rechnung getragen, der des¬
halb auch leer verkauft wird.
Wenn Campagnolle ferner bezüglich der ungünstigen Resultate
sich auf Loeb-Köln beruft und dabei hervorhebt, daß ich diese
wichtige Arbeit nicht erwähne, obwohl sie in demselben Fachorgane wie
die meinigen erschienen ist, so muß ich bemerken, daß ich dieses
(Derm. Centr. - Blatt) nicht halte und, wie ich nachträglich ersehe,
nur Behrmann die Arbeit besprochen hat. Da Campagnolle die
ungünstigen Resultate genau auffübrt, hätte er auch Loebs Resümee
anführen können:
„Ich glaube aus alledem den Schluß ziehen zu können, daß wir heute
vortreffliche Mittel zur Vermeidung der Gonorrhoe besitzen, namentlich
möchte ich wegen der geringen unangenehmen Begleiterscheinungen meine
kombinierte Argentum-Cocain-nitricum-Lösung empfehlen.“
Übrigens antwortet mir Loeb soeben, daß er trotz der Reizungen
und Mißerfolge, ein entschiedener Anhänger meiner Methode ist und
dieses auch in einer demnächstigen Arbeit über ein wichtigeres Material,
entgegen Campagnolle, ausführen wird.
Wenn Sängers Anregung betreffend die 2°/ 0 Argentum-Lösung auf
der Magdeburger Naturforscherversammlung 1884*) nirgends erwähnt wird,
so kann es daran liegen, daß es eben nur einleitende Worte zu seinem
Vortrag über Frauenkrankheiten waren.
Übrigens bringt Campagnolle nichts Besseres. Seine Idee der
Kontaktprophylaxe auch gegen Gonorrhoe (S. 101) ist nicht ganz neu;
denn wie ich in meiner letzten Arbeit „Die Entwickelung der persön¬
lichen Prophylaxe der Geschlechtskrankheiten“ (Monatsberichte für Urologie
1904, Bd. IX Heft 11) angegeben, wird in den verschiedensten Bordells
auch Indiens nicht nur das Glied mit öl eingefettet (Neisser-Josefs
Methode), sondern es werden auch einige Tropfen in die Harnröhre
befördert. Aber selbst wenn eine trotz des Adhärens nicht reizende
Salbe gefunden werden sollte, so würden ihr doch die Mängel eines
jeden ante coitum anzuwendenden Verfahrens anhaften und außerdem
müßte für den Fall der zufälligen Nichtanwendung vor dem Beischlafe
doch das Desinfektionsverfahren (Instillation) nach dem Beischlafe in
Reserve gehalten werden.
0 Das Exemplar der Bonner Universitätsbibliothek (Tagebl. der 57. Ver¬
sammlung, Sitzung vom 19. Sept. 1884, S. 227 — Red.: Aufrecht) enthält
den Vortrag nur angekündigt.
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Referate.
Ruth Br£. Staatskinder oder Mutterrecht? Versuch zur Erlösung aus dem sexuellen
und wirtschaftlichen Elend. W. Malende. Leipzig 1904.
Ein Kind und Arbeit! Dem Weibe alles Recht, dem Manne alles
Unrecht! Das Weib’ das Haupt, der wirtschaftliche, geistige und sitt¬
liche Mittelpunkt der Familie, der Mann ein Anhängsel, nur eben ge¬
duldet und zur Ausübung des Vaterrechtes weder befähigt noch befugt!
In dies unhaltbare Extrem ist eine Bewegung ausgemündet, die in
vielversprechender und begrüßenswerter Weise gegen Gescblecbtssklaverei
und Herabwürdigung des Weibes, sowie gegen die legalisierte Prosti¬
tution zu Felde zog. Aus dem Nachweis, den Ruth Brd in ihrem
„Recht auf die Mutterschaft“ führte, daß das Weib einen Sexualanspruch
habe gleich dem Manne, und zwar einen, der durch die nachfolgende
Mutterschaft seine besondere Weibe empfängt, ist ein Schlachtruf ge¬
worden gegen alles, was Mann heißt.
Der wissenschaftliche Stützpunkt dieser neuesten Theorie vom Rechte
der Mutter ist das sog. „Mutterrecht“, das von Ruth Bre völlig falsch
verstanden und erklärt wird, da es sich dabei keineswegs um eine ge¬
setzlich festgelegte Rechtsordnung, sondern um die nachgeborene Be¬
zeichnung eines Zustandes handelt, in dem die Eigentumsverhältnisse
zusammen mit der Ordnung der Geschlechts- und Familienbeziebungen
eine gewisse Suprematie des weiblichen Geschlechts bedingten. Eine
Übertragung des Mutterrechtes auf moderne Zustände ist unbedingt aus¬
geschlossen.
Wir müssen sowohl im Hinblick auf die von ihr vertretene gute
Sache wie in ihrem eigenen Interesse wünschen, daß Ruth Br6 recht
bald von dem Irrweg zurückkomme, den sie in ihrer jüngsten Schrift
eingeschlagen hat und ihre starke und ehrliche Kraft wie ehedem an
die Selbstbefreiung der Frau setze. Da ist noch unendlich viel zu tun,
bevor nur das Notwendigste erreicht ist.
Auf diesem Pfade wird unsere volle Anteilnahme bei ihr sein.
Dagegen geht es nicht an, die in ihrem „Staatskinder oder Mutterrechft“
enthaltenen Vorschläge zu diskutieren. Man bestreitet nur das, was man,
wenn schon für abänderungsfähig und bedürftig, doch immerhin für aus¬
führbar hält. Das aber ist hier nicht der Fall. Henr. Fürth, Frankfurt a/M.
L. Butte. Les nourrices sont soumises ä une reglementation. Pourquoi les pro-
stitules ne seraient-elles pas rlglementles? Annales de th£rapeutique derma-
tologique et syphiligraphique. 5. Aug. 1904.
Butte referiert einen Artikel von Berthod über die Behandlung
von Geschlechtskrankheiten (Journal deMedecine de Paris, 15. Juni 1904)
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Referate.
151
in extenso. Berthod steht auf abolitionistischem Standpunkt. Er ist
gegen die Reglementierung mit der Begründung, daß jeder Eigentümer
und Herr seines Körpers und der Arbeit, die er mit demselben leistet,
ist. Er kann dieses Eigentum vermieten, ähnlich wie die Ammen, nur
darf er damit andere nicht schädigen, absichtlich oder unabsichtlich.
Die Prostitution ist, von diesem Gesichtspunkt aus, gestattet, ist kein
Verbrechen und berechtigt daher an und für sich nicht zu polizeilichen
Maßnahmen. Berthod sagt, daß man den sexuellen Erkrankungen die
ominöse Bedeutung nehmen müsse. Man müsse sie wie die anderen
Krankheiten betrachten und dementsprechend behandeln. Da die Infektion
fast nur auf dem Wege des Geschlechtsverkehrs entstehe, solle man die
Geschlechtskranken mit den anderen Kranken zusammen in denselben
Krankenhäusern behandeln, insbesondere zusammen mit den Hautkranken.
Gerade den Vergleich des Abolitionisten Berthod zwischen Amme
und Prostituierter verwertet Butte vom reglementaristischen Standpunkt.
Die Ammen müssen sich einer genauen körperlichen Untersuchung unter¬
werfen wie die Prostituierten, und niemand bat noch gegen diese Ma߬
nahmen Einspruch erhoben. Ihr Schamgefühl ist ebenso verletzbar wie
das der Prostituierten. Wenn man nun die gesetzlichen Maßnahmen be¬
züglich der Überwachung der Ammen für berechtigt hält, ist nicht ein¬
zusehen, warum die Prostituierten, die auch ihren Körper vermieten
und hierbei sehr schwere Krankheiten wie Syphilis und Gonorrhoe über¬
tragen können, nicht auch reglementiert werden sollen.
Julius Baum-Berlin.
L« Butte. La Prostitution et l’assistance publique. (Nouveau projet ({'Organisation
du Service sanitaire des prostitudes.) Annales de thärapeutique dermatologique
et syphiligraphique. 5. Juli 1904.
Magistrat und Polizei von Paris rekurrieren in einem Reglements¬
entwurf, betreffend Reorganisation der. Sittenpolizei, vielfach auf die
städtische Armen Verwaltung, dieAssistance publique, so z. B. sollen
die Gesundheitszertifikate der Prostituierten durch einen Arzt oder Wund¬
arzt der Assistance publique ausgestellt werden. Die Verwaltung der
Assistance publique wird ersucht, dem Magistrat einen Entwurf betreffs
Errichtung von Dispensaires für die Prostituierten einzureichen. Dem
gegenüber glaubt Butte, daß diese Aufgaben absolut nicht in das Ar¬
beitsgebiet der Assistance publique fallen. Ebensowenig wie die öffent¬
lichen Asyle für Geisteskranke zur Interessensphäre der Armen Verwaltung
gehören, obgleich gerade unter diesen sehr viele Arme sind, ebensowenig
soll man derselben die Behandlung oder Untersuchung der Prostituierten
überweisen. Diese neue Aufgabe würde der Armenkommission viel Geld
kosten. Ferner haben viele Armenärzte, die sich anderen Spezialitäten
zugewendet haben, nicht die zu der Untersuchung nötige Erfahrung.
Aber auch wenn spezialistisch ausgebildete Ärzte dazu ausersehen würden,
würden sich die anständigen Frauen, die sich Geschlechtskrankheiten zu¬
ziehen, nicht mit den Prostituierten zusammen behandeln lassen. Die
Prostituierten würden sich nicht als solche zü erkennen geben, wenn sie
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152
Referate.
sich krank glauben oder vom Arzt für krank erklärt werden, und ihr
Gewerbe fortsetzen.
Butte macht dafür folgende Vorschläge.
Die Überwachung der Prostituierten muss vollkommen von dem
Verwaltungsdienst getrennt werden.
Man soll einrichten 1. ein Asyl zur Aufnahme der kranken Pro¬
stituierten; 2. eine Zentralanstalt zur ambulanten Untersuchung und Be¬
handlung; 3. getrennte Anstalten zur Behandlung oder zur Untersuchung.
In das Asyl sollen alle geschlechtskranken Prostituierten aufgenommen
werden, sei es daß sie sich freiwillig melden, sei es daß sie überwiesen
werden. So lange sie infektiöse Erscheinungen haben, dürfen sie dasselbe
nicht verlassen.
In der Zentralanstalt werden die Prostituierten untersucht, die früher
einmal Prostituierte waren und jetzt wieder ihre Karte erneuern wollen
oder solche, deren Karte nicht mehr gültig ist oder solche, die erst Pro¬
stituierte werden wollen. — Findet man in dem Zentralinstitut eine in¬
fektiöse Geschlechtskrankheit, so wird die betreffende Person in das Asyl
geschickt, nicbtgeschlecbtliche Krankheiten (Krätze u. s. w.) werden in
der Zentralanstalt in einer besonderen Abteilung behandelt. Daran
angegliedert sind Anstalten zur Untersuchung, welche von den Prosti¬
tuierten aufgesucht werden sollen, die regelmäßig ihre Karte erneuern
lassen, und Anstalten zur Behandlung, in welche Prostituierte mit nicht¬
infektiösen Geschlechtskrankheiten von den Untersuchungsanstalten ge¬
schickt werden. Julius Baum-Berlin.
Albert Flachs. Zur Frage der sexuellen Aufklärung. Zeitschr. f. Schulgesund¬
heitspflege 1904, 7.
Therese Oppler. Zur Frage der sexuellen Aufklärung. Zeitschr. f. Schul¬
gesundheitspflege 1904, 9.
Unter Bezugnahme auf den Nürnberger Kongreß für Schul¬
hygiene, auf dem namentlich von pädagogischer Seite eine systema¬
tische Aufklärung der heranreifenden Jugend durch die Schule gefordert
wurde, verweist Flachs vom Standpunkte des Arztes aus auf die Not¬
wendigkeit, der Betrachtung dieses schwierigen Problems folgende Tat¬
sache zugrunde zu legen: „Die Gefahren, denen die zur Pubertät
Heranwachsenden ausgesetzt sind, liegen nicht so sehr in der
Unkenntnis der unseligen Folgen, welche der Mißbrauch des
Geschlechtstriebes für Geist und Körper hat, als vielmehr in
der Impetuosität des erwachenden Geschlechtsbetriebes selbst.“
Die Erfahrung, daß die Mädchen, trotzdem die weibliche Seele allen
emotiven Erregungen viel weniger widersteht als die männliche und die
Menstruationsvorgänge, mit deren erstem Auftreten sich auch der Ge¬
schlechtstrieb einstellt, selbst die gleichgültigsten Individuen aufmerksam
machen, durch die Pubertät und während dieser weit weniger geschädigt
werden als die Knaben, lehrt nach Ansicht* des Verf., daß die Erziehungs¬
methode, die bislang der heranreifenden Jungfrau gegenüber beobachtet
zu werden pflegte, auch auf die männliche Jugend übertragen werden
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Tagesgeschichte.
153
maß. Das heißt: dauernde Beobachtung und scharfe Kontrolle sind die
Hauptbedingungen für eine auf die Fernhaltung sexueller Schädigungen
hinarbeitenden Erziehung. Die Überwachung soll unauffällig sein und
die moralische, intellektuelle und körperliche Hygiene in gleicher Weise
berücksichtigen. Flachs führt einige Beispiele aus dem Leben an, um
an ihnen seine Ansichten zu erläutern, die zur Basis das Bestreben haben,
1. die Zeit der Pubertät möglichst weit binauszuschieben und
2, den Geist des reifenden Knaben und Mädchens von den sexu¬
ellen Dingen abzulenken. Von einer Aufklärung über das Geschlechts¬
leben des Menschen will der Verf. nichts wissen, wenn sie etwa in einem
bestimmten Alter oder in der Schule als (offizieller oder inoffizieller)
Lehrgegenstand erfolgen soll; sexuelle Belehrung darf nur da stattfinden,
wo das Kind bereits verderbten Kameraden zum Opfer gefallen ist oder
aber ein beunruhigend starker Geschlechtstrieb sich bemerkbar macht;
und dann soll nur der einzelne Knabe oder das einzelne Mädchen ganz
unter vier Augen von dein Lehrer, dem Vater, der Mutter oder dem
Hausarzt vorgenommen werden. Und immer ist dabei die heftige Im-
petuosität des erwachenden Sexualtriebes zu beachten und einzugestehen
— nicht etwa zu leugnen.
Im Gegensatz zu Flachs vertritt Therese Oppler, eine Ärztin,
folgenden Standpunkt: „Die krankhaft gesteigerten Geschlechts¬
gefühle der heranwachsenden Jugend sind zum größten Teil
eine Folge der mangelnden sachgemäßen Aufklärung über die
Physiologie und Pathologie der Geschlechtstätigkeit.“ Sie er¬
wartet von einer etwaigen Durchführung der Flachsschen Vorschläge
eine Steigerung des herrschenden Systems der Heuchelei und Prüderie
zur höchsten Potenz und prophezeit solcher Erziehungsmethode ein völliges
Fiasko. Rechtzeitige und sachverständige Aufklärung, noch ehe die Neu¬
gierde gereizt und die Phantasie vergiftet ist, sei der sicherste Schutz
gegen die sexuellen Gefahren der Pubertät, und der Schule fällt die
Aufgabe zu, in der „Gesundheitslehre“ auf das Geschlechtsleben und
seine Bedeutung gebührend und gründlich hinzuweisen. M.
Tagesgeschichte.
Nürnberg. Zur Frage der sexuellen Aufklärung bringen
wir heute noch zwei Mitteilungen von dem internationaleu Kongreß
für Schulhygiene in Nürnberg.
1. Eine Mitteilung von Prof. Dr. Hartmann-Berlin, wonach kürz¬
lich in Leipzig ein praktischer Versuch mit der sexuellen Belehrung
gemacht worden ist
Dort hat man im evangelischen Vereinshaus eine Versammlung für
die oberen Klassen der höheren Lehranstalten über das Thema der
Unsittlichkeit gehalten, wobei etwa 200 Schüler, Primaner, Sekundaner
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154
Tagesgeschichte.
und Schüler der 1. Real Schulklassen anwesend waren, dazu auch einige
Lehrer. An erster Stelle sprach über die Onanie Sanitätsrat Dr. Taube
mit voller Offenheit und mit vollem Ernste, so daß die Schüler einen tiefen
Eindruck hatten. Er ging aus von dem erschreckend hohen Prozentsatz
der Studenten an den Geschlechtskrankheiten, gab eine kurze anatomische
Darstellung der Geschlechtsorgane und dann der Geschlechtskrankheiten,
besonders der Syphilis, bei der manche ekelerregende Einzelheiten vorkamen.
Hierauf behandelte er die Prostitution und ihre Opfer in beiden Geschlechtern,
und schloß mit einem warmen Appell an die jungen Leute, den Geist
nicht in das Joch der Materie zu spannen und besonders der Versuchung
des Alkohols zu widerstehen. An zweiter Stelle sprach ein juristischer
Verwaltungsbeamter, Herr v. d. Decken und teilte aus seiner staats¬
anwaltlichen Praxis einen Fall mit, der ganz besonders geeignet war,
die Augen der Jugend über die Folgen der Unsittlichkeit zu öffnen. Es
war die Geschichte einer Mordtat, die die letzte Folge eines Ehebruchs
gewesen war. Redner trug sie in vorzüglicher Form vor mit meister¬
hafter psychologischer Analyse des Verbrechers und wirkte dadurch
erschütternd auf die jungen Leute. Der Vortrag schloß mit einem
beredten, gerade auf die Hörer berechneten Appell zur Nachahmung des
sittlichen Heldentums Christi! Professor Hartmann teilte noch aus
seiner persönlichen Erfahrung mit, daß man in den Kreisen der
sächsischen Gymnasiallehrer mehr und mehr überzeugt sei von der Not¬
wendigkeit, die Schüler der höheren Lehranstalten besonders in den
Großstädten wirksam zu schützen gegen die sexuellen Gefahren. Von
der Wirksamkeit des Schularztes, der die Schüler von Jahr zu Jahr in
ihrer Entwicklung beobachten könne, versprach er sich besonderen Erfolg
nach dieser Seite.
2. Gymnasialdirektor Strach-Prachatitz gab, nachdem in den Ver¬
handlungen die Schwierigkeiten betont worden waren, wie der Schul¬
jugend eine solche Belehrung geboten werden solle, den Wortlaut einer
solchen Belehrung, wie er sie, freilich an Jünglinge von 17—20 Jahren
gerichtet habe.
Ich will heute zu euch als älterer Freund, als Stellvertreter
eurer Eltern reden. Meine Worte sind nur für euch, für Jüng¬
linge, nicht für Knaben berechnet, und ich trage euch streng auf,
daß das, was ich euch sagen will, unter uns bleibt, daß ihr euch
nicht etwa vergesset, mit jüngeren Knaben darüber zu reden.
Ihr befindet euch in einem Entwicklungsstadium, das für
eure ganze Zukunft ausschlaggebend ist. Je nachdem ihr jetzt
der Natur Zeit gebt, euch zum Manne zu entwickeln oder nicht,
je nachdem ihr jetzt keusch lebt oder nicht, davon hängt es ab,
ob ihr euch zu voller Manneskraft entwickeln oder als verachtete
Schwächlinge, mit den häßlichsten Krankheiten entstellt, einem
frühzeitigen Ende entgegen wanken werdet.
Der kostbarste Stoff im männlichen Körper ist der Same.
Es ist eine ärztlich festgestellte Tatsache, daß der Verlust von
vielen Gramm Blutes nicht so schwächt, wie der Verlust von
einem Gramm Samen.
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T agesgeschichte.
155
Eure beginnende Mannbarkeit verrät sich in der durch Blut-
zudrang herbeigeführten zeitweiligen Spannung des Gliedes, den
Erektionen. Tritt dabei der Samen hervor, nennt man das eine
Pollution, eine Befleckung.
In einem gewissen Maße ist diese eine Naturnotwendigkeit,
gleichsam ein von der Natur geschaffenes Sicherheitsventil.
Doch darf sie, um in den von der Natur gesteckten Grenzen
zu bleiben, nicht öfter als etwa alle zwei Monate, höchstens alle
Monate einmal ein treten.
Zeigt sie sich öfters, so ist dies bereits für den Betreffenden
ein Grund, Vorkehrungen dagegen zu treffen. Vor allem schlafe
man nicht auf dem Rücken und dann hüte man sich namentlich
abends vor Alkoholgenuß.
Ferner hänge man nicht schlüpfrigen Gedanken nach, hüte
sich vor dem Beschauen schlüpfriger Bilder und dem Lesen derartiger
Bücher. Nicht einmal alle Werke unserer Klassiker sind für die
Jugend mit ihrer leicht entzündlichen Phantasie geeignet.
Nützt dies aber alles nichts, dann befrage man ohne falsche
Scham einen Arzt. Nur so kann man der Schwächung durch
sich häufende Pollutionen entgehen, die so schädlich sind; denn
mit dem Samen geht Manneskraft und Gedächtnis, überhaupt alles,
was den Wert des Mannes ausmacht, verloren.
Und was haben dann gar die Unglücklichen zu erwarten, die
dem schändlichen Laster der Selbstbefleckung fröhnen, durch unreines
Betasten des Gliedes das Glied zur Erektion und Samenentleerung
veranlassen. Statt fröhlicher Jugend kraft sieche Greisenhaftigkeit,
statt voller Entwicklung der Geisteskräfte allmählichen, allerdings
unmerkbaren Verfall des Geistes und eine traurige Menge ver-
schiedentlichster Krankheiten! Das ist das Schicksal, das sie erwartet!
Und ebenso traurig ist das Los derer, die sich in ihren
Jugendjahren zur Unkeuschheit im Verkehr mit dem weiblichen
Geschlecht hinreißen lassen, vollends derer, die mit dem Auswurf
des weiblichen Geschlechts verkehren. Hier kommt zu den allge¬
meinen Folgen, welche der zu frühe Geschlechtsgenuß nach sich
zieht, die entsetzliche, kaum zu vermeidende Gefahr der Ansteckung
mit venerischem Gift, mit der Geißel der Menschheit, der Syphilis.
Ich habe euch hier ein Bild mitgebracht, das die Zerstörung
darstellt, welche diese im Gesichte so vieler damit Behafteter
anricht^t. Doch gibt es kaum einen Teil des Körpers, der dadurch
nicht zerstört würde. Und der Geist? Fraget einen beliebigen Arzt
nach der Ursache, die unsere Irrenhäuser so entsetzlich füllt, und
ihr werdet die Antwort erhalten: Alkoholismus und geschlechtliche
Krankheiten. —
St rach fügte hinzu: Ich habe bei diesen Reden die Mienen meiner
Schüler genau beobachtet, nirgends sah ich ein frivoles Lächeln, überall
tiefen Ernst, und bald darauf teilte mir der Stadtarzt mit, daß einige
Schüler, die ohne Verschulden an häufigen Pollutionen litten, ihn zu
Rate gezogen hätten.
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156
Tiigesgeschichtc.
Ich habe, wie gesagt, meine Worte bei einer mir passend er¬
scheinenden Gelegenheit an die Schüler meiner obersten Klasse gerichtet,
bin aber der Ansicht, daß eine solche Belehrung regelmäßig durch den
Lehrer der Naturgeschichte in der sechsten Gymnasialklasse (nach öster¬
reichischer Art gezählt, der vor vorletzten) gegeben werden sollte.
Berlin. Ein Komitee zur Begründung eines „Bundes für Mutter¬
schutz“ erläßt folgenden Aufruf:
Unsere Zeit läßt dem Kranken und Siechen mehr öffentliche Pflege
angedeihen, als irgend eine frühere, duldet daneben aber Zustände, die
erst den Niedergang des von der Natur Gesunden zur Folge haben.
Man empfiehlt Eheverbot für organisch Kranke und befürwortet Staats¬
prämien für Eheschließung gesunder jugendlicher Personen, um den
Bevölkerungszuwachs zu verbessern. Wir haben aber bereits beute
einen trefflichen Nachwuchs, den wir nur kläglich zugrunde gehen
lassen: Rund 180000 uneheliche Kinder werden jährlich in Deutsch¬
land geboren, nahezu ein Zehntel aller Geburten überhaupt. Und diese
gewaltige Quelle unserer Volkskraft, bei der Geburt meist von hoher
Lebensstärke, da ihre Eltern in der Blüte der Jugend und Gesundheit
stehen, lassen wir verkommen, weil eine rigorose Moralanschauung die
ledige Mutter brandmarkt, ihre wirtschaftliche Existenz untergräbt und
sie damit zwingt, ihr Kind gegen Bezahlung fremden Händen anzuver¬
trauen, — ein Zustand, dessen verhängnisvolle Konsequenzen jüngst
wieder der Prozeß Wiese, Hamburg, uns kraß vor Augen geführt hat.
So sterben denn bereits in und vor der Geburt 5 % der unehe¬
lichen Kinder gegen 8°/ 0 des Reichsdurcbscbnittes, im ersten Lebens¬
jahre 28,5% gegen 16,7%, so daß überhaupt nur ein geringer Bruch¬
teil zur Reife erwächst. Wie dessen weitere Entwicklung sich aber
gestaltet, geht daraus hervor, daß von den als verwahrlost der Zwangs-
Fürsorgeerziehung übergebenen Kindern nicht weniger als 17% un¬
ehelich waren! Und während nur ein verschwindender Prozentsatz als
militärtauglich befunden wird, rekrutiert sich die Welt der Verbrecher,
Dirnen und Landstreicher zu einem erschreckenden Teil aus unehelich
Geborenen. So züchten wir durch ein unbegründetes moralisches Vor¬
urteil künstlich ein Heer von Feinden der menschlichen Gesellschaft.
Dabei ist die Geburtenziffer an sich in Deutschland in relativem Rück¬
gang begriffen: Auf 1000 Lebende entfielen 1876 noch 41 Geburten,
1900 nur noch 85 %! Die sorgsame Erhaltung jedes gesund geborenen
Kindes ist also in jeder Hinsicht ein Gebot rationeller Rassenhygiene
und wichtig für die Erhaltung unserer Volkskraft und -gesundheit
Man hat nun versucht, mit Kinderkrippen, Findelbäusem u. dergl.
hier einzugreifen. Aber Kinderschutz ohne Mutterschutz ist und
bleibt Stückwerk; denn die Mutter ist die kräftigste Lebensquelle
des Kindes und zu seinem Gedeihen unentbehrlich. Wer ihr Ruhe und
Pflege in ihrer schwersten Zeit gewährt, ihr eine wirtschaftliche Existenz
für die Zukunft sichert, sie vor der kränkenden und das Leben ver¬
bitternden Verachtung ihrer Mitmenschen bewahrt, der schafft damit
auch die Basis für leibliches und geistiges Gedeihen des Kindes und zu-
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Tagesgeschichte.
157
gleich einen starken sittlichen Halt für die Mutter selbst. Dies will der
Bund für Mutterschutz:
Er will Heimstätten schaffen, in welchen alle gesunden und arbeits¬
willigen unehelichen Mütter willkommen sind, die den ernstlichen Wunsch
haben, ihre Kinder zu gesunden und nützlichen Menschen selbst zu er¬
ziehen. Tunlichst auf dem Lande oder in ländlichen Vororten der Städte
sollen sie in gärtnerischer Bodenbearbeitung, in landwirtschaftlichen
Nebenbetrieben oder in gesundheitlich ein wandsfreier gewerblicher Tätig¬
keit wirtschaftliche Selbständigkeit gewinnen, unter gleichzeitiger Für¬
sorge für eine zweckmäßige Pflege und Erziehung der Kinder, Gewährung
von Rechtsschutz und ärztlicher Hilfeleistung. Die Erfahrung hat gezeigt,
daß ein derartiges Vorgehen auch den Wünschen vieler Väter entspricht
und dazu beiträgt, deren Beihilfe und Interesse für Mutter und Kind
zu erhalten. Hand in Hand mit diesen Maßnahmen sollen ein umfassender
gesetzlicher Mutterschutz, eine allgemeine NiederkunftsVersicherung und
ähnliche Ziele in Angriff genommen werden.
Um diese Bestrebungen aber planmäßig und auf breitester Basis
verfolgen zu können, ist die tätige Hilfe und Beteiligung weiter Volks¬
kreise unerläßlich. Deshalb richten die Unterzeichneten an alle ihre
Mitbürger die dringende Aufforderung, durch ihre praktische Mitarbeit*
und finanzielle Unterstützung die Erreichung unseres Ziels zu sichern
und zu beschleunigen.
Dr. med. A. Blaschko, Berlin.
Dr. phil. Hugo Boettger, M. d. R.,
Berlin-Steglitz.
Dr. phil. Walter Borgius, Gross-
Lichterfelde.
Lily Braun, Berlin.
Ruth Br6, Hermsdorf u. Kynast.
Gräfin Gertrud Bülow v. Dennewitz
(Gisela v. Streitberg), Dresden.
Dr. M. G. Conrad, München.
A. Damaschke, Berlin.
Hedwig Dohm, Berlin.
Prof. Dr. Chr. v. Ehrenfels, Prag.
Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Erb, Heidel¬
berg.
Arbeitersekr. A. E r k e 1 e n z, Düsseldorf.
Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Eulen -
bürg, Berlin.
Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Flechsig,
Leipzig.
Prof. Dr. Max Flesch, Frankfurt a. M.
Prof. Dr. med. A. Forel, Zürich.
Profi Dr. E. Francke, Berlin.
Henriette Fürth, Frankfurt a. M.
Dr. med. Agnes Hacker, Berlin.
Zeit&chr. f. Bekämpfung d. Geschlechtskrankh. IIL 12
Geh. Rat Prof. Dr. med. Hegar, Ex¬
zellenz, Freiburg i. B.
Frau Syndikus Clara Hirschberg,
Berlin.
Prof. Dr. jur. Jos. Köhler, Berlin.
Dr. med. Landmann, Eisenach.
Maria Lischnewska, Spandau.
Geh. Justizrat Prof. Dr. v.Lißt, Berlin-
Charlottenburg.
Amtsrichter Dr. Lucas, M. d. R.,
Langenselbold.
Dr. med. Max Marcuse, Berlin.
Dr. med. Mensinga, Flensburg.
Gutsbesitzer und Bezirksamtsassessor
a. D. H. Meyer, München.
Prof. Dr. Bruno Meyer, Berlin.
Metta Meinken, Bremen.
Klara Muche, Merxheim a. d. Nahe.
Frl. Dr. med. Moesta, Leipzig.
Landgerichtsrat Müller, Meiningen,
M. d. R.
D. theol. Friedrich Naumann, Berlin-
Schöneberg.
Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Neisser,
Breslau.
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158
Tagesgeschichte.
Dr.med.Franz Oppenheimer, Berlin-
Wilmersdorf.
Prof. Dr. med. Pelm an, Bonn.
Dr. med. Alfred Plötz, Berlin-Schlach¬
tensee.
Dr. phil. Heinz Potthoff, M. d. R.,
Berlin-Charlottenburg.
Fr&nDr. Rabinowitsch-Kempner,
Berlin.
Gabriele Renter, Berlin.
Dr. med. Carl Ries, Stuttgart.
Adele Schreiber, Berlin-Charlotten-
burg.
Heinrich Sohnrey, Berlin-Steglitz.
Prof. Dr. phil. W. Sombart, Breslau.
Dr. phil. Helene Stöcker, Berlin-
Wilmersdorf.
Frau Marie Stritt, Dresden.
Irma v. Troll -Borostyani, Salz¬
burg.
Prof. Dr. jur. Max Weber, Heidel¬
berg.
Dr. phil. Bruno Wille, Friedrichshagen.
Dr. med. L. Wils er, Karlsruhe.
Dr. phil. et med. L. Woltmann,
Eisenach.
Der Erwerb der Mitgliedschaft erfolgt durch formlose Anmeldung
bei der Geschäftsstelle unter gleichzeitiger Übersendung eines — von jedem
einzelnen nach seiner wirtschaftlichen Lage selbst zu bestimmenden — Jahres¬
beitrags, dessen Quittung als Mitgliedskarte gilt Um möglichst weiten Kreisen
die Teilnahme zu ermöglichen, werden Beiträge bis zu 1 Mk. herab entgegen
»genommen. Doch bitten wir dringend alle besser situierten Freunde unserer
Bestrebungen, diese durch Zuwendung reichlicher Mittel zu fördern. Im Hin¬
blick auf die Kosten der ersten Propaganda, sowie der ersten Einrichtung
von Mutterkolonien werden einmalige größere Beiträge mit besonderem
Danke angenommen.
Ferner sind uns besonders willkommen Meldungen von Freunden der
Sache, welche bereit sind, die (sich bereits meldenden) ledigen Mütter mit
ihren Kindern aufzunehmen, sie eventuell mit ihrem Wirtschaftsbetriebe zu
beschäftigen oder ihnen sonst eine (sei es auch nur vorläufige) Unterkunft
und Existenz zu beschaffen, ferner uns geeignete Siedelungsterrains nachzu¬
weisen, Arbeitsgelegenheit zu vermitteln usw.
Die Gründung von Ortsgruppen, Einsetzung lokaler Vertrauenspersonen,
Veranstaltung von öffentlichen Versammlungen, Herausgabe eines Organs und
sonstige propagandistische Tätigkeit durch Wort und Schrift werden in Kürze
in Angriff genommen werden.
Die Geschäftsstelle: Berlin W., Leipzigerstr. 42.
Berlin. Die Zentralstelle für Jugendfürsorge hielt am
1. Dezember 1904 eine Sitzung ab, in der das Fürsorge-Erziehungs-
gesetz und die Bekämpfung der Prostitution Minderjähriger
besprochen wurde.
Die Beteiligung war nur spärlich; kaum 50 Personen waren er¬
schienen, unter denen das weibliche Element vorherrschte; zwei Ver¬
treterinnen der Heilsarmee sowie zwei katholische Ordensschwestern fielen
besonders auf; ferner bemerkte man einige aus der Frauenbewegung her
bekannte Damen. Unter den Herren befanden sich namentlieh viele
Geistliche; daneben hatten sich vornehmlich Juristen und außerdem
einige Ärzte eingefunden. Eine kleine, aber erlesene und interessante
Gesellschaft.
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Tagesgeschichte.
159
Den Vorsitz der Versammlung führte Herr Pfarrer Professor Frei¬
herr v. Soden, der die Anwesenden begrüßte und nach einigen geschäft¬
lichen Bemerkungen der Referentin des Abends das Wort erteilte.
Fräulein Stiehl, die den Lesern der Zeitschr. f. Bek. der Ge-
schlechtskr. als die Verfasserin des ausgezeichneten Büchelchens „Eine
Mutterpflicht“ schon bekannt sein dürfte 1 ), ist Lehrerin in Stettin und
auf dem Gebiete der Jugendfürsorge vielfach praktisch tätig gewesen.
Aus dem reichen Schatze ihrer Erfahrungen gab sie der Versammlung
eine knappe, sehr interessante Auslese, die ihrer Auffassung von der
Unzulänglichkeit des neuen Fürsorge-Erziehungsgesetzes durchaus Recht
zu geben schien. Zu einem wesentlichen Teile führt die Rednerin die
Mißerfolge, welche die meisten Versuche haben, mit Hilfe des Fürsorge-
Erziehungsgesetzes gefährdete Mädchen vor der Prostitution zu bewahren,
auf die Judikatur des Kammergerichts zurück, nach dessen Entscheidung
Fürsorgeerziehung nur dann eintreten dürfe, wenn die subjektive
Verwahrlosung des betreffenden Mädchens nachweisbar ist. Dadurch sei
die Möglichkeit einer „Fürsorge“ ein für allemal genommen und es
könnte höchstens eine „Nachsorge“ erreicht werden, deren Wert aber
ein außerordentlich problematischer zu sein pflegt. Mit dem Fürsorge-
Erziehungsgesetze teilen diejenigen Paragraphen des Bürgerlichen Gesetz¬
buches, welche zum Schutze gefährdeter Minderjähriger erdacht sind,
das Schicksal fast gänzlicher Wirkungslosigkeit. Auch zum Beweise
dieser Behauptung berichtet die Rednerin über einige Erfahrungen und
Beobachtungen, die sie selbst gemacht hat. Der § 1631 versagt, weil
er ein Eingreifen des Vormundschaftsgerichtes nur auf Antrag des Vaters
vorsieht; dieser Antrag bleibt aber gerade in den driDglichsten Fällen
aus, in deren ja die Kinder in ihrem unsittlichem Treiben von Seiten
der Eltern geradezu gefördert und unterstützt, nicht selten sogar dazu
veranlaßt werden. Diesen Zuständen gegenüber kann auch mit Hilfe
des § 1666 meist nichts ausgerichtet werden, weil die verderbten Jugend¬
lichen viel zu schlau sind, als daß sie mit der erforderlichen, völlig
beweisenden Sicherheit der Unzucht überführt werden könnten; jahre¬
lang schlagen sie den amtlichen Rechercheuren — und wenn es wirklich
zur Vollziehung eines Überweisungsbeschlusses kommen soll — auch
den Exekutivorganen ein Schnippchen. An ihrer Raffiniertheit scheitert
auch dieses Gesetz. Nicht anders ist es mit dem § 1687; hier ver¬
hindert einesteils die in der Regel vorhandene Gleichgültigkeit, andern-
teils die tatsächliche Ohnmacht des „Beistandes“, den nach diesem Para¬
graphen das Gericht aus besondern Gründen der Mutter zu stellen
befugt ist, einen nennenswerten Nutzen. Nach alledem bleibt nur noch
die freie Liebestätigkeit. Auch sie versagt gegenüber der ebenso schwie¬
rigen wie umfangreichen sozialen Aufgabe, vor die uns die stetig wach¬
sende Gefährdung der weiblichen .lugend stellt. Die Referentin ist der
Überzeugung, daß zur Lösung dieser Aufgabe das einzig wirksame Mittel
immer noch das Fürsorge-Erziehungsgesetz uns an die Hand zwar nicht
gibt, aber wird geben können, wenn es eine zweckmäßige Änderung und
1 ) Yergl. Zeitschr. Bd. H, S. 82.
12 *
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160
Tagesgeschichte.
Ausgestaltung erfahren haben wird. Die Vorschläge, die Fräulein Stiehl
hierzu machte, decken sich zu einem Teile vollkommen mit denen des
Breslauer Assessor Dr. Schiller. 1 ) Andere Wünsche der Vortragenden
beziehen sich einmal auf die Schaffung eines gesetzlichen Verbotes für
Familien mit unmündigen Kindern, an Prostituierte zu vermieten; das
Beispiel eines untätigen und doch scheinbar so „feinen“ Lebens übt auf
solche Kinder den denkbar schlechtesten Einfluß aus. Ferner verlangt
die Rednerin die Anstellung einer genügenden Anzahl fest besoldeter
weiblicher Rechercheure im Staatsdienst; deren Tätigkeit würde erfolg¬
reicher sich erweisen als diejenige der einer so delikaten Aufgabe, wie
sie die genaue Feststellung der verdächtigen Verhältnisse darstellt, nicht
gewachsenen männlichen Polizeibeamten.
Zeichnete sich dieses Referat durch die Sachlichkeit seines Inhaltes
aus und durch die vornehme Ruhe, mit der es erstattet worden ist, so
imponierte das nunmehr folgende Korreferat durch die größeren Gesichts¬
punkte, von denen aus hier das Problem betrachtet wurde und durch
die Eindringlichkeit des Vortrages.
Herr Pastor PI aß, der als Direktor der „Erziehungsanstalt am
Urban“ in Zehlendorf den Anspruch erheben darf, als ein gründlicher
Kenner der einschlägigen Verhältnisse anerkannt zu werden, fixiert zu¬
nächst im Gegensatz zu dem von Fräulein Stiehl vertretenen Stand¬
punkte seine Auffassung dahin, daß mit gesetzlichen Maßnahmen allein,
sie mögen noch so sorgsam erdacht und verständig ausgeführt werden,
ein Sieg in dem Kampfe gegen die Verwahrlosung der weiblichen Jugend
nicht zu gewinnen sei. Denn diese Verwahrlosung ist die Folge der
Ungunst unserer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zustände; diese
kann man aber nicht durch Dekrete des Gerichts oder der Polizei be¬
seitigen. Und doch ist die Entfernung der Ursache unbedingtes Er¬
fordernis, will man die aus ihr erwachsenden Schäden erfolgreich
bekämpfen. Die Prostitution ist das Produkt unserer sozialökonomischen
Verhältnisse, gegen die das Gesetz allein etwas Wesentliches und Nach¬
haltiges niemals auszurichten vermag. Die freiwillige Liebestätigkeit,
beruhend auf einem vertieften Verantwortlichkeitsgefühle jedes einzelnen
Staatsbürgers wie der Gesamtheit, wird hier stets der ausschlaggebende
Faktor sein. Das soll indes nicht heißen, daß wir der gesetzlichen
Bestimmungen entbehren könnten; als ein wertvolles Adjuvans seien sie
vielmehr unbedingt erforderlich, und in diesem Sinne habe auch das
Fürsorge-Erziehungsgesetz schon viel Gutes geleistet. Wenn die schein¬
bar so berechtigten und dringlichen Anträge auf Fürsorgeerziehung in
sehr vielen Fällen von dem Vormundschaftsgerichte abgelehnt werden,
so liegt die Schuld hieran nicht, wie Fräulein Stiehl meinte, an der
Judikatur des Kammergerichts, die von der Referentin mißverstanden
sei. Keineswegs werde die Bescbließung der Fürsorgeerziehung von der
Feststellung der subjektiven Verwahrlosung abhängig gemacht, sondern
lediglich von der bereits erwiesenen Erfolglosigkeit oder der offenbaren
Aussichtslosigkeit aller anderen zur Besserung gefallener oder Behütung
1 Vergl. Zeitschr, f. Bek. d. Geßchlechtskr. Bd. II, Heft 8 u. 9«
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Tagesgeschichte.
161
gefährdeter Kinder za Gebote stehenden Mittel; die Fürsorgeerziehung
soll die altima ratio sein. Das entspricht den Absichten des Gesetz¬
gebers ebenso wie den tatsächlichen Bedürfnissen. Fräulein Stiehl
unterschätze nach Ansicht des Korreferenten die enorme Bedeutung der
Fürsorgeerziehung, die dem ihr unterworfenen Individuum ein Stigma
für Lebenszeit aufdrückt und überdies einen gewaltigen Eingriff in die
geheiligten Rechte der Familie bedeutet. Ehe der Staat zu einer solchen
Maßnahme sich entschließt, müssen alle anderen Möglichkeiten, zu dem
erstrebten Ziele zu gelangen, erschöpft sein. Die Ursache für die
Ablehnung vieler Anträge auf Fürsorgeerziehung ist nun eben darin
zu suchen, daß in dem Anträge der Nachweis nicht erbracht wird, daß
schon alle übrigen Wege ohne Erfolg heschritten worden sind. Ein
anderer nicht minder wichtiger Grund für die unsachgemäße Behandlung
solcher Anträge ist dadurch gegeben, daß der Vormundschaftsrichter,
den Herr Pastor PI aß als den unabhängigsten Mann im Deutschen
Reich bezeichnet, oft gar nicht mit der Rechtsprechung des Kammer¬
gerichts genügend vertraut ist. Die Überlastung unserer Vormundschafts¬
richter, deren Zahl vielleicht um 1000 vermehrt werden müßte, wollte
man von ihnen mit Recht die notwendige Sachkunde und Welterfahrung
fordern dürfen, mache ihnen ferner das für eine verständige und glück¬
liche Bearbeitung von Vormundschaftsangelegenheiten, speziell in Sachen
„Fürsorgeerziehung* 4 unerläßliche Studium der Wohlfahrtseinrichtungen
fast unmöglich, das doch ebenso dringlich und wichtig sei wie der
Besuch staatswissenschaftlicher und sonstiger Kurse. Der Konnex mit
dem praktischen Leben fehlt. Und dazu komme als erschwerender Um¬
stand, daß die Geschäfte des Vormundschaftrichters häufig in die Hände
von jungen, nur vertretungsweise in diesem Ressort tätigen, unbesol¬
deten Hilferichtern gelegt sind. Wenn man, wie der Vortragende, die
Ansicht vertritt, daß nicht die Zahl der unter Fürsorgeerziehung
kommenden Fälle, sondern die bei den einzelnen Pfleglingen durch die
Fürsorgeerziehung erzielten Erfolge über den Wert des Gesetzes ent¬
scheidet, so wird man gern auf irgendwelche Novellen, wie u. a. Fräu¬
lein Stiehl sie vorgeschlagen hat, Verzicht leisten und unsere Aufgaben
in einer anderen Richtung erblicken. Ausbau und Reformierung der
Familien- und Anstaltserziehung sind es, die vor allem not tun. Mit
guten Reden allein, mit noch so eindringlichen Mahnungen und noch so
abschreckenden Warnungen wird auf die verderbten Gemüter der Jugend¬
lichen ein nachhaltiger günstiger Einfluß niemals zu erzielen sein; nicht
fortwährendes Predigen, sondern die Schaffung günstiger äußerer Ver¬
hältnisse, unter denen die Mädchen ihre eigene Menschenwürde, ihr
Menschenrecht und ihren Men sehen wert begreifen lernen, werden den
größeren Nutzen stiften. Dies Ziel läßt sich aber nicht erreichen, wenn,
wie das in vielen Anstalten System ist, die Mädchen nach einem bureau-
kratdschen Schema, ohne Rücksicht auf individuelle Neigung und Be¬
fähigung, ohne vor allen Dingen den Zöglingen die Erkenntnis von
einem Zwecke ihrer Arbeit zu ermöglichen, Tag aus Tag ein in gleicher,
einförmiger, langweiliger und für den ihrer wartenden Kampf ums Dasein
nutzloser Weise beschäftigt werden. Zur Arbeitsfreudigkeit müssen
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162
Tagesgeschichte.
die Mädchen erzogen werden; zur Erlernung einer dem Wünschen und
Können der Einzelnen angepaßten Tätigkeit, die ihnen die Aussicht auf
eine selbständige Existenz eröffnet und sie in den Stand setzt, mit ihrer
Hilfe den ihrer draußen harrenden wirtschaftlichen Nöten und sittlichen
Versuchungen Widerstand zu leisten; zu dem künftigen Berufe einer
Gattin und Mutter sollen sie vorbereitet werden. Dann wird auf der
Fürsorgeerziehung, namentlich auch in den Anstalten, der Segen ruhen,
den wir jetzt noch so vielfach vermissen.
Nachdem der Vorsitzende, Herr Professor v. Soden beiden Bericht¬
erstattern den Dank der Zentralstelle ausgesprochen hatte, eröffhete er
die Diskussion.
Zuerst sprach ein Jurist, der als Beauftragter des „Freiwilligen
Erziehungsbeirates für schulentlassene Waisen“ erschienen war; er betonte
in Übereinstimmung mit dem Korreferenten die prinzipielle Unzuläng¬
lichkeit eines jeden Gesetzes. Selbst das in abstracto vorzüglichste
Gesetz bedarf, um auch in praxi vollkommen sich zu bewähren, zu seiner
Durchführung eines idealen Menschenmaterials, das eben in Wirklichkeit
nie existieren kann. Darum dürfen wir auch insbesondere vom Fürsorge-
Erziehungsgesetz, weder in seiner jetzigen Fassung noch nach irgend einer
stattgehabten Modifikation, das Heil erwarten; dieses kann vielmehr nur
von der freiwilligen Liebestätigkeit kommen, in deren weiter und gründ¬
licher Organisation und Zentralisation die wichtigste Aufgabe zu er¬
blicken sei.
Frau Bieber-Böhm, die verdienstvolle Vorsitzende des Vereins
„Jugendschutz“, führte die Mißerfolge der Fürsorgeerziehung im wesent¬
lichen auf die zu langsame Erledigung der Anträge durch die zuständigen
Instanzen zurück. Von der Einreichung des Antrages auf Fürsorge¬
erziehung bis zum Eintreffen seiner Bewilligung vergehen oft viele
Monate, während deren die beste Zeit, das gefährdete Kind zu retten,
versäumt ist. Gelänge es, das Mädchen, das der Verwahrlosung anheim¬
zufallen droht, stets sofort seiner Umgebung zu entziehen und in geeig¬
neter Weise anderweitig unterzubringen, dann würden Hunderte von
Kindern, die jetzt dem Verderben anheim fallen, vor dem Untergange
bewahrt werden können.
Dr. Max Marcuse bittet, bei der Besohließung und Vollziehung
der Fürsorgeerziehung nicht zu vergessen, daß doch nicht immer und
ausschließlich die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse die Ver¬
wahrlosung des Kindes verschulden; neben den vielen „gewordenen“
Prostituierten gibt es doch zweifellos auch einige „geborene“. Wird
zwischen diesen beiden Kategorien von Kindern — hier die Opfer der
Not und Verführung, dort die einer gewissen moral insanity — nicht
grundsätzlich geschieden, so wird auf die vollkommen Verlorenen, die
von dem goldensten Stuhl doch immer wieder in ihren Pfuhl hinab¬
springen, viel Zeit, Geld und Mühe absolut nutzlos vergeudet, die —
bei der Beschränktheit unserer Mittel — den wirklich Besserungsfähigen
auf diese Weise entzogen werden; dazu kommt, daß, wo diese „geborenen“
künftigen Prostituierten unterschiedslos mit den anderen gemeinschaftlich
untergebracht sind, der verderbliche Einfluß dieser hoffnungslos dem
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Tageegeschichte.
163
Ruin Verfallenen auf die noch za rettenden Mädchen die für letztere
etwa heilsame Wirkung der Fürsorgeerziehung völlig paralysiert. Über¬
haupt bedarf die Anstaltserziehung einer eingehenden und sorgfältigen
Kritik und Verbesserung, worauf ja erst vor kurzem ein Artikel in
einer Berliner Wochenzeitung sehr zeitgemäß hingewiesen habe. Auch
das Krankenhausmilieu, in welchem viele Mädchen unmittelbar vor der
Fürsorgeerziehung sich wochenlang, mitunter monatelang auf halten
müssen, erfordert unsere Aufmerksamkeit und Revision.
Herr Pfarrer Buschmann, vom Magdalenenstift in Teltow, ver¬
teidigt Herrn Pastor Plaß und Dr. Marcuse gegenüber die sogenannten
Besserungsanstalten und schildert eingehend das in Teltow herrschende
Erziehungssystem, das durchaus auf der Höhe stehe und keinen der in
dem erwähnten Zeitungsartikel erhobenen Vorwürfe verdiene.
ln diesem selben Sinne äußert sich Herr Pastor Fritsch, der
geschäftsführende Sekretär des Zentralausschusses für Innere Mission.
Er wendet sich namentlich gegen die von Herrn Direktor Pastor Plaß
an den in den Erziehungsinstituten herrschenden Zuständen geübte Kritik,
die er als unberechtigt zurückweist. Der Redner bestreitet ferner
Dr. Marcuse gegenüber die Existenz „geborener“ Prostituierter und
hält es vom christlichen wie humanen Standpunkt aus für ganz unzu¬
lässig, an irgend einem Menschen zu verzweifeln und ihn aufzugeben.
Unter dem lebhaften Beifall der Versammlung bezeichnet Herr Pastor
Fritsch es als heilige Pflicht, auch für das verschlossenste und ver¬
worfenste Geschöpf alles zu tun, was in unseren Kräften steht, um es
zu erretten, und es gäbe kein Mädchen, dem gegenüber wir die Hoffnung
aufgeben dürften.
Herr Assessor Linden au vom Polizeipräsidium wendet sich in
längeren juristischen Ausführungen gegen die von Fräulein Stiehl
erhobenen Forderungen. Erstens müsse man sich überhaupt hüten, an
dem Fürsorgegesetz, welches das mühevolle Resultat jahrzehntelangen
Nachdenkens der kundigsten und erfahrensten Männer darstelle und erst
nach vieljährigem Bestehen wirklich bewertet werden könne, schon jetzt
herumflicken zu wollen. Zweitens seien die von der Referentin auf¬
gestellten Thesen zum Teil ja bereits realisiert; so beschäftige z. B. die
Berliner Polizei schon eine größere Anzahl fest angestellter weiblicher
Rechercheure, neben denen übrigens, wie die Erfahrung gelehrt habe,
die männlichen Aufklärungsbeamten durchaus unentbehrlich, weil für
die Auskundschaftung mancher Verhältnisse viel geeigneter seien. Und
schließlich habe sich das Fürsorgegesetz auch außerordentlich bewährt
und es sei mit den Tatsachen unvereinbar, von dessen Wirkungslosigkeit
zu sprechen; wenn es nur den einen Fortschritt gebracht hätte, daß es
jetzt Prostituierte unter 18 Jahren nicht mehr gibt, so würde schon
das allein einen Gewinn bedeuten, um dessentwillen wir in dem Gesetz
eine hervorragende legislatorische Leistung anerkennen müßten. Auf
eine Anfrage von seiten des Herrn Professor v. Soden, warum wohl
die Polizei gegen das Vermieten an Prostituierte, namentlich in Häusern
und Haushaltungen, in denen sich jüngere Kinder befinden, nicht energisch
einschreitet, gibt Herr Assessor Lindenau seiner persönlichen Meinung
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164
Tagesgescbichte.
dahin Ausdruck, daß der Grund hierzu in der Tatsache gesehen werden
müsse, daß die Prostitution unter den heutigen Verhältnissen ja eine
absolute Notwendigkeit darstelle und es daher nicht angängig sei, den
öffentlichen Mädchen die Möglichkeit eines Unterkommens zu erschweren;
man könne die Prostituierten schon aus allgemein menschlichen Gründen
doch nicht auf der Straße lassen und von den Wohnungen aussperren,
zumal der Staat eben mit ihrer Unentbehrlichkeit rechnen müsse. Diese
Darlegungen begegnen auf allen Seiten entrüsteten Oho-Rufen. Die
Empörung, die sich namentlich, aber keineswegs ausschließlich der an¬
wesenden Damen bemächtigt zu haben scheint, sucht der Vorsitzende
durch den Hinweis darauf zu beschwichtigen, daß der Redner nur von
der Notwendigkeit der Prostitution „unter den heutigen Verhältnissen“
gesprochen habe.
Fräulein Dr. jur. Duensing schließt sich dem Referat des Fräulein
Stiehl an und kann den Ausführungen des Herrn Assessor Lindenau
nicht beistimmen.
Die Diskussion, an der sich außerdem die Herren Pastor Pfeiffer
vom Evang. Verbände für Fürsorgeerziehung und Gerichtsassessor Gordan
von der Städtischen Waisen Verwaltung beteiligt hatten, erreichte erst
wenig vor Mitternacht nach im ganzen mehr als dreistündiger Dauer
der Versammlung ihr Ende.
Max Marcuae (Berlin).
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Zeitschrift
für
Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten
Band 3. 1904/5. Nr. 5 u. 6.
Die Wohnungsmißstände im Prostitution»- und im Schlaf¬
gängerwesen und ihre gesetzliche Reform.
Ermittelungen der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der
Geschlechtskrankheiten über die WohnungsVerhältnisse der Schlaf¬
gänger und der Prostituierten.
Im Aufträge des Vorstandes bearbeitet
von
Paul Kampffmeyer.
Welche Wohnungen begünstigen die Verbreitung venerischer Leiden?
Der erste Kongreß der „Deutschen Gesellschaft zur Bekämp¬
fung der Geschlechtskrankheiten“, der am 9. und 10. März 1903
zu Frankfurt a. M. tagte, behandelte eingehend die Beziehungen
des Wohnungselendes zur Verbreitung der Geschlechtskrankheiten
und der Prostitution.
In den Referaten und Diskussionen dieses Kongreßes wurde
der Einfluß nachdrücklichst hervorgehoben, den das Zusammen¬
schlafen von Personen verschiedenen Geschlechts in engen Woh¬
nungsräumen auf die Steigerung des außerehelichen Verkehrs
und damit auf die Ausbreitung der Geschlechtskrankheiten habe.
Namentlich erhöhe die Durchsetzung der Familienhaushaltungen
mit fremden unverheirateten Personen, mit Schlafgängern und Schlaf¬
gängerinnen, beträchtlich die schweren Gefahren einer Verbreitung
der Geschlechtskrankheiten. Diese Gefahren würden vor allem
einen direkt bedrohlichen und gemeingefährlichen Charakter erhalten,
wenn sich die Prostituierten in den mit Kindern gesegneten Familien¬
haushaltungen ungeniert breit machen würden. Auf dem Kongresse
der „Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrank¬
heiten“ betonte man unter anderem: „Gangbar, um den entsittlichen¬
den und gesundheitsgefährlichen Einfluß der Prostituierten etwas
einzuschränken, scheint nur der Weg zu sein: man lege gesetzliche
Zeitschr. f. Bekämpfung d. GeschJechtokr&nkh. III. 13
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166
Kampffmeyer.
Yorschriften für das Vermieten von Wohnungen an Dirnen fest.
Die Vermietung derartiger Wohnungen dürfte nur den Personen er¬
laubt sein, die keine erwachsenen oder unerwachsenen Familienan¬
gehörigen daheim zu wohnen haben und ihre Wohnungen ausschlie߬
lich nur an Dirnen vermieten. Ferner müßten derartige Wohnungen
ein besonderes Zimmer, ein eigenes Bett für die Dime aufzuweisen
haben. Zur Wohnung selbst muß ein eigener Abort gehören. Den
Personen, die mit dem Wohnungsvermieten eine wucherische Aus¬
beutung der Prostituierten betreiben, ist neben den rechtlichen
Strafen die Entziehung des Vermietungsrechts anzudrohen.“
Der Sozialpolitiker wird vielleicht seine Verwunderung darüber
nicht unterdrücken können, daß die „Deutsche Gesellschaft zur Be¬
kämpfung der Geschlechtskrankheiten“ gerade die Feststellung der
Wohnungsmißstände der Prostituierten und die Reglung dieser Mi߬
stände in den Vordergrund ihrer Wohnungsreformtätigkeit stellt.
Naturgemäß muß aber eine sozialpolitische oder sozialhygienische
Gesellschaft die Frage an die erste Stelle ihres Programmes setzen,
der sie eine entscheidende Bedeutung für die Lösung ihrer ur¬
eigensten, aus ihrem Wesen folgenden Aufgaben beilegt.
Weshalb marschiert nun die Reglung der Wohnungsverhältnisse
der Prostituierten an der Spitze des Wohnungsprogrammes der
Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten?
Nun weil eine eingehende Untersuchung über den Zusammenhang
zwischen dem Schlafgängerwesen und der V erbreitung der Geschlechts¬
krankheiten ergeben wird, daß das Schlafgängerwesen nur einen
sehr minimalen Einfluß auf die Ausdehnung der venerischen
Leiden hat Diese Untersuchung beschäftigt uns auf folgenden
Seiten dieser Zeitschrift Sie dient vor allem zu einer festen Um¬
grenzung des besonderen Wohnungsprogramms der Deutschen Ge¬
sellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten.
Die Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechts¬
krankheiten ist keine Vereinigung zur allgemeinen Hebung der
Sittlichkeit. Ihr Zweck ist ein sozialhygienischer: eine möglichst
wurzeltiefe Ausmerzung der Geschlechtskrankheiten aus dem gesell¬
schaftlichen Organismus. Die Deutsche Gesellschaft zur Bekämp¬
fung der Geschlechtskrankheiten verkennt durchaus nicht den emi¬
nenten Wert, den eine vertiefte sittliche Auffassung der geschlechtlichen
Verhältnisse und eine wirksame Betätigung dieser Auffassung für
die Eindämmung der Geschlechtskrankheiten einschließen würden,
aber sie kann ihren großen sozialhygienischen Zweck nur durch
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Die Wohnongamißstände im Prostitationa- and im Schlafgängerwesen usw. 167
eine strikte Begrenzung auf ihre eigentliche Aufgabe, durch eine pein¬
lich genaue Einschränkung ihrer Tätigkeit auf den bloßen Kampf
gegen die Geschlechtskrankheiten verwirklichen. Nur in den Fragen,
in denen sich die Aufgaben der sozialen Hygiene völlig mit denen
der öffentlichen Sittlichkeit decken, mußte die Deutsche Gesell¬
schaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten das Grenzgebiet
der Moral streifen.
Wenn sich die Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung der Ge¬
schlechtskrankheiten mit regem Interesse der Wohnungsfrage zu¬
wandte, so war ihr Interesse für diese Frage hauptsächlich auf die
zwei für sie entscheidenden Punkte gerichtet: welche Kategorien
von Wohnungen wirken besonders auf die Verbreitung der
Geschlechtskrankheiten ein, und welche hygienischen Woh¬
nungsreformen schwächen diesen unheilvollen, der Ver¬
breitung der venerischen Leiden begünstigenden Einfluß
der gekennzeichneten Wohnungen ab? Begrenzte die Deutsche
Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten nicht von
vornherein ihr Wohnungsprogramm, so verwandelte sie sich in einen
allgemeinen Wohnungsreformverein und konnte das Sondergebiet
der Reform, das zu bebauen ihre ureigene Aufgabe war, nicht frucht¬
bar bearbeiten. Gegen überfüllte und gesundheitsschädliche Woh¬
nungen erheben Sozialpolitiker, Vertreter der Sittlichkeitsvereine,
Förderer der Lungenheilstätten laut ihre Stimme. Und gewiß, die
energischen Bekämpfer der Geschlechtskrankheiten werden nicht
zuletzt und nicht am leisesten in das allgemeine Feldgeschrei ein¬
stimmen: „Fort mit den überfüllten und schlechten Wohnungen.“
Aber der soziale Hygieniker wird sich mit diesem allgemeinen Kriegs¬
geschrei der Kämpfer gegen die venerischen Leiden nicht zufrieden
geben, er wird von ihnen mit Recht das Ausrufen einer neuen
Kampfesparole verlangen, einer neuen Kampfesparole, die eine
klare Antwort auf die Frage enthält: welche besonderen Woh¬
nungsreformvorschläge gehen von der Deutschen Gesell¬
schaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten zum
Zweck der Einschränkung der venerischen Krankheiten aus.
An die Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechts¬
krankheiten tritt zuerst gebieterisch die Aufgabe der Ermitte¬
lung der Wohnungsmißstände heran, die besonders die Ver¬
breitungen der venerischen Leiden befördern. Die Lösung der
Aufgabe liegt durchaus nicht so auf der flachen Hand, wie es viel¬
leicht scheint. Der nur an der Oberfläche der sozialen Erschei-
13 *
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168
Kampffmeyer.
nungen tastende Politiker oder Hygieniker glaubt vielleicht die Lösung
der vorliegenden Aufgabe in dem Satz gefunden zu haben: Mit der
Überfüllung der Haushaltungen mit Personen steigt der außerehe¬
liche Geschlechtsverkehr und mit ihm die Häufigkeit venerischer In¬
fektionen. Wir haben nun auf dem Lande vielfach sehr überfüllte
Wohnungen und einen ziemlich ungebundenen außerehelichen Ge¬
schlechtsverkehr , und dennoch sind in diesen ländlichen Gebieten
die Geschlechtskrankheiten sehr gering vertreten. Werfen wir ein¬
mal einen Blick in die preußische Statistik über die Dichtigkeit
des Zusammenwohnens der Bevölkerung in den einzelnen Regierungs¬
bezirken. Es kamen auf 1 Haushaltung:
im
Stadtkreis
Berlin
= 4,01
Personen
«
Regierungsbezirk Köslin
= 5,11
99
99
99
Marienwerder
= 5,11
99
99
99
Trier
= 5,23
99
99
99
Osnabrück
= 5,23
99
99
99
Arnsberg
= 5,27
99
99
99
Münster
= 5,57
99
Mit diesen Zahlen vergleiche man einmal die Zahlen der vene¬
risch Erkrankten, die Professor Dr. A. Guttstadt durch eine En¬
quete am 30. April 1900 in den einzelnen Regierungsbezirken fest¬
gestellt hat.
Es kamen auf 10000 der erwachsenen Bevölkerung (der Be¬
völkerung über 15 Jahren) am 30. April 1900 Geschlechtskranke:
im Stadtkreis Berlin = 91,18 Personen
„ Regierungsbezirk Köslin = 4,23 „
„ „ Marienwerder = 5,61 „
„ „ Trier = 10,81 „
„ „ Arnsberg = 7,49 „
„ „ Münster =3,13 „
Der Regierungsbezirk Münster mit den übervölkersten
Haushaltungen hat fast den geringsten Prozentsatz Vene¬
rischer; auf 10000 Erwachsene kommen 3,13 Venerische, also auf
100 Einwohner 0,031. Nur ein Regierungsbezirk, der Bezirk Sig¬
maringen, zeichnet sich noch durch eine geringere Zahl von Ge¬
schlechtskranken aus; dort zählte man nur auf 10000 Erwachsene
2,29 Geschlechtskranke.
Nach den Ergebnissen der von der Allgemeinen Konferenz der
deutschen Sittlichkeitsvereine veranstalteten Umfrage (Die geschlecht¬
lich-sittlichen Verhältnissen der evangel. Landbevölkerung. Leipzig
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Die Wohnungsmißst&nde im Prostitutions- and im Schlafgängerwesen usw. 169
1895 und 1896) steht es unzweifelhaft fest, daß im ganzen
Deutschen Reiche auf dem Lande der voreheliche Verkehr ge¬
bräuchlich ist. Pastor Wagner spricht sogar „von Hurerei, die
zwischen Knechten und Mädchen auf dem Lande (oft seit der Zeit
gleich nach der Konfirmation) fast allgemein betrieben wird.“
Die sozialpolitisch nur brauchbare Statistik Dänemarks über
die Verbreitung der venerischen Krankheiten zeigt ein sehr geringes
Vorkommen dieser Krankheiten auf dem platten Lande. Es er¬
krankten nach Blaschko im Jahresdurchschnitt 1886—1895 an
venerischen Krankheiten in Kopenhagen von 1000 der Bevölkerung
20,1, in den Provinzialstädten 3,02, auf dem platten Lande 0,88.
Nun ist gerade für Dänemark die allgemeine Verbreitung des vor¬
ehelichen Verkehrs auch statistisch nachgewiesen. Für die ländlichen
Teile Dänemarks haben Rubin und Westergaard (Statistik der Ehe,
Jena 1890. S. 124 ff.) gefunden, daß bei */, der Trauungen die
Braut entweder schwanger war oder vorher schon geboren hatte.
Speziell für die Ehen der Häusler ohne Feld mit Dienstmädchen
ergab sich, daß die Bräute in wenigstens sieben Fällen unter zehn
bei der Trauung schwanger waren; für die Klasse der Hufner
Bauern) ergaben sich schon niedrigere Zahlen 1 ) (Dr. Oth. Spann).
Wir können auf dem Lande da und dort eine außerordentliche
Überfüllung der Wohnungen mit Personen und einen häufigen außer¬
ehelichen Verkehr konstatieren, und dennoch treten dort Geschlechts¬
krankheiten sehr vereinzelt auf.
Die hohe Belegung der Haushaltungen mit Personen beweist
nun noch keineswegs die Durchsetzung dieser Haushaltungen mit
fremden, nicht zur Familie gehörigen Elementen, mit Schlafgängern.
Den Schlafgängern wird aber vielfach eine Verbreitung der Ge¬
schlechtskrankheiten, namentlich eine Verseuchung der Familien
mit diesem Leiden, zugeschrieben. Die Schlafgänger gehören nun
durchweg der arbeitenden Klasse an, und in der Arbeiterklasse ist
im Verhältnis zum Kaufmannstande und zu den liberalen Berufs¬
klassen (namentlich den Studenten) die Venerie nicht stark ver¬
treten. Große Gruppen der vom platten Lande in die Stadt ge¬
wanderten ungelernten Arbeiter sind außerordentlich selten von
Geschlechtskrankheiten befallen.
*) Wir verdanken die hier angeführten Tatsachen dem lichtvollen Auf¬
sätze Dr. Oth. Spann: Die geschlechtlich-sittlichen Verhältnisse im Dienst¬
boten- und Arbeiterinnenstande, gemessen an der Erscheinung der unehelichen
Geburten.
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170
Kampffmeyer.
Der außereheliche Verkehr der unverheirateten Arbeiter und
Arbeiterinnen in unseren Großstädten ist eine sehr häufige Er¬
scheinung. Der Arbeiter verkehrt aber meist mit seinen Klassen¬
genossinnen und nicht mit Prostituierten. Göhre hat schon in
seiner Arbeit: „3 Monate Fabrikarbeiter“ darauf hingewiesen, daß
sich vielfach der außereheliche sexuelle Verkehr der Arbeiterinnen
als eine durchaus nicht anstößige, sondern allgemein geübte Sitte
bei den Arbeiterinnen eingeführt hat. Als entehrend wird nur die
Hingabe der Arbeiterin an den Angehörigen einer höheren sozialen
Klasse empfunden, weil diese Hingabe häufig mit materiellen Vor¬
teilen für die Arbeiterin verknüpft ist. Der außereheliche Verkehr
der Arbeiter und Arbeiterinnen mag sich nun, vom Standpunkt der
Sittlichkeitsvereine aus betrachtet, als eine schwere Schädigung der
Sittlichkeit darstellen, vom Standpunkt der Hygieniker, der nur
der Verbreitung der Geschlechtskrankheiten zu Leibe gehen will,
kann er als unschädlich gelten. In Frankfurt a. M. wurden 1902
von den unehelichen Kindern 10 Prozent von Arbeiterinnen (ohne
nähere Bezeichnung) geboren, 13,6 Prozent von Arbeiterinnen im
Bekleidungsgewerbe (Näherinnen, Schneiderinnen, Stickerinnen usw.),
13,6 Prozent von Arbeiterinnen im Reinigungsgewerbe (Büglerinnen,
Wäscherinnen), aber der Prozentsatz der venerischen Arbeiterinnen,
die von der allgemeinen Ortskrankenkasse behandelt wurden, war
relativ gering.
Das Schlafgängerwesen begünstigt sicher den außerehelichen
Verkehr zwischen den Angehörigen der Arbeiterklasse, aber dieses
Schlafgängerwesen spielt keine entscheidene Rolle bei der Ausbrei¬
tung der Geschlechtskrankheiten. Es hieße ja auch vollkommen
die wahre Sachlage verkennen, wenn man für das Zustandekommen
des außerehelichen Verkehrs zweier Personen nur das gemeinsame
Hausen derselben unter einem Dache verantwortlich machen wollte.
Arbeitsgenossen und Arbeitsgenossinnen finden sich durchweg nicht
schwerer zusammen, als Hausgenossen und Hausgenossinnen. Tanz¬
boden, Werkstatt und Straße spielen wohl häufiger die Rolle des
Kupplers, als Hausflur und Treppe.
Gerade ein eingehendes Studium des Schlafgängerwesens be¬
weist, daß dieses wirklich nicht erheblich die Verbreitung der vene¬
rischen Krankheiten verschuldet. Diese Tatsache soll durchaus
nicht ein freier Passierschein für alle die schrecklichen Mißstände
des heutigen Schlafgängerwesens sein, — diese Schäden verlangen
direkt die Beseitigung des Schlafgängerwesens mit Stumpf und Stiel
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Die Wobnungsmißstände im Prostitutions- und im Schlafgängerwesen usw. 171
— sondern sie soll die Bekämpfer der Geschlechtskrankheiten nur
davor bewahren, die Ursachen der Verbreitung sexueller Leiden
dort ausschließlich zu suchen, wo sie nur zu einem ganz kleinen
Teile zu finden sind.
Auf dem Schuldkonto des Schlafgängerwesens steht eine lange,
lange Reihe schwerer hygienischer, geistiger und sittlicher Versün¬
digungen eingetragen, aber auf diesem Konto figuriert die Verbrei¬
tung der Geschlechtskrankheiten nur als ein ganz kleiner Posten.
Das ungenierte, geräumige und gesunde Junggesellenzimmer ver¬
birgt hinter seinen feinen und dichten Vorhängen viel zahlreichere
der Verbreitung sexueller Leiden dienende Akte, als die niedrige,
gesundheitsschädliche, gleichsam von vielen Augen überwachte
Schlafstelle.
Wir werfen nochmals einen Blick in unsere angeführte Statis¬
tik über die Verbreitung der Geschlechtskrankheiten in einzelnen
preußischen Regierungsbezirken. Vielleicht weiß sie uns eine weitere
lehrreiche Tatsache zu berichten!
Der Regierungsbezirk Arnsberg, dieser Mittelpunkt west¬
fälischer Grossindustrie, zeichnet sich ja durch eine merkwürdig
geringe Verbreitung der Geschlechtskrankheiten aus! Vielleicht wies
er gerade ganz vortreffliche Wohnungsverhältnisse auf? Wir blättern
in dem von der Medizinalabteilung des preußischen Kultusmini¬
steriums bearbeiteten dicken Band: das Sanitätswesen des
Preußischen Staates während der Jahre 1898, 1899 und
1900 und stoßen da auf Seite 93 auf folgende Darstellung der
schlechten hygienischen, den Typhus befördernden Verhältnisse des
Regierungsbezirks Arnsbergs:
„Die Häufigkeit der Typhusepidemien des Regierungsbezirks
(Arnsbergs) erklärt sich zwangslos durch die allgemeinen schlechten
hygienischen Lebensbedingungen dieser Gegenden. Es handelt sich
um Gebiete, die eine Zwitterstellung zwischen Stadt und Land ein¬
nehmen und im beiden nur die hygienischen Nachteile und nicht
die Vorteile besitzen. Es fehlt ihnen die ländliche Abgeschlossen¬
heit und die damit verbundene verhältnismäßige üngefährlich-
keit der Beseitigung der menschlichen Abscheidungen, es fehlt
ihnen die Aufzucht eigenen Gemüses und Obstes, die Möglichkeit,
Kuh oder Ziegen zu halten. Es fehlt ihnen anderseits die Sauber¬
keit städtischer Straßen und die Beseitigung der Abgänge durch
unterirdische Kanäle. Direkt förderlich der Typhusver¬
breitung in ihnenist die Anhäufung zahlreicher Familien
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172
Kampflmeyer.
in Massenwohnhäusern, die gemeinsame Benutzung des
Abtritts, der Spülkräne auf den Fluren durch mehrere
Familien, die starke Verbreitung des Kostgängerwesens . .
In der Tat ist das Schlaf- und Kostgängerwesen gerade im Regie¬
rungsbezirk Arnsberg in erschreckendem, beinahe an Berlin erinnern¬
dem Maße vorhanden.
Über das Kost- und Quartiergängerwesen im Regierungsbezirk
Arnsberg belehrt uns folgende Zusammenstellung für 1900 aus dem
Werke: „Das Sanitätswesen des Preußischen Staates wäh¬
rend der Jahre 1898, 1899 und 1900.
Kreise
Sh
-o &
1 3
p tp
«i 0>
St
wg
<y
Kostgänger
Sh
©
bO
4
SP
09
1
Quartierräume |
Zahl der den Quar¬
tiergebern aufer¬
legten 8trafen
wegen Übertretun¬
gen d. boz. polizei-!
liehen Vorschriften J
!
Einwohnerzahl!
!
Auf 10000 Ein-
! wohner fallen
Kostgänger etc.
Arnsberg . . .
.
489
829
1046
741
22
54329
345,10
Meschede . . .
99
289
289
147
11
87979
152,19
Brilon ....
27
67
15
40
—
39912
20,55
Lippstadt . . .
188
447
377
295
6
41178
200,11
Soest.
161
879
193
241
3
55764
102,57
Hamm ....
565
648
290
621
2
104383
89,38
Dortmund Stadt.
2529
5091
2500
3283
439
140536
540,15
„ Land
5067
9511
1619
5434
587
145846
765,76
Hörde ....
2251
4208
1536
2575
169
114702
500,77
Bochum Stadt .
5363
13378
—
6039
299
64825
2068,70
„ Land
4263
8532
1622
4641
976
159040
688,45
Gelsenkirchen Stadt
645
1162
122
759
48
37069
346,37
„ Land
5360
11939
1983
5779
724
186940
744,73
Hattingen . . .
.
1040
2459
454
1179
169
79589
365,96
Hagen Stadt . .
574
1201
397
852
8
50194
818,56
„ Land . .
602
839
799
768
68
77221
212,12
Schwelm . . .
653
1328
663
734
86
70944
280,64
Iserlohn....
627
1549
69
914
22
84987 |
190,88
Altena ....
793
1813
941
794
70
95472
288,46
Olpe.
330
455
244
383
115
41106
170,04
Siegen ....
1451
1640
2079
1838
628
97981
379,56
Wittgenstein . .
58
139
136
103
—
23665
116,20
Witten ....
•
288
744
372
415
11
33344
334,68
Zusammen
33423
68643
17746
| 38580
4461
1836515
470,39
im Durch*
schnitt
Über die ungenügenden, gesundheitswidrigen Wohnungen des
Regierungsbezirks Arnsberg hören wir mancherlei Klagen. Im
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Die Wohnungsmißst&nde im Prostitution»- und im Schlafgängerwesen usw. 173
Kreis Hörde wurden auf Beschluß des Kreistages 106 Häuser
aller Art mit 251 Wohnungen untersucht, davon erwiesen sich
40 Häuser mit 99 Wohnungen als durchaus ungenügend, besonders
ließen die Bewohnerzahl, Luftraum, die Zahl und Beschaffenheit
der Aborte sehr zu wünschen übrig.
Von 1000 ortsanwesenden Personen gehörten im Regierungs¬
bezirk Arnsberg der Industrie und dem Bergbau 645,4 an, in
Berlin nur 535,4. Die ortsanwesenden Personen, die zum Handel,
Verkehr und zu den öffentlichen Diensten gerechnet werden, sind
in Berlin natürlich doppelt und dreifach so zahlreich, wie im Re¬
gierungsbezirk Arnsberg.
In Arnsberg wohnen große Massen der Bevölkerung in Gro߬
städten wie Bochum, Dortmund, Hagen, Gelsenkirchen, in Mittel¬
städten wie Siegen, Lippstadt, Soest, Hamm, Hörde, Schwelm, Iser¬
lohn und Altena. Und trotz der vielen Stadtkreise, trotz der über¬
völkerten Haushaltungen, trotz der großen Masse der Schlaf- und
Quartiergänger war die Verbreitung der Geschlechtskrankheiten im
Regierungsbezirk Arnsberg außerordentlich gering!
Wie erklärt sich der geringe Prozentsatz der Geschlechtskranken
in dem großindustriellen Regierungsbezirk Arnsberg. Die Familie
ist dort erstens relativ wenig zersetzt. Im Bergbau und in
der Eisenindustrie sind relativ wenig Frauen und Mädchen be¬
schäftigt. Im Stadtkreise Berlin gab es 169805 krankenversiche¬
rungspflichtige Mädchen und Frauen, im Regierungsbezirke Arns¬
berg gab es 23715 krankenversicherungspflichtige Mädchen und
Frauen im Jahre 1901.
Die Frauen und Mädchen Arnsbergs sind zumeist noch der
Familie eingegliedert. Sie arbeiten nicht in der Industrie und
verselbständigen sich nicht wirtschaftlich. Die Frauen und Mädchen
die zu den Angehörigen der in der Landwirtschaft tätigen Personen
zählen, lösen sich ebenfalls nicht von den Familienhaushaltungen
los. Von 1000 Personen gehörten in Berlin 5,6 zur Lands Wirtschaft,
im Regierungsbezirk Arnsberg dagegen 140,6 Personen. Ferner
verschwindet die Gruppe der Mädchen, die häusliche Dienste oder
wechselnde Lohnarbeit verrichten, und die sehr der sozialen Kor¬
ruption und der venerischen Infektion ausgesetzt ist, im Regierungs¬
bezirk Arnsberg im Vergleich mit der Berlins vollständig. In
Berlin gehörten dieser Berufsgruppe von 1000 ortsanwesenden Per¬
sonen 42,7, in Arnsberg 13,3 an.
Die vorher erwähnten sozialen Tatsachen (die Familienver-
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174
Kampffmeyer.
fassung, die soziale Gliederung der Bevölkerung) erklären nur zum
Teil die geringe Verbreitung der Geschlechtskrankheiten im Regie¬
rungsbezirk Arnsberg.
Schauen wir auf die Daten, die uns über das Auftreten der
Prostitution im Regierungsbezirk Arnsberg zugänglich sind, so wird
uns sofort die große Differenz in der Verbreitung der Geschlechts¬
krankheiten in Berlin und im Regierungsbezirk Arnsberg ver¬
ständlich.
Am 1. Dezember 1900 hatte der Stadtkreis Berlin 1888848
Einwohner und der Regierungsbezirk Arnsberg 1851319. Arns¬
berg hatte geschlossene, sehr kinderreiche Familien. In Arnsberg
war daher die erwachsene Bevölkerung relativ geringer als in
Berlin. In Berlin betrug 1900 die erwachsene Bevölkerung 1271977,
in Arnsberg 1111033. Berlin hatte neben der riesigen geheimen
Prostitution eine vieltausendköpfige Armee kontrollierter Dirnen.
In Berlin standen im Jahre 1900 allein 4147 Prostituierte unter
sittenpolizeilicher Kontrolle. Im Regierungsbezirk Arnsberg besteht
eine regelmäßige Überwachung Prostituierter nur in Hagen, Bochum.
Herne, Gelsenkirchen, Hamm und Dortmund. In Dortmund
standen bei einer Bevölkerung von 140536 Einwohnern 70 bis 80
Prostituierte unter sittenpolizeilicher Kontrolle, in Hagen bei einer
Bevölkerung von 50194 12 Prostituierte, in Bochum 18, in Herne
meist nur 1, in Gelsenkirchen 25, in Iserlohn 0. Stellen wir
die höchsten hier angegebenen Zahlen über die kontrollierten Pro¬
stituierten in Rechnung, so erhalten wir nur 136 Kontrolldirnen.
Ja wenn wir selbst die angeführten Zahlen um 40 Prozent erhöhen,
so zählen wir immer noch nicht 200 Kontrolldirnen für den ganzen
Regierungsbezirk Arnsberg.
Die Zahl der sich berufsmäßig aber geheim prostituierenden
Frauen und Mädchen des Regierungsbezirks Arnsbergs kann
ebenfalls nicht hoch angesetzt werden. Neben den venerischen
Prostituierten treten die venerischen Mädchen und Frauen in
den Hospitälern des Regierungsbezirks Arnsberg sehr in den
Hintergrund.
Es wurden in Hospitälern in Berlin 3924 weibliche Personen,
darunter 1431 Prostituierte, im Regierungsbezirk Arnsberg 369
weibliche Personen, darunter 226 Prostituierte behandelt.
In Krankenhäusern wurden im Jahre 1899 venerische weibliche
Personen behandelt:
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Die Wohnangsmiflst&nde im Prostitutions« and im Schl&fgängerwesen usw. 175
In Berlin:
189 Ehefrauen,
676 Dienstboten,
326 Arbeiterinnen,
11 Friseusen,
111 Handelsgewerbebeflissene,
6 Fabrikarbeiterinnen,
1431 Prostituierte,
im Regierungsbezirk Arnsberg:
35 Ehefrauen,
37 Dienstboten
4 Arbeiterinnen,
— Friseusen,
1 Handelsgewerbebeflissene,
5 Fabrikarbeiterinnen,
226 Prostituierte,
2750 Venerische. 308 Venerische.
Ein Vergleich der Berliner mit den Arnsberger Ziffern zeigt,
daß die im Handel und in der Industrie tätigen venerischen Frauen
des Regierungsbezirks Arnsberg für die Verbreitung der Geschlechts¬
krankheiten nur in einem ganz minimalen Umfange in Frage kommen:
den 454 venerischen Frauen und Mädchen der Industrie und des
Handels Berlins stehen in Arnsberg nur 10 venerische weibliche
Personen dieser Berufszweige gegenüber. Die große Gruppe von
weiblichen Personen, die im Gewerbe und Handel nur nebenbei
tätig ist und sich in der Hauptsache der Prostitution ergiebt, ist
offenbar in Arnsberg äußerst gering. Die geheime gewerbsmäßige
Prostitution, darauf weisen die niedrigen Erkrankungsziffern der
weiblichen Arbeiterinnen und Handelsbeflissenen Arnsbergs sehr
deutlich hin, bewegt sich in Arnsberg im Unterschied von Berlin
in sehr engen Grenzen.
Im Regierungsbezirk Arnsberg sind die erwerbsfähigen Mädchen
eben meist fest den Familienhaushaltungen eingegliedert. In Berlin
waren, wiederholen wir noch einmal die entscheidende und ma߬
gebende Ziffer, der Krankenversicherung unterstellt: 169805 weib¬
liche Personen und in Arnsberg nur 23715. Auf 169805 haupt¬
sächlich in der Industrie und dem Handel beschäftigten Frauen
kommen in Berlin 454 venerische in den Krankenhäusern be¬
handelte Frauen, auf 23715 Frauen in Arnsberg nur 10. Unter
den im Handel und Industrie beschäftigten Mädchen und Frauen
Berlins sind nach diesen Ziffern Geschlechtskrankheiten mehr wie
sechsmal so häufig vertreten, wie in den gleichen weiblichen Be¬
rufsklassen Arnsbergs. Natürlich haben hier diese Ziffern keinen
absoluten vollgiltigen Wert, sie haben aber immerhin eine bewei¬
sende Kraft für die ganz allgemeine Tatsache, daß die sich geheim
prostituierenden weiblichen Personen des Regierungsbezirks Arns¬
bergs offenbar ganz verschwinden gegenüber der großen Zahl der¬
artiger Frauen und Mädchen Berlins.
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176
Kampffmeyer.
Auf welche Bezirke verteilen sich im Regierungsbezirk Arns¬
berg nun überwiegend die Geschlechtskrankheiten? Auf 4 Städte,
und zwar: auf Dortmund, Bochum, Gelsenkirchen und Hagen. Die
Gesamtbevölkerung dieser Städte betrug 219624 Einwohner, die
erwerbsfähige Bevölkerung 179186 Einwohner. Am 30. April 1900
wurden nun im Regierungsbezirk Arnsberg nur 832 Geschlechts¬
kranke gezählt Von diesen 832 Geschlechtskranken entfallen allein
auf Dortmund, Bochum, Gelsenkirchen und Hagen 497
Geschlechtskranke, das heißt auf nur etwa 16 Prozent
der Bevölkerung des Regierungsbezirks Arnsberg ent¬
fallen zirka 60 Prozent der gesamten Geschlechtskrank¬
heiten. In diesen vier Städten giebt es aber eine kontrollierte
Prostitution.
Das Ergebnis unserer bisherigen Uutersuchung können wir in
folgende Sätzen hineinlegen: Die Verbreitung der Geschlechtskrank¬
heiten eines Bezirks hängt auf das Engste mit der Ausdehnung der
kontrollierten und geheimen Prostitution des Bezirks zusammen.
Das Schlafgängerwesen hat keinen nur irgendwie erheblichen und
feststellbaren Einfluß auf die Verbreitung der Geschlechtskrankheiten.
Der energische Bekämpfer der venerischen Krankheiten hat
seine Augen auf die eigenartigen Lebensverhältnisse der Prosti¬
tuierten zu richten. Er hat, will er das Feld der Wohnungsreform
erfolgreich betreten, genau die Wohnungsverhältnisse der Prosti¬
tuierten zu untersuchen, ob in ihnen ein unheilvolles, die venerische
Seuche beförderndes Moment liegt.
Die Prostituierte vor allem verseucht die Bevölkerung mit
dem venerischen Gifte, und ihr Sitz ist hauptsächlich die Groß-
und Mittelstadt.
Von den am 30. April 1900 in Preußen ermittelten 30883 ge-
schlechtskranken Männern fielen allein 8529, das heißt 28,07 Pro¬
zent derselben auf Berlin. Von den geschlechtskranken Frauen
Preußens befanden sich gar 29,17 in Berlin. Erfaßt man nun noch
die Geschlechtskranken der 17 preußischen Großstädte mit über
100000 Einwohnern statistisch, so befanden sich in 17 Gro߬
städten 33,29 Prozent der geschlechtskranken Männer und 31,66
Prozent der geschlechtskranken Frauen.
In Berlin und 17 Großstädten über 100000 Einwohner
Preußens wohnten somit 61,36 Prozent der geschlechts¬
kranken Männer, 60,83 Prozent der geschlechtskranken
Frauen.
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Die Wohnuagsmißstände im Prostitations- and im Schlafgftngerwesen usw. 177
Energische Maßnahmen gegen die venerischen Krank¬
heiten, die sich nur auf Berlin und 17 Großstädte über
100000 Einwohner erstrecken würden, kehren sich schon
gegen über 60 Prozent der venerischen Leiden. Wir gehen
jedoch weiter und regen die Ausdehnung von Maßnahmen
gegen die Geschlechtskrankheiten auf alle Städte bis zu
40000 Einwohnern und auf einige Hafen- und Verkehrs¬
städte an.
Es zeigen nämlich einige Hafen- und Verkehrsstädte nach der
Guttstadtschen preußischen Statistik der Geschlechtskranken vom
80. April 1900 eine starke Verbreitung der Geschlechtskrankheiten:
so Wilhelmshaven (auf 10000 Erwachsene 141,16 Geschlechtskranke),
so Saarlouis (auf 10000 Erwachsene 105,47), so Saarbrücken (auf
10000 Erwachsene 84,26) etc.
Die Maßnahmen, die wir vom Standpunkte der Wohnungs¬
reform anregen werden, müssen sich auf die eigenartigen Woh¬
nungsmißstände der Prostituierten der deutschen Groß-
und Mittelstädte beziehen. Diese Mißstände, sowie die
bisher gegen sie ergriffenen Maßnahmen haben wir hier
zunächst festzustellen.
Die Wohnungsverhältnisse groß- und mittelstädtischer Prostituierten
und ihre heutige Begelung.
Nur verhältnismäßig spärlich ist bisher in der Literatur der
Wohnungsfrage das wichtige soziale Problem behandelt worden:
wie drängt man die unser soziales Leben korrumpierende Prosti¬
tution durch eine tiefgreifende, das aufdringliche Dimenwesen ein¬
schränkende Reform der Wohnungsverhältnisse der Prostituierten
in den Hintergrund? Es sind wohl zumeist Polizeibeamte und
Polizeiärzte gewesen, die der Lösung dieses Problems ihre Federn
geliehen haben. Und doch sollte es weit über den Kreis dieser
Fachleute hinaus, die sich gleichsam aus Beruf mit der Hausungs¬
frage der Prostituierten beschäftigen mußten, ein tiefes Nachdenken
und ein ernstes, zur Tat drängendes Wollen in allen Volksklassen
wecken. Die Wohnungsfrage der Prostituierten greift eben zu
sichtbar und zu wirksam hinüber auf die Gebiete der öffentlichen
Sittlichkeit und Gesundheit, als daß diese Frage kurzer Hand nur
für eine höchstens die Polizeiärzte und Polizeibeamten interes¬
sierende „Fachsimpelei“ erklärt werden könnte. Die Wohnung
einer Prostituierten, die durch ihr auffälliges, schreiendes und
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178
Kampflmeyer.
schamloses Wesen die Augen ihrer Mitmenschen fast mit Gewalt
auf sich richtet, kann eine wahre Mordstätte für die Leiber und
Seelen ihrer Umgebung werden. Kinderaugen werden fast unfrei¬
willig Zeugen der intimsten Vorgänge in den Wohnungen der
Dirnen. Die junge, sich durch harte Tagesarbeit ernährende Ar¬
beiterin blickt auf einen oberflächlich glänzenden und farbenpräch¬
tigen Luxus, der gleichsam nur durch das Vergnügen gewonnen
ist Schulknaben erlernen die Geheimnisse eines sexuellen Raffine¬
ments, in die sonst nur übersättigte, lüsterne Greise einzudringen
pflegen. Keiner breiten, langatmigen Schilderungen bedarf es wahr¬
lich hier zur Erkenntnis all* der sozialen Schäden, die von der
korrupten Wohnstätte einer Dirne auszugehen pflegen; wir greifen
ja mit Händen fast schon eine ungeheure Menge von flittergoldiger
Halbweltskultur, die in unser modernes Großstadtleben hinüberge¬
flossen ist
Unsere Aufgabe ist es hier nicht, in erster Linie den seelen¬
mörderischen Einfluß, den das Hausen der Prostituierten in unseren
Groß-, Mittel- und Fremdenstädten in der dortigen Bevölkerung
anrichtet, nachzuweisen. In unseren Gesichtskreis rückt vor allem
die Sorge für das körperliche Wohl und Wehe unserer Mitmenschen,
das durch die Wohnungsverhältnisse der Prostituierten so fühlbar
in Mitleidenschaft gezogen wird. Doch können wir, diese Tatsache
drängt sich uns sofort auf, durch keinen dicken Tintenstrich das
Gebiet der Gesundheit von dem der Moral in allen, das Prostitu¬
tionsproblem berührenden Fragen trennen. Die verputzte, aufge¬
donnerte Prostituierte mit ihren auffälligen, derb sinnlichen Ma¬
nieren verdirbt die soziale Sitte und verseucht mit Krankheits¬
keimen zugleich den sozialen Organismus. Das schreiend bunt
gefärbte Laster stellt sich zugleich als eine gesund geschminkte
Krankheit dar. Die sittenpolizeilichen Bestimmungen, die die laster¬
hafte Prostituierte aus der Öffentlichkeit weisen wollen, beabsich¬
tigen zugleich von der Straße die erkrankte Dirne zu drängen.
Die heutige Sittenpolizei sucht zugleich die Funktion der Sanitäts¬
polizei zu erfüllen. Ob sie aber diese Aufgabe auch wirklich löst,
das steht auf einem anderen Blatt.
Die „Deutsche Gesellschaft z. B. d. G.“ würdigte schon ein¬
gehend auf ihrem ersten Kongresse 1903 in Frankfurt a. M. die
großen Gefahren, die für die Volksgesundheit an die eigenartigen
Hausungsverhältnisse der Prostituierten geknüpft waren. Der Vor¬
stand der ,J). G. z. B. d. G.“ tat darauf zur schrittweisen Besei-
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Die Wohnungsmißstände im Prostitutions- und im Schlafgängerwesen us w. 179
tigung der die venerischen Krankheiten begünstigenden Wohnungs¬
mißstande einen entscheidenden Schritt: er erließ im Oktober 1903
ein Rundschreiben an die Magistrate und Polizeiverwaltungen der
deutschen Groß- und Mittelstädte und ersuchte sie um die Mit¬
teilung:
1. der wohnungspolizeilichen oder durch eigene Bautätigkeit oder
Förderung des gemeinnützigen Wohnungsbaues, Errichtung
von Ledigenheimen etc. getroffenen Maßnahmen zur Besei¬
tigung oder Linderung der durch das enge Zusammenwohnen,
insbesondere durch das Schlafgängerwesen bedingten hygie¬
nischen und moralischeu Schäden,
2. der gegen die Durchseuchung der Bevölkerung mit Prosti¬
tuierten getroffenen Maßnahmen (Untersagung des Prostitutions¬
betriebes in Wohnungen bezw. Häusern, in welchen Kinder
wohnen, event. Beschränkungen desselben auf bestimmte Straßen
bezw. Stadtviertel).
Das Resultat dieser Umfrage an die Magistrate und Stadtver¬
waltungen der deutschen Groß- und Mittelstädte über die bisher
von ihnen ergriffenen wohnungspolizeilichen Maßnahmen gegen das
Schlafgänger- und Prostitutionswesen war verhältnismäßig voll¬
ständig. Von 33 Großstädten über 100000 Einwohner gingen
29 mehr oder weniger ausführliche Antworten von den
Magistraten und Polizeiverwaltungen zu. Es fehlten uns
nur die Antworten der Städte- und Polizeiverwaltungen von Berlin,
Hamburg, Braunschweig, Düsseldorf. Die immerhin fühlbare
Lücke in unserer Enquete konnten wir zum Teil durch das Material
ergänzen, das die „Denkschrift über die in Deutschland bestehenden
Verhältnisse in bezug auf das Bordellwesen“ des „Bundes deutscher
Frauenvereine“ über die Wohnungsverhältnisse der Prostituierten
unserer deutschen Groß- und Mittelstädte enthielt Uber die Pro¬
stitution Berlins und Hamburgs stand uns eine ausgebreitete Lite¬
ratur zur Verfügung. Die Umfrage der Gesellschaft zur Bekämpfung
der Geschlechtskrankheiten unterrichtet somit den Sozialpolitiker
und Sozialhygieniker hinreichend über die WohnungsVerhältnisse der
Prostituierten in unseren Großstädten über 100000 Einwohner.
Von den deutschen Städten über 50000 bis 100000 Ein¬
wohner fehlten uns Aufzeichnungen über nur 6 Städte und zwar
über die Städte: Beuthen, Altendorf, Linden bei Hannover, Lud¬
wigshafen, Metz und Spandau. Auch in diesem Falle vervollstän¬
digten wir unsere Daten vermittelst der vorhererwähnten Denkschrift
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180
Kampffmeyer.
des Bandes Deutscher Frauenvereine über die Städte: Beuthen,
Ludwigshafen, Metz und Spaudau. Nur zwei Städte fehlten also
unserer Zusammenstellung.
Die 19 Städte von über 40000 bis 50000 Einwohner waren
in unserer Enquete mit 15 Städten vertreten. Wir trugen von
den uns fehlenden 4 Städten die Tatsachen über 2 Städte aus der
angeführten Denkschrift nach: über Flensburg und Trier.
Von den Mittelstädten zogen wir noch zum Vergleich die Städte
Greifswald (22950 Einw.), Göttingen (30234 Einw.), Thorn (29635
Einw.), Wesel (22545 Einw.), Graudenz (32727 Einw.) heran.
Die Umfrage der „Deutschen Gesellschaft zur Be¬
kämpfung der Geschlechtskrankheiten“ über die von den
Stadt- und Polizeiverwaltungen bisher getroffenen woh¬
nungspolizeilichen Maßnahmen gegen die Mißstände des
Prostitutionswesens hat zu dem sozialstatistisch be¬
friedigenden Resultate geführt: die Umfrage gibt ein fast
vollständiges Bild von den typischen Wohnungsverhält¬
nissen unserer deutschen groß- und mittelstädtischen
Prostitution und von den gegen ihre Mißstände gerich¬
teten Maßnahmen der Städte- und Polizeiverwaltungen.
Die eigenartigen Schäden, die der heutigen Wohnungsweise
der Prostituierten anzuhaften pflegen, treten vor allem klar aus
den Maßnahmen hervor, die unsere deutschen Polizeiverwaltungen
gegen bestimmte Hausungsmißstände der Prostituierten ergriffen
haben. Die „Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechts¬
krankheiten“ ist im Besitz zahlreicher „Polizeilicher Vorschriften
zur Sicherung der Gesundheit, der öffentlichen Ordnung und des
öffentlichen Anstandes“, die in den deutschen Groß- und Mittel¬
städten gegen die eingeschriebenen Prostituierten erlassen sind.
Diese Vorschriften decken sich in ihrem wesentlichen
Teile miteinander, sie setzen sich alle den Zweck: das
Wohnen der Prostituierten möglich wenig auffälligzu ge¬
stalten und ihm jeden öffentliche sArgernis erregenden Cha¬
rakter zu nehmen. Die WohnungsVerhältnisse der Prostituierten
werden deshalb einer polizeilichen Kontrolle unterstellt. Meist hat
die Prostituierte zu jeder Tag- und Nachtzeit ihre Wohnungen dem
Polizeibeamten zu öffnen. Die Prostituierte hat vielfach jeden
Wohnungswechsel der Polizei innerhalb von 24 bis 48 Stunden
anzuzeigen. Ihr werden ferner zahlreiche polizeiliche Bestimmungen
über die Lage ihrer Wohnung und über ihr Verhalten und über
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Die Wohnongsmißstände im Prostitutions- and im Schlafgängerwesen usw. 181
den Personenverkehr in ihrer Wohnung auferlegt. Sie wird an¬
gehalten:
1. keine Wohnungen in der Nähe von Kirchen, Schulen und an¬
deren öffentlichen Gebäuden und in den verkehrsreichen Straßen
zu beziehen;
2. keine Zimmer in Vorderhäusern und keine Parterrewohnung
zu mieten;
3. nur Wohnungen in ganz bestimmten Straßen aufzusuchen
(Kasernierung der Prostitution in gewissen Straßen);
4. nur Wohnung in bestimmten Häusern zu nehmen (in Bordellen).
Auf das Verhalten der Prostituierten in ihren Wohnungen er¬
strecken sich die Bestimmungen der Polizei Verordnungen, die jedes
auffällige Treiben der Dirnen in den Häusern, an den Fenstern etc.
vermeiden und jeden Einblick in die Geheimnisse des Prostitutions¬
betriebes verhindern wollen.
Die Gefahren, die die Wohnungen der Prostituierten für jugend¬
liche Personen (Kinder, Schüler, Dienstboten) bieten, und die sie
ferner durch Zuhälter auch für erwachsene Personen einschließen,
sollen durch das Verbot ferngehalten werden, daß keine minder¬
jährigen Personen Einlaß in die Wohnungen der Prostituierten
erhalten. Verdächtigen Personen, wie Zuhältern etc., wird ebenfalls
vielfach der Zugang zu den Wohnungen der Prostituierten verwehrt.
Werfen wir zunächst einen Einblick auf die Bestimmungen
einer großstädtischen Polizeiverordnung, die sich auf das Wohnen
der Prostituierten erstreckt: auf die Charlottenburger Polizei¬
vorschriften, die zur Sicherung der Gesundheit, der öffentlichen
Ordnung und des öffentlichen Anstandes am 1, Februar 1903 in
Kraft traten:
8. Sie (die Prostituierte) hat dafür Sorge zu tragen, daß durch
ihren Aufenthalt in dem von ihr bewohnten Hause weder im Hause
selbst, noch in der Nachbarschaft ein Ärgernis gegeben wird. An¬
dernfalls ist sie nach einmaliger fruchtloser Verwarnung verpflichtet,
auf Anordnung der Polizeidirektion innerhalb der ihr gestellten
Frist aus diesem Hause zu ziehen.
10. Den zur Besichtigung ihrer Wohnung erscheinenden Poli¬
zeibeamten muß sie zu jeder Tages- und Nachtzeit sofort Einlaß
gewähren oder verschaffen und über die bei ihr angetroffenen Per¬
sonen, soweit ihr möglich, Auskunft zu geben.
11. Wird sie in einer Wohnung betroffen, welche der Polizei
als Absteigequartier für Prostituierte bekannt ist und hat das
Zeitschr. t Bektmpfung d. Geschlechtskranke III. 14
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Kampffmeyer.
Treiben daselbst bereits zu Beschwerden Anlaß gegeben, so kann ihr
das Betreten dieses Quartiers durch die Polizeidirektion untersagt
werden.
12. Sie darf sich unter keinem Vorwände an den Fenstern der
eigenen oder einer fremden Wohnung zeigen.
Die Fenstör ihrer Wohnung müssen, während sie Männerbe¬
besuche empfängt, geschlossen und mit einer Gardine verhüllt sein,
so daß der Einblick in die Wohnung vollständig verhindert wird.
Es ist ihr verboten, eine Lampe, ein Licht oder ein anderes Zeichen
an die Fenster zu stellen oder sonstige vom Fenster oder von der
Haustür der eigenen oder fremden Wohnung aus Männer anzu¬
locken.
13. Sie hat ihre Wohnung auf Befragen wahrheitsgemäß an¬
zugeben. Von jedem Wohnungswechsel hat sie persönlich binnen
drei Tage, spätestens aber bei der nächsten Gestellung zur ärzt¬
lichen Untersuchung im Geschäftszimmer der Polizeidirektion An¬
zeige zu machen. In schriftlichen Gesuchen an die Polizeidirektion
ist die derzeitige Wohnung stets genau anzugeben.
14. Es ist ihr verboten, in der Nähe von Kirchen, Schulen
und höheren Lehranstalten, königlichen und öffentlichen Gebäuden,
insbesondere von Kasernen, sowie auf den Straßen und Plätzen,
deren Betreten ihr in Ziffer 6 dieser Vorschriften untersagt ist,
und im Erd- oder Kellergeschoß, wenn die Wohnung nach der
Straße zu belegen ist, zu wohnen. Außerdem wird untersagt, in
Hotels, Gasthöfen und Hotel garnis zu wohnen oder solche zu be¬
treten. Sobald ihr seitens der Polizeidirektion eröffnet wird, das
eines der unter dieser Ziffer aufgeführten Wohnungsverhältnisse
vorliege und dadurch Anstoß erregt werde, ist sie verpflichtet,
innerhalb der von der Behörde gestellten Frist ihre Wohnung auf¬
zugeben.
15. Endlich ist ihr untersagt, ihre Wohnung mit einer anderen
Person zu teilen, während sie Männerbesuch empfängt, oder ihren
Zuhälter bei sich beherbergt
16. Minderjährige Dienstboten darf sie nicht annehmen/ 4
In einem anderen Paragraph dieser Polizeivorschriften wird
ihr der Verkehr mit unerwachsenen Personen männlichen und weib¬
lichen Geschlechts, mit Zöglingen und Schülern von Zivil- und
Militäranstalten verboten.
In einigen Polizeivorschriften wird namentlich besonders stark
das Verbot des Zusammenwohnens mit Kindern undunerwachsenen
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Die Wohnungsmißstäode im Prostitutions- und im Schlafgangerwesen usw. 183
Personen hervorgehoben. In der Breslauer Polizeivorschrift wird
den Prostituierten verboten, Wohnungen zu behalten und zu
nehmen: gemeinsam mit anderen Personen in einem Zimmer, namentlich
mit Kindern (eigenen oder fremden) vom schulpflichtigen Alter an. Die
Elbinger Polizeivorschrift vom 6. Juli 1886 schreibt vor: als Auf¬
wärterinnen dürfen sie nur solche weibliche p. p. Personen be¬
schäftigen, welche mindestens 45 Jahre alt sind, und haben sie
von der Annahme jeder Aufwärterin dem 2. Polizeiinspektor
mindestens 24 Stunden vor dem Beginn ihrer Beschäftigung Anzeige
zu machen. Kinder und solche erwachsene weibliche Personen,
welche noch nicht 45 Jahre alt sind, dürfen sie weder in ihrer
Wohnung, noch in den zu derselben gehörigen sonstigen Bäumen
dulden. In Harburg ist den Prostituierten das Halten weiblicher
Dienstboten untersagt
In einigen Städten ist die Bestimmung über das Wohnen der
Prostituierten fast vollständig der Polizeibehörde in die Hand gegeben.
In Dessau ist die Polizeiverwaltung befugt, das Wohnen von
Lohndirnen in den Wohnungen, die das „Wohnen nicht zweck¬
mäßig“ erscheinen lassen, zu verbieten“. In Gera ist die Polizei¬
behörde befugt, „das Aufgeben der Wohnungin einem bestimmten
Hause zu verlangen und nötigenfalls zu erzwingen, wenn das
Belassen darin bedenklich erscheint, unbeschadet der zivilrechtlichen
Ansprüche der Mieter und Vermieter aus dem Mietverträge
gegen die Dirnen.“
Die Wohnung der Dirne kann einen besonders gefährlichen
Charakter für die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten dadurch
erhalten, daß sie wüsten Gelagen der Kunden der Prostituierten
dient In einigen Polizeivorschriften, z. B. in einer Polizeiverordnung
Geras, ist daher den Prostituierten „das Verabreichen von Genu߬
mitteln, insbesondere von Branntwein, Wein, Bier und dergl. ver¬
boten“.
Einige Sittenpolizeivorschriften bemühen sich sogar, den ge¬
schlechtlichen Verkehr in den Wohnungen der Prostituierten möglichst
gefahrlos zu gestalten. In den Wormser Bordellen ist den
Prostituierten die Beobachtung bestimmter Beinigungsvorschriften
eingeschärft In einer Graudenzer Polizeivorschrift wird den
Prostituierten zur Sanierung des häuslichen Geschlechtsverkehrs
direkt die Anschaffung eines Irrigators anbefohlen. Sie haben
diesen Irrigator sauber und gebrauchsfähig zu halten und an den
ärztlichen Untersuchungstagen vorzuzeigen. Aus derartigen Vor-
14*
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184
Kampffmeyer.
Schriften tritt der eine charakteristische Zug unverkennbar hervor:
die Wohnung der Prostituierten soll in einen möglichst
sanitären Prostitutionsbetrieb verwandelt werden.
Aus den angeführten Bestimmungen der Polizeivorschriften
zur Sicherung der Gesundheit, der öffentlichen Ordnung erkannten
wir bereits klar die Hauptschäden, die mit dem heutigen Wohnen
der Prostituierten in den Städten verknüpft sind: die Wohnungen
der Prostituierten stellen den Prostitutionsbetrieb schamlos und
anstoßerregend in die Öffentlichkeit und weihen bereits Kinder
und Minderjährige vielfach in ihre Geheimnisse ein. Die Be¬
stimmungen der Polizeiverordnungen zur Regelung der Wohnungs¬
verhältnisse der Prostituierten bemühen sich, von den Wohnungen
der Prostituierten Kinder und Minderjährige fernzuhalten, damit
diese von dem Schmutz der Prostitutionsstätten nicht erfaßt
und frühzeitig zugrunde gehen.
Die Polizei- und Stadtverwaltungen unserer Großstädte haben
nun zur Steuerung der gesundheitlichen und sittlichen Gefahren
der heutigen Prostituiertenwohnungen drei besondere Maßnahmen
getroffen.
1. Sie lassen ein ziemlich freies Wohnen der Prostituierten
zu und halten sie nur von der Nähe öffentlicher Gebäude und von
einigen belebten Verkehrsstraßen fern.
2. Sie drängen in einigen Straßen die Prostituierten zusammen
(Kasernierung der Prostitution).
3. Sie geben ihre Erlaubnis zum Betrieb von Bordellen, damit
sich der Prostitutionsverkehr nur möglichst in einigen leicht
kontrollierbaren öffentlichen Stätten (Bordellen) abspiele.
Die heutige Regelung der Wohnungsfrage der Prostituierten
in den Städten hängt nun im hohen Maße mit dem Umfange der
Städte selbst und mit den geschichtlichen Traditionen ihres Pro¬
stitutionsbetriebes zusammen. In den Städten, die schon seit dem
Mittelalter ein blühendes Bordellwesen kannten, hat sich vielfach
noch bis heute in den gleichen Straßen und Lokalitäten der
Bordellbetrieb oder ein bordellähnliches Zusammenwohnen der
Dirnen erhalten. Man werfe in dieser Hinsicht einen Blick in das
Nürnberg unserer Tage. In Frankfurt a. M., diesem alten Zentrum
eines ausgelassenen Dirnenverkehrs, haben sich trotz der Auflösung
der Bordelle noch richtige Bordellstraßen erhalten. Neben dem
Bordellbetrieb ist aber in den großen Städten stets lustig die ge¬
heime Prostitution aufgeschossen. In Frankfurt a.M. erreichte sie
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Die WohnuDgsmißstäDde im Prostitutions- and im Schlafgängerwesen usw. 185
nach Hanauer schon am Ende des Mittelalters und der Neuzeit
eine bedenkliche Höhe. Schon die größere mittelalterliche Stadt
scheiterte an der Lösung der Aufgabe: die gesamte Prostitution
der Stadt in einige öffentliche Hauser zu verlegen. Und heute in
den Tagen des ungebundenen Massenverkehrs treibt sich in den
Städten, die zahlreiche und flottgehende Bordelle besitzen, die ge¬
heime Prostitution auf allen Straßen und Gassen herum. Selbst
die Kasernierung der Prostitution in wenigen Straßen ist in den
Riesenstädten nicht gelungen.
Die Art und die Möglichkeit der Regelung der Wohnungsfrage
der großstädtischen Prostituierten ist eben fest an die Größen¬
verhältnisse der Städte gebunden.
Die deutschen Städte- und Polizeiverwaltungen haben sich in
den letzten Jahrzehnten wohl bemüht, eine zweckmäßige Lösung für
die Wohnungsfrage der Prostituierten ihrer Stadtbezirke zu finden.
Sie mußten bei ihren Lösungsversuchen an die Vorgefundene eigen¬
artige Gestaltung ihres lokalen Prostitutionswesens (Umfang der
Prostitution und frühere Regelung des Dirnenverkehrs) ankntipfen.
Die Stadt- und Polizeiverwaltungen, die so bereitwillig der „Deutschen
Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten 4 ' über ihre
„gegen die Durchseuchung der Bevölkerung mit Prostituierten ge¬
troffenen Maßnahmen 4 'unterrichteten, sind vielfach in ihren Schreiben
auf ihre lokalen Prostitutionsverhältnisse eingegangen. Oft gaben sie
eine fesselnde Darstellung ihrer lokalen Kämpfe um dieses oder
jenes System der Regelung der Prostituiertenwohnungsverhältnisse.
Sie trugen dann und wann ihre Meinungen über den Wert oder
Unwert der verschiedenen Regelungssysteme vor. Wir bringen ihre
charakteristischen Meinungsäußerungen hier meist wörtlich zum
Abdruck; denn sie sind ein interessantes historisches Dokument:
wie sich die deutschen Stadt- und Polizeiverwaltungen am Anfang
des zwanzigsten Jahrhunderts eine Regelung der Wohnungsfrage der
Prostituierten dachten.
Wir ordnen die Haupttatsachen über die großstädtischen Woh¬
nungsverhältnisse der Prostituierten nach folgendem Gesichtspunkte:
1. die Wohnungsverhältnisse der Prostituierten in den Städten
über 100 000 Einwohner,
2. die Wohnungsverhältnisse der Prostituierten in den Städten
über 50 000 bis 100 000 Einwohner,
3. die Wohnungsverhältnisse der Prostituierten in den Städten
über 40 000 bis 50 000 Einwohner.
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186
Kampffmeyer.
Die Wohnungsverhältnisse der Prostituierten in den Städten über
100 000 Einwohner.
In Berlin regte sich in den dreißiger Jahren des verflossenen
Jahrhunderts eine lebhafte Bewegung für die Abschaffung der
Bordelle. Diese kam im Jahre 1848 schon zum Ziele. In diesem
Jahre wurden die Bordelle unterdrückt. Nur ein kurzer Erfolg
war aber dieser Bewegung beschieden; denn 1851 öffneten sich
wieder die Türen der Bordelle. Endgültig schloß man sodann
die Berliner Bordelle im Jahre 1856.
Die sittenpolizeiliche „Vorschriften“ Berlins legen den Prosti¬
tuierten geringe Beschränkungen in bezug auf die Wahl ihrer
Wohnungen auf.
In Berlin standen unter sittenpolizeilicher Aufsicht im Jahre
1898 4544 weibliche Personen, 1899 4349 und 1900 4147.
In der Freien und Hansestadt Hamburg lehnte es die Polizei¬
behörde „grundsätzlich ab, über ihre Verwaltungsmaßnahmen
Privaten Auskunft zu erteilen, und bedauerte von dieser Regel
auch im vorliegenden Falle nicht abweichen zu können“. Hamburg
hat bekanntlich zahlreiche Bordelle. Nach Dr. A. Blaschko „be¬
steht in Hamburg de facto sogar ein Bordellzwang, da den Pro¬
stituierten durch die polizeilichen Vorschriften verboten ist, in anderen
als in den von der Polizei namhaft gemachten Straßen — das sind
eben diejenigen, in welchen sich die Bordelle befinden — zu wohnen.“
Die Zahl der Hamburger Prostituierten betrug 1898 733. Diese
kleine Zahl läßt nicht entfernt den wirklichen Umfang der Ham¬
burger Prostitution ahnen.
In München dürfen nach dem § 2 der sittenpolizeilichen
Vorschriften vom 5. Januar 1903 „Wohnungen in den belebten
Straßen sowie in der Nähe von Kirchen, Schulen oder anderen
öffentlichen Gebäuden, in Häusern, in welchen sich Wirtschaften
befinden, Parterrewohnungen, ferner Wohnungen in den an den
Stadtbezirk angrenzenden Gemeinden von den Prostituierten nicht
bezogen werden. Im übrigen ist diesen die Wahl ihrer Woh¬
nungen freigegeben, und haben sie gemäß § 3 nur die polizei¬
lichen Aufträge, bestimmte Wohnungen nicht zu beziehen oder
zu verlassen, zu befolgen. Von dieser Befugnis wird seitens
der Kgl. Polizeidirektion auch unter besonderen Umständen, so
insbesondere, wenn das Wohnen von Prostituierten bei Familien
mit Kindern oder in Häusern, in welchen sich Kinder befinden,
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Die Wohnang3miß8tände im Prostitutions- und im Schlafgängerwesen usw. 187
zu Beanstandungen in sittlicher Beziehung Anlaß gibt, ferner auf
Antrag der betreffenden Hausbesitzer, eventuell auch der sonstigen
Mieter oder der Nachbarschaft ausgiebiger Gebrauch gemacht
Nach § 7 Ziffer 9 der erwähnten Vorschriften endlich ist den Prosti¬
tuierten untersagt, Dienstboten oder Zugeherinnen unter 21 Jahren
zu halten oder sich nur vorübergehend von schulpflichtigen Kindern
bedienen zu lassen“.
Der Polizeipräsident von Hannover charakterisiert die Woh¬
nungsverhältnisse der dortigen Prostituierten folgendermaßen:
„Was die Wohnungsverhältnisse der Prostituierten anbelangt,
so ist ihnen verboten das Wohnen:
1. in einer größeren Anzahl von besonder verkehrsreicher Straßen
und Plätzen,
2. in der Nähe cL h. in einer Entfernung von weniger als 100 m
von Kirchen, Krankenhäusern, höherer Lehranstanlten, Schulen
und Kasernen,
3. in Häusern, in welchen Gast- oder Schankwirtschaft be¬
trieben wird,
4. in Häusern, in denen bereits drei unter sittenpolizeilicher Auf¬
sicht stehende Frauenspersonen wohnen, oder in denen Zu¬
hälter wohnen, verkehren oder sich vorübergehend aufhalten,
5. in allen denjenigen Häusern und bei solchen Personen, welche
durch das Sittenpolizeikommissariat aus im Einzelfalle hervor¬
tretenden Gründen den Prostituierten namhaft gemacht werden,
6. in allen Häusern im Erdgeschoß straßenwärts.
„Ferner ist den Prostituierten allgemein das Zusammenwohnen
mit Männern verboten.
„Um den in das Polizeigefängnis eingelieferten gefallenen Frauens¬
personen die Hand zu bieten, in ein geordnetes Leben zurtickzu-
kehren, wird voraussichtlich eine neue Einrichtung in Kraft treten,
wonach während der Einlieferungszeiten ständig ein Mitglied der
Ortsgruppe des deutsch-evangelischen Frauenbundes im Gefängnis
anwesend sein wird. Dieselbe soll die Aufgabe haben, nicht nur
bei der Einlieferung, sondern auch bei späteren Besuchen in obigem
Sinne einzuwirken. Eine ähnliche Einrichtung hat sich in Stutt¬
gart bewährt Dort hat allerdings die betreffende Dame Beamten¬
eigenschaft und ist als Polizeiassistentin angestellt“
Aus Kassel hat der Königliche Polizeidirektor der „Deutschen
Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten“ eine sehr
eingehende Schilderung über die Wohnungsverhältnisse der dortigen
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188
Kampffmeyer.
Prostituierten zugestellt: „Die Prostituierten,“ so schreibt er, „wohn¬
ten bis Ende des vorigen Jahrhunderts in einem engen, abgelegenen
alten Stadtteil, Haus an Haus, auf nur wenige Straßen verteilt. Die
versteckte Lage dieses Stadtteiles, die alte und unvollkommene
Bauart und Beleuchtung seiner Häuser und Straßen, die dadurch
bedingte Unvollkommenheit der Beaufsichtigung begünstigten neben
der Anhäufung so vieler Prostituierten auf kleinem Raum das ge¬
fährliche Treiben der Zuhälter derart, daß sich nicht nur Lärm-
und Prügelszenen, sondern auch Messerstechereien und schwere
Schlägereien in bedrohlicher Weise häuften, und kein Passant jenes
Stadtteiles bei Nacht seines Lebens sicher war. Die Polizeibehörde
sah sich daher veranlaßt, daß Wohnen der Prostituierten in jenem
Stadtteil zu verbieten. Zurzeit wohnen die seßhaften Prostituierten
im ganzen Stadtgebiet. Die Zahl derselben, welche in den ver¬
kehrsreichen und neueren Stadtteilen sich niedergelassen haben, ist
aber sehr gering, da sie daselbst nur höchst selten Wohnungs¬
gelegenheit finden. Die Mehrzahl verteilt sich auf die Altstadt.
Behördlicherseits wird ein zahlreiches Wohnungsnehmen in einer
Straße verhindert. Eine nicht unbedeutende Zahl der Prostituierten
besitzen eigene Häuser. Es sind dies kleine, alte Bauwerke, welche
neben der Wohnung für die Prostituierte gewöhnlich nur noch Raum
für eine höchstens zwei Familien bieten, jedoch meist derart, daß
ein Zusammenwohnen mit der Prostituierten auf demselben Flur
ausgeschlossen ist. Es hat sich bisher eine allgemeine Vorschrift,
daß Prostituierte in Häusern, in welchen Kinder wohnen, ihren
Aufenthalt nehmen dürfen, nicht durchführen lassen, da bei der
beschränkten Wohnungszahl eine derartige Maßregel eine unnötige
Härte sowohl für arme Familien, als auch für die Prostituierten
zur Folge gehabt hätten. Dagegen wird auf das strengste darauf
geachtet und unnachsichtlich mit Strafen vorgegangen, wenn die
Prostituierten im Hause und auf der Straße sich eines unsittlichen,
auffälligen Benehmens, welches von dritten Personen wahrnehmbar
sein könnte, befleißigen.“
Über die Wohnungsverhältnisse der Prostituierten Dortmunds
gibt uns der handschriftliche Bericht des dortigen Magistrats fol¬
gende Auskunft: „Das Prostitutionswesen ist hier auf eine einzige
Straße, die Mozartstraße, welche fast an der Peripherie des Stadt¬
gebietes gelegen ist, beschränkt. Die Straße steht ständig unter
polizeilicher Aufsicht und wird ausschließlich von den betreffenden
Hausbesitzerinnen bezw. Verwalterinnen (männliche Personen werden
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Die Wobnungsmißstände im Prostitutions- und im Schlafgäogerwesen usw. 189
als Hausbesitzer usw. nicht zugelassen) und Dirnen bewohnt. Sämt¬
liche Dirnen, deren Zahl sich durchschnittlich zwischen 70 und
80 bewegt, sind gehalten, in dieser Straße Wohnung zu nehmen,
sofern sie sich zu längerem oder dauerndem Aufenthalte hier nieder¬
lassen.“
Über die Wohnungsverhältnisse der Prostituierten Elberfelds
geht uns folgender Bericht von der Polizeiverwaltung Elberfelds
zu: „Ein direktes Verbot für Prostituierte in Häusern zu wohnen,
in welchen sich Kinder befinden, besteht hier nicht, auch werden
dieselben nicht verpflichtet, in bestimmten Stadtvierteln zu wohnen.
Dahingegen wird jeder Fall der Wohnungsnahme einer Prostituierten
darauf geprüft und kontrolliert, ob er nach den konkreten Umständen
unbeanstandet bleiben kann.“
Über die Hausungsverhältnisse der Prostituierten der Stadt
Frankfurt a. M. entnehmen wir dem schriftlichen Bericht des
dortigen Magistrats folgende Tatsachen: „Wie uns das zuständige
Königliche Polizeipräsidium auf Ersuchen mitteilt, sind zur mög¬
lichsten Verhinderung einer Durchseuchung der Bevölkerung die
hier unter sittenpolizeiliche Kontrolle gestellten Prostituierten seit
Jahren einzeln untergebracht, also nicht kaserniert, und zwar 131
Personen in 59 Häusern von 22 verschiedenen Straßen. Weiteren
66, zur ärztlichen Untersuchung erscheinenden Prostituierten kann,
mangels geeigneter Wohnungen, kein festes Unterkommen gewährt
werden; sie sind daher nur vorübergehend in Wohnungen unter¬
zubringen, deren Inhaberinnen sich in Krankenpflege oder in Haft
befinden. In den Wohnungen der Prostituierten werden Kinder
nicht geduldet.“
Über die Wohnungsverhältnisse der Prostituierten der Stadt
Köln geht uns folgende Darstellung zu: „Eine Beschränkung der
Prostituierten auf bestimmte Straßen bezw. Stadtviertel findet nach
Mitteilung des Königlichen Polizeipräsidiums hier nicht statt. Die
Dirnen wohnen zwar vorwiegend in der Altstadt Köln, in geringer
Zahl aber auch in den verschiedenen Straßen der Neustadt und
in den Vororten. Dem Prostitutionsbetriebe in Häusern, in welchen
eine größere Anzahl von Kindern wohnt, wird tunlichst vorgebeugt.
Ein bezügliches allgemeines Verbot wäre aber nicht durchführbar,
weil, abgesehen vom Mangel einer auch nur annähernd genügenden
Anzahl von für Dirnen verfügbaren Wohnungen erfahrungsgemäß
gerade die mit zahlreichen Kindern gesegneten Arbeiterfamilien
mit Vorliebe in Dirnenquartiere oder deren unmittelbarer Nachbar-
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190
Kampflmeyer.
schaft sich einmieten, weil sie anderwärts mit ihren vielen Kindern
von den Hauseigentümern nicht ausgenommen werden und in den
durch die Anwesenheit bezw. die Nachbarschaft der Dirnen in
ihrem Mietwerte herabgedrückten Häusern verhältnismäßig billige
Wohnungen finden. 1 “
Über die Hausungsverhältnisse der Prostituierten Leipzigs
äußert sich der Rat der Stadt Leipzig folgendermaßen: „Das Wohnen
von mehreren Prostituierten in Häusern, in denen Kinder oder
jugendliche Personen wohnhaft sind, wird nicht gestattet. Aber
auch einzeln wohnende Prostituierte werden in Häusern, in denen
Kinder, namentlich in größerer Zahl, vorhanden sind, soweit tun¬
lich, nicht zugelassen und bereits in solchen Häusern wohnhafte
Prostituierte bei einem nachträglichen Einzuge von Kindern, wenn
dies ohne erhebliche Schwierigkeit möglich ist, herausgewiesen.
Keinesfalls aber duldet man das Wohnen einer Prostituierten bei
Wirtsleuten, die in ihrer Behausung selbst Kinder oder jugendliche
Personen haben.“
Der Bericht des Stuttgarter Stadtschultheißamtes teilt uns fol¬
gende Tatsachen über die WohnungsVerhältnisse der Prostituierten
Stuttgarts mit: „Tatsächlich bestehen zurzeit Wohnungen einge¬
schriebener (etwa 25) Dirnen nur in fünf engen Gassen der Alt¬
stadt, in einer 16 in acht Gebäuden, in einer zweiten 3 in zwei
Gebäuden und je 1—2 in drei weiteren. Kinder sind in allen
diesen Gebäuden zurzeit nur noch vier untergebracht. Neben dem
reglementierten Dirnenwesen besteht aber ein viel ausgedehnteres
Haus- und Straßendirnen wesen, welches nur gelegentlich erfaßt wird
und wohl weit größeres Unheil anrichtet als das reglementierte,
weil seine Überwachung und Bekämpfung ganz außerordentlich
erschwert ist.“
Von den in Magdeburg anwesenden durchschnittlich 200 unter
sittenpolizeilicher Kontrolle stehenden Frauenspersonen wohnen nur
etwa ein Viertel in Privathäusern, während etwa drei Viertel ihre
Wohnung in besonderen Häusern haben. „Es kommt selten vor,
daß die ersteren ihr Gewerbe in ihren Wohnungen ausüben und
mit Strenge wird darauf gehalten, daß sie in diesen kein Ärgernis
geben, andernfalls wird, auf Grund der erwähnten Vorschriften, den
Frauenspersonen das Wohnen und der Aufenthalt in dem betreffen¬
den Hause untersagt Allgemein können die hier bestehenden
Verhältnisse, sowohl im Schlafstellen wesen, als auch hinsichtlich
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Die Wohnnogsmißstände im Prostitutions- und im Schlafgänger wesen ubw. 191
der Prostitution als für die öffentliche Sittlichkeit und die Gesund¬
heit besonders gefahrdrohend nicht bezeichnet werden. Es ist bis¬
her immer möglich gewesen, den einer Großstadt in dieser Hinsicht
anhaftenden Übelständen mit den bestehenden Einrichtungen wirk¬
sam entgegenzutreten. Zu den letzteren gehört die wöchentlich
zweimalige und die fortdauernde mikroskopische Untersuchung der
Prostituierten, sowie die scharfe Beobachtung derjenigen Personen,
die durch ihr Verhalten den Verdacht der Gewerbsunzucht erregen.
Abends und nachts herumstreifende Prostituierte werden grund¬
sätzlich im Interesse der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sitt¬
lichkeit in Gewahrsam genommen und nicht entlassen, wenn ihr
Gesundheitszustand zu Bedenken Veranlassung gibt. Gegen Minder¬
jährige bieten die Bestimmungen des Fürsorgeerziehungsgesetzes
die nötige Handhabe."
Der Dresdner Rat äußert sich über die Wohnungsverhält¬
nisse der Prostituierten dieser Stadt folgendermaßen: „Die Woh¬
nungsfrage der Prostituierten gehört hier zur Zuständigkeit der
Kgl. Polizeidirektion als Sittenpolizeibehörde. Im Verfolge von
Anträgen der Stadtverordneten, die vor mehreren Jahren in bezug
auf das Prostitutionswesen, insbesondere über die Frage, ob den
Prostituierten das Wohnen nur in bestimmten Straßen und Häusern
nach Art der Bordelle gestattet werden solle oder nicht, sind von
uns zunächst mit der Kgl. Polizeidirektion hier Verhandlungen
gepflogen worden, und da dieselben keinen befriedigenden Erfolg
hatten, sind wir nach Einholung eines Gutachtens des ärztlichen
Bezirksvereins bei dem Kgl. Ministerium des Innern selbst vor¬
stellig geworden. Die hauptsächliche Entschließung des genannten
Ministeriums steht zurzeit noch aus."
„Nach den jetzt hier bestehenden Einrichtungen der Kgl
Polizeidirektion Dresden ist, soweit die öffentliche Prostitution in
Frage kommt, das Wohnen Prostituierter in der Weise geregelt,
daß ihnen das Wohnen in Hotels und Gasthäusern, in Häusern,
in denen öffentlicher Schankbetrieb ausgeübt wird, in der Nähe
von Kirchen und Schulen oder anderen öffentlichen Erziehungsan¬
stalten, Kasernen, sowie in oder bei einem Haushalte, zu welchem
jugendliche Personen bis zu 16 Jahren gehören, überhaupt ver¬
boten ist. Jede Prostituierte muß wenigstens ein Zimmer für sich
allein mit Bett ermieten, und wenn mehrere dergleichen Frauens¬
personen in ein und demselben Hause wohnen, so dürfen dort zwei
oder mehrere derselben in einem Zimmer nicht zusammen kommen,
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192
Kampffmeyer.
wenn sie sich nicht strafbar machen wollen. Diese Vorschriften
werden streng durcbgefiihrt.“
„Von einer Durchseuchung der Bevölkerung mit Prostituierten
kann nach Aussprache der KgL Polizeidirektion demnach hier nicht
die Rede sein. Es sind hier rund nur 300 Prostituierte vorhanden,
die in verhältnismäßig wenigen Straßen und in Häusern bis zu vier
Prostituierten wohnen. Bei einer Einwohnerzahl von ca. 500000
und der Ausdehnung der Stadt kann das Übel als groß gewiß
nicht bezeichnet werden“
„Die heimliche Prostitution scheint dagegen in fraglicher Rich¬
tung weit verderblicher zu wirken, ohne daß die Sicherheits- und
Sittenpolizei dagegen als solche viel tun kann. Diese Personen
werden im gegebenen Falle nach §361b des Reichsstrafgesetz¬
buches abgestraft, während denselben Vorschriften über ihr Wohnen
nicht gemacht werden können. Nur gegen das Zusammenwohnen
von Personen beiderlei Geschlechts ist ein Einschreiten aus allge¬
meinen sittenpolizeilichen Gründen mehrfach möglich gewesen, was
aber im allgemeinen auf Beseitigung der mehrfach gedachten
Schäden wenig Einfluß hat.“
Die Polizei Verwaltung (der Oberbürgermeister) Essens läßt
sich über die WohnungsVerhältnisse so aus: „Die gegen die Durch¬
seuchung der Bevölkerung mit Prostituierten getroffenen Maßnahmen
bestehen in erster Linie in dem Verbot an die Prostituierten in
anderen als ausdrücklich von der Polizeibehörde gestatteten Straßen
und Häusern Wohnung zu nehmen, wie dies aus dem anliegenden
Druckexemplar der hier geltenden sittenpolizeilichen Vorschriften
des näheren hervorgeht.
Sodann ist es allmählich gelungen, die Wohnungen der Pro¬
stituierten in einer Straße zu konzentrieren, aus welcher sich
die nicht zur Prostitution gehörigen Familien fast sämtlich ver¬
zogen haben, so daß insbesondere solche Familien mit Kindern
kaum mehr in jener Straße wohnhaft sind. In den Häusern, in
welchen die Prostituierten selbst wohnen, werden Kinder überhaupt
nicht geduldet, bezw. wird den Prostituierten das Wohnen in solchen
Häusern nicht gestattet
Der Stadtmagistrat Nürnbergs stellt in einem an die „Deutsche
Gesellschaft z. B. d. G.“ sehr eingehend die Lebens- und Wohnungs¬
verhältnisse der Nürnberger Prostituierten dar:
Es werden zwei Gruppen von Prostituierten unterschieden. Die
eine umfaßt diejenigen Frauenspersonen, welche sich freiwillig unter-
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Die Wohnungsmißstände im Prostitutions- und im Schlafgängerwesen usw. 193
stellen, die andere, die Interesse der öffentlichen Sicherheit und
Ordnung der Kontrolle zwangweise unterstellt werden. „Die Pro¬
stituierten der zweiten Gruppe sind durchweg hier beheimatete
Frauenspersonen. Frauenspersonen, welche, in Nürnberg nicht be¬
heimatet, Gewerbeunzucht treiben, ohne sich freiwillig der polizei¬
lichen Überwachung zu unterstellen, werden, wenn die gesetz¬
lichen Voraussetzungen gegeben sind, aus der Stadt und der
Umgebung ausgewiesen. Von den Prostituierten der ersten Gruppe
wohnen stets mehrere in einem lediglich der Prostitution dienenden
Hausbordelle zusammen. Diesseits wird streng daran gehalten, daß
Bordelle nicht in den belebten, verkehrsreichen Straßen der
Stadt errichtet werden. Infolgedessen sind die meisten Prostitu¬
tionshäuser hinter der Stadtmauer gelegen. Nur einige derartige
Häuser befinden sich innerhalb der alten Stadt, jedoch auch an
Stellen mit geringem Verkehr. Die allmähliche Räumung der letz¬
teren Häuser ist beabsichtigt.Die Wohnungen der soge¬
nannten Zwangsprostituierten sind über den ganzen Stadtbezirk
zerstreut. Aus diesem Grunde, und weil die Zwangsprostituierten
häufig die Wohnung wechseln, ohne hiervon immer rechtzeitig
Anzeige zu erstatten, ist die polizeiliche Überwachung derselben
erschwert. Verboten ist denselben das Wohnen in der Nähe von
Kirchen, Schulen und in den angrenzenden Gemeinden des Stadt¬
bezirks. Die Prostituierten dieser Gruppe geben auch insofern
nicht selten Anlaß zu Beanstandungen, als sie vielfach nächtlich
herumstreunen. . . .“
„Das Ergebnis der amtsärztlichen Untersuchungen sämtlicher
Prostituierten erhellt aus nachstehender Tabelle:
a) In Bordellen wohnende Prostituierte:
Zahl Für geschlechtskrank
der Untersuchungen wurden befunden
4353 76 = 1,74%
4780 96 = 1,80 % .
6204 94 = 1,33 %
b) Zwangsprostituierte:
Zahl Für geschlechtskrank
der Untersuchungen wurden befunden
1007 21 = 2,08 %
864 16 = 1,6%
697 16 = 2,3%
„Die Zahl der geschlechtlich erkrankten Prostituierten ist also
in den letzten Jahren immer eine niedere gewesen.
Jahr
1894
1895
1896
Jahr
1894
1895
1896
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194
Kampffmeyer.
„Gefährlicher für die öffentliche Gesundheit als die Prosti¬
tuierten sind diejenigen Frauenspersonen, welche im geheimen
gewerbsmäßige Unzucht treiben. Sie zu überführen ist meist sehr
schwer. Streunende Frauenspersonen, welche der gewerbsmäßigen
Unzucht verdächtig waren, wurden aufgegriffen und vorgeführt:
1894 421, 1895 683, 1896 671. Von diesen wurden bei der amts¬
ärztlichen Untersuchung als geschlechtskrank befunden: 1894 90
= 21,4%, 1895 132 = 19,3%, 1896 132 = 19,7 %.«
„Anlangend den Stand der Syphilis in Nürnberg, so dürfte es
von Interesse sein, zu erfahren, daß in der Zeit von 1861 bis 1864,
nachdem durch die bayerische Strafgesetzgebung des Jahres 1861
die Duldung öffentlicher Häuser, sowie ein polizeiliches Aufgreifen
verdächtiger Frauenspersonen und gesundheitspolizeiliche Ma߬
nahmen gegen dieselben unmöglich gemacht worden war, die Zahl
der Syphiliserkrankungen ganz bedeutend gestiegen ist. Es ver-
anlaßte dies die bayerische Abgeordnetenkammer zu einem Ini¬
tiativantrag an die Krone. Im Verlaufe der bezüglichen Verhand¬
lungen teilte der Kgl. Staatsminister des Innern in der Sitzung vom
19. Juni 1865 aus amtlichen Quellen geschöpfte Ziffern über die
Zunahme der Syphilis in einzelnen Städten des Königreichs wäh¬
rend der Zeit von 1861 —1864 mit, welche eine Zunahme von
100 und mehr Prozent ergaben. Nach dieser Statistik wurden im
Krankenhaus zu Nürnberg an Syphilis behandelt: im Jahre 1861
277, im Jahre 1864 466 Personen. Die Bevölkerung betrug da¬
mals rund 65000. Im Jahre 1895 wurden bei einer Bevölkerungs¬
zahl von rund 162000 im städtischen Krankenhause dahier an
Syphilis und venerischen Krankheiten behandelt: 311 Männer und
432 Frauenspersonen. Belästigungen des weiblichen Publikums
auf den öffentlichen Straßen zählen hier zu den Seltenheiten.“
Aus Straßburg i. E. berichtet der dortige Polizeipräsident:
„Was das Verbot des Prostitutionsbetriebes in Wohnungen bezw.
Häusern, in welchen Kinder wohnen, anlangt, so ist dasselbe dies¬
seits schon seit einer Reihe von Jahren streng durchgeführt worden.
Es wird hier an Familien mit unerwachsenen Kindern keine polizei¬
liche Erlaubnis zum Vermieten an Prostituierte erteilt, und in
Häusern, in denen Prostituierte wohnen, dürfen die Eigentümer
oder Hauptmieter keine Familien mit unerwachsenen Kindern als
Mieter aufnehmen. Ebenso ist hierselbst die polizeiliche Erlaubnis
des Prostitutionsbetriebes von jeher nur auf bestimmte Straßen
beschränkt Die Prostituierten dürfen hierselbst nur abseits von
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Die Wohnungsmißsfclnde im Prostitutions* und im Schlafgangerwesen usw. 195
Schulen, Verwaltungsgebäuden, Kasernen und Kirchen und nur in
Straßen mit geringem Verkehr wohnen. Mit ganz geringen Aus¬
nahmen wohnen dieselben hier nur zehn oder zwölf und von dem
Vermieter unabhängig in einem Hause zusammen, dürfen nach
9 Uhr abends bis Tagesanbruch auf der Straße sich nicht zeigen
und müssen sich wöchentlich einer zweimaligen ärztlichen Unter¬
suchung unterziehen. Außerhalb ihrer Wohnung dürfen dieselben
ihr Gewerbe nicht ausüben. Bei Zu- und Abzug nach und von
hier müssen dieselben stets ein ärztliches Attest über ihren Ge¬
sundheitszustand beibringen. Bei geschlechtlichen Erkrankungen
werden dieselben zur Behandlung in die hiesige Klinik für Haut-
und Geschlechtskrankheiten aufgenommen und bis zu ihrer völligen
Gesundung behandelt Diese Einrichtungen haben sich hierselbst
im allgemeinen gut bewährt und sind geschlechtliche Erkrankungen
unter den Prostituierten hier verhältnismäßig sehr selten.“
In Kiel dürfen nach dem Bericht des Kieler Polizeipräsidenten
„die der sittenpolizeilichen Kontrolle unterstehenden Frauensper¬
sonen in Kiel nur in zwei Straßen der Stadt wohnen. In den
Häusern dieser Straßen wohnen nur Prostituierte, so daß eine Be¬
rührung mit Kindern ziemlich ausgeschlossen ist Den Besitzern
dieser von Dirnen bewohnten Häuser ist es ferner unter An¬
drohung einer Exekutivstrafe verboten, Personen beiderlei Ge¬
schlechts unter 18 Jahren das Betreten der Häuser zu gestatten.“
In Barmen sind im allgemeinen die für die Prostituierten
üblichen polizeilichen Vorschriften eingeführt.
In Charlottenburg dürfen die Prostituierten in den Straßen
nicht wohnen, deren Betreten ihnen untersagt ist
In Danzig ist der Prostituierten das Wohnen in acht Gassen
verboten. Sie darf ferner kein nach der Straße zu belegenes Zimmer
oder keine Schlafstelle bewohnen.
In Halle a. S. darf die Prostituierte nur in ganz bestimmten
Häusern wohnen (in den Häusern 2, 10 und 12 der Gerbergasse
oder auf dem Schlamm.)
In Aachen dürfen die Dirnen nicht in der Nähe von Kirchen,
Kasernen, Lehranstalten usw. wohnen, ferner nicht in den Straßen,
die durch Anschlag im Vorraum des Untersuchungszimmers be¬
kannt gegeben werden, und in Vorderhäusern nach der Straße zu.
In Lübeck ist das Wohnen der Prostituierten auf die Häuser
einer einzigen Straße beschränkt
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196
Kampffmeyer.
Die Polizeidirektion Mannheims spricht sich über die Prosti¬
tutionsverhältnisse Mannheims folgendermaßen aus:
„Wir bemerken, daß von den hier zurzeit unter sittenpolizei¬
licher Kontrolle stehenden 40 Dirnen 21 in einer Straße kaserniert
sind, in welcher außer den Dirnenhaltern keine weiteren Personen
und insbesondere keine Kinder wohnen. Aber auch außerhalb der
erwähnten Straße werden Dirnenwohnuogen nur in solchen Häusern
zugelassen, in denen keine Familien mit Kindern wohnhaft sind."
In Königsberg ist den Prostituierten das Wohnen in be¬
stimmten Straßen verboten. Weitere Maßregeln sind nach Aus¬
kunft des KgL Polizeipräsidiums nicht getroffen.
In Crefeld dürfen die sich dort niederlassenden Prostituierten
nur „in bestimmten Straßen Wohnung nehmen und werden unter
strenger Aufsicht gehalten".
In Bremen müssen Prostituierte, welche sich polizeilicher
Aufsicht unterstellen wollen, in einer ausschließlich von Prosti¬
tuierten bewohnten Kontrollstraße Wohnung nehmen. Für die
übrigen Weibspersonen, welche gewerbsmäßig Unzucht treiben, be¬
stehen keine reglementierenden Vorschriften.
In Breslau ist den Kontrolldirnen untersagt worden, gemein¬
sam mit anderen Personen, namentlich mit Kindern, Wohnung zu
nehmen oder zu behalten. Auf bestimmte Straßen oder Stadtviertel
ist der Prostitutionsbetrieb nicht beschränkt, ebensowenig auf
Häuser, in welchen keine Kinder wohnen.
In Posen gelten die allgemein üblichen Vorschriften über das
Wohnen der Prostituierten. Die Prostituierten sind nicht in einer
Straße kaserniert.
In Chemnitz ist neben einigen polizeilichen Bestimmungen
über das Wohnen der Prostituierten noch eine Polizei Verordnung
über die weibliche Bedienung in Gast- und Schankwirtschaften in
Kraft, die auf die Einrichtungen der Wohnräume der Schank¬
wirtschaften und auf das Wohnen der Kellnerinnen Bezug hat
Der § 1 dieser Verordnung vom 26. Juni 1893 schreibt vor, daß
in den Schankräumen der Gast- und Schankwirtschaften, in welchen
Kellnerinnen zur Bedienung gehalten werden, alle Einrichtungen
verboten sind, durch welche Räume oder Plätze verhüllt oder in
irgend einer Weise dem freien Ein- und Überblick entzogen werden.
Der § 5 dieser Verordnung bestimmt: Die zum Bedienen der Gäste
zugelassenen Kellnerinnen müssen stets im Hause des Gast- oder
Schankwirtes wohnen. Auf ledige Kellnerinnen, welche nur aus-
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Die Wohnungsmißstände im Prostitutions- und im Schlafgänger wesen usw. 197
hilfsweise in einer Wirtschaft bedienen, sowie auf verheiratete
Kellnerinnen erstreckt sich diese Vorschrift nicht Zur Eindämmung
der Geschlechtskrankheiten hat der Rat der Stadt Chemnitz (Wohl¬
fahrtspolizeiamt) eine besondere, sehr erwähnenswerte Maßnahme
getroffen: „Alle Geschlechtskranke, von deren Leiden wir Kenntnis
erlangen — was vor allem nach Musterung der Gestellungspflichtigen
durch Mitteilung der Militärbehörde geschieht —, halten wir an,
sich in ärztliche oder womöglich Krankenhausbehandlung zu be¬
geben und dem Geschlechtsverkehr während der Erkrankung zu
entsagen; die ärztliche Behandlung ist uns in gewissen Zeiträumen
nachzuweisen. — Bisher haben sich die betroffenen Personen unseren
Anordnungen fast immer gefügt; Zwangsmittel zu deren Durchführung
dürften uns allerdings voraussichtlich nur Weibspersonen, welche
gewerbsmäßig Unzucht treiben, gegenüber zustehen/ 4
In Altona sind allen unter polizeilicher Kontrolle stehenden
Prostituierten bestimmte Straßen zum Wohnen angewiesen.
Über das Prostitutionswesen der Provinzialhauptstadt Mainz
läßt sich die Bürgermeisterei folgendermaßen vernehmen: „Die
Prostitution ist kaserniert, die Dirnen sind, mit wenig Ausnahmen,
in Bordellen untergebracht, die alle in einer von dem Verkehr
abgelegenen Straße sich befinden; der Betrieb untersteht fortgesetzt
einer scharfen Kontrolle, und es haben sich Unzuträglichkeiten,
die eine Beseitigung der Bordelle angezeigt erscheinen lassen, bis
jetzt nicht ergeben. Auch die Straßenprostitution wird in der
schärfsten Weise kontrolliert Mainz mit rund 90 000 Einwohnern,
darunter 8000 Militärpersonen, hat durchschnittlich nur 10 der Sitten¬
kontrolle unterstehende Mädchen. Dieselben wohnen in Privat¬
häusern, gehen aber auf der Straße ihrem Gewerbe nach, in ihren
Wohnungen üben sie die Unzucht nur vereinzelt aus. Es erübrigt
noch anzufügen, daß sich in den letzten Jahren die Praxis heraus¬
gebildet hat, das Wohnen von Dirnen in Häusern, in denen sich
viele Kinder befinden, nicht zu dulden.“
Nach der „Denkschrift über die in Deutschland bestehenden
Verhältnisse in bezug auf das Bordellwesen" gab es in Braun-
schweig keine Bordelle, wohl aber Bordellstraßen. Nach dem
Berichterstatter Dr. von Wilm waren zirka 140 Dirnen der sitten¬
polizeilichen Kontolle unterstellt
Über die Düsseldorfer Wohnungsverhältnisse der Prosti¬
tuierten berichtete in der obengenannten „Denkschrift" Herr Kreisarzt
Dr. Schrakamp. In Düsseldorf existierten keine Bordelle. Ungefähr
Zeltachr. f. Bekämpfung d. Qeeehleohtskrankh. III. 15
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198
Kampffmeyer.
130 kontrollierte Prostituierte lagen ihrem Gewerbe ob. Düsseldorf
wies eine Bordellstraße auf. „Prostituierte lebten aber“, so lesen
wir in der „Denkschrift“, „auch in anderen, mit Ausschluß be-
zeichneter Straßen.“
Sie Wohnungsverhältnisse der Prostituierten in den Städten über
50000—100000 Einwohner.
Der Herr Kriminalkommissar Schreiber in Bromberg teilt
dem Sekretariat der „Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der
Geschlechtskrankheiten“ über die Wohnungsverhältnisse der Brom¬
berger Prostituierten folgendes mit: „Was die Wohnungen und
Unterkünfte der hier ansässigen Prostituierten betrifft, so ist dies¬
seits ebenfalls schon immer darauf hingewiesen worden, daß jede
Straßendirne tunlichst ihr besonderes Zimmer mit besonderem Ein¬
gang und eigenem Bett besitzt, und daß sie durch die Ausübung
der Prostitution nicht demoralisierend auf die etwaigen Anwohner
und Kinder einwirkt
„Nur hinsichtlich des besonderen Abortes für jede Wohnung
einer Prostituierten ist solches in einem Falle zutreffend. In allen
übrigen Fällen werden die Aborte von den Wohnungsvermietern
bezw. deren Angehörigen mitbenutzt. Nach dieser Richtung hin
dürfte die „Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechts-
kranksheiten“ aber auch entschieden zu weit gehen, denn bekannt¬
lich nehmen die wenigsten Hausbesitzer Prostituierte gern in ihren
Häusern auf und kann wohl gesagt werden, daß es hierrechtschwerhält,
die verhältnismäßig für den hiesigen Ort wenigen Prostituierten so
unterzubringen, wie sie zurzeit untergebracht sind. Würde beispiels¬
weise einem Hausbesitzer aufgegeben werden, für jede in seinem
Hause wohnhafte Prostituierte einen besonderen Abort herzurichten,
dann würde derselbe die Prostituierte selbstverständlich der Un¬
kosten wegen hinauswerfen, und sie könnte dann Tage und Wochen
suchen und sich, der Unzucht nachgehend, auf der Straße umher¬
treiben, bis sie wieder irgendwo ein Unterkommen gefunden, wie
solches ohnehin schon oft genug der Fall ist. Er wird indes
nach wie vor jede Wohnung, die von einer Prostituierten bezogen
werden soll, diesseits gründlich besichtigt und so dann Entscheidung
getroffen werden, ob die Genannte dort zuziehen kann oder nicht»
um so dem selbstverständlich anerkennenswerten Vorhaben der „Deut¬
schen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten“ nach
Möglichkeit Rechnung zu tragen. Es sei noch bemerkt, daß die
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Die Wohnungsmißstände im Prostitutions- und im Schl&fgängerwesen usw. 199
unter polizeilicher Sittenkontrolle stehenden Prostituierten zur Durch¬
seuchung der Bevölkerung kaum soviel mit beitragen dürften, als
diejenigen weiblichen Personen, welche im geheimen der Prosti¬
tution nachgehen und daher unkontrolliert bleiben. Dieses sind
jüngere Personen, als Verkäuferinnen, Geschäftsmädchen und Fabrik¬
arbeiterinnen. Die meisten dieser Personen gehen im Falle einer
Geschlechtskrankheit entweder gamicht, immer aber erst dann zu
einem Arzte, wenn es zu spät ist So wurde hier z. B. vor einigen
Tagen eine der Unzucht verdächtige 18 Jahre alte Verkäuferin von
dem Sittenarzte Dr. H. ärztlich untersucht und hochgradig syphi¬
litisch krank befunden. Sie erklärte vorher bestimmt, daß sie ge¬
sund sei und gab nachdem erst zu, bereits seit drei Monaten krank
zu sein und auch bereits in Behandlung eines Privatarztes gestanden
zu haben. Wenn die „Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung der Ge¬
schlechtskrankheiten“ mehr auf diesem Gebiet ihren Wirkungskreis
ausdehnen würde, wäre solches nur mit Freuden zu begrüßen.“
In Augsburg wird nach den sitten- und sanitätspolizeilichen
Vorschriften den Prostituierten nicht gestattet, Wohnungen oder
Zimmer zu nehmen, in denen Familien mit Kindern sich be¬
finden; auch werden die Prostituierten zu einem Wechsel der Woh¬
nung veranlaßt, wenn durch begründete Klagen festgestellt ist, daß
die Kinder der in der Nachbarschaft wohnenden Familien auf den
Prostitutionsbetrieb aufmerksam geworden sind.
In Brandenburg a. H. ist das Wohnen in bestimmten Straßen
den Prostituierten nicht gestattet.
Aus Freiburg im Br. sendet uns der Stadtrat folgende Dar¬
stellung über die dortigen Prostitutionsverhältnisse zu: „Was die
Maßnahmen gegen die Durchseuchung der Bevölkerung mit Prosti¬
tuierten anlangt, so bemerken wir, daß in der letzten Zeit dahier
mit Zustimmung der Grh. Staatsbehörde in einem an der äußersten
Peripherie der Stadt gelegenen Hause ein öffentliches Bordell
von einem hierfür geeigneten polizeilich einwandsfreien Unternehmer
errichtet worden ist In dem gleichen Hause findet nunmehr auch
die dahier schon längst bestehende periodische ärztliche Untersuchung
aller polizeilich eingeschriebenen öffentlichen Dirnen statt Die Ein¬
richtungskosten des betreffenden Lokales und die Kosten der War¬
tung des letzteren (monatlich 35 Mk.) werden von der Stadtkasse
bestritten. Ebenso trägt die Stadtkasse seit 1891 die Spitalver¬
pflegungskosten der öffentlichen Dirnen, die im Jahre 1900 2229 Mk.,
1901 5171 Mk. und 1902 3178 Mk. betrugen.“
15*
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200
Kampfftneyer.
In Duisburg werden öffentliche Häuser nicht geduldet. Nach
einer schriftlichen Mitteilung des Oberbürgermeisters von Duisburg
„ist die Zahl der hier wohnenden Prostituierten nur eine geringe,
so daß eine Notwendigkeit zur Anweisung besonderer Häuser bezw.
Straßen für die Dirnen bisher nicht hervorgetreten ist.“
In Elbing spielt die Prostitution nur eine verhältnismäßig
nebensächliche Rolle. „Geschlechtskrankheiten," so berichtet die
dortige Polizeiverwaltung, „kommen hier nur ganz vereinzelt vor,
da die verhältnismäßig geringe Zahl der Prostituierten nach den
beigefligten Vorschriften streng kontrolliert wird."
Die Regelung der W ohnungsverhältnisse der Prostituierten Karls¬
ruhes hat Herr Oberbürgermeister Schnetzler-Karlsruhe in einer
besonderen Denkschrift über die „Maßregeln gegen die Prostitution
in Karlsruhe" eingehend behandelt Die Veranlassung zur Abfassung
dieser Denkschrift bot die allgemeine deutsche Ausstellung auf dem
Gebiete der Hygiene und des Rettungswesens zu Berlin im Jahre 1882.
Diese Denkschrift hat in dankenswerter Weise Herr Dr. Sch. . . .
nach dem Stande des Prostitutionswesens im Jahre 1903 ergänzt.
Nach der Denkschrift des Herrn Oberbürgermeisters Schnetzler
bestanden bis Anfang der 50 er Jahre des verflossenen Jahrhunderts
in Karlsruhe vier Bordelle, deren jedes 4—6 Dirnen zählte, „und in
welchen auch Ehefrauen, sowie leichtsinnige Töchter hiesiger Fami¬
lien ab und zu als Gäste sich einfanden". Im Jahre 1853 wurden
die öffentlichen Häuser in Karlsruhe aufgehoben. Die Dirnen wurden
regelmäßigen ärztlichen Untersuchungen nicht unterworfen. Die
Folge des neuen Zustandes „war eine beträchtliche Verbreitung
der Prostitution, sowie auch eine Vermehrung der syphilitischen
Erkrankungen." Im Laufe der Zeit steigerten sich nun die Be¬
lästigungen der Einwohnerschaft durch die Prostituierten in einer
unerträglichen Weise, so daß im Jahre 1874 die ortspolizeilicho
Vorschrift einer Revision unterzogen und durch die Bestimmung
erweitert wurde, daß die öffentlichen Dirnen nur mit Zustimmung
der Polizeibehörde ihre Wohnungen wählen dürfen. Es war dabei
von vornherein beabsichtigt, die Dirnen auf einige wenige Straßen
des örtlichen Stadtteiles, wo sie schon bisher vorzugsweise ihre
Wohnungen hatten, zu beschränken, also das System einer gewissen
Konzentrierung durchzuführen. Die Folge war eine wesentliche
Verbesserung der früher über die ganze Stadt verbreiteten, vielfach
beklagter Mißstände. Diese Konzentrierung führte zu sehr beweg¬
lichen Beschwerden der ehrenwerten Elemente, die in der Nach-
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Die Wohnungsmißstftnde im Prostitutione- und im Schlafgängerwesen usw. 201
barschaft der Prostituierten zu wohnen verurteilt wurden. Der
Vertreter des Großherzoglichen Bezirksamts neigte einer Beseitigung
der Konzentrierung der Prostitution wegen der damit verbundenen
Skandale zu. Die Gemeindebehörde jedoch trat in einem ausführ¬
lichen Bericht dieser Ansicht entgegen. Der Bericht hebt hervor,
daß die Untersuchung der Dirnen erheblich schwieriger sein würden,
„wenn diese über die ganze Stadt zerstreut wären. Gegenwärtig weiß
jede zu jeder Zeit, daß der Schutzmann in nächster Nähe ist, und
es können skandalöse Auftritte, wenn auch nicht verhindert, so doch
unverzüglich unterdrückt werden.“ „Wir sind überzeugt — und
die von uns gehörten Vertreter der städtischen Schulen stimmen
uns einhellig hierin bei — daß eine Zerstreuung der Prostitution
über alle Teile der Stadt, gar in unserer Zeit häufiger Frühreife
des heran wachsenden Geschlechts, für die männliche Jugend eine
ernste Gefahr sein würde, während der gegenwärtige Zustand eine
solche nicht in sich schließt Sodann darf nicht außer acht ge¬
lassen werden, daß die Dirnen gegenwärtig auf Häuser beschränkt
sind, in welchen außer ihnen selbst, ihren Kuppelwirten, Zuhältern
und sonstigem Gesindel, regelmäßig niemand wohnt Nach Auf¬
hebung der Beschränkung würden aber ohne Zweifel auch in man¬
chen größeren und bevölkerten Gebäuden der Stadt, besonders in
den Mieterkasernen der Bahnhofsstadtteile Dirnen ihre Unterkunft
finden. In ebendenselben Häusern wohnen des billigen Mietzinses
wegen jene zahlreichen Näherinnen, Büglerinnen, Putzmacherinnen und
andere isolierte, auf ihre Arbeit angewiesene, aber durch ihre mannig¬
fache Berührung mit der luxustreibenden Welt vielfach bedürfnis-
reiche, putz- und vergnügungssüchtige Frauenspersonen, welche be¬
kanntermaßen der Verführung häufig sehr zugänglich und der
Gefahr besonders ausgesetzt sind, der Prostitution anheimzufallen.
Auch kleine Handwerker und Arbeiter mit geringem Verdienst und
vielen Kindern, denen eine sorgsame Erziehung und Überwachung
nicht zuteil werden kann, wohnen hier auf engem Baum dicht
zusammengedrängt“ Der Bericht ist überzeugt, „daß durch eine
noch engere Beschränkung der jetzt gestatteten Wohnungswahl die
vorhandenen Mißstände in vielfacher Beziehung verringert würden.
Wir meinen, daß die Dirnen nicht bloß auf einzelne Stadtteile, sondern
auf einzelne, ganz wenige Häuser beschränkt sein sollen, wobei denn
freilich nicht zu verhindern wäre, daß mehrere derselben in dem
nämlichen Hause wohnen.“ „Der Aufsichtsrat des Realgymnasiums,
jener der höheren Bürgerschule und der Ortsschulrat, d. h. alle städ-
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202
Kampffmeyer.
tischen Schalkollegien haben sich einstimmig dahin ausgesprochen,
daß eine strengere lokale Begrenzung der Wohnstätten der Prosti¬
tuierten im Intesse der Sittlichkeit der heranwachsenden männlichen
und weiblichen Jugend dringend geboten sei; der Armenrat — es
sind in den gegenwärtig von den Prostituierten durchsetzten Stadt¬
teilen 37 Armenkinder untergebracht, deren anderweitige Unter¬
bringung unmöglich ist — hat sich gleichfalls eben dahin geäußert
Der Ortsgesundheitsrat endlich erklärte auch vom Standpunkte der
von ihm zu wahrenden Interessen die möglichste lokale Begren¬
zung der Prostitution für geboten.“ Im Jahre 1903 sind die Prosti¬
tuierten Karlsruhes auf eine Straße beschränkt.
Der erste Bürgermeister Hägens gibt folgende Darstellung
über die Prostitutionsverhältnisse dieser Stadt: „Die Zahl der Prosti¬
tuierten beträgt durchschnittlich 12; von ihnen waren in den letzten
drei Jahren nur 4 syphilitisch krank. Die bestehenden Vorschriften
in Beziehung auf die polizeiliche Untersuchung der Prostitution
werden hier scharf gehandhabt Im Rechnungsjahr 1902/03 betrug
die Zahl der unehelichen Geburten 85 bei 2617 Geburten über¬
haupt = 3,1 °/ 0 » u* 1 Jahre 1901/02 sogar nur 81 bei 2761 Geburten,
als unter 3°/ 0 “
Für Rixdorf hält der Herr Kreisarzt Dr. Dietrich im Interesse
der Eindämmung der Geschlechtskrankheiten eine schärfere Auf¬
sicht über die Prostituierten für dringend notwendig. Die Prosti¬
tuierten ziehen vielfach von Berlin nach Rixdorf und umgekehrt
und müssen erst bei der Ausübung ihres Prostitutionsgewerbes
wiederholt in flagranti ertappt werden, ehe sie unter sittenpolizei¬
liche Kontrolle gestellt werden können. „Abhilfe würde einfach
dadurch zu schaffen sein, daß jede unter sittenpolizeiliche Kon¬
trolle stehende Person beim Verzug von einem Ort in den anderen
ohne weiteres in ihrem neuen Wohnort wieder unter Kontrolle ge¬
stellt wird. Die Schaffung einer derartigen Bestimmung
halte ich für dringend erforderlich.“ (Diese Änderung ist ge¬
schehen.) „Was die Möglichkeit, durch Anordnung auf dem Gebiete
des Wohnungswesens die Verbreitung der Geschlechtskrankheiten
zu bekämpfen, anbetriflft, so stehe ich auf dem Standpunkte, daß
das einzig wirksame Mittel die Zulassung von Bordellen ist
Im übrigen sind gerade hier im Orte Mißstände in dieser Rich¬
tung nicht herangetreten, die ein Einschreiten erforderlich machen
könnten.“
Der Stadtmagistrat Fürth gibt folgende Darstellung von den
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Die Wohnungsmißstände im Prostitutions- und im Schl&fgängerwesen osw. 203
Prostitutionsverhältnissen Fürths: „Die dahier auf Antrag einge¬
schriebenen Prostituierten sind kaserniert, während den unter
sittenpolizeilicher Zwangskontrolle stehenden Frauenspersonen das
Beziehen von Wohnungen bezw. Häusern, in welchen Kinder wohnen,
untersagt ist Die Ausübung der Unzucht ist nach den dahier be¬
stehenden Vorschriften sämtlichen Prostituierten auf öffentlichen
Straßen, Plätzen usw. usw. verboten.“
Die Pölizeiverwaltung Remscheids äußert sich über die Pro¬
stitutionsverhältnisse dieser Stadt folgendermaßen:
„Eine Durchseuchung der Bevölkerung mit Prosti¬
tution ist hier nicht zu konstatieren. Die Prostitution ist
hier für eine Fabrikstadt sogar auffallend gering. Es findet
dies seinen Grund in der Nähe der rheinischen Großstädte, in der
ländlichen Bebauung und in der meist geübten Sitte, bei Folgen
außerehelichen Verkehrs die Beischläferin zu heiraten.'
In Halberstadt ist, so schreibt der Magistrat dieser Stadt,
„auf wenige Häuser in einer einzigen Straße eingeschränkt
Der Durchseuchung der Bevölkerung mit Prostituierten wird durch
eine eingehende Überwachung der betreffenden Frauenspersonen
streng entgegengetreten.“
In Frankfurt a. 0. werden weder Bordelle geduldet noch
ist die Prostitution in einigen wenigen Straßen kaserniert Die
Prostituierten dürfen weder Wohnung, Schlafstellen noch soge¬
nannte Absteigequartiere nehmen, ohne hierzu vorher die Erlaubnis
des betreffenden Polizeireviervorstehers eingeholt zu haben.
In Liegnitz. „Es dürfen die Prostituierten in Familien nicht
wohnen, sie müssen besondere Wohnungen haben“ (die Polizeiver¬
waltung).
In Gleiwitz sind nach dem Bericht der dortigen Polizeiver¬
waltung „besondere Maßnahmen gegen die Durchseuchung der Be¬
völkerung mit Prostituierten nicht getroffen worden. Wir beabsich¬
tigten aber, dieses Gebiet der Gesundheitspolizei demnächst einer
gründlichen Prüfung zu unterziehen und die erforderlichen Ma߬
regeln zu treffen.“
In Mühhausen i. E. sind speziell städtische Maßnahmen be¬
züglich der Prostituierten Wohnungen nicht getroffen.
In Würzburg können Personen der polizeilichen Aufsicht
unterstellt werden, die „wegen der sonstigen erwiesenen Tatsachen —
wie Mangel eines redlichen Erwerbes — der gewerbsmäßigen Un¬
zucht dringend verdächtig sind“. Wohnungen in der Nähe von
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204
K&mpfimeyer.
Kirchen usw., in Häusern, in denen Wirtschaften sich befinden,
und Parterrewohnungen dürfen von ihnen nicht bezogen werden.
In Würzburg sind sogenannte „Prostituiertenherbergen“ vor¬
handen. Nach den „Anordnungen über die Führung von Prosti¬
tuiertenherbergen“ vom 1. Oktober 1901 sind „die zum Vermieten
an Prostituierte bestimmten Häuser durch zwei Türen von der
Straße abzuschliesen...“ „Die Fenster sind mit Läden oder dicht
schließenden Jalousien zu versehen . . „Prostituierte dürfen
nicht in auffälliger Kleidung das Haus verlassen . ..“ „Wenn der
Herbergsvater nicht im Hause wohnt, muß eine ältere weibliche
Person als Wirtschafterin an gestellt werden...“ „Personen unter
16 Jahren dürfen sich im Hause nicht aufhalten. Nur Prosti¬
tuierte dürfen sich im Hause als Mieter aufhalten. Minderjährige
Dienstboten dürfen nicht im Hause gehalten werden.. .“ „Den Pro¬
stituierten dürfen vom Herbergshalter keine Bekleidungs-, Schmuck¬
oder sonstige Gegenstände geliefert werden..„Als Entschädigung
für Kost, Logis usw. ist zwischen dem Herbergsvater und der Pro¬
stituierten ein im voraus festbemesseüer Geldbetrag zu vereinbaren..“
„Die Prostituierten können jederzeit außer Kontrolle gestellt werden,
und es wird hierbei auf etwaige Forderungen des Herbergshalters
keine Rücksicht genommen.“ Aus diesen Bestimmungen ersieht
man, daß die „Prostituiertenherbergen“ den ausgesprochenen Cha¬
rakter von Bordellen haben, in denen aber einer ungemessenen
Ausbeutung der Prostituierten vorgebeugt ist.
In Schöneberg bei Berlin sind die Berliner polizeilichen Ma߬
nahmen in bezug auf die Prostituierten in kraft
In Königshütte O.-Schl. ist die Prostitution nicht kaserniert.
In Bielefeld wohnen nach einer Mitteilung der dortigen
Polizeiverwaltung „Prostituierte nur an den Straßen außerhalb des
inneren Stadtbezirks.“
In Bonn sind die üblichen Vorschriften über das Wohnen
der Prostituierten in kraft Den Prostituierten ist verboten, bei
Familien zu wohnen, in welchen sich minderjährige Kinder befinden
und Minderjährige unter 18 Jahren — ausgenommen ihre eigenen
Kinder — in ihre Wohnung aufzunehmen.
In Erfurt ist die Prostitution nicht kaserniert „Bis zum
Jahre 1885“, so teilt uns der dortige Magistrat mit, „waren die
hier wohnenden unter sittenpolizeiliche Kontrolle gestellten Personen
in einer inmitten der Stadt belegenen Straße zusammengedrängt
Diese Straße wurde damals von Prostituierten geräumt, da sie in
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Die Wohnungsmißstände im Proetitations- and im Schl&fgängerwesen usw. 205
die belebteste Straße der Stadt mündete und von da aus übersehen
werden konnte. Seit dieser Zeit wohnen die Prostituierten über
die ganze Stadt zerstreut.“
In Osnabrück muß die Prostituierte unter Umständen auf
Grund einer polizeilichen Aufforderung ihre Wohnung inner¬
halb einer bestimmten Frist räumen. Diese Aufforderung würde
„überhaupt erlassen werden, wenn ihr Aufenthalt in dem betreffen¬
den Hause bei den Mitwohnern oder bei den Nachbarn Ärgernis
erregt“ Die Prostituierten Osnabrücks müssen sich vielfach in
einem Arbeitsverhältnis befinden. In den „Polizeilichen Vor¬
schriften“, die wir vorher anführten, heißt es: „Für diejenigen
Prostituierten, welche nachweislich abends von Arbeit kommen,
kann während der Wintermonate die Zeit (die Ausgehezeit) bis
abends 7 Uhr ausgedehnt werden.
In Münster i. W. haben sich nach Mitteilungen der dortigen
Polizei Verwaltung die für die Prostituierten erlassenen Vorschriften
„gut bewährt“. (Diese Vorschriften streben, wie die Vorschriften
im allgemeinen, einen möglichst weitgehenden Ausschluß der Pro¬
stituierten aus der Öffentlichkeit an: Verbot des Theaterbesuches,
den Verkehr in den Promenaden und in Gastwirtschaften usw. In
Münster ist den Prostituierten nicht nur das Fahren in offenen
Wagen, sondern selbst die Benutzung von Droschken oder
Omnibussen verboten.) Die Vorschriften „bieten namentlich
eine sehr gute Handhabe zur scharfen Überwachung der bezeich-
neten Personen. Seit Durchführung derselben hat der Zuzug von
auswärtigen Prostituierten nachgelassen. Frauenspersonen, die hier-
selbst unter Sittenkontrolle gestellt werden, verlegen infolge der
strengen Maßnahmen meistens schon nach sehr kurzer Zeit ihren
Wohnsitz nach außerhalb. Zurzeit hält sich nur eine unter Sitten¬
kontrolle stehende weibliche Person hier auf.“
Über Wohnungsverhältnisse der Prostituierten Zwickaus unter¬
richtet uns folgender Bericht des Rats der Stadt Zwickau: „Es
dürfte ein Unterschied zu machen sein zwischen Frauenspersonen,
welche
1. gewerbsmäßig der Prostitution fröhnen und
2. dieser nur gelegentlich obliegen.
Für beide Teile gelten die allgemeinen Vorschriften des hiesigen
Prostitutionsregulativs. Wohnungsbeschränkungen usw. sind hier
nur von Fall zu Fall, d. h. wenn Anwohner deshalb vorstellig ge¬
worden sind, erfolgt. Die unter 1. bezeichneten Frauenspersonen
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206
Kampffmeyer.
wohnen ohnehin außerhalb der Stadt und in völlig isoliert
stehenden Häusern, in denen sich Familienwohnungen nicht
befinden. Die unter 2. gedachten Frauenzimmer empfangen keine
Herrenbesuche in ihren Wohnungen. Sie sind meist unter Sitten*
kontrolle gestellt worden, weil sie sich in der Regel umhergetrieben
und dabei gelegentlich geschlechtlich preisgegeben haben.
In Dessau tragen die polizeilichen Bestimmungen über das
Wohnen der Prostituierten das übliche Gepräge. Nach dem Be¬
richt des Herrn Sanitätsrat Dr. Liebeschütz in der „Denkschrift
über die in Deutschland bestehenden Verhältnisse in bezug auf das
Prostitutionswesen“ existiert in Dessau eine Bordellstraße.
In Görlitz besteht nach den Mitteilungen der dortigen Polizei¬
verwaltung eine Beschränkung der Prostituiertenwohnungen auf
bestimmte Häuser, Straßen oder Stadtviertel nicht. „Ein beson¬
deres Bedürfnis dazu hat bisher bei der hier auffällig geringen
Verbreitung der Prostituierten nicht Vorgelegen..„Eine Durch¬
seuchung der Bevölkerung mit Prostituierten ist hier ausgeschlossen.
Es kommen auf 82000 Einwohner nur 25 Prostituierte. Von letz¬
teren wohnen 24 in eigenen abgeschlossenen Wohnungen, nur eine
in Aftermiete mit eigenem Zimmer. Allerdings sind gerade in
diesem Falle bei dem Aftervermieter Kinder vorhanden.“
In Plauen i. W. können unter sittenpolizeiliche Aufsicht unter
anderen gestellt werden: die Weibspersonen, welche mit einer poli¬
zeilich beaufsichtigten Weibsperson trotz vorheriger Verwarnung zu¬
sammenwohnen oder wiederholt, besonders zur Abend-und Nachtzeit,
mit einer solchen in derselben Wohnung oder auf Straßen, öffent¬
lichen Orten oder Spaziergängen betroffen worden sind; und ferner
die Weibspersonen, welche im Rufe stehen, gewerbliche Unzucht
zu treiben und über ihren Unterhalt nicht genügende Auskunft
geben können. In Plauen sind in den Gastwirtschaften mit Kellne¬
rinnenbedienung alle Einrichtungen verboten, wodurch Räume oder
Plätze derart verhüllt werden, daß sie dem freien Überblick voll¬
ständig entzogen sind.
Der Oberbürgermeister von Ulm teilt der „D. G. z.B. d. G.“ mit,
„daß Prostituierte hier nicht zugelassen sind, und daß bei der Mög¬
lichkeit einer stetigen genauen Überwachung auf diesem Gebiet
Mängel oder Schäden, wie sie in der gefi. Zuschrift näher bezeichnet
sind, kaum zutage treten können. Bis jetzt wenigsten sind nennens¬
werte Übelstände nicht zu verzeichnen gewesen!“
In Gera wohnen die Prostituierten nach dem schriftlichen
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Die Wohnungsmißst&nde im Prostitution8- und im Schlafgängerwesen usw. 207
Bericht des dortigen Stadtrats, „ohne daß ein Zwang ansgeübt
wird, zumeist in einer bestimmten Straße. In dieser wohnen in
einzelnen Häusern nur Prostituierte, und in solchen Fällen müssen
sämtliche Kinder aus dem Hause entfernt werden.“
In Wiesbaden haben sich die üblichen Bestimmungen über
das Wohnen der Prostituierten als „vollkommen ausreichend“ er¬
wiesen.
In Bochum besteht nach dem Bericht der dortigen Polizei¬
verwaltung nicht „ein Verbot bezüglich des Beziehens von Woh¬
nungen in Häusern, in denen Kinder wohnen..„dahingegen ist
der Prostituierten auf Grund der sittenpolizeilichen Verhaltungs¬
vorschriften für die Stadt Bochum das Wohnungnehmen in einer
größeren Anzahl von Straßen untersagt“.
In München-Gladbach existiert eine Kasernierung der
Prostituierten nicht
In Potsdam besteht nach den Mitteilungen des dortigen Polizei¬
präsidenten die Prostitution „nur in mäßigem Umfange...“. „Die
Prostituierten haben größtenteils selbst ausgestattete Wohnungen
inne...“. „Mehrere Prostituierte dürfen auf ein und demselben
Grundstücke nicht wohnen. Das Einwohnen in Familien — ohne
Bücksicht darauf, ob Kinder in derselben sind oder nicht — ist
untersagt. Beschränkungen des Prostitutionsbetriebes auf bestimmte
Straßen oder Stadtviertel bestehen nicht, wohl aber ist das Be¬
treten verschiedener Straßen und Plätze verboten.“
In Rostock kann die Polizei den Prostituierten das Wohnen
in bestimmten Straßen und Häusern verbieten.
In Darmstadt ist den Prostituierten das Wohnen in Parterre¬
wohnungen verboten.
In Offenbach a. M. ist den Prostituierten nur das Wohnen
in der Nähe von Gotteshäusern, Schulen, Kasernen, sowie das
Wohnen in Gasthöfen und Herbergen untersagt.
In Ludwigshafen waren nach dem Bericht des Vorsitzenden
des Ludwigshafener Ärztevereins Dr. Heuck (siehe „Die Denkschrift“)
keine Dirnen reglementiert Die Frage, leben die Prostituierten
als freie Aftermieterin oder abhängig von Wirten, beantwortet er
mit den Worten: „Werden offiziell nicht geduldet“. Unter
der Rubrik: „Persönliche Bemerkungen“ findet sich folgende Be¬
merkung: „Mannheim hat sehr viele Bordelle, so daß hier kein
großes Bedürfnis vorhanden sein kann. Hier sind sehr viele Wirt¬
schaften mit Kellnerinnenbedienung und Animierkneipen. Die große
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208
Kampffmeyer.
Zahl der Fabrikarbeiterinnen ermöglicht jeden Arbeiter von 17 Jahren
schon einen gleichaltrigen oder jüngeren Schatz. Die Gelegenheit
zu Zusammenkünften ist durch das Nachhausebringen einfach ge¬
geben und für selbstverständlich gehalten, da Eheschließung in
Bayern erschwert ist, weil die Frau das Heimatsrecht des Mannes
erwirbt und die Gemeinde ihren Konsens nur nach Zahlung eines
den Vermögensverhältnissen entsprechenden Obolus erteilt. Daher
viele uneheliche Kinder und später selten Heirat“
In Beuthen war nach der zitierten „Denkschrift“ die Prosti¬
tution nicht kaserniert Unter sittenpolizeilicher Aufsicht standen
15—20 Dirnen. Die Verfasserinnen der „Denkschrift“ hatten sich
an den Königlichen Kreisarzt Med.-Rat Dr. La Roche gewandt
Unter Beuthen finden in der „Denkschrift“ folgende Bemerkung:
„Öffentliche Prostitution sehr gering, vermutlich durch Einfluß der
katholischen Geistlichkeit Die großen Arbeiterkasernen, sowie das
Zusammenleben jugendlicher Arbeiter beiderlei Geschlechts begün¬
stigen die private Prostitution sehr. Dazu kommt das sehr geringe
Schamgefühl und der übermäßige Schnapsgenuß der polnischen
Arbeiter, die das Gros der Arbeitermasse ausmachen. Uneheliche
Kinder gibt es wenig, da die Geistlichkeit auf schleunige Heirat
im Notfälle hindrängt.“
Metz hat nach der „Denkschrift“ zirka 100 Prostituierte. Es
bestehen dort zur Zeit drei Bordelle. Es sind Bordellstraßen vor¬
handen. Die Prostituierten leben als freie Mieter, werden aber
häufig von den Wirten ausgebeutet.“ Unter den „Persönlichen Be¬
merkungen“ lesen wir: „Es wird beabsichtigt, die geschlossenen
Häuser zu vermehren. Die Prostituierten zahlen in den Bordellen
bestimmten Pensionspreis, der Rest ihrer Einnahmen bleibt ihnen.“
In Spandau standen nach der „Denkschrift“ (Berichterstatter
Königlicher Kreisarzt Med.-Rat Dr. Jaenicke) zirka 30 Dirnen unter
sittenpolizeilicher Aufsicht Weder Bordelle» noch Bordellstraßen
existierten in Spandau. „Die Unsittlichkeit und Verführung ist in
Spandau“, so sprechen sich die persönlichen Bemerkungen aus,
„sehr groß (Fabriken mit zahlreichen Arbeitern und Arbeiterinnen
bei hohen Lohnsätzen). Die Prostituierten werden zweimal wöchent¬
lich untersucht Sie dürfen im Sommer bis 11 Uhr, im Winter
bis 9 Uhr abends auf der Straße sein...“. Übrigens schneidet
Spandau in der Guttstadtschen Statistik sehr gut ab: auf 10000
Einwohner Spandaus kamen nur 14,89 Geschlechtskranke. Die
Arbeiter verkehren außerehelich mit ihren Berufsgenossinnen, aber
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Die Wohnungsmißst&nde im Prostitutions- und im Schl&fgängerwesen usw. 209
wenig mit Prostituierten. Sie verbreiten deshalb im geringen Um¬
fange Geschlechtskrankheiten.
Die Wohnungsverhaltnisse der Prostituierten in den Städten
über 40000 bis 50000 Einwohner.
Die Polizeidirektion Hildesheim gibt folgende Schilderung
über die Prostitutionsverhältnisse dieser Stadt:
„Es ist ferner die Zahl der Straßen, deren Bewohnen noch
gestattet sein soll, immer geringer geworden (Gebrauch wird von
den Dirnen zurzeit nur von zwei Straßen gemacht)... Diese Vor¬
schriften, namentlich aber die Beschränkung der Dirnen auf einige
Straßen haben sich vollständig bewährt Die städtischen Straßen,
die früher von den Dirnen in bedenklichster Weise unsicher ge¬
macht wurden, sind sozusagen rein geworden. Damen können,
abgesehen von einzelnen, wohl überall vorkommenden Roheiten,
gut bis 10 Uhr abends allein über die Straße gehen, die Rein¬
haltung der Häuser, namentlich in denen Kinder wohnen, von
dem Gift der Prostitution, ist, soweit überhaupt möglich, ge¬
lungen, und es ist der Verbreitung von Geschlechtskrankheiten
ein starker Abbruch getan. Trotz der Auslegung, die das Reichs¬
gericht dem § 180 Str.-G.-B. gegeben hat, ist die Polizeidirektion
in Anlehnung an das zu Hamburg geübte Verfahren auf dem
Standpunkte stehen geblieben, daß die einfache Vermietung von
Wohnungen an Dirnen nicht unter den § 180 falle und hat trotz
wiederholter Angriffe diesen Zustand aufrecht erhalten, wobei sie
Unterstützung bei den Vorgesetzten Behörden gefunden hat/ 1
Eine Agitation entstand, „die das, was auf dem Wege des Straf¬
verfahrens nicht zu erlangen ist, auf dem Wege des Zivilprozesses
erlangen will, und um unter Hinweis auf eine Entscheidung des
Großherzoglichen Oberlandesgerichtes zu Karlsruhe, die sich aller¬
dings auf ein Bordell im engeren Sinne des Wortes bezog,
auf Grund des § 823 Bgl.-Ges.-B. in Verbindung mit § 180 Straf-
Ges.-B. das Vermieten von Wohnungen an Dirnen zu untersagen
und unter Schadenersatzpflicht zu stellen, hat auch bei Gericht
Erfolg gegen die Eigentümerin eines Hauses, die an Dirnen ver¬
mietete, davon getragen, obwohl es sich hier nicht um ein wirk¬
liches Bordell handelte. Diese Agitation, die auch geistlicher-
seits lebhaft unterstützt wird, glaubt, durch das Verbot der
Vermietung von Wohnungen an Dirnen die Unzucht aus
der Welt zu schaffen. Solange es aber Menschen gibt, solange
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210
Kampffineyer.
wird auch wie bezüglich der Befriedigung des Geschlechtstriebes
gefehlt werden. Es wird ebensowenig gelingen, die Unzucht ab¬
zuschaffen, wie den Diebstahl, die Trunksucht usw., am wenigsten
geschieht es auf dem Wege, daß man zwar die der Un¬
zucht verfallenen Frauenspersonen auf alle erdenkliche
Weise verfolgt, gegen die sie verführenden oder doch zur
jedesmaligen Ausübung der Unzucht veranlassenden
Männer nicht vorzugehen wagt, deren Vergehen im Gegenteil
ungerügt läßt oder womöglich gar als „noble Passion“ in Schutz
nimmt. Ist es nun unmöglich der Unzucht vollkommen zu steuern,
dann soll man wenigstens dafür sorgen, daß sie nicht überwuchert,
und dies kann nur durch ihre Lokalisierung geschehen. Nicht
den wirklichen Bordellen soll das Wort geredet werden, d. h. Wirt¬
schaften, die mit staatlichem Privilegium und unter polizeilicher
Aufsicht Kuppelei treiben und durch ihre bequeme und womöglich
elegante Einrichtung der Unzucht Vorschub leisten. Wohl aber
soll man die Dirnen, die sich nun doch einmal öffentlich bloß ge¬
stellt haben, in gewisse Stadtteile verweisen.“
„Wird es nun verboten, Wohnungen an Dirnen zu vermieten,
so müssen diese eben allein in einem Hause wohnen und daselbst
ihre Besuche empfangen, wird ihnen auch dies unmöglich gemacht,
so müssen sie überall in der Stadt wohnen, ihr Gewerbe auf der
Straße betreiben oder sonst die bestehenden Vorschriften zu um¬
gehen suchen, z. B. indem sie brieflichen Verkehr zwecks Bestellung
der Zusammenkünfte pflegen, angeblich einen Verwandten oder
Freund empfangen, oder Männer in den Wohnungen aufsuchen.
Vor allem aber werden sie es vermeiden, sich unter Sittenaufsicht
zu stellen, weil sie ohne das viel freier arbeiten können, und der
Polizei die Beweislast dafür, daß sie gewerbsmäßig Unzucht be¬
treiben, aufbürden.“
„Die Polizeidirektion hat deshalb wie gesagt, hier bis jetzt noch
die Beschränkung der Dirnen auf einzelne Straßen aufrecht erhalten.
Wird ihr die Möglichkeit hierzu, aus, ich kann nicht anders sagen
als, verkehrtem sittlichen Eifer entzogen, dann wird binnen kurzem
die Stadt wieder überschwemmt werden, die Straßenunzucht oder
wenigstens das Gelegenheitsaufsuchen wieder in Blüte kommen, die
Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten aber, weil man die kranken
Personen nicht kennt, fast unmöglich gemacht werden. Die Stellung
unter Polizeiaufsicht wird ziemlich illusorisch, weil für die Dirnen
jeder Anreiz dazu fehlt und der Polizeidirektion die Möglichkeit,
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Die Wohnungsmißstände im Prostitutions- und im Schlafgängerwesen usw. 211
die Dirnen festzustellen, entzogen oder doch mindestens sehr er¬
schwert wird. Damit wird der Polizeidirektion die Reinhaltung
der Wohnungen vom Laster ungemein erschwert, zum Teil unmöglich
gemacht werdend In Hildesheim dürfen die Prostituierten nur in
sechs Straßen wohnen. Die Prostituierte darf kein nach der Straße
zu belegenes Zimmer (Schlafstelle) bewohnen. Sie darf kein minder¬
jähriges Dienstmädchen annehmen.
In Regensburg sind nach einer Mitteilung des dortigen Stadt¬
magistrats die Prostitution kaserniert „und zwar in nur zwei gut
zu überwachenden Häusern“ (Bordelle??).
In Solingen bestehen die üblichen PolizeiTorschriften über
das Wohnen der Prostituierten.
In Harburg a. E. ist ihnen verboten an 1. Bergstraße zu
wohnen, sowie in den Häusern und bei den Personen, auf die sich
das polizeiliche Wohnungsverbot erstreckt
In Bamberg wurden etwaige Wahrnehmungen über Mißstände
im Prostituiertenwesen nach einer Äußerung des Königlichen Be¬
zirksarztes, des Medizinalrats Dr. Roth nicht gemacht. (Bordelle!)
In Pforzheim ist das Zusammenwohnen mehrerer Dirnen in
einem Hause verboten. Die Polizeibehörde ist ferner befugt, das
von einer öffentlichen Dirne gewählte Logis aus Rücksichten des
öffentlichen Interesses für unzulässig zu erklären.
Aus Worms erhielt die „Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung
der Geschlechtskrankheiten“ folgenden ausführlichen Bericht über
die dortigen Prostitutionsverhältnisse:
„Was mm die Verbreitung der Geschlechtskrankheiten durch
Prostituierte anlangt, so ist diese Gefahr dahier nicht sehr erheblich.
Es bestehen hier zwei unter ständiger Aufsicht des Großh. Kreis¬
gesundheitsamtes stehende Bordelle und sind dort zwölf bis vier¬
zehn Prostituierte kaserniert Außer diesen Dirnen werden zeitweise
auch noch andere lüderliche Frauenzimmer unter Sittenkontrolle
gestellt, wenn ihnen die Gewerbsunzucht nachgewiesen werden
kann, da es sich hierbei aber in der Regel um stellenlose Kellne¬
rinnen und dergleichen Personen dreht, so ist der Erfolg der, daß
sie schon nach wenigen Tagen von hier verschwinden.“
„Die Prostituierten in den Bordellen rekrutieren sich durch
Zuzug aus anderen Bordellen in ganz Deutschland, deren
Adressen den Dirnen bekannt sind. Diese Dirnen befleißigen
sich der größten Reinlichkeit, sie spülen sich täglich mehrmals mit
dezinfizierenden Flüssigkeiten aus und alltäglich werden gegen
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212
Kampffmeyer.
Abend Scheide, Harnröhre und Cervicalkanal mit 2—3°/ 0 iger Pro-
targollösung ausgespritzt und bei Verdacht auf Entzündung der
Bartholinischen Drüsen auch diese und zwar mit einem eigens dazu
eingerichteten spitzen, gekrümmten Spritzchen. Diese Ausspritzungen
werden von einer gewandten Prostituierten vorgenommen. Da nun
das Protargol 18 bis 24 Stunden beinahe absoluten Schutz gegen
Tripperinfektion gewährt, so kann ein solche, wenn sie dort vor¬
kommt, nur von einem Vordermann herrühren. Benützt nun ein
Gast ebenfalls die in den Bordellen verkäufliche Protargollösung
(35 Pfg. die Tube, Anweisung und Abbildung ist im Lokal aufge¬
hängt), so ist er wohl sicher vor Tripperinfektion. Auch eine Salbe
zum Schutz vor Syphilis ist in den Bordellen zu erhalten. Die
Dirnen sind in bezug auf syphilitische Geschwüre hinreichend in¬
struiert und angehalten, die Mannspersonen, welche bei ihnen ver¬
kehren, gehörig zu untersuchen und würden hierdurch Männer,
insbesondere Soldaten, die geschlechtlich erkrankt waren, festge¬
stellt; wir haben in solchen Fällen die Heilung der Betreffenden
natürlich veranlaßt Bei den wöchentlichen Untersuchungen durch
den Großh. Kreisarzt wurden nun allerdings auch hie und da
Prostituierte betroffen, welche geschlechtlich erkrankt waren, es
kam dies aber sehr selten vor. Die Möglichkeit der Infektion
in den Bordellen ist sonach nicht völlig ausgeschlosen.“
„Wenn nun dahier Geschlechtskrankheiten trotzdem in nicht
unerheblichem Umfange verbreitet sind, so ist dies insbesondere
dem Umstande zuzuschreiben, daß eine große Anzahl der hiesigen
Wirtschaften Kellnerinnenbedienung haben. Diese Kellnerinnen
bekommen meistens keinen Lohn, sondern sind nur auf die Trink¬
gelder der Gäste angewiesen, und daß solche Personen schon der
Trinkgelder wegen leicht zugänglich sind, liegt auf der Hand. Wir
haben es an der erforderlichen Überwachung nicht fehlen lassen,
bei der großen Zahl derartiger Wirtschaften ist dies aber äußerst
schwierig. Wie lange solche Kellnerinnen ansteckend wirken, kann
man sich vorstellen, wenn man bedenkt, daß diese Personen erst
notgedrungen den Arzt aufsuchen. Die Richtigkeit unserer Ansicht,
daß durch Kellnerinnen in erster Linie Geschlechtskrankheiten
verbreitet werden, dürfte sich aus der Tatsache erhellen, daß von
den wegen Gewerbsunzucht aufgegriffenen Kellnerinnen
wenigsten 80 bis 90 Prozent geschlechtlich krank waren.
Von 10 im hiesigen städtischen Krankenhause an Ge¬
schlechtskrankheiten behandelten Weibspersonen sind
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Die Wohnungsmißflt&nde im Prostitution»- und im Schl&fgflngerwesen usw. 218
durchschnittlich 9 Kellnerinnen. Das Kellnerinnenwesen ist
sonach die yerderblichste Einrichtung zur Verbreitung der Ge¬
schlechtskrankheiten.“
„Wie hier, so liegen die Verhältnisse auch in den andern um¬
liegenden Städten, und wäre es eine dankbare Aufgabe, wenn die
„Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten“
einheitliche Maßnahmen zur allgemeinen Bekämpfung des
Kellnerinnenwesens veranlassen würde.“
In Heidelberg finden sich keine, von den gewöhnlichen Polizei¬
bestimmungen über das Wohnen der Prostituierten abweichende
Maßnahmen. Die Prostitution ist nicht kaserniert.
In Mühlheim a. Rh. sind durch die Prostitution noch keine
sittlichen Schäden in die Wohnungsverhältnisse der Familien ge¬
schleppt worden. „Die Zahl der unter Sittenkontrolle stehenden
Frauenspersonen“, so teilt uns der Oberbürgermeister mit, „ist mit
Rücksicht auf die Nähe der Großstadt Köln hier eine sehr geringe
und hat bisher nicht mehr als 2 betragen.“
Aus Oberhausen teilt uns die dortige Polizeiverwaltung mit:
„Bezüglich der Bekämpfung des Prostituiertenwesens bemerke ich,
daß hier Vorschriften erlassen sind, durch die der eventuell unter
Sittenkontrolle gestellten Personen, die Beschränkung, betreffend das
Wohnen in bestimmten Häusern, Straßen usw. auferlegt ist; jedoch
haben seit Jahren hier weibliche Personen nicht unter
Sittenkontrolle gestanden.“
In Kaiserslautern sind bisher noch keine Maßnahmen in
bezug auf das Wohnen der Prostituierten getroffen worden, sie
sind, wie uns dies das dortige Bürgermeisteramt versichert, „auch
nicht geboten erschienen“. In der „Denkschrift“ lesen wir (Bericht¬
erstatter Dr. Zahn) folgende persönliche Bemerkung: „Prostitutierte
werden überhaupt nicht geduldet, im Betreffungsfalle wird sie ge¬
straft, aus der Stadt gewiesen, wird ins (Korrektionshaus) Arbeits¬
haus geschafft. Folge dieses strengen Vorgehens sind Geschlechts¬
krankheiten (frische Infektionen) sehr selten.“
In Trier prostituierten sich nach der „Denkschrift“ (Bericht¬
erstatter Dr. Löwenstein, dirigierender Arzt des evangelischen
Krankenhauses) 8 Kontrolldirnen. Es bestanden in Trier weder
Bordelle noch Bordellstraßen.
In Flensburg sollte gemäß Magistratsbeschluß das Schreiben
der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrank¬
heiten nicht beantwortet werden. Nach der „Denkschrift über die
Zeitsohr. f. Bekämpfung d. Geschlechtskrankh. HI. 16
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214
Kampffmeyer.
in Deutschland bestehenden Verhältnisse in bezug auf das Bordell¬
wesen usw.“ bestehen in Flensburg keine Bordellstraßen. Die Frage,
bestehen Bordelle in Flensburg, beantwortete Herr Dr. Schädel
mit: „glaubt nein“. Zirka 28 KontroUdirnen prostituierten sich doch.
Einige Städte unter 40000 Einwohnern.
In Göttingen, so teilt uns die Göttinger Polizeidirektion mit,
„sind durchschnittlich 5 Dirnen unter Sittenkontrolle gestellt.“ Die
Wohnungen der Dirnen befinden sich meistens im äußeren Stadt¬
gebiete und zwar in Häusern, in denen zumeist Kinder nicht wohnen.
Schlimme Erfahrungen über bedauernswerte Einflüsse der Prosti¬
tution auf Kinder sind nicht gemacht worden. Die Wohnungen
auf bestimmte Straßen zu beschränken, ist nicht durchführbar, auch
ist ein Bedürfnis hierzu nicht hervorgetreten.
In Greifswald zeigen die Prostituierten der Polizeidirektion
regelmäßig an, in welchem Hause sie Wohnung nehmen wollen.
Sind in dem betreffenden Hause eine größere Anzahl Kinder vor¬
handen, so wird ihnen untersagt, in solchen Häusern Wohnung zu
nehmen.
Über die Wohnungsverhältnisse der Prostituierten Thor ns be¬
richtet der dortige Magistrat folgendes: „Die Prostitution auf be¬
stimmte Straßen oder Stadtteile zu beschränken, erscheint bei den
hiesigen Verhältnissen nicht angängig. Im übrigen sind betreffs
derjenigen Gewerbe- und Industriebetriebe, in denen männliche und
weibliche Personen Zusammenarbeiten müssen, von den Aufsichts¬
behörden ausreichende Gesetze und Verordnungen erlassen worden,
deren Beachtung von den zuständigen Beamten überwacht wird.“
Die Prostituierten Wesels — es wohnen dort zur Zeit 6
— sind in der Wahl ihrer Wohnung beschränkt, indem ihnen all¬
gemein aufgegeben ist, bevor sie eine Wohnung beziehen, die Ge¬
nehmigung der Polizeibehörde einzuholen.
Fassen wir hier nochmals die Hauptresultate unserer
Untersuchung über die Wohnungsverhältnisse der Prosti¬
tuierten deutscher Groß- und Mittelstädte zusammen: Es
bestehen in den Groß- und Mittelstädten Deutschlands:
Bordelle: in Hamburg, Mainz, Magdeburg, Altona,
Nürnberg, Bamberg, Braunschweig, Metz, Worms, Frei¬
burg i. B., Würzburg, Kiel, Leipzig, Regensburg, (Altona?)
Kasernierung der Prostitution: in Braunschweig,
Altona, Kiel, Bremen, Düsseldorf, Halle a. S., Posen,
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Die Wohnungsmißstände im Prostitutions- and im Schlafgängerwesen usw. 215
Krefeld, Lübeck, Metz, Pforzheim, Hildesheim, Gera,
Halberstadt, Karlsruhe, Straßburg i. E. Wir besitzen 7 Gro߬
städte über 100000 Einwohnern mit Bordellen (Hamburg, Mainz,
Magdeburg, Altona, Leipzig, Nürnberg, Braunschweig), und neben
diesen Bordellstädten findet sich die Prostitution noch kaserniert:
in Düsseldorf, Halle a. S., Essen, Lübeck, Straßburg, das heißt noch
in 5 Städten. Es gelingt aber keineswegs in den Großstädten,
wie in Hamburg, Nürnberg, Magdeburg, Altona, Mainz,
Leipzig die Prostituierten in eine Anzahl von Häusern,
noch in eine Reihe von Unzuchtsstraßen hineinzudrängen.
Selbst die kontrollierte Prostitution macht sich schon
außerhalb der dem Prostitutionsbetriebe überwiesenen
Häuser und Straßen geltend, geschweige denn die geheime
Prostitution. Über die geheime Prostitution klagen viele deutsche
Städte und Polizeiverwaltungen. Selbst die einschneidendsten Poli¬
zeiverordnungen, die die Prostitutierten ganz außerhalb des gesell¬
schaftlichen und des Familienverkehrs zu stellen suchen, erreichen
diesen Zweck niemals, weil große Gruppen der geheimen Prostitution
gar nioht unter die sanitäts- und sittenpolizeiliohen Bestimmungen
über die Wohnungsverhältnisse der Prostituierten zu bringen sind.
Vorschläge zur gesetzlichen Reform der Mißstände der
Prostituiertenwohnungen.
Als schreiende, dem heutigen Prostituierten wesen anhaftende
Wohnungsmißstände traten in unserer bisherigen Darstellung her¬
vor: der äußere anstößigeundaufsehenerregendeCharakter
der Prostituiertenwohnungen und der ständige Verkehr
von Kindern und Minderjährigen in den Wohnungen der
Prostituierten. Die heutigen sitten- und sanitätspolizeilichen
Verordnungen gegen die Mißstände der Prostituierten Wohnungen
reichen nicht entfernt zur Steuerung dieser Mißstände aus, weil
sie sich nur auf die relativ kleine Gruppe der Kontrolldirnen er¬
strecken. Die heutigen Polizeiverordnungen bewegen sich nur in
einem engen lokalen Rahmen, sie haben keine allgemeine Verbrei¬
tung und gehen oft in sehr wesentlichen Punkten auseinander. Ein
einheitliches und allgemeines Vorgehen gegen die Krebsschäden
der Prostituiertenwohnungen ist aber direkt geboten, und deshalb
schlagen wir die Aufnahme einiger wenigen die Gesundheit und
Sitte fordernden Bestimmungen gegen das Prostitutionswesen in
ein allgemeines Wohnungsgesetz vor.
16 *
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216
Kampfimeyer.
Der Vorschlag scheint uns wie von selbst auf einen sehr
naheliegenden Weg zu drängen — dieser Weg wird sich aber
für uns als ein arger Irrweg enthüllen — nämlich auf die Schaffung
einer Kategorie polizeilich anzumeldender und zu kon¬
trollierender Wohnungen: der Prostituiertenwohnungen.
Würden wir den hier angedeuteten Weg einschlagen, so erhielten
wir ebenfalls nur das, was ja heute schon besteht: die Überwachung
der Wohnungen von Kontrolldirnen. Wir aber beabsichtigen ja
gerade durch wohnungsgesetzliche Bestimmungen die geheime
Prostitution zu erfassen.
Schaffen wir z. B. eine Bestimmung, daß Prostituierte, gerade
wie die Schlafgänger, nur in Miets wohnungen mit Genehmigung
der OrtBpolizeibehörde aufgenommen werden, so erhält
damit eine ganze Kategorie von Wohnungen schon den
Charakter von Prostitutiertenwohnungen aufgeprägt Die
geheimen Prostituierten werden aber gerade diese Wohnungen wie
Wasser und Feuer meiden; denn mit dem Beziehen derartiger
Wohnungen erklären sie sich selbst für öffentliche Mädchen und
liefern sich der sittenpolizeilichen Kontrolle aus. Die polizeilich
angemeldeten und überwachten Dirnenwohnungen, anderen
Vermietung eine ganze Reihe von Bedingungen geknüpft ist, können
leicht den Bordellbetrieb nach sich ziehen. Heute er¬
strecken sich die polizeilichen Bestimmungen über das
Wohnen der Dirnen nur auf diese Dirnen selbst Die von
uns erörterte wohnungsgesetzliche Bestimmung würde aber die An¬
meldepflicht der Dirnenwohnungen auch auf die Vermieter erstrecken.
Der Vermieter hat dann — diese Konsequenz wird nun not¬
wendig eintreten — seinen Hauswirt mitzuteilen, daß er poli¬
zeilich anzumeldende Wohnungen an Dirnen weiter ver¬
mietet. Der Hauswirt wird aber in vielen Fällen sich mit
Händen und Füßen dagegen wehren, daß sein Haus gleichsam
polizeilich zu einem Dirnenverkehrshaus gestempelt wird.
Die Vermieter von polizeilich anzumeldenden Dimenwohnungen
werden daher nur bei den skrupellosen Hauswirten Unterschlupf
finden, die aus dem Vermieten von Dirnenwohnungen ein
gutes Geschäft machen wollen. Sie werden daher diese Woh¬
nungen mit besonders hohen Mietspreisen belegen. Der Mieter
wird sich aber für die erhöhten Mietspreise an den Dirnen schad¬
los halten. Er wird an zahlreiche Dirnen Wohnungen ver¬
mieten und ihnen hohe Miets- und Pensionspreise aufzuerlegen
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Die Wohnungsmißstände im Prostitution*- und im Schlafgänger wesen usw. 217
suchen. Diese Preise wird er aber meist nur aus flott verdienenden,
schönen Mädchen pressen können. Seine eigenen vitalen Interessen
verknüpfen ihn damit aufs engste mit dem Prostitationsbetriebe,
und diese gefährliche Verknüpfung wird in vielen Fällen den
Vermieter von polizeilich angemeldeten Prostituiertenwohnungen
in einen Kuppeier und Bordellbesitzer wandeln. Ein Wohnungs-
gesetz, das ganz allgemein gegen die Schaden der Prostituierten¬
wohnungen Vorgehen will, muß sich also hüten, eine polizeiliche
Meldepflicht der Vermieter von Prostituiertenwohnungen gesetzlich
zu begründen.
Die konsequente Beseitigung jeder Meldepflicht von Prosti¬
tuiertenwohnungen schließt aber keineswegs die Aufnahme von tief
einschneidenden, gegen das Prostitutionswesen gerichteten Bestim¬
mungen in ein Wohnungsgesetz aus. Namentlich können derartige
Bestimmungen leicht in den Teil des Wohnungsgesetzes hineinge¬
bracht werden, der sich mit der Wohnungsordnung und mit
der Wohnungsaufsicht beschäftigt
Die Wohnungsaufsicht kann aber streng von der allge¬
meinen polizeilichen Tätigkeit getrennt werden. Selbst
der gewiß nicht sehr fortschrittliche preußische Wohnungsgesetz¬
entwurf sieht in den Gemeinden über 100000 Einwohner die
Errichtung von eigenen Wohnungsämtern vor, die mit dem er¬
forderlichen, in geeigneter Weise vorgebildeten Personal, insbesondere
mit einer genügenden Anzahl beamteter Wohnungsaufseher, besetzt
werden. „Dem Wohnungsamte,“ so heißt es in dem preußischen
Wohnungsgesetzentwurfe, „können auch ehrenamtlich tätige Personen
als Pfleger angehören“. Wir empfehlen an die Stelle des Wortes
„können“ das Wort „müssen“ zu setzen; denn gerade eine um¬
fangreiche unentgeltliche, ehrenamtlich und ständig funktionierende
Wohnungspflege wird zu einer wirksamen Waffe im Kampfe gegen
das gesundheitsgefahrliche Wohnungswesen der Prostituierten werden.
Wir streben daher eine möglichst scharfe Trennung der Wohnungs¬
pflege von der allgemeinen Polizeitatigkeit an.
Ist diese Loslösung der Wohnungsaufsicht und Wohnungspflege
von der allgemeineu Wirksamkeit der Polizei durchgeführt, so können
wir eine Reihe von Bestimmungen in die „Wohnungsordnungen“
hineinbringen. Wir finden in dem Preußischen Wohnungsgesetzent¬
wurfe unter dem Kapitel „Wohnungsordnungen“ eine ganze Reihe
wohnungsgesetzlicher Bestimmungen in den besonderen Abschnitten:
„Mietwohnungen“, „Schlafräume der Dienstboten und Gewerbe-
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218
Kampffmeyer.
gehilfen“, „Chambregarnisten, Schlafburschen“. Wir schlagen daher
vor, in den Abschnitt „Mietwohnungen“ folgende wohnungsgesetz¬
lichen Bestimmungen hineinzubringen:
„Mietwohnungen, die von Prostituierten bewohnt werden, dürfen
sich nicht in der Nähe von Kirchen, Schulen und anderen öffent¬
lichen Gebäuden befinden und sind möglichst außerhalb der ver¬
kehrsreichen Straßen und Plätze zu legen. Die an Prostituierte
vermieteten Wohnungen dürfen nicht in anstößiger oder nur auf¬
sehenerregender Weise das Prostitutionsgewerbe in die Öffentlich¬
keit treten lassen. Prostituierte dürfen nur in Einzelwohnungen
oder in Familienhaltungen ohne Kinder und Minderjährige ange¬
nommen werden. In den Wohnungen der Prostituierten dürfen nur
ältere Personen (über 40 Jahre) Handreichungen und Hausdienste
verrichten. Den Prostituierten muß stets ein eigenes, von der
Familienhaushaltung getrenntes Zimmer mit eigenem Bett und aus¬
reichenden Einrichtungen für die Eeinlichkeitspflege zur Verfügung
stehen.“
Die Durchfährung dieser wohnungsgesetzlichen Bestimmungen
erhoffen wir von einer energischen, über kleine Bezirke der Groß-
und Mittelstädte gelegten ehrenamtlichen Wohnungspflege.
Vor uns liegt die „Bekanntmachung, betreffend die Errichtung
von Wohnungspflegebezirken und die Anstellung ehrenamtlicher
Wohnungspfleger“ des Stadtschultheißenamts Stuttgart. Nach
dieser Bekanntmachung vom 27. Februar 1903 ist der Stadtdirektions¬
bezirk Stuttgart in 210 Wohnungspflegebezirke geteilt. Unter den
204 namentlich aufgeflihrten Wohnungspflegern sind die Ver¬
treter aller Berufs- und Gesellschaftsklassen zu finden. Unter
den Wohnungspflegern zählen wir gegen 100 Arbeiter, und Arzte,
Kaufleute, Techniker, Handwerksmeister, Krankenkassenbeamten,
Lehrer usw. fungieren als Wohnungspfleger. Für den unparteiischen
Geist, der die Auswahl dieser Wohnungspfleger leitete, ist bezeich¬
net, daß unter den Angehörigen aller Parteien hervorragende Führer
der Stuttgarter Arbeiterschaft als Wohnungspfleger tätig sind.
Der Stuttgarter Wohnungspfleger hat die Verstöße gegen
die Bestimmungen der Wohnungsordnung nicht der Polizei,
sondern dem städtischen Wohnungsamt zu unterbreiten.
Stößt er bei seiner Wohnungsbesichtigung auf Widerstand, so macht
er ebenfalls dem Wohnungsamt hiervon Mitteilung. Alles das, was
der Wohnungspfleger zu Gesicht bekommt, müßte Amtsgeheimnis
bleiben — auch der Sittenpolizei gegenüber. Das kommunale
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Die Wohnungsmißetände im Proatitutions- und im Schlafgängerwesen uaw. 219
Wohnungsamt wäre mit der Straffestsetzung und der Strafexekution
zu betrauen. Dieses Amt müßte ebenfalls die Befolgung des Woh¬
nungsgesetzes erzwingen können.
ln den Geschäftsanweisungen für die städtischen Wohnungs¬
pfleger Stuttgarts heißt es im § 1: „Die Wohnungspfleger sind
ehrenamtliche Hilfspersonen der städtischen Behörde zur Fürsorge
für das Wohnungswesen, des sogenannten Wohnungsamts. Sie
haben dieses nach Maßgabe der nachfolgenden Anweisungen bei
denjenigen seiner Aufgaben zu unterstützen, welche sich auf Über¬
wachung der Wohnungen und der Wohnweise zum Zweck der
Fernhaltung und Beseitigung erheblicher, das Leben, die Gesund¬
heit oder die Sittlichkeit gefährdender Mißstände beziehen“. Ge¬
sundheit und Sittlichkeit gefährdende Mißstände schließen die Woh¬
nungen der Prostituierten massenhaft ein. In Großstädten, in
Berlin, Hamburg, Dresden würden viele Verstöße gegen die von
uns vorgeschlagenen Bestimmungen über die Mietswohnungen der
Prostituierten zu konstatieren sein. Es empfiehlt sich die
Bildung möglichst kleiner Wohnungspflegebezirke und
ihreBesetzung mit zahlreichen ehrenamtlichen Wohnungs¬
pflegern. Je kleiner die Bezirke sind, um so eher werden
die in den Bezirken wohnhaften Pfleger mit den Wohnungs-
ja mit den ganzen sozialen Verhältnissen der Bewohner
ihrer Bezirke bekannt, und je erfolgreicher können sie
die sanitären und sittlichen Mißstände der Prostituierten¬
wohnungen beseitigen. Ohne es zu wollen, werden sie in die
Lebensschicksale der Prostituierten eindringen, und sie werden auch
dann erkennen, wie dem mannigfachen Weh und Ach zahlreicher
Dirnen beizukommen ist Wirksame soziale Hilfsaktionen
können sich vielleicht gerade an eine eingehende, die
individuellen Verhältnisse der Prostituierten erfassende
Wohnungspflege anschließen.
In den französischen und belgischen Dispensaires spielt der
„ouvrier entqueteur“ — in der Regel ein intelligenter Arbeiter,
der das Proletariat genau kennt und sein volles Vertrauen besitzt —
eine Hauptrolle bei der Erforschung der individuellen Verhältnisse
der daheim behandelten Tuberkulösen. Eine erfolgreiche Hilfe für
die Schwindsüchtigen knüpft hier an eine Erforschung der indivi¬
duellen Verhältnisse dieser an. Vielleicht kann der Wohnungs¬
pfleger oder besser die Wohnungspflegerin zu einer Art „ouvrier
enqueteur“ werden. Wir erhoffen von der weitsichtigen, sich auf dem
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220
Kampffmeyer.
Gebiete der Wohnungspflege betätigenden Frau eine tiefgreifende
Hilfsaktion zugunsten der unglücklichen Prostituierten. Werden
wir in dem Lande der öffentlich-rechtlich organisierten
Krankenfürsorge noch Institute erhalten, welche den
der Krankenversicherung nicht unterstellten Venerischen
unserer Großstädte — denn die Venerie ist fast in Deutschland
nur eine Großstadtkrankheit — unentgeltliche Heilbehand¬
lung und ein Krankengeld zum notwendigen Unterhalt
ihres Lebens gewähren, so werden durch umsichtige Woh¬
nungspflegerinnen zahlreiche geschlechtskranke Prosti¬
tuierte der Heilung ihrer Leiden zugeftihrt werden. Eine
entschiedene Schlacht wird damit den Geschlechtskrank¬
heiten überhaupt geschlagen werden.
Das Schlafgängerwesen und die Verbreitung und Heilung
venerischer Leiden.
Unsere eingehende sozial- und sanitätsstatistische Untersuchung
erbrachte den Nachweis, daß das Schlafgängerwesen keinen ent¬
scheidenden Einfluß auf die Verbreitung der Geschlechtskrankheiten
hat. Ein völlig unkontrolliertes Schlafgängerwesen kann aber
immerhin eine Verbreitung der Geschlechtskrankheiten ermöglichen
und zwar:
1. durch Entfesselung eines ungebundenen außerehe¬
lichen Geschlechtsverkehrs;
2. durch eine außergeschlechtliche Übertragung des ve¬
nerischen Giftes auf die eng zusammengedrängten
Schlafgänger durch das Schlafen zu zweien in einem
Bett, durch unsaubere Betten, durch die gemeinsame
Benutzung der Wasch- und ßeinigungsgefäße und
Handtücher.
Die „Deutsche Gesellschaft z. B. d. G.“ würde selbstverständlich
die Ablösung des ganzen Schlafgängerwesens durch die Begründung
kommunaler Ledigenheim enthusiastisch begrüßen. Bedauerlicher¬
weise sind wir noch eine lange, lange Strecke Wegs von diesem
Ziele entfernt. Bisher haben die Stadtverwaltungen auf dem Ge¬
biete der Erbauung von Ledigenheimen so gut wie gar nichts ge¬
leistet. Nur Frankfurt a. M., Charlottenburg usw. nahm die Errich¬
tung solcher Heime in Aussicht In Stuttgart will man vermittelst
der Erfahrungen eines geordneten Wohnungsnachweises die Frage
zu beantworten suchen: „inwieweit die Einrichtung gemeindlicher
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Die Wohnungsmißstände im Prostitutions- and im Schlafg&ngerwesen usw. 221
Logierhäuser nach englischem Muster auch bei uns (in Stuttgart)
Bedürfnis ist" (Gemeinderat Dr. Rettich).
Die gesundheitlichen und sittlichen Übelstände, die durch das
Schlafgängerwesen veranlaßt sind, haben sich den Behörden fast
aller deutschen Einzelstaaten aufgenötigt. Das Vorgehen der Be¬
hörden gegen diese Übelstände war jedoch keineswegs einheitlich.
In einigen Einzelstaaten ging man durch ein besonderes Gesetz
gegen die Mißstände des Schlafstellenwesens vor. Im Großherzog¬
tum Hessen kam es schon am 1. Juli 1893 zu einem Gesetz über
die polizeiliche Beaufsichtigung der Mietswohnungen und Schlaf¬
stellen. Im Jahre 1901/02 veranstaltete man dort Erhebungen
über die Zahl sämtlicher Wohnungen, wobei auch die Schlafstellen
von Dienstboten und Lehrlingen in gesundheitlicher Hinsicht unter¬
sucht wurden. In Darmstadt mußten nach einem eingehenden,
der „D. G. z. B. d. G.“ vorliegenden Bericht der dortigen Stadtver¬
waltung von 801 Schlafstellen für Schlafgänger 3 infolge baulichen
Mangels (an den Wänden feucht), 8 als zu klein, 9 wegen des
Verputzes an Wänden und Decken und wegen starker Verwahr¬
losung beanstandet werden.
In Württemberg ordnete das Königl. Ministerium des Innern
auf Grund des Art 29 a, 32, Ziffer 5 und Art 51 des Polizeistraf¬
gesetzes vom durch Verfügung vom 21. Mai 1901 für
sämtliche württembergische Oberamtsstädte, sowie für die sonstigen
Gemeinden, die mehr als 3000 Einwohner haben, eine besondere
ortspolizeiliche Wohnungsaufsicht an. In Lübeck ist das Schlaf¬
gängerwesen durch da9 Wohnungspflegegesetz vom 7. Juli 1902
geregelt In Bayern haben die Königl. Regierungen auf Grund
des Art. 7 des Polizeistrafgesetzbuches und § 16, Abs. I der KönigL
Allerhöchsten Verordnung vom 10. Februar 1901 Vorschriften
über die Wohnungsaufsicht erlassen. In Preußen ist soeben der
Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Wohnungs¬
verhältnisse veröffentlicht worden. Dieser Entwurf schreibt unter
anderem einen Minimalluftraum von 10 Kubikmeter und 4 Quadrat¬
meter Bodenfläche für jede Person, eine streüge Trennung der
Schlafgänger verschiedenen Geschlechts und eine starke Sonderung
der Schlafräume der Wohnungsgeber von denen der Schlafgänger
usw. vor.
In Preußen erstreckten sich einzelne Polizeiverordnungen
über das Schlafgängerwesen über ganze Regierungsbezirke. Wir
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222
Kampfimeyer.
heben hier nur die Verordnungen der Regierungspräsidenten von
Düsseldorf, Köln, Arnsberg usw. hervor. Meist begnügte man sich
in Preußen mit nur lokalen Polizeivorschriften über das Schlaf¬
gängerwesen.
Die „Deutsche Gesellschaft z. B. d. G.“ muß besonderen Wert
auf die Vermeidung eines ungebunden außerehelichen Ver¬
kehrs unter den Schlafgängern legen. Um diesen sexuellen Ver¬
kehr der Schlafgänger in den Wohn- und Schlafräumen zu ver¬
hindern, verbieten die lokalen Polizeiverordnungen:
1. eine gleichzeitige Aufnahme von Schlafgängem verschiedenen
Geschlechts oder wenigsten
2. ein Zusammen schlafen fremder, nicht blutsverwandter Personen
verschiedenen Geschlechts in den gleichen Schlafräumen.
Zur ersten Gruppe von lokalen Polizeiverordnungen über das
Schlafgängerwesen gehören unter anderem die Polizeiverordnungen
von Charlottenburg, Altona, Graudenz, Göttingen usw.
In der Göttinger Polizeiverordnung über das Schlafstellenwesen
heißt es kurz und bündig: § 4, Absatz 2 und 8. Schlafstellenmieter
verschiedenen Geschlechts dürfen nicht aufgenommen werden. Den
Schlafstellenmietern soll tunlichst ein besonderer von den Wohn-
und Schlafräumen des Vermieters getrennter Raum zugewiesen
werden. Jedenfalls aber dürfen Schlafstellenmieter ihre Räume
nur mit erwachsenen Familienmitgliedern des Vermieters teilen,
welche desselben Geschlechts sind. Zahlreiche Polizeiverordnungen
lassen wie die Charlottenburger Verordnung die gleichzeitige Auf¬
nahme von Personen verschiedenen Geschlechts nur mit beson¬
derer Erlaubnis der Polizei zu. In der Charlottenburger
Polizeiverordnung vom 12. April 1893 heißt es: § 2, Niemand darf
ohne besondere Erlaubnis der Polizeiverwaltung Schlafleute ver¬
schiedenen Geschlechts gleichzeitig bei sich aufnehmen oder be¬
halten, außer wenn sie zueinander im Verhältnis von Eheleuten,
Eltern, Kindern und Geschwistern stehen. Abgesehen hiervon
dürfen Schlafleute, soweit nicht das Verhältnis von Eheleuten, von
Eltern und Kindern oder von Geschwistern vorliegt, nur in solchen
Räumen zum Schlafen untergebracht werden, welche nicht zugleich
für Personen des anderen Geschlechts zum Schlafen dienen.
Die Polizeiverordnung, welche die gleichzeitige Aufnahme von
Personen verschiedenen Geschlechts zulassen, enthalten vielfach
folgende Bestimmungen: „Die Schlafräume dürfen mit den eigenen
Wohn- und Schlafräumen des Quartiergebers oder mit den Räumen
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Die Wohnuagsmißstände im Prostitution*- and im Schlafgängerwesen usw. 223
fQr Schläfer des anderen Geschlechts nicht in offener Verbindung
stehen; vorhandene Verbindungsttiren sind verschlossen zu halten."
Die große Zahl der uns zugesandten Polizeiverordnungen verbietet
nicht grundsätzlich das gleichzeitige Vermieten an Schlafgängem
verschiedenen Geschlechts; und doch müßte dieser Grundsatz
eigentlich strikt zur Durchführung gelangen; denn der
ständige Verkehr von unverheirateten Personen verschiedenen Ge¬
schlechts in den Räumen des Schlafstellenvermieters kann leicht
einen ungebundenen außerehelichen Umgang ermöglichen. Zur
Vermeidung eines ungeregelten außerehelichen Verkehrs in den
Schlafstellen wird man die Vermietung von Schlafstellen nicht viel¬
bestraften, kupplerischen Elementen in die Hände spielen wollen.
Der Schlafstellenvermieter muß durch seinen bisherigen Lebens¬
wandel die Garantie bieten, daß er durch die Vermietung der
Schlafstellen nicht die Unsittlichkeit fördert
Eine außergeschlechtliche Verbreitung der vene¬
rischen Leiden wird im hohen Grade durch die allerengste
körperliche Berührung befördert, zu den so häufig die
Schlafgänger in den überfüllten Schlafstellen genötigt
werden.
Die „Deutsche Gesellschaft z. B. d. G.“ muß sich daher gegen
jede Überfüllung der Schlafstellen auflehnen. Ganz kleine Woh¬
nungen, die den Vermietern nicht einmal 10 cbm Luft einräumen,
sollten ganz von der Aftervermietung ausgeschlossen werden. Eine
dahingehende Vorschrift enthält der Entwurf des Preußischen
Wohnungsgesetzes. Sie findet sich auch in dem Leipziger Regulativ
über Teilvermietungen. Es heißt dort: „§ 1. Als Teilvermietung
im Sinne dieses Regulativs gilt die Vermietung oder Unterver¬
mietung von Teilen einer Wohnung zum Wohnen oder Schlafen
(Schlafgängerei). § 2. In Wohnungen, welche nur aus Stube, Kammer
und Küche bestehen oder noch weniger Räume enthalten, ist Teil¬
vermietung verboten. Dieses Verbot bezieht sich nicht auf Bluts¬
verwandte des Wohnungsinhabers oder seiner Ehefrau, sowie Kinder
unter 14 Jahren. Auch dürfen einzelne Männer, die eine solche
Wohnung allein oder mit Angehörigen desselben Geschlechts inne
haben, Personen desselben Geschlechts in ihren Räumen aufnehmen.
Einzelne ältere Frauen können auch an Männer vermieten. Teil¬
vermietung an Familien mit Kindern ist nur dann gestattet, wenn
jede der die Wohnung teilenden Familien mindestens eine Stube
und Kammer enthält"
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224
Kampffmeyer.
Die uns vorliegenden Polizeiverordnungen lassen sich unge¬
zwungen in folgende drei Hauptgruppen bringen:
1. Die erste Gruppe von Polizei Verordnungen schreibt einen Min¬
destluftraum für jeden Schläfer von 10 cbm vor.
2. Die zweite Gruppe unterscheidet zwischen Erwachsenen und
Kindern. Für die Erwachsenen sieht sie einen Mindestluft¬
raum von 10 cbm und für die Kinder von 5 cbm vor.
3. Die dritte Gruppe von Polizeiverordnungen trifft besonders
Bestimmungen für Erwachsene (10 cbm), für Kinder von 6 bis
14 Jahren, und für Kinder unter 6 Jahren.
Zur ersten Gruppe von Polizei Verordnungen gehören unter
anderem: die Polizeiverordnung betreffend die Beschaffenheit der
Miets Wohnungen und das Schlafstellen wesen von Göttingen, das
Leipziger Regulativ über Teilvermietungen, das Regulativ über das
Schlafstellenwesen in der Stadt Plauen.
Im Leipziger Regulativ über Teilvermietungen heißt
es: „Die Teilvermietung ist in jedem Falle nur an soviel Personen
zulässig, daß auf jede in der betreffenden Wohnung schlafende
Person ohne Unterschied des Alters und ohne Unterschied,
ob sie zur Familie des Haushaltungsvorstandes gehört oder nicht,
mindestens 10 cbm Luft und mindestens 3^ qm Bodenfläche des
Schlafraumes kommen.“ Die Göttinger Polizeiverordnung
„betreffend die Beschaffenheit der Mietswohnungen und das Schlaf¬
stellenwesen“ trifft die Bestimmung: Die Schlafräume müssen für
den Schlafstellenmieter mindestens 3 qm Bodenfläche und 10 cbm
Luftraum bieten. „Das Regulativ über das Schlafstellen wesen der
Stadt Plauen erläßt die Vorschrift: „Jeder Schlafraum... muß so
groß sein, daß auf jede darin untergebrachte Person ein Lufraum
von mindestens 10 cbm entfällt. Die Kasseler Polizeiverord¬
nung bestimmt: „Für jeden Schlafgänger müssen mindestens 3 qm
Bodenfläche und 10 cbm Rauminhalt vorhanden sein. In Plauen
wird für jeden Schlafgänger ein Mindestluftraum von 9 bis 10 cbm
verlangt.
Die zweite Gruppe der Polizeiverordnungen ist durch die Ord¬
nungen der Städte Osnabrück, Gera usw. vertreten. In der Polizei¬
verordnung für Osnabrück heißt es: „Der Schlafraum muß für jeden
Schlafgast mindestens 10 cbm Luft enthalten. Für Kinder unter
10 Jahren genügt die Hälfte dieser Maßes. Die Geraer Polizei¬
verordnung stimmt mit dieser Verordnung fast wörtlich überein.
Die dritte Gruppe der Polizeiverordnungen unterscheidet
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Die Wohnungsmißstände im Prostitutiona- und im Schlafgängerwesen usw. 225
zwischen Erwachsenen, Kindern von 6 bis 14 Jahren und Kindern
unter 6 Jahren. So schreibt die Charlottenburger Polizeiverordnung
vor: „Niemand darf in den von ihm und seinen Familienange¬
hörigen benutzten Wohnräumen anderen gegen Entgelt Schlafstelle
gewähren, wenn nicht die von ihm selbst, seinen Familienange¬
hörigen und den Schlafleuten zu benutzenden Schlafräumlichkeiten
folgende Anforderungen entsprechen:
a) Jeder Schlafraum muß für diejenigen Personen, welche der¬
selbe für die Schlafzeit aufnehmen soll, mindestens drei Quadrat¬
meter Bodenfläche und je zehn Kubikmeter Luftraum auf den„
Kopf enthalten.
Für Kinder unter sechs Jahren genügt ein Drittel, für
Kinder von sechs bis vierzehn Jahren genügen zwei Drittel
jener Maße.“
Eine Reihe von Polizeiverordnungen legt einen noch beschei¬
deneren Maßstab an die Luftmenge, die sie für Erwachsene und
Kinder für notwendig hält Mitunter lassen die Polizeiverordnungen
Ausnahmen von diesen Bestimmungen zu.
Die Polizeiverordnung für Königsberg i. Ostpr. spricht in ihrem
§ 1 folgenden Grundsatz aus: „Alle Wohnungen, in welche gegen
Entgelt Schlafsteller aufgenommen werden, müssen mindestens für
jeden erwachsenen Bewohner sieben und für jeden Bewohner unter
14 Jahren fünf Kubikmeter Luftraum gewähren. Die Polizeiver¬
ordnung betreffend das Schlafstellenwesen für die Stadt Branden¬
burg a. H. sagt in ihrem § 1: „Jeder Schlafraum muß für die¬
jenigen Personen, welche derselbe für die Schlafzeit aufnehmen
soll, mindestens drei Quadratmeter Bodenfläche und je acht Kubik¬
meter Luftraum auf den Kopf enthalten. Für Kinder unter
6 Jahren genügt ein Drittel, für Kinder von 6 bis zu 14 Jahren
genügen zwei Drittel jener Maße.“
Ebne Ausnahme von den Bestimmungen über den Mindestluft¬
raum läßt die Polizeiverordnung über das Schlafstellenwesen in
Frankfurt a. M. zu. Es heißt in dieser Polizei Verordnung: „Aus¬
nahmsweise kann das Königliche Polizeipräsidium auf Widerruf
gestatten, daß 8 cbm Luftraum auf den Kopf bei Erwachsenen
genügen, wenn es sich nicht um Räume zu ebener Erde handelt,
und wenn die Lüftung eine besonders gute ist.“
Die hier aufgestellten Maße für den Mindestluftraum
entsprechen durchaus noch nicht den Forderungen, die
unsere namhaftesten Hygieniker als für die menschliche
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226
Kampffmeyer.
Gesundheit unbedingt geboten erklärt haben. Herr Hans
Freiherr y. d. Goltz schreibt in seiner vortrefflichen Arbeit über
„Die Wohnungsinspektion und ihre Ausgestaltung durch das Reich“
(herausgegeben vom Verein Reichswohnungsgesetz: „Soweit mir
bekannt geworden jetzt schon bestehende oder Verordnungen
hierüber Bestimmungen enthalten, wird dort in den Schlafräumen
für jeden Erwachsenen wenigstens 10, für jedes Kind wenigstens
5 cbm Luftraum gefordert. (Siehe die Polizeiverordnungen der
Gruppe 1, die weitergehen als diese hier von H. v. d. G. erörterten
Bestimmungen). „Die Forderungen der Hygieniker gehen durch¬
weg weiter. Für die Wohnungsinspektion wird es sich empfehlen,
hier wieder einen Unterschied zwischen alten und neu errichteten
Häusern zu machen. Für erstere wird es kaum möglich sein, ein
größeres Mindestmaß wie das oben erwähnte praktisch durchzu¬
setzen, für letzte können dagegen unschwierig höhere Anforderungen
— etwa 15 cbm für den Erwachsenen, 7,5 cbm für das Kind —
gestellt werden.“
Jedenfalls sollte in einem preußischen Wohnungsgesetz nicht
hinter die Maße für den Mindestluftraum zurückgegangen sein, die
bereits in preußischen Polizeiverordnungen festgesetzt sind. Zur
Vorbeugung einer Wohnungsüberfüllung müssen vom hygienischen
Standpunkt 20 cbm Luft für jede erwachsene Person und 10 cbm
für jedes Kind gefordert werden, wie dies auch die Dresdener Woh¬
nungsordnung von 1898 verlangt. Die Überfüllung der Schlaf¬
gängerwohnungen macht übrigens die genaue Beobachtung der
ärztlichen Vorschriften bei Heilung der venerischen Leiden zur
Unmöglichkeit.
Natürlich ist die intimste körperliche Berührung, das Schlafen
der Schlafgänger Leib an Leib, die gefährlichste für die Ver¬
breitung der Geschlechtskrankheiten.
Nun enthalten zahlreiche Polizeiverordnungen nicht einmal
ein Verbot des Zusammenschlafens zweier Personen in einem
Bett. Eine derartige Bestimmung fehlt in den Polizeiverordnungen
von Aachen, Bonn, Wiesbaden, Gleiwitz, Halle, Brandenburg a. H.,
Thorn, Regensburg. Sie befindet sich ebenfalls nicht in dem
hessischen Wohnungsgesetz vom Jahre 1893.
Ganz unzulässig ist es, wenn heute noch Polizeiverordnungen
die Benutzung einer Lagerstätte durch zwei Personen
erlauben. Die Polizeiverordnung von Münster 1892 schreibt nur für
je zwei Kost- und Quartiergänger ein Bett mit Strohsack vor, des-
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Die Wohnungsmißstände im Prostitutions- und im Schlafgängerwesen usw. 227
gleichen die Polizeiordnung von Gera, Mühlhausen i. E. Die Grau-
denzer Polizeiordnung heischt für jede Person über 14 Jahre eine
Lagerstätte. In dem gleichen Paragraphen aber sagt sie: „Für
die bei Bauten beschäftigten Arbeiter kann die Polizeiverwaltung
Ausnahme gestatten“.
In zahlreichen Polizeiverordnungen schreitet man nicht gegen
den gesundheitswidrigen Gebrauch des gleichen Waschgeschirrs und
des gleichen Handtuchs durch zwei Personen ein. Nach den Polizei¬
verordnungen von Osnabrück, Lübeck usw. dürfen Waschgefäße
und Handtücher von je zwei Personen gemeinsam benutzt werden.
Die Polizei Verordnung von Hildesheim erlaubt den gemein¬
schaftlichen Gebrauch eines Waschzeugs durch zwei Personen. Sie
schreibt aber vor, daß jeder Schlafgänger ein Handtuch erhalten
soll. Die gleiche Vorschrift enthalten die Polizeiverordnungen von
Görlitz, Gera.
Nach der Kasseler Polizeiverordnung muß der Schlafstellen¬
vermieter jedem Schlafgänger ein Waschgefäß und ein Handtuch
gewähren.
Es ist bedauerlich, daß in zahlreichen Polizeiverord¬
nungen jede Bestimmung über die Anzahl der Waschge¬
fäße und Handtücher fehlt, die auf jede Person kommen
müssen.
Die häufige Säuberung der Bettwäsche ist ein dringendes Er¬
fordernis zur Vermeidung einer außergeschlechtlichen venerischen
Infektion. Zahlreiche Verordnungen übergehen diesen wichtigen
Punkt der Gesundheitspflege ganz in ihren Bestimmungen. Die
Polizeiverordnungen von Osnabrück, Hildesheim, Frankfurt a. M.,
Erfurt, Gera usw. schreiben einen vierwöchentlichen Wechsel
der Bettwäsche vor, die Polizeiverordnungen von München, Pots¬
dameinen sechswöchentlichen, und diePolizeiverordnungen
von Graudenz, Görlitz usw. einen zweimonatlichen Wechsel
der Bettwäsche.
Die tägliche Lüftung der Schlafstelle und die tägliche gründ¬
liche Reinigung dieser ist vielfach in den Polizeiverordnungen vor¬
gesehen.
Eine grundlegende Frage für die Eindämmung der venerischen
Krankheiten ist die Frage der Anzeigepflicht der Geschlechtskrank¬
heiten der Schlafgänger durch die Quartiergeber. Das Plauensche
Regulativ für das Schlafgängerwesen befiehlt dem Quartiergeber
den Ausbruch einer ansteckenden Krankheit sofort der Polizei-
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228
Kampffmeyer.
behörde mitzuteilen. Im Regulativ heißt es dann weiter: „Als an¬
steckende Krankheiten im Sinne des Regulativs sind auzusehen:
Typhus, Syphilis, Krätze, Scharlach, Diphtheritis, Masern und
Pocken“. In den Polizeiverordnungen für Plauen, Breslau, Zwickau,
Graudenz usw. ist die Aufnahme der mit ansteckenden Krank¬
heiten behafteten Schlafgängern verboten und die Anzeigepflicht
des Quartiergebers bei dem Ausbruch ansteckender Krankheiten
festgelegt. Wichtig erscheint uns, daß der Quartiergeber den
venerisch erkrankten Schlafgänger sofort der ärztlichen
Behandlung zuführt, und daß es dann in das Ermessen des
Arztes gestellt wird, ob der Venerische daheim oder im Kranken¬
hause behandelt werden soll.
Die heutigen Polizeiverordnungen zeigen durchaus
keine Einheitlichkeit in der Bekämpfung der dem heutigen
Schlafgängerwesen anhaftenden hygienischen und sitt¬
lichen Schäden. Es müssen daher die vom Standpunkt
der Hygiene und Sittlichkeit gebotenen Forderungen in
der Form eines allgemein gültigen Wohnungsgesetzes
überall durchgeführt werden. Die strikte Durchführung
der aufgestellten Forderungen ist ferner an eine ständig
funktionierende Wohnungspflege geknüpft
Im Interesse der Bekämpfung der ansteckenden Krankheiten,
namentlich der Geschlechtskrankheiten, ist die Aufnahme folgender
Bestimmungen in ein allgemeines Wohnungsgesetz zu fordern:
„Wohnungsordnungen.“
Chambregarnisten, Schlafgänger.
Die Aufnahme dritter nicht zur Familie gehöriger Personen
gegen Entgelt ist in jedem Ealle nur an soviel Personen zulässig,
daß auf jede in der betreffenden Wohnung schlafende erwachsene
Person 20 cbm Luft kommt.
Niemand darf Schlafleute verschiedenen Geschlechts gleich¬
zeitig bei sich aufhehmen oder behalten, außer wenn sie zueinander
im Verhältnis von Eheleuten, Eltern, Kindern und Geschwistern
stehen.
Personen, die wegen eines Verbrechens oder Vergehens gegen
die Sittlichkeit bestraft sind oder unter Polizeiaufsicht stehen, ist
das Halten von Sohlafleuten untersagt, ebenso den Personen, welche
die Annahme rechtfertigen, daß das Mietsverhältnis zur Förderung
der Unsittlichkeit gemißbraucht wird.
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Die Wohnungsmißst&ode im Prostitations- und im Schlafg&ngerwesen uaw. 229
Jeder, der Schlafgänger aufnimmt, ist verpflichtet, dafür Sorge
zu tragen, daß
1. jeder Person ein besonderes Bett, ein besonderes Wasch- und
Trinkgeschirr, ein Spucknapf und ein besonderes Handtuch zur
Verfügung gestellt wird. Die Geschirre sind täglich sorgfältig zu
reinigen. Die Handtücher sind mindestens zweimal wöchentlich
zu erneuern. Die Bettwäsche ist mindestens aller vier Wochen
zu wechseln;
2. die Schlafstellen täglich gereinigt, gelüftet und gescheuert
werden;
3. die angeführten Vorschriften über das Schlafgangerwesen sin
einer in die Augen fallenden Stelle angeschlagen werden.
Personen, die an ansteckenden Krankheiten (Typhus, Syphilis,
Lepra, Krätze, Cholera, Scharlach, Diphtherie, Masern, Pocken)
leiden, dürfen als Schlafganger nicht aufgenommen werden. Er¬
kranken Schlafgänger an diesen Krankheiten, so müssen sie durch
ihre Quartiergeber unverzüglich zur Inanspruchnahme ärztlicher
Hilfe veranlaßt und auf Wunsch des Arztes sofort einem Kranken¬
haus überwiesen werden. Diese Bestimmung beeinflußt in keiner
Weise die durch Gesetz, betreffend die Bekämpfung gemeingefähr¬
licher Krankheiten, gebotene Anzeigepflicht der Quartiergeber.
Zelt«ehr. f. Bekämpfung d. Geschlecht« kr ankh. 111.
17
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Über sexuelle Abstinenz.
Von
I L. Loewenfeld (München).
Die verdienstvollen Bestrebungen der deutschen Gesellschaft
zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten haben der Frage der
sexuellen Abstinenz neuerlich besonderes Interesse verliehen und
bereits zu einer Diskussion geführt, in welcher die von der Gesell¬
schaft in ihrem Merkblatte vertretenen Ansichten angegriffen
wurden. 1 ) Ich habe mich bereits in meiner Schrift „Sexualleben
und Nervenleiden“ (3. Aufl. 1903) eingehend mit dem Einflüsse der
sexuellen Abstinenz auf den Nerven- und Geisteszustand bei beiden
Geschlechtern beschäftigt und es ist mir nicht bekannt geworden,
daß seitdem meine Ausführungen von irgend einer Seite widerlegt,
oder denselben etwas wesentliches Neues hinzugefügt worden wäre.
Die Mitteilungen Erbs in dieser Zeitschrift stimmen in der
Hauptsache in sehr erfreulicher Weise mit dem überein, was von
mir (1. c.) bezüglich der nervösen und psychischen Folgen der
sexuellen Abstinenz angeführt wurde, bestätigten also lediglich
meine Beobachtungen. Wenn ich trotzdem in betreff der sexuellen
Abstinenz, einer Aufforderung des verehrten Vorsitzenden der
deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten
entsprechend, mir hier das Wort zu ergreifen gestatte, so geschieht
es nicht, weil sich meine Auffassung der Angelegenheit in der
Zwischenzeit geändert hat, sondern weil die Betrachtung der Ab¬
stinenz als Mittel zur Verhütung von Geschlechtskrankheiten, wie
sie durch den Zweck dieser Zeitschrift geboten ist, die Hervor¬
hebung mancher Punkte nötig macht, welche in der erwähnten
Schrift nur nebenher oder überhaupt nicht berührt werden konnten.
*) S. W. Hammer: Geschlechtliche Enthaltsamkeit und Gesundheits¬
störung. Monatsschr. f. Hamkrankheiten und sexuelle Hygiene. 1904, Heft 5,
S. 214.
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Über sexuelle Abstinenz.
231
Mit Rücksicht auf den eben erwähnten Umstand und meine per¬
sönlichen Erfahrungen werde ich im folgenden lediglich die
sexuelle Abstinenz bei Männern und zwar der gebildeten Stände
in Betracht ziehen. Ich unterschätze, wie ich gezeigt zu haben
glaube, die Folgen der sexuellen Abstinenz bei dem weiblichen
Geschlechte keineswegs; allein als Mittel zur Verhütung von
Geschlechtskrankheiten kommt die Abstinenz beim Weibe kaum in
Betracht, da für das Weib die Furcht vor den natürlichen Folgen
des außerehelichen Geschlechtsverkehrs ungleich mehr Bedeutung
für die sexuelle Abstinenz besitzt als die Furcht vor Infektion.
Über die Verbreitung der Abstinenz in den unteren Volksschichten,
speziell den Arbeiterkreisen, und ihre gesundheitlichen Folgen be¬
sitze ich andererseits keine genügende Erfahrung. 1 ) Ich habe seit
Jahren dem EinHusse der sexuellen Abstinenz, namentlich infolge
der von Freud gegebenen Anregungen, ganz besondere Aufmerk¬
samkeit gewidmet, allein mein Beobachtungsmaterial rekrutiert sich
weit vorwaltend aus Angehörigen des Mittelstandes und den ge¬
bildeten Freisen, die ja bei uns wenigstens vorzugsweise den Nerven¬
arzt in Anspruch nehmen.
Gehen wir zunächst von der Annahme aus, daß die völlige
Geschlechtsreife beim Manne mit dem 18. Lebensjahre eintritt, bei
den für uns in Betracht kommenden Bevölkerungskreisen die Verehe¬
lichung dagegen im Durchschnitte erst mit dem 30.—32. Lebens¬
jahre stattfindet, so haben wir einen Zeitraum von 12—14 Jahren
vor uns, während dessen sich der Sexualtrieb in den einzelnen
Fällen mehr oder minder geltend macht, jedoch eine Befriedigung
durch ehelichen Verkehr nicht finden kann. 2 )
Sehen wir nun zu, wie sich die vita sexualis während dieser
Frist bei den in Frage stehenden männlichen Individuen gestaltet,
*) Ein hervorragender, auswärtiger Fachgenosse, mit dem ich über die
Angelegenheit sprach, erklärte mir ebenfalls, daß seine Erfahrungen ihm nicht
ermöglichen, über die Verbreitung und Wirkungen der sexuellen Abstinenz
in den unteren Volksschichten ein Urteil abzugeben.
*) Man würde irren, wenn man die derzeitige Verbreitung der Geschlechts-
krankbeiten mit diesen Tatsachen ohne weiteres in Verbindung bringen
wollte. Die Fälle sind nämlich nicht selten, daß Ehemänner durch außer¬
ehelichen Verkehr sich infizieren, noch häufiger dagegen die Fälle, in welchen
Individuen, welche ein Verhältnis zu einer weiblichen Person unterhalten
und dadurch Gelegenheit zu regelmäßigen und gefahrlosen sexuellen Verkehr
haben, durch Umgang mit Prostituierten Geschlechtskrankheiten acquirieren
und diese gelegentlich auf ihre Geliebten usw. übertragen.
17 *
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232
Loewenfeld.
so stoßen wir auf die Tatsache, daß die Abstinenten den Nicht¬
abstinenten gegenüber weit in der Minderzahl sind. Auch wenn
ich zu den Abstinenten jene Individuen zähle, welche sexuellen
Verkehr nur so selten pflegen, daß derselbe für die Befriedigung
ihrer sexuellen Bedürfnisse nicht in Betracht kommt, ändert sich
das Verhältnis nicht wesentlich. Unter den Abstinenten ist noch
eine Gruppe auszuscheiden; es sind dies diejenigen, welche der
Onanie in sehr erheblichem Maße sich ergeben, und unter diesen
finden sich manche, welche durch ihre schlimmen Gewohnheiten
ihre Potentia coeundi in einer Weise geschädigt haben, daß sie
auf sexuellen Verkehr verzichten müssen. Für die außerordentliche
Verbreitung der Onanie ist dagegen nach meinen Erfahrungen die
sexuelle Abstinenz keineswegs verantwortlich zu machen, wie dies
Hammer in jüngster Zeit behauptet hat. Es geht dies schon
aus dem Umstande hervor, daß die Masturbation in der über¬
wiegenden Zahl der Fälle vor dem Eintritt der vollen Geschlechts¬
reife begonnen wird; also zu einer Zeit, in welcher von aus¬
gesprochenen geschlechtlichen Bedürfnissen noch nicht die Rede
sein kann, und daß häufig die Masturbation zu Anfang der
zwanziger Jahre oder noch früher wieder aufgegehen oder sehr
eingeschränkt wird. Letzteres Verhalten ist nicht lediglich die
Folge des Übergangs zum sexuellen Verkehr^ sondern auch häufig
durch die Erkenntnis der Schädlichkeit und moralischen Verwerf¬
lichkeit des Mißbrauches bedingt.
Die Abstinenten, welche der Masturbation überhaupt nicht
oder nur in geringem Maße huldigen, lassen sich, soweit der Ein¬
fluß ihres sexuellen Verhaltens auf den Nerven- und Geisteszustand
in Betracht kommt, in 4 Gruppen sondern:
a) in solche, welche keinen manifesten gesundheitlichen Nach¬
teil erfahren,
b) solche, bei welchen die Abstinenz mehr oder weniger erheb¬
liche Molesten nach sich zieht,
c) solche, die unter dem Einfluß der Abstinenz in ausgesprochene
Krankheitszustände verfallen,
d) solche, bei welchen die sexuelle Triebrichtung durch die
Abstinenz beeinflußt wird.
Was zunächst die erste Gruppe anbelangt, so könnte man
daran denken, daß es sich hier um Individuen handelt, bei welchen
der Sexualtrieb infolge angeborener Veranlagung sehr gering,
d. h. mangelhaft entwickelt ist. Einer derartigen Auffassung
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Über sexuelle Abstinenz.
233
huldigte schon Lallemand. 1 ) Er betrachtete die anhaltende
Durchführung der Abstinenz ohne besondere Schwierigkeiten als
ein schlimmes Zeichen für die Potenz. 2 ) Wenn ich meine eigenen
Beobachtungen zu Rate ziehe, so trifft die erwähnte Annahme nur
für einen Teil der Fälle zu. Die Individuen mit mangelhaftem
Sexualtrieb verhalten sich gewöhnlich indifferent gegen das weib¬
liche Geschlecht — die ausgesprochenen Weiberfeinde gehören
wohl zum größten Teile hierher — und bekunden im Falle der
Verheiratung den bei ihnen bestehenden Mangel dadurch, daß sie
die eheliche Pflicht nur sehr selten leisten. Unter den Männern
meiner Beobachtung, die vor ihrer Verheiratung abstinent lebten,
befinden sich jedoch auch solche, die weder vor, noch nach der
Eheschließung ein für mangelhafte Entwicklung des Sexualtriebes
sprechendes Verhalten zeigten und trotzdem die Abstinenz ohne
Beschwerden ertrugen. Wir werden ein Verständnis für diese Tat¬
sache gewinnen, wenn wir die Umstände in Betracht ziehen, welche
die Intensität der Libido und damit deren Einwirkung auf das
Nervensystem beeinflussen. Hier sei nur bemerkt, daß es sich hier¬
bei um Männer von sehr nüchterner, arbeitsamer Lebensweise
handelte, welche durch ihre Berufstätigkeit ganz und gar in An¬
spruch genommen wurden.
In der zweiten Gruppe von Fällen handelt es sich um leichtere
und gewöhnlich transitorische nervöse und psychische Störungen,
zumeist um eine gewisse sexuelle Hyperästhesie, infolge welcher
sich Gedanken sexuellen Inhalts in unliebsamer Weise in den
Vordergrund drängen und zeitweilig die geistige Arbeit stören,
Zustände allgemeiner Erregtheit, vermehrte Pollutionen, lästige
Gefühle im Bereiche der Samenstränge, der Hoden und des Dammes
(Samenkoller).
In der dritten Gruppe begegnen wir zumeist ausgesprochenen
zerebrasthenischen und myelasthenischen Zuständen, zum Teil mit
psychopathischen Begleiterscheinungen, auch der Angstneurose.
Kopfbeschwerden, Verringerung oder Aufhebung der geistigen
Arbeitskraft, sexuelle Hyperästhesie, gemütliche Depression, Zwangs¬
vorstellungen und Zwangsempfindungen, Angstzustände, zum Teil
*) Lallemand: Über unwillkürliche Samen Verluste, deutsche Ausgabe
von Ofterdinger 1841.
*) Wörtlich bemerkte er: „Wenn es so leicht ist, sich so lange Zeit gut
aufzuführen, so ist dies stets ein schlimmes Zeichen für die männliche
Potenz.“
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234
Loewenfeld.
vom Charakter der Phobien, Hallucinationen sind die häufigsten
Erscheinungen. Ausgesprochene Psychosen bilden dagegen sehr
seltene Vorkommnisse.
Ich verzichte hier darauf, klinische Beobachtungen als Belege
mitzuteilen. In meinem oben zitierten Werke finden sich solche
in größerer Anzahl angeführt; in der übrigen Literatur mangelt
es ebenfalls nicht an bemerkenswerten Fällen. Mehrere hierher
gehörige Beobachtungen finden sich in dem Aufsatze Erbs mit¬
geteilt, und Marcuse 1 ) hat in einer vor kurzem veröffentlichten
Broschüre aus der Literatur eine ziemlich umfängliche Reihe von
Erfahrungen zusammengestellt, die hier in Betracht kommen.
Seitens derjenigen, welche die Abstinenz für völlig harmlos erklären,
mag, wie dies schon früher geschah, noch immer der Einwand
erhoben werden, daß die auf sexuelle Abstinenz zurückgeführten
nervösen und psychischen Störungen durch andere ätiologische
Momente bedingt sind. Hieraus erwächst für uns die Verpflichtung,
die Ätiologie der einzelnen Fälle, in welchen sexuelle Abstinenz
eine Rolle spielt, nach allen Seiten zu erforschen und darzulegen,
wie die Abstinenz eine pathogene Bedeutung erlangen kann. Was
den ersteren Umstand anbelangt, so habe ich, soweit meine eigenen
Beobachtungen in Betracht kommen, die Ätiologie der einzelnen
Fälle möglichst klarzustellen versucht und ich bin dabei zu der
Anschauung gelangt, daß die Abstinenz nur unter gewissen Bedin¬
gungen die Bedeutung eines pathogenen Faktors erlangen kann.
Ich will nicht leugnen, daß auch bei gesunden, nicht erblich be¬
lasteten Individuen die Abstinenz zeitweilig zu einer schweren
Bürde wird, namentlich bei jungen Männern mit regem Geschlechts¬
triebe; allein es handelt sich dabei nach meinen Erfahrungen
immer nur um transitorische Störungen, deren Auftreten durch
besondere die Libido steigernde Momente bedingt wird und mit
denen die betreffenden durch Anwendung hygienischer Maßnahmen
fertig werden. In den Fällen, in welchen unter dem Einflüsse
der Abstinenz andauernde krankhafte Zustände auftreten, liegt
dagegen in der Regel eine Konstitutionsanomalie vor, die angeborene
oder erworbene neuro-psychopathische Disposition. Ganz besonders
gilt dies für die Angstneurose. Man könnte zunächst daran denken,
daß die Intensität und Ausdehnung der nervösen und psychischen
Folgen der Abstinenz von der Stärke des Sexualtriebes abhängt
*) M. Marcuse: Darf der Arzt zum außerehelichen Geschlechtsverkehr
raten? Leipzig 1904.
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Über sexuelle Abstinenz.
235
In der Tat werden ja auch die schwersten Störungen in jenen
Fällen beobachtet, in welchen in Verbindung mit neuro-psycho¬
pathischer Veranlagung exzessive (krankhaft gesteigerte) Entwicklung
des Sexualtriebs besteht. Die Intensität der vorhandenen Libido
kann jedoch die Stärke und Art der in den einzelnen Fällen unter
dem Einflüsse der Abstinenz auftretenden Störungen nicht genügend
erklären. Wir haben es hier, wenn wir von den Angstzuständen
zunächst absehen, mit einer etwas komplizierten Ätiologie zu tun,
deren Klarstellung uns nötigt, auf die Momente näher einzugehen,
durch welche die verschiedene Entwicklung des Sexualtriebs bei
den Einzelindividuen und den Rassen bedingt wird. Die Physiologie
gibt uns über diese Punkte noch keinerlei Auskunft. Wir sind
daher genötigt, uns an das zu halten, was uns die klinische Be¬
obachtung und das Alltagsleben lehrt
Wenn ich die mir zu Gebote stehenden Erfahrungen berück¬
sichtige, so hängt die Stärke des Sexualtriebs von zwei Momenten ab:
1. Der Erregbarkeit der kortikalen Zentren der sexuellen
Funktionen. Daß in dieser Beziehung bedeutende, auf angeborener
Veranlagung beruhende Unterschiede Vorkommen, hierfür sprechen
insbesondere die Fälle, in welchen schon im Kindesalter, unab¬
hängig von Onanie und peripheren Reizungen irgendwelcher Art,
Zustände sexueller Erregung auftreten. In einzelnen Fällen meiner
Beobachtung kam es zu solchen Erregungen bereits im 5. oder
6. Lebensjahre beim Anblicke von Vorgängen, die auf normale
Kinder keinerlei Eindrücke machen. Die Bedeutung des kortikalen
Momentes erhellt auch recht deutlich aus der Beeinflussung des
Sexualtriebs durch krankhafte Gehirnzustände und das Allgemein¬
verhalten des Nervensystems.
Den zweiten für die Intensität des Sexualtriebs in Betracht
kommenden Faktor bildet das Quantum eines wahrscheinlich vor¬
waltend von den Keimdrüsen gelieferten Stoffes, welchen ich als
libidogenen Stoff bezeichnen möchte. Für den Mann liegt die An¬
nahme nahe, daß dieser Stoff in größerer Menge in der Sperma¬
flüssigkeit enthalten und mit dieser in den Samenblasen an¬
gesammelt wird. Bei dieser Annahme könnte man die bei Ab¬
stinenz auftretenden nervösen Störungen auf Resorption libi-
dogener Substanz, das ist eine Art Autointoxikation zurtickführen,
wie dies z. B. von Jastrowitz 1 ) versucht wurde. Manche Tat-
*) M. Jastrowitz: Einiges über das Physiologische und über die
außergewöhnlichen Handlungen im Liebesieben der Menschen. Leipzig 1904.
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236
Loewenfeld.
Sachen sprechen jedoch dafür, daß die libidogene Substanz auch
direkt von den Keijndrüsen und wahrscheinlich auch von anderen
Bildungsstätten aus ins Blut gelangt. Hierher gehören die Fälle,
in welchen durch in kurzen Zwischenräumen aufeinander folgende
Geschlechtsakte die Libido nicht erheblich herabgesetzt wird. In
derartigen Fällen ist es wenigstens sehr wahrscheinlich, daß die
Anhäufung libidogener Substanz im Blute von der Spermaproduktion
unabhängig ist In gleichem Sinne spricht die Beobachtung, daß
nach der Kastration bei Männern wie bei Frauen ein recht aus¬
gesprochener Geschlechtstrieb verbleiben kann. Die bisherigen Er¬
fahrungen scheinen mir darauf hinzuweisen, daß bei bedeutender
Entwicklung des Sexualtriebes beständig gewisse Mengen libido¬
gener Substanz von den Keimdrüsen und eventuell anderen Bil¬
dungsstätten aus in das Blut übergehen, während bei geringerer
Entwicklung des Triebes erst nach einer gewissen Anhäufung des
Stoffes in den Samenblasen es zum Übertritt desselben in das
Blut durch Resorption kommt Beim weiblichen Geschlechte kann
nur ein direkter Übergang libidogener Substanz von den Keim¬
drüsen und den etwaigen anderen Bildungsstätten ins Blut in
Frage kommen. 1 )
Die Erregungen, welche die libidogene Substanz in den Zen¬
tralorganen auslöst, können, wenn keine Ausgleichung durch sexuelle
Akte stattfindet, unter günstigen Verhältnissen auf die Bahnen
geistiger oder körperlicher Tätigkeit übergeleitet und dergestalt
verarbeitet werden. In dieser Weise kann die Erregung der Libido
sich sogar nützlich erweisen, indem sie die Energie und Tatkraft
des Individuums anfacht und unterhält Auf der anderen Seite
liegt es nahe, daß ein Übermaß von libidonöser Erregung, welches
einer vollständigen Verarbeitung in neutralen Bahnen nicht zu¬
gänglich ist, Schaden verursacht In der großen Mehrzahl der
Fälle wirkt jedoch die Libido bei anhaltender Abstinenz, wenn wir
von den Angstzuständen absehen, nicht direkt schädigend, sondern
indirekt Es geschieht dies dadurch, daß sie zu erschöpfenden
geistigen Anstrengungen, welche durch die auf Überwindung der
Sinnlichkeit gerichteten Kämpfe veranlaßt sind, und damit zusammen¬
hängenden depressiven Erregungen führt Es handelt sich hier
‘) Mit der Bezeichnung „libidogene Substanz“ möchte ich nicht die
Vorstellung erwecken, daß die betreffenden Umsatzprodukte im Haushalte des
Organismus lediglich der Libidoerregung dienen. Diese mag auch nur eine
Nebenwirkung derselben darstellen.
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Über sexuelle Abstinenz.
287
also um intellektuelle und emotionelle Erschöpfung des Gehirns,
seltener um spinale Folgezustände. Je widerstandsfähiger das
Nervensystem an sich ist und je mehr die Aufmerksamkeit des
Individuums durch berufliche (geistige oder körperliche) Tätigkeit
in Anspruch genommen wird, um so leichter wird die Abstinenz
im allgemeinen ertragen. Auf der anderen Seite sehen wir, daß
alle Momente, welche schwächend auf das Nervensystem wirken,
insbesondere diejenigen, welche zugleich die sexuelle Reizbarkeit
erhöhen (Masturbation, Exzesse in venere), auch das Ertragen der
Abstinenz erschweren. Der Entstehungsmechanismus der unter
dem Einflüsse der Abstinenz sich entwickelnden nervösen und
psychischen Störungen ist indeß in manchen Fällen komplizierter
als im vorstehenden angedeutet wurde. Hierher gehören vor allem
die Fälle, in welchen die Abstinenz bei erheblicher Libido nach
schweren inneren Kämpfen immer wieder zu exzessiver Onanie
führt, wobei sich zu der physisch nervösen Schädigung die psy¬
chisch-moralische durch gewaltsame geistige Ablenkungvsersuche,
Vorwürfe, Scham usw. gesellt.
Bei dem Auftreten von Angstzuständen unter dem Elinflusse
der Abstinenz ist wahrscheinlich die rein chemische Wirkung der
libidogenen Substanz auf die Zentralorgane von Einfluß. Bezüglich
der besonderen Umstände, unter welchen die Abstinenz bei Männern
zu Angstzuständen führt, habe ich schon anderen Orts (Sexualleben
und Nervenleiden 8. Aufl. S. 49) darauf hingewiesen, daß hierbei
neben neuropathischer Veranlagung seltenes Auftreten von Pollu¬
tionen die Hauptrolle spielt Meine inzwischen gesammelten wei¬
teren Erfahrungen bestätigen diese Annahme. Von besonderem
Interesse sind meine Beobachtungen bezüglich der Wirkung relativer
Abstinenz, auf die ich ebenfalls schon a. a. 0. hingewiesen habe.
Es kommt häufig vor, daß Individuen, welche an Angstzuständen
mit besonderem Hervortreten gewisser somatischer Begleiterschei¬
nungen (Funktionsstörungen des Herzens usw.) leiden, den gewohnten
geschlechtlichen Verkehr bedeutend einschränken oder zeitweilig
ganz aufgeben, weil sie glauben, daß ihnen derselbe direkt schade
oder die Zurückhaltung für sie nützlicher sei. Die erwarteten
günstigen Wirkungen dieser relativen Abstinenz bleiben jedoch
gewöhnlich aus, vielmehr nehmen unter dem Einflüsse derselben
die Angstzustände an Häufigkeit und Intensität zu.
Wenn wir nun noch zu den Störungen im Bereiche der
sexuellen Funktionen übergehen, welche sich mit der sexuellen
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288
Loewenfeld.
Abstinenz in Zusammenhang bringen lassen, muß ich vor allem
bemerken, daß Belästigung durch häufige Pollutionen bei Absti¬
nenten, die nicht durch onanistische Gepflogenheiten oder sexuelle
Exzesse eine reizbare Schwäche des Centrum genito-spinale akqui¬
riert haben, nur selten und gewöhnlich vorübergehend beobachtet
wird. Daß es dabei gelegentlich auch zu Tagespollutionen kommen
kann, zeigt ein von mir a. a. 0. S. 44 mitgeteilter Fall. In jüngster
Zeit wurde ich von einem 29 Jahre alten, kräftig gebauten, den
gebildeten Ständen angehörigen Herrn konsultiert, welcher, nach¬
dem ihm die Unannehmlichkeit einer präzipitierten Ejakulation
beim Coitus vor 3 Jahren widerfahren war, seit dieser Zeit
sich völlige sexuelle Abstinenz auferlegt hatte, da er eine Wieder¬
holung des erwähnten Malheurs befürchtete. Unter dem Einflüsse
dieser freiwillig unfreiwilligen Enthaltsamkeit verschlechterte sich
sein Nervenzustand; er wurde sehr reizbar, schreckhaft; allmählig
stellten sich auch unangenehme Sensationen in der Unterbauch¬
gegend und in den Hoden ein. Anfänglich kam es auch zu häu¬
tigem Auftreten von Pollutionen, die sich jedoch allmählig wieder
auf ein normales Maß (etwa alle 14 Tage) reduzierten. Außerdem
erwähnte Patient, daß er bei Erektionen Gefühle habe, als ob es
zu einer Pollution komme und früher auch solche einige Male
eintraten und daß in den letzten Jahren sich mitunter Mictions-
spermatorrhoe zeigte. Der in Frage stehende Patient ist neuro-
pathisch nur wenig belastet (Mutter nervös), hat Masturbation vom
15. bis zum 20. Lebensjahre, jedoch nur selten, geübt und keine
Exzesse in venere begangen. Vor 8 Jahren litt er an einer
Gonorrhoe, welche eine Striktur hinterließ. Diese wurde schon
vor mehreren Jahren durch Dehnung beseitigt.
Spermatorrhoe als Folge sexueller Abstinenz ist nach meinen
Erfahrungen ein selteneres Vorkommnis als Poll, nimiae. Die
Mehrzahl der Fälle meiner Beobachtung betraf verheirathete Männer,
welche wegen chronischer Leiden seit längerer Zeit den ehelichen
Verkehr aufgegeben hatten. In diesen Fällen spielte neben der
sexuellen Abstinenz offenbar auch eine gewisse konstitutionelle
Schwäche eine Rolle, welche die Ductus ejaculatorii nicht unbe¬
teiligt gelassen hatte.
Was den Einfluß der Abstinenz auf die sexuelle Potenz an¬
belangt, so liegt es nahe, daß diese durch eine viele Jahre hin¬
durch fortgesetzte Enthaltsamkeit herabgesetzt werden mag. Es
ist dies die einfache und unmittelbare Folge der Nichtbetätigung
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Über sexuelle Abstinenz.
239
der sexuellen Funktion. In den meisten Fällen sind jedoch in
den Lebensverhältnissen der Abstinenten Umstände gegeben, welche
dem schädlichen Einflüsse der sexuellen Untätigkeit entgegenwirken
(Verkehr mit weiblichen Personen, Lektüre, Kunstgenüsse usw.).
De facto kommt daher eine irgendwie bedeutende Schädigung der
Potenz durch längere Abstinenz jedenfalls nur äußerst selten zu¬
stande. Die Herabsetzung des sexuellen Vermögens, die bei Unter¬
brechung des gewohnten geschlechtlichen Verkehrs (für Monate
oder Jahre) zuweilen beobachtet wird, gleicht sich bei Wiederauf¬
nahme sexueller Beziehungen gewöhnlich alsbald wieder aus. Selbst
an Jahren vorgeschrittene Männer können, wie von Fürbringer
und mir mitgeteilte Erfahrungen zeigen, viele Jahre die Abstinenz
ohne Benachteiligung der Potenz ertragen. Unter den ungünstigen
Folgen, welche der sexuellen Abstinenz zugeschrieben werden, wird
auch der Umstand angeführt, daß dieselbe die Entwicklung sexueller
Perversitäten, speziell homosexuelle Triebe, verursachen oder be¬
günstigen soll. Diese Behauptung entbehrt nicht ganz der Be¬
gründung. Unter den Individuen, welche zu den Konträrsexualen
gezählt werden, ist das psychosexuale Zwittertum nicht spärlich
vertreten. Bei den betreffenden Individuen bestehen neben homo¬
sexuellen Neigungen normale Gefühle für das weibliche Geschlecht,
so daß sie auch ohne besondere Schwierigkeiten den normalen
sexuellen Verkehr pflegen können. Sind derartige Individuen ge¬
nötigt, längere Zeit auf sexuellen Umgang zu verzichten, so machen
sich bei ihnen die homosexuellen Neigungen stärker bemerklich. 1 )
Daß man aber, wie Marcuse glaubt, die Abstinenz gelegentlich
auch als Ursache homosexueller Triebe anzusehen habe, kann nicht
ohne weiteres zugegeben werden. Die Abstinenz allein führt bei
sexuell normal Veranlagten nie zur Entwicklung homosexueller
Neigungen. Die Häufigkeit dieser Perversität bei Gefängnisinsassen,
Internatszöglingen usw. ist nicht lediglich auf die erzwungene
sexuelle Abstinenz, sondern auch auf das ausschließliche Zusammen¬
leben mit Angehörigen des gleichen Geschlechtes oder psychische
Infektion, also eine Kombination ätiologischer Faktoren zurück¬
zuführen. Ich habe keinen Fall gesehen, in dem bei Mangel letzt¬
genannter Momente die Abstinenz bei Männern zur Entwicklung
homosexueller Triebe geführt hätte.
*) Eineu hierher gehörigen Fall habe ich in „Sexualleben und Nerven-
leiden“ 3. Aufl. S. 232 mitgeteilt.
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240
Loewenfeld.
Man könnte nun noch fragen, ob die sexaelle Abstinenz, wenn
sie auch in einer Reihe von Fällen zu keiner manifesten Schädigung
des physischen und psychischen Befindens führt, nicht dennoch
gesundheitliche Nachteile verursacht, die unter gewöhnlichen Ver¬
hältnissen latent bleiben und erst bei Einwirkung von Gelegenheits¬
ursachen sich kund geben. Man könnte auch fragen, ob denn die
mit der Abstinenz verknüpfte Schmälerung des Lebensgenusses und
der Lebensfreude für das Individuum gleichgültig ist. Zugunsten
der Annahme, daß die Abstinenz, auch wenn dieselbe keine aus¬
gesprochene Gesundheitsschädigung bedingt, dennoch keinen für
das leibliche Wohl gleich gütigen Faktor bildet, kann man die
Veränderungen anführen, welche bei manchen Männern in der
ersten Zeit des ehelichen Lebens beobachtet werden: Besserung
des Aussehens und Zunahme der Körperfülle. Hammer hat auf
zwei Bildnisse Luthers vor und nach seiner Verheiratung hin¬
gewiesen, welche diese Veränderungen recht deutlich erkennen
lassen. Ich habe ebenfalls derartige Wandlungen des Aussehens
und der Allgemeinemährung in der ersten Zeit nach der Ver¬
heiratung beobachtet, jedoch auch bei Männern, welche als Jung¬
gesellen keineswegs der sexuellen Abstinenz ergeben waren, und
andererseits bei manchen Neuverheirateten Änderungen gegenteüiger
Natur, Verschlechterung des Aussehens und Abnahme der Körper¬
fülle gesehen. Es spielen daher wohl bei den günstigen Habitus¬
veränderungen Neuvermählter neben der sexuellen Befriedigung
noch andere Momente mit Man darf auch, wenn man die Folgen
der Abstinenz für die Allgemeinernährung in Betracht ziehen will,
die Tatsache nicht unberücksichtigt lassen, daß ein großer Teil
des katholischen Klerus in Süddeutschland wenigstens sich durch
Korpulenz auszeichnet, weshalb die Annahme kaum abzuweisen
ist, daß die Abstinenz unter gewissen Umständen wenigstens den
Fettansatz fordert. Wenn ich die gesamten zurzeit mir vor¬
liegenden Erfahrungen überblicke, so kann ich nicht glauben, daß
die Abstinenz mit Notwendigkeit einen wenn auch nur latenten
gesundheitsschädigenden Einfluß äußert Ob und inwieweit dies
der Fall ist, häDgt, abgesehen von der Intensität des Sexual¬
triebes, von den die Abstinenz veranlassenden und begleitenden
Umständen, in gewissem Maße auch von dem Lebensalter ab.
Was zunächst das letztere anbelangt, so läßt sich sagen, daß
bis zu einer gewissen Altersgrenze (etwa dem 24. oder 25. Lebens¬
jahre) die sexuelle Abstinenz bei entsprechender Lebensweise
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Ober sexuelle Abstinenz.
241
im allgemeinen der Gesundheit und körperlichen Entwickelung
eher förderlich als nachteilig ist Hierfür sprechen auch die Er¬
fahrungen, die man schon im Altertum machte. Besonders be¬
merkenswert ist in dieser Beziehung das Zwiegespräch, welches
Aristophanes in seinem Lustspiele „die Wolken“ den Gerechten
mit dem Ungerechten k führen läßt Der Gerechte schildert hier
den in einfacher Lebensweise erzogenen, in sexueller Abstinenz
lebenden Jüngling als Muster von Kraft und Gesundheit, den
Unkeuschen dagegen als Schwächling mit bleichsüchtiger Farbe,
schwindsüchtiger Brust und mit großem Membrum. Im alten Rom
hat man die sexuelle Abstinenz als Erfordernis athletischer Aus¬
bildung betrachtet, was deutlich genug aus dem „abstinuit vino
venereque“ hervorgeht, das Horaz von dem Wagenkämpfer be¬
richtet Tacitus brachte die körperliche Tüchtigkeit (inexhausta
pubertas) der Germanen mit der sexuellen Abstinenz ihrer Jüng¬
linge in Zusammenhang.
Neben dem Lebensalter ist die Lebensstellung für den Einfluß
der Abstinenz von erheblicher Bedeutung. Es liegt nahe, daß der
katholische Kleriker, der von Jugend auf sich an den Gedanken
gewöhnt hat, daß er auf die Freuden der Liebe und Ehe verzichten
muß, die Abstinenz leichter erträgt als andere Männer, die zu
einem Verzichte auf Liebe und Ehe keine dauernde Veranlassung
haben und für welche die Abstinenz nur einen durch äußere Ver¬
hältnisse bedingten Übelstand bildet Es ist auch wohl begreiflich,
daß der Unverheiratete sich der sexuellen Abstinenz leichter akkom-
modiert als der Verheiratete, der durch Krankheit der Gattin auf
die Dauer zum Verzichte auf den ehelichen Verkehr genötigt ist.
Die Schmälerung des Lebensgenusses und der Lebensfreude, die
mit der Abstinenz verknüpft ist, ist, wenn dieselbe keinen Ausgleich
findet, wohl nicht ganz zu unterschätzen. Ihre Bedeutung können
wir hier jedoch nicht näher verfolgen. Man darf, wenn man der
Frage der Durchführbarkeit der sexuellen Abstinenz näher treten
will, auch das Verhalten der nichtabstinenten Unverheirateten nicht
unberücksichtigt lassen. Wir müssen uns daher auch mit den
Umständen beschäftigen, welche die Veranlassungen des außer¬
ehelichen Geschlechtsverkehrs bilden.
Zunächst könnte man daran denken, daß die Nichtabstinenten
sich im allgemeinen durch größere Stärke des Sexualtriebs von
den Abstinenten unterscheiden und hierin das wichtigste ver¬
anlassende Moment des außerehelichen geschlechtlichen Verkehrs
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242
LoewenfelcL
zu suchen sei. Diese Annahme trifft, wie aus dem im Vorher¬
gehenden Angeführten sich schon ergibt, keineswegs durchgehende
zu. Wenn auch zugegeben werden muß, daß frühzeitige Entwick¬
lung und erhebliche Intensität des Geschlechtstriebs bei der Ein¬
leitung anßerehelichen Geschlechtsverkehrs häutig eine Rolle spielt,
so ist auf der anderen Seite nicht in Abrede zu stellen, daß
wenigstens bei einem erheblichen Teile der Abstinenten die Ent¬
wicklung des Sexualtriebs nicht hinter der bei vielen Nichtabstinenten
zurücksteht. Zweifellos sind für die voreheliche Gestaltung der
vita sexualis neben dem Grade der Libido noch eine Reihe von
Faktoren wirksam, die zum Teil den Einfluß der Libido über¬
wiegen: Sinnlich erregende Gesellschaft, Verführung, pornographische
Lektüre, gewisse Schaustellungen, Genußsucht, Eitelkeit, Unter¬
schätzung der Gefahren des Verkehrs mit Prostituierten, Alkohol usw.
Man darf auch nicht übersehen, daß unter den Nichtabstinenten
sich nicht wenige finden, welche nur mit einem gewissen Ekel und
Widerstreben sich mit Prostituierten einlassen und auf den Verkehr
mit solchen nur deshalb nicht ganz verzichten, weil sie zu bequem
sind, den Kampf mit der Sinnlichkeit konsequent durchzuftihren.
Nicht selten sind auch die Fälle, in welchen junge Männer nur
durch eine Liaison vorübergehend zu sexuellem Verkehre kommen
und nach dem Abbruch des betreffenden Verhältnisses sich der
Abstinenz ohne Nachteil ergeben. Öfters habe ich auch gefunden,
daß junge Männer während des Aufenthaltes in einer Großstadt
sexuellen Verkehr mit einer gewissen Regelmäßigkeit geübt hatten,
dagegen bei Versetzung an ein anderes Domizil, wo sich keine
Gelegenheit zu sexuellem Verkehr fand, oder die Stellung des
Betreffenden die Benützung Prostituierter nicht gestattete, die
Abstinenz ohne erhebliche Beschwerden ertrugen. Meine Erfahrungen
weisen demnach darauf hin, daß unter den nichtabstinenten Männern
sich eine beträchtliche Zahl solcher befinde^ welche die sexuelle
Abstinenz ohne auffälligen gesundheitlichen Schaden ertragen würden
und jedenfalls zum Teil zum Verzicht auf den Verkehr mit Prosti¬
tuierten bestimmt werden können, wenn sie auf die hiermit verknüpften
Gefahren genügend und nachhaltig aufmerksam gemacht werden.
Besonders beachtenswert sind hier die Fälle, denen ich mehrfach
begegnet bin, daß junge Menschen, welche in ihrem normalen
Geisteszustände durch ihre ethischen und ästhetischen Grundsätze
gegen die Verlockungen der Venus vulgivaga genügend geschützt
waren, unter dem Einflüsse des Alkohols herumschweifenden Pro-
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Ober sexuelle Abstinenz.
243
statuierten in die Hände fielen und so trotz ihres im allgemeinen
mustergültigen Lebenswandels von Infektion nicht verschont blieben.
Nach dem Angeführten darf ich wohl sagen, daß die sexuelle
Abstinenz im allgemeinen weder so leicht durchführbar ist, wie
von manchen Seiten offenbar in guter Absicht behauptet wird,
noch auch jene schwere, gesundheitsgefährliche Bürde darstellt, zu
welcher dieselbe von anderer Seite gestempelt wird. Wenn man
für die auffälligen Meinungsverschiedenheiten, welche bezüglich
dieser Frage schon vor Dezennien wie in jüngster Zeit zutage
getreten sind, eine Erklärung suchen will, wird man wohl nicht
umhin können, auf die persönlichen Erfahrungen der Betreffenden
hinsichtlich ihrer eigenen vita sexualis zu rekurrieren. Für den¬
jenigen, der die sexuelle Abstinenz leicht ertragen hat, liegt der
Glaube nahe, daß es sich bei anderen ähnlich verhält und daß
nur gute Grundsätze und ein fester Wille nötig seien, um alle
Schwierigkeiten zu beseitigen. Derjenige hinwiederum, der viel
unter sexuellen Nöten gelitten hat, mag geneigt sein, anzunehmen,
daß die sexuelle Enthaltsamkeit ein Geist und Körper schädigendes
Verhalten bildet, und daß man ganz und gar unrecht tue, wenn
auch in wohlmeinender Absicht diese Tatsache zu verdunkeln oder
zu verschleiern. Es ist wohl kein Zufall, daß der Franzose
Lallemand die absolute Keuschheit selbst als jenen schädlich
bezeichnet«, die sie mit Leichtigkeit ertragen und für Personen
mit energischen Zeugungsorganen als höchst gefährlich darstellte 1 ),
*) Sehr beachtenswert in diesem Zusammenhänge ist eine Bemerkung,
die ich in Maupassants kleiner Novelle „Ein Sohn“ fand. Dort äußert
ein Akademiker einem ihm befreundeten Senator gegenüber: „Ich glaube,
wenn wir Buch führen sollten über alle Frauen, die wir besessen haben, so
würde uns das in große Verlegenheit setzen, genau so wie es diesem Bohnen¬
baum, den Sie eben da apostrophierten, einigermaßen schwer fallen dürfte,
seine Nachkommen zu zählen. Wenn wir vom 18. bis etwa 40. Jahre rechnen
und alle flüchtigen Begegnungen, jedes Zusammentreffen, das nur eine Stunde
gedauert hat, mitzählen, so kann man*wohl sagen, daß wir intime Beziehungen
gehabt haben zu 2—300 Frauen.“ Dem gelehrten Mitgliede der Akademie
liegt die Absicht durchaus ferne, sich als Wüstling zu charakterisieren. Er
will lediglich eine Geflogenheit konstatieren, die sich allgemein in den Kreisen
der Gebildeten und nicht lediglich in denen der Roues findet. Der Autor
würde zu einer derartigen Sentenz sich nicht verstiegen Laben, wenn, dieselbe
nicht in den Erfahrungen seines täglichen Lebens eine gewisse Begründung
gehabt hätte. Auf der anderen Seite ist die Leichtigkeit bemerkenswert, mit
der schwedische Studenten, wie Seved Ripping mitteilt, nach ihrer eigenen
Erklärung die Abstinenz ertragen. Hier handelt es sich offenbar nicht ledig-
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244
Loewenfeld.
während auf der anderen Seite in neuerer Zeit die medizinische Fakul¬
tät in Christiania in einem Gutachten sich dahin äußerte, daß die
sexuelle Abstinenz noch niemandem geschadet habe. Ebenso wenig ist
es ein Zufall, daß bei den orientalischen Völkern von den ältesten
Zeiten bis zur Gegenwart die Polygamie sich erhalten hat, während
bei den Germanen schon in grauer Vorzeit die Monogamie bestand
und Tacitus die sera juvenum venus der Germanen seiner Zeit
rühmt. Es wäre meines Erachtens ungerechtfertigt, wollte man
die altgermanischen Jünglinge als asketische Tugendbolde ansehen.
Die sera juvenum venus mag wohl durch die bestehenden Sitten
verlangt worden sein, aber diese waren hinwiederum jedenfalls von
äußeren Verhältnissen, der Lebensweise und der Entwicklung des
Sexualtriebs abhängig. Dieser scheint bei der blonden, dolicho-
cephalischen nordeuropäischen Basse, die sich zurzeit noch am reinsten
in Skandinavien erhalten hat, weniger entwickelt zu sein, als in den
beiden übrigen europäischen Rassen der alpinen und der mittel¬
ländischen, und man mag damit den Umstand in Zusammenhang
bringen, daß die blonden Dolichocephalen mehr und mehr von den
Brachycephalen verdrängt werden. Die auffälligen Verschieden¬
heiten in der Stärke des Sexualtriebs, die man bei uns, also bei
Individuen desselben Bevölkerungskreises vorfindet, dürften ebenfalls
mit Verschiedenheiten der Rassenmischung in Zusammenhang stehen.
Die Empfehlung der sexuellen Abstinenz als Mittel zur Ver¬
hütung von Geschlechtskrankheiten erscheint mir nach alledem
nicht nur medizinisch gerechtfertigt, sondern auch von großer
praktischer Bedeutung. 1 )
lieh um Tugend und Laster, sondern auch um durch die Rasse bedingte
Unterschiede in der Entwicklung des Sexualtriebs.
*) Die Absicht, die dem 1. Absätze des Merkblattes der deutschen
Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten zugrunde liegt,
halte ich für durchaus berechtigt, die Fassung des Absatzes dagegen für
keineswegs glücklich, da dieselbe nicht frei von Zweideutigkeiten ist Ent¬
haltsamkeit im geschlechtlichen Verkehr bedeutet nicht sexuelle Abstinenz,
sondern nur etwa das, was die Vereine gegen den Mißbrauch geistiger
Getränke in bezug auf den Alkohol anstreben. Der Gesellschaft war es
aber, wie es scheint, um Empfehlung der Abstinenz zu tun und die
Fassung hätte darum lauten müssen: Enthaltung vom geschlechtlichen Ver¬
kehr. W. Hammer (Monatschrift für Hautkrankheiten und sexuelle Hygiene,
Heft 5 1904, 8. 214) polemisiert gegen die Worte „in der Regel“ und hält sich
für verpflichtet, seine abweichende Auffassung bezüglich der Schädlichkeit
der Abstinenz zum Ausdruck zu bringen. Er hält es auch nicht für zulässig,
die in dem Merkblatte ausgesprochene Ansicht als übereinstimmendes Urteil
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Über sexuelle Abstinenz.
245
Die Abstinenz aller Unverheirateten ist ein pium desiderinm,
ein Ideal, das sich wohl nie verwirklichen wird. Sehr wohl möglich
ist es dagegen meines Erachtens, der sexuellen Abstinenz eine
größere Anzahl von Anhängern zu verschaffen, als dieselbe gegen¬
wärtig besitzt, und dieses Ziel verlohnt auch einige Mähe. Es
fragt sich hur noch, auf welche Weise wir die Durchführung der
sexuellen Enthaltsamkeit erleichtern können, und was wir in jenen
Fällen zu tun haben, in welchen unter dem Einflüsse der Ent¬
haltsamkeit Erankheitserscheinungen auftreten.
Die hygienischen Maßnahmen, die hier in Betracht kommen,
haben zwei Angriffspunkte: sie müssen den Zustand des Nerven¬
systems und die Produktion der libidogenen Substanz berücksich¬
tigen. Der Allgemeinzustand des Nervensystems beeinflußt das
Verhalten der den sexuellen Funktionen dienenden Zentralteile in
gewissem Maße. Alle Momente, welche die Reizbarkeit des ge¬
samten Nervensystems erhöhen und dessen Widerstandsfähigkeit
herabsetzen, steigern auch die Erregbarkeit der Sexualzentren, und
alles, was die Leistungs- und Widerstandsfähigkeit des Nerven¬
systems vermehrt, wirkt auch herabsetzend auf die Erregbarkeit
der fraglichen Zentren. Hierher gehören vor allem reicher Luft¬
genuß, anstrengende körperliche Übungen in beliebiger Form (Sport,
Turnen usw.), die volle aber nicht überanstrengende Hingabe an
berufliche Tätigkeit, frugale Ernährung und gänzliche Meidung
oder äußerste Einschränkung des Alkoholgenusses. Neben diesen
das Nervensystem im allgemeinen roborierenden Maßnahmen ist noch
eine besondere psychische Hygiene des Sexuallebens notwendig:
Meidung speziell sinnlich-erregender (pornographischer) Lektüre
und Schaustellungen, sowie intimen Umgangs mit Angehörigen des
anderen Geschlechts. Man darf hier jedoch nicht das Kind mit
der Ärzte zu bezeichnen. Indes hat Hammer nichts neues zur Klärung der
Sachlage beigebracht Der Typus des alternden Mädchens, den er nach
PI ose schildert, will nichts besagen, denn diesem Typus ließe sich ein anderer,
nach meinen Erfahrungen nicht selten vorkommender gegen überstellen, der
von den Eigentümlichkeiten der Altjungferschaft physisch und psychisch nichts
aufweist Letzterer findet sich vorwaltend in der Klasse der beruflich-tätigen
und berufsfreudigen Mädchen, der Plosssche Typus in der Klasse der
berufslosen, verbitterten und vergrämten Jungfern. Ich glaube, daß sich jede
Beanstandung des Absatzes I des Merkblattes durch folgende Fassung ver¬
meiden läßt: „geschlechtliche Enthaltsamkeit kann nach ärztlicher Erfahrung
im Gegensätze zu einem viel verbreiteten Vorurteile ohne gesundheitlichen
Schaden durchgefuhrt werden.“
Zeitsehr. f. Bekämpfung d. Geschlechtskranke IIL 18
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Loewenfeld.
dem Bade ausschütten. Es wird heutzutage in gewissen Kreisen
sehr viel gegen einen Teil unserer humoristisch-satirischen Journale
gezetert, die durch ihre Abbildungen wie ihren Text die jugend¬
lichen Seelen vergiften soll, indem sie zur Sinnlichkeit anreizen.
Ich glaube, daß der Schaden, der durch die Betrachtung oder
Lektüre dieser Blätter geschieht, sehr gering ist, daß das ängstliche
Fernhalten alles möglicherweise sinnlich Erregenden von den Blicken
der Jugend das Entgegengesetzte von der gewünschten Wirkung
hat, eine sexuelle Hyperästhesie, statt einer gewissen Frigidität.
Die Erziehung der Jugend muß darauf gerichtet sein, den Genuß
des künstlerisch Schönen und des Witzigen in jeder Form der
Darstellung zu ermöglichen, ohne daß hierdurch sinnliche Regungen
geweckt werden. Bedenklich sind dagegen zweifellos für unsere
Jugend gewisse Schaustellungen in den Tingel-Tangels, die, jeden
künstlerischen Wertes bar, nur durch Erregung der Sinnlichkeit
das Interesse des Zuschauers in Anspruch nehmen. Vor dem
Besuch dieser Orte zu warnen, dürfte daher auch Pflicht derjenigen
sein, die keineswegs eine Lex Heinze wünschen.
In das Gebiet der psychischen Hygiene gehört auch die Be¬
kämpfung der Trinksitten unserer Jugend. Die Schwierigkeiten,
welcher der Alkoholgenuß der Durchführung sexueller Abstinenz
bereitet, sind weniger in der direkten toxischen Beeinflussung der
Zentren des Sexualtriebs, als vielmehr in der durch den Alkohol
bewirkten Herabsetzung der hemmenden kortikalen Tätigkeit, durch
welche unter gewöhnlichen Verhältnissen die Libido in Schranken
gehalten wird, begründet Durch diese Herabsetzung wird der
Einfluß der ethischen (religiösen), ästhetischen und hygienischen
Vorstellungen, welche bei normalem Geisteszustände gegen den
außerehelichen sexuellen Verkehr, speziell den Verkehr mit Prosti¬
tuierten sich geltend machen, vermindert oder ganz aufgehoben.
Der Alkohol ist erfahrungsgemäß der schlimmste Kuppler, und
dies gilt für beide Geschlechter. Ein sehr erheblicher Teil gonor-
rhoeischer und luetischer Infektionen ist zweifellos auf Alkohol¬
einfluß zurückzuführen, und die Bestrebungen zur Bekämpfung
der Geschlechtskrankheiten können meines Erachtens nur dann auf
größere Erfolge rechnen, wenn sie die Notwendigkeit der Be¬
kämpfung der Trinksitten wie die Vereine gegen den Mißbrauch
des Alkohols und der Alkoholgegnerbund stets im Auge behalten.
Bezüglich der Momente, welche auf die Produktion der libidogenen
Stoffe anregend und hemmend wirken, sind wir zurzeit noch sehr
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Über sexuelle Abstinenz.
247
mangelhaft unterrichtet, und die Hygiene des Sexuallebens würde
durch eine Erweiterung unserer Kenntnisse in dieser Hinsicht eine
bedeutende Förderung erhalten. Unsere bisherigen Erfahrungen
weisen in erster Linie auf einen Einfluß der Ernährang und Lebens¬
weise in zwiefacher Richtung hin: üppige Ernährung und insbe¬
sondere reichlicher Fleischgenuß bei träger Lebensweise scheint
die Produktion der libidogenen Substanz anzuregen, frugale und
noch mehr dürftige Ernährung, dieselbe herabzusetzen. Manches
spricht auch dafür, daß eine vorwaltend vegetarische Lebensweise
die Produktion der libidogenen Substanz weniger begünstigt als
die gewöhnliche gemischte Kost. Diese Annahme scheint zwar
keine besondere Stütze in den Erfahrungen bei unserer vorherr¬
schend vegetarisch sich ernährenden Landbevölkerung zu finden,
sofern diese an sexueller Bedürftigkeit kaum hinter den Städtern
zurückbleibt. Doch mag hier der Einfluß des Alkoholgenusses den
der vegetarischen Ernährung ausgleichen, resp. verwischen. Da¬
gegen habe ich gefunden, daß bei an sexueller Hyperästhesie lei¬
denden Individuen, die an gemischte Kost und mäßigen Alkohol¬
genuß gewohnt waren, der Übergang zur vegetarischen Lebensweise
und gänzlichem Verzicht auf Alkoholika entschieden gute Dienste
leistete. 1 )
Elin Umstand, auf den ich ferner hier die Aufmerksamkeit
lenken möchte, ist die Regelung des Stuhlgangs. Stuhlträgheit be¬
günstigt allem Anscheine nach die Produktion der libidogenen
Substanz durch Beeinflussung der Zirkulationsverhältnisse in den
Keimdrüsen, während regelmäßiger und leichter Stuhlgang eine
entgegengesetzte Wirkung äußert. Daß anstrengende körperliche
Tätigkeit, indem sie den Stoffwechsel energisch anregt, der Pro¬
duktion oder der Anhäufung libidogener Substanz im Blute ent¬
gegenwirkt, dürfte kaum einem Zweifel unterliegen, während eine
sitzende Lebensweise dieselbe zu fördern scheint Es erübrigt uns
nur noch die Erörterung der Frage, was wir in jenen Fällen zu
tun haben, in welchen unter dem Einflüsse der Abstinenz aus¬
gesprochene Eirankheitserscheinungen sich entwickeln. Für manche
Arzte liegt die Sache hier sehr einfach; ihr Rezept lautet: gere¬
gelter geschlechtlicher Verkehr. Marcuse hat sich in seiner schon
erwähnten vor wenigen Monaten veröffentlichten Broschüre ein-
l ) Die Veränderung der Lebensweise und des damit zusammenhängenden
Stoffwechsels scheint hier auf die Produktion der libidogenen Substanz herab¬
setzend einzuwirken.
18 *
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Loewenfeld.
gehend mit dieser Frage beschäftigt, und er ist hierbei zu dem
Schlüsse gelangt: „Der Arzt darf und muß unter Umständen einen
„Geschlechtsverkehr“ verordnen, aber die Ehe verschreiben, das
kann er nicht.“ Der Autor gesteht nur zu, daß in Ausnahmsfällen
die Bedingungen gegeben sein mögen, die den Arzt berechtigen,
seinen Klienten oder Klientinnen das Heiraten zu empfehlen. Der
Geschlechtsverkehr, den nachMarcuse der Arzt unter Umständen
verordnen darf und muß, ist demnach der illegitime und zwar mit
Prostituierten. Ich habe mich in meinem mehrfach zitierten
Werke S. 54 zu einer von der Marcuseschen wesentlich abwei¬
chenden Auffassung bekannt Dort bemerkte ich:
Als nächstliegender Ausweg würde sich in Fällen, in welchen
durch die Abstinenz anhaltende Belästigungen entstehen, natürlich
die Verheiratung empfehlen. Leider ist bei unseren derzeitigen
sozialen Verhältnissen nur einem geringen Teile der in Frage
stehenden Männer die Möglichkeit gegeben, ihren sexuellen Be¬
dürfnissen auf diesem Wege Genüge zu leisten. Wo die Umstände
eine Verheiratung nicht gestatten, müssen wir trachten, durch
hygienische und therapeutische Maßnahmen die vorhandenen Mo¬
lesten zu beseitigen oder wenigstens zu beschränken, was in den
meisten Fällen gelingen wird. Dagegen müssen wir uns nach-
drücklichst gegen die Unbedenklichkeit mancher Arzte aussprechen,
die es mit ihrem medizinischen Gewissen vereinbar finden, junpe
Menschen auf den Verkehr mit Prostituierten als eine Art Vorbeuge¬
oder Heilmittel für die aus der Abstinenz resultierenden Molest^n
zu verweisen.
Mit einer vereinzelten und gelegentlichen sexuellen Befrie¬
digung ist den Bedürfnissen junger Männer nicht abgeholfen; hier¬
durch wird eher die sexuelle Appetenz gesteigert. Bei der t der-
zeitigen enormen Verbreitung der Syphilis in den Kreisen der
Prostituierten aber einem jungen Manne regelmäßigen Verkehr mit
solchen zu empfehlen, erscheint uns entschieden verwerflich. Die
durch die Abstinenz verursachten Störungen sind, wie wir sahen,
im allgemeinen nicht von einer Art, daß wir einen Rat yerant-
worten können, der irgend jemand anhaltend den Gefahren A syphi¬
litischer Ansteckung aussetzt. Hierbei kommt noch der Umstand
in Betracht, daß die Mittel, welche Männer anwenden können, um
die Herbeiführung einer Konzeption zu verhüten, keineswegs einen
genügenden Schutz der Syphilis gegenüber gewähren, da diese be¬
kanntlich ihren Eingang in jeder Körperstelle finden kann.
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Ober sexuelle Abstinenz.
249
Ich habe die in Betracht kommende Stelle wörtlich wieder¬
gegeben, um keinen Zweifel über den von mir vertretenen
Standpunkt zu lassen. Meine Auffassung ist ebenso wie die
Marcuses lediglich durch medizinische Argumente bedingt, und
ich habe daher nunmehr zu prüfen, ob dieselbe den abwei¬
chenden Ausführungen Marcuses gegenüber sich aufrecht er¬
halten läßt
Ich stimme dem genannten Autor und Erb darin völlig bei,
daß bei der Beantwortung der hier vorliegenden Frage lediglich
der moralische Standpunkt des Patienten Berücksichtigung finden
darf. In Fällen, in welchen dieser illegitimen Geschlechtsverkehr
nicht verwirft, hat demnach der Arzt an sich zweifellos das Recht
denselben zu empfehlen, wenn sich hierfür genügende medizinisch¬
therapeutische Gründe finden und die Anwendung des Mittels nicht
Gefahren in sich schließt, die außer Verhältnis zu dem Nutzen
desselben stehen. Wir wollen uns zunächst mit letzterem Punkte
beschäftigen. Marcuse glaubt, daß bei sorgfältiger Anwendung
der zurzeit bekannten prophylaktischen Mittel bei dem Verkehr
mit Prostituierten die Gefahr einer Infektion auf ein Minimum
beschränkt ist. Er gibt jedoch zugleich zu, daß aus begreiflichen
Gründen die sorgfältige Verwertung der betreffenden Mittel eben
nur „so selten“ geschieht. Ich unterschätze den Wert der zurzeit
gebräuchlichen sexuellen Prophylaktika keineswegs; dieselben leisten
aber ungleich mehr in Bezug auf Verhütung der Gonorrhoe als
aer Lues. Da wir außerdem jedoch einer regelmäßigen und sorg¬
fältigen Anwendung der in Frage stehenden Vorbeugemittel in
Lnnem Falle sicher sind, so muß ich bei der Anschauung be-
l^jnren, daß der Verkehr mit Prostituierten, den der Arzt allein
doch nur empfehlen kann, als Medikament ein höchst bedenkliches
Mi tei darstellt Die Anwendung desselben würde sich daher nur
dann rechtfertigen, wenn uns kein anderes Mittel für die zu be¬
kämpfenden Krankheitszustände zu Gebote stünde und die Schwere
der Leiden uns nötigte, die mit dem angewandten Mittel ver¬
knüpften Gefahren außer Betracht zu lassen. Dies ist aber, wie
ich vorwegs konstatieren muß, von vereinzelten Ausnahmen ab¬
gesehen, durchaus nicht der Fall. Wir haben, wenn wir unserem
Gegenstände gerecht werden wollen, zunächst den Verlauf jener
Fälle in Betracht zu ziehen, in welchen die sexuelle Abstinenz
auch nach dem Eintreten von Krankheitserscheinungen, die mit
derselben ursächlich Zusammenhängen, nicht aufgegeben wird. Meine
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Loewenfeld.
Erfahrung lehrt, daß in diesen Fällen es nur selten zu einer fort¬
schreitenden Verschlimmerung des Zustandes kommt In den
weitaus meisten Fällen zeigen sich Schwankungen, ein Wechsel
von besseren und schlechteren Zeiten. Unsere Therapie ist hier
auch keineswegs machtlos und dies ist auch leicht erklärlich. Die
sexuelle Abstinenz wirkt ja, wie wir gesehen haben, nicht unter
allen Umständen, sondern nur bei einer gewissen Disposition des
Nervensystems als Schädlichkeit Die Mittel, durch welche wir
imstande sind, die Leistungs- und Widerstandsfähigkeit des Nerven¬
systems zu erhöhen, äußern daher zumeist auch einen günstigen
Einfluß auf die durch die Abstinenz hervorgerufenen psychischen
und nervösen Störungen. Auch die hypnotische Behandlung kann
gegen dieselben sehr beachtenswerte Dienste leisten. Marcuse
meint: „Wenn der Arzt die Chancen sachkundig und gewissenhaft
abwägt, so wird er nach meinem Dafürhalten nicht umhin können,
z. B. in einigen Fällen von schwerer Hysterie, bei manchen hart¬
näckigen Onanisten, gegenüber einer bestimmten Art von Urningen,
bei gewissen Fällen von Angstneurose usw. — alles Zustände, die
den Klienten unter Umständen zur Verzweiflung und bis zum
Lebensüberdruß bringen und durch deren Heilung oder auch
nur nennenswerte Besserung der Arzt an diesen Unglüklichen
eine Wohltat ohnegleichen übt — den Geschlechtsverkehr —
der, wenn die Gelegenheit zum legitimen fehlt, eben nur extra
matrimonium vollzogen werden kann, als wünschenswert zu be¬
zeichnen/'
Ich weiß nicht, inwieweit der Autor seine Ansicht auf eigene
Erfahrung zu stützen vermag. Soviel erachte ich jedoch als
sicher — und ich glaube, daß mir hierin die weit überwiegende
Mehrzahl der Neurologen und Psychiater zustimmen wird — daß
in den angeführten Fällen (von den Urningen abgesehen) der Arzt
sehr wohl umhin kann, von der Empfehlung des Geschlechtsverkehrs
abzusehen, ja daß diese Empfehlung zum Teil ein durchaus ver¬
werfliches Vorgehen bilden würde. Ich kann mir vor allem keinen
Fall schwerer Hysterie bei Männern und und noch weniger bei
Frauen denken, in welchen der sexuelle Verkehr als Heilmittel zu
empfehlen wäre. Die Marcuse sehe Auffassung erinnert lebhaft
an die alte Theorie von der Retention des weiblichen Samens bei
Jungfrauen und Witwen, von der man die hysterischen Zustände
ableitete. Von einem im 20. Jahrhundert tätigen Arzte sollte man
eine derartige Auffassung, deren gänzliche Haltlosigkeit schon seit
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Über sexuelle Abstinenz.
251
vielen Dezennien nachgewiesen ist, nicht mehr erwarten. 1 ) Was die
hartnäckigen Onanisten anbelangt, so will ich hier nur die Tatsache
erwähnen, daß es mir im Laufe des letzten Jahres gelang, bei einem
29jährigen Herrn, der seit seinem 13. Lebensjahre ohne Unter¬
brechung Onanie in erheblichem Maße trieb, den onanistischen
Drang durch eine mehrwöchentliche hypnotische Behandlung zu
beseitigen. Nach den mir zugegangenen Berichten hat sich dieser
Erfolg seit einer Reihe von Monaten erhalten. Es dürfte hieraus
hervorgehen, daß die Beseitigung onanistischen Dranges auch ohne
Verordnung von sexuellem Verkehr möglich ist. 2 )
Was die Fälle von Angstneurose betrifft, so habe ich schwere
Formen dieser Neurose, insbesondere bei Frauen, beobachtet, bei
welchen eine der Heilung sich nähernde Besserung eintrat, ohne
daß die Heranziehung des sexuellen Verkehrs nötig wurde. Auch
bei Männern habe ich Besserung bei fortbestehender sexueller Ab¬
stinenz gesehen. Ähnlich verhielt es sich mit anderen mit sexueller
Abstinenz zusammenhängenden neuro- und psychopathischen Zu¬
ständen. Was endlich die gewisse Eiasse von Urningen anbelangt,
so mag zugegeben werden, daß bei denselben eine Änderung der per¬
versen Triebrichtung, resp. eine Unterdrückung des homosexuellen
Triebes und Förderung der heterosexuellen Neigungen nur durch Ein¬
leitung und Unterhaltung normalen sexuellen Verkehrs möglich ist
In den betreffenden Fällen bedarf es jedoch der Empfehlung dieses
Verkehrs durch den Arzt gewöhnlich nicht. Die in Betracht
kommenden Individuen, denen es um Korrektion ihrer abnormen
Triebrichtung zu tun ist, unternehmen gewöhnlich ohne ärztliche
Anordnung den Versuch normalen sexuellen Verkehre. Ein Patient
meiner Beobachtung hat hierbei Lues akquiriert, einem anderen
wurde die Freude über die gelungene Einleitung normalen Ge¬
schlechtsverkehrs sehr bald durch die Wahrnehmung getrübt, daß
er Gonorrhoe erworben hatte.
*) Vergleiche hierzu die Bemerkungen Aschaffenburgs in seinem
Referat über die Marcusesche Arbeit; Centralblatt f. Nervenheilkunde,
Psychiatrie 15. November 1904 S. 703.
*) Wir würden den betreffenden Patienten gegenüber eine traurige Rolle
spielen, wenn dem nicht so wäre. Im Laufe der Jahre hat sich an mich eine
Anzahl von Onanisten um ärztliche Hilfe gewendet und ich glaube, daß ich
bei den Betreffenden keine dankbaren Gesinnungen, sondern lediglich^Unwillen
hervorgerufen hätte, wenn ich sie behufs Heilung auf den Verkehr mit
Prostituierten verwiesen hätte. Die Onanisten, die zu solchem geneigt sind,
wenden sich nicht an den Arzt um Hilfe.
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Loewenfeld.
Aus dem Angeführten dürfte sich ergeben, daß, von Ausnahmen l )
abgesehen, der Arzt im allgemeinen keinen genügenden Grund hat,
den Patienten, die direkt oder indirekt infolge von sexueller Ab¬
stinenz von neuro- oder psychopathischen Störungen heimgesucht
werden den illegitimen Geschlechtsverkehr zu empfehlen. Die in
Frage stehenden Beschwerden sind in der Regel nicht so schwer,
daß sie uns bestimmen könnten, die Verantwortung für die An¬
ordnung eines so bedenklichen Mittels zu übernehmen, zumal wir
gewöhnlich in der Lage sind, auch ohne Gebrauch desselben den
Patienten Erleichterung zu verschaffen. Wenn ich mich demnach
gegen eine direkte Empfehlung, d. h. Verordnung des illegitimen
Geschlechtsverkehrs ausspreche, so möchte ich damit nicht gesagt
haben, daß der Patient unter allen Umständen über die Provenienz
seiner Beschwerden im unklaren gehalten werden und dadurch
verhindert werden soll, die natürliche Abhilfe sich zu verschaffen
In den Fällen, in welchen die Abstinenz durch moralische und
religiöse Grundsätze bedingt ist, deren Beiseitesetzung nicht erwartet
und gewünscht werden kann, z. B. bei Geistlichen, wäre es eine
Grausamkeit, dem Patienten zu sagen, daß sein Leiden durch
Nichtbefriedigung sexueller Bedürfnisse bedingt ist. In der Mehr¬
zahl der Fälle besteht jedoch kein triftiger Grund, dem Patienten
zu verschweigen, daß die sexuelle Enthaltsamkeit etwas mit seinem
Zustande zu tun hat. Bei jenen Männern, die durch ihre materielle
Lage nicht verhindert sind, eine Ehe zu schließen und eine solche
noch nicht selbst ins Auge gefaßt haben, kann der Arzt die Ver¬
heiratung empfehlen, ja er ist meines Erachtens unter Umständen
hierzu sogar verpflichtet. Die Einwände, welche Marcuse hiergegen
geltend macht, sind durchaus unstichhaltig. Die Behauptung des
Autors, daß es unverantwortlich sei, jemanden zur Verheiratung
zu veranlassen, der zurzeit krank ist, noch dazu nervenkrank, ist
eine bedauerliche Übertreibung. Es ist zweifellos unstatthaft
epileptischen oder schwerkranken Hysterischen das Heiraten anzu¬
raten. In den hier in Betracht kommenden Fällen handelt es
sich jedoch gewöhnlich nicht um derartige Nervenkranke, und wir
dürfen bei den betreffenden Patienten, wenn die sonstigen Ver-
*) Ale solche betrachte ich vor allem die Fälle, in welchen bei fort-
beetehender Abstinenz der Patient in Gefahr gerät, mit den Gesetzen in
Konflikt zu kommen, ferner die Fälle, in welchen bei bedeutender Libido
eine neuropathische Belastung oder Erkrankungsform besteht, die eine Ver¬
heiratung des Individuums nicht wünschenswert erscheinen läßt.
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Über sexuelle Abstinenz.
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hältnisse nicht entgegenstehen, was leider recht häufig der Fall
ist, von einer Empfehlung der Ehe um so weniger absehen, als
wir von derselben einen entschieden günstigen Einfluß auf den
Zustand des Patienten, unter Umständen selbst eine Heilung der
vorliegenden Erkrankung erwarten dürfen. Die Sorge für die
Beschaffenheit der etwaigen Nachkommenschaft kann uns auch
nicht von dieser Empfehlung abhalten, sondern uns nur dazu be¬
stimmen, dem neuropathisch belasteten Manne die Wahl einer
nervengesunden Lebensgefährtin sehr ans Herz zu legen. Wenn
ich von einer Empfehlung der Ehe spreche, so ist damit nur eine
solche mit einer geeigneten weiblichen Persönlichkeit gemeint und
Voraussetzung, daß die materiellen Verhältnisse des Patienten die
Begründung eines Hausstandes zulassen. Die Dinge liegen glück¬
licherweise meistens nicht derart, daß eine Gefahr im Verzug wäre,
und wir den Patienten nicht vor einer weiteren Verschlimmerung
seines Zustandes bei andauernder Abstinenz durch hygienische und
therapeutische Maßnahmen zu bewahren vermöchten. Sicherlich
ist aber auch bei manchen Patienten die Empfehlung der Verehe¬
lichung, auch wenn Aussichten auf alsbaldige Realisierung dieses
Vorschlags nicht vorhanden sind, von Nutzen. Wir erwecken da¬
durch bei dem Patienten die Hoffnung auf Besserung und Heilung,
und diese erweist sich als wohltätig, auch wenn deren Verwirk¬
lichung in nächster Zukunft nicht zu erwarten ist Wir sehen
ein ähnliches bei den Beschwerden der Wechseljahre der Frauen.
Diese werden in der Regel leichter genommen, wenn die Frauen
wissen, daß es sich um Zufälle handelt, die sicher, wenn auch
erst nach Jahren, schwinden. Ich zähle, wie ich gezeigt zu haben
glaube, nicht zu denjenigen, welche die gelegentlichen gesundheit¬
lichen Nachteile der sexuellen Abstinenz unterschätzen oder über¬
haupt nicht anerkennen wollen. Ich bin auch keineswegs dafür,
daß wir den durch sexuelle Enthaltsamkeit in seiner Gesundheit
Geschädigten, der bei uns Hilfe sucht, statt des Brotes einen Stein
reichen, indem wir nur in formeller Weise unserer ärztlichen Pflicht
genügen. Ich habe so manchen hierher gehörigen Fall gesehen,
in dem ich den Patienten mein lebhaftes Mitleid nicht versagen
konnte. Wenn ich mich trotzdem nicht zu dem Glauben bekennen
kann, daß mit der Verteidigung des ärztlichen Rechtes, zum
außerehelichen Geschlechtsverkehr zu raten, für die sexuell Ab¬
stinenten ein wesentlicher Vorteil gewonnen wird, so ist dies nicht
lediglich wegen der Bedenklichkeit des in Frage stehenden Medi-
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Loewenfeld.
kaments. Bei einem erheblichen Teile der längere Zeit in sexueller
Abstinenz lebenden Männer wurzeln die ethischen (religiösen),
ästhetischen und hygienischen Bedenken, die sich bei ihnen gegen
den Verkehr mit Prostituierten geltend machen, so tief, daß wir
durch die Empfehlung des außerehelichen Geschlechtsverkehrs
keinen Erfolg erzielen und lediglich den Gedanken hervorrufen
würden, daß es mit unserer Kunst recht schlecht bestellt sei. Das
Gleiche gilt für die Fälle, in welchen zwar ethische und ähnliche
Bedenken kein Hindernis für den außerehelichen Geschlechtsverkehr
bilden, solcher jedoch aus Rücksicht auf die persönliche Stellung
des Patienten oder durch Mangel an Gelegenheit ausgeschlossen
ist. Die zurzeit bestehende Sachlage dürfte daher einen Anlaß
bilden, daß wir mehr als es bisher geschah, der Beseitigung der
durch Abstinenz hervorgerufenen Gesundheitsstörungen unser Augen¬
merk zuwenden. Bisher war man mehr bemüht, nach Mitteln zu
fahnden, welche die Libido anregen und die geschwächte Potenz
heben, als nach solchen, welche die Libido herabdrücken.
Ich möchte mir nur noch einige Bemerkungen über die hier
in Betracht kommenden Arzneimittel gestatten. Kampher und
Lupulin leisten nach meiner Erfahrung nichts Nennenswertes. Mehr
ist von den Brompräparaten zu erwarten, doch bleiben deren
Wirkungen häufig hinter dem Wünschenswerten zurück. In jüngster
Zeit habe ich Versuche mit dem von der Firma Parke, Davis
& Comp, hergestellten Liquor sedans 1 ) und einer nach der Vor¬
schrift dieser Firma hier gefertigten Komposition bei sexueller
Hyperästhesie und anderen sexuellen Reizerscheinungen (Poll nim.)
gemacht, nach deren Ergebnis ich eine weitere Prüfung des
Mittels in ähnlichen Fällen empfehlen möchte. Von entschiedenem
Nutzen sind bei Individuen von nicht zu schwächlicher Konstitution
öfters wiederholte Abführkuren durch Gebrauch von Bitterwasser
oder Pillen (Marienbadertabletten). Es wäre zu wünschen, daß
unsere so strebsame chemische Industrie auch dem hier vorliegenden
Bedürfnisse ihre Aufmerksamkeit zuwände; ein Mittel, das imstande
ist, die sexuelle Libido herabzudrücken, ohne im übrigen die
Gesundheit zu schädigen, wäre ein Segen für die Menschheit.
Zum Schlüsse seien mir noch einige allgemeinere Bemerkungen
gestattet Unsere derzeitigen sozialen Verhältnisse, Gesetze, Sitten,
l ) Derselbe enthält Hydrastin. hydrochl., Fluid extr. viburn pnmifol. u.
piscid. erythrin.
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Über sexuelle Abstinenz.
255
sowie die dominierenden ethischen Anschauungen gestatten den
Massen keine hygienische, den physiologischen Bedürfnissen ent¬
sprechende Gestaltung der Vita sexualis. Es ist dies eine höchst
bedauerliche Tatsache > mit der wir jedoch in vollem Maße rechnen
müssen. Auf der einen Seite haben wir: Masturbation, Prostitution, Ge¬
schlechtskrankheiten, außereheliche Konzeptionen, Kindesabtreibung,
außereheliche Nachkommenschaft mit ihren peinlichen Folgen für
die Beteiligten und die Verhältnisse ohne Konzeption aber mit
moralischen und materiellen Schädigungen, endlich auch zahlreiche
unüberlegte und unglückliche Heiraten — auf der anderen Seite
die sexuelle Enthaltsamkeit mit ihrer Beeinträchtigung des Lebens¬
genusses und ihren gelegentlichen gesundheitsstörenden Wirkungen.
Alle in neuerer Zeit von berufener und unberufener Seite unter¬
nommenen Versuche, einen Ausweg aus diesem Dilemma zu finden,
oder auch nur einen Teil der hier vorliegenden schwierigen Probleme
zu lösen, haben bisher zu keinem annehmbaren Resultate geführt
Es erübrigt uns daher nur, die sexuelle Enthaltsamkeit als das
kleinere Übel für die große Masse der Unverheirateten zu em¬
pfehlen, und wir dürfen davor um so weniger zurückschrecken, als
wir auch die Alkoholabstinenz in hygienischem und wirtschaftlichem
Interesse anraten müssen, obwohl der Alkohol von der Masse der
Gebildeten wie der Ungebildeten noch als die Vorbedingung aller
geselligen Freuden angesehen wird. Ich weiß sehr wohl, was uns
bei dem Verlangen sexueller und alkoholischer Abstinenz entgegen¬
gehalten werden kann. Wir beanspruchen von den Unverheirateten
den Verzicht auf die verbreitetsten Lebensgenüsse, ein mehr als
klösterliches Leben, da den meisten Ordensangehörigen der Genuß
geistiger Getränke nicht untersagt ist Ich weiß auch sehr wohl,
daß die erwähnten Forderungen vorerst noch wenig Anklang finden
mögen. Allein, wenn sie auch nur von einzelnen intellektuell und
moralisch höherstehenden Individuen durchgeführt werden, so ist
dies schon ein großer Gewinn. Und wir Ärzte dürfen uns nicht
scheuen, da, wo es sich um eine hygienische Frage handelt, für
das, was wir als das beste erkennen, auch dann einzutreten, wenn
wir wissen, daß uns zunächst nur wenig Beifall, vielleicht eher
Verunglimpfung in Aussicht steht
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Referate.
Wilhelm Hammer. Die gesundheitlichen Gefahren geschlechtlicher Enthaltsam¬
keit. W. Malende. Leipzig 1904.
Das einleitende Kapitel ist ein Protest gegen das Merkblatt der
D.G.B.G., insbesondere dessen ersten Satz. Sowohl die darin vertretene
Ansicht von der Unschädlichkeit der sexuellen Abstinenz, wie namentlich
auch der Hinweis auf das „übereinstimmende Urteil der Ärzte“, fordert
den Verf. zum lebhaften Widerspruch heraus. Im 2. Kapitel erinnert
Hammer daran, daß von Laien sowohl in der Kunst wie in der Lite¬
ratur Enthaltsamkeitsstörungen geschildert werden; er zitiert Mau¬
passant, Neera (das Pseudonym der Eleonora Düse), Maria Ja-
nitschek und gibt außerdem zwei Abbildungen nach Cr an ach sehen
Originalen wieder, von denen das eine den enthaltsamen, das andere
den geschlechtlich befriedigten Luther darstellt. Das 3. Kapitel be¬
handelt den Einfluß geschlechtlicher Abstinenz auf die Sexualorgane,
die verkümmern müssen, wenn sie zur Untätigkeit gezwungen werden.
Es folgt ein 4. Abschnitt über Nervenstörungen, welche durch Ent¬
haltsamkeit verursacht werden und Gehirn, Rückenmark und äußere
Nerven betreffen können. Das 5. Kapitel handelt von den Blutkrank¬
heiten und Ernährungsstörungen infolge sexueller Abstinenz. Im
nächsten Kapitel erinnere Verf. an die Hautkrankheiten, die durch
geschlechtliche Enthaltsamkeit begünstigt werden. Zum Schluß bespricht
Hammer die Vorbeugung und Behandlung aller dieser Leiden. M.
Dr. Ernst -Köln. Zur Verhütung der Blenorrhoea neonatorum nach Cred6.
(Zentralbl. f. Gynäkol. 1904, Nr. 41.)
Verf. empfiehlt eine gesetzliche Verpflichtung der Hebammen zur
Einträufelung nach Credö, wobei nach seiner Erfahrung eine 1 °/ 0 ige
Höllensteinlösung genügt. Die Reizerscheinungen, welche man nach 2 °/ 0
Höllensteinlösung nach der ursprünglichen Credösehen Vorschrift öfters
sieht, sollen bei der l°/ 0 igen nicht Vorkommen. Man müsse den Hebammen
einsebärfen, die Lösung gut aufzubewahren und das letzte Drittel aus
jeder Flasche wegzugießen. Franz Hirsch, Frankfurt a. M.
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Zeitschrift
für
Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten
Band 3. 1904/5. Nr. 7.
Persönliche Ansichten Uber die Maßregeln zur Bekämpfung
der Geschlechtskrankheiten.
Von Prof. Dr. E. von Döring, KieL
Die Literatur über alle mit dem Zwecke der Bekämpfung
der Geschlechtskrankheiten in nächster oder naher Beziehung
stehenden Fragen ist so enorm gewachsen und geht teilweise so
in die Einzelheiten ein, daß es selbst für den doch auch noch
mit anderen Dingen beschäftigten Spezialisten fast eine Unmög¬
lichkeit ist, sie voll zu übersehen. Der Standpunkt in ethischen,
juristischen und ärztlichen Fragen, den die einzelnen Bearbeiter
und Bearbeiterinnen einnehmen, ist ein so verschiedener und des¬
halb die Gesichtspunkte, unter denen sie die einzelnen Fragen be¬
urteilen, so auseinandergehende, daß in vielen Fragen eine Einigung
— man muß sich das klar machen — ganz ausgeschlossen ist.
Für die ärztliche Welt in Deutschland — und damit für die
weitere Öffentlichkeit auf die Tagesordnung gesetzt — sind diese
Fragen durch die von Blaschko im Jahre 1892 angeregte Debatte
in der Berliner medizinischen Gesellschaft. Eine enorme Fülle
von Stoff ist seither auf internationalen und nationalen Kongressen
zusammengetragen worden. Aber außer einer jetzt schon vielfach
ausartenden öffentlichen Erörterung der brennenden Fragen, ist
praktisch noch sehr wenig erreicht. Für die maßgebenden Kreise,
für die Kegierung, bleibt bis jetzt alles nur „wertvolles Material“.
Ich sehe wenigstens noch nicht, daß die von Blaschko in so
klarer, unanfechtbarer Weise bewiesene Nutzlosigkeit, ja Schäd¬
lichkeit der gegenwärtigen sittenpolizeilichen Kontrolle in Deutsch¬
land auch nur zu einem Anlauf zur Aufhebung derselben geführt
hätte. Das einzige praktische, jedenfalls durchaus anzuerkennende,
aber im Verhältnisse zur Größe des Übels noch unendlich kleine
Heilmittel, ist die Aufhebung jenes Paragraphen, der den ge-
Zeitcehr. t Bekämpfung cL Geschlechtskranke III. 19
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258 v. Düring.
schlechtskranken Mitgliedern der Krankenkassen die freie Behand¬
lung entzog.
Dem Schreiber dieser Zeilen waren die Einzelheiten, das
„Aktuelle“ dieser Bewegung etwas fast neues, als er vor zwei
Jahren nach langjährigem Dienste im Auslande, an eine heimische
Hochschule als Professor für Haut- und Geschlechtskrankheiten
berufen wurde. Dafür aber habe ich praktisch, unter ganz anderen
Verhältnissen selbst die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten
zu meiner Lebensaufgabe machen dürfen. Klein-Asien ist zu einem
großen Teile von der Syphilis in einem Maße durchseucht, daß
glücklicherweise die Ausbreitung dieser Krankheit bei uns dagegen
unbedeutend erscheint.
Es ist wohl verständlich, daß die Erkenntnis von dem, was
sich durch sanitäre Maßnahmen in anderen Verhältnissen erreichen
ließe, meine Beurteilung der ganzen Frage in unseren Verhält¬
nissen stark beeinflußt
Der Inhalt eines Gutachtens, das ich Seiner Exzellenz dem
Herrn Kultusminister unterbreiten durfte und die Gedanken, die
ich einer öffentlichen Vorlesung über die Bekämpfung der Ge¬
schlechtskrankheiten zugrunde gelegt habe, bilden den Inhalt der
nachfolgenden Seiten. Ich betone, daß es sich hier nicht um
eigene eingehende tiefe Studien der heimischen Verhältnisse handeln
kann, wie sie den nach jeder Richtung hin vorzüglichen Arbeiten
Blaschkos oder den so in alle Details eingehenden umfangreichen
Veröffentlichungen Neissers — die Arbeiten vieler anderer seien
hier übergangen — zugrunde liegen. Es ist vielmehr der Versuch,
aus air dem vorliegenden Stoff und den eigenen Erfahrungen die
eigene Meinung in möglichster Kürze zusammenzufassen.
Daß ich diese Seiten an dieser Stelle gerade jetzt veröffent¬
licht zu sehen wünsche, hat seine besonderen Gründe.
Als ich den ersten Frankfurter Kongreß zur Bekämpfung der
Geschlechtskrankheiten besuchte, hatte ich die Hoffnung und den
Glauben, daß die verschiedenen Gruppen, die aus verschiedenen
Gründen die polizeiliche Reglementierung der Prostitution be¬
kämpften, getrennt marschieren und vereint schlagen könnten.
Die Erfahrungen der letzten Zeit haben mich eines anderen be¬
lehrt. So edel und selbstlos die Männer und Frauen handeln
mögen, die an der Spitze der Sittlichkeitsbewegungen und der
internationalen Föderation der Abolitionisten stehen — in Deutsch¬
land sind die Utopieen, die neben und vor dem gemeinsamen
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Persönl. Ansichten üb. d. Maßregeln z. Bekämpfung d. Geschlechtskrankh. 259
Zwecke der Aufhebung der Reglementierung bei ihnen zu Tage
treten, die Gefahr, auch nach der andern Seite auf Abwege zu
geraten (wie sie besonders auf der Versammlung in Berlin zu Tage
traten) ein unmittelbares Hindernis zur Erreichung unseres Zweckes
gerade den Behörden gegenüber. Ohne zugleich positiv etwas
anderes an die Stelle zu setzen, werden sich unsere Behörden
schwer zur Aufhebung der Reglementierung bereit finden lassen.
Bis jetzt haben die Abolitionisten diese — gewiß nicht gering
anzuschlagende — nur negative Frucht ihrer Bemühungen in Eng¬
land zu verzeichnen. Die in Frankreich erzielten Ergebnisse sind
bedeutsame aber vorläufig platonische; ich fürchte, die Umsetzung
der Beschlüsse der außerparlamentarischen Kommission in die
Praxis wird, unter gewöhnlichen Verhältnissen — lange auf sich
warten lassen. Aber die Verquickung der Frage der Aufhebung,
der Reglementierung — einer praktischen Frage — mit der Forde¬
rung der gleichen Rechte für Weib und Mann, mit der Keusch¬
heit der Männer — ethischen Fragen — ist zweifellos der Er¬
reichung des erstrebten Zieles hinderlich. Es paßt nicht für
unsere Anschauungen, Anlagen, Verhältnisse, wenn bei so ernsten
Fragen kaum erwachsene Jünglinge, ehrenwerte, aber nicht ernst
zu nehmende ausländische Agitatorinnen und einseitige Geistliche
das Wort führen — das Fehlen 'aller Fachkollegen auf der
Dresdener Konferenz der Föderation hat den Abolitionisten dieses
bewiesen.
Bei der öffentlichen Vorlesung über das vorliegende Thema
vor Studierenden aller Fakultäten der Kieler Universität war die
Verteilung des Stoffes nicht ganz die vorliegende. Es ging be¬
sonders ein Teil voraus, der den Studierenden zunächst die nötigsten
Kenntnisse über die Geschlechtskrankheiten, über ihre Verbreitung
und Gefahren bieten sollte.
Der zweite Teil geht dann über zur Prophylaxe der Ge¬
schlechtskrankheiten.
Da die Hauptquelle der Geschlechtskrankheiten der außer¬
eheliche Geschlechtsverkehr, die Prostitution im weitesten Sinne
des Wortes ist, so setzt eine auf realer Grundlage sich auf bauende
Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten Kenntnis der Prostitution,
ihres Umfanges und ihrer Ursachen voraus. Ganz besonders ist
es nötig, die Ursachen der Prostitution zu kennen. Denn, um es
gleich an dieser Stelle zu sagen: Es gibt im letzten Grunde nur
zwei Mittel zur Eindämmung der Geschlechtskrankheiten: Be-
19*
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260
v. Düring.
handlung der Kranken und möglichste Abgrabung der Ursachen
der Prostitution.
Der Versuch, sich aus der Literatur über diese Fragen eine
Meinung zu bilden, ist ein sehr mühevoller. Ich habe mich durch
einen großen Teil der speziellen wissenschaftlichen Literatur hin¬
durchgearbeitet, habe versucht, die Äußerungen der Abolitionisten,
Föderalisten, der Anhänger des dritten Geschlechts, der freien
Liebe zu verstehen, habe sogar die sogenannte „Vera-Literatur“
angesehen — aber ich muß bekennen, daß es kaum ein Gebiet
geben kann, auf dem die Gegensätze so unversöhnbar, so schroff
aufeinander stoßen. Die Grundansichten, z. B. die Auffassung dessen,
was als Prostitution zu bezeichnen ist, die Grundsätze, von denen
aus alle Fragen beurteilt werden, sind einfach unvereinbar.
Ich muß darauf verzichten, bis ins einzelne ausgeführte syste¬
matische Vorschläge zu machen. Vorschläge, wie sie z. B. Neisser
und Kromayer gemacht haben, müssen aus langer praktischer
Erfahrung heraus sich entwickeln — und auch dann haftet ihnen
oft viel Theorie an. Ich muß mich darauf beschränken, meinen
prinzipiellen Standpunkt zu allen Einzelheiten dieser verwickelten
Frage klarzustellen.
Eine Tatsache tritt dem unbefangenen Leser aus dem Studium
der aus Statistiken gezogenen Schlüsse entgegen, daß mit Statistiken
jeder beweist, daß gerade seine Ansicht die richtige ist
In der Hinsicht muß ich mich vollständig Blaschko, Neisser
anschließen. Neisser 1 ) sagt, „daß es vor der Hand durchaus
verfehlt ist, von der vorhandenen Statistik irgendwelche Unter¬
stützung für die eine oder die andere der sich bekämpfenden An¬
schauungen zu gewinnen“.
Ich halte es deshalb für überflüssig, alle die Statistiken zu
wiederholen und nachzutragen, die in den Arbeiten von Blaschko,
Neisser, Ströhmberg, Fiaux und anderer angeführt sind. Ge¬
rade in den angeführten Arbeiten und besonders in dem Neisser¬
sehen Referate auf dem ersten Kongreß der deutschen Gesellschaft
zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten sind alle einschlägigen
Fragen so erschöpfend und kritisch behandelt, daß man fast ein
Plagiat begehen müßte, wenn man die Frage eingehend behandeln
wollte. Ohne im einzelnen auf die Begründung meiner Ansichten
*) Reglementierung der Prostitution. 3. Heft der Veröffentl. d. Dtschn.
Gesellßch. z. Bekämpfung d. Geschlechtskrankh., S. 195.
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Persönl. Ansichten üb. d. Maßregeln z. Bekämpfung d. Geschlechtskrankh. 261
zu verzichten, halte ich es doch für viel wichtiger, in möglichster
Knappheit meine Stellung zu den einzelnen Fragen klarzustellen
als auf Grund der vieldeutigen Statistiken Schlüsse zur Begründung
meiner Ansichten zu machen. Es ist ja unleugbar und durchaus
menschlich, daß allgemeine ethische, moralische, religiöse An¬
schauungen uns bei der Wahl unseres Standpunktes viel mehr
beeinflussen als man im allgemeinen von vornherein zuzugeben
geneigt ist Man darf nicht vergessen, daß da, wo absolut be¬
weisende Zahlen fehlen, unsere Meinung durch Erfahrung gewonnen
wird und daß — bei aller guten Absicht, objektiv zu bleiben —
jede Erfahrung, d. h. Ergebnis einer Reihe von Eindrücken und
ihrer logischen Verarbeitung subjektiv wird.
Das scheint mir aus allen vorliegenden Arbeiten hervorzu¬
gehen, wenn es auch nicht in allen mit so auffallender Schwäche
hervortritt, wie in dem vielgenannten Ströhmbergschen Werke
über die Prostitution, auf das ich des öfteren zurückkommen werde,
und das wird auch meiner Arbeit anhaften — wir müssen von
bestimmten, bis zu einer bündigen Widerlegung für uns subjektiv
festen Punkten ausgehen.
A.
L Quellen der Geschlechtskrankheiten.
In der weitaus größten Mehrzahl der Fälle werden die Ge¬
schlechtskrankheiten durch den Geschlechtsverkehr überhaupt und
ganz besonders durch den außerehelichen Geschlechtsverkehr ver¬
breitet. Dieser Satz ist wesentlich für Europa gültig. Allerdings
ist auch hier die außergeschlechtliche Übertragung der Syphilis
sowohl wie der Gonorrhoe durchaus nicht selten. In einigen
außereuropäischen Ländern, z. B. gerade in dem Lande, in dem
ich meine Erfahrungen über Bekämpfung der Geschlechtskrank¬
heiten gewonnen habe, in Klein-Asien ist das Verhältnis gerade
umgekehrt Dort werden die Geschlechtskrankheiten weitaus in
der Mehrzahl der Fälle auf außergeschlechtlichem Wege verbreitet.
Daher sind auch die Erfahrungen, die ich in Klein-Asien gesammelt
habe, abgesehen von den ganz anderen politischen, sozialen Ver¬
hältnissen, keineswegs ohne weiteres in Deutschland zu verwerten.
Aber ein Punkt ist doch aus den dort gewonnenen Erfah¬
rungen außerordentlich lehrreich.
Die häutigste Quelle der Übertragung der Geschlechtskrank¬
heiten im außerehelichen Verkehr ist die Prostitution. Der Punkt,
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262
v. Düring.
um den sich alles dreht uud an dem bis jetzt alle Systeme in
Europa in den verschiedenen Ländern gescheitert sind, ist die
Schwierigkeit, die Prostitution zu fassen. Nun, unter Verhältnissen,
in denen die Prostitution viel offenkundiger, viel begrenzter und
viel weniger zahlreich war, in der Türkei, unter Bedingungen, in
denen die polizeiliche Gewalt eine viel rücksichtslosere, unbeschränk¬
tere, fast absolute war, war es gleichwohl fast unmöglich, die
Prostitution zu fassen. Während ich durch einen einfachen Be¬
fehl unter Assistenz der Gendarmerie jeden Einwohner, Männer,
Weiber, Kinder ganzer Ortschaften untersuchen konnte, während
niemand das Haus oder den Ort verlassen konnte, bis ich meine
Untersuchung beendigt hatte, ist es mir trotz der größten Be¬
mühungen niemals und nirgendswo, selbst nicht in den kleinsten
Orten gelungen, die Prostitution dauernd und gründlich unter Auf¬
sicht zu bekommen.
Diese Erfahrung werden wir nicht vergessen dürfen, wenn es
sich darum handelt, die Grundsätze festzulegen, nach denen wir
unsere Stellung zu der Frage der Überwachung der Prostitution
wählen wollen.
Wenn also die Prostitution die Hauptursache der Verbreitung
der Geschlechtskrankheiten ist, so deckt sich die Frage nach den
Mitteln zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten mit der Frage
nach der Sanierung der Prostitution.
Es sind ja Gemeinplätze, die hier ausgesprochen werden.
Aber gegenüber der sich laut vernehmlich machenden Agitation
der radikalen Abolitionisten muß immer wieder betont werden,
daß die Prostitution immer bestanden hat und immer bestehen
wird. Es ist ganz unnütz — eine rein akademische Frage — dar¬
über zu streiten, ob es zweierlei Moral gibt, eine Moral für Männer
und eine Moral für Frauen. Wenn man nicht fordern will, daß
der Staat die Unzucht als solche bestraft — und einen solchen
Unsinn wird ja ein vernünftiger Mensch nicht fordern — so muß
man sich damit ablinden, daß es stets in Masse Frauenzimmer
gibt, die sich zum Geschlechtsverkehr anbieten und daß es Männer
gibt, die außer der Ehe ihren Geschlechtstrieb zu befriedigen
suchen.
Wir wollen hier an dieser Stelle nicht auf die Frage ein-
gehen, aus welchen Gründen sich Frauen zum außerehelichen
Geschlechtsverkehr anbieten; ich werde darüber gleich des weiteren
sprechen. Aber einen Punkt müssen wir hier betonen: es ist
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Persönl. Ansichten üb. d. Maßregeln z. Bekämpfung cL Geschlechtskranke 263
durchaus eine direkte Verkennung der Tatsachen, wenn die
Föderalisten im Mann nur das brutale Geschlechtstier sehen. Die
freier entwickelten Mädchen der unteren Stände in der Stadt und
besonders die in sexueller Beziehung viel naiveren und frühreiferen
Mädchen auf dem Lande sind zum großen Teil geschlechtlich
ebenso anspruchsvoll wie die Männer. Übrigens fehlt die Sinn¬
lichkeit bei den Frauen und Mädchen der besseren Stände auch
nicht Die Gruppe der „Mutterrechtler“, des „dritten Geschlechts“,
die für sich das Becht beanspruchen, die weibliche Geschleohts-
befriedigung durch die Erfüllung des Mutterberufes, auch außer¬
halb der bürgerlichen Ehe zu erlangen, beweisen den „Föderalisten“
aufs schlagendste, daß ihre Ansichten einseitig sind.
Prostituierte wird es immer geben. In dieser Hinsicht findet
man in Büchern, die ernst genommen sein wollen, sonderbare An¬
sichten, ja Widersprüche. Ströhmberg 1 ) vertritt die Lombroso-
Tarnowskysche Ansicht, daß alle Prostituierten Degenerierte
sind und leitet aus dieser Tatsache die Berechtigung zu seinen
Ansichten über Reglementierung her. Derselbe Mann behauptet
aber S. 135, 136: „Kommt erst einmal das Prinzip der Männer¬
keuschheit zur allgemeinen praktischen Geltung, dann wird auch
die staatliche Kontrolle der Prostitution überflüssig sein.“ Die
Gefahr, daß der Verfasser jemals die Probe auf dieses Exempel
erleben könnte, tritt ja nicht ein. Aber ist es nicht ungeheuer¬
lich, in einem wissenschaftlichen Werke solchem Unsinn zu be¬
gegnen? Wenn die Prostituierten Degenerierte sind, so wird es
die auch geben, wenn alle Männer keusch sind. Und gibt es
denn nicht auch degenerierte Männer?
Gerade gegenüber solchen, bei uns allerdings kaum von einem
Fachmann vertretenen Anschauungen ist es um so nötiger die
IL Quellen der Prostitution
näher kennen zu lernen.
Unter „Quellen der Prostitution“ wollen wir hier zunächst
nicht verstanden wissen und nicht besprechen das Thema von
„Angebot und Nachfrage“.
Wir wollen nur sehen, aus welchen Kreisen und durch welche
Gründe Prostituierte geschaffen werden und dann uns fragen, ob
es nicht im Interesse einer klaren Fragestellung nach dem Recht,
*) Ströhmberg, Die Prostitution. Stuttgart 1899, Enke.
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264
v. Düring.
gegen die Prostituierten vorzugehen und nach den Mitteln, gegen
dieselben vorzugehen, liegt, den Begriff der Prostituierten einzu¬
schränken.
Obwohl ich noch nicht voll überzeugt bin, will ich zugeben,
daß es sowohl männliche wie weibliche Degenerierte gibt, die von
vornherein in verschiedener Hinsicht in einem mehr oder weniger
bewußten, nicht auszugleichenden Gegensatz zur Gesellschaft und
zu den von derselben aufgestellten als zu ihrer Aufrechterhaltung
nötigen Grundsätzen stehen. Viele Prostituierte mögen solche
Degenerierte sein. Ob aber diese Degenerierten unter allen Um¬
ständen Prostituierte werden mußten, der Beweis dürfte doch wohl
sehr schwer sein.
Wie oft sehen wir junge Männer lange so auf einer Grenze
gehen, daß jeder zufällige Stoß sie über die Grenze und aus der
Gesellschaft herausbringt. Wie viele angesehene tüchtige Männer
werden zugeben müssen, daß es Zeiten in ihrem Leben gegeben
hat, wo Imponderabilien, ein Zufall darüber entschieden haben, ob
ihr Leben sich so oder ganz anders gestaltet hätte.
Wer einmal den Halt etwas verloren hat, dessen ganze Seelen¬
stimmung ist schon nicht mehr normal. Anormales bergen wir
alle in uns. Wer bürgt uns dafür, daß nicht die Verhältnisse
dieses Anormale in ungeahnter Weise zur Entwicklung bringen
und wo beginnt — für den, der zu richten berufen ist — hier das
Recht, von Schuld oder von Unglück zu sprechen?
Degenerationszeichen wird man auch bei vielen Individuen
finden, männlichen und weiblichen, die deshalb durchaus noch
nicht Verbrecher oder Prostituierte geworden sind oder zu werden
brauchen.
Schließlich, wenn wir zugeben wollen, daß eine gewisse niedrige
Procentzahl derjenigen Frauenzimmer, die als Prostituierte im
weitesten Sinne des Wortes bezeichnet werden, zu dieser Preis¬
gabe ihres Körpers durch Degeneration vorherbestimmt sind, so
müssen wir uns doch immer fragen, ob nicht unsere heutige Ge¬
sellschaftsordnung eine grosse Schuld an dieser Degeneration trägt,
und ob es nicht möglich ist, dahin zu arbeiten, daß wir die Um¬
stände zu bessern suchen, die zur Degeneration führen.
Degenerierte sowie vollständig normale Frauenzimmer aber
werden heute durch die Schuld der Gesellschaft — ich betone
wieder, ganz abgesehen von der berühmten Frage des Angebots
und der Nachfrage — zur Prostitution getrieben.
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Google
Persönl. Ansichten üb. d. Maßregeln z. Bekämpfung d. Gesehlechtskrankh. 265
Ich sehe vorläufig ab davon, dass in leidlich normalen Ver¬
hältnissen aufgewachsene Menschen durch die Umstände und die
Not der Prostitution in die Arme getrieben werden können. Aber
wie viele Menschen wachsen unter Bedingungen heran, die jede
Spur von vorhandener Degeneration zur üppigsten Entfaltung
bringen und jeden Keim von besseren Eigenschaften von vornherein
ersticken müssen. Ich erinnere nur an die entsetzlichen Folgen
der Wohnungsnot, an das Aftervermieten an Einlogierer, Schlaf¬
burschen und Schlafmädchen. 1 ) Alle die unverheirateten Arbeiter
und Arbeiterinnen werden mit den Familien zusammengepfercht
Notzucht und Blutschande sind nichts Seltenes und die Kinder in
diesen Schichten sehen mit Augen, was andere Kinder noch nicht
ahnen. Und wo sollen die jungen Leute bleiben in der Zeit
zwischen Arbeit und Schlafengehen? In Kneipen niedrigster Art
essen sie schlechtes Essen, lernen den Schnaps kennen und treiben
sich nachher auf der Straße herum. Welches Elend machen weiter
Kinder trunksüchtiger Eltern durch! Viele Kinder — ich stütze
mich hier auf persönliche Angaben aus den Kreisen der hiesigen
Geistlichkeit — werden minderjährig während der Nachmittags¬
stunden nach der Schule verführt: das Zimmer in der elterlichen
Wohnung ist kalt, die Heizung ist nicht zu erschwingen, die Kinder
müssen sich von 4 bis 8 Uhr auf der Straße herumtreiben. Wenn
solche Kinder zur Prostitution kommen — können wir uns da mit
der wissenschaftlichen Feststellung der Tatsache begnügen, daß „die
weitaus größte Zahl der Prostituierten Degenerierte sind?“
*) Um nicht einerseits im Text alte Zahlen wieder zu bringen, andererseits
nicht mit leeren Worten zu kommen, teile ich einige (bekannte!) Zahlen mit:
Im Jahre 1885 gab es in Berlin 152 493 Wohnungen, die nur ein heiz¬
bares Zimmer enthielten; darunter wurden
46 141 Zimmer von 5— 9 Personen
554 „ „ 10 14 ,,
5 ,, ,, 15 19 „
2 „ von mehr als 20 Personen
bewohnt; von 31 320 Wohnungen, die überhaupt nur aus einem Raum be¬
standen, beherbergten ungefähr 2000 je 5—11 Personen.
1880 waren 5 °/o 4er Gesamtbevölkerung
1885 schon 6,1 % „ „
Schlafburschen oder -mädchen.
In Wohnungen, die aus einem heizbaren (teilweise mit unheizbarem
Nebenraum) oder überhaupt aus einem unheizbarem Raum bestanden,
wohnten 1880 mehr als die Hälfte der gesamten Berliner Bevölkerung.
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266
v. Düring.
Man möchte fast um Entschuldigung bitten, wenn man vor
einer wissenschaftlichen Versammlung derartige Gemeinplätze aus¬
spricht Wenn es aber möglich ist, daß in einer wissenschaftlichen
Arbeit Behauptungen Vorkommen, wie die bei Ströhmberg, dann
ist man dazu gezwungen. Ströhmberg (1. c. S. 80 ff.) läßt als
Grundursachen der Prostitution nur „die große Anzahl degenerierter
Weiber und die Beschaffenheit des männlichen Geschlechtstriebes“
als Gelegenheitsursachen „das soziale Elend in der Form des
vagabundierenden und kriminellen Proletariats (das nebenbei gesagt,
nach Ströhmberg, wieder aus Degenerierten besteht) und in nicht
geringerem Maße den Einfluß der Städte“ gelten — allen andern
Gelegenheitsursachen kann nur eine untergeordnete Rolle zugestanden
werden. „Als solche (1. c. S. 81 oben) werden gewöhnlich angeführt:
materielle Not, Arbeitslosigkeit, ungenügender Arbeitslohn der
Mädchen“ Arbeitsscheu ist nach Ströhmberg (1. c. S. 87) der
Grund zur Prostitution und nicht Arbeitslosigkeit. Und weiter
heißt es dann (1. c. S. 88): „Man kann doch nicht behaupten, daß
die Arbeitslöhne für große Schichten von Arbeiterinnen so niedrige
seien, dass sie dadurch zur Prostitution gedrängt werden; denn
die arbeitenden Mädchen prostituierten sich ja nicht, sondern die
faulenzenden und ungenügend arbeitenden.“
Wenn man derartiges schreiben kann, ist man entschieden
nicht imstande, die Frage nach den Ursachen der Prostitution und
nach den Maßregeln zu ihrer Bekämpfung zu beantworten. Es ist
viel lehrreicher, zur Beurteilung hier einschlägiger Fragen Flug¬
schriften, wie z. B. „S l l 2 Monate Fabrikarbeiterin“ von Minna
Weltstein-Adelt, oder Bücher, wie „das Recht auf die Mutter¬
schaft“ von Ruth Br6 oder „wenn die Menschen reif zur Liebe
werden“ von Carpenter oder die Vera-Literatur, die Literatur
des Vereins zur Hebung der Sittlichkeit u. s. w. als viele der wissen¬
schaftlichen Arbeiten mit Statistiken zu studieren, die zu den
klarsten Resultaten kommen — von der Wirklichkeit aber wenig
klare Vorstellungen haben. Ohne sich die zum Teil ganz verschro¬
benen, oft utopistischen Folgerungen der ebengenannten Partei¬
gänger zu eigen zu machen, erkennt man doch, daß unsere alten
Schemata und Formeln ohne Kenntnis des Denkens, Fühlens, der
Bedürfnisse, Kümmernisse und Nöte der in Betracht kommenden
Bevölkerungsschichten gemacht sind.
Für die Stellungnahme zur Frage der Reglementierung ist es
von höchster Wichtigkeit, sich klar darüber zu sein, welches die
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Persönl. Ansichten üb. d. Maßregeln z. Bekämpfung d. Geschlechtskranke 267
Quellen der Prostitution sind und was wir denn tatsächlich als
Prostitution ansehen wollen.
In den unteren Ständen, auf dem Lande sowohl wie besonders
in der Stadt ist der Begriff von Sittlichkeit ein ganz anderer als
in unseren Ständen. In vieler Hinsicht ist das ja gar nicht so
sehr zu beklagen, in anderer Hinsicht müssen wir uns darüber klar
sein, dass wir es nicht ändern können. „Das mannbare Mädchen“
findet eben seinen „Mann“. Ebenso wie in den oberen Ständen
mindestens 90 °/ 0 der jungen Männer nicht enthaltsam leben, ohne
deshalb „degeneriert“ zu sein oder zu werden, ebenso leben vielfach
in den unteren Ständen beide Geschlechter zusammen, ohne sich
um unser Sittengesetz zu kümmern. Dabei werden diese selben
weiblichen Wesen zum großen Teil gute Mütter, brauchbare Haus¬
frauen und meist treue Gattinnen.
Daß nun in den besseren Ständen derartiges selten vorkommt,
liegt daran, daß erstens die Folgen des Verstoßes gegen die Sitte
(ich sage absichtlich nicht Sittlichkeit) für das Individuum sehr
viel schwerer sind, daß zweitens die Mädchen unwissend und besser
gehütet sind und daß drittens die Mädchen zum Teil früher ver¬
heiratet werden als in den unteren Ständen. Es ist nicht zu be¬
streiten, daß bei vielen Mädchen, die nicht heiraten und keusch
bleiben, sich die Sünde gegen die Natur in Hysterie, „Altjungfer-
lichkeit“, Verkümmern geltend macht; der laute Ausdruck für die
gefühlten Entbehrungen der Weiber, denen sexuelle Bedürfnisse
angeblich fremd sind, sind Bücher wie „das dritte Geschlecht“,
das „Recht auf die Mutterschaft“ usw.
Trotzdem aber kommt aus verschiedenen Gründen, und wohl
hauptsächlich durch „das heiße Blut“ etwas Derartiges auch in den
höheren Ständen vor.
Wenn die Not an die Mädchen herantritt, so sind die Folgen
für die Mädchen der oberen und unteren Klassen oft dieselben —
nur daß die Vorbedingungen — Bekanntschaft mit dem Geschlechts¬
leben häufiger erfüllt und die Bedingungen materieller Not häufiger
eintreten in den unteren Ständen als in den oberen.
Es widerspricht ja direkt der Wahrheit, wenn Ströhmberg
behauptet, daß die Löhne für große Schichten der Arbeiterinnen
nicht so gering seien, daß sie dadurch zur Prostitution getrieben
würden. Ich will nicht zum so und sovielsten Male die Lage der
Arbeiterinnen der Konfektionsbranche, eines großen Teils der Haus-
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268 v. Düring.
industrie, der Künstlerinnen im weitesten Sinne des Wortes, der
Kellnerinnen usw. anführen.
Im Bericht der Gewerbekammer zu Leipzig 1888 heißt es z.B.:
„Die Lohnsätze mancher weiblichen Arbeiter, z. B. der
Stickerinnen und Näherinnen sind in der Tat so niedrig, daß selbst
bei angestrengtester Tätigkeit der Verdienst nicht ausreicht, den
dürftigsten Lebensunterhalt zu bestreiten; namentlich trifft es die¬
jenigen Arbeiterinnen hart, die allein stehen und lediglich auf
diesen Verdienst angewiesen sind. Diese sind geradezu gezwungen,
entweder an die Wohltätigkeit zu appellieren, oder andere, be¬
denkliche Wege einzuschlagen.“
Und Frankenstein in „Die Lage der Arbeiterinnen in
deutschen Großstädten“ (Sonderabdruck aus Schmollers Jahrbuch
für Gesetzgebung usw. Jahrgang XXII, Heft 2, S. 18) sagt: „Elin
sehr großer Teil der Arbeiterinnen unserer Großstädte erhält Löhne,
welche nicht hinreichen, die notwendigsten Bedürfnisse des Lebens
zu befriedigen und befindet sich aus diesem Grunde in der Zwangs¬
lage, entweder einen ergänzenden Erwerbszweig in der Prostitution
zu suchen oder den unabwendbaren Folgen körperlicher und
geistiger Zerrüttung zu verfallen.“
Besonders die für Wäschegeschäfte und ähnliche Zweige im
Hause arbeitenden Weiber verdienen in 14 ständiger Arbeit kaum
das trockene Brot — und oft reicht es kaum dazu. Und haben
wir denn ein Recht, Steine auf diese Menschen zu werfen, weil sie
auch am Sonntag sich amüsieren und einmal gut essen wollen?
Bei genügendem Lohne würden viele in dem in ihrem Stande
üblichen Verhältnis leben — so geraten sie dem in die Hände, der
ihnen über die Not weghilft!
Wenn die Ladenmamsell entlassen, die Fabrikarbeiterin ohne
Arbeit, das Dienstmädchen außer Stellung — womöglich alle drei
noch mit einem unehelichen Kinde vom Liebhaber verlassen sind
— dann kommen diese „praktischen Jüngerinnen der freien Liebe“
manchmal zur Prostitution. Viele, wenn ihnen nicht der Rückweg
durch die Polizei abgeschnitten ist, kommen bei besseren Zeiten
wieder auf einen anständigen Weg — einige fallen durch Charakter¬
anlage, durch Schulden, die ihnen gewissenlose Kuppler aufgehängt
haben, durch das Zeichen, das ihnen die polizeiliche Reglemen¬
tierung aufgeBeftet hat, der wirklichen Prostitution in die Arme.
Die ganze Klasse dieser praktischen Anhängerinnen der freien
Liebe darf man in dem Augenblick nicht mehr zur Prostitution
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Pereönl. Ansichten üb. d. Maßregeln z. Bekämpfung d. Geschlechtskrankh. 269
rechnen, in dem man unter Prostituierten das versteht, was Lom-
broso, Tarnowsky, Ströhmberg a. a. darunter verstehen wollen
— eine Klasse von Degenerierten.
Das dürfte doch niemals aus dem Auge zu lassen sein. Die
Grenze, wann man von Prostitution sprechen darf und wann noch
nicht, ist ja schwer zu ziehen — aber es muß alles vermieden
werden, was diese Grenze willkürlich und zu nahe an diejenige
Schicht heranrückt, der damit der Weg zur Rückkehr in die bürger¬
liche Gesellschaft abgeschnitten wird.
Bei der Ausbreitung der Geschlechtskrankheiten spielt die ganze
Klasse der praktischen Anhänger und Anhängerinnen der
freien Liebe die größte Rolle. Maßregeln zur Bekämpfung der
Geschlechtskrankheiten dürfen deshalb, wenn sie irgendwelche
Aussicht auf Erfolg haben wollen, nicht auf die eigentliche Prosti¬
tution zugeschnitten sein, sondern sie müssen den bestehenden und
nicht schlechtweg als unberechtigt hinzustellenden Verhältnissen
Rechnung tragen. — Zunächst aber wenden wir uns noch der
Frage zu:
m. Was geschieht gegenwärtig zur Bekämpfung der Geschlechts¬
krankheiten?
Nachdem wir in kurzen Zügen die Quellen der Geschlechts¬
krankheiten und die Quellen der Prostitution kennen gelernt haben,
dürften wir imstande sein, uns ein Urteil darüber zu bilden, ob
die heute gegen diese Schäden angewandten Maßregeln geeignet
sind, ihren Zweck zu erfüllen.
1. Die Reglementierung.
Wir haben die Frage der Reglementierung und im Anhänge
dazu die Bordellfrage zu erörtern.
Ich fange mit dem an, was eigentlich das Ergebnis der Kritik
am Schlüsse dieses Abschnittes sein sollte — mit einer absoluten
Verurteilung der gegenwärtig bestehenden Systeme der Reglemen¬
tierung, Bordellierung, sittenpolizeilicher Kontrolle und aller damit
zusammenhängenden Einrichtungen.
Was zunächst die Reglementierung, die Einschreibung und
sitten- und sanitäts-polizeiliche Kontrolle der Prostituierten angeht,
so hat nur die Polizei ein Interesse an der Aufrechterhaltung
dieser Einrichtung. Die eingeschriebenen, den Stamm bildenden
Prostituierten sind für die Polizei eine unentbehrliche Hilfstruppe
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270
v. Düring.
durch die intimen Beziehungen dieser Individuen zur Verbrecher¬
welt. Nur dieser Nutzen läßt die Behörden ihre Augen und ihre
Ohren allen Beweisen für die Ungesetzlichkeit, moralische Ver¬
werflichkeit, Nutzlosigkeit, ja geradezu Schädlichkeit, die Geschlechts¬
krankheiten ausbreitende Art dieser Reglementierung verschließen.
In ihrer gegenwärtigen Gestalt findet von außerpolizeilichen
Kreisen die Reglementierung kaum noch einen sachverständigen
Verteidiger; die meisten Kenner der Verhältnisse sind der Ansicht:
gar nichts ist besser als das, was besteht.
Einer der wenigen Autoren, der für polizeiliche Registration
und Zwangsbehandlung eine Lanze einlegt, ist Ströhmberg. 1 )
Wenn ich schon oben aus einer früheren Arbeit desselben Autors
mir durchaus einseitig erscheinende Urteile kritisierte, so will ich
hier nur einen Passus anführen, der jedem, der insbesondere
Berliner Verhältnisse kennt, die Überzeugung geben wird, daß
Ströhmberg doch wohl nicht ganz mit der Wirklichkeit rechnet.
Er meint (1. c. S. 79): „So sehr die Polizei sich es auch angelegen
sein lassen muß, sich der Einmischung in monogamische Ver¬
hältnisse, seien dieselben nun legitim oder illegitim, zu enthalten,
so wichtig ist es andererseits, daß sie sich bestrebt, sämtliche
Prostituierte, gleichgültig ob dieselben eine Nebenbeschäftigung,
z. B. als Kellnerinnen haben oder nicht, zu kennen und zur regel¬
mäßigen ärztlichen Behandlung anzuhalten, was nicht unmöglich
ist, da die Zahl der Prostituierten die Zahl der in den deutschen
Anstalten untergebrachten Irren höchstens um ein Drittel über¬
steigen dürfte. Ihre Eigentümlichkeiten, namentlich ihr unstätes
Umhervagieren und alle bei ihnen üblichen Kniffe, zum Zwecke
des Entschlüpfens der Kontrolle, sind natürlich zu berücksichtigen
und die Maßregeln entsprechend diesen Eigentümlichkeiten zu
treffen.“
Was die Schätzung der Zahl der Prostituierten angeht, so
erklären fast alle Autoren dieselbe für unmöglich. Wenn Berliner
Ärzte in ihren Angaben zwischen 10 000 und 50 000 Prostituierten
für Berlin schwanken, so wird es Ströhmberg trotz aller Auf¬
stellungen von Zahlen nicht möglich sein, irgend eine für Andere
überzeugende Zahl herauszurechnen. Und was seine übrigen Schlüsse
angeht, so ist es ja gerade die Erfahrung, durch die unsere
*) Ströhmberg, Die Bekämpfung der ansteckenden Geschlechtskrank¬
heiten im Deutschen Reich. Stuttgart 1903, Enke.
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Persönl. Ansichten üb. d. Maßregeln z. Bekämpfung d. Geschlechtskrankh. 271
ganzen Erörterungen veranlaßt werden: Man kann die Prostitution
in ihrer ganzen Ausdehnung überhaupt nicht fassen — mit der
Aufstellung des kategorischen Imperativs: die Polizei muß sie
fassen, ist die Frage keineswegs gelöst. Wenn die Polizei eine
Registrierung, Reglementierung und Assanierung der Prostitution
nur in einem irgendwie erheblichem Maße erreicht hätte, so
würden sich sehr wenige Stimmen gegen polizeiliche Überwachung
der Prostitution finden.
Die zwangsweise Einschreibung, denn das ist im größten
Teile Deutschlands heute die Reglementierung solcher Personen,
die gewerbsmässige Unzucht treiben, ist nun einfach eine von
Frankreich übernommene, bei uns durchaus ungesetzliche polizei¬
liche Maßregel, wie Schmölder 1 ) nach weist Im preußischen Straf¬
gesetzbuch von 1851 und im Deutschen Strafgesetzbuch heißt es:
„Bestraft werden Weibspersonen, welche polizeilichen Anordnungen
zuwider gewerbsmäßige Unzucht treiben.“ Schmölder kommt
S. 19 Lc. zu dem Schlüsse: „Das Eindringen der Zwangseinschreibung
auf preußischen und deutschen Boden ist ganz und gar gesetzwidrig.“
Damit ist das ganze Institut schon ^an und für sich gerichtet und
ich würde mich auf das lebhafteste an jeder Agitation beteiligen,
die sich gegen den gegenwärtigen Zustand richtet, weil es unerhört
ist, Machtbefugnisse, wie sie die Polizei gegen das bestehende Recht
sich anmaßt, derselben zu lassen.
Ich will diese Blätter nicht mit abgeschriebenen Geschichten
anfüllen über das Unheil, daß die Zwangseinschreibung auf ethischem
Gebiet hervorgebracht hat und hervorbringt. Die unteren Organe
unserer Polizei stehen wahrlich nicht durchweg auf der Höhe der
Sittlichkeit und des Taktes, die zur Aufrechterhaltung der öffent¬
lichen Sittlichkeit gefordert werden müssen und den oberen Organen
geht vielfach viel zu sehr der umfassende Blick ab, der bei dieser
außerordentlich heiklen Aufgabe nötig ist. Wie viele Mädchen
und Frauen, die nach meinen obigen Ausführungen eben nicht zu
den „Prostituierten“ im engeren Sinne des Wortes gehören, sind
durch die Zwangseinschreibung dazu gemacht worden! Wie viel
direkter Mißbrauch ist aus Übereifer, aus Rachsucht und aus anderen
Motiven mit der in die Hände untergeordneter Organe gelegten
Macht begangen worden! Der Fluch, der auf den unter „Sitte“
*) Oberlandesgerichtsrat Schmölder, Die gewerbsmäßige Unzucht und
die zwangsweise Eintragung in die Dirnenlisten. Berlin 1894.
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272
v. Düring.
stehenden Frauenzimmern liegt, macht ihnen die Umkehr fast un¬
möglich, wirkt in der furchtbarsten Weise zerstörend auf den Rest
von Selbstachtung, guten Willen und Scham, den sie besitzen.
Gerade die raffinierten, mit der Zeit sicher der erklärten Prostitution
verfallenden Frauenzimmer wissen am besten die Polizei zu täuschen
und man kann oft genug hören, in welcher Weise sie die Agents
provocateurs direkt an der Nase herumführen. Die Neulinge, die
Gelegenheitsprostituierten, die Frauenzimmer, die aus Not ihre mehr
oder minder häufige freie Liebe nun auf die Straße ausdehnen,
von denen aber ein großer Teil mit mehr oder minder Anstand
noch wieder das Ufer erreicht, diese Neulinge fallen am leichtesten
der Polizei in die Hand und diese schneidet ihnen durch die
Zwangseinschreibung den Weg zur Rückkehr ab.
Durchaus meinen Anschauungen entspricht weiter, was auf
Zuerteilung derartiger Machtbefugnisse an die Polizei in dem ganz
ausgezeichneten, einfachen, nüchternen Bericht des „Komitees der
Fünfzehn“ 1 ) gesagt wird (L c. S. 91, 92): „Wir müssen hier noch
einen mehr politischen als moralischen Einwurf hinzufügen. Männer
mit politischem Verstände sind — wenigstens in angelsächsischen
Staaten der Ansicht, daß jeder Eingriff in die Freiheit des Indivi¬
duums ein Übel an sich ist, und daß er sich nur dadurch recht-
fertigen läßt, daß das daraus entstehende Gute wirklich sehr hoch
an zuschlagen ist Ein System, das es der Polizei ermöglicht, auf
einen Verdacht hin irgend einen Bürger anzuhalten und ihn einer
verletzenden Untersuchung zu unterziehen, nur zu dem Zwecke,
eine etwa vorhandene Krankheit zu entdecken und ihn dann ins
Gefängnis zu stecken auf den Verdacht hin, daß er unmoralischen
Verkehr haben könnte, wenn man ihn freiließe, kann unmöglich
als mit den Prinzipien der persönlichen Freiheit in Übereinstim¬
mung bestehend bezeichnet werden.“ Und sehr richtig fügen die
„Fünfzehn“ hinzu, daß diese Maßregel um so unmoralischer sei als
in Berlin und Paris die Polizei reglementierte Frauenzimmer zur
Jagd auf und zur Denunziation von verdächtigen Frauenzimmern
gebraucht
Gesetzlich ungültig, vom ethischen Standpunkt verwerflich,
bliebe nun noch zu untersuchen, ob hygienisch durch die gegen-
! ) The Social Evil. With special reference to conditions existing in the
City of New-York. A report prepared under the direction of the Committee
of Fifteen. G. P. Putman’s Sohn. New-York and London. The Nickerbooker
Press 1902.
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Persönl. Ansichten üb. d. Maßregeln z. Bekämpfung d. Geschlechtskrankh. 273
wärtige Form der Überwachung der Prostitution irgend etwas er¬
reicht sei. Ich erinnere an das oben schon angeführte Wort
Neissers über den Wert der Statistiken und der aus ihnen ge¬
zogenen Schlüsse. Ich mache mich anheischig, aus jeder Statistik
ungefähr genau das Gegenteil zu beweisen von dem, zu dessen
Stütze sie angeführt wird und in der Tat findet man dieselben
Statistiken unter verschiedener Interpretation wieder zum Beweise
der entgegengesetzten Behauptungen.
Auch ohne Statistik läßt sich aber sofort verstehen, daß die
gegenwärtige Form der Reglementierung hygienisch absolut be¬
deutungslos ist. Zunächst möge man doch nur die Zahlen der
reglementierten Prostituierten und der geheimen, gelegentlichen usw.
gegeneinander halten. Im günstigsten, durchaus unwahrschein¬
lichen Falle ist in Berlin die Hälfte der Frauenzimmer reglemen¬
tiert — nach anderen Aufstellungen der zehnte Teil Von den
Reglementierten ist aber in der Tat wirklich unter Aufsicht nur
ein kleiner Teil Die „Flucht aus den Listen“ macht die hygie¬
nische Überwachung der Prostituierten völlig illusorisch. Fiaux 1 )
führt das sehr klar aus; ich entnehme ihm die von der Frau
K. Scheven herrührende Zahl über Berlin, daß an den 4000
reglementierten Frauenzimmern von 1888—1901 208000 ärztliche
Untersuchungen hätten vorgenommen werden müssen — es sind
aber nur 94000 gemacht. Also mehr als 50°/ 0 der Untersuchungen
sind ausgefallen. Sobald ein Frauenzimmer sich krank weiß oder
etwas auf dem Kerbholz hat, verschwindet sie aus den Listen und
taucht an anderen Stellen wieder auf.
Daß ein Nutzen der Untersuchung und Behandlung auf
Gonorrhoe nur unter ganz idealen, vorläufig gar nicht durch¬
zuführenden Verhältnissen eintreten kann, das gibt selbst Neisser
implicite zu; er hat sonst in seinen Ausführungen von der Heil¬
barkeit und von der Möglichkeit, die Gonorrhoe verhältnismäßig
unschädlich zu machen, recht Aber einmal ist dieses „verhältnis¬
mäßig Unschädlichmachen“ doch ein sehr angreifbarer Kompromiß
und ein sehr dehnbarer Begriff; und zweitens würden sich der
Durchführung und der Zuverlässigkeit dieser Maßregel doch ge¬
waltige Schwierigkeiten in den Weg stellen, wenn es sich z. B. in
Berlin um 20, 30 oder 50000 Prostituierte handelte statt um 4000.
M Louis Fiaux, La Prostitution „cloiträe“. Les maisons de femmes
autoris6es par la police devant la M4dicine publique. fitude de Biologie
sociale. Bruxelles, Henri Lamertin. Leipzig 1902, Max Rabe.
Zeitschr. f. Bekämpfung d. Geschlechtskrankh. III. 20
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274
v. Düring.
Die Behauptung, daß die reglementierte Prostitution weniger
gefährlich sei als die nicht reglementierte, ist durchaus unbewiesen.
Die zum Beweise angeführten Zahlen lassen sich ebenso gut anders
erklären.
Viele Zahlen aus verschiedenen Ländern und besonders
Blaschkos Ausführungen, die mir unwiderleglich erscheinen, be¬
weisen, daß die reglementierten Prostituierten gefährlicher sind
und daß die anscheinend das Gegenteil beweisenden Zahlen auf
falscher Auslegung beruhen. Die anscheinend niedrigeren Prozent¬
zahlen der Reglementierten müssen auf viel höhere Untersuchungs¬
zahlen der Nichtreglementierten reduziert werden — dann fallen
die Prozentzahlen zu ihren Ungunsten aus.
Ich möchte hier gerade auf Kieler Verhältnisse eingehen.
In dem unter der Direktion des Herrn Professor Dr. Hoppe-
Seyler stehenden Städtischen Krankenhause werden sämtliche
kranke Prostituierte, reglementierte und von der Polizei auf¬
gegriffene nicht reglementierte Prostituierte behandelt. Die Sta¬
tistiken 1 )*) scheinen zu beweisen, daß fortlaufend „die geheime
Prostitution zahlreichere syphilitische Erkrankungen aufzuweisen
habe als die öffentliche; auch in den übrigen Genitalerkrankungen
bieten die kontrollierten Dirnen günstigere Verhältnisse dar.“
Es haben dargeboten syphilitische Erkrankungen unter 100
auf dem städtischen Krankenhause wegen venerischer Affektionen
behandelter Frauenzimmer:
Jahre.
Öffentliche Prostitution.
Geheime Prostitution.
1892-93
8,3 Fälle
22,5 Fälle
1893—94
14,7 „
39,8
99
1894—95
19,2 „
39,2
9 ?
1895—96
25,7 „
28,3
99
1896—97
19,7 „
34,8
99
Weiter wird angegeben:
1899
15,6 %
22%
1901
M%
13%
Diese Zahlen können der Wirklichkeit entsprechen; es ist mög¬
lich, daß in der Tat die nachweisbaren syphilitischen Erkrankungen
l ) Dr. med. Hans Wullenweber, Zur Verbreitung der venerischen
Krankheiten in Kiel. Berl. klin. Wochenschr. 1898, Nr. 49 u. Jahresberichte
der Krankenhaus-Kommission von 1899, 1900, 1901.
*) Siehe auch die neuerlich erschienene Statistik Schirrens.
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Persönl. Ansichten üb. d. Maßregeln z. Bekämpfung d. Geschlechtskrankh. 275
bei den kontrollierten Prostituierten seltener sind als bei den
nicht kontrollierten. Viel wahrscheinlicher ist es aber anders. Es
ist bei so kleinen Zahlen, um die es sich hier handelt, sicher, daß
verhältnismäßig viele geheime Prostituierte eben deshalb angegriffen
worden sind, weil gegen sie Denunziationen Vorlagen wegen Krank¬
heit! Die große Masse der Dienstmädchen, der „gelegentlichen
Prostitution“ ist nicht untersucht! Dann muß die Prozentzahl flir
Erkrankungen bei ihnen natürlich sehr schnell in die Höhe gehen.
Übrigens stehen dem auch andere Zahlen entgegen; so wird
von Blaschko folgendes angeführt:
jährl. Prozentsatz der an Syphilis Erkrankten
reglementierte freilebende
Paris 1878—87 12,2 7,0
Brüssel 1887—89 25,0 9,0
Petersburg 1890 33,5 12,0
Antwerpen 1882—84 51,3 7,7
In Christiania ist im Jahre 1888 die Kontrolle aufgehoben.
Während nach der Statistik 1 ) auf die Einwohnerzahl berechnet
von 1876—1888 die Prozentzahl zwischen 1,28 °/ 0 und 2,07°/ 0
(niedrigste und höchste) schwankt, sinkt sie:
1887 auf 1,14
1888 „ 0,66
1889 „ 0,75
erreicht 1897 einmal 1,69
und ist 1901 1,27
1902 1,24.
Hiernach hätte also die Syphilis nach Aufhebung der Kontrolle
in Christiania abgenommen! Herr Professor Laach in Christiania
hatte die Güte, mir mitzuteilen, daß die Aufhebung gegen die
Ansicht der meisten Ärzte erfolgt sei, und daß er glaube, für die
Abnahme der Syphilis in den letzten Jahren sei der Niedergang
des Wohlstandes infolge der Krisen und die große Auswanderung
junger Männer anzuschuldigen. Mit dem gleichen Recht werden
aber die Gegner der Kontrolle sagen können, daß jedenfalls die
Aufhebung der Kontrolle nicht die Syphilis vermehrt hat; daß
weiter in Zeiten wirtschaftlichen Niederganges eher die Syphilis
») Ustvedt, De veneriske sykdomme i Kristiania 1902. Sonderabdr. aus
Tidskrift for Den norske laegeforening 1903, Nr. 13.
20 *
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v. Düring.
zunehmen müßte weil die Prostitutionsgelegenheit zunimmt und
die „festen Verhältnisse“, das „Aushalten“ abnimmt.
Weiter, um auf die Kieler Verhältnisse zurückzukommen, so
ist allerdings auch der verstorbene Prof. Dr. Bockendahl 1 ) der
Ansicht, daß die Zahlen für Kiel eine weit größere Gefährlichkeit
der nicht reglementierten Prostitution ergeben. Wofern die An¬
gaben, die uns über die Quelle der Infektion gemacht werden,
wahr sind, kann es ja sein, daß Bockendahl recht hat. Er
rechnet aber als nicht reglementierte Prostituierte „die wilde
Prostitution“, „die freie Liebe“ und „unbekannten Ursprung“ zu¬
sammen. Nun, die freie Liebe ist nie zu fassen. Am klarsten
geht das aus einer Erfahrung beim Marine-Militär hervor: die In¬
fizierten geben als Infektionsquelle sehr häufig Prostituierte an,
die ganz gesund gefunden werden, um nicht ihre Verhältnisse zu
kompromittieren.
Weiter wäre es durchaus ungesetzlich und direkt zu bekämpfen,
jedes Mädchen, das einen Schatz hat und krank ist, deshalb zu
fassen und zur Zwangsbehandlung zu bringen — wenn wir nicht
ein Gesetz mit Anzeigepflicht und Zwangsbehandlung für die ganze
Bevölkerung einführen wollen.
Daß aber „unbekannter Ursprung“ ohne weiteres der nicht
reglementierten Prostitution zugerechnet wird, ist auch unberechtigt
Manche reglementierte Prostituierte spielt sich, wenn es ihr prak¬
tischer erscheint, dem Manne gegenüber als „anständiges Mädchen“
auf; und mancher von denen, die unter „unbekannten Ursprung“
gezählt werden, haben eben reglementierte, nicht reglementierte
und andere „Gelegenheiten“ durcheinander gehabt und wissen
deshalb keinen Ursprung anzugeben. .
Wenden wir uns noch einmal den Christianiazahlen zu, so
ließe sich sehr wohl die Tatsache, daß die Aufhebung der Kontrolle
doch sicher kein Ansteigen der Syphiliszahlen zur Folge gehabt
hat, so erklären, daß sich nunmehr, nach Aufhebung der Kontrolle,
sehr viele kranke Mädchen haben behandeln lassen, die sich vor¬
her verbargen, um nicht der Sittenpolizei in die Hände zu fallen.
Vielleicht ließe sich im allgemeinen eine etwas geringere Zahl
der reglementierten Prostitution für die Syphilis herausrechnen —
für die Gonorrhoe ist es keineswegs der Fall. Was nützen aber
*) Dritter Bericht über die Geschlechtskrankheiten in Kiel u. Umgebung
für das Jahr vom 1. Sept. 1900 bis 1. Sept. 1901.
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Persönl. Ansichten üb. d. Maßregeln z. Bekämpfung d. Geschlechtskranke 277
diese kleinen Vorteile gegenüber der riesigen Zahl von Prostituierten,
die nun, um nicht der rechtlich und ethisch gleich verwerflichen
Zwangsreglementierung zu entgehen, sich der Behandlung entziehen?
Ist es denn den Frauenzimmern zu verdenken, daß sie alles Mög¬
liche versuchen, um nicht eingeschrieben zu werden? Ist es ihnen
zu verdenken, daß die an den meisten Orten nicht sehr decente,
den letzten Rest von Schamgefühl bei den Weibern vernichtende
Art der Untersuchung gerade die noch nicht ganz verkommenen
unter ihnen veranlaßt, sich zu drücken? Wenn die der gelegent¬
lichen Prostitution, der freien Liebe ergebenen Weiber sicher wären,
im Krankheitsfalle sich zur Behandlung stellen zu können, ohne
sich der Gefahr auszusetzen, der Polizei angezeigt, zwangsweise ins
Krankenhaus geschafft, zwangsweise ins Register der Prostituierten
eingetragen und zwangsweise regelmäßig zur Untersuchung gebracht
zu werden, so würden sich sehr viele von ihnen behandeln lassen,
die es heute nicht tun!
Ganz vorübergehend will ich nur berühren, daß die Täuschung
der männlichen Besucher und gerade der jüngsten und unerfahrensten
durch die „Gesundheitskarte“ der reglementierten Prostitutierten
eine viel größere ist als man gemeiniglich annimmt, und daß sie
eine Verantwortlichkeit auf den Staat legt, der er einerseits nicht
genügen kann und die andererseits durchaus seiner unwürdig ist
Wenn aber wirklich — ich bezweifele es — die Reglementierung
einen minimalen hygienischen Nutzen bringen sollte — er wird
hundertfach aufgewogen durch den Schaden, der durch die Nicht¬
behandlung der anderen kranken weiblichen Individuen entsteht
Da eben gerade die Mehrzahl der geschlechtlich anspruchsvollen
Männer nicht mit „Reglementierten“ verkehrt, da — wie die Er¬
fahrung hundertfältig bewiesen hat und beweist — gerade diese
Seite der Prostitution nicht gefaßt und nicht behandelt, und zwar
aus Furcht vor der Polizei, aus Mangel an Gelegenheit und aus
Not nicht behandelt wird, so sollten sich alle Maßregeln nur darum
drehen: wie kann man der großen Masse der unfaßbaren Kranken
eine Behandlung zuteil werden lassen?
Über diese Nutzlosigkeit oder Schädlichkeit der Reglementierung
kann nur Mangel an Sachkenntnis hinwegtäuschen. Höchst interessant
ist, daß in dem Lande, das uns die Reglementierung gebracht hat,
in Frankreich, gerade letzthin eine außerparlamentarische Kommission,
in der zunächst die Reglementaristen (unter ihnen die ersten ärzt¬
lichen Autoritäten und der Polizeipräfekt Löpine) die Majorität
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278
v. Düring,
hatten (60:5), schließlich zu Beschlüssen gekommen ist, deren einer
lautet: „Die Reglementierung der Prostituierten ist verwerflich.
Ein besonderes wunder Fleck ist die Zwangseinschreibung
Minderjähriger. Ich werde darauf zurückkommen bei der Be¬
sprechung der durch das Fürsorgegesetz vorzusehenden Maßregeln.
Eine von verschiedenen Seiten aufgestellte Forderung möchte
ich an dieser Stelle abtun, die zunächst sehr vernünftig erscheint
und immer wieder auftaucht, im Grunde aber sicher ihren Zweck
verfehlen wird. Man will die Männer, welche Bordelle besuchen,
einer Untersuchung unterziehen. Abgesehen davon, daß diese Ma߬
regel auf die wirkungsvolle Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten
schon deshalb nur den minimalsten Einfluß haben würde, weil nur
sehr wenig Männer die Bordelle besuchen, ist dieser Vorschlag
auch noch aus anderen Gründen durchaus zu verwerfen. Erstens
ist es nämlich ganz unmöglich, wenn nicht ganz augenfällige Er¬
scheinungen einer Erkrankung vorliegen, in der Geschwindigkeit,
wie sie zwischen Tür und Angel eines Bordells nötig wäre, eine
einigermaßen zuverlässige Untersuchung vorzunehmen. Ein Mann
mit frischer Gonorrhoe z. B., der eben uriniert hat, würde unter
Umständen als gesund durchgehen; wie man aber chronische Go¬
norrhoe oder eine wenig Symptome machende Syphilis in der Eile
erkennen will, ist mir nicht recht begreiflich.
Zweitens würden aber gerade die Anhänger der Reglementierung
und der Bordelle durch die obligatorische Untersuchung der Männer
den schon an und für sich nicht mehr lebensfähigen Bordellen den
letzten Boden abgraben. Es mag ja sein, daß unter ganz be¬
sonderen Verhältnissen eine ähnliche Einrichtung vorübergehend
möglich ist.
So sollen z. B. in China für die Okkupationstruppen und die
dort landenden Marinesoldaten Bordelle mit obligatorischer Unter¬
suchung der Männer bestehen. Dort wird dieselbe von einem
älteren Sanitätsgasten vorgenommen — mit welchem Erfolg bleibt
abzuwarten. Im allgemeinen aber halte ich den ganzen Gedanken
für eine Utopie.
Beiläufig möchte ich nur noch wissen, wen man dann mit
einer so angenehmen Aufgabe zu betrauen gedenkt Anständige
ausgebildete Ärzte werden diese ärztliche Portierstellung in Bordells
nicht beanspruchen.
(Schluß folgt.)
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Bemerkung zu Blokueewkis Erwiderung auf meine Arbeit „Ober
den Wert der modernen Instillationsprophylaxe der Gonorrhoe“.
Von Dr. B. de C&mpagnolle, Manchen.
Blokusewski, der Autor der bekannten ,,Samariter“-Schutztropfen,
sucht die Beweiskraft der von mir beobachteten sechs Infektions fälle da¬
durch abzuschwächen, daß er für die Hälfte dieser Fälle, für jene, wo
vor der Einträufelung nicht uriniert werden konnte, eine vorschrifts¬
mäßige Anwendung der Prophylaxe in Abrede stellt.
Diese nachträgliche Erklärung Blokusewskis, das vorherige Wasser¬
lassen sei strikte Vorschrift, also Vorbedingung der Sicherheit der
Schutztropfen, wird, wie mich, jeden überraschen, der Blokusewskis
Gebrauchsanweisungen zu seinen Apparaten eingesehen hat. Sie lauten:
I. Für den Protargolsamariter: „Bei Benutzung des Apparates ist
ein vorhergehendes Urinieren nicht unbedingt notwendig“ (in Paren¬
these: sogar beim Höllensteinsamariter erklärt Blokusewski das in
diesem Falle aus Zersetzungsgründen sehr nötige Urinieren nicht für
obligatorisch, sondern nur für zweckmäßig).
II. Für den Albargin-„Sanitas“-Tropfer: „Zweckmäßig, indessen
nicht unbedingt nötig, ist vorheriges Urinieren.“
Diese Vorschriften können weder von den Käufern der Apparate
noch von irgend einem Unbefangenen im Sinne einer strikten Mahnung
gedeutet werden, daß die Einträufelung ohne Verbindung mit dem alt¬
bekannten Miktionsschutz eine unsichere Sache sei, sie enthalten kein
kräftiges Memento, eher ein bequemes Ad libitum.
Die Erklärung für diese lose Fassung liegt aber sehr einfach darin,
daß Blokusewski, mit der Wahl des Protargols auf den bekannten
Versuchen E. R. Franks fußend, gleich diesem Autor den Protargol-
instillationen im Gegensatz zu jenen mit Lapis auch ohne vorausgehende
Miktion genügende bakterizide Wirkung zuschrieb und damit einen Vor¬
zug, der den Protargolschutz als besonders einfach und kräftig erscheinen
lassen mußte.
Ob man nun die Unterstützung der Schutztropfen durch Wasser¬
lassen für obligatorisch erklärt oder nicht: Dieselben sind weder mit 1 )
noch ohne Miktion zuverlässig. Sie verhindern gewiß viele Infektionen,
*) Daß in meinem Infektionsfalle I rechtzeitig und nicht etwa, wie
Blokusewski liest, erst 37 Stunden post coit. instilliert wurde, ist schon
aus der textlichen Darstellung zu entnehmen.
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280 Bemerkung zu Blokusewskis Erwiderung usw.
was gerade auch aus meinen Untersuchungen, an die ich ohne jede Vor¬
eingenommenheit herantrat,*) hervorgeht, aber einen sicheren Schutz bieten
sie keineswegs. Dies aber betrachte ich gar nicht als ein wichtiges
Ergebnis meiner Arbeit, denn das gleiche Urteil ist bereits vor mir
auf der Basis einer Statistik und neuerdings gleichzeitig mit meiner
Veröffentlichung mehrfach von berufenen Beobachtern gefällt worden.
Wossidlo bemerkt in seinem Lehrbuch („Die Gonorrhoe des
Mannes und ihre Komplikationen, 1908), daß die Instillationen den ab¬
soluten Schutz des Kondoms nicht gewähren und daß man sie daher nur
för die Fälle, wo letzterer platzt, empfehlen sollte, und v. Notthafft
(Deutsche Praxis 1904, Nr. 28 u. 24) schreibt: „Auch wir sind durch eine
beträchtliche Anzahl von Fällen, in welchen trotz vorschriftsmäßiger An¬
wendung der „Schutztropfen“ nachträglich Gonorrhoe verschiedener Stärke
auftrat, zu ziemlich skeptischen Anschauungen gelangt“
Vielmehr glaube ich in den Mittelpunkt meiner Beobachtungen die
Ergebnisse der methodischen Untersuchungen stellen zu dürfen, die ich
bezüglich Art, Umfang und Tragweite der durch die Desinfektions¬
prophylaxe hervorgerufenen Reizungen als Erster anstellte, und die mich
zu dem Resumö gelangen ließen, daß das Verfahren, weil nicht selten
schädlich wirkend, nur unter ärztlicher Vermittelung und Kontrolle
gebraucht werden sollte, und daß der freie Verkauf der starken Lösungen
als gefährlich zu bekämpfen ist.
l ) Gerade daß ich — was mir Blokusewski vorhält — „nichts Besseres
bringe“, d. h. daß meine Arbeit nicht wie üblich auf die Anpreisung einer
besseren, „erprobten“ Methode hinausläuft, wird in dieser Beziehung zu
meinen Gunsten sprechen.
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Tagesgeschichte.
Parlamentarisches.
Da9 Ausführungsgesetz zum Reichsseuchengesetz oder, wie
der offizielle Titel nunmehr lautet, das Gesetz betr. die Bekämpfung
übertragbarer Krankheiten ist vor kurzem im Preußischen Abge¬
ordnetenhause in dritter Lesung angenommen worden. Da es nicht
wahrscheinlich ist, daß der Gesetzentwurf noch im Herrenhause scheitert, so
muß man damit rechnen, daß der Entwurf in wenigen Wochen Gesetzes¬
kraft erlangen wird.
Die Geschlechtskrankheiten werden nur in einem Paragraphen berührt.
Geblieben ist in dem neuen Entwurf die Bestimmung: bei Syphi¬
lis, Tripper und Schanker kann eine zwangsweise Behandlung der
erkrankten Personen, sofern sie gewerbsmäßig Unzucht treiben, angeord¬
net werden, wenn dies zur wirksamen Verhütung der Verbreitung der
Krankheit erforderlich erscheint. Auf Antrag des Abg. Münsterberg,
welcher sich die Ansicht der D. G. B. G. über diesen Punkt zu eigen
gemacht hatte und auch schon in der Kommissionsberatung für die
Streichung dieses Passus eingetreten war, beschloß das Haus dagegen
die Streichung der aus dem Regulativ entnommenen Bestimmung, nach
welcher der Privatarzt Fälle von Syphilis, Tripper oder Schanker
bei Unteroffizieren und Mannschaften des aktiven Heeres, die in seine
Behandlung kommen, dem Kommando des betreffenden Truppenteils oder
dem bei demselben angestellten Obrr-Militärarzte unverzüglich zu melden
hatte.
Das preußische Abgeordnetenhaus beschäftigte sich vor kurzem
in zweiter Lesung mit dem Antrag des Grafen Douglas auf Beschaffung
eines Volkswohlfahrtsamtes. Der Antrag lautet nunmehr: ,,Die König¬
liche Staatsregierung zu ersuchen, als behördliche Einrichtung zur För¬
derung der Volks wohl fahrt in Stadt und Land möglichst bald ein
Volkswohlfahrtsamt zu schaffen, behufs ausgiebiger Mitwirkung des
Laienelements ihm einen ständigen Beirat anzugliedern und die hierfür
erforderlichen Mittel im Staatshaushaltsetat bereitzustellen. Das Volks¬
wohlfahrtamt soll unmittelbar dem Staatsministerium unterstellt werden,
die Ernennung des Vorsitzenden und der Mitglieder durch den König
erfolgen. Es soll ihm insbesondere obliegen: 1) die Entwickelung der
Volkswohlfahrtspflege im In- und Auslande zu verfolgen und darüber
der Staatsregierung fortlaufend Bericht zu erstatten; 2) Wahrnehmungen,
die ein Eingreifen oder eine Abänderung der Gesetzgebung oder der
Verwaltungstätigkeit erforderlich erscheinen lassen, der Staatsregierung
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282
Tagesgeschichte.
mitzuteilen; 3) auf Anordnung der Staatsregierung Gutachten zu er¬
statten, Vorschläge auszuarbeiten und bei der Vorbereitung von Gesetz¬
entwürfen und Verwaltungsanordnungen mitzuwirken; 4) auf Anordnung
der Staatsregierung bei größeren Unglücksfällen oder Notständen die
freiwillige Hilfstätigkeit einheitlich zu leiten. — Bei der Berufung in
den ständigen Beirat sollen die privaten Volks Wohlfahrtsorganisationen
und die beiden Häuser des Landtags besonders berücksichtigt werden.
Der Beirat soll jährlich mindestens einmal einberufen werden, um den
Geschäftsbericht des Volks Wohlfahrtsamts entgegenzunehmen und sich über
ihn zu äußern. Er soll einzelne Fragen der Volks Wohlfahrtspflege be¬
raten und begutachten, wenn dies von der Staatsregierung angeordnet
oder von einem Viertel der Mitglieder beantragt wird und soll befugt
sein, selbständig Anträge an die Staatsregierung zu stellen. Den
Sitzungen des Beirats sollen Beauftragte der Staatsregierung mit
beratender Stimme beiwohnen dürfen. Im übrigen soll der Geschäfts¬
gang des Volks Wohlfahrtsamts und des Beirats durch eine Verordnung
des Staatsministeriums geregelt werden.
Wir geben als besonders wichtig und interessant einiges aus den
Ausführungen des Ministers v. Bethmann-Hollweg wieder:
„Aus dem Beschluß der Kommission und aus den Äußerungen der
Vertreter der verschiedenen Parteien geht die Überzeugung des Hauses
hervor, daß eine weitere Ausgestaltung der Volkswohlfahrts-
pflege eine der wichtigsten und ernstesten Aufgaben der
Gegenwart bildet. Die Regierung ist für diese Bekundung auf¬
richtig dankbar und erblickt insoweit in den Motiven, die dem An¬
trag zugrunde liegen, eine höchst erfreuliche Übereinstimmung der
beiderseitigen Ansichten. Schließlich bildet die Forderung natio¬
naler Volkskultur den Kern jeder staatlichen Tätigkeit und
ich persönlich halte in dem Beamtenkreise und den Behörden, die
mit meinem Ressort Zusammenhängen, die Beamten für die tüchtig¬
sten, die den Schwerpunkt ihrer Pflicht in der Förderung
solcher nationalen Volkskultur erblicken. Zweifellos ist auf
dem Gebiet der Volkswohlfahrtspflege, ganz abgesehen von der Tätigkeit
der Staats- und Reichsbehörden, sehr viel geschehen, aber ebenso un¬
zweifelhaft ist mir, daß sehr viel zu tun übrig bleibt. Der Abgeordnete
Goldschmidt hat ebenso interessante wie bedauerliche Zahlen über die
Sterblichkeit der Säuglinge mitgeteilt, andere Herren haben auf andere
Gebiete verwiesen. Es sei mir gestattet, einige Bemerkungen allgemeiner
Natur zu machen. Man hat in deD letzten Jahrzehnten das Haupt¬
gewicht gelegt auf die Fürsorge für die in irgend einer Beziehung
Schwachen, auf die Verbesserung der Krankenhauspflege, auf die Gründung
von Heilstätten, auf die Unterbringung von Siechen, Irren usw. Nicht
nur der Gang unserer sozialen Gesetzgebung, sondern auch die Er¬
starkung des sozialen Sinnes erklärt dies, rechtfertigt es für die Ver¬
gangenheit und fordert weitere Ausgestaltung für die Zukunft. Aber
persönlich will mir erscheinen, daß wir bei einzelnem dieser Ein¬
richtung auf Formen gekommen sind, welche über das Kultur- und
Zivilisationsniveau der gesunden Bestandteile der Bevölkerung hinaus-
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Tagesgeschichte.
283
gehen. Wir werden daraus nicht die Folgerung zu ziehen haben,
daß wir in der Fürsorge für Schwache nachlassen, aber die Forderung,
daß wir in der Fürsorge für die Gesunden Unterlassenes nachholen.
Schließlich steht und fällt die Zukunft unseres Vaterlandes doch mit
der Frage, ob es gelingt, in der Hygiene nicht ein verweich¬
lichtes und verzärteltes, sondern ein körperlich derbes, den
Unbilden der Natur und der Arbeit gewachsenes Geschlecht
heranzuziehen, und ob es möglich ist, in diesem corpus sanum
eine sana mens zu schaffeu, d. h. eine mens, in der das Bildungs¬
bedürfnis nicht mit der letzten Klasse der Volksschule abschließt,
in der die Herausbildung nationaler Charakterstärke selbstverständliche
Lebensaufgabe ist, und in der der für jeden notwendige und bei jedem
berechtigte Drang nach Lebenslust und Lebensfreude in der Veredelung
der Vergnügungen keinen Abbruch, sondern einen Zuwachs erhält. Auf
diesem Gebiet, in diesem Zweige der Wohlfahrtspflege, der positive
Werte schafft, in dem sie vorhandene, gesunde Werte weiter entwickelt,
gibt es unendlich viel zu tun, und ich erwarte das Beste von der freien
Tätigkeit des Volkes. Der Durst nach der Befriedigung derartiger Be¬
dürfnisse ist auch in den untersten Schichten des Volkes viel größer,
als man gemeinhin glaubt. Welche Lücken bei der Fürsorge für
die schulentlassene Jugend und namentlich auf dem platten
Lande noch auszufüllen sind, weiß jeder, der diesen Dingen einmal
nachgegangen ist, und je unabhängiger man sich dabei von Vorurteilen
politischer, religiöser oder sozialer Art hält, je ehrlicher man das Wort
zur Geltung kommen läßt: nihil humani a me alienum puto, — und
dieses Wort hat eine sehr viel stärkere und tiefgründigere Bedeutung —
um so mehr wird man Erfolge erzielen. ... In dem Volkswohl¬
fahrtsamt soll eine Zentralbehörde geschaffen werden für ein Gebiet,
das die Gesamtheit der Volkskultur umfaßt. Das Gebiet ist so weit,
wie das menschliche Leben überhaupt, und kennt keine Grenzen, weil
die Kulturbedürfnisse der Menschen mit der Zeit fortgesetzt steigen.
Da liegt doch die Frage nahe, ob ein Gebiet von so weitem Umfange
eine Zentralisation überhaupt verträgt, ob dem Leiter des neuen Amtes
deijenige Überblick auch nur möglich sein wird, der eine andere, als
eine etwa bureaukratische Leitung ermöglicht, ob das Amt die unend¬
liche Masse zuströmenden Materials praktisch verwertbar wird ausarbeiten
können, ob seine Elaborate in unserer Vereins-, kongreß* und schreib¬
seligen Zeit bei der Begierung und beim Publikum die ihnen ge¬
bührende Würdigung finden werden, mit einem Wort gesagt, ob nicht
die neue Institution, natürlich ganz wider Willen, aber notgedrungen,
demjenigen Stich in das Systematische, Theoretische und Bureaukratische
haben wird/ dessen Bekämpfung doch ihr vornehmstes Ziel ist. Man
könnte weiter fragen: wird eine Zentralisation auf diesem Gebiete möglich
sein, ohne Reibungen mit all den Organen, mit all den Körperschaften,
mit den Behörden des Staates, des Reiches, mit den Kommunalverbänden
von der Provinz bis zu den einzelnen Gemeinden, die sich gegenwärtig
der Volks Wohlfahrt widmen — und die Organe, die ich eben genannt
habe, sind noch lange nicht alle — denken Sie an die Kammern für
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284
Tagesgeschichtc.
Handel, Handwerk, Landwirtschaft, welche ja auch Wohlfahrtspflege
auf ihren speziellen Gebieten betreiben, denken Sie an die großen Zentral¬
organisationen, an den Zentralverein für Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen,
an die großen Organisationen des Roten Kreuzes, der Vaterländischen
Frauenvereine usw.; wer will das alles nennen! Ich weiß: das neue
Volks Wohlfahrtsamt will ja nicht selbst praktisch Wohlfahrtseinrichtungen
treffen, und insoweit kann es sich nicht mit der entsprechenden Tätigkeit
der genannten Organisationen im Raume stoßen — es will sammeln,
es will anregen, es will berichten —, aber sehr viele von den hier
genannten Organisationen tun das dort auch, insonderheit der Zentral¬
verein für Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen und die Zentralorganisation
für spezielle Zweige der Volks Wohlfahrtspflege, wie der Zentral verein vom
Roten Kreuz, der Vaterländische Frauenverein usw. Und von den Lokal¬
vereinen wird das neue Amt zum mindesten sehr ausgiebige Bericht¬
erstattung, umständliche statistische Zusammenstellungen fordern müssen,
wenn anders es seinen Aufgaben gerecht werden will, in vollem Um¬
fange die Entwickelung der Wohlfahrtspflege im Inlande und Auslande
zu verfolgen und darüber der Regierung fortlaufend Bericht zu erstatten.
Ich fürchte, vielleicht täusche ich mich, vielleicht sind meine Befürch¬
tungen grundlos, daß es ohne Reibungen doch nicht ganz so ab¬
gehen wird. Den Hauptverkehr aber wird das Volks Wohlfahrtsamt
ja mit der Staatsregierung haben und dieser Verkehr wird immer un¬
zweifelhaft friedlich und freundlich sein, denn das neue Amt ist ja als
eine Organisation gedacht, die dauernd in den Organismus des preußischen
Staates eingeführt ist. . .
Gerichtliche Entscheidungen.
Berlin. Zur Vorsicht in bezug auf das ärztliche Berufsgeheimnis
ermahnt eine Entscheidung, welche die 8. Strafkammer des Landgerichts I
zu Berlin vor einigen Tagen gegen einen praktischen Arzt gefällt hat.
Der Klage lag folgender Sachverhalt zugrunde: Dr. L., Hausarzt in
einer Familie J., teilte der Frau J. mit, daß er von deren Schwägerin,
der Arbeiterin Berta J., wegen eines Unterleibsleidens konsultiert worden
sei und eine häßliche ansteckende Krankheit bei ihr festgestellt habe.
Da dem Arzt bekannt war, daß zwischen den im gleichen Hause
wohnenden Familien ein reger Verkehr stattfand, u. a. eine Badewanne
gemeinsam benutzt wurde, und die Kinder manchmal im Bett der Tante
lagen, hielt er es für seine Pflicht, die Mutter vor der Ansteckungs¬
gefahr zu warnen. Der Name der Krankheit, den Dr. L. nicht genannt
hatte, wurde sofort erraten, und Berta J. kam natürlich im ganzen
Hause ins Gerede. Da sie das Bestehen und auch jede Möglichkeit
einer solchen Erkrankung entschieden in Abrede stellte, begab sich ihre
Mutter zu Dr. L., nm Auskunft zu verlangen, und auch ihr erklärte der
Arzt, daß er Merkmale jener ansteckenden Krankheit bei der Unter¬
suchung konstatiert habe. Nunmehr stellte Frl. J. Klage an und berief
sich darauf, daß der sie behandelnde Kassenarzt Dr. P. die Diagnose
des Dr. L. nicht habe bestätigen können. Der Sachverständige Prof.
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Tagesgeschichte.
285
Dr. Casper sowohl wie Dr. P. gaben die Möglichkeit zu, daß die von
Dr. L. gefundenen Erscheinungen ihn zu seiner Diagnose berechtigten,
und daß dieselbe mit dem Resultate der späteren Untersuchung nicht
in Widerspruch zu stehen brauche. Der Staatsanwalt ließ daher die
Anklage wegen Beleidigung fallen, beantragte aber wegen Vergehens
gegen § 300 StGB, eine Geldstrafe von 100 Mk. Der Verteidiger
beantragte Freisprechung, da dem Angeklagten einerseits § 193 schützend
zur Seite stände, andererseits von einem unbefugten Offenbaren von
Privatgeheimnissen nicht gesprochen werden könne, wenn der Hausarzt
der Familie die Mutter vor der drohenden Ansteckungsgefahr warne.
Es würde eine Pflichtverletzung gewesen sein, wenn er diese Warnung
unterlassen hätte. Der Gerichtshof nahm an, daß der Angeklagte sich
in einem Irrtum über strafrechtliche Dinge befunden habe, als er sich
aus Vorsicht moralisch für verpflichtet hielt, der Frau J. jene für
Berta J. kränkende Mitteilung zu machen. Er habe den § 300 verletzt,
bei der eigenartigen Sachlage erscheine aber die größte Milde am Platze
und es sei demgemäß nur auf 20 Mk. Geldstrafe erkannt worden.
Der Betrieb einer Kaschemme und der Aufenthalt von Prosti¬
tuierten in einem Mietshause geben dem unmittelbar über der Kaschemme
wohnenden Mieter ein Kündigungsrecht. So hat das Kammer¬
gericht in einer interessanten Streitsache entschieden. In dem in den
„Blättern für Rechtspflege“ mitgeteilten Erkenntnis führt das Kammer¬
gericht unter anderem aus: Die in Frage stehende Keller Wirtschaft in
der Sebastianstraße war eine Kaschemme, in der Prostituierte, Zuhälter
und deren Anhang verkehrten; auch wurde im Hause an Prostituierte
vermietet. Solche gingen also auch sonst im Hause aus und ein. Diese
Tatsachen reichen aus, um das Haus zum Wohnen für eine anständige
Familie in erheblichem Maße ungeeignet zu machen. Insbesondere ist
der Betrieb einer Kaschemme der hier in Betracht kommenden Art un¬
mittelbar unter der Wohnung des Klägers für sich allein schon ge¬
eignet, diese unbewohnbar zu machen. Keinesfalls durfte deshalb, weil
die Sebastianstraße nicht in den sogenannten „vornehmen“ Stadtvierteln
liegt, angenommen werden, die Mieter müßten sich einen Zustand der
Wohnung und des Hauses gefallen lassen, der gegen Anstand und Sitte
verstößt. In den „vornehmen“ Stadtteilen mögen gesteigerte Ansprüche
an Ruhe, Bequemlichkeit, Fehlen lästiger Immissionen usw. bei den
Mietwohnungen gestellt werden. Dagegen muß grundsätzlich für
jede Mietwohnung, mag es sich um teuere oder billige, um solche in
großen oder kleinen Städten, in diesem oder in jenem Viertel handeln
(von ganz bestimmten Ausnahmen abgesehen), gefordert werden, daß der
Zustand des Hauses nicht gegen Anstand und Sitte verstößt, daß das
Wohnen darin anständigen Menschen zugemutet werden kann.
Dürfen Krankenkassen Kongresse beschicken? Eine für
unsere Gesellschaft wie für die Krankenkassen gleich wichtige Ent¬
scheidung wurde kürzlich in Bielefeld gefällt:
Der Vorstand der dortigen Allgemeinen Ortskrankenkasse hatte in
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286
Tagesgeschichte.
seiner Sitzung vom 5. März 1903 beschlossen, drei seiner Mitglieder
auf Kosten der Kasse nach dem Kongresse der Deutschen Gesellschaft
zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten in Frankfurt a. M. und nach
dem zweiten allgemeinen Kongresse der Krankenkassen Deutschlands in
Berlin zu schicken und dafür aus dem Vermögen der Kasse den Betrag
von 201,20 Mk. bewilligt. Der Magistrat als Aufsichtsbehörde hatte
diese Verwendung von Kassengeldem für unzulässig erklärt und die
Vorstandsmitglieder zur Erstattung der verausgabten Beträge aufge¬
fordert. Als diesem nicht Folge geleistet wurde, hat der Magistrat der
Kasse aufgegeben, eine Generalversammlung abzuhalten zwecks Beschlu߬
fassung .über die Verfolgung der durch die gesetzwidrige Verwendung
von Kassenmitteln entstandenen Ansprüche der Kasse gegen die Vor¬
standsmitglieder. Die Generalversammlung hatte am 25. März 1904 ein¬
stimmig beschlossen, über den gestellten Antrag der Aufsichtsbehörde —
des Bielefelder Magistrats — zur Tagesordnung überzugehen. Darauf
erhob der Magistrat Klage beim Amtsgericht gegen die sieben Vorstands¬
mitglieder der Kasse auf Rückzahlung der verauslagten Kosten. Der
Magistrat verwies hierbei besonders auf eine Verfügung des Ministers
für Handel und Gewerbe vom 24. März 1895, welche die Krankenkassen
auf die Ungesetzmäßigkeit der Verwendung der Kassengelder für Reise¬
zwecke hin weist und fügte hinzu, er habe durch ein an die Allgemeine
Ortskrankenkasse gerichtetes Schreiben vom 6. Oktober 1902 auf diese
Ministerialverfügung hingewiesen und zugleich als Aufsichtsbehörde die
erwähnte Verwendung der Gelder untersagt. Die Beklagten bestritten,
daß die Verwendung von Kassengeldern zur Beschickung der genannten
Kongresse gesetzwidrig sei und sprachen sowohl der Ministerialverfügung
als auch der Untersuchung seitens des Magistrats die rechtliche Be¬
deutung ab. Sie wiesen ferner darauf hin, daß die Generalversammlung
der Kasse am 27. Dezember 1902 die Beschickung der Krankenkassen¬
tage angeordnet habe und sie deshalb lediglich pflichtgemäß die Beschlüsse
der Generalversammlung ausgeführt hätten. Ein Recht zur Beanstandung
dieser Beschlüsse stehe ihnen nicht zu, so daß sie, selbst wenn die frag¬
liche Verwendung der Kassengelder unstatthaft sein sollte, sie dennoch
nicht haftbar zu machen seien. Im übrigen seien sie nach pflicht¬
gemäßer Prüfung zu der Überzeugung gelangt, daß die Verwendung der
Gelder eine dem Gesetz entsprechende gewesen sei.
Die Klage wurde abgewiesen. Den Entscheidungsgründen entnehmen
wir die folgenden Ausführungen: . . . Was die beiden hier fraglichen
Kongresse anlangt, so kann es auch keinem Zweifel unterliegen, daß
ihre Beschickung im hohen Grade im Interesse der Kasse lag. . . .
Die Kenntnis der Verhandlungen des Kongresses für die Bekämpfung
der Geschlechtskrankheiten war für die Krankenkassen um so wesentlicher,
als durch die Novelle zum KVG. die bisherige gesetzliche Bestimmung,
daß für Geschlechtskrankheiten ein Krankengeld nicht oder jedenfalls
nur teilweise gewährt werde, in Wegfall kommen sollte; es stand somit
eine bedeutsame Ausdehnung des Arbeitsfeldes der Krankenkassen in
Aussicht, und die Beschickung dieses Kongresses, auf welchem von den
verschiedensten — ethischen, wirtschaftlichen, hygienischen — Gesichts-
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Tagesgeschichte.
287
punkten aus die Gefährlichkeit der Geschlechtskrankheiten und die Mög¬
lichkeit ihrer Bekämpfung erörtert wurde, war daher zur Orientierung
sehr dienlich und muß auch durchaus als im Interesse der Kasse liegend
erachtet werden. Es war daher die Verwendung der fraglichen Kassen¬
gelder zur Beschickung der beiden genannten Kongresse als im Rahmen
der ordnungsmäßigen Verwaltung der Kasse liegend anzusehen und war
daher schon aus diesem Grunde die Klage abzuweisen. . . .
Der Bielefelder Magistrat hat gegen diese Entscheidung Beschwerde
eingelegt.
Es ist immerhin noch fraglich, ob sie Gesetzeskraft erlangt, denn
das preuß. Oberverwaltungsgericht hat soeben eine prinzipielle Entscheidung
zu ungunsten der Krankenkassen gefällt.
Die Ortskrankenkasse für den Gewerbetrieb der Kaufleute, Handels¬
leute und Apotheker zu Berlin wollte in ihr Statut eine Bestimmung
aufnehmen, wonach die Beschickung von Kongressen zur Bekäm¬
pfung der Tuberkulose, des Alkohols und der Geschlechts¬
krankheiten sowie der Wohnungskongresse gestattet sein sollte,
mit der Maßgabe, daß hierfür nicht mehr als höchstens 1500 M. jährlich
aufgewandt werden dürften. — Der Bezirksausschuß versagte diesem
Nachtrag zum Statut die gesetzlich vorgeschriebene Genehmigung und
blieb hierbei auch in der vom Kassen Vorstand beantragten mündlichen
Verhandlung. Er meinte, die Kasse würde mit solcher Bestimmung ihre
gesetzlichen Befugnisse überschreiten.
Der Vorstand der Kasse legte beim Oberverwaltungsgericht Revision
ein. Sein Vertreter machte unter anderem geltend, die Beschickung
derartiger Kongresse falle sehr wohl in den Rahmen der Befugnisse der
Krankenkassen und die dafür aufgewandten Kosten aus Mitteln der Kasse
müßten als Verwaltungskosten angesehen werden. Zu den Angelegen¬
heiten der Kasse gehöre es nicht nur, Krankheiten zu behandeln, sondern
auch Krankheiten zu verhüten. Um vorbeugend wirken zu können, sei
es aber erforderlich, den Ursachen auf den Grund zu gehen und die
Institutionen zn ersinnen, die geeignet seien, die hauptsächlich in Betracht
kommenden Krankheiten einzudämmen. Mittel dazu seien die fraglichen
Kongresse. Die Beteiligung der Krankenkassen daran zu verhindern, be¬
deute einen Verstoß gegen die den Krankenkassen vom Gesetzgeber zu¬
gewiesenen sozialen Aufgaben.
Das Oberverwaltungsgericht bestätigte jedoch am 13. April das
Urteil des Bezirksausschusses und führte aus: Die Genehmigung zum
Statutennachtrag sei mit Recht versagt. Den Ausführungen des Ver¬
treters der klagenden Kasse könne sich der Senat nicht anschließen. Die
Kassen, die keine allgemeine Selbstverwaltung hätten, sondern Zwangs¬
kassen seien und dem Gesetze unterlägen, könnten Aufwendungen nur
machen zu statntgemäßen Unterstützungen, das heißt zu solchen, welche
gesetzmäßig festgesetzt würden; dann zur Bildung des Reservefonds
und zur Deckung der Verwaltungskosten. Unter die Verwaltungskosten
könnten die, welche der Statutennachtrag im Auge habe, unmöglich fallen.
Verwaltungskosten seien nur solche, welche nötig seien, damit die Kasse
ihre statutgemäßen, im gesetzlichen Rahmen liegenden Zwecke erreichen
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Tageageschichte.
könne. Es bleibe die Frage, ob die Kasse gesetzlich berechtigt sei, Auf¬
wendungen zu machen, um Krankheiten za verhüten, vor allem, um
sich die Lasten zu erleichtern, die sie bei Krankheiten zu tragen habe.
Wenn das allgemein zulässig wäre, dann wäre der Statutennachtrag ge¬
setzlich unbedenklich. Es sei aber Dicht zulässig. Es müßte ja sonst
auch zugelassen werden, dem einzelnen Mittel zuzuwenden, damit er nicht
krank werde; z. B. jemandem, der mit einem Schwindsüchtigen zusammen¬
wohne, eine andere Wohnung zu mieten usw.
Auch für Belehrung dürften die Kassen Gelder nur soweit auf¬
wenden, als es den Aufgaben der Kasse zugute komme, z. B. für Vor¬
träge über Rechte und Pflichten der Mitglieder. Die Verwendung von
Kassengeldem zur Beschickung jener Kongresse sei nicht zulässig.
Selbstverständlich ist in dieser Frage noch nicht das letzte Wort
gesprochen.
München. Ein dunkles soziales Bild hat vor kurzem eine Gewerbe¬
gerichtsverhandlung entrollt und zwar aus dem Kellnerinnenelend.
Im Stande der Kellnerinnen berühren sich die Gefahren des Alkoho¬
lismus und der Prostitution. Diese Gefahren sind um so größer,
je unsicherer und ungenügender die Anstellungs- und Lohnverhältnisse
der Kellnerinnen sind. Wie weit aber die Ausnutzung derselben seitens
der Arbeitgeber gehen kann, beweist der Bericht, den die „Soziale Praxis“
über diese Verhandlung — dieselbe betraf die Lohnverhältnisse in einem
besseren CafARestaurant Münchens — veröffentlicht:
Die zehn in diesem Caf6 beschäftigten Kellnerinnen erhalten, wie
in den meisten feineren Caf6s in München, keinen Pfennig Lohn, dagegen
haben die Mädchen täglich folgende Beträge am Buffet zu entrichten:
15 Pfg. Bruchgeld, trotzdem sie jeden einzelnen zerbrochenen Gegenstand
extra bezahlen mußten, 20 Pfg. Putzgeld, 15 Pfg. täglich für die Be¬
nutzung der Toiletten, jeden fünften Tag eine Mark für den Ausgang,
und die vollständigen Invaliden- und Krankenversicherungsbeiträge. Dazu
kommt noch, daß die Mädchen keinerlei Kost bekommen und die Speisen
nach der Karte und bei Menuportionen sogar um 10 Pfg. teurer bezahlen
mußten als die Gäste. Drei Kellnerinnen verlangten die ihnen auf eine so
sonderbare Art abgenommenen Beträge zurück, und es beanspruchte die
erste 60 M., die zweite 101 M. und die dritte, die nur 12 Tage die
„feine“ Pfründe inne hatte, 5,34 M. Der Gewerberichter empfahl der
beklagten Restaurateursgattin, dieses Geld, das auf eine höchst eigen¬
tümliche Art in ihren Besitz geflossen sei, vergleichsweise zurückzu¬
erstatten, was die Beklagte, der bei richtiger Anwendung des Truck¬
paragraphen 145 und 146 G.O. eine Geldstrafe bis zu 2000 M. winkte,
denn auch schleunigst tat. Mit den oben aufgeführten Beträgen sind
die Leistungen der Kellnerinnen aber noch nicht erschöpft. Jede Kell¬
nerin hat außerdem von ihrem ganz auf das Trinkgeld gestellten Ver¬
dienst das ihr beigegebene Bier- oder Wassermädchen mit täglich 50 Pfg.
zu entlohnen, außerdem für die nötigen Zahnstocher, Streichhölzer auf¬
zukommen und die für ihr Service notwendigen Zeitungen herbei¬
zuschaffen.
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Tagesgeschichte.
289
Verschiedenes.
Internationales Abkommen zur Bekämpfung des Mädchen¬
handels. Der Reichskanzler hat dem Reichstage das in Paris am 18. Mai
1904 von den Regierungen Deutschlands, Dänemarks, Frankreichs, Gro߬
britanniens, Italiens, Rußlands, Schwedens und Norwegens, der Schweiz
und Spaniens Unterzeichnete Abkommen über Verwaltungsma߬
regeln zur Gewährung wirksamen Schutzes gegen den Mäd¬
chenhandel zur Kenntnis vorgelegt. Die wesentlichen Bestimmungen
lauten:
Artikel 1. Jede der vertragschließenden Regierungen verpflichtet
sich, eine Behörde zu errichten oder zu bestellen, der es obliegt, alle
Nachrichten über Anwerbung von Frauen und Mädchen zu Zwecken der
Unzucht im Ausland an einer Stelle zu sammeln; diese Behörde soll
das Recht haben, mit der in jedem der anderen vertragschließenden
Staaten errichteten gleichartigen Verwaltung unmittelbar zu verkehren.
Artikel 2. Jede der Regierungen verpflichtet sich, Überwachung
ausüben zu lassen, um, insbesondere auf den Bahnhöfen, in den Ein¬
schiffungshäfen und während der Fahrt, die Begleiter von Frauen und
Mädchen, welche der Unzucht zugeführt werden sollen, ausfindig zu
machen. Zu diesem Zwecke sollen an die Beamten oder alle sonst dazu
berufenen Personen Weisungen erlassen werden, um innerhalb der gesetz¬
lichen Grenzen alle Nachrichten zu beschaffen, die geeignet sind, auf die
Spur eines verbrecherischen Geschäftstreibens zu führen. Die Ankunft
von Personen, welche offenbar Veranstalter, Gehilfen oder Opfer eines
solchen Geschäftstreibens zu sein scheinen, soll gegebenen Falles den
Behörden des Bestimmungsortes, den beteiligten diplomatischen oder
konsularischen Agenten oder jeder sonst zuständigen Behörde gemeldet
werden.
Artikel 3. Die Regierungen verpflichten sich, gegebenen Falles
innerhalb der gesetzlichen Grenzen die Aussagen der Frauen und Mädchen
fremder Staatsangehörigkeit, die sich der Unzucht hingeben, aufhehmen
zu lassen, um ihre Identität und ihren Personenstand festzustellen und
zu ermitteln, wer sie zum Verlassen ihrer Heimat bestimmt hat. Die
eingezogenen Nachrichten sollen den Behörden des Heimatlandes der be¬
sagten Frauen und Mädchen behufs ihrer etwaigen Heimschaffung mit¬
geteilt werden. Die Regierungen verpflichten sich, innerhalb der gesetz¬
lichen Grenzen und soweit es geschehen kann, die Opfer eines verbrecheri¬
schen Geschäftstreibens, wenn sie von Mitteln entblößt sind, öffentlichen
oder privaten Unterstützungsanstalten oder Privatpersonen, welche die
erforderlichen Sicherheiten bieten, im Hinblick auf etwaige Heimschaffung
vorläufig anzuvertrauen. Die Regierungen verpflichten sich auch, inner¬
halb der gesetzlichen Grenzen nach Möglichkeit diejenigen unter diesen
Frauen und Mädchen nach ihrem Heimatlande zurückzusenden, welche
ihre Heimschaffung nachsuchen oder welche von Personen, unter deren
Gewalt sie stehen, beansprucht werden sollten. Die Heimschaffung soll
erst ausgeführt werden nach Verständigung über die Identität und die
Staatsangehörigkeit, sowie über den Ort und den Zeitpunkt der Ankunft
Z«itschr. f. Bekämpfung d. Ueechlechtekrankh. III* 21
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Tagesgeschichte.
an den Grenzen. Jedes der vertragschließenden Länder soll den Durch¬
gang durch sein Gebiet erleichtern.
Artikel 4. (Bestimmt die Verteilung der entstehenden, von den in
Frage kommenden Personen nicht eintreibbaren Kosten.)
Artikel 6. Die vertragschließenden Regierungen verpflichten sich;
innerhalb der gesetzlichen Grenzen nach Möglichkeit eine Überwachung
des Bureaus und Agenturen auszuüben.
Die Frage der Bekämpfung des Mädchenhandels wurde vor
einiger Zeit auch in einer vom französischen Konsul Pierre Girard ge¬
leiteten Konferenz in Alexandria gründlich erörtert. Sämtliche Konsuln
waren zu dieser Sitzung erschienen, die gerade in Alexandrien einberufen
worden war, weil in der Levante der Mädchenhandel noch immer in der
höchsten Blüte steht. Besonders Rumänien ist es, das hierzulande die größte
Zahl der Mädchenhändler stellt Es ist bezeichnend, daß der italienische
Konsul in Alexandrien, dem mangels eines rumänischen Konsuls die Ver¬
tretung der rumänischen Interessen anvertraut war, schließlich die Ver¬
tretung niederlegte, weil es sich herausgestellt hatte, daß 90 v. H. der
dort ansässigen Rumänen sich vom Mädchenimport nähren. Alexandrien
ist ganz besonders durch seinen großen Schiffsverkehr als Ladungshafen
für die weiße Ware beliebt und deshalb entsendete das Londoner inter¬
nationale Komitee zur Unterdrückung des Mädchenhandels seinen General¬
sekretär W. A. Coote nach Ägypten, um dort ein« Lokalvereinigung zu
organisieren. Aus diesem Anlasse waren an die hervorragendsten Mit¬
glieder der europäischen Kolonien in Alexandrien, so der deutschen,
russischen, englischen, französischen, österreichisch-ungarischen, italienischen
und griechischen, Einladungen ergangen. Mr. Coote legte dann die
ernsten Gründe klar, welche die gesamte europäische Gesellschaft ver-
anlaßten, den Kampf gegen dieses schmähliche Gewerbe mit allen zu
Gebote stehenden Mitteln aufzunehmen. Er erinnerte an die inter¬
nationale Konferenz im Jahre 1902, an welcher 16 Staaten beteiligt
waren und in der verschiedene den Mädchenhandel betreffende Maßnahmen
angenommen wurden. Mr. Coote erklärte weiter die Tätigkeit der
Komitees, welche in ganz Europa gebildet wurden. Sie haben männ¬
liche und weibliche Mitglieder zu Agenten, welche sich zu jedem an-
kommenden Eisenbahnzuge und Dampfschiff begeben, um in Überein¬
stimmung mit der Polizei die verdächtigen Personen zu überwachen.
Die Komitees haben Asyle gegründet, um jungen Frauenspersonen bei¬
zustehen und ihnen bis zu ihrer Repatriierung Hilfe zu leisten. Der
Vortragende endigte mit der Erklärung, daß die europäischen Komitees
den sehnlichen Wunsch haben, daß in Alexandrien ein internationales
Komitee errichtet werde, das in dem gleichen Sinne arbeite und
dem ein Damenkomitee anzugliedern sei, welchem die Leitung eines
Asyls anverfcraut würde. Die Sitzung wurde mit der Gründung
eines Organisationskomitees unter dem Präsidium des Gouverneurs
Dr. Mahmud Pascha Sidky geschlossen, dem neben sämtlichen Konsuln
die hervorragendsten Persönlichkeiten Alexandriens angehören. Der
deutsche Konsul, Freiherr von Humboldt, gab eine Erklärung ab, daß
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Tagesgeschichte.
291
er ohne vorangegangene Ermächtigung durch seine Regierung einem
internationalen Komitee zwar nicht offiziell beitreten dürfe, daß er es
aber in jeder Weise fördern wolle. Gleichzeitig veranlaßte er eine
Persönlichkeit der deutschen Kolonie zum Eintritt in das internationale
Komitee. Allerdings kann das deutsche Konsulat mit Genugtuung die
Tatsache verzeichnen, daß von dem erschrecklich großen Zuzug der
Mädchen auf Deutschland gar kein und nur auf die Reichslande ein
verschwindend kleiner Bruchteil entfällt.
Heilstätte für Geschlechtskranke in Lichtenberg. Jede
Art und jedes Stadium der Geschlechtskrankheit wurde aufgenommen,
ausgenommen solche Fälle, welche eine Heilbarkeit, sei sie nur bedingt
durch die Art des Leidens oder die Länge der Zeit, ausschließen ließen.
Die durchschnittliche Dauer der Behandlung nahm etwa 7—8 Wochen
in Anspruch.
Die Erfolge der Heilbehandlung mögen aus folgender Tabelle er-
sichtlich sein:
Patienten
geheilt
gebessert
ungeheilt
Tripper.
170
100
59
11
Schanker ....
78
65
6
2
Syphilis I ...
5
5
—
—
Syphilis II . . .
219
188
31
4
Syphilis III.. .
6
4
2
—
Summe:
473
857
98
17
Unter „geheilt“ sind von den Syphilitikern diejenigen zu verstehen,
welche eine nach den modernen ärztlichen Anschauungen vollständige
und ergiebige Kur durchgemacht haben und zur Zeit der Entlassung aus
der Anstalt frei von sichtbaren syphilitischen Erscheinungen waren.
Dem Patienten wurde bei der Entlassung jedesmal ausdrücklich ein¬
geschärft und er wurde darüber aufgeklärt, daß er jetzt, wenn er auch keine
Erscheinungen habe, sich noch nicht als geheilt betrachten dürfe, sondern
in ständiger ärztlicher Beobachtung bleiben müsse und eventuell noch
weitere Kuren zu machen habe.
Außerdem wurde den Patienten bei ihrem Weggange das Merkblatt,
herausgegeben von der Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechts¬
krankheiten, ferner eine kurze gedruckte Belehrung über die Syphilis,
über die Kuren und über das spätere Verhalten und Leben eines Syphi¬
litikers, sowie eine Schrift gegen die Gefahren des Alkohols mitgegeben.
Von den 869 zur Entlassung gekommenen Patienten waren 155
zum ersten Male geschlechtlich infiziert.
11 Patienten hatten Tripper und Schanker, 43 Pat. hatten Tripper
und Syphilis, 13 Pat. hatten Schanker und Syphilis, 5 Pat. hatten Tripper,
Schanker und Syphilis.
Die übrigen Patienten hatten nur eine der oben genannten Ge¬
schlechtsaffektionen.
• Was die Genese der geschlechtlichen Infektion betraf, so stammte
die Ansteckung von: Prostituierten usw. bei 253, Bekanntschaften, Ar¬
beiterinnen, Dienstmädchen usw. bei 102, Frau bei 3, unbekannt bei 38.
21 *
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292
Tagesgeschichte.
Ein neues Krankenhaus für geschlechtskranke Prosti¬
tuierte und Fürsorgezöglinge soll in Rummelsburg von der Stadt
Berlin errichtet werden. Mit dem Bauprogramm dieses Krankenhauses
beschäftigte sich am Montag das Kuratorium des Obdachs und Arbeits¬
hauses, welchem jetzt diese Abteilung unterstellt ist. Man stimmte dem
Bauprogramm zu mit dem Vorschläge, 200 Betten für Prostituierte und
100 für Fürsorgezöglinge aufzustellen. Uns scheint der Vorschlag, der
über die Hälfte mehr verlangt, das richtigere, da man ein Krankenhaus
beim Neubau nicht so einrichten soll, daß es womöglich noch vor seiner
Fertigstellung sich schon als zu klein erweist.
Berlin. Es zeigt sich von Tag zu Tag deutlicher, in welches Fahr¬
wasser der Volksbund zur Bekämpfung des Schmutzes in Wort
und Bild, der im Anschluß an den Kölner Sittlichkeitskongreß ge¬
gründet wurde, gerät — trotz der wiederholten Beteuerungen seines Be¬
gründers Otto von Leixner, es sei nur die Absicht des Bundes, die
obszöne Produktion zu treffen, welche ohne jeden künstlerischen Wert
und ohne jede ernste sittliche Absicht geschlechtliche Vorgänge mit mehr
oder minder offener Lüsternheit schildert — nicht gelte der Kampf den
Werken echter Kunst, in denen ein idealer Geist auch das Geschlecht¬
liche darstellen könne. Auf der folgenden Spalte derselben Nummer, in
welcher diese Worte Otto von Leixners abgedruckt werden, zitiert
das „Korrespondenzblatt zur Bekämpfung der öffentlichen Sittenlosigkeit“
eine Äußerung des „Hamburger Kirchenblattes“, welche seiner Ansicht
nach die Lage sehr richtig kennzeichnet:
„Sehr viele literarische Erzeugnisse gibt es, gegen die sich der
Volksband mit Energie wenden wird, Erzeugnisse der unzweifelhaft
pornographischen Literatur; hier wird er auch seinen guten Erfolg
haben können. Doch sind diese literarischen Produkte nicht die gefähr¬
lichsten. Die schlimmsten sind Simplicissimus und Genossen, in denen
das an sich Gemeine und Niedrige künstlerisch dargestellt ist. Diese
Literatur dringt bei unserer ästhetisierenden Zeitrichtung auch in Kreise,
die jede Gemeinschaft mit der pornographischen Literatur ablehnen, und
verdirbt das gesunde Urteil und das edle Empfinden. . . .“
Die D. G. B. G. wird wie alle einsichtigen Kreise des Volkes stets ihre
Hand dazu bieten, wo es gilt, schamlose, nur auf den Sinnenkitzel be¬
rechnete literarische und bildliche Darstellungen an den Pranger zu
stellen, und die Gesetzgebung bietet ja den Behörden mit den §§ 184
1 u. 2 und 184 a ausreichende Handhaben, um Vergehen der Art zu treffen.
Daß dies immer noch nicht häufig genug geschieht, daß z. B. wegen
Übertretung des § 184a: i. J. 1902 in Deutschland nur drei Personen ver¬
urteilt worden sind, liegt vor allem daran, daß das Beamtenmaterial
für diesen Zweig seiner Tätigkeit äußerst ungeeignet ist Solange die
Polizeibeamten die Qualifikation zu ihrem Berufe ausschließlich durch
eine 12 jährige militärische Dienstzeit darzutun haben, werden sie in dem
Kampfe gegen die pornographische Produktion ebenso sehr versagen wie
als Gesundheitsbeamte.
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Tagesgescbicbte.
293
Am 25. Februar mittags veranstaltete der vor kurzem begründete
Bund für Mutterschutz unter großem Andrang des Publikums im
Architektenhaus eine erste öffentliche Versammlung. „Frau“ Ruth
Br6 legte die Ziele des Bundes dar, indem sie eine lange Broschüre
aus ihrer Feder vorlas. Sie forderte zum Schutze der unehelichen
Kinder auf. Die Natur kenne keine ehelichen und unehelichen Kinder,
und es sei an der Zeit, mit der landläufigen Verdammung des
gefallenen Mädchens zu brechen. Sie wies auf die große Sterblichkeit
der unehelichen Kinder hin, auf ihre Rechtlosigkeit, auf die furcht¬
baren Tragödien, die unsere Behandlung der unehelichen Mütter und
Kinder verschulde. Sie verlangt zur Beseitigung dieser Mißstände die
völlige Anerkennung der Mutterschaft und die Schaffung von
Heimstätten für Mütter auf dem Lande, endlich gesetzliche Fürsorge für
jede Mutter in Gestalt einer Versicherung, zu der alle Männer und
Frauen gleichmäßig heranzuziehen seien.
Als zweiter Redner behandelte Justizrat Sello die rechtliche
Stellung der unehelichen Mutter und des Kindes. Er wies darauf hin,
daß gesetzlich eine leibliche Verwandtschaft zwischen Vater und un¬
ehelichem Kind nicht bestehe und daß dieses stets eines Vormunds außer
der Mutter bedürfe. Fräulein Dr. Stöcker legte hierauf die ethischen
Motive der Bewegung dar. Sie protestierte gegen die herrschende
Anschauung von der Unsittlichkeit des Geschlechtstriebes und gegen
die in ihrem Namen erhobenen asketischen Forderungen. Die Sittlichkeit
eines Verhältnisses zwischen Mann und Weib bestehe nicht in der
Form, sondern sie sei abhängig von der Natur der Menschen. So
unmöglich es sei, die Prostitution abzuschaffen, so gewiß müßten unsere
Bestrebungen dahin gehen, diese Parias der Gesellschaft moralisch und
sozial zu heben. Man müsse das Los der Mütter erleichtern, um
der Mutter und um des Kindes willen, das heute schwer unter einer
scheinheiligen Moral zu leiden habe.
Hieran schloß sich eine kurze Ansprache Ellen Keys. Die
Kultur eines Volkes, so führte die schwedische Schriftstellerin aus, hänge
ab von der Stellung der Frau. Die UnSittlichkeit bestehe darin, zu
fragen: „Ist das Kind unehelich oder ehelich?“ und nicht: „Wie ist das
Kind?“ Alle Kinder hätten ein Recht auf Gleichstellung. Für sie
gelte nicht die Frage: Mutterrecht oder Vaterrecht, sondern Kindesrecht.
Und Kindesrecht sei Recht auf Vater und Mutter. Die außereheliche
Mutterschaft sei eines der traurigsten Kapitel aus der Märtyrergeschichte
der Menschheit. Die erschreckende Zahl der Kindesmorde sei meist
auf die Liebe zum Kinde zurückzufübren. Wie es draußen Früh¬
ling werde, möge auch der neue Lenz einziehen in die Herzen der
Menschen.
An der weiteren sehr lebhaften Debatte beteiligte sich auch Lily
Braun, die gegen einzelne Ausführungen der ersten Referentin polemi¬
sierte und in das Programm des Bundes die Forderungen der Ver¬
kürzung der Arbeitszeit aufgenommen wissen wollte. Den Müttern
fehle heute die Zeit, für ihre Gesundheit, für ihr Kind und für ihre
ganze intellektuelle und moralische Entwicklung zu sorgen.
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294
Tagesgeschichte.
Die sexuelle Aufklärung des Kindes war der Gegenstand
eines Vortragsabends, dem der Bund am 12. April veranstaltete. Als
erster Referent erörterte Herr Dr. Max Marcuse vom ärztlichen Stand¬
punkte aus die körperlichen, geistigen und sittlichen Schäden, welche
die künstliche Erhaltung des Kindes in Unwissenheit über eines der
wichtigsten Lebensgebiete nach sich zöge, und begründete unter leb¬
haftem Beifall der Anwesenden die Notwendigkeit, mit diesem einer ver¬
alteten Moralanschauung entsprungenen System zu brechen. Als Korrefe¬
rentin erläuterte alsdann Lischnewska-Spandau, wie der natur¬
wissenschaftliche Unterricht in der Schule ein näheres Eingehen auf die
Fortpflanzungvorgänge geradezu logisch erfordere, und wie in diesem
Rahmen das Geschlechtsleben des Menschen auch hinsichtlich mancher
heiklen Einzelheiten in durchaus taktvoller und ernster Weise den
Kindern verständlich gemacht werden könne.
In der sich daran schließenden lebhaften Diskussion forderte Herr
Dr. v. Oppeln, daß in erster Linie die Eltern selbst für eine Auf¬
klärung ihrer Kinder sorgen müßten, und dies nicht der Schule über¬
lassen dürften, die damit ohnehin zu spät einsetzen könne. Herr Dr.
Pen zig betonte, daß man die Behandlung des sexuellen Lebens auch
unter ästhetischem Gesichtspunkte nicht vernachlässigen dürfe, weil
gerade hierin ein Schutz gegen Entartung und Ausschweifung liege.
Lebhaftes Interesse erregten die Ausführungen einer Hamburger Lehrerin
Frau Rüben, welche darlegte, daß man in Hamburg mit Erfolg Ver¬
suche mit einer Ausdehnung des Volksschulunterrichtes auf das sexuelle
Gebiet gemacht, die Schulbehörde aber dies inhibiert und den
Lehrerinnen bei Androhung eines Disziplinarvergehens jedes
Eingehen darauf in den Schulen untersagt habe. Es sei dann
der Fall vorgekommen, daß ein dreizehnjähriges Mädchen gegenüber
der Ermahnung, man müsse fleißig arbeiten, wenn man im Leben
vorwärts kommen wolle, geantwortet habe: Man könne auch ohne
Arbeit vorwärts kommen, und sie wolle Freudenmädchen
werden! Die Referentin fragte, ob hier nicht eigentlich eine Lehrerin
Disziplinarstrafe verdient hätte, wenn sie über einen solchen Vorfall
ohne sexuelle Aufklärung der Kinder hinwegginge. Fräulein Dr. med.
Hacker erklärte, eine Aufklärung der Kinder durch die Eltern werde
nicht dadurch ausgeschlossen, daß man sexuelle Gebiete im Lehrplan der
Schule behandle, letzteres aber sei schon der Einheitlichkeit wegen un¬
erläßlich, zumal es viele Eltern geben werde, welche sich jener Auf¬
gabe nicht unterzögen. Herr Dr. Haas polemisierte gegen die Auf¬
fassung, als ob man nun mit einer sexuellen Aufklärung des Kindes,
welche er im übrigen durchaus befürworte, alle möglichen Schäden des
Geschlechtslebens zu tilgen in der Lage sei; diese entsprängen hauptsächlich
der Tatsache, daß der Mann — weder wirtschaftlich noch seiner geistigen
Reife nach — fähig sei, sich schon im Alter der erlangten geschlecht¬
lichen Reife für das Leben an eine Ehefrau zu binden, und deshalb
zwischen Geschlechtsreife und Eheschließung eine etwa sechs- bis zehn¬
jährige Zwischenzeit entstände. Hiergegen wendete Frau Lily Braun
ein, daß die Frage der sexuellen Aufklärung ja auch nur einen kleinen
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Referate.
295
Ausschnitt aus dem großen Gebiete der sexuellen Ethik bilde, auf deren
Gesundung der Bund für Mutterschutz hinarbeite. — Inzwischen ist
Frau Ruth Brö aus dem Bunde getreten und hat einen „Ersten Bund
für Mutterschutz“ gegründet.
Referate.
1. Riecke. Bedeutung und Gefahren der Geschlechtskrankheiten. Stuttgart 1904,
Ernst Heinrich Moritz.
2. Neuberger. Die Verhütung der Geschlechtskrankheiten. Veröffentlichungen
des Deutschen Vereins für Volkshygiene. ;Heft 4. München u. Berlin 1904,
Druck u. Verlag von R. Oldenbourg.
3. Lobedank. Die Geschlechtskrankheiten, ihre Verhütung und Bekämpfung.
München 1904, Verlag der „Ärztlichen Rundschau“ (Otto Gmelin).
4. Grober. Hygiene des Geschlechtslebens dargestellt für Männer. Bibliothek
der Gesundheitspflege. Bd. 13. Stuttgart, Ernst Heinrich Moritz.
1. An der Hand von Zahlenbeispielen führt Riecke die Bedeutung der
Geschlechtskrankheiten in knapper, wohlverständlicher Form vor Augen und
bespricht besonders die Gefahren des Trippers und der Syphilis für die Ehe.
2. Die Arbeit von Neuberger verfolgt den Zweck, über die Ge¬
fahren der Geschlechtskrankheiten und die gegen dieselben zu ergreifenden
Vorbeugungsmaßregeln aufzuklären. — Da das sicherste Mittel gegen
venerische Erkrankungen, eine völlige Ausrottung der Prostitution, weder
bisher zu erreichen war, noch zurzeit durchführbar ist, sollen wir das
kleinste Übel, die bordellierte Prostitution wählen. Die Untersuchung
der Prostituierten muß sich ebenso auf Tripper wie auf Syphilis er¬
strecken, sie soll täglich sein, wobei der Schaden, welcher von den
Mädchen event. noch gestiftet werden kann, verringert wird. Keinesfalls
ist die von den Abolitionisten geforderte Aufhebung der Kontrolle zu¬
lässig; der Staat tut nur seine Pflicht, wenn er das Laster nicht frei
und zügellos schalten läßt Um die Nachfrage nach der Prostitution
herabzusetzen, sind Aufklärungen des Publikums bezüglich der Gefahren
der Geschlechtskrankheiten und der Prostitution im weitesten Sinne an¬
zustreben, vor allem muß auch das Vorurteil, daß Enthaltsamkeit, be¬
sonders beim Manne, schädlich wirken könne, aus der Welt geschafft
werden. Vor Kurpfuschern ist dringend zu warnen. Es ist eine Ver¬
mehrung der Krankenhausabteilungen für Geschlechtskranke und die Ver¬
meidung jedweder Zurücksetzung derselben anzustreben; bei Erkrankung
unbemittelter Personen ist von einer Krankheitsmelduug an die Heimats¬
gemeinde Abstand zu nehmen; sie sollen vielmehr unentgeltlich auf¬
genommen und die Kosten aus öffentlichen Mitteln bestritten werden;
man sollte sich auch bemühen, die Infektionsquelle, wie beim Militär,
aufzudecken. — Neuere wissenschaftliche Untersuchungen haben mit
Sicherheit bewiesen, daß mit Hilfe des sogenannten Selbstschutzes in
bestimmten Fällen die Ansteckungsgefahr herabgesetzt oder gar ver¬
mieden wird. „Unerläßlich, ja ausschlaggebend sind im Verein mit all
diesen Vorschlägen tatkräftige Bestrebungen, die auf eine Hebung der
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296
Referate.
Sittlichkeit, auf eine Besserung der Stellung der Frau, auf soziale Um¬
änderungen (Lohn-, Wohnungsfrage usw.), sei es auf staatlichem und
gemeindlichem, sei es auf dem Wege der privaten Fürsorge und Wohl¬
tätigkeit, hinzielen.“
3. Lobedank will in seiner Schrift, wie er im Vorworte derselben
sagt, die noch nicht infizierten Leser durch eine in keiner Weise über¬
triebene Darstellung nachdrücklich vor der Gefahr warnen, und diejenigen,
welche das Unglück hatten, venerisch zu erkranken, über das Verhalten
belehren, welches sie in ihrem eigenen Interesse und in demjenigen ihrer
Mitmenschen zu beobachten haben. Er gibt deshalb eine gemeinverständ¬
liche Darstellung der Geschlechtskrankheiten unter Anziehung der Bak¬
teriologie, welche von den Naturheilkundigen geleugnet wird, bekämpft
dieselben und empfiehlt als besonderes Mittel zur Verhütung der Ge¬
schlechtskrankheiten die Vermeidung unreinen Geschlechtsverkehrs, welchen
nicht nur die Prostitution, sondern auch das von Zeit zu Zeit den Lieb¬
haber wechselnde Verhältnis und die außer der Ehe in Geschlechtsverkehr
tretenden Töchter und Frauen der höheren Stände bieten.
4. Grub er bringt in seinem nett ausgestatteten Büchlein dem
Leser, als welchen er sich am liebsten den zum jungen Manne reifenden
Jüngling denkt, den ungeheuren Ernst der Zeugung und des Geschlechts¬
lebens zum Bewußtsein. Er bespricht die Befruchtung, Vererbung und
Zuchtwahl, sowie die geschlechtlichen Organe und führt aus, daß die
Befriedigung des Geschlechtstriebes außerhalb der Ehe nicht notwendig
ist. Man kann denselben bekämpfen, muß aber vor allem dem Anfänge
widerstehen. Ferner werden die Folgen, welche geschlechtliche Unmäßig¬
keit auch in der Ehe haben kann, hervorgehoben und Ratschläge für
den ehelichen Geschlechtsverkehr gegeben. — Die künstliche Verhinderung
der Befruchtung, besonders die Schädlichkeit des Coitus interruptus und
die Male continence werden erwähnt, ebenso die Unzulänglichkeit der
mechanischen Mittel zur Verhütung der Empfängnis und der schlechte
Einfluß, welchen die Anwendung derselben auf das sittliche Verhältnis
von Mann und Frau haben kann. In einem besonderen Kapitel bespricht
Grub er auch die Verirrungen des Geschlechtstriebes, die Homosexualität
und die Onanie, welche letztere vor allem von geschlechtsunreifen oder
halbreifen Knaben und Jünglingen betrieben wird, für die jede Betätigung
des Geschlechtstriebes sehr ungesund ist. Da zum Beischlafs zwei, zur
Onanie aber nur eine Person notwendig ist, ist auch die Gelegenheit
zum Onanieren ungeheuer viel größer als die zum Koitieren und damit
auch die Verlockung zur Unmäßigkeit. Mäßiges Onanieren hält Grub er
jedoch dem Geschlechtsreifen sicher für weniger schädlich als den unter¬
brochenen Beischlaf und die venerischen Krankheiten. Eine Besprechung
derselben bringt das Schlußkapitel.
Alle diese Publikationen haben das gemeinsam, daß sie zur Auf¬
klärung aller Schichten der Bevölkerung über geschlechtliche Fragen bei¬
tragen sollen. In dieser Beziehung kann ja auch wirklich vorläufig noch
immer nicht genug getan werden. Möge daher eine jede dieser Schriften
ihren Leserkreis finden und sich auch durch sie die Richtigkeit der
Taktik beweisen: getrennt marschieren, vereint schlagen! B. K.
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Zeitschrift
für
Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten
Band 3. 1904/5. Nr. 8 u. 9.
Persönliche Ansichten Uber die Maßregeln zur Bekämpfung
der Geschlechtskrankheiten.
Von Prof. Dr. E. von Düring, KieL
(Schluß.)
2. Die Bordellfrage.
Gegenwärtig ist in allen großen Städten eine ganz gleich¬
mäßige Abnahme der Bordelle festzustellen. Ich führe nur die
folgenden Zahlen an: Paris hatte nach Fiaux 1841 bei 1200 000
Einwohnern 235 Bordelle mit 1450 reglementierten Prostituierten.
Während nun die Einwohnerzahl dauernd steigt, gehen sowohl die
Bordelle wie die Zahl der reglementierten Mädchen in denselben
dauernd zurück, so daß 1900 bei 3 600 000 Einwohnern 48 Bordelle
mit 504 reglementierten Prostituierten bestehen. Nach Ströhmberg
sind die Bordelle in Petersburg von 1879 —1888 von 206 auf 65,
in Hamburg von 1859 —1867 von 124 auf 96 heruntergegangen.
Ich unterlasse die Anführung weiterer Zahlen, die für eine ganze
Anzahl französischer Städte dieselbe Tatsache bestätigen.
Diese Zahlen allein geben schon zu denken. Wenn die Bordelle
einem unabweisbaren Bedürfnis entsprächen, so würde Zahl der¬
selben und ihre Insassen bei steigender Bevölkerung zunehmen.
Aber hier spielen nicht allein Nachfrage und Angebot eine Rolle,
sondern ganz andere soziale Faktoren. Zunächst wechseln an¬
scheinend mit der Zeit die Anschauungen ganzer bürgerlichen
Schichten über Zweckmäßigkeit oder Unzweckmäßigkeit der Bordelle.
So führt Fiaux an, daß unter der Restauration viele kleine Ge¬
schäftsleute die Einrichtung von Bordellen in ihrer Gegend wünschten,
da sie darin einen Vorteil für ihre Geschäfte sahen, während heute
Besitzer solcher Geschäfte auf das dringendste die Entfernung
solcher Häuser aus ihren Quartieren verlangen und wegen Ent¬
wertung ihrer Grundstücke gegen die Besitzer der Bordelle auf
Zeitaohr. f. Bekämpfung d. Geaehlechtskrmnkh. 111. 22
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298
v. Düring.
Schadenersatz klagen. Weiter sind ganz unbedingt Zeiten größeren
Wohlstandes der Eröffnung von solchen Bordellen ungünstig. Es
werden viel weniger Mädchen durch die Not dem Laster in die
Arme getrieben, und die dauernden Verhältnisse, legitimes oder
illegitimes Zusammenleben, nehmen in solchen Zeiten zu. Schließlich
wird auch der Fortschritt an elementarem sozialem Verständnis
sogar bis in die Kreise der Prostituierten dringen; es werden sich
immer weniger Mädchen finden, die sich in die furchtbare Sklaverei
der Bordellwirte begeben.
Es bestehen über das Bedürfnis von Bordellen ganz außer¬
ordentlich verschiedene Ansichten. Es ist eigentümlich, daß die
Hauptverteidiger, Befürworter der Duldung oder Begünstigung der
Bordelle in den Kreisen der Ärzte und der Polizeibeamten sich
finden. Ich selbst kann mich dieser Ansicht nicht anschließen.
Wenn man von Hafenstädten vielleicht sagen kann, daß hier für
die große Masse der täglich ans Land kommenden Männer eine
derartige Einrichtung zum Schutz der anständigen Mädchen nötig
sei, so trifft dies für kleinere und mittlere Städte absolut nicht zu.
Die Nachteile der Bordelle in jeder Hinsicht sind so enorme,
daß man sich ernsthaft fragen muß, ob nicht selbst in Hafenstädten
die Vorteile von den Nachteilen weit überhoben werden. Zunächst
möchte ich an die Spitze stellen, daß die ganze Frage des Mädchen¬
handels im wesentlichen mit der Frage der Konzessionierung von
Bordellen oder Unterdrückung derselben steht oder fallt. Weiter
geht im allgemeinen gerade dasjenige männliche Publikum, für
welches angeblich die Bordelle notwendig sein sollen, fast gar nicht
in dieselben. Es ist komisch, wenn man für die Ab- oder Zu¬
nahme der Geschlechtskrankheiten unter den Soldaten etwa die
Einrichtung von Bordellen und deren Überwachung verantwortlich
machen will. An und für sich geht der Besuch der Bordelle weit
über die Mittel der Soldaten hinaus, sie können gar nicht hingehen.
Die Soldaten haben mehr oder weniger feste Verhältnisse und be¬
friedigen ihre geschlechtlichen Bedürfnisse in viel naiv-idealerer
Weise als in den Bordellen. Von den Männern, die im geschlechts-
reifen Alter stehen, gehen gerade die, die die Mitte der Zwanziger
überschritten haben und ein einigermaßen auskömmliches Ein¬
kommen besitzen, höchst selten in die Bordelle; auch sie ziehen
mehr oder weniger feste Verhältnisse, die freie Liebe, der Prostitution
vor. Da, wo Bordelle existieren, wirken sie direkt provozierend
gerade auf die dümmste unerfahrene Jugend; weiter dienen sie
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Persönl. Ansichten üb. d. Maßregeln z. Bekämpfung d. Geschlechtskrankh. 299
nach Gelagen und Kneipereien allen möglichen Leuten als Ab¬
steigequartier und entfalten gerade in dieser Eigenschaft einen
durch nichts zu rechtfertigenden, anreizenden Einfluß. Sind gerade
im Hinblick auf diese letzten Punkte die moralischen Folgen für
die Männer direkt ungünstige, so ist es fast überflüssig, darauf
hinzuweisen, wie furchtbar die Bordelle für die eingeschlossenen
Mädchen werden. Ich will hier nicht die durch die ganze Literatur
gehenden, nur zu berechtigten Anklagen gegen die Staatsbehörden
wiederholen. Jedenfalls wirken die Duldung der Bordelle und die
Reglementierung direkt verwirrend auf die sittlichen Anschauungen
der niederen Stände. Sie sprechen der Würde des Staates direkt
Hohn. Noch mehr als die Reglementierung ist die Duldung der
Bordelle direkt ungesetzlich und es ist unbegreiflich, daß sich
überall, wie schon erwähnt, hauptsächlich Polizei und Ärzte immer
noch wieder zusammenfinden, um Berechtigung und Notwendigkeit
der Bordelle darzulegen. Es wirkt geradezu komisch, wenn man
die idyllische Beschreibung der Bremer Bordellstraßen liest. Die
Bremer Polizeidirektion war so gütig, mir direkte Auskunft zu
geben über die dortigen Einrichtungen und ich habe mich direkt
an einen der beschäftigsten Spezialisten Bremens gewandt, der
nach seinem Briefe entschiedener Anhänger der Reglementierung
ist und die Hoffnung ausspricht, daß demnächst durch Eröffnung
weiterer Bordellstraßen dem Bedürfnisse abgeholfen und der günstige
Einfluß der gegenwärtigen Einrichtung weiter ausgedehnt werden
möge. Dabei muß dieser Herr aber selbst zugeben, daß weder die
reglementierte Prostitution noch die Bordelle dem bestehenden
Bedürfnisse genügen. Eine Abnahme der geheimen Prostitution
ist nicht wahrzunehmen. Es tut mir leid, durch eine Kritik der
mir so liebenswürdig gegebenen Auskunft undankbar zu erscheinen.
Aber was sind für eine Stadt wie Bremen 78 Prostituierte (26 Häuser
ä 3 Weiber?) Und was hilf© es, wenn die Zahl verdreifacht
würde! Mindestens gibt es in Bremen 2 bis 3000 — was nützt
also Kasernierung und Reglementierung von 200 Weibern? Es
ist doch geradezu lächerlich, anzunehmen, daß eine Zahl von
48 Bordellen mit 504 Insassinnen für eine Stadt mit 3 600 000
Einwohnern, wie Paris, irgendwelche praktische Bedeutung haben
könnte.
Was ich hier für Paris gesagt habe, gilt ebenso für Hamburg, gilt
für eine ganze Reihe anderer französischer Städte, gilt für Belgien
und Rußland. Überall geht die Zahl der Bordelle und der reglemen-
22 *
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300
v. Düring.
tierten Frauenzimmer zurück, während die Einwohnerzahl zunimmt
und die geheime Prostitution blüht.
Auch hygienisch bestreite ich unbedingt die Berechtigung der
Einrichtung von Bordellen. Die Statistiken widersprechen sich
auch hier wieder, wie überall ganz direkt und wenn man sieht,
wie jeder von seinem Standpunkte aus sich die Erfolge zurecht¬
legt, so kommt man nur zu dem einen Resultat, daß die Statistiken
absolut wertlos sind. Fiaux weist z. B. schlagend nach, daß ge¬
rade die Bremer Statistik ganz entschieden eine bedeutende Zu¬
nahme der Syphilis nach Eröffnung der Bordelle zeigt. Sonderbar
ist der Standpunkt, den einige Statistiker einnehmen. So z. B.
liefert Wolff in Straßburg direkt den Abolitionisten und den
Föderalisten Waffen in die Hand, wenn er sagt, daß die Zunahme
der zur Anzeige gekommenen erkrankten Frauenzimmer deshalb
eine Besserung der Zustände bedeute, weil demgegenüber eine
Abnahme der Erkrankung der Männer festzustellen sei. Nach
meiner Überzeugung sind alle diese Zahlen überhaupt nicht zu
gebrauchen, weil überall unserer Kenntnis sich entziehende wich¬
tige Faktoren dieselben in der einen oder anderen Richtung be¬
einflussen können. Auch hier wieder geben die Zahlen aus Nor¬
wegen zu denken, nach denen während 14 Jahren nach Aufhebung
der Reglementierung entschieden keine Zunahme der Syphilis
festzustellen war. Bei den anscheinend günstigen Statistiken über
Erkrankungen in den Bordellen wird immer wieder vergessen, daß
für die Syphilis eben der Faktor in Rechnung zu bringen ist, daß
die meisten Prostituierten die ansteckende Periode der Krankheit
hinter sich haben und deshalb in den Listen als gesund figurieren.
Auf einen Punkt der Gefährlichkeit der Bordelle hat schon Parent-
Duchatelet in ausgezeichneten Worten hingewiesen. Er sagt:
„Auf den ersten Blick könnte man glauben, daß die in Bordellen
untergebrachten Mädchen, da sie im allgemeinen besser ausgewählt,
besser überwacht, häufiger und aufmerksamer untersucht werden,
größere Sicherheit bieten müßten, als die übrigen Prostituierten.
Aber gerade das Gegenteil ist der Fall. Die Erklärung dafür ist
für den, der die Sitten und Gewohnheiten dieser beiden Klassen
von Weibern kennt, leicht zu verstehen. Die allein lebenden Mäd¬
chen nehmen, wenn sie bei sich zu Hause sind und Herrin in
ihren Zimmern, nur die Männer an, die ihnen passen; sie können
die Männer auf ihren Gesundheitszustand hin untersuchen, sie wenden
häufig gewisse Schutzmaßregeln an. Da alles Geld, was sie ge-
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Peroönl. Ansichten üb. d. Maßregeln z. Bekämpfung d. Geschlechtskrankh. 301
winnen, ihnen gehört, so sehen sie weniger Männer und die An¬
steckungsgefahr nimmt infolgedessen natürlich ab. Die in den
Bordellen untergebrachten Mädchen dagegen müssen jedem Be¬
sucher zur Verfügung stehen, Schläge und Mißhandlungen bedrohen
sie, wenn sie sich den Bordellwirtinnen nicht fügen.“
Lecour, Mireur, Diday und Sperck sind alle der Ansicht,
daß die in Bordellen untergebrachten Mädchen ungefähr 3 Mal so
häufig syphilitisch sind wie die freilebenden. Ohne mich irgendwie
für die Richtigkeit dieser Zahlen, denen Neisser genau entgegen¬
gesetzte gegentiberstellt, zu verbürgen, möchte ich sie nur als Be¬
weis anführen, wie verschieden von verschiedenen Autoren die gleiche
Frage beurteilt wird.
Ethisch, juristisch und hygienisch sind die Bordelle vollständig
zu verwerfen.
Die Verteidiger derselben haben besonders im Auge, daß
durch das Bestehen der Bordelle die vagierende Straßenprostitution
eingeschränkt würde. Wenn das Bestehen der Bordelle in dieser
Hinsicht günstig wirkte, so würde die Zahl der Verteidiger und
Anhänger des Bordellsystems jedenfalls sehr viel größer sein. Aber
aus allen Zahlen, die wir angeführt haben über das Verhältnis
der reglementierten zur unreglementierten Prostitution und die
nachweislich konstante und gleichmäßige Abnahme der Bordelle
seit Jahrzehnten in Paris, Petersburg, Hamburg, beweisen klar,
daß das Bestehen der Bordelle auf den Umfang der geheimen und
Straßenprostitution keinen Einfluss haben kann.
Ich kann gerade an dieser Stelle gleich meine Meinung äußern
über einen Vorschlag, der verschiedentlich laut geworden ist In
der Erkenntnis, daß das gegenwärtige System unhaltbar ist, daß
die Schäden der vagierenden Prostitution sozial ganz enorm sind
und dass eine gründliche Sanierung der Prostitution nur durch
radikale Maßregeln zu erreichen ist, ist vorgeschlagen worden, die
gesamten Prostituierten zu kasernieren. Die Kasernierung sollte
entweder von Genossenschaften oder gar vom Staate selbst in die
Hand genommen werden.
Die Verteidiger dieser Kasernierung verkennen vollständig die
Schwierigkeiten, an denen ja heute schon alle Maßregeln scheitern
und die sie auch dann nicht aus dem Wege zu räumen wissen
werden — ganz besonders aber übersehen sie die Tatsache des
allgemeinen, gleichmäßigen Rückganges der Bordelle — ein Be¬
weis dafür, daß sie nicht gewünscht, begehrt, modern sind! Sinn
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802
v. Düring.
hätte eine Kasernierung doch nur, wenn damit jede Prostitution,
reglementierte und unreglementierte, im weitesten Sinne des Wortes
gefaßt und aus den Häusern, von der Straße entfernt würde. Aber
wie will man die gesamte Prostitution fassen? Und glaubt man,
daß nicht das Gros der Männer immer wieder auf Wege sinnen
wird, die Bordelle zu meiden? Oder meint man, daß die „freie
Liebe“ deshalb verschwinden wird? Selbst bei idealen Zuständen,
wie sie in Bordellen gar nicht geschaffen werden können, werden
die meisten Männer lieber nicht ins Bordell gehen und die meisten
Weiber sich der Kontrolle zu entziehen suchen. Ganz abgesehen
also von der praktischen Unmöglichkeit in Berlin z. B. für 30 bis
50000 Prostituierte Kasernements zu schaffen, abgesehen von dem
verwirrenden ethischen Einfluß, den eine derartige, vom Staat ge¬
leitete Einrichtung haben müßte, würde die Kasernierung ganz
genau an denselben Schwierigkeiten scheitern, an denen die heutige
Reglementierung gescheitert ist.
Wie es bei meiner Stellungnahme zur Reglementierung voraus¬
zusehen war, muß ich mich also auch unbedingt gegen das gegen¬
wärtig an einigen Orten bestehende System der Bordelle wie auch
gegen die phantastische Idee der Kasernierung aussprechen.
Wir kommen nun zu den Maßregeln, die zur Bekämpfung der
Geschlechtskrankheiten vorgeschlagen worden sind. Dieselben sind
durchaus verschiedener Natur. Den Übergang bildet nach meiner
Ansicht
IV. Die Frage der strafrechtlichen Verfolgung wegen Übertragung
der Geschlechtskrankheiten.
Die in ihren Folgen oft unabsehbare Gesundheitsschädigung,
welche durch eine Ansteckung mit Geschlechtskrankheiten bedingt
wird und der Leichtsinn, ja die direkte Böswilligkeit, mit denen
derartige Übertragungen täglich geschehen, lassen von selbst den
Wunsch und den Gedanken entstehen, diejenigen strafrechtlich zu
verfolgen, die sich absichtlich, böswillig oder leichtsinnig einer
solchen Übertragung schuldig machen.
Die Gesetzgeber aller Länder haben sich mit dieser Frage
beschäftigt
Zunächst ist in unserer Gesetzgebung genügende Handhabe
geboten, um die zweifellos eine Körperverletzung darstellende An¬
steckung mit einer venerischen Krankheit zu bestrafen.
Der § 223 des Strafgesetzbuches sagt: „Wer vorsätzlich einen
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Persönl. Ansichten üb. d. Maßregeln z. Bekämpfung d. Geschlechtskrankh. 303
andern körperlich mißhandelt oder an der Gesundheit beschädigt,
wird wegen Körperverletzung mit Gefängnisstrafe bis zu drei Jahren
oder mit Geldstrafe bis zu eintausend Mark bestraft“
Weiter heißt es in § 224: „Hat die Körperverletzung zur
Folge, daß der Verletzte ein wichtiges Glied des Körpers ....
oder die Zeugungsfähigkeit verliert, oder in erheblicher Weise
dauernd entstellt wird, oder in Siechtum .... verfällt, so ist auf
Zuchthaus bis zu fünf Jahren oder Gefängnis nicht unter einem
Jahre zu erkennen;“ und weiter § 230: „Wer durch Fahrlässigkeit
die Körperverletzung eines andern verursacht, wird mit Geldstrafe
bis zu 900 Mark oder mit Gefängnisstrafe bis zu 2 Jahren bestraft“
§ 231: „In allen Fällen der Körperverletzung kann auf Verlangen
des Verletzten neben der Strafe auf eine an denselben zu erlegende
Busse bis zum Betrage von sechstausend Mark erkannt werden.“
Hier haben wir weitgehende Handhaben gegen diejenigen,
welche sich der Übertragung einer Geschlechtskrankheit schuldig
gemacht haben; ich mache besonders auf die in § 224 angeführte
Zeugungsunfähigkeit aufmerksam — die Sterilität der gonorrhoisch
infizierten Frauen käme da in Betracht.
Auch das Bürgerliche Gesetzbuch enthält Paragraphen, die
eine Bestrafung der Ansteckung ermöglichen.
Es heißt in § 843:
„Wird infolge einer Verletzung des Körpers oder der Gesund¬
heit die Erwerbsfähigkeit des Verletzten aufgehoben oder gemindert,
oder tritt eine Vermehrung seiner Bedürfnisse ein, so ist dem Ver¬
letzten durch Entrichtung einer Geldrente Schadenersatz zu leisten....
Statt der Bente kann der Verletzte eine Abfindung in Kapital
verlangen, wenn ein wichtiger Grund vorliegt.“
§ 847: „Im Fall der Verletzung des Körpers oder der Gesund¬
heit sowie im Falle der Freiheitsentziehung kann der Verletzte
auch wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine
billige Entschädigung in Geld verlangen. . . .“
Ganz besonders betonen möchte ich, daß sowohl das Straf¬
gesetzbuch (§ 231) wie das Bürgerliche Gesetzbuch (§ 843, Absatz 2
und § 847) eine empfindliche Geldstrafe zur Entschädigung der Er¬
krankten ermöglichen.
In praxi ist allerdings die Anwendung dieser Paragraphen so
erschwert, daß in den meisten Fällen eine Bestrafung der An¬
steckung nicht eintreten dürfte. Es ist nämlich durchaus nicht
leicht, den Beweis, juristisch gültig, für den kausalen Zusammen-
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304
v. Düring.
hang zwischen der Quelle der Ansteckung und der erfolgten An¬
steckung zu erbringen. Es liegen in der Hinsicht, besonders aus
Ehescheidungsprozessen eigentümliche, für den Nichtjuristen schwer
verständliche Urteile vor. Wer als medizinischer Sachverständiger
erlebt hat, wie weit sich medizinischer und juristischer Beweis vor
Gericht unterscheiden, der wird vom Nutzen der Anwendung der
betreffenden Paragraphen nicht sehr hoch denken. Wo nach unserer
ärztlichen Erfahrung und Überzeugung die Filiation durchaus klar
ist, sieht der Jurist noch große Lücken im Beweise. Manchmal
enden derartige Klagen direkt mit einer moralischen Schädigung
des klagenden Teils; so z. B. in Ehescheidungsprozessen, daß die
klagende Ehefrau nicht den positiven Beweis ihrer Gesundheit vor
der Ehe erbringen kann — sie ist ja nicht untersucht worden! —
Weiter aber liegt, besonders wenn man für die venerischen
Krankheiten in der Richtung der oben angeführten Paragraphen
ein Ausnahmegesetz schaffen wollte, in der Anwendung des Ge¬
setzes eine große Ungerechtigkeit für die Frauen.
Eine Prostituierte, die mit vielen Männern verkehrt hat, wird
selten die Quelle der Ansteckung kennen, ja sie kennt meist nicht
einmal den Namen des Mannes. Gerade die am wenigst ver¬
dorbenen Mädchen werden sich am meisten scheuen, durch eine
Klage ihre „Schande“ offenkundig zu machen. Dagegen wird
den abgefeimtesten Rouös und den gewitzigsten Kokotten eine un¬
endliche Möglichkeit zur Denunziation und zur Erpressung eröffnet.
Gerade diese letzteren Punkte — Ungerechtigkeit gegen die weib¬
lichen Individuen und die Aussicht auf ein widerwärtiges De¬
nunziantentum müssen uns zu unbeugsamen Gegnern jeder Aus¬
nahmegesetzgebung machen.
Liszt 1 ) kommt zum Teil aus den oben angeführten Gründen
— besonders wegen des schwierigen Beweises des Kausalzusammen¬
hanges zu folgender Ansicht. Es soll die Möglichkeit, durch Ge¬
schlechtsverkehr oder auf andere Weise eine Geschlechtskrankheit
zu übertragen, bei vorhandener Kenntnis von dieser Möglichkeit
unter Strafe gestellt werden.
Der von ihm vorgeschlagene Paragraph würde lauten:
„Wer wissend, daß er an einer ansteckenden Geschlechtskrankheit
leidet, Beischlaf ausübt oder auf andere Weise einen Menschen
l ) Der strafrechtliche Schutz gegen Gesundheitsgefährdung durch Ge¬
schlechtskranke. Gutachten abgestattet auf dem ersten Kongreß der Dtschn.
Gesellsch. f. Bek. der Geschlechtskrankh. S. 1.
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Persönl. Ansichten üb. d. Maßregeln z. Bekämpfung d. Geschiechtskrankh. 305
der Gefahr der Ansteckung aussetzt, wird mit Gefängnis bis zu
zwei Jahren bestraft, neben welcher auf Verlust der bürgerlichen
Ehrenrechte erkannt werden kann.
Ist die Handlung von einem Ehegatten gegen den anderen
begangen, so tritt die Verfolgung nur auf Antrag ein.“
Eine solche Fassung würde allerdings alle Verhältnisse treffen.
Wirkliche Anwendung des Paragraphen und Bekanntschaft mit
demselben wäre besonders geeignet, das Gewissen der Männer auf¬
zurütteln, die in dieser Hinsicht ganz unverantwortlich lax zu
denken gewohnt sind. Die Fälle, daß mit Geschlechtskrankheiten
behaftete junge Männer unserer Kreise sich gleichwohl nicht ent-
blöden, geschlechtlich zu verkehren, sind leider gar nicht selten.
Es herrschen in der Hinsicht oft geradezu gemeine Anschauungen,
als ob es kein Unrecht sei, eine Prostituierte zu infizieren — sie
sei ja dazu da. Aber auch in weniger auffälliger Weise trifft man
einen Mangel an Gewissenhaftigkeit in dieser Hinsicht bei sonst
sehr auf Ehre haltenden Männern. Was heißt es z. B., daß ein
Mann noch eine Untersuchung vornehmen läßt, ehe er heiratet?
Es ist das doch ein Ausdruck des Zweifels an seiner Gesundheit.
Und sehr häufig besteht dieser Zweifel gar nicht einmal. Die
betreffenden Klienten wissen sehr gut, daß sie eine alte Gonorrhoe
haben; jetzt, vor der Heirat, soll dieselbe geheilt werden. Und
vorher? Jahrelang haben dieselben Männer ruhig mit den ver¬
schiedensten Mädchen verkehrt, sicher eine ganze Reihe derselben
angesteckt, ohne sich darüber Gewissensbisse zu machen. Und
diese Gewissenslosigkeit erstreckt sich ja nicht nur auf die An¬
steckung der weiblichen Individuen — bei den betreffenden Mädchen
stecken sich ja andere Männer, gar nicht selten Freunde, Kom¬
militonen, Kameraden an!
Wenn man überhaupt strafrechtlich vorgehen will, so könnte
man sich noch am ehesten dem Gedanken Hellwigs l ) anschließen,
der ganz enorme Geldstrafen, nach der Art amerikanischer und
englischer Richter, bis zu 100 000 Mark, den Geschädigten zu¬
gebilligt wünscht. Einige solche Verurteilungen, verbunden mit
den in dem obigen vorgeschlagenen Gesetz vorgesehenen Ehren¬
strafen, würden einer Menge junger Männer zum Bewußtsein
bringen, welcher Gemeinheit sie sich schuldig machen durch Fort-
l ) Die zivilrechtliche Bedeutung der Geschlechtskrankheiten. Zeitschr.
f. Bek. d. Geschiechtskrankh. I. 26.
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306 v. Düring.
Setzung des Geschlechtsverkehrs während einer bestehenden Er¬
krankung.
Der Paragraph würde auch eine ganze Reihe anderer Ver¬
hältnisse treffen, Übertragung von Syphilis durch Säuglinge auf
Ammen und umgekehrt Auch in dieser Hinsicht bestehen vielfach
ganz unerhörte Anschauungen. Es ist besser, daß 10 syphilitische
Kinder zugrunde gehen, als daß eine gesunde Amme, die in ihrem
Schoße den Keim zu einer gesunden Generation trägt, angesteckt
wird; niemals darf ein Arzt, selbst wenn die Amme aufgeklärt
worden ist, im Schadensfälle entschädigt wird und ihre Zustimmung
gibt, einwilligen, daß ein syphilitisches Kind eine gesunde Amme
bekommt!
Wenn ich nicht die oben angeführten Bedenken hätte gegen
ein Ausnahmegesetz in dieser Frage und gegen die Ungerechtigkeiten
und das Denunziantentum, das sich aus solchen Gesetzen ergibt,
so würde mir aus den zuletzt angeführten Gründen ein solches
Gesetz wünschenswert erscheinen.
B.
Vorschläge zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten.
Für mich persönlich kann es keinem Zweifel unterliegen, daß
an die Spitze aller Maßregeln zur Bekämpfung der Geschlechts¬
krankheiten, zur Assanierung der Prostitution die Forderung zu
stellen ist:
Aufhebung der Reglementierung, Unterdrückung der Sitten¬
polizei, Beseitigung der sanitätspolizeilichen Zwangsbehandlung.
Wenn nichts an die Stelle träte, so wäre das noch immer besser als
das, was wir heute haben: eine ungesetzliche, ungerechte, wirkungs¬
lose, direkt schädigende und trügerische Maßregel.
Zweifellos hat der Staat das Recht und die Pflicht gegen
Erscheinungen, welche die Ordnung im Staate und die Gesundheit
der Staatsbürger bedrohen, Maßregeln zu ergreifen. Da es nicht
möglich ist, den illegalen Geschlechtsverkehr zu verbieten, zu ver¬
hindern oder zu bestrafen, da es immer eine Prostitution geben
wird, an der schließlich das weibliche Geschlecht ebenso beteiligt
und ebenso schuldig ist, wie das männliche; da diese Prostitution
häufig die öffentliche Ordnung beeinträchtigt, und da illegaler
Geschlechtsverkehr und Prostitution die Hauptquellen der die Ge¬
sundheit des Volkes bedrohenden Geschlechtskrankheiten sind, so
hat der Staat die Pflicht und das Recht, sich darum zu kümmern.
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Person 1. Ansichten üb. d. Maßregeln z. Bekämpfung d, Geschlechtskranke 307
Die Äußerungen dieser Rechte und Pflichten des Staates dürfen
aber nicht, wie es heute ist, mit den bestehenden Gesetzen in
Widerspruch stehen, sie dürfen weiter nicht der Würde des Staates
abträglich sein und schließlich sollen vor allen Dingen nicht die
Maßregeln des Staates unser allerheiligstes Recht, die persönliche
Freiheit antasten und in ihren Folgen für viele Unglückliche ver¬
hängnisvoll und vernichtend sein. Diese dem heutigen System
gegenüber berechtigten Vorwürfe müssen also unbedingt vermieden
werden. — Wenn das unmöglich ist, so wäre es besser, die ganze
Prostitution sich selbst zu überlassen. Deshalb halte ich, für mein
Teil, die Abschaffung des heutigen Systems für wichtiger und
nötiger als die Einführung neuer Maßregeln.
Denn eines darf man nicht vergessen — die Aufrechterhaltung
der öffentlichen Ordnung, die Vermeidung von Ärgernis auf der
Straße und in den Häusern ist und bleibt Pflicht des Staates und
gibt ihm stets genügende Mittel in die Hand, gegen die Auswüchse
der Prostitution sehr scharf vorzugehen. Ja, wenn die Polizei
keine Karten mehr ausstellt, wenn nicht die Prostituierten und die
naiveren Köpfe mehr glauben können, daß damit gleichsam eine
„Gewerbekonzession“ erteilt sei, kann der Staat viel nachdrücklicher
handeln: ohne „Kuppelparagraphen“ da, wo Ärgernis entsteht, die
Räumung der Wohnungen verlangen, die Straßen säubern.
Daß Personen, die aus den angedeuteten Gründen aufgegriffen
sind, auf ihre Gesundheit untersucht werden, daß krank Befundene
behandelt werden — dazu hat der Staat die Pflicht, nicht nur
das Recht
Wenn die Abolitionisten das bestreiten wollen, dann können
sie kein Verständnis ihrer Bestrebungen von seiten des Staates
verlangen.
Aber außer auf die hygienische Seite abzielende Verwaltungs¬
maßregeln, die wir weiter unten besprechen werden, und die von
der Initiative des Staates ausgehen müssen, gibt es Aufgaben zur
Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, bei denen mindestens die
Hilfe, wenn nicht die Initiative der bürgerlichen Gesellschaft
nötig ist
Wenn die Hauptquelle der Geschlechtskrankheiten die Pro¬
stitution ist, so muß diese Quelle ja insoweit versiegen, wie man
die Quellen der Prostitution verstopfen kann. Wir haben gesehen,
daß die, welche heute aus der käuflichen Hingabe ihres Körpers
ein Gewerbe machen, noch lange nicht „Degenerierte“, „Ver-
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808
v. Düring.
lorene“, „Verbrechernaturen“ sind.. Wir haben gesehen, welche
sozialen Schäden der Prostitution ihre Opfer zuführen. Wir werden
uns deshalb zunächst mit den sozialen Maßnahmen beschäftigen,
welche geeignet sind, einige Quellen der Prostitution zu verstopfen.
I. Soziale Maßregeln zur Eindämmung der Prostitution.
Hier ist ein Gebiet auf dem Vereine der verschiedensten reli¬
giösen, ethischen und politischen Bestrebungen, wo vor allen Dingen
die Frauen mitarbeiten können; ja hier ist die Mitarbeit der Frauen
unentbehrlich.
a) Zunächst handelt es sich darum, dafür zu sorgen, daß die
Löhne für Frauenarbeit bessere werden. Ganz besonders sollten
gerade die gebildeten Mädchen endlich einmal einsehen, daß es ein
Verbrechen ist gegen ihre Mitschwestern, wenn sie ihre günstigere
soziale Lage, Wohnen in der Familie, wo sie ihr Zimmer, ihr Bett,
ihren gedeckten Tisch haben, dazu benutzen, um sich durch Unter¬
bietung derjenigen, die von ihrer Arbeit leben sollen, ein Taschen¬
geld zu verschaffen. Einer demagogischen Agitation von Seiten
der Frauen gegen die Hungerlöhne der Hausindustrie, der Wäsche¬
näherinnen, der Ladenmädchen, aber auch der Sprach-, Klavier-
und sonstigen Lehrerinnen, der Stützen, der Gesellschafterinnen,
würde ich sehr sympathis ch gegenüberstehen. Diese jammervollen
Lohnverhältnisse treiben geradezu massenhaft Mädchen der Prosti¬
tution in die Arme, die durch ihre ganze Herkunft und Erziehung
sonst gewiß nicht dahinkämen.
b) Vor allen Dingen ist von seiten des Staates und der Kom¬
munen mit allen Mitteln auf die Beseitigung der Wohnungsnot
hinzuarbeiten. Ich weiß nicht, ob es möglich sein wird, nach dem
Straßburger Muster Wohnungen in genügender Zahl herzustellen,
die nicht zu einem festen Preise, sondern zu einem nach dem
Budget des Familienvaters zu berechnenden Preise vermietet werden.
Wenn das möglich ist, so wäre diese soziale Reform von ein¬
schneidendster Bedeutung. Vorläufig erscheint mir dieser Gedanke
mehr sozialistisch als sozial.
Sehr wohl läßt sich aber eine Beschränkung der Einlogierer,
Schlafburschen und Schlafmädchen erreichen. Es müssen von den
Kommunen Logierhäuser gebaut werden, in denen unverheiratete
Arbeiter und Arbeiterinnen gegen billiges Geld ein sauberes Bett,
ein nahrhaftes Essen, anständige Unterhaltung und einen Auf¬
enthaltsort vor dem Schlafengehen finden. Wenn ohne aufdringliche
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Persönl. Ansichten üb. d. Maßregeln z. Bekämpfung d. Geschlechtskrankh. 309
Einmischung der Polizei und ohne aufdringliches Hervortreten der
inneren Mission derartige Logierhäuser errichtet werden, so wird
man — wie in London — ihren Segen bald kennen lernen. Dabei
sollen dieselben der Kommune absolut keine Lasten auferlegen.
Die Angabe, daß dieselben sich selbst erhalten und sogar gut ver¬
zinsen, erscheint sehr glaublich. Diese Logierhäuser dienen zugleich
als Arbeitsnachweisstellen; es wird Gelegenheit geboten, bei Eirank¬
heiten unentgeltlichen ärztlichen Bat zu erholen.
Auch für stellenlose Dienstboten, Arbeiter und Arbeiterinnen
müßten diese Logierhäuser ein großer Segen werden. Heute fallen,
wie die Akten der Gesellschaft zur Bekämpfung des Mädchen¬
handels es beweisen und wie es jeder, der die Augen aufmachen
will, sehen kann, viele stellenlose Mädchen den Kupplern aus Not
in die Hände. Wo sollen sie, stellenlos, heute Unterkommen?
Nimmt doch das christliche Hospiz pro Tag für Logis allein 1 Mark!
Bei 12—15 Mark Lohn sind die Ersparnisse eines Dienstmädchens
bald aufgezehrt Hier sollten die Frauenvereine eingreifen und
helfen — das ist dankbarer als das ganze „Magdalenenwerk“.
Wie weit mit dieser Einrichtung eine Versicherung gegen
Arbeitslosigkeit sich verbinden ließe, vermag ich nicht zu sagen —
ich würde mich da auf ein Gebiet begeben, auf dem ich durchaus
nicht mitsprechen kann.
c) Hier ist nun auch die Stelle, eine oben nur gestreifte Frage,
die Reglementierung Minderjähriger zu berühren. Es ist unerhört,
daß der Staat, der Vormund der Minderjährigen sein sollte, sich
dazu herbeiläßt, diesen Unmündigen eine Unzuchts-Gewerbe¬
konzession auszustellen.
Glücklicherweise ist jetzt für alle diejenigen, welche helfen
wollen, in dem preußischen Ftirsorgegesetz vom 1. Juli 1900 die
Möglichkeit gegeben, vielen von den Minderjährigen, die umkehren
möchten, zu helfen.
Der § 1 dieses Gesetzes sagt:
„Ein Minderjähriger, welcher das 18. Lebensjahr noch nicht
vollendet hat, kann der Fürsorgeerziehung überwiesen werden:
1. Wenn die Voraussetzungen des § 1666 oder des § 1838 des
Bürgerlichen Gesetzbuches vorliegen und die Fürsorgeerziehung er¬
forderlich ist, um die Verwahrlosung der Minderjährigen zu verhüten.
(Bürgerliches Gesetzbuch § 1666.
Wird das geistige oder leibliche Wohl des Kindes dadurch
gefährdet, daß der Vater das Recht der Sorge für die Person des
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v. Dttring.
Kindes mißbraucht, das Kind vernachlässigt, oder sich eines ehr¬
losen oder unsittlichen Verhaltens schuldig macht, so hat das Vor¬
mundschaftsgericht die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen
Maßregeln zu treffen. Das Vormundschaftsgericht kann insbesondere
anordnen, daß das Kind zum Zwecke der Erziehung in einer ge¬
eigneten Familie oder in einer Erziehungsanstalt oder einer Besse¬
rungsanstalt untergebracht wird.
§ 1838.
Das Vormundschaftsgericht kann anordnen, daß der Mündel
zum Zwecke der Erziehung in einer geeigneten Familie oder in
einer Erziehungsanstalt oder einer Besserungsanstalt untergebracht
wird. Steht dem Vater oder der Mutter die Sorge für die Person
des Mündels zu, so ist eine solche Anordnung nur unter den
Voraussetzungen des § 1666 zulässig).
2. Wenn der Minderjährige eine strafbare Handlung begangen
hat, wegen der er in Anbetracht seines jugendlichen Alters straf¬
rechtlich nicht verfolgt werden kann, und die Fürsorgeerziehung
mit Rücksicht auf die Beschaffenheit der Handlung, die Persön¬
lichkeit der Eltern oder sonstiger Erzieher und die übrigen Lebens¬
verhältnisse zur Verhütung weiterer sittlicher Verwahrlosung des
Minderjährigen erforderlich ist;
3. Wenn die Fürsorgeerziehung außer diesen Fällen wegen
Unzulässigkeit der erziehlichen Einwirkung der Eltern oder sonstigen
Erzieher oder Schule zur Verhütung des völlig sittlichen Verderbens
des Minderjährigen notwendig ist. . . .
Die verschiedenen im Kampfe gegen die Prostitution stehenden
Vereine haben sich in lobenswerter Weise dieses Gesetzes bedient —
und sie arbeiten dahin, die etwas schwierige und langwierige, und
dadurch im kritischen Moment oft fehlende Entscheidung über
die Zuweisung zur Fürsorgeerziehung leichter zu machen.
In einer sehr lesenswerten Schrift zu diesem Gegenstände
sagt Massow 1 ) (S. 19): „Einen besonderen Gegenstand der Vereins¬
fürsorge werden die unter polizeilicher Kontrolle stehenden prosti¬
tuierten minderjährigen Mädchen bilden müssen. Sowohl nach
dem bürgerlichen Gesetzbuch, wie nach dem preußischen Fürsorge¬
erziehungsgesetz liegen die Voraussetzungen, unter denen der Vor¬
mundschaftsrichter die Fürsorgeerziehung zu verhängen befugt und
*) C. v. Massow, Das preußische Fürsorgeerziehuogsgesetz usw. Berlin
1901, Nicolaische Verlagsbuchh.
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Persönl. Ansichten üb. d. Maßregeln z. Bekämpfung d. Geschlechtskranke 311
verpflichtet ist, in solchem Fall unbedingt vor, und zwar gleich¬
gültig, ob die Eltern noch am Leben sind oder nicht. Denn da¬
durch, daß ein minderjähriges Mädchen sich unter sittenpolizei¬
licher Kontrolle befindet, ist einfach die Gefährdung des geistigen
und leiblichen Wohles des Kindes durch Vernachlässigung der er¬
forderlichen Erziehung bezw. die Notwendigkeit der Fürsorge¬
erziehung zur Verhütung des völligen sittlichen Verderbens der
Minderjährigen wegen Unzulänglichkeit der erziehlichen Einwirkung
von seiten seiner Eltern oder sonstigen Erzieher nachgewiesen.
Bis zum vollendeten 18. Jahre tritt die preußische Fürsorgeerziehung
ein, d. h. wenn das Mädchen noch nicht älter ist, tragen Staat und
Provinz die Kosten; der Vormundschaftsrichter kann aber auch bis
dahin, daß das Kind volljährig wird, also auch in dem Zeitraum
vom vollendeten 18. bis zum vollendeten 21. Lebensjahre die Für¬
sorgeerziehung verhängen, wenn die Mittel für die Unterbringung
des Mädchens vorhanden sind. Hier werden also die Vereine ein-
treten müssen, einmal um für diejenigen Mädchen, welche unter
18 Jahren sind, die Fürsorgeerziehung nach dem preußischen Ge¬
setz auf öffentliche Kosten zu beantragen, und sodann bezüglich der
älteren, noch minderjährigen Mädchen denselben Antrag unter
gleichzeitigem Anerbieten der Kostentragung zu stellen. . . . Die
öffentliche, von der Polizei autorisierte und konzessionierte Prostitu¬
tion ist eine der himmelschreiendsten Einrichtungen unseres öffent¬
lichen Lebens; vor allem aber spricht es dem Begriff des Staates
geradezu Hohn, wenn diese Einrichtung auf Minderjährige, über
welche der Staat durch seine Beamten, Behörden und Organe die
Vormundschaft ausübt, Anwendung findet. . . . Hier ist der echte
und rechte Weg für Frauentätigkeit und Frauenvereine gegeben,
und es kommt nur darauf an, daß er betreten wird/ 4
Diesen Worten Massows möchte ich hinzufügen, daß damit
zugleich eine vorzügliche Handhabe gegeben wird, um in dieser Zeit
etwa schon erworbene Geschlechtskrankheiten gründlich auszuheilen.
Sehr wichtig ist übrigens, wie Mas so w immer und immer
wieder betont, daß die Initiative zur Stellung unter Fürsorge¬
erziehung und die Beaufsichtigung während der Fürsorgeerziehungs¬
zeit Sache der Vereine, freier Organisation sein müsse; überlasse
man das den Behörden, so sei der Gendarm in diesen Dingen die
letzte Instanz; Massow, selbst hoher Verwaltungsbeamter, hält
also auch Polizei und Gendarmerie nicht für die geeigneten Organe
zur Mitarbeit oder als Entscheidungsinstanz in diesen Fragen!
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312
v. Düring.
d) Hier fügt sich ganz von selbst die. Fürsorge für die Mütter
unehelicher Kinder und für diese Kinder selbst ein. Für die
Kinder kann ja jetzt nach dem eben mitgeteilten Fürsorgegesetz
auf alle Fälle gesorgt, von ihnen die bis jetzt in vielen Fällen
fast sichere Verwahrlosung abgewandt werden, wenn der gute
Wille dazu vorhanden ist.
Wenn man sieht — aus den Statistiken — einen wie hohen
Prozentsatz die unehelichen Kinder zum Verbrechertum und zur
Prostitution stellen, wenn man bedenkt, wie außerordentlich hoch
die Sterblichkeitsziffer der unehelichen Kinder ist, dann muß man
sich sagen, daß der Staat ein großes Interesse hat, hier einzu¬
greifen. Wenn jeder Mensch ein gewisses Kapital darstellt und
wenn man in Rechnung zieht, welche Unkosten die kranken Kinder,
die verkommenen Menschen dem Staate machen, dann sollte man
denken, daß eine Fürsorge für die unehelichen Kinder Zinsen tragen
müßte. Der Mutter ist es ja oft unmöglich, für die Kinder in
ausreichender Weise zu sorgen. Sie verlieren ihre Stellung und
werden oft dem Verbrechen oder der Prostitution in die Arme
getrieben.
Es wäre meiner Ansicht nach für den Staat viel leichter, die
zur Alimentation Verpflichteten mit geringen Beträgen zu ihrer
Pflicht anzuhalten als es für die uneheliche Mutter ist, im Einzel¬
falle ihre Rechte geltend zu machen. Auch hier ist wiederum ein
Punkt, wo die Frauen vereine und Vereine zur Hebung der Sittlich¬
keit einsetzen könnten.
II. Die freie Behandlung. Krankenkassen. Polikliniken.
Die erste Bedingung für eine wirksame Bekämpfung der Ge¬
schlechtskrankheiten ist die Gewährung von leicht zugänglicher,
unbedingt diskreter, unentgeltlicher Behandlung für jeden Kranken.
Die große Masse der Mädchen, die ich nicht zur Prostitution
gerechnet haben will, die Anhängerinnen der freien Liebe im wei¬
testen Sinne des Wortes, würden sich viel eher, viel häufiger ganz
von selbst zum Arzte begeben, wenn sie nicht fürchteten, der
Polizei angezeigt zu werden. Wenn diese Mädchen wissen, daß
sie zum Arzte gehen können, ohne der Polizei angezeigt zu werden
und ohne dadurch Gefahr zu laufen, das ganze entehrende Ver¬
fahren der Zwangseinschreibung und der Zwangsuntersuchung über
sich ergehen lassen zu müssen, wenn überhaupt einmal in das Be¬
wußtsein dieser Kreise die Kenntnis eingedrungen ist, daß die mittel-
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PersönL Ansichten üb. d. Maßregeln z. Bekämpfung d. Geschlechtskrankh. 313
alterlichen ungesetzlichen Einrichtungen der „polizeilichen Sitte“
der Zwangseinschreibung, der Zwangsuntersuchung überhaupt nicht
mehr bestehen, dann werden schon sehr viele Kranke ganz von
selbst den Arzt aufsuchen. Den Ärzten, die darin anderer Ansicht
sind, widerspreche ich ganz entschieden. Wenn die Bedingungen
auch andere waren, so haben doch gerade meine Erfahrungen in
Klein-Asien mich gelehrt, daß durch taktvolles Vorgehen der Ärzte
ausgedehnte Kreise der Bevölkerung dafür zu gewinnen sind, sich
gern und freiwillig der ärztlichen Behandlung zu stellen. Ich hatte
im Anfang meiner Tätigkeit mit der ausgesprochenen Abneigung
der Bevölkerung gegen die Ärzte zu kämpfen. Es ist mir aber
in sehr kurzer Zeit gelungen, unterstützt durch eine Anzahl von
Ärzten, die mit großem Geschick auf meine Absichten eingingen,
es dahin zu bringen, daß die Bevölkerung weiter Distrikte sich
freiwillig zur Behandlung meldete. Wie sehr es hierbei auf die
Persönlichkeit des Arztes ankommt, dafür hatte ich überzeugende
Beweise. Die Zahl der in einem Bezirk zur Behandlung gekom¬
menen Kranken erwies sich verschiedentlich als untrüglicher Grad¬
messer für die Tüchtigkeit und die Eignung des in jenem Distrikte
eingesetzten Arztes; mit dem Wechsel des Arztes wechselte auch
in gleichen Distrikten die Zahl der zur Behandlung kommenden
Kranken. In einigen Gegenden glückte es durch die Unterstützung
von einsichtsvollen Laien dahin zu kommen, daß ich bei all¬
gemeinen Zwangsuntersuchungen im ganzen Distrikt kaum einen
Kranken fand, der nicht seinen Schein vorzeigen konnte als Be¬
weis dafür, daß er in Behandlung sei. Das freiwillige Zuströmen
von Kranken bei Ärzten, die in dieser Hinsicht Geschick bewiesen,
war so groß, daß an einigen Stellen sowohl die zur Verabfolgung
von Arzeneien erforderlichen Mittel als auch die vorhandenen
Räume in den Krankenhäusern weitaus nicht genügten, obwohl die
Voranschläge dafür auf mehrjährige Erfahrung am gleichen Orte
begründet waren.
Also alle Geschlechtskranken sollen Gelegenheit finden, sich
diskret, sachgemäß und unentgeltlich behandeln zu lassen.
Zur Gewährung einer allen zugänglichen sachgemäßen Be¬
handlung ist es nötig, daß eine größere Anzahl von Polikliniken
im Anschluß an bestehende Institute oder unter Leitung von
Ärzten, die eine Spezialbildung nachzuweisen hätten, überall in
allen Quartieren größerer Städte, auch in kleineren Städten und
besonders in Industriebezirken errichtet würden. Es ist klar, daß
Zeitsohr. f. Bekämpfung d. Geschlechtskrankh. HL 28
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314
v. Düring.
aus verschiedenen Gründen die Behandlung so viel als möglich
eine ambulante sein muß. Selbst mit ansteckenden Erscheinungen
behandelte Patienten können unter bestimmten Bedingungen gerne
ambulant behandelt werden; ja sie werden oft ambulant behandelt
werden müssen, wenn man ihnen nicht Stellung und Erwerb ab¬
schneiden will. Gleichwohl werden auch an den bestehenden
Krankenhäusern die Gelegenheiten zur Unterbringung von Ge¬
schlechtskranken bedeutend vermehrt werden müssen; man hüte
sich aber vor Errichtung von Krankenhäusern, die speziell die Be¬
zeichnung von Krankenhäusern für Geschlechtskranke tragen — sie
würden sehr gemieden werden.
Zur Deckung der Kosten dieser Einrichtungen, Honorierung
der Ärzte und Bezahlung der Arzneimittel, scheint mir der Vor¬
schlag, alle Personen mit einem Einkommen unter 2000 Mark der
Krankenversicherung zu unterstellen, sehr wohl geeignet. — Daß
vor allen Dingen die Krankenkassen die bis vor kurzem häufig
bestehenden Bestimmungen, nach welchen den geschlechtskranken
Patienten kein Krankengeld und keine Kurkosten bezahlt werden,
auf heben müssen, ist selbstverständlich; zum Glück ist das ja jetzt
erreicht.
Ich bin überzeugt, daß die Zahl der wegen Geschlechts¬
krankheiten zur Behandlung kommenden Individuen nach Ein¬
richtung von diskret und unentgeltlich wirkenden Polikliniken schon
sehr steigen wird. Andererseits aber ist es Tatsache, daß es ge¬
nügend männliche und weibliche Individuen gibt, die aus Leicht¬
sinn, Sinnlichkeit oder Not, sich auch, trotz des Bewußtseins, krank
zu sein, nicht des geschlechtlichen Verkehrs enthalten.
Man kann deshalb der Forderung ärztlicher Kreise, einen
gewissen Zwang auszuüben auf diese Klasse von Kranken, die Be¬
rechtigung nicht absprechen. Ich gestehe aber, daß ich mir sehr
wenig davon verspreche.
Mir erscheinen die von * verschiedener Seite, Neisser, Kro-
mayer, usw. mit manchen Varianten vorgeschlagenen
HL Sanitatskommissionen
zu kompliziert — theoretisch dürften sie geeignet erscheinen,
gute Dienste zu leisten.
Diese Sanitätskommission soll aus Ärzten und Verwaltungs¬
beamten bestehen und man könnte derselben mit Nutzen Mitglieder
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Peraonl. Ansichten üb. d. Maßregeln z. Bekämpfung d. Geschlechtskrankh. 315
der inneren Mission, im Dienste der Vereine zur Hebung der
Sittlichkeit stehende Frauen usw. zugesellen.
Die erste Bedingung flir die Möglichkeit eines erfolgreichen
Arbeitens einer Sanitätskommission wäre wohl die Einführung einer
Anzeigepflicht aller Geschlechtskranken durch die be¬
handelnden Ärzte eben an diese Sanitätskommission in der dis¬
kretesten Weise, wie Neisser sie vorschlägt: Anfangsbuchstaben
des Vor- und Nachnamens, Alter des Patienten, Sitz und Art der
Infektion, Infektionsquelle. Wenn der behandelnde Arzt derartig
ausgefüllte Karten der Sanitätskommission zusendet, so wird dadurch
eine mehrfache Registrierung des Patienten vermieden. Jeder
Patient mit einer Geschlechtskrankheit ist verpflichtet, sich be¬
handeln zu lassen und zwar hat in wöchentlichen Mitteilungen der
behandelnde Arzt die von ihm behandelten Patienten der Sanitäts¬
kommission zu melden, nebst den als geheilt entlassenen, den aus
der Behandlung fortgebliebenen und den aus anderen Gründen
nicht behandelten. Die Sanitätskommission hat dann durch ihre
Organe die Adressen nicht behandelter, aus der Behandlung fort¬
gebliebener Patienten feststellen zu lassen, wenn nicht aus dem
Einlauf eines anderen Arztes hervorgeht, daß N. N., bisher in Be¬
handlung bei Dr. X., jetzt in anderer Behandlung ist. Renitente
Patienten werden zunächst verwarnt, und erst, wenn die Ver¬
warnung nichts hilft, der Polizei gemeldet und durch dieselbe einer
Zwangsbehandlung — aber nicht Einschreibung! — zugeführt
Ein in diesem Sinne erlassenes Gesetz hätte den großen Vorteil,
daß es mit gleichem Rechte Männer und Weiber träfe.
Durch die Angabe der Infektionsquelle wäre es der Sanitäts¬
kommission weiter möglich, durch ihre Organe weitere Kranke der
Behandlung zuzuführen.
Die Sanitätskommission müßte hier auf die Polizei oder eine
dieselbe ersetzende Organisation zurückgreifen. Bei dieser Ge¬
legenheit möchte ich hinweisen auf den Bericht des New Yorker
Fünfzehner Komitees, der gerade in diesem Punkte zu Anschau¬
ungen und Vorschlägen kommt, die ich außerordentlich ansprechend
finde. Man müßte für die Ausführung der von der Sanitäts¬
kommission angeordneten Maßregeln eine Art Elitetruppe bilden,
die aus den erprobtesten, zuverlässigsten, besonders hierfür vor¬
gebildeten Männern gewählt würde und denen vielleicht freiwillig
sich meldende, im Dienst der Vereine zur Hebung der Sittlichkeit
stehende Frauen zugesellt würden. Dieser Organisation müßte
28 *
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316
v. Düring.
auch der ganze Überwachungsdienst der Prostitution unterstellt
sein. Die Polizei hätte alle die Prostitution betreffenden Anzeigen,
Klagen an die Sanitätskommission zu leiten und diese würde ihrer¬
seits durch ihre Organe die Verhältnisse prüfen, oft vielleicht ein-
greifen können, ohne daß es zu eigentlich polizeilichem Einschreiten
käme, in anderen Fällen aber nach Benachrichtigung der Sanitäts¬
kommission eine ärztliche Untersuchung vornehmen lassen. Gegen
die Ausgabe von Karten selbst an solche Frauenzimmer, die sich
direkt als Prostituierte erklären und um solche Karten bitten,
spreche ich mich unbedingt aus. Man würde damit nur wieder
das erreichen, was Neisser von den heutigen Prostituierten sagt,
daß sie nämlich trotz vieler Drangsalierungen und Bestrafungen,
denen sie ausgesetzt sind, eigentlich zu dem Glauben kommen müßten,
sie wären eine mit dem Freibrief zur Unzucht versehene Kaste.
In der Hinsicht wären vielleicht die Liszt-Schmölder’schen
zum Teil oben erwähnten Vorschläge zu verwerten, daß der Sanitäts¬
kommission Befugnisse gegeben werden, solche Personen — Männer
und Weiber — die, trotzdem sie geschlechtskrank gemeldet und
verwarnt sind, doch geschlechtlichen Verkehr geübt haben, zur
Bestrafung den Gerichten zu übergeben, ganz unabhängig davon,
ob dieselben andere Personen angesteckt haben oder nicht. Aber
ein derartiges Gesetz, so wünschenswert es gegen gewissenlose
Männer und gegen die Prostituierten ist, könnte doch zu leicht
ein zweischneidiges Schwert werden. Überdies steht ja immerhin
jedem Infizierten die Möglichkeit offen, auf Grund der bestehenden
Gesetze wegen „Körperverletzung“ zu klagen.
Ideale Zustände sind überhaupt nicht zu schaffen. Es heißt,
mit bestehenden Übeln und menschlichen Schwächen zu rechnen.
Natürlich setzt diese ganze Einrichtung einer Sanitätskommission
und des Behandlungszwanges für Geschlechtskrankheiten voraus,
daß die Behandlung der Geschlechtskrankheiten durch
nichtapprobierte Ärzte unbedingt verboten wird.
Die Sanitätskommission und ihre Organe müßte mit viel weiter¬
gehenden Rechten und Pflichten ausgestattet sein als nur hygieni¬
schen oder eventuell sanitätspolizeilichen.
Durch Cooptierung geeigneter Persönlichkeiten ist gewiß in
vielen Fällen durch persönliches Eingreifen derselben, durch Be¬
nachrichtigen der Eltern alleinstehender Mädchen, durch Befreiung
aus Wuchererhänden, durch Arbeitsnachweis, durch Hilfe in Zeiten
von Arbeitslosigkeit, Not, durch Zuführung zur Fürsorgeerziehung
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Persönl. Ansichten üb. d. Maßregeln z. Bekämpfung d. Geschlechtskranke 317
manches Mädchen vor dem Untergang zn bewahren, das gegen¬
wärtig durch die Zwangseinschreibung tatsächlich über den Rand
des Abgrundes hinabgestürzt wird.
Ich habe den Eindruck, als ob auch der Staat — von weitaus
dem größten Teil der bürgerlichen Gesellschaft gilt das sicher —
der ganzen Frage der Sanierung der Prostitution mit einem mehr
gezwungenen und — durch die von verschiedenen Seiten gleich¬
zeitig erregte Bewegung auf diesem Gebiete getrieben — mehr mit
einem neugierigen Interesse gegenübersteht als mit dem Gefühle
der ihm obliegenden Verpflichtung, hier wirklich zu helfen.
Es müßte sonst doch einer weiteren Frage viel mehr Tat-
Interesse entgegengebracht werden als es geschieht
IV. Die Stellung,
die der Venereologie im Lehrplan der Universitäten, die Be¬
deutung, die den betreffenden Abteilungen der Krankenhäuser bei¬
gelegt wird, endlich das Maß von Wertschätzung, das sich in der
Stellung der Dozenten — es gibt in Deutschland keine ordent¬
lichen Professoren für dieses Fach — und in dem'Range, der
diesem Fache bei dem ärztlichen Examen eingeräumt wird, aus¬
spricht, steht sicherlich nicht im Verhältnis zu der nun doch endlich
anerkannten Wichtigkeit dieser Krankheiten für das Volkswohl
und zu der Größe ihrer Ausbreitung.
Erst seit kurzer Zeit wird ein einsemestriger Besuch einer
dermatosyphilidologischen Klinik von den Studierenden gefordert;
besondere Lehrstühle für dieses Fach fehlen aber noch in einer
ganzen Reihe kleinerer Universitäten.
Ordentliche Professoren der Dermato-Syphilidologie gibt es in
Deutschland überhaupt noch nicht; darin sind uns alle anderen
Länder voraus.
In der Examenskommission sitzen nicht eo ipso die betreffenden
Dozenten des Faches, sondern es sollen im Anschluß an das Examen
in der inneren Station an den Examinanden Fragen aus dem Ge¬
biete der Dermato-Syphilidologie gestellt werden.
Für die Abteilungen für die Haut- und Geschlechtskranken
sind bei weitem nicht die, für andere Kranke für nötig erachteten
Einrichtungen vorhanden.
Daß diese äußere Stellung des Faches nicht ohne Rückschlag
auf die Einschätzung desselben von seiten der angehenden Ärzte
bleibt, ist klar. Es tut mir leid, es hier aussprechen zu müssen:
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318
v. Düring.
die Unwissenheit oder besser Unerfahrenheit, Unsicherheit der Prak¬
tiker auf diesem Gebiete ist oft erstaunlich. Und doch müßte, wenn
man die Geschlechtskrankheiten bekämpfen will, jedem einzelnen
Arzte eine für die Praxis genügende Ausbildung gegeben werden.
Ob die Hoffnungen sich erfüllen, welche in vielen und gerade
ärztlichen Kreisen auf
V. die Belehrung
über Geschlechtskrankheiten gesetzt werden, möchte ich bezweifeln.
In weiten Kreisen werden dieselben ein vorübergehendes, vielleicht
oft „lüsternes“ Interesse erregen.
Es ist aber erstaunlich, welche Unwissenheit bis weit in die
gebildeten Kreise hinein über die Bedeutung und über die Gefahren
der Geschlechtskrankheiten herrscht
Vielleicht kann eine geeignetere Art, die Jugend mit den Vor¬
gängen des Geschlechtslebens bekannt zu machen, als es bisher
üblich war — man überließ es dem Zufall in Gestalt möglichst
ungeeigneter Kameraden oder verdorbener Dienstboten — manche
jungen Leute beizeiten zu größerer Reife und Festigkeit gerade
in diesen Fragen bringen.
Die Frage ist heikel, aber es müßte möglich sein, daß Söhne
und Töchter von ihren Müttern allmählich und früh über die Ge¬
schlechtsfunktionen, über die Entstehung und Herkunft der Kinder
unterrichtet würden, und daß Väter früh mit ihren Söhnen offen
über geschlechtliche Beziehungen, über den Wert der Enthalt¬
samkeit, über die Gefahren der geschlechtlichen Ausschweifungen
und Erkrankungen sprächen.
Daß unsere heutige gebildete Jugend, die jungen Offiziere und
Studenten, die sonst so strenge auf Ehre halten, die gerade den
Kreisen angehören, denen die Pflege der Sitte, der Religion, aller
Gefühle, die uns heilig sind, Vaterlandsliebe, Treue gegen den
Monarchen anvertraut ist — daß gerade diese Kreise über geschlecht¬
liche Beziehungen vielfach geradezu erschreckend frivol denken, ist
leider eine nicht zu bestreitende Tatsache. Diesen Leuten gegenüber
hilft Belehrung sehr wenig. Es gibt Zeiten großer Ideale, in denen
von selbst eine mächtige Bewegung durch die Massen geht, in
denen auf Keuschheit, Reinheit der Sitten großes Gewicht gelegt
wird; sie wechseln mit Zeiten, in denen die Enthaltsamkeit ganz
ruhigen, in anderer Hinsicht strenge denkenden jungen Männern
komisch erscheint
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Personl. Ansichten üb. d. Maßregeln z. Bekämpfung d. Geschlechtskr&nkh. 319
Es ist außerordentlich schwer, für größere Kreise jüngerer
Leute geeignete Vorlesungen zu halten über die Gefahren der
Geschlechtskrankheiten. Der Mehrzahl der Theologen erscheint die
Betonung der Enthaltsamkeit die Hauptsache und die Besprechung
prophylaktischer Maßregeln zur Verhütung * der Ansteckung eine
Frivolität. Auf andere Studenten und junge Offiziere werden nur
zum kleinen Teil diejenigen Kapitel Eindruck machen, die ihnen
die sittliche Verantwortung gegenüber den Mädchen unterer Stände,
den schweren Ernst einer unehelichen Vaterschaft ins Gemüt zu
führen suchen; sie werden die Prophylaxe als die Hauptsache der
Vorlesungen ansehen und am notwendigsten finden. Es gibt
natürlich überall ernste junge Männer, für die Vorlesungen im
Geiste derjenigen des Seved Ribbing ein Segen sind. Aber die
Mehrzahl unserer jungen Leute kommen in dieser Hinsicht mit
leider zu „fertigen“ Anschauungen auf die Universität Gleichwohl
bin ich der Ansicht, daß überall und regelmäßig von geeigneten
Persönlichkeiten Vorlesungen über sexuelle Hygiene für Studierende
aller Fakultäten und junge Offiziere gehalten werden sollten.
Aber auch in Vereinen, Korporationen anderer Standes¬
angehöriger, von den Krankenkassen ausgehend, sollten Vorträge
gehalten werden. Es sind unter den jungen Kaufleuten, Technikern,
Arbeitern viele sehr ernste Leute, und jedenfalls ließe sich erreichen,
daß bei besserer Kenntnis von den Geschlechtskrankheiten und
über die Gefahren derselben auch manche Ansteckung vermieden
und bei erfolgter Ansteckung schneller ärztliche Hilfe aufgesucht
würde.
Dagegen wird durch die Art der Jugendbelehrung, wie sie
vielfach durch Traktätchen oder im Traktätchenstil gehaltener
Schriften angestrebt wird, sicher nichts genützt.
Schluß.
Es ist mit ethischen Bestrebungen unter der Jugend ein eigenes
Ding. Keuschheit ist kein Marktartikel — diesen Eindruck hatte
ich, als ich in Berlin Damen über die Qualen der Enthaltsamkeit
auch für Frauen und in Dresden einen jungen Mann über die
Heiligkeit der Ehe und über die Keuschheit vor der Ehe als die
Grundlage des Glückes in derselben reden hörte.
Wer Grundsätze hat, befolge sie — er wird die Achtung jedes
ernsten Menschen haben. Daß Zusammenschluß Gleichgesinnter
dem Schwächeren eine Stütze bieten kann — und werbend wirkt.
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320 v. Düring: Persönl. Ansichten üb. d. Maßregeln z. Bek. d. Geschiechtekrankh.
ist sicher. Andererseits ist aber derjenige, der gegen seine Grand¬
sätze fehlt, als Einzelner nur seinem eigenen Gewissen, sich allein
Rechenschaft schuldig. Hat er sich aber durch ein Wort gebunden,
so wird er, wenn er einer Versuchung nicht widersteht, ein Wort¬
brüchiger, ein Lump. Sind zwanzigjährige junge Leute imstande,
für ein Jahrzehnt für sich in der Hinsicht mit aller Sicherheit
einstehen zu können?
Über die Frage, ob Enthaltsamkeit schädlich sei oder nicht,
wird meinem Gefühl nach zu viel geredet.
In vielen Fällen sind die jungen Männer in die Geheimnisse
des Geschlechtslebens eingeweiht, ehe sie sich die obige Frage vor¬
gelegt haben; und für den, der einmal vom Baume der Erkenntnis
genascht hat, ist Enthaltsamkeit in der Zukunft viel schwerer als
für die bis in etwas spätere Jahre keusch Gebliebenen. Ich muß
sagen, daß mir diese Frage von jungen Leuten selten gestellt ist;
und wenn sie gestellt wird, ist unsere Antwort in den meisten
Fällen ziemlich gleichgültig! Die Betreffenden haben meist schon
entschieden.
Über die Antwort, die wir einem ernsten Frager zu geben
haben, wird wohl kein Arzt im Unklaren sein. Da erstreckt sich
aber, gequälten Gemütern gegenüber, die Antwort viel weiter; sie
hat oft eine quälende Angst über die übertriebenen Folgen der
Onanie, oder ganz unbegründete Selbstanklagen über die Ursache
unwillkürlicher Samenergießungen mit ruhigem Ernste zurück¬
zuweisen.
Ich will mit diesen kurzen Angaben meine Ausführungen schließen.
Im Kampfe gegen die Geschlechtskrankheiten erscheint mir
wichtig, daß in der Tat mehr mit den realen Verhältnissen ge¬
rechnet wird. Wer sich nicht darüber klar ist, daß die Mehrzahl
der Menschen nie enthaltsam war, nicht enthaltsam ist und nicht
enthaltsam sein wird; wer nicht die sozialen Übel an der Quelle
angreift, die zur Prostitution führt; wer in den Prostituierten
„Verbrechertypen“ sieht; wer von Polizeimaßregeln irgend etwas
erhofft — der wird ganz sicherlich für sein ehrlichstes, heißestes
Bemühen nichts als Enttäuschung, Bitterkeit und Ekel ernten.
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Alkohol und Geschlechtsleben.
Von Dr. Georg Bosenfeld (Breslau).
Um das Jahr 1850 zeichnete der Maler Alfred Rethel seinen
hochberühmten Totentanz.
Eines seiner Bilder stellt den Tod dar als ein mit schwarzem
Mantel umhangenes Gerippe, das zwei Knochen als Fiedel streicht,
und dessen Geigenspiel die Tänzer in tollem Schwung folgen, frei¬
lich um nach wenigen Schritten zu Boden zu sinken, während ein
anderer Teil angstergriffen davoneilt
In dieser Allegorie hat Rethel den Ausbruch der Cholera
dargestellt, die 1848 und 1849 ihre reichen Opfer in Europa ge¬
fordert hatte.
Fast klingt die Erzählung von der Cholera wie ein vergessenes
Märchen, selbst die 8000 Opfer, die sie im Jahre 1892 in Ham¬
burg forderte, sind vergessen. Fühlen wir uns doch hinter den
Schutzmauem hygienischer Gesetze sicher und geborgen. Wenn
so auch der geigende Tod seines Schreckens entkleidet ist, ein
heutiger Rethel könnte doch aufstehen, ja noch mehr: er dürfte
getrost statt eines solchen Skelettes drei dergleichen hinmalen: das
eine dürr und knochenklappemd, das die hohläugigen Gesichtszüge
der Schwindsüchtigen trüge, um die Tuberkulose zu verkörpern,
das zweite vielleicht mit dem Putze einer Dirne umgeben, eine
Allegorie der Lustseuchen, und ein drittes feisteres Gespenst mit
dem Fasse und dem Becher im Arm, die Alkoholseuche darzu¬
stellen.
Und an Opfern fehlte es keinem der Knochenmänner — wem
ein größeres Heer folgt, mag schwer sein zu entscheiden, um so
schwerer, da Ungezählte bemüht sind, hinter zweien oder allen
dreien herzutanzen.
Es sind in der Tat keine seltenen Existenzen, die, wie Bis¬
marck mit schlagendem Gleichnisse sagte, ihr Lebenslicht an beiden
Enden angebrannt haben; die in Geschlechtslüsten und -Krankheit
dem Trünke zum Opfer fallen oder auch der Tuberkulose erliegen.
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322
Rosenfeld.
Heut ist nicht unsere Aufgabe, die Opfer des einen oder des
anderen Verderbers zu zählen, sondern insbesondere zu betrachten,
wie sie sich gegenseitig die Opfer zutreiben, und zwar wollen wir
dieses Verhältnis zwischen Alkohol und Geschlechtstrieb und Ge¬
schlechtskrankheit untersuchen.
Gar vielfach sind die Beziehungen, in denen der Alkoholismus,
darunter verstanden den Alkoholgebrauch und den Alkoholmi߬
brauch — wo wäre die Grenze?! — das Geschlechtsleben beein¬
flußt, Beziehungen von tiefem Ernst und großer Bedeutung, über
die aber leider ausreichende Kenntnisse nicht allzu verbreitet sind.
Niemandem ist es unbekannt, wie der Alkohol die Geschlechts¬
lust befeuert.
Sine Baccho friget Venus — ohne Wein ist die Liebe kalt,
singt der Dichter. Und dieses Dichterwort birgt in sich, wie so
manches Dichterwort, unnennbares Weh. Überlegen wir nur, was
der Satz bedeutet.
Wer sich z. B. angelegen sein läßt, den Jüngling zu fragen,
bei welcher Gelegenheit er das erstemal ein Weib geschlechtlich
umfangen habe — wie oft wird er den ersten Kommers, womög¬
lich den Abiturientenkommers oder sonst irgendein Gelage nennen
hören. Auch bei dem Jüngling bedarf es oft des Alkohols als
eines Anfeuerers, um die Scham vor der Prostitution zu über¬
winden, und am hellen lichten Tage scheut sich wohl der noch
keusche Jüngling sich dem illegitimen Geschlechtsgenusse hinzu¬
geben. Freilich ist es meist nur der erste Schritt, der Über¬
windung kostet.
Und diese Überwindung erleichtert der Alkohol. Wie er das
zuwege bringt, das sei zunächst Gegenstand unserer Betrachtung,
indem wir uns einmal vorführen, in welcher Weise der Alkohol
die Geistestätigkeit beeinflußt. Weit verbreitet ist die Ansicht
von der geistig anregenden Wirkung des Alkohols; glauben wir doch
alltäglich Gelegenheit zu haben, diese geistige Anregung durch den
Alkohol zu beobachten; denn wem wäre es nicht oft genug auf¬
gefallen, wie bei geselligen Zusammenkünften die Gespräche, die
zuerst stockend sich kaum weiterspinnen ließen, allmählich ani¬
mierter wurden, wie die Stimmen immer lauter, die Bewegungen
immer energischer wurden, kurz, wie die ganze Tafelrunde einen
immer angeregteren Eindruck machte. Geben wir uns zunächst
einmal davon Bechenschaft, was wir unter „angeregt“ verstehen, so
werden wir den geselligen Sinn des Angeregten gewiß richtig da-
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Alkohol und Geschlechtsleben.
823
mit wiedergeben, daß wir denjenigen als angeregt ansehen, welcher
mehr Äußerungen tut als vorher. Die Erhöhung der Zahl der
Äußerungen kann nun auf zweifachem Wege zustande kommen.
Wir müssen annehmen, daß der Mensch doch nicht jedes Ding,
das er denkt, sofort äußert, sondern von der Zahl der gedachten
Dinge einen Teil für sich behält. Er wird nun dann mehr äußern,
wenn er mehr denkt als sonst, oder wenn er bei gleicher, resp.
verringerter Zahl der Gedanken eine erhöhte Lust hat sich aus¬
zusprechen, d. h. also, wenn er geschwätziger geworden ist Eis ist
nun die Frage: erhöht der Alkohol die Zahl der Gedanken oder
macht er geschwätziger? Man kann sich einen Anhalt dafür, ob
die Gedankentätigkeit durch den Alkohol erhöht ist, nicht allzu
schwer verschaffen. Es sind von der Psychologie dafür geeignete
Methoden ausgearbeitet worden. Man könnte ja einen Menschen z. B.
veranlassen, nüchtern einen französischen Aufsatz zu schreiben, und
ihn dann dasselbe nach 2 Litern Bier ausführen lassen, um zu sehen,
ob er das Gleiche zuwege bringt, wie vorher. Aber dieses Mittel
ist zu kompliziert; es gibt einfachere Wege. Man läßt z. B. nach
Kraepelins Vorgang einen Menschen eine Reihe von Zahlen ad¬
dieren und sieht, wieviel Zeit er dazu nüchtern und unter Alkohol¬
gebrauch nötig hat Das Resultat ist Verminderung um 30 Proz.
Auch kann man, ebenfalls nach Kraepelin, die Gedankenverbin¬
dungen, die Assoziationen zählen, welche sich an bestimmte Stich¬
worte, Hund z. B., ohne und mit Alkohol anschließen. Die Zahl
der Assoziationen sinkt durch Alkohol um mehr als 80 Proz., und
selbst eine fünftägige Abstinenz verbessert noch nicht die Asso¬
ziationsbildung, ja sie läßt sie immer noch weiter sinken. Oder
man probiert, wie es Aschaffenburg tat, die Leistungen von
Schriftsetzern vor und nach dem Genuß von Alkohol Es wurde
die Leistung um 15 Proz. durch 2 Glas griechischen Weines ge¬
schädigt Derartige Prüfungen, so auch die Richtigkeit und Schnellig¬
keit des Schreibens an der Schreibmaschine ohne Alkohol und mit
Alkohol und ähnliche führen zu der bestimmten Erkenntnis, daß
der Alkohol kein Anreger von Gedanken ist, sondern im
Gegenteil das Denkvermögen schwächt Nebenher sei be¬
merkt, daß alle die Personen, die in alkoholisiertem Zustande be¬
deutend weniger leisteten, dennoch das Gefühl hatten, mehr als
vorher zu leisten.
So viel ist nun sicher, um auf unser Beispiel von der geselligen
Angeregtheit zurückzukommen: die Zahl der Gedanken ist durch
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324
Rosenfeld.
Alkohol nicht erhöht, und wenn mehr Äußerungen zustande kommen,
so beruht das nur auf Vermehrung der Lust zu Äußerungen, d. h.
der Geschwätzigkeit. Wenn wir dieses Ergebnis nun kritisch be¬
trachten, wenn wir überlegen, daß durch den Alkohol nichts weiter
geschieht, als daß die Zurückhaltung in den Äußerungen aufgehoben
*wird, daß eine Scheu beseitigt wird, welche den Menschen zurtick-
hielt etwas zu sagen, auf das er keinen Wert legte, so finden wir
schon darin einen Hinweis auf die eigentliche Wirkung des Alkohols.
Wie sich auch aus vielen anderen Versuchen ergibt, ist seine eigent¬
liche Wirkung die, wegzunehmen was die Psychologen Hemmungen
nennen. Zu jeder Tat gehört ein Reiz. Wenn man Geld stehlen
soll, muß man das Geld zunächst sehen. Aber zwischen den Reiz
des Geldsehens und den Moment des Stehlens schiebt sich die Hem¬
mung: du sollst nicht stehlen. In rasender Wut, welche den Reiz
darstellt, kann der Gedanke entstehen, den Gegner zu erstechen:
aber zwischen den Reiz und die Ausführung schiebt sich die
moralische Hemmung: du sollst nicht töten. Solche Hemmungen
sind es eben, die der Alkohol entfernt. Sei es nun die Hemmung:
rede lieber nicht; denn es ist Unsinn, was du redest, oder: es wird
verletzen, was du redest, — dann spricht man eben frei von der
Leber weg, um einen anderen, wer weiß wie sehr, zu kränken. Oder
sei es die Hemmung: greif nicht nach dem Messer. So erklären
sich die vielen Leidenschaftsverbrechen, die der Alkohol durch seine
unselige Fähigkeit die Hemmungen aufzuheben bewirkt Jetzt
begreifen wir auch, wie der Alkohol den Jüngling zu sexueller
Ausschweifung veranlaßt, eben dadurch, daß er ihm seine normalen
Hemmungen wegnimmt, läßt er ihn den Lockungen der Großstadt¬
kirke erliegen. Bedenken wir noch die speziellen Verhältnisse: das
Gelage hat bis tief in die Nacht gewährt, er zieht über die schon
einsamen Straßen und fällt einer der unverkäuflichen Dirnen oder
einer, die schon von der Ausübung ihres Gewerbes heimkehrt, in
die liebreich geöffneten Arme. Das beste Material, das noch auf
sich hält, das Körperpflege übt und noch Gewissen genug hat,
Krankheiten, deren sie sich bewußt sind, lieber kurieren zu lassen, als
sie zu verbreiten, ist es nicht, auf das der junge Mann zu rechnen
hat. Dazu seine vollendete Unerfahrenheit in der Auswahl — was
Wunders, daß oft angegeben wird, wie schon die erste Gelegenheit
zur Ansteckung mit Tripper oder Syphilis oder mit beiden geführt
hat. Und jede Dirne wird den Jüngling, dessen Keuschheit sich
geopfert zu sehen ihr schmeichelt, anfeuern, daß er nur recht oft
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Alkohol und Geschlechtsleben.
325
die Beiwohnung ausübe und um so sicherer die Ansteckungs¬
gelegenheit wahrnehme.
Oder aber die Szene spielt sich in einer jener Kneipen mit
Damenbedienung ab: auch da enthält die Flasche Wein die Fluten,
unter deren Ansturm der Damm der Sittsamkeit zerreißt Allbekannt
ist es, was gerade die Kellnerinnen, die oft nicht einmal kontrollierte
Prostituierte sind, die die gleiche Szene ohne jede hygienische
Maßregeln vielfach am Tage erleben, an Ansteckungsstoff über¬
tragen können.
Aber nicht nur der bis dahin Keusche, auch der Erfahrene
ist durch den Alkoholgenuß aufs schwerste bedroht
Wer alle Ehebruchsszenen der Welt übersähe, wie oft würde
er finden, daß jene von den Ehemännern meist nicht so heiß ge¬
nommenen kleinen „Abweichungen vom Wege“ nicht nüchtern, son¬
dern in der Alkoholbefeuchtung begangen werden. Ich entsinne mich
noch, wie in der Schwimmschule ein dicker, natürlich verheirateter
Bäckermeister dem Schwimmlehrer von einem Volksfeste, ich glaube
im Schießwerder erzählte, was sie gekneipt hätten, und „seinen
Schnitt geliebt“ hätte natürlich jeder.
Jeder, auch der sonst Gebildetste, ist nach dem Alkoholgenuß
eines Teiles seiner Widerstandskraft verlustig, der Verführung viel
leichter zugänglich.
Bei dem Feste, welches die Stadt Berlin im August 1890 dem
internationalen Arztekongreß im Rathause gegeben hat, wurden,
wie Prof. Fick erzählt, 4000 Eintrittskarten ausgegeben und
15382 Flaschen Wein, 22 hl Bier und 300 Kognaks getrunken
„Die Szenen von Trunkenheit (d. h. am Schluß des Banketts) im
Saale, auf den Treppen und vor dem Hause sollen wahrhaft ekel¬
erregend gewesen sein. Wie sich die Schmeißfliegen nach dem
Aase ziehen, so hatte sich auf der Straße vor dem Rathause ein
Schwarm feiler Dirnen zusammengezogen, die unter den trunken
herabwankenden Gästen reiche Beute machten. Mir drängte sich
— als ich dies von einem Augenzeugen hörte — mit Schauder
der Gedanke auf, daß da wohl ohne Zweifel mancher sonst ehren¬
werte Familienvater durch den süßen „Sorgenbrecher Wein“ zu
einem Fehltritt verleitet worden ist, von dem er vielleicht eine
syphilitische Infektion mit nach Hause gebracht und eine bis da¬
hin blühende Familie auf Generationen hin vergiftet hat Solche
grausigen Folgen „fröhlichen Zechens“ werden zwar in der Öffent¬
lichkeit selbstverständlich nie bekannt; aber jeder erfahrene Arzt
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326
Rosenfeld.
weiß nur zu gut, daß sie keineswegs zu den Seltenheiten ge¬
hören/ 4
Wer Lust am Erklären von Allegorien hat, dem kann da leicht
der 10. Gesang der Odyssee in den Sinn kommen, wo erzählt wird,
wie die Zauberin Kirke die Männer des Odysseus zu sich lockt,
die sie erst mit prammischem Weine bewirtet, und die sie dann in
Schweine verwandelt Wie recht hat diese Kirke:
Noch hat niemals ein Mensch der Würze bisher widerstanden,
Wann und sobald ihm der Saft nur hinter die Zähne gekommen.
Nur den Odysseus bewahrt der Götterbote Hermes mit Hilfe
des Krautes Molp vor dem Schicksale der Genossen — ein Ab¬
stinenter braucht kaum den göttlichen Hermes mitsamt seinem
Kraute, denn ihn schützt „der unbeugsame Wille“ des Nicht¬
berauschten.
Wer Umschau hält, wird diesem Zusammenhänge zwischen
Geschlechtskrankheit und Alkoholismus auf Schritt und Tritt be¬
gegnen. So fand Forel bei einem Material von 182 Männern und
29 Frauen, welche er untersuchte, daß die Ansteckung mit Geschlechts¬
krankheiten bei 76,4 Proz. der Männer und 65,5 Proz. der Frauen
unter dem Einfluß des Alkohols erfolgt war. Und zwar handelt
es sich nicht um schwere Trunkenheit, sondern nur um die so
„harmlose“ Anheiterung.
Die Verknüpfung zwischen Alkoholismus und Geschlechtskrank¬
heiten ist nicht nur auf diesem Wege gegeben. Nicht nur, daß er
die Geschlechtslust erhöht, vielmehr die Hemmungen beseitigt und
dadurch Ansteckung ermöglicht, er führt auch technisch zu einer
eminent höheren Ansteckungsgefahr. Wenn der normale Mann die
illegitime Beiwohnung beendet hat, wird er durch Waschungen oder
wenigstens durch Urinieren einen Teil der auf die Haut oder die
Harnröhre übertragenen Keime entfernen. Der Alkoholbefangene
ist auch dazu zu leichtsinnig — stumpf verläßt er sich auf das
gute Glück, oder er ist so ermüdet von Liebe und Wein, daß er
sogleich nach getanem W T erke einschläft und jede Vorsichtsma߬
regel, die oft noch von größter Wirksamkeit wäre, verabsäumt
Dazu kommt die Wirkung des Alkohols auf die Geschlechts¬
sphäre. Mit der Erhöhung der Geschlechtslust geht nicht eine
Erhöhung der Beiwohnungsfähigkeit einher. Der Berauschte, ja
auch der nur mäßig Angeheiterte sind geschlechtlich nicht so potent,
wie sonst Die Beiwohnung gelingt oft erst nach langem Bemühen und
mit dieser protrahierten Berührung geht natürlich eine Erhöhung
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Alkohol und Geschlechtsleben.
327
der Ansteckungsgefahr einher, wie ja in einer Minute Feuer in der
Schlacht weniger Menschen getroffen werden, als wenn die gleiche
Zahl Soldaten einem Feuer von halbstündiger Dauer ausgesetzt sind.
Auch die Inszenierung der Beiwohnung führt bei der halb¬
gelähmten Potenz des Alkoholisten zu einer viel öfteren Berührung
der äußeren Geschlechtsteile, die gerade am häufigsten der Sitz
der ansteckenden Krankheiten sind, und während beim normalen
Beischlaf diese Gegenden schnell passiert werden, so daß die An¬
steckungsgefahr etwas geringer ist, ist sie bei dem unzweckmäßigen
Gebahren des Alkoholisten sehr vermehrt.
Es ist drittens keineswegs ausgeschlossen, daß die Organe des
Alkoholisten an sich bei gleicher Infektionsgefahr weniger wider¬
standsfähig sind.
Solche Verhältnisse hat man z. B. bei der Cholera beobachtet,
wo nicht selten noch während des Gelages die Cholerasymptome
ausbrachen, wo jeder Tag nach einem Sonn- oder Festtage eine
erhöhte Sterblichkeit aufwies. Von den Abstinenten der indischen
Armee erkrankten nur 6 Proz., von den Trinkern mehr als 13 Proz.
an der Cholera. Für die Geschlechtskrankheiten ist nichts Gleiches
sicher bekannt. Wohl aber deutet auf ähnliche Verhältnisse die
Tatsache hin, daß bei Gewohnheitstrinkern die Syphilis in einer
besonders schweren Form auftreten kann. Während meist bei
normalen Menschen die sekundären Erscheinungen nur in kaum
bemerkten Hautausschlägen bestehen, findet sich bei Säufern eine
Geschwürsbildung an vielen Stellen der Haut, und alle die Er¬
krankungen, welche der syphilitischen Infektion sonst folgen können,
aber dank der Kunst der Hautärzte nur noch selten folgen,
können sich beim Trinker trotz der Behandlung einfinden. Wohl¬
verstanden können, nicht etwa müssen.
Denn glücklicherweise ist die Widerstandsfähigkeit vieler Men¬
schen doch so groß, daß das leider enorm häufige Zusammentreffen
von Alkoholismus und Syphilis nicht gerade oft zu solch schweren
Folgen zwingt. Aber ich zweifle nicht, daß jedem Arzte solche
Zusammenhänge schwerer Syphilis mit Trunk bekannt sind, wie
mir noch immer in Erinnerung steht ein Biese unter meinen
jüngeren Bundesbrüdern, der an einer so schwer auftretenden
Syphilis erkrankt war — von vornherein ulzeröse Exantheme —,
daß nur die eingehendste Behandlung ihn rettete. Sein früher Tod
an Geisteskrankheit steht auch mit seiner syphilitischen Infektion
im Zusammenhang. Denn es ist jetzt allgemeine ärztliche An-
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328
Rosenfeld.
Behauung, daß einzelne Formen von Erkrankungen des Gehirnes
und des Rückenmarkes vornehmlich als Spätfolgen der Syphilis
anzusehen seien. In welchem Zusammenhänge die Paralyse und
die Rückenmarkschwindsucht — welch letztere zwar eine an sich
unheilbare, aber doch ein sehr langes Leben gestattende Krank¬
heit ist, die in Laienkreisen weit über Gebühr gefürchtet wird —
mit der Syphilis stehen, läßt sich vermuten, wenn man betrachtet,
daß die Paralyse z. B. bei gewissen .Völkern, welche viel syphi¬
litische Kranke haben, dennoch nur selten vorkommt. Insbesondere
ist das von den Bulgaren und den Balkanstaaten bekannt Hier
ist aber auch der Alkoholkonsum gemäß der mohammedanischen
Religion in der Bevölkerung etwas geringer als z. B. in Frank¬
reich, Belgien usw.
Die Vermutung, daß mit dem Zusammentreffen von Trunk
und Syphilis erst die Gelegenheit zur Entstehung der Paralyse
gegeben sei, wird durch eine Beobachtung von Meilhon noch
wahrscheinlicher. Dieser Autor beobachtete, daß in Nordafrika
unter den Arabern seit 1877 mehr Alkoholismus vorkäme. Vor
dieser Zeit hat er nur 4 Fälle von Trunksucht in Hospitalbeobach-
tung gehabt, nach 1877 aber 35 Fälle. Und nun steigt zugleich
die Zahl der Geisteskrankheiten, vor 1877 kein Fall von Paralyse,
nachher aber 13 Fälle. Auch habe ich seit Jahren in meiner
Beobachtung in wohl jedem Falle von Paralyse oder Rückenmark¬
schwindsucht gefunden, daß es sich um syphilitisch infizierte Per¬
sonen handelt, die sich durch reichlichen Alkoholkonsum, regen
Tabakgebrauch oder event durch Berufsvergiftungen, wie Blei¬
krankheit, einer doppelten und dreifachen Schädlichkeit ausgesetzt
hatten. Also die Syphilis macht es meist nicht allein, sondern es
bedarf dazu noch einer zweiten Ursache, vielleicht noch einer dritten,
Alkohol, Tabak, Überarbeitung, Bleivergiftung und dergleichen. Da¬
bei darf nicht außer Betracht bleiben, daß es Fälle von Paralyse
oder Tabes gibt, in denen Syphilis fehlt und andere Schädlich¬
keiten die Ursache darstellen. Es soll auch ausdrücklich hervor¬
gehoben werden, daß die Erkrankungsfälle an Paralyse und an
Rückenmarkschwindsucht nun glücklicherweise keineswegs immer
Vorkommen, wo diese zwei Schädlichkeiten Zusammentreffen, sondern
es sind nur immerhin seltene, wenig widerstandsfähige Individuen,
bei denen die siamesischen Geschwister Syphilis und Alkoholismus
zu so trüben Konsequenzen führen.
Es gibt übrigens auch eine Erkrankung der großen Körper-
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Alkohol und Geschlechtsleben.
329
Schlagader, das sogenannte Aneurysma, welches ich der kombinier¬
ten Wirkung von Alkohol und Syphilis zuzuschreiben geneigt bin.
Auch dies ist eine sehr seltene Krankheit.
Was wir bis jetzt betrachtet, betraf die geschlechtlichen Ge¬
fahren, denen der Mann durch den Alkohol verfallen kann. Auch
dem Weibe drohen große Gefahren in dieser Hinsicht, sowohl
durch den eigenen Alkoholismus wie durch den des Mannes.
Denken Sie an die lauschigen Cabinets söparös der Wein¬
kneipen, wo ein Fräulein aus einem Geschäfte sich mit einem
Kavalier zu einem, wie sie vielleicht noch beim Eintritt glaubt,
unschuldig fröhlichen Souper zurückzieht Vielleicht dachte sie an
nichts als ein zärtliches Küßchen im Verborgenen. Aber der alte
Heide Bacchus hat dem jungen Mann gar so viel Angriffsmut ver¬
liehen, und auch ihr ist so sehnsüchtig geworden, auch ihr hat der
Alkohol die Widerstandskraft gelähmt, und so ist denn, mit Goethe
zu sprechen, das Blümchen weg — und die Prostitution hat an der
schließlich verlassenen Genossin des Soupers ein Opfer mehr. Wenn
in diesen Lokalen noch so gut gegessen, aber kein Tropfen Alkohol
gegeben würde, so würden gewiß nicht alle, aber viele Liebesopfer
nicht dargebracht werden.
Man braucht noch keinem der Kavaliere zuzuschreiben, daß
er mit Berechnung den Sekt hat auffahren lassen, um den letzten
Widerstand zu brechen — keineswegs: er ist schon selbst in der
Erhöhung seiner Geschlechtsbegier ein Opfer seines eigenen Alkohol¬
konsums geworden, auch ist die Sitte, um fröhlich zu sein, Alkohol
zu trinken, leider allzu verbreitet, als daß es besonderer Raffiniert¬
heit bedürfe, sich dieses Tausendpfünders zum Brescheschießen zu
bedienen — aber der schlimmste Kuppler ist schließlich eben der
Alkohol.
Daß gar nicht selten das arme Mädchen dabei noch die Ge¬
schlechtskrankheit ihres Verführers mit hinnehmen muß, um allen
Jammer zu erfahren — ist leider eine bekannte Erfahrung.
Diesen Ausführungen entspricht es, wenn die Sittlichkeitsver¬
brechen mit dem Alkoholkonsum zu steigen scheinen. In den
russischen Gouvernements steigt mit dem Alkoholkonsum die Zahl
der Notzucht- und Unzuchtsverbrechen.
Es entspricht ihnen auch, wenn unter denjenigen Stämmen,
welche sich ganz oder fast alkoholfrei halten, es solche gibt, unter
denen die Prostitution fast ganz unbekannt ist — so unter den
Beduinen, die sich ihren Religionsgeboten gemäß alkoholfrei halten
Zeitschr. f. Bekämpfung <L Qetebleehtakraokh. III. 24
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330
Rosenfeld.
und unter den galizischen Juden, die sich aus eigener Neigung
vom Trünke enthalten.
Aber auch wenn wir dem Alkohol nicht nur auf den Wegen
nachspüren, wo er durch oder mit Geschlechtskrankheiten verderb¬
lich wird, sondern wo er allein einen Einfluß auf das nicht krank¬
hafte Geschlechtsleben hat, finden wir eine schwer schädigende Wirk¬
samkeit: auch die Beziehung von Alkohol zum Geschlechts¬
leben ist eine traurige.
Es möge hier nicht eingegangen werden auf die große Zahl
von Ehen, die durch den Alkoholismus des Mannes unglücklich
werden: es ist dies ein zu weites Feld! Sondern hier soll nur
kurz erörtert werden, wie der Alkoholismus die Nachkommen¬
schaft zu schädigen vermag.
Diese Untersuchungen sind in zweifacher Art durchgefuhrt
worden. Zu einem Teil sind es Beobachtungen experimenteller
Art, die am Tiere gewonnen sind, zum anderen Teile statistische
Erhebungen aus dem menschlichen Leben. Mairet und Com-
bemale haben .als Objekte Hunde gewählt: der erste Versuch galt
dem Einflüsse des Alkoholismus von Vaterseite. Ein kräftiger
Schäferhund wird eine Zeitlang stark mit Absynth vergiftet. Nach¬
dem er verschiedene nervöse Störungen dargeboten hat, wie Hal¬
luzinationen, allerhand Lähmungen, wird ihm sieben Tage lang
keinerlei Alkohol gegeben. Nach dieser Abstinenzperiode paart er
sich mit einer jungen Hündin, welche noch nicht geboren hat, die
ein ganz alkoholfreies Leben geführt hat und sich in bestem Ge-
sundheits- und Intelligenzzustand befindet Hier ist also allein der
Vater alkoholisiert und obenein sieben Tage vor der Eheschließung
alkoholfrei gehalten worden. Nach der normalen Tragezeit wirft die
Hündin 12 Junge, von denen 2 totgeboren sind, ein drittes stirbt
durch einen Zufall, Nr. 4 und 5 sterben an Lungenentzündung,
Nr. 6 bis 12 an Epilepsie, Tuberkulose der Lunge und des Bauch¬
felles innerhalb 67 Tagen. Kein einziges der 12 Jungen kann
groß gezogen werden.
Der Einfluß, den der Alkoholismus der Mutter auf den
Nachwuchs hat, wird an zwei Generationen untersucht. Die Autoren
machen das auf folgende Weise: Eine bereits 5 Wochen tragende
kräftige, gesunde und intelligente Hündin wird während der letzten
3 Wochen ihrer Tragezeit einer reichlichen Alkoholisation mit Ab¬
synth unterzogen. Die Hündin wirft 6 Hunde, 3 sind totgeboren,
3 leben. Davon entwickeln sich zwei physisch ganz gut, sind aber
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Alkohol und Geschlechtsleben.
331
wenig intelligent, das dritte Junge, eine Hündin, entwickelt sich
in schwierigem Wachstum mit geringer Intelligenz. Eben diese
Hündin wird zu weiteren Untersuchungen benutzt, die informieren
sollen, wie der Alkoholismus der Mutter in der zweiten Gene¬
ration zum Ausdruck kommt Diese X genannte Hündin der
zweiten Generation wird, ohne je Alkohol erhalten zu haben, mit
einem alkoholfreien, kräftigen, intelligenten Hunde gepaart. Sie ist
während der Tragezeit noch schmutziger, fauler und gefräßiger
als vorher und wirft zur richtigen Zeit 3 Junge, von denen zwei
an einer Reihe von Wachstumsabnormitäten, die das Leben be¬
hindern, zugrunde gehen. Der dritte lebt, aber sein Hinterkörper
ist mangelhaft entwickelt, seine Intelligenz gering. Von den Nach¬
kommen der zwei Brüder der Hündin X ist leider nichts bekannt,
so daß eine wahre Statistik der Nachkommen der alkoholisierten
Großmutter nicht gegeben werden kann. Auch Hodge fand unter
der Nachkommenschaft alkoholisierter Hunde Verblödungen und
Verkümmerungen, die 80 Proz. der Nachkommen töteten. Ein
Forscher, namens Laitinen, hat gelegentlich anderer Studien Be¬
obachtungen an kräftigen Kaninchen, die mit kleinen Mengen von
Alkohol vergiftet waren, gemacht und sie mit den Ergebnissen an
anderen alkoholfreien Tieren verglichen. Von 14 alkoholisierten
Kaninchen stammten 88 Junge, von denen 61 Proz. kurz nach der
Geburt gestorben sind. Am Leben blieben 39 Proz. 5 alkoholfreie
Kontrollkaninchen haben dagegen 26 Junge geworfen, von denen
23 Proz. nach der Geburt starben, während 77 Proz. gesund blieben.
Bei den Meerschweinchen ist die Wirkung des Alkohols noch verderb¬
licher: 10 Alkoholtiere haben 28 Junge geworfen, von denen nur
3 Stück = 11 Proz. am Leben geblieben sind. Gestorben sind fast
90 Proz. Von den 6 alkoholfreien Kontrollmeerschweinchen sind nur
19 Proz. der Jungen gestorben und 81 Proz. am Leben geblieben.
Man kann die Ergebnisse der Untersuchungen von Laitinen dahin
zusammenfassen, daß von den Nachkommen der Alkoholtiere
etwa so viele gestorben sind, wie bei der Deszendenz der
gesunden Tiere am Leben blieben. Während etwa von den
gesunden Tieren nur ungefähr 20 Proz. sterben und 80 Proz. über¬
leben, findet sich bei den Nachkommen der Alkoholtiere eine Sterb¬
lichkeit von 80 Proz. und ein Überleben nur von 20 Proz. Dabei
handelt es sich bei Experimenten von Laitinen um sehr bescheidene
Alkoholmengen, bei deren Genuß sich die meisten Menschen noch
als ganz mäßig fühlen würden, wenn man natürlich die Alkohol-
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332
Rosenfeld.
mengen ihrer Gewichtsmenge entsprechend vermehrt. Die Meer¬
schweinchen bekamen so wenig Alkohol, daß es, auf einen 70 Kilo
schweren Menschen berechnet, einem Konsum von etwa l 1 /* Liter
Bier entsprechen würde.— Die Beobachtungen am Menschen
hat Dem me so angestellt, daß er die direkte Nachkommenschaft
von 10 Trinkerfamilien mit der von 10 Familien mäßig lebender
Menschen verglich. Die Trinkerfamilien zerfielen in 3 Gruppen: die
erste Gruppe stammte von normalen Voreltern, nur der Vater war
Alkoholist; es sind 3 Familien mit 20 Kindern, von denen 4 an
Lebensschwäche starben. Krampfzustände hatten 6. 2 waren Idioten,
1 blieb auffallend klein und 7 waren normal. In der 2. Gruppe
waren schon Vater und Großvater Alkoholisten. Es waren 6 Familien
mit 31 Kindern. 8 Kinder davon starben an Lebensschwäche.
7 Kinder litten an Konvulsionen; 6 Kinder zeigten Mißbildungen
(Zwergwuchs, Wasserkopf, Klumpfuß, Hasenscharte); 3 waren Idioten,
2 unfähig zu sprechen, 3 Kinder waren selbst Alkoholisten und
epileptisch, 2 waren im ganzen gesund.
In der Gruppe 3 waren die Voreltern, wie auch Vater und
Mutter Alkoholisten. Es handelt sich um eine Familie mit 6 Kindern.
4 hatten Krämpfe, 1 war Idiot, 1 Zwergwuchs und normal war
keines. In Summa waren von 57 Kindern 10 normal = 17 l / t Proz.,
siech oder lebensunfähig 82,5 Proz. — Von den 10 Normalfamilien
dagegen stammten 61 Kinder, von denen 3 an Lebensschwäche
und 2 an Darmkatarrh starben, 2 hatten Veitstanz, 2 verlangsamte
geistige Entwicklung, 2 Mißbildungen. 50 = 82 Proz. waren normal.
Es zeigt sich also die fürchterliche Tatsache, daß von den Trinker¬
familien — gerade wie beim Tierexperiment — ebenso
viele Kinder zugrunde gehen oder siech sind, nämlich
82 Proz., wie in den gesunden Familien am Leben bleiben.
Ähnliches beweisen alle Untersuchungen, welche am Menschen
gemacht worden sind. Besonders groß ist die Zahl der Totgeburten
in Trinkerfamilien, sehr häufig geistige Abnormitäten, Verblödung
und Mißbildungen. Daß so viele der Nachkommen von Trinkern
zugrunde gehen, ist aber, so hart es klingen mag, keineswegs be¬
dauernswert; denn nur auf diese Weise kann verhindert werden,
daß das ganze Land binnen kurzem eine einzige Säuferfamilie wäre,
denn die Nachkommen der Säufer, die sich erhalten, sind sehr
minderwertige Individuen, wie sich z. B. aus dem Berichte über
die Nachkommenschaft einer englischen Säuferin, die 1740 geboren
ist, ergibt: „Man konnte die Nachkommen in 709 Personen er-
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Alkohol und Geschlechtsleben.
333
mittein und deren Verhältnisse feststellen. Es fanden sich 100 un¬
ehelich Geborene, 181 Prostituierte, 142 Bettler, 46 Armenhäusler,
76 Verbrecher. Die vierte Generation bestand nur aus Prostituier¬
ten und Verbrechern.“
Wie ungeheuer wichtig der Alkoholismus der Eltern für das
Gedeihen der Kinder ist, zeigt sich in einer Beobachtung von
Anthony. Er berichtet von einer nüchternen Frau, die in erster
Ehe mit einem Trinker 5 Kinder gebar, von denen 4 innerhalb
10 Tagen starben, während das fünfte noch nicht 2 Jahre alt
wurde. In zweiter Ehe mit einem mäßigen Manne gebar sie zwei
sich gesund entwickelnde Kinder.
Das ist das Bild, das man von der Wirkung des Alkohols auf
die Nachkommenschaft gewinnen kann. Freilich darf man nicht
vergessen, daß diese Zahlen immerhin an einem kleinen Beobach¬
tungsmateriale gewonnen sind und mehr die furchtbaren Folgen
zeigen, die der Alkoholmißbrauch haben kann, als die er etwa
immer hat. Es gibt sicher widerstandsfähige Menschen, deren
Nachkommenschaft trotz des, wie man zu sagen pflegt, mittleren
Alkoholgebrauches des Vaters eine erheblich bessere Lebenschance
haben, als sie Demmes Säuferstatistik entsprechen würde.
Fassen wir nun zusammen, was wir von den Beziehungen des
Alkohols zu dem Geschlechtsleben gesprochen haben, so haben wir
gesehen, daß er 1. dem Jüngling und dem Erfahrenen durch
Verminderung ihrer Widerstandskraft Anlaß gibt, illegi¬
timen Geschlechtsverkehr aufzusuchen, und daß er da¬
durch die Ansteckungsgelegenheiten vermehrt 2. In der
Art der Beiwohnung sowohl durch unzweckmäßig aus¬
geführten, als auch den verlängerten Akt des Berauschten,
und zugleich durch die Vernachlässigung aller Vorsichts¬
maßregeln wird die Gefahr der Infektion sehr vermehrt.
3. Durch den Alkoholismus wird die Verführung der Jung¬
frauen erleichtert und der Prostitution Vorschub geleistet.
4. Chronischer Alkoholismus bewirkt das Auftreten einer
schweren Form von Syphilis, bewirkt das Auftreten von
sonst seltenen Spätfolgen der Syphilis, Paralyse, Rücken¬
markschwindsucht, Aneurysma der Körperschlagader.
5. Alkoholismus hat einen schwer schädigenden Einfluß
auf die Gesundheit der Descendenz: Totgeburten, Mi߬
geburten, verminderte Intelligenz und Verblödung sind
häufige Erscheinungen.
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334
Rosenfeld.
Das ist die Liste der hauptsächlichsten Geschlechtssünden, die
dem Alkohol zuzuschreiben sind. So werden Sie einsehen, wie
nötig es war, die Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung der Ge¬
schlechtskrankheiten zu gründen, und wenn man das oben an¬
geführte Verzeichnis der Sünden des Alkohols sich vergegenwärtigt,
so werden wir einsehen, daß diejenigen, welche die Geschlechts¬
krankheiten bekämpfen wollen, ein ungemein großes Interesse daran
haben, zugleich auch den Kampf gegen den Alkohol zu führen und
die sogenannte Mäßigkeit warm zu empfehlen. Es ist das Wort
„Mäßigkeit" leicht gesprochen, und es ist leicht, über die Abstinen¬
ten als Leute zu reden, welche den Standpunkt der Mäßigkeit
unnütz übertreiben; aber wenn Sie sehen, wie der Alkohol die
Intelligenz schwächt, und wie selbst 5tägige Enthaltung in dem
Kraepelinschen Versuche keinen Einfluß hatte, so werden Sie mir
zugeben, daß mit dem Worte „Mäßigkeit" ungemein wenig gesagt
ist, daß es der Unterweisung bedarf, wie man mäßig sein soll.
Vorerst muß man danach streben, den Alkohol und seine
Einwirkung auf Körper und Geist einmal ganz los zu
werden. Dazu gehört zunächst eine Periode vollständiger
Enthaltsamkeit durch etwa ein Jahr hindurch. Wenn so
der Körper erst einmal ganz alkoholfrei geworden ist, so bleibe es
dem Einzelnen überlassen, ob er dann seinen reinen Leib wieder
mit Alkoholicis verunreinigen wolle — denn so wird es jeder
empfinden, der einmal das ganz alkohollose Leben kennen gelernt
hat — zum mindesten aber möge er festhalten an der äußersten
Mäßigkeit, und mäßig trinken heißt in erster Reihe selten trinken.
Für die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten ist freilich
die Abstinenz die beste Hilfe und zwar in vielfacher Rücksicht
Wer sich dem Alkohol gegenüber Enthaltsamkeit beibringt, dem
wird es gehen wie jedem, der irgendwo Enthaltsamkeit gelernt hat:
es wird ihm nicht so ungeheuerlich Vorkommen auch sich auf
irgendeinem anderen Gebiete zu beherrschen. Die Alkoholabstinenz
ist also keine ganz unbedeutende ethische Schulung.
Es werden damit auch jene hundertfachen Gelegenheiten ver¬
mieden sich ins geschlechtliche Unglück zu stürzen, wie sie eben
durch den Alkohol erleichtert werden. Kein Mensch wird leugnen,
daß die Sinnenlust eine mächtige Verlockung ist für den Mann und
das Weib; für das sittenstreng erzogene, ethisch viel höher als der
Mann geschulte Weib gewiß viel weniger. Aber allen Fallstricken,
denen noch der alkoholfreie Mensch entgehen kann, wird er allzu
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Alkohol und Geschlechtsleben.
335
leicht verfallen, wenn auch nur geringer Alkoholkonsum seine Wider¬
standskraft geschwächt hat
Unsere Hemmungen sind meist nicht gerade allzu stark und
wer demWeibe schon widerstünde, demWeineund demWeib zusammen
widersteht sich’s doppelt schwer. Schon ein alter Spruch sagt:
„Aus den zwei V: Vinum (Wein) und Venus (Weib) entsteht ein
großes W (Weh)“ Aber auch dem Weibe droht durch den Alkohol
ungeheure Gefahr, durch den Alkoholismus des Mannes, wie ganz
besonders durch ihren eigenen Alkoholkonsum. Wie ungeahnt groß
die Wirkungen unmäßigen Alkoholgebrauches auf die Nachkommen¬
schaft sind, haben Ihnen Menschenbeobachtungen und Tierexperi¬
ment gezeigt. Und allen diesen Gefahren setzen sich die Menschen
dem Alkohol zuliebe aus, der in geistiger Beziehung kein Anreger,
sondern ein Verdummer, in körperlicher Beziehung, wie Sie mir
getrost glauben mögen, kein Kräftigungsmittel, kein Heilmittel,
sondern nur ein Schwächungsmittel ist Aus alledem folgt die
Lehre, die Ihnen sowohl die Sorge um die eigene geistige und
körperliche Gesundheit und Leistungsfähigkeit, wie um die unserer
Kinder und unseres Volkes ans Herz legen muß, zu eigenem und
anderer Wohle Beispiele größter Enthaltsamkeit im Alkoholgenuß
zu sein.
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Prostituiertenbriefe.
Von Frau Eggers-Smidt.
Wenn ich nachfolgend einige Briefe von Prostitutierten der Öffent¬
lichkeit übergebe, so beabsichtige ich damit nicht nur denjenigen Lesern
und Leserinnen der Zeitschrift, welche keine Gelegenheit haben, diesen
Mädchen menschlich näher zu treten, einen Einblick in das Seelenleben
derselben zu verschaffen und so zu einem Verständnis der Denk- und
Empfindungsweise der Prostituierten beizutragen; was ich vor allem
möchte, ist, dem Vorurteil entgegenzutreten, daß es unmöglich ist, ge¬
werbsmäßige Prostituierte wieder zu eioem ehrlichen und anständigen
Leben zurückzuführen. Daß dies in den meisten Fällen außerordentlich
schwer und in vielen Fällen unmöglich ist, da es sich oft um erbliche
Belastung durch trunksüchtige Eltern und äußerste Verwahrlosung von
Jugend auf handelt, ist selbstverständlich, aber die Zahl derjenigen, die
nicht für immer verloren sind, ist doch bedeutend größer, als gemeinhin
angenommen wird. Freilich bedarf es dazu der Hilfe, des andauernden
tatkräftigen mütterlichen Beistandes vorurteilslos gesinnter Frauen, welche
es verstehen, das volle Vertrauen dieser Mädchen zu gewinnen, und sich
auch durch Mißerfolge nicht abschrecken lassen. Das größte Hindernis
aber für dieses Rettungswerk scheint mir die Art und Weise, wie heut¬
zutage die Prostituierten in Krankenhäusern untergebracht werden und
wie wenig Aufmerksamkeit daselbst der psychischen Behandlung dieser
Mädchen geschenkt wird. Zum Beweise dessen nachstehende kurze Aus¬
führungen, welche sich auf meine persönlichen langjährigen Erfahrungen
im Umgänge mit Prostituierten aus meiner Vaterstadt Bremen stützen.
Daß mir dies möglich war, danke ich vor allem den hohen und niederen
Behörden Bremens, sowie den Krankenhausärzten, die meine Arbeit in
jeder Weise unterstützten.
ln Bremen herrscht keineswegs die Reglementierung in ihrer krassesten
Form, es gibt keine Zwangseinschreibungen oder unter Sitte stellen,
auch keine Bordelle im eigentlichen Sinne. Sondern es gibt nur eine
Kontrollstraße, in der 75 Prostituierte wohnen, die sich freiwillig ge¬
meldet haben, sich dann aber zweimal wöchentlich ärztlich untersuchen
lassen müssen. Die übrigen Prostituierten, deren Zahl zwischen 500 und
1000 schwankt und unter denen sich viele junge Anfängerinnen befinden,
sind größtenteils der Sittenpolizei bekannt. Wenn sie sich obdachlos
umhertreiben oder auf der Tat ertappt werden, greift man sie auf und
sie bekommen im Erstfalle 3 Tage Arrest. Jedes Mädchen, das man ins
Gefängnis einliefert, wird am nächsten Tage von dem Gefängnisarzte
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Prostituiertenbriefe.
337
untersucht. Ist sie geschlechtskrank, so wird sie ins Krankenhaus über¬
führt. Die Jungen sind fast ausnahmslos krank. Dort auf der Abteilung
für Geschlechtskranke werden nun drei Klassen von Frauen und Mädchen
verpflegt:
I. Sogenannte Gassenmädchen, meist Dienstmädchen.
II. Kontrollstraßenmädchen.
III. Heimliche Prostituierte, die natürlich am zahlreichsten vertreten
sind, von der Polizei eingebrachte Kranke.
Diese drei Arten von Kranken werden zwar in verschiedenen Sälen
untergebracht, aber es ist ganz unmöglich, sie dauernd getrennt zu halten.
Sie laufen zueinander, sowie das Pflegepersonal den Rücken dreht.
Wochen- ja monatelang sind hier also junge, erstmalig gefallene Mädchen
zusammengesperrt mit den denkbar schlechtesten Elementen, mit den ge¬
fährlichsten Lehrmeisterinnen, den älteren, ausgelernten Prostituierten.
Juristen und Gefängnisdirektoren, Krankenpflegerinnen und Sittenpoli¬
zisten sind mit mir einer Meinung, daß die neu hin/.ugekommenen Mäd¬
chen, die Anfängerinnen nach jedem Aufenthalt im Krankenhause, dieses
sittlich tiefer gesunken und schlechter verlassen. Und dies selbst in einem
Krankenhaus, das von einem humanen Arzt geleitet wird, in dem Schwe¬
stern pflegen, die alles tun, um die jungen Elemente den älteren fern zu
halten und alles versuchen, um denen, die in geordnete Verhältnisse
zurückkehren möchten, die Wege zu ebnen. Völlig verwerflich ist es
vor allem, ein Mädchen, das ein Kind erwartet, in dieser Umgebung und
mit älteren Prostituierten zusammenzulassen. Habe ich es doch mehr
als einmal erlebt, daß ein junges infiziertes, schwangeres Mädchen, das
willens war, ein anderes Leben zu beginnen, wenn es nach Monaten, oft
nach einem Jahr (da Geschlechtskrankheiten erst nach der Geburt des
Kindes heilen) diese vergiftete Umgebung verließ, jedem besseren Einfluß
unrettbar verloren war. Und doch gibt es meines Wissens noch kein
Krankenhaus, wo die Einrichtungen so getroffen sind, daß die Jungen
und diejenigen, die wohl den Wunsch, nur nicht die Kraft haben, ein
anderes Leben zu beginnen, von den älteren, gewohnheitsmäßigen Pro¬
stituierten dauernd getrennt sind. 1 ) Diese Forderung müßte von der
*) Anmerkung der Redaktion. Diese Trennung der Anfängerinnen
von den älteren Prostituierten, sowie die weiterhin gestellte Forderung des
Arbeit8zwange8 sind bereits in einigen Orten (z. B. Kopenhagen, Kiel, Stra߬
burg i. E. usw.) durcbgeführt.
Nach beiden Richtungen hin ist z. B. in Kopenhagen für die Prosti¬
tuierten besonders gut gesorgt, wo das im Jahre 1886 erbaute Vestre-Hospital
unter Leitung des bekannten Syphilidologen Professor Bergh zur Aufnahme
der kranken Prostituierten bestimmt ist. Die gesamte Einrichtung dieses
Hospitals beruht auf dem Prinzip, den Prostituierten ihren im Interesse der
Allgemeinheit erzwungenen Aufenthalt möglichst angenehm und vorteilhaft
zu gestalten.
In dem ganzen Hospital ist für die Reinlichkeit in ganz besonders vor¬
züglicher Weise gesorgt. Die Waschzimmer, welche jeder Abteilung bei¬
gegeben sind, sind mit einer Anzahl von Waschtischen, mit Sitz- und Voll-
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338
Eggers-Smidt.
D. 6. B. G. durchaus gestellt werden, denn sie müßte gerade auf die
Rettung dieser Jungen den größten Wert legen. Sind doch anerkannter-
bädera versehen und würden jedem allgemeinen Krankenhause zur Zierde
gereichen. Zwei für die beiden Abteilungen bestimmte, vollständig getrennte
Gärten dienen zu dem recht reichlich bemessenen Aufenthalt im Freien. Die
Aufsicht wird von weltlichen Wärterinnen besorgt; die Oberaufsicht haben
die Inspektricen, Damen aus den besseren Ständen, welche ihre mühevolle
Aufgabe mit Hingebung erfüllen und zweifellos mehr Autorität haben und
mehr leisten, als das aus den niedersten Ständen hervorgegangene Personal,
das bei uns auf diesen Stationen allein vertreten ist. Die Patientinnen, welche
nicht bettlägerig sind, sind durch die Hausordnung gezwungen, zu arbeiten.
Sie können entweder Handarbeiten für sich selbst anfertigen, und dann sind
die Angestellten berechtigt und verpflichtet, ihnen das notwendige Material
zu besorgen, oder sie arbeiten für die Anstalt, besorgen Wirtschaftsgeschäfte,
nähen, sticken, stricken usw. und werden für alle diese Arbeiten von der
Hospitalverwaltung bezahlt. Ihren Verdienst erhalten sie bei der Entlassung.
Eine sehr praktische Hausordnung regelt die Zeiteinteilung.
Nach dem Vorbilde des Vestre-Hospitals ist vor einigen Jahren im
städtischen Krankenhause zu Kiel aut Anregung des dirigierenden Arztes
Dr. Hoppe-Seylerein zweistöckiger Pavillon für venerisch erkrankte Frauen
erbaut worden, welcher wegen seiner zweckmäßigen Einrichtung als muster¬
gültig für ähnliche Institute dienen kann.
Im Gebäude ist eine scharfe Trennung beider Kategorien von Insassen,
der jüngeren und der unter Kontrolle stehenden, bezw. älteren und verdor-
beneren, durchgeführt, so daß dieselben fast gar nicht miteinander in Berüh¬
rung kommen; die letzteren sind im Erdgeschoß, die anderen im Obergeschoß
untergebracht. Um die Kranken mit Näharbeit usw. über Tag beschäftigen
zu können und eine fortwährende Beaufsichtigung derselben zu ermöglichen,
ist ein langer Korridor, welcher als Tagesraum dient, angelegt. Auf ihn
münden der Krankensaal, dessen Tür am Tage weit offen steht, so daß er
bequem von der im Tagesraum befindlichen Wärterin überblickt werden kann,
und in dem sich die bettlägerigen Kranken befinden, ferner ein weiterer, auch
für 10 Betten berechneter Schlafraum, der Tags verschlossen gehalten wird.
Es besteht eine genaue Tageseinteilung. Vormittags findet die ärztliche
Untersuchung und Behandlung statt, abends wird gebadet, gedoucht, werden
Einreibungen vorgenommen usw., dazwischen wird gearbeitet mit einer größeren
Mittagspause, in der sich die Kranken bei gutem Wetter in den betreffen¬
den Höfen frei ergehen dürfen.
Die Kranken werden je nach ihren Fähigkeiten beschäftigt. Die meisten
sind zum Nähen, Stricken und Schneidern zu verwenden, andere müssen die
Wasch- und Scheuerarbeiten leisten. Sie tragen sämtlich Anstaltskleidung,
ihre eigenen Sachen werden in besonderen Räumen des Dachgeschosses in
Gestellen, wo jede Kranke ihre Abteilung hat, aufbewahrt und ihnen erst bei
der Entlassung ausgehändigt. Die sämtlichen Kleider, die sie tragen, haben
die Kranken selbst in der Zeit seit der Belegung des Pavillons angefertigt,
sie haben außerdem alles, was an solchen Arbeiten, an Ausbesserung und
Neuanfertigung für das Armen- und Krankenhaus nötig war, beschafft und
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Prostituie rtenbriefe.
339
maßen die Jungen, die erstmalig Infizierten, die gefährlichsten Ver¬
breiter des Ansteckungsgiftes. Gerade diese müßte man also vor einer
Rückkehr zu ihrem traurigen Gewerbe bewahren. Den Jungen ist am
leichtesten zu helfen und jede Gerettete hilft viele andere schützen vorm
Versinken. Erschwert wird jeder gute Einfluß auf die besseren Elemente,
bei diesem Zusammensein aller Kranken, ferner durch die Erzählungen
der älteren Prostituierten, die die abschreckendsten Dinge von den Besse¬
rungsasylen zu berichten wissen, trotzdem sie diese zum großen Teil
gar nicht selber kennen gelernt haben. Und doch sind diese Asyle als
Ubergangsstation in ein geordnetes Leben nicht zu entbehren, wie ich
weiter unten zeigen werde.
Ein zweiter ebensolch großer Fehler wie diese „Nichttrennung“
liegt aber in der absoluten Arbeitslosigkeit, in dem Fehlen jeder Be¬
schäftigung dieser Kranken, deren Phantasie durch die furchtbare Lange¬
weile, zu der sie bei der oft monatelangen Haft verdammt sind, bei dem
Fehlen jeglichen Arbeitszwanges — freiesten Spielraum hat und sich
leider, durch die Erzählungen und Ratschläge der berufsmäßigen Prosti¬
tuierten, in schmutzigster Weise entwickelt. Von 30 gleichzeitig im
Krankenbause weilenden Prostituierten rührten z. B. nur 3 freiwillig
einen Strumpf an. Und doch wird in Irrenhäusern die Arbeit schon
jetzt geradezu ab ein Heilmittel betrachtet und angewendet. Von einem
vielbeschäftigten Frauenarzt habe ich gehört, daß für spätere Formen
von Lues-Erkrankungen in den meisten Fällen Arbeiten, wie Waschen und
Scheuern, sogen. Knochenarbeit, schon heilsam seien. Ich weiß aber auch,
daß in den Krankenhäusern Näh- und Strickarbeit in großen Mengen
vorhanden ist, die Gonorrhoekranke z. B. ohne Schaden, ja zum Nutzen
ihrer Gesundheit gut verrichten könnten, wenn nur eine Art Zwang dazu
herrschte. Die Arbeitsscheu, die durch das Krankenhausleben bei diesen
Mädchen geradezu künstlich großgezogen wird, ist aber das entsetzlichste
Unglück für ihr späteres Leben und das sicherste Mittel, um sie aufs
neue und unrettbar der Prostitution und neuer Erkrankung in die Arme
zu treiben.
Was wir also berechtigt sind, bei der jetzt noch herrschenden Re¬
glementierung von den Krankenhäusern zu fordern, das wären nicht
nur Arzneien für die physische Heilung der Kranken, sondern vor allem
teilweise für Geschäfte einiges gearbeitet Bei ihrer Entlassung erhalten sie
einen Teil des Arbeitslohnes ausgezahlt, je nach der Güte der geleisteten
Arbeit, unter Zugrundelegung der von der Oberschwester darüber geführten
Listen, in die sie täglich die verrichtete Arbeit einträgt und taxiert
Die Einrichtung des Gebäudes hat sich schon sehr gut bewährt Die
Beaufsichtigung und Beschäftigung der Kranken läßt sich leicht durchführen.
Es herrscht Ruhe und Ordnung, während dies in den früheren Räumen kaum
zu erreichen war Zugleich ist aus der Arbeit der Kranken für die Anstalt
wesentlicher Nutzen erwachsen. (Blaschko, Sonderkrankenanstalten und
Fürsorge für Syphitische und Lepröse. Handbuch für Kranken Versorgung
und Krankenpflege, Bd. I, Abt 2.)
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340 Eggers-Smidt.
Einrichtungen, die auch eine psychische Heilung nicht von vornherein
zur Unmöglichkeit machten.
Erstens wäre also eine scharfe Trennung herbeizuführen zwischen
den jüngeren und den älteren, den nicht gewerbsmäßigen und gewerbs¬
mäßigen, den noch zu verbessernden, und den unverbesserlichen Prosti¬
tuierten. Wenn irgend möglich sollte von der Polizei bei der Einlieferung
eine kurze Notiz über das Vorleben ganz besonders derjenigen, die zum
ersten Male ins Krankenhaus gebracht werden, mitgesandt werden. Die
Verlegung in diese — nennen wir sie einmal Jugendstation — müßte
natürlich vom Arzte, resp. auf Vorschlag des Wartepersonals geschehen.
Für letzteres ist bei dem beständigen Zusammenleben mit diesen Personen
ein Betrug, eine vorgespiegelte Besserung viel leichter zu entdecken.
Die Behandlung müßte natürlich auch eine derartige sein, daß Mädchen
bei Recidiven freiwillig dahin zurückkehrten.
Zweitens wäre es sehr wünschenswert, auf allen Stationen dieser
Kranken einen angemessenen Arbeitszwang und Unterricht von Lehre¬
rinnen, in der Art, wie von den GefÜngnislehrerinnen in Hamburg, ein¬
zuführen.
Drittens müßten Hand in Hand mit den Pflegerinnen nicht nur
der Anstaltsgeistliche, sondern vor allem auch Frauen arbeiten, die Ver¬
stand, Herz und Geschick besitzen, um menschlich auf diese armen, fast
immer so schlecht geleiteten Geschöpfe einzuwirken. Ihnen würde die Auf¬
gabe zufallen, die sittliche Rettung der Gefallenen anzubahnen, durch
Unterbringung der jugendlichsten in Fürsorgeerziehungsanstalten, durch
Überredung der anderen zu einem freiwilligen Aufenthalt in einem Asyl,
wo sie wieder Freude an der Arbeit finden; kaum eine von denen, die
ich selbst dorthin brachte, ist von dort fortgelaufen. Besonders aber
müßten die Frauen versuchen, auch nach der Entlassung aus diesen
Besserungsanstalten in Verbindung mit den Mädchen zu bleiben, ihnen
eine mütterliche Freundin zu werden, bei der sie jederzeit Rat und
Stütze finden können. Wie wertvoll das Bewußtsein, eine mütterliche
Freundin zu haben, ein Wesen zu kennen, an das sie sich in ihrer Not
wenden können, für diese armen Dinger ist, möchte ich an einigen
wenigen Briefen, die ich aus einer großen Anzahl ähnlicher auswählte,
im Anhang zeigen, Briefen von den Mädchen selbst, die durch den
Aufenthalt in solchen Asylen gebessert worden sind. Die Angriffe, die
neuerdings so oft gegen diese Asyle erhoben werden, sind meinen Er¬
fahrungen nach nicht gerecht. Mit übertriebener Frömmigkeit erreicht
man allerdings meistens das Gegenteil. Aber für diese armen, schwanken¬
den Geschöpfe ist ein fester innerer Halt von größtem Segen.
Der Nutzen dieser Asyle ist aber gar nicht hoch genug anzuschlagen,
weil die Mädchen hier wieder arbeiten lernen. (Das uralte ora laboraque
trägt noch immer eine gewaltige Kraft in sich.) Wer aber der Arbeit
und Ordnung wiedergewonnen wird, ist auch einem neuen, einem besseren
Leben wiedergewonnen. Sie werden, wenn sie sich überhaupt halten,
meist sehr gute Dienstmädchen, denn sie sind durch Erfahrung klug ge¬
worden. Zwei meiner Sorgenkinder werden von ihrer Herrschaft, die
etwas von ihrer Vergangenheit weiß, „Unsere Perlen“ genannt.
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Prostituiertenbriefe.
341
Durchaus notwendig ist es ferner, daß die Mädchen mindestens zwei
Jahre in diesen Asylen bleiben müssen, um wirklich sittlich zu er¬
starken.
Da eine dauernde Rettung dieser Mädchen aber nur durch gänzliche
Loslösung von ihrer bisherigen Umgebung, durch Arbeit, d. h. durch
Erziehung zur Freude an Arbeit und Ordnung, zu erreichen sind, da jede
Gerettete einen Ansteckungsherd weniger für die Gesellschaft bedeutet
— und zwar bildet, wie wir oben gesehen haben, jede Gefallene einen
Ansteckungsherd in physischer Beziehung für das männliche Geschlecht
und in moralischer Hinsicht für das weibliche, durch den vergiftenden
Pesthauch des bösen Beispiels, das sie gibt — so sind wir schließlich
berechtigt, vom Staate zu fordern, daß er seine volle Macht einsetze
und durch Gründung von Fürsorgeanstalten und Erziehungsheimen, durch
Fortbildungsschulen und Besserungsanstalten, vor allem aber auch durch
Aufklärung und erzieherische Einflüsse bei der männlichen Jugend, durch
die Erleichterung früher Heiraten usw., durch die allein die unheilvolle
„Nachfrage“ gemindert werden kann, an seinem Teil dazu beitrage, daß
Gefängnisse und Krankenhäuser sich leeren möchten von diesen Ärmsten
der Armen.
Und nun will ich die Mädchen selbst zu Worte kommen lassen:
K. A. Dies Mädchen, das ich im Krankenhaus traf, macht sich
ganz vorzüglich. Sie ist in der Anstalt, in die ich sie brachte, besoldete
Helferin geworden. Sie ist sehr guter Leute Kind.
Auch ein anderes armes Mädchen aus Bremen, dem ich eine mütter¬
liche Freundin geworden bin, macht sich dort so gut, daß sie ebenfalls
dort angestellt ist. Sie schreibt nicht selbst, da es ihr schwer wird.
X., den 17. Mai 1903.
Sehr geehrte Frau Eggers!
Ihre liebe Karte habe ich erhalten und mich sehr darüber gefreut. Und
habe heute die Erlaubnis erhalten Ihnen zu schreiben, ich freue mich sehr
das Sie mich hier her gebracht haben und es gefällt mir sehr gut Es ist
hier alles so schön im Garten alles grünt und blüht. Auch haben wir schon
verschiedene Male in der Laube gegessen. Ich bin bei Schwester Anna in
der Waschküche und habe auch schon mit gepletten wir haben immer fiel
fremde Wäsche. Ostern war es hier auch sehr schön und 8 Tage später
wurden die Kinder konfirmiert hier im Hause und wir andern waren mit zum
heil. Sacrament daß war aber sehr feierlich. Auch kann ich ihnen mittheilen
das die Oberschwester von hier versetzt ist und eine andere Oberschwester
wieder bei uns. In der Woche haben 3 mal aufsage-Stunde einmal Katechis¬
mus 2. Gesang 8. Epistel und wer das nicht kann die bekömmt kein Kaffee
oder kein Sonntagskleid deshalb will ich immer tüchtig lernen und beten das
ich den Schwestern und meine Eltern sehr fiel Freude mache. Auch das Sie
sich auch mal wieder freuen wenn ich ein recht gutes Mädchen bin, denn ich
möchte doch so gern ein gutes und frommes Mädchen werden und werde
auch den lieben Gott fleißig bitten das Er mir dazu helfe. Hiermit will ich
schliesen und hoffe das Ihnen dieser Brief bei guter Gesundheit antrifft und
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342
Eggers-Smidt
wünsche Ihnen ein gesegnetes Pfingsfest Bitte grüßen Sie doch Schwester
Klara u. Schwester Karoline von mir
Mit vielen Grüßen
Ihre dankbare
K. A.
G. J. Sehr charakteristisch ist dieser Brief für die Art dieses un¬
bündigen Mädchens, die, 16 jährig durch eine schlechte Freundin verführt,
wie sie mir selbst sagte, ihrer guten aber strengen Mutter entlaufen ist.
Jahrelang war sie für mich verschollen; kürzlich fragte ich bei ihrer
Mutter an und bekam folgende, höchst erfreuliche Antwort.
Berlin d. 30. 9. 1900.
Liebe Frau Eggers!
Entlieh komme ich dazu einpaar Zeilen zu schreiben wie es mir geht,
u. das ich von dort so schnell vortgegangen bin, ich kann wirklich nicht’s
für, das ich gleich so aufgeregt bin aber das macht weil ich mir zu viel ge-
danken gemacht habe eine jede Minute die ich für mich so ganz allein wahr
machte ich mir blos gedanken u. auch vorwürfe über mich selbst gleich von
der ersten Minute wie ich blos einen Blick in meinen Korb warf da wahr ich
schon werdig vohr wubt und ärger, ich bin zwar ein liederliches Wesen ge¬
wesen aber mein Zeuch habe ich immer so schön in ortnung gehalten darauf
war ich sehr eigen u. wie ich mein Korb auf machte ich hab mich wirklich
geschemt nicht’s omtlich hereingelegt blos alles durch einander als wenn es
Lappen währen. Liebe Frau Eggers wegen was ich dort entlassen bin das
hat ihn wohl schon Schwester M. geschrieben das ich mir an die ober
Schwester vergriefen habe aber wie ich dazu gekomen bin das weiß ich bis
jetzt nicht, denn ich wahr den Morgen so aufgeregt ich flog man so vohr
wuht denn ich hatte ein Bett u. mit das fiel ich immer durch u. dadurch
wurd ich gleich so voll wuht u. ärger u. als ich denn des Morgens herunter
kam zur Andacht und Kaffee getrunken habe nahm ich mein Stuhl u. ging
zur Arbeit’s Stube weil ich so viel noch zu thun gehabt habe weil ich nun
nicht gefragt habe ließ mir die Schwester zuriek hollen u. wie ich kam sollt
ich so vort wieder gehn da hollte ich mir noch den Arbeit’s Bötel u. wie ich
so ging gab mir die Schwester paar hinter die Ohren und ich hate den Beutel
in die Hand u. schlug damit zuriek, u. da kamen die Mädchen alle auf mir
zu ich habe mir gewährd wie ich konnte aber ein zerkratztes Gesicht hate
ich doch und darauf bin ich gegangen.
Mit besten Gruß
Ihre G. J.
N. 12. April 1905.
Sehr geehrte Frau Eggert-Smidt.
Habe Ihren werten Brief erhalten und habe mich sehr darüber gefreut,
daß Sie sich jetzt nach meiner Tochter G. erkundigen. Sie ist jetzt ein tüch¬
tiges Mädchen geworden befindet sich in X. und hat sehr gute Stellen. Sie
hat uns vor 14 Tage besucht, auch wird sie sich hoffentlich im Herbst ver-
heirathen. Ich habe ihr Ihre Adresse mitgeschickt, sie wird doch hoffentlich
an Sie schreiben
Achtungsvoll Frau J.
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Prostituiertenbriefe.
343
18. 4. 05.
Sehr geehrte Frau Eggers-Smidt.
Habe heute die Karte erhalten u. mich sehr gefreut, daß noch gnädige
Frau an mich denkt, denn ich habe es ja blos gnädige Frau su verdanken,
daß ich wieder auf geraden Wegen gekommen bin, wäre ich in Bremen ge¬
blieben, wer weiß was aus mir heute gewesen wäre u. meine Eltern wären
vor Gram vergangen u. jetzt haben sie doch Freude an mich. Ich möchte
gern Gnedige Frau sprechen, aber meine Zeit ist mir heute zu kurz, ich kann
aber Freitag kommen.
Verbleibe bis dahin ihre Dankbare
G. J.
K. G. war ein Mädchen, dem trotz guten Willens nicht zu helfen war.
Bremen den 16. Nov. 1901.
Geerter Herr Pastor!
mit unglücklichen Herzen ergreife ich die Feder, um eine Bitte an Sie
zu richten. Geerter Herr Pastor wie Sie sich wohl zu erinnern wissen war
ich doch im August in ihr Frauenheim und ich bereue es das ich nicht dort
geblieben bin, Geerter Herr Pastor ich habe nun eine bitte an Sie, würden
Sie nicht so gut sein und es noch einmal mit mir versuchen, ich habe dies
Leben sat, den mann steht mit einen Fuße im Krankenhaus und mit den
andern im Gefängnis das ist unser Loos. Geerter Herr Pastor wen ich doch
nur damals bei Sie geblieben wäre dann säße ich jetzt nicht hier. Wie ich im
August dort fortgegangen bin da bin ich nach Hamburg hingefaren zu meiner
Fräundin, ich hate die feste absicht zu Arbeiten, aber leider bin ich jetzt
noch tiefer gesunken, wen ich darüber nachdenke wie gut ich es bei Ihnen
gehabt habe, aber ich habe mein Glück mit Füßen getreten. Geerter Herr
Pastor ich möchte Sie nun bitten ob Sie mich nun wieder nehmen wenn ich
hier wieder raus komme? zu meine Eltern darf ich nicht mehr kommen
warum das das will ich Sie später erzählen, seien Sie doch so gut und
schreiben Sie mir ob ich wieder kommen kann, wenn Sie mich nicht wieder
nehmen, dan kann ans mir werden was will dan kan es kommen wie es will,
den Sie sind doch der Jenige der uns helfen will und kann.
Nun Geerter Herr Pastor schlagen Sie meine bitte nicht ab das ist nun
noch die einzigste Hoffnung die ich habe bitte Herr Pastor wollen Sie so
gut sein und mir wieder schreiben sagen Sie niemand das ich im Kranken¬
hause bin wenn ich kommen darf, dan werde ich alles erzählen.
Bitte Herr Pastor schreiben Sie doch bald wieder
Es grüßt
Hochachtungsvoll
K. G.
Die Briefe der E. L. sind sehr bemerkenswert. Ich habe sie im
Oktober 1898 zuerst im Gefängnis gesehen.
Die E. L., ein sehr geschlechtskrankes und sehr wildes Mädchen,
von dem der Sittenpolizist mir sagte, sie sei halb verrückt, sie führe dem
Schutzmann direkt in den Bart wenn er sie arretiere, habe ich zweimal
selbst in ein Asyl gebracht. Sie hat auf dem Krankenhause dem Arzt
eine Schüssel an den Kopf geworfen, so daß er eine schwere Wunde
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Egger8-Smidt.
davontrug; ihr Vater war ein Trinker (jetzt Guttempler). Geisteskrank¬
heit ist in der Familie nachgewiesen, und dennoch ist es gelungen, dies
Mädchen zu einer absolut fleißigen Arbeiterin zu machen und gänzlich
der Prostitution zu entreißen, nun schon seit mehreren Jahren. Ihre
Eltern sagten mir, man könne jetzt vor Freuden weinen wie man früher
vor Kummer geweint habe.
Ich frage oft bei der Sittenpolizei in Bremen der Mädchen wegen
nach und bekomme über die Schreiberin dieser Briefe immer die Antwort:
„Wir sehen und hören nichts mehr von ihr.“ Jetzt heiratet sie.
Oslebshausen bei Bremen, den 9. d. 02.
Liebste Mutter!
Betreffs Eures lieben Briefes den ich erhalten habe, theile ich Euch mit,
daß ich mit Freuden in die Anstalt gehe: Darum lasse ich Frau Eggers-
Schmidt herzlich bitten, mir doch zum Frauenheim zu bringen, wo B.
A.gewesen ist. Liebe Mutter gehe bitte nach Frau Eggers, sobald Du
meinen Brief empfangen hast und mache daß in Ordnung und sage zu Frau
Eggers, ich möchte gerne ins Fraueuheim. Ob sie mir nicht hinbringen
möchte, kannst diesen Brief mitnehmen. Wenn dann alles soweit in Ordnung
ist, dann benachrichtige mir bitte und komme zum Bahnhof, wenn ich hier
frei komme. Ich habe noch einige Sachen die kann ich nicht mit nach der
Anstalt nehmen. Schreibe hier auch gleich einige Zeilen für Frau Eggers bei.
Mache bitte alles in Ordnung liebe Mutter und lebt wohl.
Es grüßt herzlich Eure E.
Anbei: Grüße Frieda, Tine und Konni.
Wehrte Frau Eggers-Schmidt!
Entschuldigen Sie bitte diese wenigen Zeilen, habe nähmlich eine Bitte
an Sie. Ich möchte gerne zum Frauenheim. Wollten Sie nicht so gut sein
und mir dahinbringen. Bitte thun Sie es! Ich habe es ja nicht verdient, daß
ich dahin komme. Aber ich bin jetz überzeugt, daß es nicht so weiter geht
und mir im Frauenheim geholfen werden kann. Schlagen Sie mir darum die
eine Bitte nicht ab und bringen Sie mir dahin.
Im Voraus besten Dank und Gruß
E... L...
Himmelsthür d. 6. April 1902.
Liebe Frau Eggers-Schmidt!
Endlich habe ich die Gelegenheit an Sie zu schreiben, es ist mir ordent¬
lich wohl, daß ich lhuen noch mal von Herzen danken kann. Sie glauben
gamicht wie glücklich ich hier bin, denn es gefällt mir hier sehr gut. Die
ersten sechs Wochen war ich im Nähsaal und jetz bin ich in der Wasch¬
küche, wo es mir sehr gut gefällt. Wie ich hier acht Tage war, hatten wir
ein Fest, da wurden die Arbeitsräume eingeweiht Es war wirklich schön,
so schön hätte ich es mir nicht gedacht
Liebe Frau Eggers ich habe mich hier sehr schnell gewöhnt Ich habe
ja manchmal Heimweh, aber das vergeht schnell wieder, denn ich bin hier
gerne und wünsche mich hier garnicht fort. Ostern war es hier auch ganz '
schön, bei meinen Eltern habe ich ja schon schöne Ostern verlebt, aber es
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Prostituiertenbriefe.
345
war hier doch viel besser. Denn wenn es Ostern ist, gehört man in die
Kirche, draußen bin ich aber nicht zur Kirche gegangen, die letzten fünf Jahre
nicht. Es ist ja sehr traurig, aber bei solch einen Lebenswandel konnte daß
ja nicht ausbleiben. Da denkt man nicht ans Kirchen gehen. Darum habe
ich mich stets gefreut wenn Schwester Wilhelmine Andacht hielt. Am Har¬
monium saß und spielte und vier Mädchen sangen. Hier ist es nun doppelt
schön, wir haben hier Morgens und Abends Andacht und auch Sonntags ist
Kirche. Hätten Sie Sich meiner nicht so freundlich angenommen, dann säße
ich im Arbeitshaus in Bremen. Und da wäre ich viel verstockter geworden,
darum bin ich Ihnen viel Dank schuldig. Danken kann ich Sie aber nur,
indem ich mich recht gut halte und ein ganz anderes Mädchen werde, damit
Sie Sich freuen können, ich weiß, dann sint Sie zufrieden. Darum will ich
arbeiten so viel ich kann, damit ich nicht wieder zu höhren brauche, daß ich
undankbar gegen Sie war. Leben Sie wohl, Liebe Frau Eggers in aufrichtiger
Dankbarkeit sende ich Ihnen die herzlichsten Grüße.
E... L...
Grüßen Sie bitte Herrn und Frau Commissar E. und schreiben Sie mir
bitte mal Auch einen schönen Gruß an Schwester Wilhelmine.
Liebe Frau Eggers-Schmidt besorgen Sie bitte den Brief an meine
Mutter.
Bremen, 7. September 1902.
Wehrte Frau Eggers!
Sage Ihnen nochmals meinen herzlichsten Dank. Am Donnerstagmorgen,
bin ich schon an zu arbeiten gefangen. Ich brauche blos fünf Minuten zu
gehen nach der Arbeit 1 )
Besten Gruß v T
t-j • • • n . •.
Bremen, d. 10. Dez. 04.
Liebe Frau Eggers.
Wenn es Ihnen recht ist, komme ich Sonntag mal bei Ihnen vor denn
ich muß Sonntag Morgen nach der Prangenstr. und Krankengeld hinbringen.
Vor der Kirchzeit um 9 1 /, Uhr komme ich dann. Liebe Frau Eggers, vier¬
zehn Tage nach Ostern habe ich dann Hochzeit. Mit der Zeit geht es mir
dann noch besser. Denn, wenn ich verheiratet bin, will ich noch tüchtig ar¬
beiten. Und bei Mutter werde ich wohnen bleiben. Dann kann mein Mann
mit ruhigem Gewissen fahren, er braucht dann keine Angst zu haben. Ich
werde ihm eine gute treue Frau sein. In der Hoffnung, daß alles gut wird,
grüßt herzlich. ^ ^
Die B. A. ist schon vier Jahre im Frauenbeim bei Pastor Iser-
meyer, sie ist fleißig und ordentlich dort, aber die Freiheit erträgt
sie nicht.
Himmelsthür d. 6./7. 02.
Meine liebe Frau Eggers.
Zunächst meinen herzlichsten Dank für Ihren lieben Brief welcher mich
recht erfreut hat. Gewiß haben Sie schon lange auf einen Brief von mir ge-
*) A. d. V. In derselben Fabrik arbeitet sie bis heute sehr fleißig und
wird sehr gelobt.
Zettschr. f. Bekämpfung d. Oeachlechtskrankh. III. 25
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346
Eggers-Smidt.
wartet, aber immer hatte ich keine Geistesgegenwart, bis non endlich ich
mich doch entschlossen habe einmal an Ihnen za schreiben. Liebe Fraa
Eggers schon manches mal habe ich es berent das ich wieder ins Frauenheim
mußte, nicht darum das ich nicht gerne hier bin, denn im großen und all¬
gemeinen ist es gut das wir solche Anstalten haben wie würde es wohl traurig
aussehen wenn alle solche Mädchen in der Welt umherirrten bald hier hin,
bald dort hin. Liebe Frau Eggers gerne will ich meine Zeit hier aushalten,
wenn auch manchmal Gedanken kommen, wo ich mir sage du mußt raus aus
diesem Hause, aber dann wieder denke ich an meinen guten Vater, wieviel
Kummer würde ich Ihm wohl dadurch bereiten wenn ich gegen meines Vaters
Willen doch wieder hinaus in die Welt ginge, nein meine Gedanken sind, nie
wieder nach Bremen zurück denn zweimal ist es mein Unglück gewesen, aber
zum dritten Mal soll es nicht wieder sein. Liebe Frau Eggers ich warte ge¬
duldig bis Herr Pastor und Schwester Valeska mich in einen Dienst bringen
da will ich mich mit allen Kräften zusammen nehmen, denn ich fühle mich
unter fremden Menschen viel zufriedener als zu Hause, zu Hause habe ich
stets gedacht, ach das hast du nicht nötig, aber bei fremden Leuten muß
man man wohl wenn man getreu seine Pflicht erfüllen will, mir wird es auch
hier manchmal schwer mich zu überwinden, aber ich denke ich sage mir
dann „Trage deine Leiden mit Geduld an deinem Unglück bist nur du alleine
Schuld“. Liebe Frau Eggers unser lieber Herr Pastor hat heute von uns
Abschied genommen um auf vier Wochen uns zu verlassen, Herr Pastor ist
sehr elend, und fühlt sich sehr schwach darum ist es nötig das Herr Pastor
auf einigen Wochen sich in der Stille zurückzieht um dann wieder wie wir
hoffen dürfen mit Gottes Hülfe gesund und munter wieder zurückkehren kann
ins liebe Frauenheim.
Hiermit will ich schließen das Ihnen mein Brief gesund und munter an¬
trifft wie er mich verläßt verbleibe ich zu
Hochachtungsvoll Ihre stets dankbare
B. A.
Meine liebe Frau Eggers.
Sie werden gewiß denken endlich einmal wieder einen Brief. Bald ist
wieder Ostern dann bin ich 2 Jahre hier wie schnell ist doch die Zeit ver¬
flossen seitdem mein Vater mich wieder hierher brachte, da war die erste
die ich sa, L. B. wie geht es ihr eigentlich? Neulich schrieb mir mein Vater
das sie ein tüchtiges Mädchen geworden ist 1 ) welche Freude für den Eltern.
Liebe Frau Eggers wenn meine Eltern erst sagen können unsere Bertha ist
eine ganz andere geworden, dann sehe ich jetzt schon das glückliche Gesicht
von meinem Vater, o, welch eine Freude für mich und meine Eltern, aber
da gehört noch viel dazu bevor das flüchtige und wilde Wesen abgelegt ist
Aber noch ist immer Zeit umzukehren noch schimmert ein schwacher Hoflnungs-
stern und so will ich getrost hoffen das es noch einmal anders wird mit mir.
Wie geht es denn eigentlich F. M.? Ist sie noch immer in Stellung ich
möchte so gern einmal etwas von ihr hören wenn ich bitten darf so schreiben
sie mich einmal etwas von ihr, ja F. *) war auch einmal ein lustiges Mädchen
*) A. d. V. Ist es auch geblieben.
A. d. V. Ist ein vorzügliches Dienstmädchen geworden.
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Prostituiertenbriefe.
347
aber nun ist Sie doch anders geworden. Hoffentlich werde ich es auch. Bis
October gedenke ich noch hier zu bleiben und dann hoffe ich daß ich eine
Stelle bekomme dann liebe Frau Eggers will ich doch beweisen daß ich noch
kein ganz verlornes Menschenkind bin sondern alles was ich bisher verschuldet
habe, werde ich dann wieder gut machen, hätte ich nur früher auf Ihren
guten Ratschlägen gehört, so wäre ich hier nicht wieder hergekommen aber
wer nicht hören will muß fühlen, immer noch muß ich an die guten Worte
denken die Sie mir haben am 16. März und 23. März gesagt, o hätte ich die
nicht so in den Wind geschlagen sondern hätte ich sie ein bischen mehr be¬
herzigt dann dann wär alles nicht so gekommen, aber zuspät kommt oft die
Reue, wenn ich oft bedenke wie alle jungen Mädchen ihre Eltern Freude
machen und ich muß hier sein und kann es nicht, dann möchte ich ver¬
zweifeln und möchte am liebsten über alle Berge sein, aber liebe Frau Eggers
ich sage mir immer wieder, kommt Zeit — kommt Rat so will ich die Hoffnung
noch nicht ganz aufgeben denn Mut verloren heißt alles verloren.
Nun mit vieltausend Grüße verbleibe ich in alter dankbarer Liebe
Ihre B. A.
Die K. H. war ein ganz unbändiges Mädchen; 16 Jahre alt, als ich
sie im Gefängnis kennen lernte, sehr eitel, frech und hochmütig. Im
Asyl Frauenheim hat der Pastor sich außerordentlich bemüht, dem Mäd¬
chen zu helfen, scheinbar umsonst; aber dennoch hat der Aufenthalt
dort gute Früchte getragen. Sie ist ordentlich geworden und wird
nächstens heiraten.
Bremen, den 18. Februar 1900. Krankenhaus.
Geehrte Frau Eggert!
Den Brief Ihres Herrn Sohnes habe ich erhalten, und danke Ihnen für
Ihre Güte, Mit der Anstalt das habe ich mir überlegt und habe die Absicht
doch hinzugehen. Vorläufig werde ich wohl noch nicht entlassen werden,
sollte es der Fall sein und Sie wieder von der Reise zurückkommen, da ich
Wort halten werde. Ich halte mich auch jetzt mehr an Schwester W., die
hält mich stets und Ständig zum guten an, darum will ich mich auch ändern
und wieder sein wie ein Mensch zu kommt.
Es grüßt Ergehens
K. H.
Frauenheim, den 24. November.
Sehr geehrte Frau Eggert!
Entschuldigen Sie das ich nicht eher geschrieben habe, aber ich wolte
es auch nicht eher thun bis ich mich erst ein bischen eingelebt hätte, aber
ich bin schon ein Jahr hier, und kann mich hier nicht gewöhnen. Herr
Pastor ist sehr gut gegen mich, sonst wäre ich schon längst fortgelaufen,
verzeihen Sie das ich Ihnen das alles so schreibe, aber ich muß mich mal
aussprechen, ich bin das Anstalt leben so müde, bin hier auch so unglücklich
von meinen Geschwister alle verachtet hier keinen Menschen es ist schrecklich
wenn ich draußen wäre würde ich mich schon darüber weg setzen, aber hier
wo ich nichts anderes zu denken habe, kann ich es nicht, ich bin jetzt in der
Waschküche. Sie werden sich wundern wenn Sie mich Wiedersehen so stark
25*
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348
Eggers-Smidt.
und gesund bin ich geworden. Geehrte Frau Eggers wie gebt es Ihnen denn
hoffendlich sehr gut? habe viel an Ihnen denken müssen, gehen Sie noch
immer zum Krankenhaus zur Schwester W. grüßen Sie bitte Schwester von
mir, fragen Sie bitte mal ob Schwester einen Brief nicht bekommen hat?
oder ob Schwester böse ist das ich damalz fortgelaufen bin? aber ich hate
doch immer gesagt, wenn Frau Eggers oder Schwester mich nicht fortbringt
laufe ich doch fort und ich habe es gethan. Sehr Geehrte Frau Eggers
hoffentlich kommen Sie diesen Sommer zu uns.
Hiermit will ich schließen.
Es grüßt Ihre dankbare
K. H.
Herr Pastor läßt herzlich grüssen schreiben Sie bitte mal wieder.
F. F. Trotz angestrengter Bemühungen ist es nicht gelungen ihr zu
helfen. Sie entschloß sich nicht, in ein Asyl zu geben. Sie heiratete;
ich bin Vormünderin ihres unehelichen Kindes und so mit ihr stets in Ver¬
bindung. Besserung zweifelhaft.
Bremen, den 8./10. 1902.
Hochgeehrter Vorstand.
Soeben habe ich erfahren, daß hier in Bremen einen Verein gegründet
ist welche den jungen Mädchen welche gesunken sind wieder auf guten Wege
zu bringen und deshalb habe ich mir entschlossen wieder auf guten Wegen
zu kommen und deshalb komme ich mit der Bitte zu Ihn Werther Vorstand
mir auf diesen Wegen behülflich zu sein denn ich bin erst 18 Jahre alt und
habe keine Eltern mehr und gehe auf anderen Fuße welches mir nun zurück¬
hält daß ich nicht allein im stände bin mir zu helfen und deshalb hoffe ich
daß meine Bitte gehör finden wird. Es schließt mit der Bitte
F. F.
Die H. J. stammt aus sehr wohlhabenden bürgerlichen Verhält¬
nissen. Der Trunk hat ihren Vater, ihren Bruder und sie ins tiefste
Elend gebracht.
Es hat kein Laster gegeben, dem sie nicht fröhnte, trotzdem ist sie
ein se hr brauchbares Menschenkind wieder geworden.
Bonn, d. 14. Febr. 1904.
Liebe Frau Eggers-Smidt!
Eine geraume Zeit ist schon verflossen, daß ich Ihnen liebe Frau Eggers-
Smidt keine Zeilen gesendet, u. ich bin Ihnen doch so recht von Herzen
dankbar, daß Sie mich so gut, eigentlich viel zu gut untergebracht haben.
Wie freue ich mich doch so sehr, daß ich wieder zwischen Gottesfürcbtigen
und lieben Leuten bin. Oh! liebe Frau Eggers-Smidt wie ist es hier doch
schön; zwischen Arbeit und Humor vergeht die Zeit, daß man nicht weiß wo
sie bleibt Ich bin nun schon bald drei Monate hier. Jetzt bin ich ganz in
der Küche, von Morgens 5 Uhr bis Abends 8 Uhr u. habe sehr viel Vergnügen
an der Arbeit Wie geht es Ihnen denn liebe Frau Eggers-Smidt? hoffentlich
recht gut? dasselbe kann ich auch von mir berichten. Waren Sie kürzlich
im Krankenhause? wie geht es den lieben Schwestern hoffentlich auch recht
gut! Wenn Sie dort wieder hingehen, bitte recht viele Grüße an Schwester
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Prostituiertenbriefe.
349
Anna, Schwester Clara, Herrn Pastor, u. einen ganz besonderen herzlichen
Gruß an meiner lieben Schwester Caroline, sagen Sie derselben ich hfitte solch
unendlich Heimweh nach ihr. Ich habe doch eine schöne Zeit dort gehabt,
und verdiente es garnicht. Schwester Caroline war so gut u. edel gegen mich,
viel zu gut Sie glauben es garnicht, liebe Frau Eggers-Smidt wie sehr ich
an der lieben Schwester Caroline hänge, ich weiß selber nicht wie es kommt
waren Schwester Clara u. auch Schwester Anna immer freundlich u. gut gegen
mich; aber mein Carlinchen geht mir über Alles. —
Viel Neues liebe Frau Eggers-Smidt wüßte ich Ihnen nicht zu erzählen,
nur daß hier augenblicklich die rechte Carnevals Stimmung herrscht, wie es
ja auch nicht anders im Rheinlande zu erwarten ist; u. sind wir hier in der
Heimstätte auch davon angesteckt Seit Dienstag haben wir Besuch, Frau W.,
welche eine Dame gebracht hat; u. sollte ich viele Grüße von Frau W. be¬
stellen. Wann liebe Frau Eggers-Smidt kommen Sie dann wieder einmal nach
hier, hoffentlich diesen Sommer, ich würde mich unendlich freuen. Nun
seien Sie recht herzlich gegrüßt von Ihrer dankbaren H. J.
S. D. Die Mutter der Schreiberin dieser Zeilen kam, von einem
Sittenpolizisten geschickt, zu mir, und bat mich, ihre 16 jährige Tochter,
die anfing sich umherzutreiben, zu überreden, in ein Asyl zu gehen, was
mir auch gelang.
Bernburg, den 4. October 03.
Sehr geehrte Frau Eggers!
Sie warten wohl schon lange auf einen Brief ich hatte schon immer vor
zu schreiben aber meine Mutter wartete auch schon länger auf einen Brief
Herr S. war so gut zu mir auf der Reise. Es geselligte sich noch ein Herr
zu uns auf dem Bahnhof den kannte Herr S. sehr gut dann haben wir Kaffee
getrunken und wie wir nun glücklich in Bernburg ankamen Sie glauben nicht
wie mir zu Muthe war als ich die Mädchen alle sah womit ich nun so schön
arbeiten kann und unsere gute Oberschwester sie steht mir immer so nett
bei. Ich war mal ungezogen was mir sehr leid gethan hat unsere Ober¬
schwester hat mir aber vergeben es wird nicht wieder Vorkommen. Liebe
Frau Eggers, ich werde mich sehr gut führen damit Flau Eggers und meine
liebe Mutter sich freuen können Ihre lieben Worte werde ich nie vergessen.
Zur Kirche bin ich noch nicht gekommen, aber wir haben hier auch Gottes¬
dienst es ist sehr schön hier, je länger ich hier bin, je lieber mag ich hier
sein. Ich war erst in der Nähstube jetzt bin ich in der Waschküche ich
plätte Stärkewäsche was mir sehr viel Freude macht wenn ich später mal
rauskomme habe ich mich schön reingeübt. Liebe Frau Eggerts ich muß
jetzt schließen wir essen gleich zu Mittag.
Es grüßt Sie herzlich
S. D.
H. M. Über diesen Brief habe ich mich ganz besonders gefreut.
Das Mädchen habe ich, weil sie unmündig war, auf den Wunsch unseres
Waisenrates selbst aus einem Bordell in Hamburg geholt. Sie ging
freiwillig mit mir und ich brachte sie ins Asyl
Leider wurde sie wieder krank und mußte ins Krankenhaus. Dort,
unter den schlechten Einflüssen, wurde sie wieder ganz rückfällig, wurde
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850
Eggers-Smidt: Prostituiertenbriefe.
in Hannover von der Polizei aufgefangen und in die Korrektionsanstalt
gebracht. Ihr Vater war Trinker, jetzt Guttempler. Sie ist dann frei¬
willig noch ins Asyl zu Pastor Isermeyer zurückgegangen.
Correctionsanstalt H. 4. Sept 1904.
Geehrte Frau Eggers-Smidt!
Liebe Frau Eggers-Smidt sie werden sich wol freuen von mir zubekommen
einen Brief ich mir nie getraut an ihnen zu schreiben da ich mich doch nicht
Benehm — u. auch nicht ordentlich schreiben kann. Liebe Frau Eggers-
Smidt ich freue so sehr da meine Eltern mir wieder vergeben haben ich bin
kanz anders zu mute, ich habe einen lieben Brief bekommen. Liebe Frau
Eggers-Smidt wenn ich mit Gottes Hülfe meine Strafe beendet habe und sie
Gesund und Munter bleiben daß ich ihnen später doch noch Freude mache.
Liebe Frau Eggers-Smidt, wenn damals sie mich nicht aus dem ....
geholt hätten ich währe sicher zu Grunde gegangen. Ich habe noch drei
Monate.
ich bin doch so glücklich daß ich daß Sticken gelernt habe und bei Herrn
Pastor lerne ich noch daß Weisplätten dann kann ich mich draußen helfen.
Daß flicken und Nähen daß lerne ich nebenbei, denn bin ich doch nicht
zuspät gekommen. Liebe Frau Eggers-Smidt ich kehre nicht er zurück bis
ich ordentlich in Zeug bin und einen schönen Dienst habe dann besuche ich
ihnen und meine lieben Eltern. Ich werde meine Eltern nie wieder sorgen
bereiten was ich versäumt habe daß hole ich jetzt alle wieder nach. Hiermit
will ich schließen damit der Brief bei ihnen Gesund und Munter antrieft wie
er mir verläßt
verbleibe ich ihre treue
H. M.
«
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Von der Erziehungsarbeit an Prostituierten.
Das preußische Fürsorgeerziehungsgesetz vom 2. Juli 1900 hat in
erweitertem Maße den öffentlich-rechtlichen Körperschaften die Handhaben
für eine planmässige Erziehung jugendlicher Prostituierter gegeben. Im
Jahre 1902 wurden nach der amtlichen „Statistik über die Für¬
sorgeerziehung Minderjähiger“ 2063 Personen weiblichen Ge¬
schlechts der Fürsorgeerziehung überwiesen. Von diesen weiblichen
Personen zeigten ausgesprochene schlechte Neigungen bereits 1174 Per¬
sonen. Und zwar waren 667 oder 65,8°/ 0 der schulentlassenen
weiblichen Personen der Unzucht verfallen, unter ihnen befanden
sich 84 mit erworbener Syphilis, 76 oder 7,6°/ 0 waren wegen
Gewerbeunzucht oder Übertretung sittenpolizeilicher Vorschriften bestraft;
61 hatten bereits geboren oder waren hochschwanger. Von den schul¬
pflichtigen Mädchen waren 121 der Unzucht ergeben, darunter
2 mit erworbener Syphilis.
Bisher lag die sozialpädagogische Rettungsarbeit an den Prosti¬
tuierten fast ausschließlich in den Händen religiöser Wohltätigkeits¬
institute. ln Deutschland gründete die „Innere Mission“ massenhaft
Rettungshäuser, Magdalenenstifbe, Asyle und Vorasyle zur Rettung der
Prostituierten. „Nach der vom Zentralausschuß für Innere Mission
herausgegebenen „Statistik der Inneren Mission der deutschen evangelischen
Kirche“ haben 27127 Personen die Wohltat eines christlichen Hauses
erfahren“.
Seit einigen Jahren bemüht sich die Heilsarmee fieberhaft, unter
den verlorenen Töchtern des Volkes „Seelen zu retten“. Zur Propaganda
für ihr bewundernswertes soziales Rettungswerk verteilt sie eine kleine,
nur wenige Seiten starke Broschüre mit dem Titel: „Ein Beitrag zur
Lösung der sozialen Frage“. Aus diesem Schrifbchen ersehen wir, daß
die Heilsarmee bisher in allen den Ländern, in denen sie Heilssoldaten
für ihre soziale Arbeit warb, 115 Rettungshäuser für gefallene Mädchen
errichtete. „Durch diese Rettungshäuser gingen bis heute 22 500 Frauen
und Mädchen. Von dieser Zahl erwiesen sich nach einer Probe von
drei Jahren ca. 70°/ o als zufriedenstellend“.
In Deutschland begann die Heilsarmee im Oktober 1897 mit der
Rettung der sich prostituierenden Mädchen und Frauen. Gegenwärtig voll¬
zieht sie die Erziehungsarbeit in Deutschland in fünf Rettungshäusern,
und zwar hat sie je 1 in Berlin, Hamburg, Köln, Königsberg und Stra߬
burg errichtet. Über 550 Mädchen und Frauen fanden in diesen Rettungs¬
häusern Aufnahme.
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352 Kampffmeyer: Von der Erziehungsarbeit an Prostituierten.
Die bekannte Schriftstellerin Adele Schreiber unterzog sich vor
einiger Zeit der an Entbehrungen und Ehrenkränkungen so reichen
Mission, als „Weltkind“ an den sozialen Aufgaben der Heilsarmee mit¬
zuarbeiten. Ihre großen Eindrücke von dieser Tätigkeit hat sie in einer
lebensvollen Skizze in der „Frankfurter Zeitung“ niedergelegt, die die
charakteristische Überschrift trägt: „Als Weltkind bei der Heilsarmee“.
Das Rettungsheim der Heilsarmee in Berlin liegt in einem freund¬
lichen Garten in Friedenau. Die Leitung des Rettungsheims wird von
dem Prinzip der Heilsarmee beseelt: „Nichts durch Zwang, alles durch
freiwillige Hingabe und Liebe erreichen“. Von den „Gefallenen“ dieses
Rettungsheims schreibt Adele Schreiber: „Lichtlos und schmutzig,
wie die überfüllten Wohnungen, in denen die armen Sumpfpflanzen
heran wachsen, ist die Vorgeschichte, deren Abschluß sie hierher führte.
„Gefallene“ nennt man sie. Aber konnten sie „fallen“, da sie nie eine
Höhe besaßen?“ Zwanzig bis fünfundzwanzig Mädchen befinden sich in
dem Asyl, unter ihnen Mädchen von 14, 15 Jahren, „die schon die Stunde
der Mutterschaft hinter sich haben“. Ein 14jäbriges Mädchen teilte mit
ihrem 16jährigen Bruder das Bett und verkehrte auf der gemeinsamen
Lagerstätte mit ihm geschlechtlich.
In dem Rettungsheim werden die Mädchen sittlich aufgerichtet und
zur Arbeit erzogen. „Es herrscht“, so teilt uns A. Schreiber mit,
„kein frömmelnder, kalt richtender Ton im Hause, Arbeit und herzliche
Gemeinschaft sollen eine Zukunft aufbauen. In der Wäscherei und
Plätterei können stets Kräfte angelernt und beschäftigt werden, auch in
der Schneiderstube, wo die blauen Uniformen und die Schuten, deren Material
aus England kommt, angefertigt werden. Die Erhaltung des Hauses und
das Kochen wird von einigen Mädchen besorgt. Um für müßige und un¬
geschickte Finger stets eine Arbeit auf Lager zu haben, wird die Her¬
stellung eines neuen patentierten Fleckenreinigers aus Hülsen und Woll-
läppchen für eine Fabrik betrieben. Tausend Stücke bringen 7,50 Mark.
Auch einige kleine Kinder bis zu vier Jahren sind in dem Heim in
Pflege, allgemeine Lieblinge, die frohes Leben in das Bild bringen. . . .
Die meisten der Schützlinge werden in Dienststellen untergebracht, für
die stets Vakanzen vorliegen, ein Beweis, daß man die Mädchen nach
ihrem Aufenthalt im Heim als zuverlässig schätzt“.
Die in den Privatanstalten gesammelten Erfahrungen über die
moralische Aufrichtung und berufliche Schulung der Prostituierten können
vielleicht fruchtbar für die Erziehungsarbeit der pädagogischen Anstalten
werden, zu deren Errichtung sich die öffentlich-rechtlichen Körperschaften
jetzt genötigt sehen. Die Stadt Berlin hat zur Erziehung verwahrloster
Knaben die Erziehungsanstalt Lichtenberg bestimmt. Die sittlich ver¬
wahrlosten, durchweg der Prostitution anheimgefallenen Mädchen) wurden
meist Privatanstalten überwiesen. Seit dem Inkrafttreten des Fürsorge¬
erziehungsgesetzes sind von der Stadt Berlin 229 Prostituierte, das sind
60,91 °/ 0 aller weiblichen Fürsorgeerziehungszöglinge, der Fürsorgeerziehung
überwiesen worden. p. Kampflrneyer.
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Tagesgeschichte.
Deutschland.
In der Stadtverordnetenversammlung zu Frankfurt a. 0. wurde <)in
Antrag des Magistrats angenommen, der zur Bekämpfung der Geschlechts¬
krankheiten eine poliklinische Untersuchung im städtischen Krankenhause
einführen will. Die Angelegenheit ist durch eine Denkschrift des Geh.
Medizinalrats Dr. Barnick an den Regierungspräsidenten von letzterem
angeregt worden. Der Magistrat beantragte, sich damit einverstanden
zu erklären, daß der Versuch gemacht werde, zur wirksameren Bekämpfung
der Geschlechtskrankheiten eine poliklinische Untersuchung im Kranken¬
hause eintreten zu lassen. Diese soll unentgeltlich und freiwillig ge¬
schehen; sie soll den Zweck verfolgen, wo nötig eine krankenhausärzt¬
liche Behandlung nachfolgen zu lassen, deren Kosten voraussichtlich über¬
wiegend von den Krankenkassen getragen werden. Nur da, wo die
Gefahr der Verbreitung derartiger Krankheiten vorliegt und eine ärzt¬
liche Behandlung im Wege der Güte nicht zu erreichen ist, wird nötigen¬
falls mit polizeilichem Zwange vorgegangen werden. Erhöhte Kosten
würden der Stadtgemeinde voraussichtlich nicht entstehen, da die vor¬
handenen Kräfte ausreichen. Das Ganze soll ein von dem Vertrauen
auf das Krankenhaus getragener Versuch sein in der Hoffnung, daß die
wohlgemeinte Maßnahme auch in den beteiligten Kreisen die richtige
Würdigung finden werde.
Auf Anregung der mecklenburgischen Regierung hält Professor
Wolters in Rostock (früher in Bonn) in diesem Sommer vor Stu¬
denten aller Fakultäten Vorlesungen über die Gefahren der Ge¬
schlechtskrankheiten. Der Rektor empfiehlt den Besuch dieser Vor¬
lesungen.
Österreich-Ungarn.
Vom 11.—16. September dieses Jahres wird in *Budapest der
X. internationale Kongreß gegen den Alkoholismus stattfinden. Prof.
Forel-Genf wird über „Alkohol und Geschlechtsleben“ sprechen.
Frankreich.
Außerparlamentarische Kommission über die Reglementierung der
Prostitution.
Wie wir in Heft 1 mitgeteilt, schloß die Sitzung vom 10. Juni 1904
mit einem Doppelvotum, welches einerseits die Auffechterhaltung der
Reglementierung unter einer gesetzlich sanktionierten Form (Vorschlag
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354
Tagesgeschichte.
des Senators Bdrenger) ablehnte, anderseits die Vorschläge des Ober¬
staatsanwalts Bulot annahm. Den Herren Bulot und Augagneur
wurde der Auftrag, der Kommission einen doppelten Entwurf, betreffend
die öffentliche Ordnung und Gesundheit, vorzulegen.
In der Sitzung vom 8. Juli stand nun der zweite dieser Entwürfe
zur Diskussion.
Professor Augagneur lehnt in seinem Entwurf den eine Zeitlang
erwogenen Plan ab, den durch das Gesetz vom 15. Februar 1902 fest¬
gesetzten Maßnahmen bezüglich der obligatorischen Anmeldung einer ge¬
wissen Reihe übertragbarer Krankheiten, die in der Zusatz-Verordnung
vom 10. Februar 1903 aufgezählt sind, die Prophylaxe der venerischen
Krankheiten anzuschließen. Diese Verbindung würde eine Abschaffung
des durch das Strafgesetzbuch als unantastbar erklärten ärztlichen Ge¬
heimnisses bedeuten; außerdem wäre es praktisch unwissenschaftlich, eine
Krankheit wie die Syphilis mit den Windpocken oder der Diphtherie in
eine Linie zu stellen, mit Krankheiten, die alle übertragbar sind und
sich doch in bezug auf Entwicklung, Dauer, Therapie, Verschiedenheiten
der Isolierung usw. untereinander von Grund aus unterscheiden. Pro¬
fessor Augagneur schlägt vor, als Basis für eine medizinische Neu¬
organisation das Gesetz vom 15. Juli 1893 über die ärztliche Gratis¬
behandlung zu modifizieren. Gegenwärtig sichert dieses Gesetz jedem
Franzosen, dessen Mittellosigkeit nachgewiesen ist, unentgeltliche Be¬
handlung in allen Krankenhäusern ohne Unterschied. Wenn der mittel¬
lose Kranke einen UnterstützungsWohnsitz hat (dieser wird durch
Geburt, Heirat oder einjährige Seßhaftigkeit in einer Gemeinde nach er¬
langter Großjährigkeit erworben), dann kann die Gemeinde die ihm bei
einem Unglücksfall oder einer akuten Erkrankung Krankenhausbehandlung
zuteil werden läßt, sich die Aufenthalts- und Behandlungskosten von der
Gemeinde oder dem Departement des Unterstützungs Wohnsitzes zurück¬
erstatten lassen; hat der Kranke weder kommunalen noch provinzialen
Unterstützungswohnsitz, so wendet sich die Gemeinde, deren Krankenhaus¬
behandlung er genießt, an den Staat; in allen Fällen jedoch hat sie die
Kosten für die ersten 10 Tage der Krankenhausbehandlung zu tragen.
Gemeinsam mit Bulot, der diesem Entwürfe vollkommen zustimmt,
verlangt Augagneur, daß diese unentgeltliche Behandlung obligatorisch
auf alle venerisch Kranken ausgedehnt werde, mit der Modifikation, daß
zunächst kein Unterschied zwischen Kranken mit Unterstützungs Wohnsitz
und denen ohne solchen gemacht werden solle, mit andern Worten, daß
der Unterstützungswohnsitz ausgeschaltet werden soll; ferner
soll die Krankenhausbehandlung gewährende Gemeinde, nachdem sie die
Kosten der ersten zehn Tage auf ihr Budget übernommen hat, nicht erst
bei der Heimatsgemeinde, dem Heimatsdepartement und schließlich in
verzweifelten Fällen beim Staate um die Vergütung der Kosten für die
weitere Behandlung bitten müssen, sondern sich gleich von vornherein
an den Staat wenden.
Professor Augagneur verteidigt seinen Entwurf, indem er der Reihe
nach auf die Ein wände eingeht, die von dem Polizeipräfekten L dp ine,
dem Generalinspektor des Marinesanitätskorps A uff re t, dem Generalsekretär
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Tagesgeschichte.
855
der Kommission Hennequin, dem Direktor der Provinzangelegenheiten
Bruman, den Präfekten Fosse und Alacle und endlich dem Senator
Börenger erhoben werden. Die Ein wände bezogen sich hauptsächlich auf
die finanzielle Seite des Entwurfs, sowie auf den Unterschied, der zwischen
Gemeinden mit großen Krankenhäusern geschaffen wurde, die die venerisch
Kranken aus selbst entfernteren Gegenden an sich ziehen würden, und
den Gemeinden, die entweder nur mangelhaft eingerichtete Krankenhäuser
besitzen, in die die Kranken nicht kommen würden, oder überhaupt keine
Krankenhäuser aufweisen; andere Ein wände betrafen die große Umwälzung,
die das neue Gesetz in der Ökonomie der jetzt unentgeltlichen ärztlichen
Behandlung hervorrufen würde, indem es die Kosten ausschalten würde,
die im Falle der Mittellosigkeit des Patienten heute der Heimatsgemeinde,
der Gemeinde des UnterstützungsWohnsitzes oder dem Departement er¬
wachsen.
M. Hennequin verlangt, daß unter Weglassung des Unterstützungs¬
wohnsitzes die Kosten der Behandlung von Geschlechtskranken, die in
Hospitälern auf französischem Boden aufgenommen würden, vollständig
dem Staate zufallen sollten, und zwar einschließlich der Kosten für die
ersten 10 Tage, die der Berichterstatter (Prof. Augagneur) von der Ge¬
meinde übernommen wissen wollte, die dem Kranken die Hospitals¬
behandlung gewährt, trotzdem es sich oft um einen Fremden handelt.
Professor Augagneur weist alle diese Ein wände zurück. Es liegt,
sagt er, im Interesse der Gemeinde, deren Krankenhausbehandlung der Patient
genießt, einen ansteckungsgefährlichen Geschlechtskranken von der All¬
gemeinheit zu isolieren und ihm die erste Pflege angedeihen zu lassen;
sie sei hierbei zu allernächst interessiert. Es sei nur gerecht, daß sie
die ersten Kosten für die Heilung intra muros trage; andererseits be¬
ruhe die Ökonomie der ärztlichen Behandlung selbst nach dem bestehen¬
den Gesetze nicht auf dem Grundsatz des kommunalen Unterstützungs¬
wohnsitzes, sondern auf dem der ärztlichen Hilfe überhaupt; daß diese
Auslegung streng korrekt sei, gehe aus der Forderung des Gesetzes vom
15. Juli 1893 hervor, das eine gegenseitige Haftbarkeit für Kranken¬
hauskosten des Unbemittelten — über die ersten 10 Tage hinaus —
zwischen der Heimatsgemeinde, dem Departement und dem Staat verlangt,
und das dem Staat die scbließliche Verantwortlichkeit zuschiebt, wenn
Gemeinde und Departement nicht zahlen; an den Staat gehen schließlich
alle finanziellen Rekurse. — Zum Schlüsse weist Augagneur den ge¬
fährlichen Beistand Hennequins zurück und versichert, daß es kein
besseres Mittel gebe, den Entwurf scheitern zu lassen, als die Entlastung
der Gemeinde, in deren Hospital der Kranke aufgenommen wurde, von
den teil weisen Heilungskosten, die ihr der Entwurf auferlegt, und die
Belastung des Staates mit den gesamten Heilungskosten; das Parlament
würde ein derartiges Gesetz von vornherein ablehnen.
M. Berenger wiederholt seinerseits die schon erwähnten Ein wände
und fügt hinzu, es sei keine Aussicht vorhanden, daß die ärztliche Be¬
handlung, die unter diesen Bedingungen den der Sittenpolizei unterstellten
Frauen geboten wird, von diesen in Anspruch genommen würde.
Senator Paul Strauß brachte zugunsten des Entwurfes von Prof.
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356
Tagesgeechichte.
Augagneur seine ganze langjährige Erfahrung in Angelegenheiten
öffentlicher Armenpflege vor; er ging auf den Irrtum Bärengers ein,
der beim Gesetze von 1893 die gegenseitige Haftbarkeit zwischen den
drei Gemeinschaften: Gemeinde, Departement und Staat, verkannt hatte,
und schlug, um die kranken Frauen für den häufigen Besuch der Hospi¬
täler zu gewinnen, ein Prämiensystem vor.
Der Abgeordnete Dauzon, Präsident des Generalrats, wies ebenfalls
den Irrtum nach, den Bärenger bei der Auslegung des Gesetzes von
1893 begangen hatte.
Die Professoren Landouzy und Gauch er unterstützten den Ent¬
wurf ihres Lyoner Kollegen lebhaft und erörterten die Gefährlichkeit der
Bestimmungen über den ärztlichen Beistand, welche in Paris und in den
Provinzen die Hospitäler den Geschlechtskranken, besonders den nicht zur
Gemeinde zuständigen, verschließen. Sie tadelten auch die Kürze der Be¬
handlung der venerisch Kranken, denen eigentlich lange Hospitalbehand¬
lung notwendig wäre, und gingen auf die viel größere Wichtigkeit der
privaten und ambulatorischen Behandlung ein, alles Argumente, die be¬
weisen sollten, daß weder die Gemeinde, in deren Hospital der Kranke
behandelt wird, noch der Staat in so beunruhigender Weise belastet
werden würde, wie Bärenger und mehrere seiner Kollegen es ausge¬
malt hatten.
Die Sitzung war durch einen Vorschlag des Dr. Fiaux eröffnet
worden, der forderte, die Kommission solle sich, wenn sie schon nicht
berechtigt sei, eine persönliche Enquöte einzuleiten, wenigstens damit
befassen, die Veröffentlichung aller Dokumente zu erlangen, die eine im
Voijahre von Waldeck-Rousseau eingesetzte Kommission zum Studium
der Reglementierung vorher gesammelt hatte. — Der Vorschlag wurde
jedoch nicht angenommen.
Beendigt wurde die Sitzung mit der Lesung und der Vorlegung
zweier Anträge des früheren Assistenzarztes von St. Lazare, Dr. Andrä
Lucas, der forderte:
1. Der Polizeipräfekt möge alle Spezialbestimmungen zurücknehmen,
durch die dieser Beamte, der sich als Erben der polizeilichen Obergewalt
und als Vollstrecker alter, heute abgeschaflfter Verordnungen, namentlich
jener vom 20. April 1684, dünkt, ungesetzlich erweise das Recht anmaßt,
Frauen administrativ zu bestrafen und gefangen zu setzen, die kein Ver¬
brechen gegen das gemeine Recht begangen haben.
2. Abschaffung der ärztlichen Zwangsuntersuchung, die ungesetzlicher¬
weise im Ambulatorium der Polizeipräfektur durch nicht vereidigte Ärzte
ausgeübt wird, im Widerspruch mit den Bestimmungen des Gesetzes
über die übertragbaren Krankheiten vom 30. November 1892, welches
die Geschlechtskrankheiten unberücksichtigt läßt; die Einbehaltung des
Gehalts für die ganz ungesetzliche Besoldung der Sittenärzte.
Nach einem kurzen aber lebhaften Meinungsaustausch beschloß die
Kommission auf Antrag des Dr. Lucas, die Debatte über seine Anträge
nach der Diskussion über den Entwurf der Herren Augagneur und
Bulot auf die Tagesordnung zu setzen.
Am 18. November hielt die Kommission ihre 7. Sitzung ab.
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Tagesgeschichte.
357
Der Entwurf des Prof. Augagneur, den wir oben erörterten, ent¬
hielt lediglich eine Abänderung des Gesetzes yom 15. Juli 1893 über
die ärztliche Behandlung.
M. Bulot lieb einen Zusatz annehmen, wonach, falls die Gemeinde,
die dem Kranken Hospitalsbehandlung gewährt, infolge zu starken An¬
dranges von Geschlechtskranken zu ihren Krankenhäusern zu sehr be¬
lastet würde, der Staat — außer den Kosten, die ihm nach den ersten
10 Tagen aus der Krankenhausbehandlung erwachsen — ebenfalls einen
Teil dieser ersten kommunalen Auslagen auf sein Budget übernimmt.
Die Kommission setzte die Debatte über die Frage der-Hospital¬
behandlung fort. Diese Sitzung war hauptsächlich dadurch beachtens¬
wert, daß M. Monot, Generaldirektor der Assistance publique (Armen¬
pflege) im Ministerium des Innern, in die Diskussion eingriff und die
Zustimmung, die er dem Entwurf Augagneur öffentlich gezollt hatte,
des näheren begründete. Seit langem überzeugter Gegner der willkür¬
lichen Herrschaft der Sittenpolizei, und zwar vom hygienischen wie vom
rechtlichen Standpunkt aus, ist er doch der Meinung, daß alle Ma߬
nahmen zu ihrer Abschaffung den Behörden in der angenehmsten Form
vorgelegt werden sollten, um deren Zustimmung zu erlangen. Er billigte
daher, daß Prof. Augagneur nicht versucht hat, den gegenwärtigen
Stand der Dinge durch ein ganz neues Gesetz zu stören; er erklärte die
Verknüpfung der allgemeinen mit der Geschlechtskrankenbehandlung für
geschickt und praktisch, ersuchte aber die Herren Augagneur und
Bulot, nichts an der Situation zu ändern, die seit 1893, sowohl mit
Bezug auf den Unterstützungs Wohnsitz, als auf die Tragung der Kranken¬
hauskosten gesetzlich festgelegt ist
Nachdem sich Bulot und Augagneur mit der Beibehaltung des
Gesetzes von 1893 über die Unterstützungs Wohnsitze einverstanden er¬
klärt hatten, nahm die Kommission den Entwurf bezügl. der Prophylaxe
im einzelnen und im ganzen an und ging zu den die Organisation der
Krankenhäuser betreffenden Artikeln über.
Nach einigen Bemerkungen der Prof. Gaucher und Lenglet
(Reims) nahm die Kommission alle Einzelheiten einer neuen Organisation
an, nach welcher die Spezialkrankenhäuser für Geschlechtskranke
abgeschafft und die Zulassung der venerischen Kranken in die
allgemeinen Krankenhäuser unter denselben Bedingungen wie alle
anderen Krankheiten obligatorisch werden solle. Nur die Universitäts¬
städte sollten eigene Kliniken für Geschlechtskranke zu Lehrzwecken
erhalten.
Da die medizinisch-prophylaktische Seite der Frage durch die An¬
nahme der von Professor Augagneur vorgeschlagenen Maßregeln als
erledigt angesehen werden konnte, eröffnete die Kommission die Debatte
über den juristischen Teil der Reform, für welchen der Oberstaats¬
anwalt am Pariser Appellgerichtshofe, M. Bulot, Vorschläge unter¬
breitet hatte.
M. Bulot meinte, daß die zur Sicherung der Ordnung und des
öffentlichen Anstandes geeigneten Maßregeln in jenen Teil des franzö¬
sischen Strafgesetzes eingeschaltet werden könnten, der sich auf ge-
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358
Tagesgeschichte.
schlechtliche Verfehlungen bezieht, insbesondere in die Artikel 380 und
834. — Durch Hinzufügung eines Paragraphen zum Artikel 830 will
er den Anlockungsversuchen der Prostituierten steuern, sobald sie mehr
oder weniger den Charakter einer öffentlichen Verletzung des Scham¬
gefühls und der Sittlichkeit annehmen. Mit einer — allerdings weit¬
gehenden — Modifikation des Artikels 334 will er die offenkundige
Kuppelei unmöglich machen.
Dem Artikel 380, der jede öffentliche Verletzung des Schamgefühls
mit Geffcngnis von 8 Monaten bis zu 2 Jahren und einer Geldstrafe von
15 bis 100 Fr. bestraft, will M. Bulot einen zweiten Zusatz angefügt
wissen, der lauten sollte: „Dieselben Strafen erleidet, wer andere
öffentlich und in Ärgernis erregender Weise zur Unzucht
verführt.“
Über den Wortlaut dieses Zusatzes nun entspann sich eine Dis¬
kussion, die über zwei volle Sitzungen in Anspruch nahm.
Da ein mit beträchtlicher Majorität gefaßter Beschluß in der Sitzung
vom 5. November die Prostitution für kein Delikt erklärt hatte, war
es nun schwierig für die Kommission, sich zu einem Texte zu entschließen,
der die Prostitution nur in jenen Formen trifft, in denen sie die öffent¬
liche Sittlichkeit und Ordnung verletzt.
Ein zu unbestimmt gehaltener Text hätte jedes behördliche Eingreifen
und Überwachen illusorisch oder von neuem willkürlich gemacht; ein zu
eng begrenzender Wortlaut wieder wäre gegen den Geist der neuen Ge¬
setzgebung gewesen und hätte es der Polizei ermöglicht, nach eigenem
Ermessen und oft schon gegen kleine Vergehen vorzugehen.
Wie das oft der Fall ist, rief der von M. Bulot vorgeschlagene
Zusatz diametral entgegengesetzte Meinungen hervor. Die einen, unter
ihnen Dr. Butte, warfen ihm vor, durch seinen Vorschlag dem An¬
locken der Prostituierten nur sehr ungenügend zu steuern; die anderen,
unter ihnen Professor Le Poittevin — von der Pariser jüdischen
Fakultät —, machten ihm im Gegenteile zum Vorwurf, durch den un¬
bestimmten Ausdruck „in Ärgernis erregender Weise“ der Willkür der
Polizeibeamten eine Türe zu öffnen. In der Affaire Forissier z. B. hatten
die Beamten Ärgernis gefunden, wo keines zu finden war, nicht einmal
scheinbar an irgend einer Handlung oder Geste; dies kann sich bei
einem in so dehnbaren Ausdrücken abgefaßten Texte leicht wiederholen.
— M. Bdrenger griff den vorgeschlagenen Text aus besonderen Gründen
an. Als es sich im Senat darum handelte, das Gesetz bezüglich der
Beschränkung der Provokation zu formulieren, bemühte er sich, daß
die arretierten unglücklichen Frauen weder bestraft noch selbst einge¬
schrieben wurden, wenn das Delikt bei ihnen zum ersten Male nach¬
gewiesen wurde; mit anderen Worten, die Frauen mußten, um bestraft
zu werden, schon rückfällig geworden sein, während ihnen das erste mal
nur eine eindringliche Verwarnung zuzog. Der Text des M. Bulot
nun läßt z. B. auch eine Verhaftung und strenge Bestrafung der Un¬
glücklichen zu, die aus Not zum ersten Male auf die Straße geht.
Nach M. Berenger muß das Anlocken ein Gewohnheitsdelikt sein,
um strafbar zu werden. Ein Gesetz, das dies nicht berücksichtigen
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Tagesgeschichte.
359
würde, wäre zu strenge, und der Richter würde entweder zögern, es in
Anwendung zu bringen, oder bei einer Anwendung das Maß überschreiten.
Auch verlangt er, daß der vorgelegte Text dahin modifiziert werde, daß
die Cafes-concerts, die öffentlichen Bälle, selbst die Bühne nicht als Lock¬
mittel verwendet werden dürften; wenn das Gesetz nur das verfolgt,
was auf der Straße geschieht, so wäre sein Wirkungsbereich unzulänglich,
und die öffentliche Sittlichkeit könnte schwere Schädigungen erleiden.
Prof. Augagneur meint, daß der Vorschlag B6rengers auf eine
Wiederherstellung der Sittenpolizei unter einer anderen Form abzielt.
Der Polizist ist nur zur Konstatierung von Einzelfakten geeignet;
man brauchte eine eigene Spezialtruppe, um die Wiederholung von De¬
likten festzustellen. Der Begriff der gewohnheitsmäßigen Anlockung be¬
dingt den der Sittenpolizei. Diese aber ist es gerade, von der das Übel
größtenteils seinen Ausgang nimmt, sie birgt die Gefahr der willkür¬
lichen Verurteilungen. Mit der Annahme des Antrages Bulot hat man
viel bessere Mittel in der Hand, die Ordnung auf der Straße aufrecht
zu erhalten, als man jetzt besitzt. Die Sittenpolizei und die Prostituierten
bilden eine kameradschaftliche Vereinigung, eine Art Syndikat. Der
Sittenpolizist unterscheidet sich recht wenig vom Zuhälter. Jedes gesetz¬
liche System, das einen besonderen derartigen Dienst einrichtete, würde
dieselben Nachteile ergeben, wie die jetzt bestehende Reglementierung,
die eine Art Bundesgenossenschaft zwischen der Prostituierten und dem
Polizeibeamten geschaffen hat, der sie überwachen soll.
M. Hennequin ist der Ansicht, daß der Antrag Bulot über die öffent¬
liche und Ärgernis erregende Provokation offenbar ein Ersatz der Reglemen¬
tierung sein soll, und daß man die Verbindung nicht außer acht lassen darf,
die zwischen dem gegenwärtigen und dem beantragten System besteht. Eine
Gesetzänderung hat in seinen Augen nur dann Berechtigung, wenn sie die
Hintanhaltung von Handlungen bezweckt, die das Strafgesetz aus verschiede¬
nen Gründen bis heute übersehen hat, besonders da die städtischen Verord¬
nungen sie berücksichtigen und sie auf verschiedene Art, jedenfalls aber
durch Artikel 471 des Strafgesetzes wegen Übertretung einer städtischen
Verordnung bestraft werden. — M. Hennequin hält es für nützlich, sich
über die Maßnahmen zu orientieren, die in dieser Hinsicht im Ausland
getroffen werden; er zitiert zu diesem Zwecke die italienische Verord¬
nung von 1891 und die Einleitung des Schweizer Strafgesetzes und er
schließt daraus die Notwendigkeit einer sehr genauen Aufzählung der
Tatsachen, welche der Gesetzgeber im Interesse der Ordnung und Sitt¬
lichkeit zu berücksichtigen hat. Eine weitere Gefahr, die er fürchtet,
ist die Erpressung. Schließlich schreibt der beantragte Text Strafen vor,
die in gar keinem Verhältnis zur Schwere des Delikts stehen, was dem
Gesetze all seine Wirksamkeit nehmen würde.
M. Paul Meunier schlägt zwei Modifikationen des Antrages Bulot
vor, deren erste an Stelle der Worte „Ärgernis erregend“ die Worte
„durchGesten oderWorte“ setzt, während die zweite die vorgesehenen
Strafen mildert. Er möchte einen auf beide Geschlechter anwendbaren
Begriff des Delikts schaffen und gleichzeitig die Provokation der Prosti¬
tuierten ganz unterdrücken. Er legt folgenden verbesserten Entwurf vor,
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360
Tagesgescbichte.
der die Strafen auf eine Geldbuße von 12—15 Fr. und auf eine Gefängnis¬
strafe von höchstens 5 Tagen herabsetzt: „Die in den Artikeln 479 und
den folgenden bestimmten Strafen erleidet, wer andere öffentlich durch
Gesten oder Worte zur Unzucht verführt.“
M. Bulot nahm an den Erörterungen teil, deren Gegenstand seine
Anträge gewesen waren, und forderte sogar selbst noch neuen Wider¬
spruch heraus, indem er hinzufügte, daß in seinem ursprünglichen Texte
einige Lücken seien, durch welche die truppweise und durch Stehen¬
bleiben betriebene Provokation ganz gut hindurchschlüpfen könne.
Der erste tatsächliche Zusatz war der, daß das Delikt auf offener
Straße sich abspielen müsse. M. Bulot hat alle die Lokale, die
M. Bärenger aufgezählt hatte, mit Absicht fortgelassen. Die öffent¬
liche Straße gehört der Allgemeinheit und soll respektiert werden, weil
sich auf ihr tatsächlich neben junge Mädchen, anständige junge Frauen,
ältere Personen sowie junge und erwachsene Männer auch Halbweltdamen
und Prostituierte drängen. M. Bulot hat jedoch nicht die Absicht, die
Chantants und die Bühnen nebenräume zu versittlichen. Es handelt sich
nicht darum, die Provokation dort zu unterdrücken; jeder Mensch weiß,
daß sie dort in einer verwerflichen Form auffcritt, und niemand ist ge¬
zwungen, hinzugehen.
M. le Poittevin erklärt, daß es, um Mehrdeutigkeiten zu ver¬
meiden, ratsam wäre, hier beizufügen, daß das Provokationsdelikt nur
strafbar sei, wenn es sich — außerhalb der Straße — in unentgelt¬
lich zugänglichen Lokalen bemerkbar macht, eine allgemeine Be¬
zeichnung, welche die geschlossenen Vergnügungslokale ausschließt, die
nur gegen Eintrittsgeld zugänglich sind und einen Teil des mehr oder
weniger künstlerischen Lebens der großen Städte ausmachen.
M. Bärenger und Prof. Landouzy lenkten nun die Aufmerksam¬
keit der Kommission und des M. Bulot auf eine besondere Art der An¬
lockung, die seit mehreren Jahren in Paris durchgeführt wird und darin
besteht, daß eine ältere Kupplerin von anständigem Aussehen sich von
einer möglichst jung aussehenden Prostituierten durch die Straßen be¬
gleiten läßt; diese muß zwar über 21 Jahre alt sein, aber ungefähr das
Gesicht und die Figur einer 16 —17 jährigen haben; eine Toilette ad hoc
vervollständigt diesen Eindruck: kurzer Bock, nackte Beine, hängende
Zöpfe; sie soll eine Minderjährige Vortäuschen und Liebhaber halbreifer
Früchte ködern. M. Bär enger und Prof. Landouzy sind, von
M. le Poittevin unterstützt, der Ansicht, daß es sich da um eine
schwere Beleidigung der öffentlichen Sittlichkeit handelt, welche von dem
jetzigen Artikel 330 verschont bleibt, aber durch den beantragten Zu¬
satz unmöglich gemacht wird.
Um einer Art von Provokation vorzubeugen, die oft von Prosti¬
tuierten ausgeübt wird, indem sie truppweise gehen und in Gruppen
auf der Straße stehen bleiben, schlägt M. Bulot eine Verbesserung seines
eigenen Textes vor, welche die Provokation einer Gruppe von über drei
Prostituierten bestraft.
Dr. Fiaux erhebt Einspruch gegen die gefährliche Ausdehnung,
die man dem Provokationsdelikt durch die Vielfältigkeit der Formen
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Tagesgeschichte.
361
gegeben hat, die dies Delikt nun nmfassen solL Alle diese Fälle können
nnr eine neue Quelle bedauerlicher Irrtümer werden. Er erinnert daran,
daß 1883 der Pariser Gemeinderat durch eine eigene Kommission das
Problem der Provokation untersuchen ließ. Gestützt auf die besten
Strafrechtsautoritäten, wie Faustin-Hälie, erkannte man damals, daß
die Provokation nur strafbar sei, wenn das betreffende Individuum Hand
an den Passanten oder die Passantin legte oder ihm laute un-
ziemliche Worte zurief, die geeignet waren, die öffentliche Aufmerk¬
samkeit zu erregen und die Ehrbarkeit der angerufenen Person zu ver¬
letzen. Die städtische Kommission von 1888 wollte ebenfalls die durch
hartnäckiges Stehenbleiben auf der Straße betriebene Provokation be¬
strafen. Alle die Strafen in diesen Fällen wurden wegen Übertretung
des Gesetzes verhängt.
M. le Poittevin bringt einen neuen Zusatzantrag ein, der die
Provokation der Minderjährigen auf der Straße zu bestrafen fordert und
außerdem überhaupt den Schutz der Minderjährigen durch das Strafgesetz
für nicht zureichend erklärt. Man erwidert ihm, daß es im besonderen
Fall schwierig sei, zu wissen, ob eine Provozierende minorenn oder majo¬
renn sei, und daß die Frage zu Komplikationen führen könne, die man
bei einem ohnehin so schwierigen Problem besser vermeide.
Schließlich wird folgender Text angenommen: „Übertretungs-
strafen gemäß Artikel 479 des Strafgesetzes werden ver¬
hängt über:
1. Personen, die auf öffentlicher Straße oder in unentgeltlich
dem Publikum zugänglichen Lokalen in Gruppen von mehr als zwei
Personen andere zur Unzucht verleiten oder zu verleiten versuchen;
2. Personen, die auf öffentlicher Straße oder in unentgeltlich
dem Publikum zugänglichen Lokalen andere durch Verhalten, Gesten
oder Worte, die Ärgernis erregen oder die guten Sitten verletzen, zur
Unzucht verleiten.
Die Wiederholung dieser letzten Übertretung stellt ein mit 16 bis
200 Fr. Geldstrafe und mit 6 Tagen bis zu 2 Monaten Gefängnis zu
bestrafendes Delikt dar.
M. le Poittevin kommt auf die Frage der Minderjährigen zu¬
rück. Da die Provokation ohne anstößige Geste, die einfache Einladung,
nicht bestraft wird, werde sie straflos an Straßenjungen von 16, 15 oder
14 Jahren gerichtet werden, was unzulässig ist. Man müsse die Minder¬
jährigen gegen die stumme Provokation schützen. Die Diskussion han¬
delte hauptsächlich über das Alter der Schutzbedürftigen, das M. Bärenger
auf 18 Jahre, andere auf 16 und 15 Jahre festgesetzt haben wollten,
und den ungeeigneten Gebrauch des Ausdruckes „Unzucht“, der in den
angenommenen Texten bereits vorkommt; nach der Diskussion wurde
folgender Zusatz zum dritten Paragraphen des Artikels 479 des Straf¬
gesetzes angenommen: „Personen, die auf öffentlicher Straße oder in
unentgeltlich dem Publikum zugänglichen Lokalen Mindeijährige unter
15 Jahren zur Unzucht verleiten.“
Diese Altersgrenze von 15 Jahren wurde angenommen, obwohl
Stimmen laut wurden, die eine solche von 18 und 16 Jahren forderten.
Zeitschr. f. Bekämpfung d. Geechlechtekrankh. III. 26
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362
Tagesgeschich te.
M. Brunot findet, daß die angenommenen Beschlüsse unvollständig
und offenbar nicht zureichend sind, die Aufrechterhaltung der Ordnung
aut der Straße zu sichern.
Nunmehr wird zur Diskussion über die Bulotsehen Anträge betr.
Art. 334 des Code penal geschritten.
M. Bulot entschuldigt sich, daß er bei der Ausarbeitung seines
Berichtes die Bestimmungen des Gesetzes vom 3. April 1903 gegen den
weißen Sklavenhandel nicht genügend berücksichtigt habe. Doch habe
er bei späterer Einsichtnahme in den Wortlaut dieses Gesetzes gefunden,
daß dasselbe seinen Anforderungen entspreche. Es verbietet, wie auch
er das wollte, die Kuppelei. Er will nun folgenden Text vorschlagen:
„Wer in gewinnsüchtiger Absicht erwachsene Personen, gleich¬
viel welchen Geschlechts, zur Prostitution veranlaßt, diese begünstigt
oder erleichtert, wird mit Gefängnis von 6 Monaten bis zu 2 Jahren
und Geldstrafe von 50—500 Franks bestraft“.
Schon hier hatte er den Eindruck, daß es nicht leicht sein würde, seiner
These zum Siege zu verhelfen, aber gegenüber den Bestimmungen des
Gesetzes von 1903 erkannte er die Vergeblichkeit seines Bemühens.
Dieses Gesetz bestimmt folgendes:
„Es wird bestraft usw.:
§ 3. Wer zur Befriedigung der Leidenschaften anderer durch
Betrug oder mittels Gewalt, Drohungen, Mißbrauchs der Autorität
oder anderer Zwangsmittel eine Frau oder erwachsenes Mädchen zum
Zwecke der Unzucht verleitet, verschleppt oder entführt.
§ 4. Wer mit denselben Mitteln gegen ihren Willen eine Person,
auch wenn sie majorenn ist, in einem Unzuchtshause festhält oder sie
zwingt, sich der Prostitution zu ergeben.“
Aus diesen beiden Stellen gebt bervor, daß das Gesetz ausdrücklich
das Recht zur Kuppelei anerkennt und daß es — nach der Konstatierung
eines tatsächlichen Zustandes — die legale Existenz des Prostitutions¬
hauses proklamiert. Es kann dort z. B. niemand schuldenhalber zurück¬
gehalten werden. Also ist das Bestehen dieser Häuser erlaubt. Das
Gesetz, das diese Erklärungen abgibt, ist noch kaum 18 Monate alt; es
ist die Frucht des Studiums der Frage, zu welchem sich die hervor¬
ragendsten Männer in einer internationalen Konferenz zusammengefunden
haben. Will die Kommission den fremden Mächten ins Gesicht schlagen,
indem sie dieses Gesetz für schlecht erklärt? Man wird ihn wahrschein¬
lich für einen Opportunisten halten, aber er vermag nicht, sich gegen
etwas von höheren Gesichtspunkten aus Gebotenes aufzulehnen.
Prof. Gau eher begreift nicht, warum M. Bulot seinen zweiten
Antrag fallen läßt. Der Fortschritt kann nur etappenweise vor sich
gehen, eine Etappe auf diesem Wege war das Gesetz. Mit seiner Aus¬
arbeitung erfüllte der Gesetzgeber aber die ihm gestellte Aufgabe nur
halb, vielleicht in der Annahme, daß er alles auf einmal doch nicht tun
könne. Warum soll man nun dieses Werk nicht fortsetzen? Zwei Haupt¬
faktoren, die der Prostitution Vorschub leisten, gilt es zu beseitigen:
einerseits den Verführer, der dann das junge Mädchen verläßt, sie der
Ungewißheit, dem Elend überliefert und sie so noch tiefer hinabstößt,
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Tageegeschichte.
363
auf der anderen Seite den Zuhälter, der daraus ein Geschäft macht, den
Bordellwirt, der sie ausbeutet, wenn sie gefallen ist, und für ein Auf¬
raffen zum Hindernis wird. Man kann die Prostitution nur beseitigen,
indem man diese beiden sozialen Übel beseitigt.
Frau Avril de Ste Croix erzählt, daß sie als Generalsekretärin
der französischen abolitionistischen Föderation viele Protestbriefe gegen
dieses Gesetz erhalten habe. Die Schreiber derselben, Leute, die mit
glühender Empörung danach streben, die Ausbeutung der Frau, diese
soziale Schmach, abzuschaffen, hatten geglaubt, daß nun ein entscheidender
Schritt geschehen sei zur Befreiung jener armen Mädchen, die bisher zu
rettungslosem Untergange verurteilt waren. Man hatte hoffen dürfen,
daß der Oberstaatsanwalt Bulot eine Schranke niederreissen werde, die
den Fortschritt der Freiheit und Gerechtigkeit für alle hemmt. Frau
Avril fragt, ob so nicht alle von den Abolitionisten in schwerem Kampfe
errungenen Positionen nach und nach wieder aufgegeben werden und ob
nicht die abscheuliche Sittenpolizei auf einem blumengeschmückten Wege
wieder eingeführt wird. Sie erinnert an gewisse Aussprüche Senator
Bärengers auf dem Antwerpener Kongreß und protestiert gegen Zu¬
stände, bei denen die Frauen ihrer Menschenrechte beraubt werden.
M. Turot stellt sich auf denselben Standpunkt wie Frau Avril de
Ste. Croix und meint, zur Unterdrückung der Bordelle würde es genügen,
die §§ 3 und 4 Artikel I des Gesetzes vom 3. April 1908 zu streichen.
Der Präsident bemerkt, daß es sich vor allem darum handelt, fest¬
zustellen, ob die Bordelle unterdrückt werden sollen oder nicht.
M. Berenger will sich gegenüber der persönlichen Interpellation,
deren Gegenstand er war, über diese Frage äußern. Er sei beschuldigt
worden, das Bordell zu verteidigen. Nun hat er aber immer erklärt,
daß er das Bordell für eine verabscheuenswürdige Institution halte.
Seine Meinung geht dahin: Durch unsere Gesetze nicht aufrecht zu er¬
halten ist das erlaubte und von der Regierung konzessionierte Prosti¬
tutionshaus; dagegen kann das private Haus, dessen Bestehen unvermeid¬
lich ißt, auch nicht verboten werden. Die Prostitution ist in einem
abgeschlossenen Hause ebensowenig ein Delikt, als wenn sie ganz isoliert
ausgeübt wird. Man hat das Recht, sich in einem Hause zu vereinigen,
um daselbst gemeinsam Prostitution auszuüben, selbst unter der Direktion
irgendwelcher anderen Person. Sobald man den Akt der Prostitution
für straffrei erklärt, ist auch der Handel mit diesem Akt straffrei. Wie
soeben auch der Staatsanwalt anerkannte, kann man unmöglich, wenn
eine Tat gestattet ist, denjenigen bestrafen wollen, der aus dieser Tat
Nutzen zieht oder diese Tat veranlaßt. Das ist nur logisch. Die Kuppelei
ist also ebenfalls kein Delikt.
Dann geht M. Bärenger, vielfach unterbrochen, auf die Kritik
der öffentlichen Häuser ein. Er erinnert, daß er diesen immer feindlich
gegenübergestanden und in der „Sociäte de prophylaxie“ sogar deren
völlige Beseitigung beantragt habe. Inzwischen habe er aber eingeseben,
daß der im öffenüichen Leben Stehende gezwungen ist, mancherlei Tat¬
sachen in Betracht zu ziehen, Tatsachen, die stärker sind als der mensch¬
liche Wille. Würde man das Ansprechen verbieten, so ginge man weiter,
26*
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364
Tagesgescb ichte.
als man glaube. Dann würde das einzelne Mädchen nicht auf der Straße
ihrer Art von Geschäft so nachgehen können, wie sie möchte. Wenn
aber der Handel auf offener Straße erschwert sein wird, dann werden
die Zimmer-Prostituierten einsehen, daß sie sich zusammenschließen
müssen. Sollen sie dann nicht Vereinigungen unter beliebiger Leitung
bilden dürfen? . . Von derartigen Häusern hat er in Amsterdam gesagt:
sie müssen reglementiert werden. Sollte dies Wort verletzend wirken,
so will er sogen, man muß die Prostitutionshäuser überwachen, und er
schlägt dazu folgendes vor:
1. Es gibt keine konzessionierten Bordelle.
2. Wenn solche Prostitutionshäuser eröffnet werden, dann müssen
sie bei der Verwaltungsbehörde angemeldet werden (in Paris bei der
Polizeipräfektur).
Außerdem muß eine Vigilanten-Kontrolle ausgeübt werden, um
darauf zu halten, daß
1. diese Häuser keine Minderjährigen aufhehmen,
2. daß sie diese Unglücklichen, die sie beherbergen, nicht wider
ihren Willen zurückhalten.
Den Abolitionisten legt Redner die Frage vor: Sind Sie sicher,
daß Sie sich nicht täuschen, wenn Sie behaupten, daß alle Moral auf
Ihrer Seite ist? Man darf doch nicht glauben, daß es nur einen Ge¬
sichtspunkt für die Moral gäbe. Er sei der Meinung, daß das Prosti¬
tutionshaus, wiewohl er seine Existenz bedaure, dennoch eine soziale
Notwendigkeit sei. Ist dieses Haus nicht indirekt ein Schutz für die
junge Arbeiterin? Glaubt man, daß in den Städten, wo sich so viele
feurige junge Männer befinden, Universitäten, Garnisonen, industrielle
Etablissements, daß da nicht eine Menge anständiger junger Mädchen in
jedem Augenblick von schlimmeren Gefahren bedroht sind? Und gibt
es nicht eine große Zahl unter diesen jungen Leuten, deren einzige Be¬
schäftigung darin besteht, „ein Mädel zur Frau zu machen“? Und wenn
nun in diesen Zentren der Menschenanhäufung besondere Häuser dazu
da sind, wo die fleischlichen Gelüste befriedigt werden können, wie kann
man leugnen, daß die Existenz derartiger Häuser im Interesse der öffent¬
lichen Moral und Ordnung äußerst nützlich ist. Betrachten wir z. B.
die Stadt Marseille, oder jede andere große Provinzialstadt, und stellen
wir uns vor, daß die Prostitutionshäuser geschlossen würden, ist es nicht
klar, daß dann Tausende von Individuen die Arbeiterinnen gierig ver¬
folgen würden? Das wäre unausbleiblich. In Amsterdam habe er ge¬
sagt, die Institution der Prostitutionshäuser müsse gesetzlich geregelt
werden, und den darin befindlichen Frauen müsse die Möglichkeit gegeben
werden, sie zu verlassen, wann sie wollen. Redner ist ganz einer Meinung
mit Frau Avril, wenn diese sagt, daß man das Mädchen, das sich in
Gefahr befindet, schützen müsse. Es ist eine unabweisbare soziale Pflicht,
die Rettungstätigkeit zu erweitern, und auf Erhöhung des Frauenarbeits¬
lohns hinzuarbeiten. Aber man darf nicht zu weit gehen in philanthro¬
pischer Übertreibung. Wenn ein Weib trotz alledem sich der Prostitution
ergeben will, wenn sie die Schande liebt und gar sucht, warum, zu
welchem Zwecke und in welchem Interesse will man darauf erpicht sein,
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Referate.
365
sie daran za verhindern? Redner geht noch weiter, er steht nicht an
zu sagen, — selbst auf Gefahr hin, daß man ihm Übertreibung vor¬
werfen wird, — daß diese Gossen, in die der soziale Schmutz hinein¬
gespült wird, durchaus notwendig sind. Wenn man sie zerstörte, würde
man nur Angriffe gegen das anständige Mädchen hervorrufen. Die Rolle
des Prostitutionshauses kommt indirekt der Arbeiterin zugute, dieser
Unglücklichen, die sich nicht prostituieren will.
Redner kündigt an, daß er drei Anträge einreichen wird, der eine
betrifft die Minderjährigen, der zweite die syphilitischen Prostituierten,
der dritte endlich das Delikt der Ansteckung.
Referate.
Dr. med. C. Schirren. Vierter und fünfter Bericht über die Geschlechtskrankheiten
in Kiel und Umgebung für die Jahre vom 1. Sept. 1901 bis dahin 1903, erstattet
im Aufträge des ärztlichen Vereins. Kiel 1904.
Dieser Bericht bildet den Abschluß einer auf fünf Jahre seinerzeit
durch Beschluß des ärztlichen Vereins ausgedehnten Enquöte über die
Geschlechtskrankheiten in Kiel und Umgegend.
Auf die nackten Zahlen in solchen Statistiken ist ja gar nichts zu
geben. Jeder von uns, der ein wenig mit den einschlägigen Verhält¬
nissen vertraut ist, weiß, wie wertlos an und für sich diese Zahlen sind
— nur die Schlüsse, die wir aus ihnen ziehen, haben Bedeutung.
Eine Zahl gleich zu Anfang der Statistik beweist, von welchen Zu¬
fälligkeiten solche Zusammenstellungen abhängig sind — das erste Jahr
der Statistik hat die höchsten Zahlen! Das beweist doch wohl, daß das
Interesse im ersten Jahre am größten war, später etwas nachließ. Aller¬
dings haben die Jahre 1900 und 1901 ein Sinken der Ziffer für das
Marinelazarett zu verzeichnen — das würde im Sinne einer wirklichen
Abnahme sprechen.
Die Gesamtzahl der in den Listen geführten Geschlechtskranken ist
— darüber ist sich der Berichterstatter klar — weit unter der richtigen
Zahl. Die geringere Verhältniszahl der Erkrankungen bei Frauen ist ja
weiter natürlich zum Teil auf tatsächlichen Verhältnissen, zum Teil aber
einfach auf der Erfahrung beruhend, daß, wie der Berichterstatter richtig
bemerkt, die Geschlechtskranken unter den Frauen häufiger gar nicht
oder spät behandelt werden.
Merkwürdig — übrigens mit den für 1900 und 1901 sinkenden
Zahlen übereinstimmend, ist die Zahl der angeborenen Syphilis — 1899
höher als 1900 und 1901, für 1902 und 1903 steigend. Schirren
berechnet eine, wie er nach weist, Mindestzahl von 2,2 °/ 0 mit hereditärer
Syphilis Geborenen.
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866
Referate.
Die Extragenitalaffektionen haben abgenommen, sie machen für 1902
und 1903 8,5 °/ 0 der Syphilisfälle aus.
Interessant ist der Nachweis, daß beinahe die Hälfte aller Infek¬
tionen der im Stationslazarett behandelten Fälle auf die kontrollierte Pro¬
stitution zurückzuführen ist. Wenn man bedenkt, daß das Gros der in
Betracht kommenden Männer fast durchweg ihren Geschlechtstrieb beim
„Verhältnis“ befriedigt — denn zum Bordellbesuch 1 ) haben doch die
Mannschaften kein Geld — und nur gelegentlich am Löhnungstage die
Bordelle besucht, dann kann man den hygienischen Nutzen der kontrol¬
lierten Prostitution so recht mit Händen greifen! Die dort erworbene
Geschlechtskrankheit übertragen die Leute dann, nach Leerung des Geld¬
beutels, auf ihre Schätze!
Daraus, daß bei den im Lazarett befindlichen Leuten die Gonorrhoe
sehr viel häufiger ist als die Syphilis, und daß diese Verhältniszahl bei
dem übrigen Militär sich zu Ungunsten der Syphilis verschiebt, schließt
Schirren auf eine geringere Gefahr der kontrollierten Prostitution. Für
die Syphilis vielleicht — die Bordellmädchen sind durchseucht, immer —,
aber die oben angeführte Tatsache, daß die Hälfte aller Infektionen
im Stationslazarett auf die kontrollierte Prostitution zurückzuführen
ist, redet denn doch wahrhaftig nicht zugunsten derselben — diese Logik
ist mir unverständlich.
Ich will verschiedene recht interessante statistische Aufstellungen
übergehen, um mich gleich einem Punkte zuzuwenden, dessen Erörterung
mir von grundsätzlicher Bedeutung erscheint.
Schirren sagt S. 23: Der Frage, ob die kontrollierte oder die
geheime Prostitution den größeren Schaden bringe, werden wir . . . noch
näher treten können, wenn wir die Erkrankungen der Kontrollmädchen
und der sonstigen, dem Geschlechtsverkehr huldigenden weiblichen Wesen
vergleichen.
Kontrollmädchen.
Alter
Zahl
Syphilis
Gonorrhoe
bis 19 Jahre . .
. . 46
9
37
„ 29 „
. . 433
44
889
„ 39 ,,
, . 87
5
82
ältere . . . .
. . 9
—
9
575
58
517
Dienstmädchen.
bis 19 Jahre . . . 101 29
„ 29 „ ... 133 54
„ 39 „ . . . 7 2
ältere. 2 —
243 85
*) In Kiel gibt es nur kasernierte Prostituierte — wenigstens für
die Polizei!
72
79
5
2
158
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Referate.
367
Andere weibliche Personen.
Alter
Zahl
Syphilis
Gonorrhoe
bis 19 Jahre . . .
86
7
29
„ 29 „ ...
107
41
66
„ 89 „ ...
7
5
2
ältere.
12
10
2
162
68
99
Also Kontrollmädchen .
• io%
90%
Dienstmädchen
,
• 35 %
65 %
Andere weibliche Personen
. 38°/ 0
62%
Aus diesen Zahlen ergibt sich (sagt Schirren), daß die Ansteckung
mit Syphilis durch die Dienstmädchen und andere der Venus vulgi-
vaga fröhnenden weiblichen Wesen 3 1 / 2 mal so groß ist, als durch Kon-
trollmädchen — es geht aber auch aus diesen Zahlen die sehr viel
größere Gefahr der geheimen Prostitution gegenüber der kontrollierten
— wenigstens der Syphilis — hervor.
Hierin sind zwei, immer bei allen Verteidigern der Reglementierung
wiederkehrende, falsche Schlüsse, die eine Fundamentregel der Statistik
verletzen.
Zunächst der Hauptfehler.
Die Kontrollmädchen werden alle untersucht; die Zahlen für Er¬
krankungen sind also verhältnismäßig absolute. Um die Zahl der er¬
krankten Dienstmädchen usw. usw. mit den Zahlen der erkrankten Kon¬
trollmädchen vergleichen zu können, müßte man erst auch die Zahl
der dem Geschlechtsverkehr fröhnenden Dienstmädchen, Nicht-Kontroll-
mädchen usw. feststellen. Das kann man aber nicht — also kann man
die Zahlen nicht vergleichen. Ein Beispiel wird meine Ansicht klarstellen.
Nehmen wir unter 100 Kontrollmädchen 7 Erkrankungen an Syphilis
an; gleichzeitig zeigen 100 untersuchte Dienstmädchen 21 Erkrankungen
an Syphilis. Da wäre nach der landläufigen Logik bewiesen, daß die
Dienstmädchen 8 mal so gefährlich sind wie die Kontrollmädchen. Nun
wissen wir aber, daß diese 100 Dienstmädchen höchstens 10°/ 0 der über¬
haupt mehr oder weniger „polygam“ verkehrenden Dienstmädchen sind
— die 21 würden, auf 1000 bezogen, nur 2,1 °/ 0 für die Dienstmädchen
ergeben. Diese Zahl ist aber sicher wieder falsch, weil wir nicht alle
Dienstmädchen (900!) untersucht haben. Unter den erkrankt gemel¬
deten Dienstmädchen ist aber sicher ein enorm hoher Prozentsatz der
überhaupt erkrankten, besonders an Syphilis; denn die Erkrankten
kommen eben zur Anzeige durch den Hausarzt, weil die Herrschaft sie
ins Krankenhaus schickt, weil sie denunziert und von der Polizei gefaßt
werden usw.
Also die Zahlen lassen sich gar nicht vergleichen.
Zweitens ist die Verhältniszahl der Syphilis und Gonorrhoe bei
Dienstmädchen und Kontrollmädchen gar nicht in Parallele zu stellen.
Die Kontrollmädchen, wie gesagt, werden alle untersucht — also werden
auch annähernd oder wenigstens in hoher Prozentzahl die Gonorrhoeer
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368
Referate.
gefunden; daß aber manches Mädchen — ich glaube sicher die Mehr¬
zahl — ihren Tripper „en passant“ abmacht, daß verhältnismäßig viel
häufiger die Syphilis dieser Klasse zur Kenntnis und in die Listen
kommt, als die Gonorrhoe — darüber kann doch wohl kein Zweifel
bestehen; also auch diese Zahlen lassen sich gar nicht ver¬
gleichen; jeder Schluß aus solcher Vergleichung ist voll¬
ständig willkürlich.
Dagegen geht aus der Sch irren sehen Aufstellung eines hervor,
worauf er dringlich hinweist (S. 26): „Wir haben in den öffentlichen
Häusern eine besonders anreizende Institution für jugendlichere Individuen
zu sehen; durch die frühzeitige Verführung sind diese Häuser schädliche
Einrichtungen.“
Es zeigt sich nämlich, daß diejenigen Erkrankten, die sich in den
öffentlichen Häusern ihre Geschlechtskrankheiten erworben haben, mit
denjenigen, die sich anderweitig infiziert haben, auf 100 folgende Ver¬
hältniszahlen ergeben:
bis zu 20 Jahren . . 33.75 : 66,25
ältere. 19,75 : 80,25
Würde man sagen: bis zu 18 Jahren, so würde das Verhältnis noch
ungünstiger.
Noch ein Wort über diese Verhältniszahlen. Wir könnten für die
Gruppe der Älteren aus diesen Zahlen den Schluß ziehen: die geheime
Prostitution hat in 70°/ 0 , die kontrollierte in 20°/ 0 Anlaß zur An¬
steckung gegeben — also ist die kontrollierte nur l j A so gefährlich, wie
die geheime Prostitution. Diese Zahl wäre richtig, wenn auf 5 Kohabi-
tationen etwa die gleiche Zahl im Bordell und die gleiche Zahl bei der
geheimen Prostitution stattfänden; sie würde die gleiche Gefahr beider
Formen des Geschlechtsverkehrs beweisen, wenn auf 5 Kohabitationen
4 bei der geheimen, 1 bei der kontrollierten Prostitution kämen. Sie
beweist de facto die viel größere Gefahr — ohne Zahlen! — der kon¬
trollierten Prostitution gegenüber der geheimen im weitesten Sinne!
Denn jeder, der die Verhältnisse in Kiel kennt, wird mir zugeben, daß
ganz sicher, unbedingt, zweifellos die Kohabitationen außerhalb der Bor
delle sicher um ein vielfaches höher sind zu denen im Bordell als 4:1
— nehmen wir z. B. an 10:1. Wäre also die Kontrollprostitution nur
ebenso gefährlich wie die geheime, so müßten von 100 Erkrankungen
90 auf die geheime, 10 auf die kontrollierte kommen; wäre sie aber
gefährlicher, so müßten die Zahlen etwa sein: 98°/ 0 Erkrankungen auf
die geheime, 2°/ 0 auf die kontrollierte Prostitution!
Man sieht, sobald die Zahlen einmal auf ihr tertium comparationis
untersucht werden, so wackeln alle anscheinend so beweisenden Statistiken.
Aus diesen oben erwähnten Verhältniszahlen (20°/ o bei der Kon¬
trolle, 70 °/ Q bei der geheimen Prostitution), aus der oben erwähnten
Tatsache: die Hälfte aller im Lazarett krank liegenden Marinesoldaten
ist im Bordell infiziert; aus der Tatsache: auf die Jugend wirken die
Bordelle anreizend — daher die größere Zahl der Infektionen in Bor¬
dellen bei Jünglingen unter 20 Jahren — aus diesen in dem Schirren-
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Referate.
369
sehen Bericht enthaltenen Tatsachen schließe ich, daß meine Ansicht
von der Nutzlosigkeit und deshalb Verwerflichkeit der Reglementierung
auch für Kiel bewiesen ist. Von der Bordeliierung will auch Schirren
nichts wissen. v. Düring (Kiel).
Em Finger. Die Prophylaxe und Abortivbehandlung der Gonorrhoe. Deutsche med.
Wochenschr. 1905, Nr. 7.
Der Autor wendet sich im ersten Teile seiner anregenden Arbeit
gegen die sog. Abortivkur, mit Hilfe deren manche Venereologen ganz
frische Fälle von Tripper durch lokale Behandlung der Harnröhre mit
starken Lösungen gonococcocider Medikamente in wenigen Tagen koupieren
zu können glauben. Für die eine Gruppe der in Betracht kommenden
Fälle hält der Verfasser die Abortivkur für überflüssig, der anderen
Gruppe gegenüber für unzureichend, sodaß er in jedem Falle von
frischer Gonorrhoe sofort die örtliche systematische Behandlung ein¬
leitet. Von größerem Interesse als diese rein medizinischen Ausführungen
sind an dieser Stelle für uns zweifellos die Darlegungen im zweiten
Abschnitte des Aufsatzes, die die individuelle Prophylaxe betreffen
und erörtern, ob sie von ärztlicher Seite empfohlen werden dürfe.
Sollte diese Frage bejaht werden können, so seien unbedingte Ver¬
läßlichkeit und absolute Unschädlichkeit die Voraussetzungen,
die aber beide keineswegs erfüllt sind. Verfasser kennt „eine Reihe von
Fällen, in denen trotz pünktlicher Anwendung der einen oder anderen
Methode Gonorrhoe acquiriert wurde, von Leuten, die durch längeren
Gebrauch des Prophylaktiktims in dessen Anwendung geübt waren.“
Andererseits gibt es nach der Beobachtung des Verfassers neben zweifel¬
losen Fällen, in denen die längere systematische Anwendung der Pro¬
phylaxe schadlos vertragen wird, auch solche, in denen sie „nicht un¬
wesentlichen Schaden stiftet.“ Somit hält Finger die Empfehlung der
sog. Schutzmittel durch den Arzt nicht für gerechtfertigt. — Diese
Argumentation fordert zum Widerspruch heraus. In Hinsicht auf die
Persönlichkeit des Verfassers haben wir wohl die Pflicht, die mit¬
geteilten Beobachtungen als einwandfrei anzuerkennen, ohne doch des¬
halb den Schlußfolgerungen zustimmen zu müssen. Die Empfehlung
eines Medikamentes — im weitesten Sinne des Wortes! — von seiner
absoluten Zuverlässigkeit abhängig zu machen, ist ja vollkommen
unmöglich; der ganzen Therapie wäre damit das Todesurteil gesprochen,
und wir Ärzte hätten geradezu die Existenzberechtigung verloren. Wo
in aller Welt gibt es auch nur für eine einzige Krankheit ein
derart souveränes Mittel?! Selbst dem Chinin kommt der Malaria
und dem Quecksilber der Syphilis gegenüber dieser Charakter keines¬
wegs zu, und das sind doch so ziemlich die allerverläßlichsten Bestand¬
teile in unserm Arzneischatz. Und wie wir von unseren therapeu¬
tischen Maßnahmen immer nur eine relative Zuverlässigkeit erwarten
können und stets mit einem gelegentlichen Mißerfolg zu rechnen gewohnt
sind, so dürfen wir und unsere Klienten selbstredend auch von unseren
prophylaktischen Ratschlägen und Eingriffen eine Gewißheit des
Erfolges niemals verlangen. Oder würde Finger wirklich z. B. einer
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370
Referate.
schwer herz-, nieren- oder lungenkranken Ehefrau nicht die Anwendung
neomalthusianistischer Mittel Vorschlägen, weil diese die fakultative
Sterilität ja nicht mit völliger Sicherheit verbürgen? Oder schreitet er
unter keinen noch so günstigen Umständen jemals zur prophylaktischen
Axcision des Primäraffektes? Legion ist die Zahl der Fragen, die
man in diesem Sinne an den Autor richten könnte und die sicherlich
ihn selber zu einer Revision seiner Ausführungen veranlassen dürften.
Finger fordert hier ausgerechnet von den Prophylaktica Eigenschaften,
die er gewiß von keinem anderen therapeutischen oder prohibitiven
Mittel je beanspruchen würde. Selbstverständlich sind wir verpflichtet,
unsere Patienten, wenn wir ihnen zur individuellen Prophylaxe raten,
darauf nachdrücklichst hinzu weisen, daß alle Vorsichtsmaßregeln nur
einen begrenzten Wert haben und die Ansteckungsgefahr zwar wesent¬
lich herabsetzen, aber keineswegs ausschließen. Diese Ver¬
pflichtung wird ja ein verständiger Arzt auch kaum außer Acht lassen.
Dann ist aber auch nicht erfindlich, warum folgende Erfahrung Fingers,
die ja übrigens ein jeder von uns schon gelegentlich gemacht hat, gegen
die Empfehlung der Prophylaxe sprechen soll. Finger sah einige
Patienten mit schon über eine Woche alter Gonorrhöe, die von den Be¬
treffenden vernachlässigt worden war, weil sie im Vertrauen auf die von
ihnen angewandten Vorbeugungsmittel nicht an die Möglichkeit einer
Ansteckung glaubten und den Ausfluß als Reizerscheinung deuteten.
Hier liegt die Schuld entweder bei einem unvorsichtigen Arzte oder bei
dem Leichtsinn der Patienten, die nicht auf die Mahnung des ärztlichen
Ratgebers hörten; als dritter Faktor spielt gelegentlich wohl auch ein
unglücklicher Zufall seine Rolle in solchen Fällen, die m. E. auch nicht
im Entferntesten geeignet sind, irgend etwas zu beweisen, gegen das
Recht und sogar die Pflicht des Arztes, die individuelle Prophylaxe auf
das Dringendste anzuraten. Das wäre nicht einmal dann der Fall, wenn
die geschilderten Mißerfolge sehr häufig sein würden. Nun muß Finger
natürlich selbst zugeben, daß er den Prozentsatz der Unverläßlichkeit
nicht kennt. Ihm genügt die Konstatierung der Tatsache. Sie dürfte
es aber eben nicht. Wenn auch nur eine einzige Ansteckung durch
die persönliche Prophylaxe verhütet wird, so ist damit das Recht des
Arztes zu ihrer Empfehlung erwiesen. Nun wird doch wohl aber auch
Finger kaum leugnen, daß die sorgsame Anwendung der uns zur Ver¬
fügung stehenden Vorbeugungsmittel in zahlreichen Fällen einen
ausgezeichneten Schutz gegen die Infektion gewährt und schon oft großes
Unglück verhütet hat Auf die Bedeutung der Prophylaktica und ihren
Nutzen haben u. a. Blaschko 1 ) und in anderem Zusammenhänge ich
selbst 2 ) hingewiesen, um das Recht und die Pflicht des Arztes zu ihrer
Empfehlung nachzuweisen; es sei hier an diese beiden Arbeiten erinnert,
in deren letztgenannter ich auch betont habe, daß die unter Umständen
eintretende schädliche Nebenwirkung eines Medikamentes uns von dessen
l ) Unser neues Merkblatt. Mittei Inneren der D. G. B. G. II, 2.
*) Darf der Arzt zum außerehelichen Geschlechtsverkehr raten? Leipzig,
W. Malende, 1904. Referiert in dieser Zeitschrift Bd. II, 11 u. 12.
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Referate.
371
Verordnung keineswegs abhalten darf. Wenn Finger also von der
individuellen Prophylaxis, falls sie von Ärztlicher Seite empfohlen werden
soll, neben der unbedingten Verläßlichkeit überdies „absolut sichere“
Unschädlichkeit verlangt, so ist er auch hierin meines Erachtens ganz
und gar im Unrecht. Wollte er diesem Grundsatz treu bleiben, so würde
er geradezu jeglicher therapeutischen und prophylaktischen Tätigkeit ent¬
sagen müssen. Nicht leichter als ein „unbedingt zuverlässiges“ Mittel
dürfte ein „absolut sicher unschädliches“ zu finden sein. Ja, pflegen
wir doch mit gutem Grunde, jedem Medikament und jeder Behandlungs¬
methode, denen vollkommene Unschädlichkeit nachgerühmt wird, mit
Mißtrauen zu begegnen; wir wissen eben aus tausendfältiger Erfahrung
und auf Grund theoretischer Überlegung, daß eine Behandlung, die sich
als wirksam erweisen soll, in der Regel nicht gänzlich „indifferent“
sein kann.
Die Unhaltbarkeit der Finger sehen Auffassung wird besonders
deutlich, wenn wir sie an der chirurgischen Prophylaxe uod Therapie
prüfen. Die Argumentation, mit der Finger zu beweisen sucht, daß
die Empfehlung der antigonorrhoischen Prophylaktika unstatthaft ist,
muß als unlogisch bezeichnet werden und widerspricht jeder
ärztlichen Gewohnheit und Notwendigkeit. Niemals dürfen wir
darnach fragen, ob eine Behandlungsart auch „völlig zuverlässig“ und
„absolut unschädlich“ ist, sondern nur auf das Verhältnis der ver¬
schiedenen Chancen zu einander kommt es an. Es gilt, den zu erwartenden
Heil- resp. Vorbeugeeffekt mit der möglicherweise eintretenden Schädigung
sorgfältig zu vergleichen; sowohl ihre absolute Größe als auch die Wahr¬
scheinlichkeit ihres Zustandekommens. Sollte Finger etwa die Über¬
zeugung haben, für die er übrigens irgend welchen Beweis nicht erbracht
hätte, daß durch die Anwendung der antigonorrhoischen Prophylaktica
in der großen Mehrzahl der Fälle mehr oder leichter geschadet als ge¬
nützt werde, dann wäre er befugt, die Ärzte vor ihrer Empfehlung zu
warnen. Wer aber mit mir der Ansicht ist, daß der sorgfältige
Gebrauch der Schutzmittel — zu denen ja vor allen auch der
Condon (oder, wie es nach Hans Ferdy richtiger scheint: Condum)
gehört, den Finger in seiner Arbeit garnicht berücksichtigt hat — sehr
viel mehr Leid und Leiden verhütet als vielleicht gelegent¬
lich verschuldet, der muß es als des Arztes Recht und Pflicht
anerkennen, seinen Klienten unter gewissenhafter Erfüllung
seiner übrigen Berufspflichten die individuelle Prophylaxe
dringend ans Herz zu legen. Max Marcuse (Berlin).
Kisch. Das Geschlechtsleben des Weibes in physiologischer, pathologischer und
hygienischer Beziehung. Berlin u. Wien 1904, Urban & Schwarzenberg.
In der Einleitung seiner über 700 Seiten umfassenden Monographie
bekämpft Kisch die Ansichten der Frauenrechtlerinnen über das Ge¬
schlechtsleben als viel zu weitgehend und schildert uns dann die drei
Epochen im sexuellen Leben der Frau, indem er nicht nur die anato¬
mischen Veränderungen, welchen das weibliche Genitale während der
Menarche, Menakure und Menopause unterworfen ist, darstellt, sondern
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372
Heferate.
sieb auch ausführlich mit den seelischen Vorgängen beschäftigt, welche das
Geschlechtsleben des Weibes ausmachen. Unter Heranziehung seiner um¬
fassenden Kenntnisse, welche er sich sowohl durch ein ausgiebiges Studium
der einschlägigen Literatur als auch in einer ausgedehnten ärztlichen
Tätigkeit erworben hat, widmet er besondere Kapitel dem Geschlechts¬
trieb und seiner Pathologie (Masturbation, Nymphomania, Anaesthesia
und Psychopathia sexualis werden gesondert ausführlich besprochen).
Das eigentliche Endziel, dessen Befriedigung der weibliche Geschlechts¬
trieb anstrebt, ist seiner Überzeugung nach keineswegs der „Trieb zur
Mutterschaft“, sondern nur die volle Auslösung des Wollustgefühls durch
Kohabitation mit dem Manne, und der Verf. ist weiterhin der Ansicht,
daß nur Erziehung und Gesittung den weiblichen Geschlechtstrieb
in kulturellen Schranken halten, während er von Natur aus mit be¬
zwingender Gewalt ausgestattet ist. Doch schade die Unterdrückung der
Geschlechtslust ebenso wie ein Übermaß der sexuellen Befriedigung dem
Organismus des Weibes weniger als dem des Mannes. — Verf. erläutert
auch die Gründe, welche für und gegen die Verheiratung kranker Mädchen
sprechen, er verbreitet sich über Kohabitation und Konzeption, Frucht¬
barkeit und Sterilität der Frau, sowie über die Entstehung des Ge¬
schlechtes beim Menschen und den präventiven Geschlechtsverkehr. Zu¬
letzt würdigt er den Einfluß der Rasse, der sexuellen Betätigung der
Frau und ihrer sozialen sowie konstitutionellen Verhältnisse auf die
Menopause und bespricht die Krankheiten und die Hygiene dieser Epoche.
Man kann also wohl sagen, daß die bearbeitete Materie mit außerordent¬
lichem Fleiß in erschöpfender Weise behandelt worden ist und somit den
Stand unserer derzeitigen Kenntnis vom Geschlechtsleben der Frau darstellt.
Bruno Sklarek (Berlin).
Dr. Karl Dohrn. über die geschlechtliche Aufklärung der Jugend. Nach einem
in Cassel gehaltenen Volksvortrag. Halle a/S., Hermann Schroedel.
Dr. Max Marcuse. Die geschlechtliche Aufklärung der Jugend. Nach einem
Vortrag, gehalten im Bund für Mutterschutz zu Berlin. Leipzig, Felix
Dietrich.
K. J. Galandauer. Sexuelle Jugendaufklärung. Sozialer Fortschritt. Hefte
und Flugschriften für Volkswirtschaft und Sozialpolitik. Nr. 40. Leipzig,
Felix Dietrich.
Drei neue Schriftchen, welche die auch von uns vertretene und
gerade in neuerer Zeit viel behandelte Notwendigkeit der sexuellen Auf¬
klärung der Jugend in klarer, gemeinverständlicher Weise eindringlich
befürworten. E. G.
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Zeitschrift
für
Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten
Band 3. 1904/5. Nr. 10.
Die Reglementierung der Prostitution.
Vortrag, gehalten am 14. Dezember 1904 in der Ortsgruppe Frank¬
furt a. M. der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechts¬
krankheiten
von
Dr. Friedrich Hammer (Stuttgart).
Wenn ich der Einladung, hier vor Ihnen über die Reglemen¬
tierung der Prostitution zu sprechen, gerne gefolgt bin, so hat mich
dazu außer der liebenswürdigen Form, in der dieses Ansinnen an
mich herantrat, besonders der Umstand bestimmt, daß mir erklärt
wurde, man wolle speziell einen erfahrenen Polizeiarzt über die
Frage hören. Denn es ist eine auffallende aber unleugbare Tat¬
sache, daß, so viel schon über den Gegenstand geschrieben und
gedruckt wurde, man doch gerade von dieser Seite noch recht
wenig darüber gehört hat
Gewiß wird auch der Arzt, der sich mit der Behandlung der
Geschlechtskrankheiten befaßt, speziell der Vorstand einer Prosti¬
tuiertenahteilung, wertvolle Einsicht in das Wesen der Prostitution
gewinnen können. Von den Schwierigkeiten aber, die schier un¬
übersehbaren Einzelfragen psychologischer, juristischer und medi¬
zinischer Natur mit den damit verknüpften verwaltungstechnischen,
nationalökonomischen, sozialen und politischen Fragen in Einklang
zu bringen, wird sich nur der einen rechten Begriff machen, der
tagtäglich mit der Prostitution im Kampfe liegt.
Einem Polizeiarzte kann es dann leicht scheinen, als ob in
den vielen Kongreßreden und Literaturerzeugnissen, die die große
Bewegung der letzten Jahre gebracht hat, die Zuversicht, mit der
man bestehende Einrichtungen verwirft, und mit der man ganz neue
Systeme aufstellt, in dem Verhältnisse zunimmt, in welchem die
lebendige Kenntnis von dem Wesen der Prostitution abnimmt.
ZeiUchr. f. Bekämpfung d. Geschlechtskranke III. 27
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374
Hammer.
Ich bitte mich nicht mißzuverstehen: Ich möchte damit er¬
klären, wie ein Polizeiarzt in diesen Fragen leicht etwas zu
zurückhaltend und zu bescheiden bezüglich seiner Hoffnungen auf
Besserung werden kann. Durchaus in keiner Weise möchte ich
aber der Dankbarkeit gegen diejenigen Eintrag tun, die aus edlen
menschlichen Gefühlen heraus helfen und bessern wollen, die, ohne
auf die sich entgegentürmenden Schwierigkeiten zu achten, dem
Feind mit allen Waffen des Verstandes zu Leibe gehen, und ohne
die die Frage wohl überhaupt nie in Fluß gekommen wäre.
Die Systeme der Reglementierung in den einzelnen Ländern
und Städten sind von dem unermüdlichen Forscher Blaschko,
der ja bekanntlich der Reglementierung nicht günstig gesinnt ist,
in bewundernswert unparteiischer Weise für die I. Brüsseler inter¬
nationale Konferenz für Prophylaxe der venerischen Krankheiten
zusammengestellt worden. Auf Blaschko stütze ich mich deshalb
auch vielfach in meinen Ausführungen.
Unter Reglementierung versteht man allgemein die Maßregel,
daß man Frauen, die nach eigenem Geständnis oder nachweislich
aus der Unzucht ein Gewerbe machen, einer Reihe von polizei¬
lichen Beschränkungen unterwirft und ihnen dafür die Freiheit
gewährt, ihr Gewerbe ungehindert auszuüben.
Die Art und Weise, wie die Reglementierung geübt wird, war
zu verschiedenen Zeiten sehr verschieden und auch in der Gegen¬
wart bestehen nach dieser Richtung in den einzelnen Staaten
große Unterschiede.
Von den auswärtigen Staaten haben Nordamerika und die
Türkei überhaupt nie eine Reglementierung besessen. England und
Norwegen haben die Reglementierung seit dem Jahre 1888 gänzlich
abgeschafft. Auch die Schweiz hat bis auf Genf keine Reglemen¬
tierung und in Holland ist nur Rotterdam reglementiert. In Italien
wurde die Reglementierung 1888 durch Crispi abgeschafft, aber
1891 durch Nicotera in gemilderter Form wieder eingeführt
Alle anderen Staaten Europas, also Deutschland, Österreich-
Ungarn, Frankreich, Rußland, Dänemark, Rumänien, Spanien und
Portugal haben heute noch ein Überwachungssystem der Prostitution.
Den in diesen Ländern gültigen diesbezüglichen Vorschriften
allen gemeinsam sind folgende drei Punkte:
1. Die Eintragung in die Liste (Inskription),
2. die regelmäßige ärztliche Untersuchung,
3. die zwangsweise Behandlung.
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Die Reglementierung der Prostitution.
375
In Deutschland ist die gewerbliche Unzucht in zwei Para¬
graphen des Reichsstrafgesetzbuches berührt, jedoch in einer Art
und Weise, die die Absichten des Gesetzgebers ganz in Dunkel
hüllt und einen ganz unsicheren Rechtszu9tand herbeigeführt hat.
Während nämlich § 361 ausdrücklich eine polizeiliche Aufsicht
der gewerblichen Unzucht voraussetzt, werden die in diesem Para¬
graphen ebenfalls erwähnten, zu diesem Zweck erlassenen polizei¬
lichen Vorschriften zur Sicherung der Gesundheit, der öffentlichen
Ordnung und des öffentlichen Anstandes durch § 180 wieder in
Frage gestellt Dieser bedroht ohne jede Einschränkung den, der
gewohnheitsmäßig oder aus Eigennutz durch seine Vermittelung
oder durch Gewährung oder Verschaffung von Gelegenheit der Un¬
zucht Vorschub leistet, wegen Kuppelei mit Gefängnis. Während
also die Polizei auf der einen Seite eine Duldung der gewerblichen
Unzucht vorzunehmen berechtigt ist, bleibt das Vermieten einer
Wohnung an eine Prostituierte in jedem Falle strafbar. Ja wenn
man § 180 für sich nimmt, könnte man denken, es sei überhaupt
jede Duldung der Prostitution strafbar.
Wir haben auch tatsächlich in Stuttgart den Fall erlebt, daß
jemand aus Rache sämtliche Vermieter von Wohnungen an In¬
skribierte anzeigte und diesen auch eine Strafe zudiktiert wurde,
ohne daß dadurch allerdings der Weiterbestand der Einrichtung
gefährdet wurde.
Man kann sagen^ daß ein gut Teil der Vorwürfe, die man der
heutigen Reglementierung macht, auf diesen unwürdigen Rechts¬
zustand zurückzuführen ist, der eine folgerichtige Durchführung der
Reglementierung verhindert und zu halben Maßregeln führt.
Wohl lag im Jahre 1898 dem Reichstag ein Antrag auf
entsprechende Abänderung des § 180 vor, aber eine Beschlu߬
fassung erfolgte nicht, wobei wohl auch die Scheu, sich nach der
einen oder anderen Richtung zu entscheiden, mitgespielt hat.
Obwohl nun das Reichsgericht unterm 29. Januar 1883 das
Bordellhalten auf Grund obigen Paragraphs für strafbar erklärt
hat, bestehen dennoch in einer beträchtlichen Anzahl großer und
mittlerer Städte des Deutschen Reiches solche mit Wissen der
Polizei fort.
Die Aussichten auf die Einführung einer gesetzlichen Duldung
der Bordelle in Deutschland sind, wie ich glaube, zwar gegenwärtig
nicht besonders groß, wir müssen jedoch das Für und Wider der¬
selben kurz beleuchten.
27 *
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376
Hammer.
Es ist klar, daß die polizeiliche Überwachung der Prostitution
und besonders ihrer Beziehungen zum Verbrecher- und Zuhältertum
um so mehr erleichtert wird, je kleiner der Raum ist, auf dem
man sie konzentriert. Die Kasernierung ermöglicht es, der Straßen¬
prostitution energischer auf den Leib zu gehen und damit Belästi¬
gungen anständiger Damen auf der Straße, wie überhaupt die zu¬
fällige Berührung des Publikums mit der Prostitution, die besonders
auf die Jugend vergiftend wirken kann, zum größten Teil zu be¬
seitigen.
Von der anderen Seite wird allerdings bestritten, daß die
Bordelle die Straßenprostitution verringern würden, da, wenn die¬
selben ihren Zweck erfüllen sollen, ja doch fiir immer frische Er¬
gänzung der älteren Insassinnen durch jüngere gesorgt werden
müsse. Die älteren würden dadurch auf die Straße getrieben und
würden sicher dort, da ihnen, den verachteten Bordellprostituierten,
jeder andere Ausweg genommen ist, als wilde Prostituierte ihr
Geschäft fortsetzen. Auch dieser Einwand ließe sich beseitigen,
wenn der jetzige innere Widerspruch aus der Gesetzgebung ge¬
nommen und der Polizei ermöglicht würde, auch wirklich eine
strenge Beaufsichtigung der Bordelle in sanitärer wie in moralischer
Beziehung auszuüben. Nur dann kann man auch die jetzt voll¬
kommen rechtlosen Prostituierten vor dem furchtbaren Ausbeutungs¬
und Blutsaugersystem der Bordellwirte schützen, durch das sie jetzt
stets vollkommen mittellos, ja mit Schulden belastet bleiben.
Alle diese Mißstände, die eben hauptsächlich den Bordellen
in ihrer heutigen Gestalt vorgeworfen werden, sind übrigens nach
Mitteilung von Professor Wolff schon jetzt in den Straßburger
Bordellen beseitigt.
Man hat auch in einigen Städten eine Kasernierung in der
Weise vorgenommen, daß man die Prostituierten zwar einzeln
wohnen läßt, aber nur in bestimmten Straßen, in denen keine
anderen Bewohner geduldet werden. Diese Einrichtung vermeidet
manche Nachteile des eigentlichen Bordellbetriebes, ohne dessen Vor*
teile aufzugeben. Sie bietet auch für viele Städte deshalb keine be¬
sonderen Schwierigkeiten, weil dort die Prostitution schon bestimmte
Straßen bevorzugt, die dadurch — oft schon seit Jahrhunderten
— verrufen sind und aus denen man dann nur die anderen Be¬
wohner zu entfernen hätte, was gewiß für die dort aufwachsenden
Kinder äußerst wünschenswert ist. Doch gilt besonders für die
Bordellstraßen der Vorwurf, den man dem Bordellwesen überhaupt
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Die Reglementierung der Prostitution.
377
macht, daß durch dasselbe da9 Aufsuchen der Prostitution zu sehr
erleichtert wird und so gerade junge und unerfahrene Leute zur
Unsittlichkeit verfährt würden. Dem muß aber wieder entgegnet
werden, daß eine gesetzliche Regelung, die wiederholt al9 unbe¬
dingte Voraussetzung für Einführung einer Kasernierung bezeichnet
werden muß, es ja gerade ermöglichen würde, die betr. Straßen
polizeilich abzuschließen und damit Unmündigen, Betrunkenen, ja
auch geschlechtskranken Männern den Eintritt zu verwehren. Denn
die so durchgeführte Kasernierung böte unter Umständen das
einzige Mittel, auch den Mann, „den viel gefährlicheren Mann“,
wie die Frauenrechtlerinnen sagen, einer sanitären Kontrolle zu
unterwerfen und damit auch den so berechtigten Einwand der
Abolitionisten zu beseitigen, daß sich die reglementäre Gesundheits¬
polizei nur einseitig auf den weiblichen Teil erstrecke.
Man sagt ferner, das Bordellwesen wie überhaupt jede Regle¬
mentierung sei deshalb verwerflich, da es bei den jungen Leuten den
Eindruck her vorrufe, als ob die Behörde das Bedürfnis des außer¬
ehelichen Geschlechtsverkehrs im Gegensatz zu den Forderungen der
Moral anerkenne und dadurch, daß sie die Furcht vor Ansteckung ver¬
ringere, ein sehr kräftiges Abschreckungsmittel beseitige. Ich kann
das nicht im ganzen Umfange zugeben, glaube vielmehr, daß der
einigermaßen charakterfeste Jüngling, der einem dunkeln Drange
folgt, eher zum Bewußtsein dessen kommt, was er tut, wenn er eine
deutliche Scheidewand vor sich sieht, hinter der die Prostitution
in einer verborgenen und entehrenden Knechtschaft gehalten wird,
und wenn er weiß, wo er die Schwelle dieses schmutzigen und
gefährlichen Gebietes überschreitet, als wenn die Prostitution, indem
sie ihn auf Schritt und Tritt umlauert, den schlummernden Trieb
in ihm weckt, und wenn seine Unerfahrenheit durch die halbver¬
hüllte Form, in der ihm die Unsittlichkeit begegnet, getäuscht
wird. Die Schwachen und Halbverdorbenen werden freilich auf
diese und jene Art fallen. —
Abgesehen, daß man ja fortwährend auf die großen Gefahren
hin weist, die der Verkehr auch mit eingeschriebenen Prostituierten
mit sich bringt, finde ich, ist das Vertrauen auf die Gefahrlosig¬
keit des Verkehrs mit Inskribierten gar nicht so übermäßig groß,
daß es wesentlich in Betracht käme. Man bekommt freilich öfter,
wenn man einen Angesteckten nach der Infizientin fragt, die Antwort,
Ansteckung sei von dieser Seite ganz ausgeschlossen. Dieses falsche
Vertrauen bezieht sich aber dann selten auf eine Inskribierte,
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378
Hammer.
sondern meistens auf eine verkappte, auf eine heimliche Prostituierte
oder auf ein Mädchen, das auf dem Wege dazu ist, es zu werden,
der eben dann der Betreffende so etwas gar nicht zagetraut hat.
Die Stellung unter Kontrolle, die Inskription, kann auf zwei
Arten erfolgen:
Erstens durch nur freiwillige Meldung. Dieses Verfahren
wird in Stuttgart und Augsburg geübt. Es werden also nur
solche Prostituierte in die Inskriptionsliste eingetragen, die ganz
aus freien Stücken erklären, daß sie sich der gewerblichen Unzucht
ergeben und dagegen verpflichten, sich den polizeilichen Anord¬
nungen nach jeder Richtung zu fügen. Dazu gehört auch die
regelmäßige ärztliche Untersuchung. —
Zweitens findet in den übrigen Städten Deutschlands die
Stellung unter Kontrolle außer auf Grund freiwilliger Erklärung
auch zwangsweise statt Und zwar geht das so zu, daß die
Polizei auf Grund jenes § 361 des Strafgesetzbuches fortgesetzt auf
alle die Frauenspersonen fahndet, welche sich der gewerbsmäßigen
Unzucht verdächtig machen. Die Festnahme findet bei solchen
Dirnen, die der Polizei noch nicht bekannt sind, häufig Nachts auf
der Straße statt, wenn sie durch ihr Benehmen deutlich ihre Ab¬
sichten verraten. Auch kann durch Anzeigen die Aufmerksamkeit
auf solche Personen gelenkt werden, in welchem Falle die Festnahme
manchmal in flagranti erfolgt
Meist vermögen sie eine Beschäftigung, häufig auch ein Unter¬
kommen nicht nachzuweisen. Sie werden dann einer ärztlichen
Untersuchung unterworfen und erhalten, falls sie nicht wegen
Krankheit ins Spital gesprochen werden, eine Verwarnung und die
Auflage, binnen einer bestimmten Zeit einen regelmäßigen Erwerb
nachzuweisen.
Erst wenn die Betreffenden immer wieder wegen Arbeitslosig¬
keit und gewerbsmäßiger Unzucht der Polizei anheimfallen, werden
sie zwangsweise in die Inskriptionsliste eingetragen und müssen
dann regelmäßig zur ärztlichen Visitation erscheinen, wenn sie der
Bestrafung entgehen wollen.
Die Entlassung aus der Kontrolle erfolgt ohne Schwierigkeiten,
wenn die Betreffende einen regelmäßigen Erwerb aufnimmt.
Die Zwangskontrolle mit der zwangsweisen ärztlichen Unter¬
suchung ist es nun hauptsächlich, die denjenigen, die jede Regle¬
mentierung verwerfen, verhattt ist, sie wird aber auch von denen
zu umgehen gesucht, die nur eine Reform der Überwachung anstreben.
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Die Reglementierung der Prostitution.
379
Und es ist erklärlich, daß sie vom einseitigen Standpunkte der
Menschlichkeit und Gerechtigkeit als etwas durchaus Schlimmes,
ja Teuflisches erscheinen muß, denn das ganze System wirkt in
vielen Fällen wie eine Fischreuße, bei der es nur einen Weg gibt,
nämlich nur den, der immer tiefer ins Verderben hineinfiihrt. Denn
wenn eine solche Dirne den Polizeiorganen einmal bekannt ist,
dann ist sie in Gefahr, verhaftet zu werden, wo sie sich auch immer
zeigt, vielleicht sogar, wenn sie einen guten Vorsatz gefaßt hat,
auf dem Weg zur Arbeit oder gerade vor der Abreise. Die Angabe,
daß ein Arbeitsverhältnis aufgenommen worden ist, wird von den
Mädchen natürlich oft in lügnerischer Weise gemacht und zwingt
die Polizei zu Nachforschungen. Beruht sie aber ausnahmsweise
auf Wahrheit, so kann die Nachfrage für das Mädchen ihrem Brot¬
herrn gegenüber leicht nachteilig wirken. Den arbeitsscheuen und
willensarmcn Geschöpfen dient dann natürlich das Verhalten der
Polizei nur gar zu leicht dem eigenen Gewissen und den Vorwürfen
anderer gegenüber als Ausrede, daß es ja doch keinen Zweck habe,
den Versuch zur Besserung zu machen.
Und es gehört zum Traurigsten, was man erleben kann, diese
Unglücklichen zwischen Straße, Wirtshaus, Gefängnis und Kranken¬
haus hin- und hergeschleudert zu sehen.
Es wäre gewiß vorzuziehen, wenn nicht der Machtsprach eines
einzelnen Polizeibeamten, sondern ein gerichtliches Erkenntnis,
wenn auch in noch so einfacher Form, nach entsprechender Ver¬
handlung die Zwangskontrolle verhängen würde. So wie die Sitten¬
kontrolle jetzt gehandhabt wird, hängt von der Persönlichkeit eines
Einzelnen unendlich viel ab und den Abolitionisten ist derselbe
eo ipso der Vertreter eines ruchlosen Systems der Polizeiwillkür
und ein Unmensch. Nach manchen Darstellungen kann man ver¬
sucht sein zu glauben, das Kontrollsystem sei eine freie Erfindung,
das erst die gegenwärtigen schlimmen Zustände hervorgerufen habe,
ja man möchte meinen, es habe vor der Zwangskontrolle keine
Prostitution gegeben. Und doch ist auch die Zwangskontrolle als
bitterer Notbehelf aus den Verhältnissen heraus entstanden, um
die bürgerliche Gesellschaft wenigstens einigermaßen vor den
schädlichen Folgen, die die Prostitution mit sich bringt, zu schützen.
Sicher ist aber die Sittenkontrolle eine der allerschwersten und
undankbarsten Aufgaben der Polizei.
Man hat eben im allgemeinen von einzelnen Schilderungen
und Beobachtungen her, die aber doch immer unter dem Einfluß
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Hammer.
einer vorgefaßten Meinung stehen, eine ganz einseitige und falsche
Vorstellung von der Persönlichkeit der Prostituierten und deshalb
auch keinen rechten Begriff von den Anforderungen, die die Ver¬
handlung mit denselben an die Polizeibeamten stellt.
Lassen Sie mich Ihnen die Haupttypen der Prostituierten und
ihren Entwicklungsgang skizzieren.
Ein solches Mädchen ist vielleicht dadurch, daß es unehelicher
Abstammung ist oder früh seine Eltern verloren hat, bei fremden
Leuten aufgewachsen. Oder es hat seine Eltern noch, dieselben
waren aber selbst liederlich, mindestens aber zu schwach, um ihr
Kind auf dem rechten Wege zu erhalten.
Eine Zeitlang ist das Mädchen aber denn doch als Dienst¬
mädchen oder Fabrikarbeiterin ein nützliches Glied der mensch¬
lichen Gesellschaft.
Das bißchen Freiheit aber, welches ein solches Ding genießt,
der Sonntag oder die abendliche Tanzstunde, wird ihm zum Ver¬
hängnis. Hier öffnet sich ihm der Ausblick auf Genuß und Freude.
Es fängt eine Bekanntschaft an und seine Gedanken sind nun bald
nicht mehr bei der alltäglichen Arbeit, sondern steuern auf den
Abend und den Sonntag zu. Ein neuer Wertbegriff ist in ihm auf¬
gestiegen, der des Begehrtseins. Und dies verdreht ihm bald voll¬
ständig den Kopf. Durch redliche Arbeit • erworbene Zufriedenheit
gibt es nicht mehr, die Ansprüche ans Leben wachsen und von
seiner Stelle weggejagt, findet es bei der reichlichen Nachfrage nur
zu leicht Mittel und Wege, auch ohne Stelle sein Dasein zu fristen.
Niemand, der es nicht selbst mit ansehen muß, macht sich
einen Begriff, wie rasch und gründlich sich der Umwandlungs¬
prozeß von einem ehrbaren Mädchen in eine Dirne abspielt und
was das eigentlich heißt, eine Straßendirne. Kam sie vor wenig
Wochen noch ziemlich sauber angezogen und gekämmt, wohl mit
dem Zug des Leichtsinns im Gesicht, aber doch noch einigermaßen
fähig, die Situation zu beurteilen, in der sie sich befindet, so er¬
scheint sie nun nach jeder Richtung verwahrlost, starrend vor
Schmutz, voller Ungeziefer, und auf ihr Gesicht legt sich ein un¬
endlich trostloser Ausdruck, nicht wie Sie vielleicht glauben, von
Sinnlichkeit und Zügellosigkeit, nein der Verblödung, der absoluten
Hilfs- und Willenlosigkeit, des Abgestumpftseins gegen Strafen wie
gegen Wohltaten.
Es gibt dann noch einen zweiten Haupttypus der wilden Pro¬
stituierten, die in ihrem Äußeren mehr auf sich halten, noch ab
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Die Reglementierung der Prostitution.
381
und zu als Aushilfskellnerinnen oder als Fabrikarbeiterinnen tätig
sind, aber die sich nicht, wie die vorhin schon Geschilderten, mehr
treiben lassen, sondern in eigner Wohnung das Prostitutionsgewerbe
mit fester Kundschaft sehr entschieden betreiben und mit oft großer
Raffinerie dem Gesetz ein Schnippchen zu schlagen verstehen. Bei
ihnen ist auf keine Besserung zu rechnen.
Es ist nun eine ganz falsche Vorstellung, als ob sich diese
Ihnen geschilderten Geschöpfe gegen den Polizeizwang auflehnten
und nur zähneknirschend der Gewalt fügten, als ob sich der letzte
Rest von Schamhaftigkeit gegen die polizeiärztliche Untersuchung
aufbäume. Das sind nur ganz vereinzelte, leicht erregbare Gemüter
die es auf ein Raufen mit der Polizeimannschaft ankommen lassen
und in der Zelle oder im Krankenhaus alles zusammenschlagen, was
ihnen in den Weg kommt. Die größte Mehrzahl ist durch ihren
Entwicklungsgang viel zu abgestumpft und vertiert geworden, als
daß das alles noch viel Eindruck auf sie mache. Es verdient das
um so mehr hervorgehoben zu werden, als die ganze Bewegung des
Abolitionismus ja von edlen Frauen ausging, die in diesen Ge¬
fallenen immer noch die Schwester sehen will und ihnen ihre
eigenen Gefühle unterschiebt.
Um ihnen zu zeigen, wie so manches in diesen trüben Dingen
anders ist als die Voraussetzung, will ich Ihnen eine frappierende
Tatsache als Beispiel mitteilen. Es kommt vor, daß eine solche
Prostituierte, die schon wiederholt bei uns zwangsweise im Spital
war, einmal ausnahmsweise dasselbe freiwillig aufzusuchen für nötig
findet. Alsdann stellt sie eigentlich immer schon von sich aus die
Bitte, daß man sie nicht auf die Freiwilligenabteilung, sondern auf
die Prostitutiertenabteilung, d. h. hinter Schloß und Riegel und
vergitterte Fenster bringt, weil es ihr eben da in den bekannten
Verhältnissen wohler ist Hier gehen Theorie und Praxis ihre
eigenen Wege.
Und ich kann nur immer wieder denen, die sich über das
ihren Mitschwestern angetane Unrecht beklagen, zurufen, daß sie
auch einmal selbst die Hand anlegen und dem Elend ins Auge
sehen möchten. Nach meiner Erfahrung werden dies viele derselben
gar nicht fertig bringen, sondern sich angewidert wegwenden; bei
anderen wird die Ansicht, als lasse sich da mit gutem Willen und
frischem Mut viel erreichen, bald der Überzeugung Platz machen,
daß meist schon der einzelne Fall auch die Kräfte des Willigsten
übersteigt.
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Hammer.
Und sehen Sie, so geht es allen, die von den Gesichtspunkten,
die das Leben des geordneten Menschen beherrschen, an diese
Fragen herangehen. Jeder wird der Übermacht der Tatsachen
gegenüber seine Unzulänglichkeit bekennen müssen. Und fragen
Sie nur auch alle die, welche in moralischer Beziehung auf die
Prostitution einzuwirken versuchen, wie bescheiden dieselben in
ihren Erwartungen bezüglich der Erfolge dem Großen und Ganzen
gegenüber geworden sind.
Wie ich Ihnen schon andeutete, übt Stuttgart die Zwangs¬
kontrolle nicht aus, sondern es ist hier nur eine außerordentlich
kleine Zahl von freiwillig Inskribierten vorhanden, während die all¬
täglich wegen Verdachts der gewerblichen Unzucht Aufgegriffenen
untersucht, wenn krank dem Spital überwiesen und eventuell in
Strafe genommen werden. Es liegt nun ganz sicher auch eine
große Grausamkeit in diesem fortwährenden Indiefreiheitlassen
und Wiedereinfangen und es läßt sich gar nicht bestreiten, daß
der Zwang, sich bestimmten Vorschriften zu unterwerfen, bei einer
Menschengattung, die nun einmal auf keinen Fall arbeiten, sondern
von der Unzucht leben will, auch einen günstigen Einfluß üben
kann. Jedenfalls ist bei uns der Kontrast zwischen denen, die sich
einer gewissen Ordnung unterwerfen und denen, die einer ständigen
Aufsicht nicht unterstehen, ein ganz enormer. Die Inskribierten,
wenigstens die Freiwilligen, die ich ja nur kenne, stellen äußerlich
ein durchaus geordnetes Element dar, das der Polizei bezüglich
der Ordnung und der Durchführung der ärztlichen Beaufsichtigung
so gut wie gar keine Schwierigkeiten macht. Auch im Kranken¬
haus wissen diese Inskribierten durch manierliches Betragen das
Pflegepersonal für sich einzunehmen. Sie würden wohl auch
unschwer zu der von Neisser und Lesser vorgeschlagenen, nur
freiwilligen ärztlichen Kontrolle zu bringen sein. Im Grunde ge¬
nommen haben sie aber auch, so wie es jetzt ist, für gewöhnlich
so gut wie gar nichts mit der Polizei zu tun, nur daß sie im Er¬
krankungsfalle zwangsweise ins Krankenhaus verbracht werden.
Dies fürchten sie natürlich sehr, aber nicht wegen des Zwanges,
sondern wegen des Stockens ihrer Erwerbstätigkeit. Denn wenn
sie, wie meistens geschieht, ihre Wohnung während des Spital¬
aufenthaltes beibehalten, geraten sie bei den großen Abgaben, die
sie an die Vermieter entrichten müssen, leicht in schwere Schulden.
Psychologisch müssen diese freiwillig Inskribierten durchaus
anders beurteilt werden, als die wilden Prostituierten, die, wie wir
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Die Reglementierung der Prostitution.
383
gehört haben, in den meisten Städten zwangsweise unter regel¬
mäßige Kontrolle gestellt werden. Sie haben sich gewissermaßen
mit dem einen Punkte der Moral abgefunden, sind aber gerade,
weil sie an der Verachtung, die sie sich dadurch zuziehen, nicht
leicht tragen, im übrigen anständigen Regungen zugänglich und
bemühen sich geradezu durch musterhaftes Betragen um eine gute
Behandlung, die sie die Niedrigkeit ihres Standes nicht entgelten
läßt. Sie sind es auch, die vielfach durch ungünstige Verhältnisse
und Not dazu gekommen sind, sich zu prostituieren. Manche geben
allerdings geradezu an, sie hätten keinen Grund dazu gehabt. Das
sind wohl die sogenannten geborenen Prostituierten. Sie laufen
von den Eltern aus einem ganz geringfügigen Grunde weg und
treten, ohne sich viel dabei zu denken, unter Kontrolle. Viele tun
es, um die Unterhaltungskosten für ein Kind aufzubringen. Ja wir
haben sogar einmal eine Inskribierte gehabt, die einen Bruder
studieren ließ.
Die Zahl der Inskribierten nimmt in Stuttgart dadurch immer
mehr ab, daß infolge von Beschwerden der Nachbarschaft immer
mehr Wohnungen eingehen und keine neuen mehr geduldet werden.
Es ist mir mehrfach gesagt worden, daß eine solch geringe
Zahl von Inskribierten — etwa eine auf 15—20000 Einwohner —
in sanitärer Beziehung kaum in Betracht kommen könne. Das ist
vollkommen richtig. Allein, wenn ich bedenke, daß diese Inskri¬
bierten zusammengenommen der Polzei weniger Mühe, Arbeit und
Aufregung verursachen, als manche einzelne der wilden Prosti¬
tuierten, so kann ich durchaus nicht einsehen, warum man aus
theoretischen Gründen diese Einrichtung abschaffen soll.
Was nun allerdings die Zwangskontrolle betrifft, so kann ich
mir denke^, daß mit der Größe einer Stadt die Schwierigkeiten
ihrer Durchführung so wachsen, daß ihr Zweck verfehlt wird. Und
tatsächlich findet sie kaum noch irgendwelche Verteidiger. Die
freiwillige Inskription möchte ich aber, wie gesagt, unter allen
Umständen beibehalten wissen.
Fast noch gar nicht habe ich von der sanitären Seite der
Reglementierung gesprochen. Die Unzufriedenheit damit ist gegen¬
wärtig eine recht allgemeine, sowohl von seiten derer, die grund¬
sätzlich dafür sind, als derjenigen, die sie grundsätzlich bekämpfen
und unter allen Umständen abschaffen wollen.
Die ersteren halten sie deshalb für ungenügend, weil die ärzt¬
liche Untersuchung bei den gegenwärtig an den meisten Orten be-
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Hammer.
stehenden Einrichtungen nicht genau genug vorgenommen werden
könne und haben zahlreiche Verbesserungsvorschläge gemacht. Es
ist nun natürlich für einen Arzt, der das Wesen der hier in Betracht
kommenden Geschlechtskrankheiten, Syphilis, Schanker, Tripper
und ihre üblen Folgen gut kennt, nicht schwer, solche Vorschläge
bis ins Einzelne auszuarbeiten und — verstandesgemäß genommen
— ein in sich ganz folgerichtiges System aufzustellen, das aber
meist nur das eine außer acht läßt, nämlich was in Wirklichkeit
durchführbar und erreichbar ist. Ich will Sie mit Einzelheiten
nicht auf halten und nur als charakteristisch anführen, daß man
z. B. verlangt hat, man solle die zu Untersuchenden mehrere, ja
24 Stunden lang vor der ärztlichen Visitation einsperren und scharf
bewachen lassen, damit sie keine Krankheitsspuren verwischen
können. Durch solche auf die Spitze getriebenen Forderungen
schadet man der Sache sehr, denn bei der offensichtigen Un¬
durchführbarkeit derselben liegt der Schluß, den die Gegner der
Reglementierung machen, nur zu nahe: da man die Sache doch nicht
so vornehmen könne, wie man sollte, habe sie auch keinen Zweck.
Die einen wie die andern vergessen aber, daß diese Maßregel,
wie die meisten anderen, die der Mensch trifft, eben nur bis zu
einem gewissen Punkte der Genauigkeit geführt werden kann, über
den hinaus die Schwierigkeiten so wachsen, daß man eben in
Gottes Namen auf ein ideales Resultat verzichten muß. —
Mit Maß und Ziel gestellt, sind natürlich die Forderungen,
die wollen, daß die Einrichtung nicht nur äußerlich da ist, sondern
auch einen inneren Wert hat, berechtigt.
So kann man gewiß verlangen, daß der Arzt, der diese Unter¬
suchungen vornimmt, auch wirklich davon etwas versteht und die
hier in Betracht kommenden Krankheiten genau kenn^
Es scheint, daß sehr häufig die Behörden auf diesen Punkt
bei der Anstellung der Untersuchungsärzte nicht genügend Rück¬
sicht nehmen.
Auch müßten natürlich in großen Städten, was bis jetzt fast
durchgängig nicht der Fall ist, so viele Untersuchungsärzte an¬
gestellt sein, daß auf den einzelnen Fall die genügende Sorgfalt
verwendet werden kann. Nur dann kann die Neissersche For¬
derung, daß auch bei der polizeiärztlichen Visitation auf Gonokokken
untersucht werden soll, zur Durchführung gebracht werden. Diese
Forderung ist durchaus berechtigt, denn auch nach meiner sich
nunmehr auf über zehn Jahre erstreckenden Erfahrung kann ohne
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Die Reglementierung der Prostitution. 385
Gonokokkenuntersuchung der Tripper bei Prostituierten in den
meisten Fällen nicht nachgewiesen werden. Ob dieselbe allerdings
auch bei dem enormen Prostituiertenmaterial der größten Städte
noch ausführbar ist, kann ich nicht entscheiden. Über die Ver¬
besserungsvorschläge, die sich auf das ganze System beziehen, w’erde
ich später sprechen.
Welchen sanitären Nutzen bringt die Reglementierung bezüg¬
lich der Verbeitung der Geschlechtskrankheiten? Das ist die so
naheliegende, aber viel umstrittene Frage, zu deren Bejahung oder
Verneinung man Legionen und abermals Legionen von Zahlen hat
aufmarschieren lassen. Allein das Material, welches man aus der
ganzen Welt für die I. Brüsseler Konferenz für Syphilisprophylaxe
im-Jahre 1897 zusammengetragen hat, füllt dickleibige Bände.
Man hatte dort gehofft, die Frage entscheiden zu können. Welches
aber war das Resultat? Ganz einfach das, daß sich statistisch
weder für noch gegen die Reglementierung etwas beweisen lasse
und zwar mußten das sowohl die Anhänger wie die Gegner zugeben.
Wie ist das möglich, werden Sie fragen, verehrte Anwesende,
von denen vielleicht der eine oder andere sich gerade zum Teil
auf solche Zahlenbeweise hin für oder gegen die Reglementierung
erklärt hat. Ja die scheinbar so glatt und bestimmt dastehenden
Zahlen verbergen doch vieles und werden durch mancherlei Dinge
beeinflußt, an die man zunächst gar nicht denken kann, und die
sich erst bei genauester Kenntnis der einschlägigen Verhältnisse
enthüllen. Bei Benutzung der Statistiken ist aber fast immer der
Wunsch der Vater des Gedankens; man will eben eine schon
vorher feststehende Ansicht damit beweisen. Darum wird man
leicht bei den günstigen Zahlen weniger kritisch sein, als bei den
ungünstigeren, und bei diesen letzteren mit seinem ganzen Scharf¬
sinn herauszubekommen suchen, ob sie sich nicht auch anders
deuten lassen. So kommt es denn, daß man die gleichen Sta¬
tistiken für und wider die Reglementierung verwendet.
Nicht einmal die Verwendung des besten Zahlenmateriales,
das der stehenden Heere, berechtigt zu einwandfreien Vergleichen
der Zustände in den verschiedenen Ländern.
Nach diesen Ausführungen werden Sie mich um so eher von
Zahlenbeweisen entbinden, als im allgemeinen das Beibringen von
Zahlen in Vorträgen nicht besonders beliebt ist.
(Schluß folgt.)
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Tagesgeschichte.
Deutschland.
Gerichtliche Entscheidung.
Gehören die Kosten polizeilich verfügter Behandlung
Geschlechtskranker zum „sächlichen Polizeiaufwand“ oder zu
den Unterstützungen der Krankenkassen? Form und Frist
der Anfechtung aufsichtsbehördlicher Entscheidungen. Zivil-
rechtliche Haftbarkeit der Gemeindebeamten für ihre Ver¬
sehen. (Entschdg. der Kgl. Kreishauptmannschaft Bautzen vom 18. Juni
1902, des Kgl. sächs. OVG. vom 8. November 1902 und des Kgl. Amts¬
gerichts Zittau vom 29. Januar 1904.)
Infolge geschlechtlicher Erkrankung mehrerer Unteroffiziere des
Infanterie-Regiments in Z. hatte das Kommando desselben auf Angabe
der Beteiligten, daß sie sich die Erkrankung von dem Dienstmädchen J.
zugezogen haben, der Polizeibehörde in Z. Mitteilung gemacht. Auf
Veranlassung der letzteren ist die J. dem Polizeiarzt zugeführt worden
und auf Grund seines Gutachtens alsbald durch einen städtischen Schutz¬
mann von ihrer Dienstherrschaft abgeholt und dem Stadtkrankenhaus
zugeführt worden. Die bald nach der Einlieferung in das Krankenhaus
an die OKK. Zittau gerichtete Anfrage wegen Kostenübernahme be¬
antwortete diese verneinend. Seitens der Krankenhausverwaltung bezw.
des Stadtrates ist wegen Bezahlung der Kosten die J. selbst, und da
auch der Erfolg hier ein negativer war, an den Vater der J. heran¬
gegangen worden. In weiterer Folge klagte die J. gegen die OKK. Zittau
bei der Aufsichtsbehörde, dem Stadtrat in Z., auf Anerkenntnis des An¬
spruchs. Dieselbe entschied dahin, daß die Kasse die für freie Kur und
Verpflegung im Krankenhaus entstandenen Kosten zu tragen habe. Hier¬
gegen legte die Kasse Berufung ein. Sie hob hervor, daß wenn ein
Anspruch an die Kasse überhaupt bestehe, denselben höchstens der
Stadtrat habe. Die in § 57 KVG. festgelegten Voraussetzungen seien
erfüllt. Nach mehrfach ergangenen Entscheidungen seien indes Kranken¬
kassen zur Erstattung von Kosten, welche infolge Einschreitens der
Polizei aus öffentlich hygienischen Gründen durch Unterbringung Syphilis-
kranker in einem Krankenhaus entstanden sind, nicht verpflichtet. Diese
Kosten stellten sich als „sächliche Polizeikosten“ dar und seien von den-
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Tagesgeschiehtc.
387
jenigen politischen Gemeinden zu trageD, welche die Kosten der Polizei¬
verwaltung tragen. Die Berufung wurde verworfen.
Gründe: Die Ausführungen der Klägerin haben als beachtlich nicht
angesehen werden können; denn wenn auch nicht zu bestreiten ist, daß
auf die J., wie sie mündlich gelegentlich des Verhandlungstermines zu¬
gegeben hat, stadträtlicherseits dahin eingewirkt worden ist, daß sie sich
wegen des bei ihr bestehenden Verdachtes syphilitischer Erkrankung in
Krankenhausbehandlung begeben möge, so hat sie hierbei doch nicht in
Abrede gestellt, daß, wie die in den Akten des Stadtrates ersichtlichen
Protokolle ergeben, sie sich hiernach aus freien Stücken bereit erklärt
hat, sich einer Kur im Stadtkranken hause zu unterwerfen, und daß von
ihr, während ihrer Behandlung in letzterem, am 18. Juni vorigen Jahres
bei dem Stadtrat darum nachgesucht worden ist, sie so lange in der
Behandlung dortselbst zu belassen, bis durch ärztliches Zeugnis ihre voll¬
ständige Heilung dargetan sei.
Abgesehen hiervon ist bei der vorliegenden Entscheidung für die
Abweisung der Klage vor allem maßgebend gewesen, daß die J. nach
den bei den Akten befindlichen ärztlichen Zeugnissen zu der in Frage
kommenden Zeit tatsächlich erkrankt gewesen ist und der ärztlichen Be¬
handlung bedurft hat, wie sie sich denn nach den angezogenen Akten
des Stadtrates auch wirklich in die Behandlung des Krankenkassenarztes
Dr. T. begeben hat und von diesem angenommen worden ist, mag deren
Krankheit nun, wie von dem Krankenhausarzt und dem Bezirksarzt nach
den Zeugnissen derselben angenommen wird, syphilitischer Natur und
ansteckend gewesen sein oder mag dies bezweifelt werden, was seitens
des Krankenkassenarztes geschehen ist.
Nach dem ersten Nachtrag zu dem revidierten Statut der gemein¬
samen OKK. vom 26. Juni 1894 ist aber der § 14 des Statuts dahin
abgeändert worden, daß an Stelle der in § 13 bezeichneten Unterstützungen
freie Kur und Verpflegung in einem Krankenhaus für alle in § 14, Nr. 1,
des ersten Nachtrages bezeichneten Mitglieder tritt.
Eine Ausnahme von dieser strikten Bestimmung ist nur insoweit
in dem Statut nachgelassen, als Befreiungen von derselben nur von dem
Kassen Vorstand nach Gehör des Kassenarztes zugestanden werden können
— erster Nachtrag Nr. 14 Abs. 3..
Die in Nr. 13 des Statuts gedachten Unterstützungen, an deren
Stelle nach vorstehendem also unbedingt Krankenhausbehandlung zu treten
hat, sind den Kassenmitgliedern nach Abs. 1 schon lediglich im Falle
einer Krankheit zu gewähren.
Da die J. zu den im ersten Nachtrage unter § 14 Nr. 1 auf¬
geführten Mitgliedern unbestrittenermaßen gehört, ein Ausnahmefall von
Absatz 3 dieses Paragraphen bezüglich derselben auch nicht vorlag, so
konnte ihr, da sie krank war, die Krankenhausbehandlung nicht verweigert
werden, und hat sie somit auch Anspruch auf Bezahlung der durch die¬
selbe erwachsenen Kosten.
Nun ist von der OKK. die Berechtigung der J. zur Verfolgung
eines solchen Anspruchs unter Bezugnahme auf § 57 KVG., wie bereits
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388
Tagesgeschichte.
erwähnt, bestritten und behauptet worden, derselbe sei auf den Stadtrat
als Besitzer des Stadtkrankenhauses übergegangen.
Zur Ermittelung der Richtigkeit der von der OKK. nicht bewiesenen
und von dem Stadtrat in Abrede gestellten Behauptung, daß eine Unter¬
stützung der J. durch deren Behandlung im Krankenhaus bereits geleistet
worden sei, lag für das entscheidende Gericht jedoch um deswillen keine
Veranlassung vor, weil, wie der vorliegende Tatbestand ergeben hat, eine
Unterstützungsverpflichtung im Sinne von § 56 KVG. gegenüber der J.
für die Stadtgemeinde Zittau nicht bestanden hat, demnach hier auch
von einem Übergang des betreffenden Unterstützungsanspruchs auf letztere
nicht die Rede sein kann.
Hiermit erledigt sich auch das Eingehen auf die von der OKK. an¬
gezogene Entscheidung des preußischen OVG. vom 25. Oktober 1886.
Gegen diese Entscheidung reichte die OKK. Klage bei dem OVG.
ein und gab diese bei dem Stadtrat Z. zur Übermittlung ab. Das OVG.
trat indes in eine sachliche Prüfung des Streifalles nicht ein und ver¬
warf die Berufung aus einem formellen Grunde.
Aus den Gründen: Nach § 58 Abs. 1 KVG. kann die Ent¬
scheidung der Aufsichtsbehörde binnen vier Wochen nach ihrer Zustellung
mittels Klage im ordentlichen Rechtsweg, soweit aber landesgesetzlich
solche Streitigkeiten dem Verwaltungsstreitverfahren überwiesen sind, wie
dies im Königreich Sachsen durch § 21 unter Nr. 10a des Gesetzes vom
19. Juli 1900 geschehen ist, im Wege des Verwaltungsstreitverfahrens
angefochten werden.
Darüber, in welcher Form und bei welcher Behörde die Klage
einzureichen ist, enthält das Reichsgesetz keine Bestimmung. Man muß
daher davon ausgehen, daß noch innerhalb der vierwöchigen Frist die
Streitsache in der Form „rechtshängig“ gemacht werden muß, welche
landesgesetzlich für das Verwaltungsstreitverfabren vorgeschrieben ist.
Das sächsische Gesetz schreibt im § 34 nur vor, daß die Klage schriftlich
oder zu Protokoll anzubringen ist, sagt aber nicht: bei welcher Behörde.
Nach der Stellung des § 34 in dem Abschnitt des Gesetzes, der von
dem Verfahren vor der Kreishauptmannschaft handelt, sowie im Hinblick
auf die Bestimmung im § 36 Abs. 2 des Gesetzes, wonach in Fällen,
in denen die Erhebung der Klage an eine Frist gebunden ist, die letztere
schon durch rechtzeitige Einreichung bei einem unzuständigen Verwaltungs¬
gerichte für gewahrt gilt, kann unter dieser Behörde nur ein Ver¬
waltungsgericht verstanden werden. Da nun aber auch eine analoge An¬
wendung der im § 78, Abs. 1 und 4, des Gesetzes nur für die An¬
fechtungsklage getroffenen Bestimmung nach Ansicht des OVG. aus¬
geschlossen ist, so folgt hieraus, daß die Rechtshängigkeit einer Ver¬
waltungsstreitsache, worauf das OVG. schon in seinem Urteil vom
30. Oktober 1901 zu Nr. 189 I F. — Jahrbücher Band I, Seite 289 flg. —
hingewiesen hat, nur dann eintritt, wenn infolge förmlicher Klageerhebung
ein Verwaltungsgericht, sei es auch örtlich unzuständig, mit ihr sich be¬
faßt, daß dagegen durch die Anbringung der Klage bei einer Verwaltungs¬
behörde die Rechtshängigkeit noch nicht begründet wird.
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Tagesgeschichte.
389
Im vorliegenden Fall ist nun die Klage zwar innerhalb der im
Reichsgesetz vorgesehenen Frist bei der Aufsichtsbehörde angebracht
worden, allein erst einen Tag nach Ablauf dieser Frist bei dem Ver¬
waltungsgericht 1. Instanz eingegangen und deshalb nach Vorstehendem
als versäumt anzusehen. Wenn nun aber die im § 58, Abs. 1, de3 KVG.
geordnete Frist eine sogenannte Ausschlußfrist ist und ihre Wahrung
deshalb in allen Instanzen von Amtswegen zu prüfen ist, so mußte es
aus diesem formellen Grund bei der durch die erste Instanz aus sach¬
lichen Gründen bewirkten Abweisung der Klage belassen und die gegen
letztere gerichtete Berufung, ohne daß es der mündlichen Verhandlung
vor dem OVG. bedurfte (§ 26, Abs. 1 des Gesetzes) verworfen werden.
Es bewendet daher bei der von der Aufsichtsbehörde getroffenen Ent¬
scheidung.
Da demzufolge nur die Entscheidung des Stadtrates als Aufsichts¬
behörde maßgebend war, wurde die Kasse zur Zahlung der strittigen
Kosten herangezogen. Sie klagte jedoch bei dem Amtsgericht Zittau
.gegen die Stadtgemeinde auf Erstattung der von ihr aufgebrachten Kosten
— insgesamt 103,15 M. — und führte zur Begründung an, daß an der
Abweisung der Klage durch das OVG. nur der Stadtrat schuld sei,
welcher es verabsäumt habe, die Klage rechtzeitig weiterzugeben. Hätte
der Stadtrat ihr, der OKK., nicht mitgeteilt, daß die Klage bei ihm ein¬
zureichen sei, so würde sie die Klage direkt bei der KgL Kreishaupt¬
mannschaft angebracht haben. Aber auch dann wäre die Klage noch
rechtzeitig erhoben gewesen, wenn sie der Stadtrat unverzüglich weiter¬
gegeben hätte. Die Berufung aber würde zweifellos Erfolg gehabt haben,
wenn sie nicht aus dem formellen Grunde zurückgewiesen worden wäre.
Die beklagte Gemeinde beantragte Abweisung der Klage, da es sich nicht
um die Verletzung einer direkten Vorschrift, sondern um eine Aus¬
legungsfrage handelt. Es sei aber kein Verschulden, wenn sich jemand
bei einer Auslegnngsfrage irre, namentlich dann nicht, wenn das be¬
treffende Gesetz erst kurz zuvor in Kraft getreten ist. Die Klage der
OKK. wurde abgewiesen.
Entscheidungsgründe: Die Klage ist unbegründet, denn selbst
wenn ein Verschulden des Stadtrats darin zu erblicken wäre, daß
er der Klägerin mitgeteilt hat, die Klage sei mit Einreichung einer
Abschrift bei dem Stadtrat zu erheben, und daß er die eingereichte
Klage nicht bis Ablauf des 5. Dezember 1901 der Kgl. Kreishauptmann¬
schaft Bautzen übermittelt hat, so würde doch eine Haftung der be¬
klagten Gemeinde für ein solches Verschulden nicht begründet sein, da
eine Vertretung der Beklagten in ihren privatrechtlichen Beziehungen
durch den Stadtrat hier gar nicht in Frage kommt, und eine Haftung
der Gemeinde für Verschulden ihrer Beamten bei Ausübung der
ihnen vom Staat übertragenen Funktionen auch vor Inkrafttreten des
Deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches keine gesetzliche Anerkennung ge¬
funden hat.
Zeitschr. f. Bekämpfung d. Geschlechtskran kh. IiL
28
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390
Tagesgeschichte.
Verschiedenes.
Das preußische Ausführungsgesetz zum Reichsseuchengesetz ist jetzt
unter dem Titel: Gesetz, betreffend die Bekämpfung übertrag¬
barer Krankheiten erschienen. Auf die venerischen Krankheiten wird
in demselben nur in den §§ 9, 12 und 14 Bezug genommen. Danach
kann bei Syphilis, Tripper und Schanker bei Personen, welche gewerbs¬
mäßig Unzucht treiben, die Beobachtung kranker, krankheits- oder an¬
steckungsverdächtiger Personen (§ 12) und die Absonderung kranker
Personen (§14 Abs. 2) angeordnet werden. Mit dieser Bestimmung wird
eigentlich für die Reglementierung in Preußen überhaupt erst eine
gesetzliche Basis geschaffen.
Gefallen ist in dem Gesetz die Verpflichtung der Ärzte, geschlechts-
kranke Militärpersonen, welche sich bei ihnen behandeln lassen wollen, dem
Kommandeur des zuständigen Truppenteils zu melden. Der Fortfall dieser
Bestimmung ist der dahingehenden Eingabe unserer Gesellschaft (s. „Mit¬
teilungen“ BcLII, Nr. 3/4) zu danken, sowie der energischen Fürsprache*
welche diese Eingabe sowohl in der Kommission, als auch im Plenum
durch den Abgeordneten Dr. Münsterberg erfahren hat.
Auf dem 27. Deutschen Haus- und Grundbesitzertag in München
referierte Dr. jur. König (Berlin) über das Thema „Hausbesitz und
Prostitution“. Er ging zunächst auf die rechtliche Seite der Prosti¬
tutionsfrage ein und warf die Frage auf, ob der Hausbesitzer zivilrecht¬
lich gegen die in seinem Hause betriebene Prostitution — sei es, daß
diese von einer Mieterin oder von einer Untermieterin betrieben wird —
mit Erfolg einschreiten könne. Es könne keinem Zweifel unterliegen*
daß das Bürgerliche Gesetzbuch dem Vermieter hinreichend Handhabe
biete, sich der Prostitution zu erwehren und diese aus seinem Grund¬
stück zu vertreiben. Ja, der Vermieter sei sogar nach dem Stande der
neueren Judikatur gegenüber der in der Nachbarschaft auftretenden Pro¬
stitution keineswegs schutzlos. Das Reichsgericht habe neuerdings einen
Schadenersatzanspruch und weiterhin einen Anspruch auf Unterlassung
des anstößigen Treibens zugebilligt, und es sei in solchen Fällen das
bloße Bewußtsein, daß die Nachbarn durch das Treiben be¬
lästigt werden, dem Vorsatz gleich erachtet worden. Als unerheblich,
und dies verdiene besonders hervorgehoben zu werden, sei es bezeichnet
worden, ob in der Nachbarschaft sich Dirnen in größerer Zahl eingemietet
haben. Auch dem Besitzer eines in einer verrufenen Gegend gelegenen
Grundstückes habe das Reichsgericht einen Anspruch auf Unterlassung
zuerkannt. Müsse man demnach zugestehen, daß der Hausbesitzer sich
gegen die Prostitution, die in seinem Grundstücke Fuß fassen wolle,
sehr wohl schützen könne, so könne man sich ferner nicht verhehlen,
daß die Verwaltungsbehörden dem Hausbesitzer in neuerer Zeit mehr¬
fach insofern Entgegenkommen zeigen, als sie ihm auf die Anfrage, ob
eine in seinem Hause wohnende, von ihm namentlich bezeichnete Person
unter sittenpolizeilicher Kontrolle stehe, Auskunft zu erteilen pflegen.
Redner nimmt speziell auf Berliner Verhältnisse Bezug und bemängelt
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Tagesgeschichtc.
391
es, daß der Hausbesitzer nicht generell davon Kenntnis erhalten könne,
ob ein Haus im ganzen von Prostituierten freigeblieben sei, sondern
daß er nur mit einer Anfrage über bestimmte, namentlich bezeichnete
Personen an die Polizei herantreten könne. Hierin eine Änderung zu
schaffen, wäre äußerst verdienstlich. Was die strafrechtliche Seite
der Materie betreffe, so seien zwei Bestimmungen des Strafgestzbuches
in Betracht zu ziehen: einmal der § 361 und sodann der bereits er¬
wähnte § 180. Ein schärferer Widerspruch, als er zwischen diesen beiden
Gesetzesvorschriften bestehe, sei kaum denkbar. Der § 361 sanktioniere
die gewerbliche Unzucht, sofern sie mit Einhaltung der polizeilichen
Anordnungen betrieben werde. Im § 180 werde dagegen die Vorschub¬
leistung zur Kuppelei mit Strafe bedroht. Hiernach erscheine es logisch
gerechtfertigt, die Polizei als der Kuppelei schuldig anzusprechen,
wenn sie sich nicht verpflichtet fühle, den Hausbesitzer unverzüglich von
dem Wohnen einer Prostituierten in seinem Hause zu benachrichtigen.
Zu der einen Tür werde die gewerbsmäßige Unzucht durch
das Gesetz hereingelassen, zu der anderen durch ein anderes
Gesetz hinausgeworfen. Im Vordergründe des Interesses der Haus¬
besitzer stehe der § 180 und die Rechtsanschauungen, die sich bezüg¬
lich der Auslegung dieses Paragraphen im Laufe der Zeit herausgebildet
haben.
Der Vortragende erörtert die Voraussetzungen, die zur Anwendung
des § 180 erfordert werden: einmal muß Unzucht vor liegen, sodann
muß der Unzucht Vorschub geleistet sein, und zwar entweder durch
Vermittelung oder durch Verschaffung von Gelegenheit, und schließlich
muß das Vorschubleisten gewohnheitsmäßig oder aus Eigennutz erfolgen.
Der strafbare Tatbestand der Kuppelei sei hiernach außerordentlich leicht
gegeben. So wäre vor einigen Jahren ein Dienstmann verurteilt worden,
der einem Ortsfremden auf sein Ansuchen den Weg zu einem Bordell
gezeigt hatte. In der von dem Dienstmann übernommenen Führerrolle
erblickte das Gericht die „Vermittelung“ und in der taxmäßigen Bezah¬
lung den „Eigennutz“. Unter Zugrundelegung einer solchen Rechtsauf¬
fassung sei ein Hausbesitzer wegen Kuppelei strafbar, wenn er durch
Gewährung eines geeigneten Ortes der Unzucht Vorschub leiste, nament¬
lich also, wenn er wissentlich Räume zu unsittlichen Zwecken vermiete
bezw. wenn er, sobald er von dem Treiben Kenntnis erlange, das Miet¬
verhältnis nicht auf löse. Dabei sei zu bemerken, daß die Gerichte einen
„Eigennutz“ selbst dann als vorliegend ansehen, wenn der ausbedungene
Mietzins ein normaler sei. Bei aller Rigorosität in der Anwendung des
des § 180 könne doch eine Bestrafung niemals eintreten, wenn nicht
dem betreffenden Hausbesitzer ein Verschulden zur Last falle. Allerdings
könne die verworrene und unzulängliche Lehre von der Willensschuld,
die unser derzeitiges Strafrecht beherrsche, insbesondere aber der dok¬
trinäre Begriff des Dolus eventualis, der zufolge seiner nichts weniger
als einheitlichen Deutung dem Richter einen unerwünscht weiten Spiel¬
raum lasse, leicht dazu führen, einen Dolus dann als vorliegend zu er¬
achten, wenn der Hausbesitzer lediglich fahrlässig gehandelt und es an
demjenigen Maß von Aufmerksamkeit und Sorgfalt habe fehlen lassen,
28*
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392
Tagesgeschichte.
das die heutige Iiechtsanschauung als ein nahezu unerläßliches Requisit
hinstelle. Immerhin aber werde man zugeben müssen, daß jede Be¬
strafung aus § 180 ein Verschulden bedingt Meine man, was Redner
als Jurist für wenig wahrscheinlich hält, daß von seiten der Gerichte
gegen diesen Grundsatz gefehlt werde, so möge man dahin vorstellig
werden, daß dem § 180 ein Zusatz gegeben werde, der unzweideutig
festsetze, daß ein Hausbesitzer lediglich dann der Kuppelei schuldig sei,
wenn er wissentlich an Prostituierte vermiete oder Prostituierte nach
Kenntnis ihres unsittlichen Gewerbes in seinem Hause dulde. Mit dem
früher vom Zentralverbande erstrebten Zusatz zum § 180, der den Haus¬
besitzern, die wissentlich an Prostituierte zu normalem Mietpreise ver¬
mieten, Straflosigkeit gewährleisten solle, könne er (Redner) sich nicht
einverstanden erklären. Das heiße für die Hausbesitzer eine Ausnahme¬
moral schaffen wollen und sich in schlechtes Licht setzen. Wo aber, so
werde man ihm, dem Redner, entgegenbalten, sollen die öffentlichen
Dirnen wohnen? Diese Frage sei zwar durchaus berechtigt, sie interessiere
aber weniger die Hausbesitzer, als vielmehr den Staat. Oder solle etwa
der Hausbesitzer, um das Wohnungsbedürfnis der Prostituierten zu be¬
friedigen, eine Handlungsweise auf sich nehmen, die der Staat als ver¬
pönt erachte? Der Staat müsse in der Erwägung, daß die Prostitution
ein notwendiges Übel sei, helfend eingreifen. Kümmere er sich un¬
berechtigterweise um das Wohnungsbedürfnis der Beamten, indem er die
Baugenossenschaften unterstütze, so möge er hier sich berechtigtermaßen
des Wohnungsbedürfnisses der Prostituierten annehmen und im Wege
der Öffentlich anerkannten Einrichtung von Bordellen die Pro¬
stitution in gewissen Schranken halten. Es sei unverständlich, aus
welchen Gründen man sich der Kasernierung gegenüber ablehnend ver¬
halte, habe sie doch früher — in Berlin bis zum Jahre 1846 — offiziell
bestanden. Schon der Umstand, daß mit der Kasernierung der Prosti¬
tution das Zuhältertum verschwinden würde(??), fordere gebieterisch die
Einrichtung öffentlicher Häuser, eine Maßnahme, die zum Wohle der All¬
gemeinheit, zum Wohle für Kirche und Schule, zum Wohle der öffent¬
lichen Gesundheitspflege sich in unserm dekadenten Zeitalter ausnehmen
würde wie eine Oase in der Wüste!
In der Debatte verlangte Rechtsanwalt Dr. Strauss (München)
vom kriminalpolitischen Standpunkte aus in erster Linie eine Beseitigung
des § 180 , da unter dessen Wirksamkeit die Errichtung von Bor¬
dellen nahezu unmöglich sei, wie das Beispiel Hamburgs beweise,
dessen Polizeisenat im Reichstage offen der Kuppelei beschuldigt worden
sei. Der Verbandstag stimmte schließlich folgenden Leitsätzen des
Rechtsanwalts Dr. Cohen (Hamburg) zu: „Unbeachtet des zivilrechtlichen
Schutzes, den das Bürgerliche Gesetzbuch und die Rechtsprechung dem
Hausbesitzer gegenüber der Prostitution gewähren, erscheint es mit Rück¬
sicht darauf, daß die Prostituierten irgendwo wohnen müssen, den Haus¬
besitzern aber unmöglich zugemutet werden kann, neben zahllosen Zivil¬
prozessen die ständige Gefahr der strafrechtlichen Verfolgung wegen
Vergehens nach § 180 auf sich zu laden, als eine gebieterische Not¬
wendigkeit, daß der Staat in der Erwägung, daß die Prostitution ein
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Tagesgeschichte.
393
notwendiges Übel ist, sowohl nach der zivil- als auch strafrechiliehen
Seite hin Gesetzesbestimmungen trifft, welche die gerügte, die Grund¬
eigentümer gefährdende Sachlage zu beseitigen geeignet sind.“ Ferner
wurde noch folgender Antrag Hartmann (Dresden) angenommen: „Der
Verbandstag beauftragt den Verbandsdirektor, beim Reichstag, Bundes¬
rat und den einzelnen Landesregierungen dahin vorstellig zu werden,
daß die Polizeibehörden angewiesen werden möchten, den Prostituierten
das Wohnen in denjenigen Häusern zu verbieten, deren Besitzer dies
von der Polizei verlangen.“
Der „Frankfurter Zeitung“ wird aus Mannheim unterm 31. Juli
geschrieben: „Auf dem Platze der ehemaligen Zementfabrik im Jungbusch¬
stadtteil beabsichtigte ein Konsortium eine Kolonie von Villen für Bor¬
dellzwecke einzurichten. Der Gemeinnützige Verein des Stadtteils
hatte auf heute Abend eine Protestversammlung wegen dieses Vor¬
habens einberufen, aber noch im Laufe des Tages teilte das Bezirksamt
dem Vorstand des Vereins mit, daß die Behörde die Bedürfnisfrage für
den erwähnten Zweck verneint habe. Der Prozeß, den die Nachbar¬
schaft einer andern Straße, wo das Bezirksamt die Einrichtung von Bor¬
dells geduldet hatte, gegen die Besitzer der Häuser geführt hat, ist kürz¬
lich in erster Instanz zugunsten der Kläger entschieden worden.“
Der „Hannoversche Anzeiger“ bringt unter dem 29. August nach¬
folgende Notiz: „Der in Hannover seit etwa einem halben Jahre gemachte
Versuch der Kasernierung der Prostituierten ist nicht von Dauer
gewesen. Im vorigen Herbst wurden in der Seydlitzstraße mehrere
Häuser von einer Gesellschaft an gekauft und obigem Zwecke dienstbar
gemacht. Die hierbei zutage getretenen mannigfachen Mißhelligkeiten
veranlaßten naturgemäß die Anwohner, Schritte zur Abhilfe derselben
zu unternehmen, welche nunmehr von Erfolg gekrönt sind. Laut Ver¬
fügung der zuständigen Behörde ist nämlich ein Grundstück binnen
10 Tagen zu räumen, während die übrigen innerhalb eines Vierteljahres
zu verlassen sind. Zum Erlaß der Verfügung dürfte die kürzlich er¬
folgte Bestrafung eines „Hausverwalters“ wegen Kuppelei und unbefugter
Ausübung des Schankgewerbes mit ausschlaggebend gewesen sein. Ein
umfangreiches Grundstück wurde erst kürzlich zu dem Komplex hinzu¬
gekauft, dessen sämtlichen Bewohnern zum 1. Oktober gekündigt wurde.
Ob unter den neuen Verhältnissen eine Abtretung des verkauften Ob¬
jektes zur Tatsache wird, dürfte zweifelhaft erscheinen. Jedenfalls herrscht
unter den Bewohnern der „sehr populär“ gewordenen Seydlitzstraße
große Freude, umsomehr, als von einer „Kasernierung“ nur in be¬
schränktem Maße die Rede sein konnte.“
Wir geben obige Notizen in ihrem ganzen Wortlaut wieder, um
zu zeigen, auf wie große Schwierigkeiten die Einführung sogenannter
Bordellstraßen allerorten in der Bevölkerung stößt, und daß auch die
Presse, selbst wenn sie sich theoretisch einmal auf den Standpunkt der
Bordellstraßenanhänger stellt, in jedem Einzelfalle praktisch die Partei
der Bevölkerungskreise ergreift, welche gegen die Einrichtung von Bor¬
dellstraßen Front machen.
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394
Tagesgeschichte.
Über die Syphilis im tropischen Osten schreibt Dr. Gustav-
Fritsch in der „Heilkunde“:
„Leider spielt die Syphilis unter den Eingeborenen der tropischen
Länder eine hervorragende, zuweilen verhängnisvolle Rolle. Der sehr
freie Geschlechtsverkehr unter den männlichen und weiblichen Kulis,
die ganze ungebundene Lebensweise und bei den Mädchen das Verlangen,
ihren spärlichen Lohn durch Liebesabenteuer zu erhöhen, macht ein An¬
kämpfen gegen die Geschlechtskrankheiten durch das so schon mit Arbeit
überhäufte ärztliche Personal fast aussichtslos.
Wird doch selbst in der englischen Armee den Geschlechtskranken
keine besondere Aufmerksamkeit gewidmet, so daß gerade die englischen
Soldaten vielfach zur Verbreitung dieser Krankheiten beitragen.
Von Zeit zu Zeit werden wohl auf den Plantagen die unverheirateten
weiblichen Personen einer zwangsweisen Untersuchung unterzogen und
die geschlechtskranken ins Spital gesteckt, aber ohne daß die Ärzte
selbst sich davon einen dauernden Erfolg versprechen. Noch indifferenter
ist man gegen gonorrhoische Infektionen, obwohl gerade in den
heißen Ländern metastatische schwere Erscheinungen, z. B. gonorrhoische
Kniegelenkentzündungen, recht häufig sind.
Auch unter den nigritischen Andamanen ist Syphilis außer¬
ordentlich verbreitet und wird hier für die Nation zum Verhängnis, da
es fast ganz an gesunden Kindern fehlt und die Bevölkerungszahl rapid
zurückgeht.
Die Behandlung unterliegt im tropischen Osten denselben Bedenken
in betreff ihrer Unzulänglichkeit als in Europa und wird mit denselben
Mitteln versucht. Bemerkenswert ist, daß die hiesige farbige Bevölkerung
ebenso wie in Afrika eine besonders große Empfindlichkeit gegen Queck¬
silber zu haben scheint, so daß Inunktionen mit einer gewissen Vorsicht
anzuwenden sind; man zieht daher an manchen Orten (Andamanen) In¬
halationen von Kalomel vor und erzielt auch damit sehr bald eine all¬
gemeine Quecksilber Wirkung. Die blutreinigenden Tees werden daneben
sehr geschätzt.“
Frankreich.
Außerparlamentarische Kommission über die Reglementierung der
Prostitution in Paris.
Im weiteren Verlaufe ihrer Verhandlungen hielt die außerparlamen¬
tarische Kommission 4 Sitzungen ab, über die wir im nachfolgenden
berichten.
In der ersten Januarsitzung legt M. Feuilloley den Text vor,
mit dessen Abfassung ihn ein Beschluß vom 7. Dezember vorigen Jahres
beauftragt hatte. Er unterbreitet folgende Fassung, die ohne Widerspruch
angenommen wird: „Wer durch Haltung, Bewegungen oder Worte, die
unsittlich oder gegen die gute Sitte verstoßend sind, Personen auf öffent¬
licher Straße zur Unzucht verleitet —“.
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Tagesgeschichte.
395
M. Brunot, der mit der Ausarbeitung der Bestimmung betraut
worden war, welche die Ansammlung von Prostituierten auf öffentlicher
Straße verhindern soll, erklärt, daß es ihm nicht gelungen sei, eine
Fassung zu finden, die sich mit den bisherigen Beschlüssen vereinigen ließe.
Daraufhin wird die Diskussion über den beantragten Zusatz zum
Artikel 334 des Strafgesetzes eröffnet.
M. Hennequin bemerkt, daß sich der VerbesserungsVorschlag
Bulots, ohne es eigentlich zu präzisieren, vor allem gegen das Bordell
und seinen Eigentümer richtet, der sich dazu hergibt, die Frauen aus¬
zubeuten; es handle sich also um die Abschaffung der Bordelle. Redner
meint, daß es ratsam wäre, bevor man auf den Wert und die Möglich¬
keit dieser Reform einginge, die Vergangenheit zu befragen; er weist
nach, daß man in Frankreich nach mannigfachen Versuchen zur Kaser¬
nierung der Prostituierten zurückkehren mußte. Auf die Verhältnisse
in anderen Ländern eingehend, bemerkt er, daß in Europa nur drei
Länder das Verbot der öffentlichen Häuser durchgesetzt haben: England,
Deutschland und die Schweiz. Von diesen Ländern haben aber mindestens
zwei sich der gewonnenen Resultate wenig freuen können. Selbst in
Italien, das man oft anfiihrt, sei die Zahl der öffentlichen Häuser im
Verhältnis zur Bevölkerung fast doppelt so groß als in Frankreich.
Hennequin ist der Ansicht, daß die Abschaffung der Häuser eine Gefahr
bedeuten könne und daß daher ihr Vorhandensein nützlich sei. Ihre
Abschaffung würde großen Schwierigkeiten seitens der städtischen Be¬
hörden begegnen und nur mit einem Mißerfolg endigen. Redner wirft
die Frage auf, ob, da in den großen Städten diese Häuser ohnehin immer
mehr zurückgehen, es nicht besser, praktischer und sicherer wäre, die
Zeit ihr Werk tun zu lassen, als Gefahr zu laufen, durch eine
gewaltsame gesetzliche Reform die Lage zu verschlimmern. Seiner An¬
sicht nach seien die Gründe dieses Rückganges wenig erfreuliche, da sie
nicht etwa in einer Verbesserung der Sitten zu suchen, sondern eher
der Ausdruck einer Andernng des Verfahrens oder der Gewohnheiten
seien: des Wunsches der Wirte, sich ihren Verpflichtungen zu entziehen,
der Vermehrung der heimlichen Prostituierten, des Vertriebs geschmuggelter
Getränke usw. Redner schließt mit einem Hinweis auf Macchiavellis
Rat, von zwei Übeln das kleinere zu wählen.
Professor Gide drückt sein lebhaftes Bedauern darüber aus, daß
M. Bulot seinen Antrag zurückziehen wolle und erklärt seine Solidarität
mit jenen Mitgliedern der Kommission, die ihn wieder aufgenommen haben.
Dreierlei Argumente, sagt er, sind gegen den Antrag ins Feld geführt
worden. Das erste und älteste, jenes, dem Senator Berenger die
Autorität seines Wortes geliehen hat, gründet sich auf die Notwendigkeit
der öffentlichen Häuser vom Standpunkte der sozialen Ordnung aus. Was
bedeutet dieser Gedanke der sozialen Notwendigkeit? Meint man damit
die Notwendigkeit des sexuellen Verkehrs? Es ist doch ein Unterschied
zwischen dieser Notwendigkeit und jener einer ständigen Einrichtung,
einer Industrie. Mit unsäglichem Ekel und Abscheu steht man vor
dieser Doktrin, die es für schlechterdings unumgänglich hält, dem weib¬
lichen Geschlecht einen Tribut aufzuerlegen und es den fleischlichen
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396
Tagesgeschiehte.
Gelüsten des Mannes zu opfern und Ausnahmegesetze, Vorbehalte zu
schaffen, eine Auswahl zu treffen zugunsten des Mannes uod zum Schaden
der Frau. Dieser Grundsatz ist nicht nur herzlos, sondern auch tatsächlich
unrichtig; er ist vollständig unbegründet.
Man findet eine ganze Reihe von Ländern, in denen öffentliche
Häuser nicht existieren. M. Henne quin hat einige davon angeführt,
z. B. die Schweiz, wo wir das Bordell nur in Genf antreffen. Könnte
M. Hennequin nicht eine Statistik der Vergewaltigungen und der Ver¬
gehen gegen die Sittlichkeit aufstellen, die in den Schweizer Kantonen,
in denen es keine öffentlichen Häuser gibt, begangen wurden und dann
der Kommission mitteilen, ob diese zwei Verbrechen sich irgendwo
häufiger vorfinden als in Genf, das öffentliche Häuser besitzt.
Man veranstalte eine Enquöte! Professor Gide ist überzeugt, daß
sie ein negatives Resultat ergeben würde.
Jene Behauptung, daß das Interesse der öffentlichen Ordnung die
Erhaltung der Häuser bedinge, beruht auf keinerlei Tatsachen, das
Argument Berengers verliert jede Basis. Das hieße doch wahrlich sich
eine zu pessimistische Auffassung der menschlichen Natur formen, eine
tatsächlich falsche Auffassung, wenn man annehmen wollte, es müßten
Kanäle geschaffen werden, um das Übermaß menschlicher Kraftüberfülle
dadurch abzuleiten. Hat Senator Berenger nicht von den öffentlichen
Häusern gesprochen, als seien sie eine Art Zubehör zu unseren Universi¬
täten? In Oxford aber, in Cambridge, da gibt es kein öffentliches Haus,
und doch können die Frauen und Töchter der Professoren dieser Uni¬
versitäten in aller Ruhe spazieren gehen. Niemand wird sie behelligen.
Es sind Juristen in dieser Versammlung. Nun gut! Professor Gide
fordert sie auf, auszusagen, ob nicht neun Zehntel der wegen Notzucht
oder wegen Vergehens gegen die Sittlichkeit Belangten gerade ständige
Besucher von öffentlichen Häusern sind. Diese Häuser sind wahre Treib¬
häuser, in denen erst der Geschlechtstrieb entwickelt, überhitzt, über¬
reizt wird. So liegt die eigentliche Gefahr nicht dort, wo man sie
suchen zu müssen glaubt. Gerade umgekehrt ist es. Das öffentliche
Haus ist der günstigste Boden für die Verbrechen, die sexuelle Über¬
reizung ruft sie erst hervor.
Man hat als zweites Argument angeführt, daß, wenn die Prostitution
kein Delikt sei, ihre gewerbliche Ausnutzung auch keines sein könne.
Auch dieses — juristische — Argument erklärt Gide als unhaltbar.
Die gewerbliche Ausnutzung der Prostitution könne, sagt er, un¬
bestreitbar als Delikt angesehen werden. Eben habe man vom Selbst¬
morde gesprochen und erklärt, daß jemand, der dem Selbstmörder half,
sich zu töten, nicht strafbar sei. Hier liege ein Akt der Mitschuld vor,
in unserem Falle jedoch eigentlich nicht. Der Besitzer eines öffent¬
lichen Hauses begeht keinen Akt der Mitschuld, sondern er übt ein
Gewerbe aus. Ein amerikanischer Romanschreiber hat einen Roman ver¬
öffentlicht, in dem er einen „Klub der Selbstmörder“ schildert, einen
Klub, dessen Zweck es ist, seinen Mitgliedern möglichst angenehme
Selbstmordmittel zur Verfügung zu stellen Würde die wirkliche Er¬
öffnung eines solchen Klubs etwa nicht als Delikt angesehen werden?
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Tagesgeschichte.
397
Man braucht aber gar nicht nach Romanhypothesen zu greifen. Ist der
Alkoholgenuß ein Delikt? Ist dos Spiel verboten? Und trotzdem hält
das Strafgesetz Strafen bereit sowohl für das Wirtshaus wie auch für
die Spielhölle. Letztere ist gerade jetzt Gegenstand eines Gesetzentwurfes.
Das sind zwei Fälle, in denen ein Gewerbe als strafbar beurteilt
wird. Ebenso ist es es bei dem Gewerbe des Bordellwirts. Gide meint,
wenn man auch das Recht habe, über seinen eigenen Körper zu verfügen,
so dürfe man doch nicht über den Körper anderer verfügen.
Die Einzelprostituierte hat im allgemeinen das Recht, sich ihre
Klienten auswählen zu dürfen, während die Bordelldirne durch ihren
Eintritt in das Bordell gleichsam einen Vertrag schließt, der sie ver¬
pflichtet, sich jedem und jederzeit hinzugeben. Die Kommission hat die
Freiheit der Prostitution zugegeben; Redner verlangt nun, der Prosti¬
tuierten auch das Recht, auszuwählen, zuzuerkennen!
Man hat noch ein drittes Argument vorgebracht. Man hat behauptet,
daß das Verbot der Bordelle eine unwirksame Maßnahme sein würde.
Als ob man dies nicht von einer ganzen Reihe von Gesetzen sagen
könnte! Man hat gesagt, daß die Reform das Bestehen heimlicher Bordelle
nicht hindern würde, so daß die offiziell verbotenen Häuser entgegen
dem Gesetze Weiterbeständen. Was würde das schaden? Haben wir und
kennen wir nicht viele Gesetze, die in Wirklichkeit nicht angewendet
werden? Börenger kennt genau das Gesetz vom 16. März 1898 gegen
die Verletzung der guten Sitten durch obszöne Veröffentlichungen Was
sehen wir aber? In Wahrheit werden die Gesetze, die den Handel mit
anstößigen Publikationen verbieten, nicht angewandt, sondern ohne Unter¬
laß übertreten. Gide macht noch auf einen anderen Widerspruch auf¬
merksam, der zwischen zweien der zugunsten der Bordelle angeführten
Argumente besteht. Einerseits behauptet maD, daß das gesetzliche Verbot
unwirksam wäre, andererseits führt man an, daß die gestatteten Bordelle
im Verschwinden seien.
M. Börenger, fährt Redner fort, spricht für das System der den
Bordellwirten vom Gesetze auferlegten Anmeldung. Redner meint, daß
zwischen diesem Systeme und dem der heutigen Konzession nur eine
formelle Verschiedenheit bestände. Das Anmeldesvstem anerkennt den
öffentlichen Charakter des Bordells und sichert seinen Fortbestand.
Warum nicht weiter gehen? Warum wendet man, so sonderbar es
scheinen könnte, nicht die Bestimmungen der Arbeiterschutzgesetze auf
die öffentlichen Häuser an? Man kann durch keinen Grund verhindern,
daß die Kontrolle der Inspektoren darauf sieht, daß die Frauen nicht
länger als 10 Stunden arbeiten, oder selbst daß sie nicht zur Nacht¬
arbeit gezwungen sind.
Um alles zusammenzufassen, schließt Gide, besteht ein offenkundiger
Widerspruch zwischen der Auffassung der Bordelle als gewerbliche Unter¬
nehmungen und ihrer Befreiung von den gesetzlichen Verpflichtungen,
die solchen Unternehmungen auferlegt sind. Das wünschenswerte Ideal
wäre es, die Bordelle ganz abzuschaffen, vorläufig aber würde Redner
dem jetzigen System der Konzessionierung von Bordellen ein System
vorziehen, welches von ihnen keine Notiz nimmt.
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398
Tagesgeschichte.
M. Tu rot untersucht die Ausführungen Gides: Seiner Meinung
nach stehe der Auffassung der Kuppelei als Delikt nichts im Wege, und
er beruft sich da auf die strafgesetzliche Bestimmung, daß wohl die Ver¬
führung eines oder einer Minderjährigen, hingegen nicht die Prostitution
zu bestrafen sei.
M. Le Poittevin bemerkt, daß es nicht angängig sei, die Mit¬
schuld zu bestrafen, das Verbrechen aber nicht; jedoch stehe es der Gesetz¬
gebung frei, etwas, was jetzt nur als Mitschuld gilt, als ein für sich
zu bestrafendes Delikt zu erklären. So bestraft z. B. das italienische
Gesetz die Beihilfe zum Selbstmord. In Italien also ist das spezielle
Delikt strafbar, das in der Begünstigung des Selbstmordes besteht. So
könne man auch, ohne die Prostitution selbst als ein Delikt anzusehen,
doch ihre Ausbeutung als strafbar erklären.
M. Feuilloley unterstützt die von Le Poittevin vorgebrachte juri¬
stische Theorie durch ein Beispiel aus dem Gesetze über die industrielle
Arbeit und fügt hinzu, daß diese Theorie von der Gesetzgebung bereits
aufgenommen sei. Mit der Änderung des Artikels 839 des Strafgesetzes,
der eben zur Diskussion steht, verlange man nicht Außergewöhnliches.
Die Prostitution ist kein Delikt. Gut. Aber das hindert nicht die Be¬
strafung ihrer gewerblichen Ausbeutung.
M. Turot meint, es sei juristisch absurd, ein eigenes Delikt der
Ausnutzung der Prostitution zu schaffen. Er verlangt die Streichung
folgender Worte des 3. Paragraphen des Artikels im Gesetze vom 3. April
1903: „Durch Botrug oder mittels Gewalt, Drohungen, Auto¬
ritätsmißbrauch oder jedes andere Zwangsmittel“, sowie die
vollständige Weglassung des 4. Paragraphen desselben Artikels.
In der Sitzung vom 20. Januar kritisiert Dr. Butte eine Äußerung
Turots über die Abnahme der Krankheiten, sodann bekämpft er die
Forderung nach Unterdrückung der Bordelle; seiner Meinung nach würden
diese nur durch heimliche, keine Sicherheit bietende Häuser ersetzt
werden, oder es würden sich Prostitutionsgesellschaften, Syndikate bilden
und das Gesetz wäre umgangen. Er verlangt die Annahme des zweiten
Antrages des Senators B6renger, eine Information über die Verhält¬
nisse in Italien, wo die Bordelle einer sehr strengen ärztlichen Über¬
wachung unterworfen sind, um Details in bezug auf Prophylaxe zu
erlangen.
M. Auffret erklärt, weder als Militärarzt, noch für die Bordelle
sprechen zu wollen. Er wolle speziell von der Provinz und von den
„maisons de passe“ sprechen. Diese letzteren bieten nicht die geringste
hygienische Sicherheit; Mindeijährige kommen hin, Minderjährige von
12 bis 15 Jahren, die gesund und unberührt in die Häuser eintreten,
um sie verseucht oder schwanger zu verlassen. Ist das, fragt er, nicht
noch schrecklicher, als was man von den Bordellen erzählt hat?
Prof. Augagneur will die moralische Seite der Fragen mit Schweigen
übergehen, um nicht wiederholen zu müssen, was Gide erschöpfend
gesagt habe. In der heutigen Diskussion habe man alles wiederholt,
was schon zu Beginn der Arbeiten der Kommission gesagt worden sei.
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Tagesgeschichte.
399
Nach und nach kommen alle Redner darauf zurück. Keiner von ihnen
könne behaupten, daß der Fortbestand der öffentlichen Häuser in einem
anderen Interesse als in dem der allgemeinen Gesundheit notwendig oder
zulässig sei. Wenn einige noch die Nützlichkeit jener Institute aufrecht
erhalten, so geschehe es vom hygienischen Standpunkte aus. Jawohl,
sagen sie, das Bordell ist unanständig, es verletzt alle Gefühle der
Ehrenhaftigkeit, aber wir wollen nicht daran rühren! Vergeblich hat
die Kommission erklärt, daß sie keine Reglementierung mehr wolle.
Die Debatte darüber wird bei der Erörterung der Bordellfrage doch
wieder eröffnet. Diejenigen, welche die Reglementierung retten wollen,
bringen sie immer wieder vor. Bezüglich der Ausführungen von
M. Hennequin über die Verhältnisse in England, Deutschland und der
Schweiz, ist Redner der Meinung, daß man mit der Einführung inter¬
nationaler Verwaltungsmaßregeln sehr vorsichtig sein muß. Die Aus¬
führungsweise eines Gesetzes oder einer Vorschrift, die individuelle Taktik,
sind in jedem Lande verschieden. Auch die aus derselben Handlung
hervorgehenden Folgen ändern sich je nach den Orten. Es ist eine
auffallende Tatsache, daß es in England und der Schweiz kein Toleranz¬
haus gibt. Daß in Deutschland die gesetzlichen Maßregeln zur Unter¬
drückung wirkungslos sind, will nichts beweisen. M. Hennequin hat
selbst anerkannt, daß von Anfang an die deutschen Behörden gegen die
Anwendung des Gesetzes kämpften, so daß dieses ein toter Buchstabe
bleiben mußte. Aber was ist daran Erstaunliches, daß ein Gesetz toter
Buchstabe bleibt, wenn man sich seiner Ausführung widersetzt? In
Wahrheit ist das, was man in Deutschland sieht, nicht das Gesetz,
sondern der Widerstand der Behörden. Wenn ein Teil der Bevölkerung
einem Gesetze Widerstand leistet, so beweist das nichts gegen das Ge¬
setz selbst. In Italien hat die Sittenpolizei seit der Wiedereinführung
der Bordelle zur Verwunderung des Redners daran festgehalten. Wer
von einer Sittenpolizei spricht, der spricht auch von der Prostitution:
die Funktion schafft das Organ. An dom Beispiel von Deutsch¬
land und Italien würde man vergeblich zu beweisen versuchen, daß die
Abschaffung der Reglementierung in Frankreich unausführbar sei. Einer¬
seits bemühten sich die Behörden, das Gesetz zu umgehen, andererseits
ließ man die Sittenpolizei bestehen, deren Ideal das Bordell nun einmal
ist, wie auch die Mehrzahl der Ärzte, die über diesen Gegenstand ge¬
schrieben haben, es feiert und als Zufluchtsort hinstellt, der alle Sicher¬
heit gewährt. Das Bordell erleichtert der Sittenpolizei ihre Aufgabe.
Sie hat ein Interesse daran, Verwaltungsmaßregeln bestehen zu lassen,
die ihr bequem sind und an denen sie auch in manch anderer Hinsicht
festhält, worauf näher einzugehen Redner aber nicht für zweckmäßig hält.
Nachdem M. Augagneur seine Ansicht über die Ursachen der Abnahme
der Toleranzhäuser dargelegt hat, zeigt er, daß die ungeheure Vermehrung
der Schankwirtschaften dem Gesetz vom 17. Juli 1880 zu verdanken
ist, welches die Gewerbefreiheit der Schankwirte eingeführt hat. Diese
haben zuerst verfälschte Weine verkauft, dann geschmuggelte, und
schließlich haben sie ihren Vorteil aus der Prostitution gezogen. Da
sich die Wirtshäuser unheimlich vermehrten und die Schenken infolge-
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Tagesgeschichte.
dessen mit einer gefährlichen Konkurrenz zu kämpfen hatten, zogen sie
die Prostitution heran, um sich hinreichende Einnahmen zu sichern.
Man sollte die Zahl dieser Schenken herabsetzen, und dadurch würde
dem Übel abgeholfen sein, das zu so vielen Klagen Anlaß gibt.
Bei Prüfung der Anträge Berenger bemerkt Herr Augagneur,
daß die vielgepriesene Anmeldung die Fehler, die den jetzigen Bor¬
dellen vorgeworfen werden, nur vergrößern könnte. Die heutigen Bor¬
delle bestehen nur der Tat nach, vom Gesetz ist ihr Bestehen nicht
sanktioniert. Um ein Bordell zu errichten, bedarf man einer Toleranz,
in Wirklichkeit einer Konzession. Berenger will für die Prostitution
genau dasselbe tun, was das Gesetz vom 17. Juli für die Schank wirt¬
schaften getan hat. Mit Einführung des Anmeldesystems wird es nicht
mehr möglich sein, sich der Vermehrung der heutigen sogenannten
Toleranzhäuser zu widersetzen. Man wird der Errichtung von Bor¬
dellen keinen Widerstand mehr leisten können. Alle Häuser, die
jetzt im Geheimen ihr Wesen treiben, werden das Tageslicht nicht
mehr zu scheuen brauchen. Sie werden offiziell werden. Das vor¬
geschlagene System ist eine völlige Anerkennung des Bordells: es be¬
deutet seine Befreiung von dem ihm seitens der Regierung auf¬
gedrückten Stempel. Die Annahme eines solchen Antrages ist un¬
zulässig; es hieße alle die bis jetzt gefaßten Beschlüsse für ungültig
erklären. Einer unberechenbaren Entwicklung der Toleranzhäuser würde
freier Lauf gelassen sein; es wäre gänzlich unmöglich, ihre Zahl zu
beschränken. Man irrt, wenn man glaubt, daß durch die Verwirklichung
des Planes des M. B6renger dem Übel gesteuert würde, im Gegenteil,
es würde dadurch nur eine Verschlimmerung der jetzigen Zustände ein-
treten: die Unmöglichkeit, die Zahl dieser Häuser zu beschränken,
d. h. die Anerkennung dieser Anstalten durch das Gesetz. Indem
M. B6renger die tägliche Aufsicht der Polizei verlangt, indem er fordert,
daß die Prostituierten gezwungen seien, sich mindestens wöchentlich ein¬
mal einer ärztlichen Untersuchung zu unterziehen und daß dieselben im
Falle einer venerischen Erkrankung in eine Spezialklinik gebracht werden,
führt er wieder alles ein, was der Beschluß der Sittlichkeitskommission
beseitigt hatte, alles, .was diese Gesellschaft für verwerflich erklärt hat,
und insbesondere die gewaltsame Behandlung der Dirne. Alle Aus¬
führungen des M. Berenger zielen auf die völlige Vernichtung eines
gefaßten Beschlusses ab. Deshalb bittet M. Augagneur, diesen Ent¬
wurf nicht zur Beratung zu stellen.
M. L4pine glaubt, daß die Sprache des Gefühls, die Stimme
des Herzens über die Menschen mehr vermag, als die kalte, farblose
Rede des Verstandes. Auch macht er darauf aufmerksam, daß die
Sittenkommission eine beratende Gesellschaft ist, die moralisch und
besonders praktisch genötigt ist, nur solchen Erwägungen Raum zu
geben, die auf Erfahrung beruhen. Er wirft die Frage auf, welche
praktischen Folgen das Kuppeleiverbot, also das Verbot der Kollektiv¬
ausbeutung der Prostitution wohl haben werde. Bezüglich der Toleranz¬
häuser glaubt M. Löpine, daß es leicht sein wird, den angeführten
Mißbräuchen vorzubeugen, und man könnte an die Stelle der öffentlichen
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401
Prostitution, die am hellen lichten Tage vor sich geht, diejenige bei
verschlossenen Türen setzen; man würde dadurch ein sittliches und
nützliches Werk verrichten. Das Rendez-vous-Haus kann als Externat
und das Toleranzhaus als Internat betrachtet werden. In letzterem ist
das Mädchen festgehalten und die Prostitution wird ihm gewissermaßen
auferlegt. Das andere ist für die Mädchen einfach ein Absteigequartier.
An diesem Orte ist der Prostitution völlige Freiheit gelassen. Die Ge¬
sundheit der Allgemeinheit wird da auch gewahrt — allerdings nicht
in so vollkommener Weise wie im Toleranzhaus. Der Polizei steht es
zu, das Rendez-vous-Haus an die ihm obliegenden Aufgaben zu erinnern.
Es bleibt der sanitären Pflicht unterworfen, und außerdem verfügt der
Polizeipräfekt noch über ein anderes Über wach ungsraittel: er empfängt
Anzeigen. Diese bilden den Vorwand zum Einschreiten der Polizei,
die darauf sieht, ob die Mädchen sich im Dispensaire melden, um sich
der ärztlichen Untersuchung zu unterziehen. Die angezeigten Mädchen
werden festgenommen und in das Dispensaire gebracht, nicht, weil
sie angezeigt worden sind, sondern weil sie sich prostituieren. Für
maisons de passe und Hötels garnis ist nach der Meinung des Redners
das Anmeldesystem nicht geeignet.
M. Bärenger verteidigt seinen Antrag. Er will die idealen
Gesichtspunkte völlig außer acht lassen. Die Gesellschaft steht einem
verhängnisvollen Übel gegenüber, welches zu allen Zeiten und in allen
Ländern bestanden hat. Unsere Aufgabe besteht also darin, Mittel zu
suchen, um soviel als irgend möglich die Sittlichkeit, das öffentliche
Wohl und die öffentliche Ordnung zu schützen. Indem man die Kuppelei
bestraft, will man das Schließen aller Bordelle erzwingen. Die Folgen
dieser Maßregel hat man in Deutschland sehen können: es ist nicht
möglich, daß das Gesetz verbietet, was die soziale Notwendigkeit erfordert.
Gesetzt sogar, daß es gelingen würde, so dürfen wir doch nicht ver¬
gessen, daß das weibliche Geschlecht nichtsdestoweniger immer das Recht
haben wird, sich der Prostitution hinzugeben. Wird denn durch die
Abschaffung der Bordelle den Mädchen dieser Häuser Vorboten, zu¬
sammenzuleben? Keineswegs. Sie werden sich unter sich zusammentun.
Man wird nichts dagegen anfangen können, und das Bordell wird wieder
da sein. Oder, was noch schlimmer ist, sie werden auf die Straße
gehen, wo sie ganz frei zu jeder Stunde, in allen Stadtteilen, vor jedem
Hause werden umhergehen können, während augenblicklich durch Vor¬
schriften der Behörden die Stunden festgesetzt siud, zu denen die Mädchen
ausgehen dürfen, und ihnen die Stadtviertel zugewiesen sind, wo sie sich
nur sehen lassen dürfen. Wenn das Bordell abgescbafffc wird, so wird die
Prostitution in allen Gesellschaftschichten derart überhand nehmen, die
anständige Frau und das anständige Mädchen werden auf dem Bürgersteig
ihr Platz machen müssen, daß ein derartiges System nicht von Dauer sein
kann. Man muß also auf andere Mittel sinnen und eine Art der Regle¬
mentierung suchen, welche ebensowohl die rechtschaffenen Leute zufrieden¬
stellt als auch das Übertriebene in den jetzigen Maßregeln abschafft. Was
besonders unser Gefühl verletzt, ist das offizielle Bordell. In diesem Punkte
muß Wandel geschaffen werden. Die Häuser, welche von nun an frei
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Tagesgeschichte.
sein sollen, werden fortbesteben, aber nur unter der Bedingung, daß
sie ihr Bestehen bekannt geben, um genau beaufsichtigt werden zu
können. Daß man das Übel erkennt, welches überall vorhanden ist und
immer bestehen wird, heißt nicht dasselbe existenzberechtigt erklären.
Das Gesetz vom Jahre 1903 hat schon in sehr glücklicher Weise die
Lage der Mädchen in den Bordellen verändert. Diese Häuser sind keine
Gefängnisse mehr. Aber besonders zu wahren ist noch die öffentliche
Sittlichkeit. Das betreffende Haus muß einer Disziplin unterworfen sein,
die Regierung muß ihre Pflicht der Beaufsichtigung erfüllen. Daher
die Notwendigkeit der Anmeldung.
Herr B6renger wünscht noch eine juristische Bemerkung zu
machen. Der Antrag Bulot ist bis jetzt nur unter dem einen Gesichts¬
punkte der Massenunzucht erörtert worden. In Wirklichkeit geht der
Vorschlag viel weiter: er bestraft die individuelle Kuppelei ebensowohl
wie die Kuppelei des Bordellwirtes. Jedoch wenn man die Kuppelei
wieder als Verbrechen bestrafen würde, so würde dies eine wirkliche
Umwälzung in der Strafgesetzgebung bedeuten. Es war der Fall damals,
als Gesetzgebung und Sittlichkeit vermengt waren. Will man darauf
zurückgreifen? Redner hofft es nicht. Er hält es für unmöglich, nur
aus der Kollektivkuppelei ein Verbrechen zu machen, ohne sie in jedem
Falle zu einem solchen zu stempeln. Und würde es andererseits zu
rechtfertigen sein, wie vorgeschlagen ist, dieselbe nur dann zu bestrafen,
wenn jemand sich dadurch einen Vermögensvorteil verschaffen will? Ist
derjenige, welcher um die Gunst irgend einer mächtigen Persönlichkeit
buhlt, sei sie nun aus Schwäche oder aus Gefälligkeit gewährt, weniger
strafbar? Man sieht, wie weit das führen würde. Aus all diesen
Gründen verwirft Herr Berenger den Antrag.
Bei Eröffnung der Sitzung vom 27. Januar wird eine schriftlich
eingereichte Bemerkung von M. Catteau verlesen. Er zieht aus der
Militärstatistik, die er für sehr wertvoll hält, den Schluß, daß die vene¬
rischen Krankheiten und besonders die Syphilis üppig wuchern, wo die
Prostitution frei und unbeaufsichtigt gelassen wird.
Alsdann wird über einen Vorschlag des M. Auf fr et diskutiert,
der es für vorteilhaft erachtet, die Abstimmung mittels versiegelter
Briefumschläge vorzunehmen, damit die Abwesenden ihre Stimme eben¬
falls abgeben können. M. Fiaux bemerkt, daß man von der bisher
üblichen Weise, die Abstimmung vorzunehmen, nicht abweichen könne,
und fragt, ob denn nun die Anträge Augagneur betreffs der Prophy¬
laxe endgültig angenommen sind. M. Bulot ruft M. Fiaux zu:
,,Wir wollen uns nicht darüber täuschen, Herr Doktor. Wir beschließen
und beschließen, aber es bleibt alles beim alten. Man wirft uns unsere
Genauigkeit vor und möchte die Wirkung derselben bestreiten.“ Auf
diese Bemerkung hin erklärt der Präsident, daß die bis zum heutigen
Tage angenommenen Anträge endgültig angenommen sind. M. Fiaux
bemerkt, daß in keiner gesetzgebenden oder munizipalen Versammlung
die Stimmabgabe jedes der Mitglieder, welche diese Versammlung
bilden, für unbedingt notwendig gehalten wird, daß vielmehr die Zahl der
Abstimmenden in den meisten Fällen nur ungefähr die Hälfte der
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Tagesgescliichte.
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wirklichen Gesamtstimmenzahl beträgt. Da der Antrag Auffret keine
Unterstützung findet, wird er fallen gelassen.
M. Fiaux übt Kritik an den Ausführungen des M. Catteau.
Er habe eine Frage angeschnitten, in weicher er nur unvollkommen
orientiert sei. Die Schlußfolgerungen, die er aus seinen Darlegungen
zieht, fallen auf ihn selbst zurück. Fiaux legt dar, daß das Zentrali¬
sationssystem der Prostituierten ein mangelhaftes System ist, welches
keine richtige Sicherheit bietet. Dann prüft er den Vorschlag zur Ab¬
änderung des Artikels 334 des Strafgesetzbuches und ist der Ansicht,
daß der Kuppelei nicht mit Erfolg wird gesteuert werden können, solange
nicht die Kuppelei allein, sondern erst nachgewiesene Vergewaltigung,
Betrug und Autoritätsmißbrauch strafbar sind. Ferner hält Redner die
Kuppelei nicht für eine bloße Mitschuld an der Prostitution, sondern
auch für einen wichtigen Faktor zur Entwicklung der Prostitution. Am
Schlüsse seiner Ausführungen erinnert Redner Herrn Börenger an das
Märchen von jenem reichen Müller, welcher aus einem Sack Kleie ein
gutes Mehl gewinnen wollte.
M. Hennequin kommt auf einige Ausführungen der Vorredner
zurück. Bezüglich der Vergleiche mit anderen Nationen ist er der An¬
sicht, daß gewisse Erscheinungen überall auftreten und keineswegs von
einer Verwaltungsform abhängen; bei sehr vielen gänzlich verschiedenen
Völkern gibt es auch gleiche allgemeine Einrichtungen. So begegnet man
ohne Ausnahme in allen Ländern, welche ein stehendes Heer haben, den
Bordellen; wo sich eine Garnison befindet, wird man fast stets ein
Toleranzhaus gründen. Im ganzen festländischen Europa, mit Ausnahme
von gewissen schweizerischen Kantonen, ist man also in gleicher Weise
bemüht, die Prostitution nicht überhand nehmen und Anstoß erregen
zu lassen, und überall gipfelt dieser Gedanke in der Konzentration der
Prostituierten. Zu allen Zeiten und in allen Ländern ist man stets
auf diese Maßregel gekommen aus der Notwendigkeit heraus, die einen
liederlichen Lebenswandel führenden Mädchen zu isolieren. Redner schreibt
dem Verbot des Bestehens von öffentlichen Häusern in England die
große Zahl der gerichtlichen Verurteilungen wegen Provozierens zu. Er
wendet sich gegen M. Augagneurs Ansicht, daß niemand aus anderen
als hygienischen Gründen die Toleranzhäuser unterstützen würde; sie
schützen die anständigen Frauen gegen die unbefriedigten geschlechtlichen
Triebe; ihre Bewohnerinnen gehen nicht auf den Straßen spazieren,
müssen sich regelmäßigen ärztlichen Untersuchungen unterziehen und
bedürfen keiner Zuhälter. Dazu kommt noch, daß sie im allgemeinen
seit langem gegen Syphilis immun sind und so ihren Besuchern eine
Sicherheit gegen Erkrankung bieten.
Redner weist durch die Statistik nach, daß die Krankheiten um
das Dreifache erheblicher wären bei den freien Prostituierten als bei den
Bordellmädchen. Dieser letzten Bemerkung wird durch zahlreiche Zurufe
widersprochen, auf welche im Augenblick einzugehen M. Hennequin
ablehnt, und er versichert nochmals, daß augenblicklich in Paris keine
Krankheit unter den in den Toleranzhäusern wohnenden Dirnen zu
konstatieren ist. Ferner verwirft er M. Gides Ansicht, daß das Gesetz
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Tagesgeschichte.
sich um die Prostitutionshäuser nicht kümmern sollte. Er glaubt nicht
an die Möglichkeit, die in Bordellen befindlichen Prostituierten einem
geordneten Leben zurückzugeben, meint aber, daß man die Hausordnung
•der Bordelle in einem für die Mädchen günstigen Sinne ändern kann.
Die alleinstehende Dirne ist in Wirklichkeit weniger frei als diejenige
im Bordell, weil das Joch des Zuhälters viel härter und erniedrigender
ist als das des Bordellwirts. Die Freiheit der Prostitution wird not¬
wendigerweise darauf hinausgehen, daß den Mädchen das Recht zustehen
wird, sich zusammenzutun, um das Prostitutionsgewerbe zu betreiben
und eine Art Genossenschaften zu bilden.
Da die Sitzung geschlossen wird, muß M. Hennequin seine Rede
unterbrechen, die er bei Eröffnung der Sitzung vom 28. Januar wieder
aufuimmt. Bei dieser Gelegenheit läßt er eine Druckschrift verteilen,
in welcher die Ansicht einer Anzahl französischer Bürgermeister betreffs
der Aufrechterhaltung oder der Abschaffung der Toleranzhäuser kund¬
gegeben ist. 87 Bürgermeister haben geantwortet, 74 von ihnen sind
Anhänger der Toleranzhäuser, während 13 denselben mehr oder weniger
feindlich gegenüberstehen, aber Vorbehalte machen betreffs der völligen
Sicherheit und der freien Vereinigung der Prostituierten.
Professor Landouzy bringt in Erinnerung, daß er sich bereits
vor 14 Tagen zum Wort gemeldet habe; inzwischen haben die Herren
Augagneur, Turot, Gide und Gaucher Argumente entwickelt, die
er selbst Vorbringen wollte. Trotzdem möchte er noch einige Bemerkungen
hinzufügen. Durch das System B6renger wird eine ganz offenkundige
Verbindung zwischen den Prostitutionshäusern und der Sittenpolizei fort-
bestehen. Ferner hält Redner gewisse von der Kommission aufgestellte
Behauptungen für falsch. Die Syphilis, besonders in den öffentlichen
Häusern, ist nicht im Abnehmen begriffen, und er legt dar, auf welche
Weise die Matronen die verdächtigen Frauenzimmer der Untersuchung
entziehen. Er könnte eine Anzahl von Fällen angeben, in welchen
Männer in solchen Häusern, die zu den best eingerichteten gehörten,
Krankheiten akquirierten. Am Schlüsse ihrer militärischen Ausbildungs¬
periode, kurz ehe sie nach Hause entlassen werden, pflegen Reservisten
und Landsoldaten in ziemlich großer Anzahl die Bordelle der Provinz
zu durchwandern, und ein großer Teil von ihnen kehrt in ihre Heimat
zurück mit einer kleinen Erosion, die sie nicht beachten, mit syphilitischem
Schanker oder Gonorrhöe. Redner hält die Meinung des M. Henne¬
quin für falsch, daß von Frauenzimmern, die das 23. Lebensjahr über¬
schritten haben, eine Ansteckung eigentlich nicht mehr zu befürchten
wäre. In Wahrheit bieten die 23jährigen und älteren Prostituierten
diese vermeintliche Sicherheit niemals. Redner sieht nicht ein, warum
die sanitäre Gesetzgebung nicht zur Anwendung gebracht werden könnte.
Um die venerischen Krankheiten zu bekämpfen, begnügt man sich mit
der Reglementierung, welche eine ärztliche Untersuchung verordnet, die
aller Garantie bar ist. Man macht es sich wirklich leicht. Obendrein er¬
streckt dieses System sich nur auf das Weib. Das ist widersinnig und un¬
moralisch. Die Sittenpolizei ist ganz abzuschaffen. Das Ergebnis des an die
Stadtgemeinden gerichteten Rundschreibens in dieser Frage läßt ihn kalt.
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Man hat sich an die Bürgermeister gewandt, um besonders ihre Ansicht
zn hören betreffs der Freiheit, Korporationen, prostitutionelle Vereinigungen
zu gründen. Hierbei bemerkt Redner, daß niemand in der Kommission
die Anerkennung eines solchen Rechtes begehrt hatte. Den Bürgermeistern
wird das Wort „Vereinigung“ aufgefallen sein. Er versteht sehr wohl,
wie der eine von ihnen die Antwort geben konnte: Es lohnt wahrhaftig
nicht, die Toleranzhäuser abzuschaffen, wenn sie durch Vereinigungen
von Prostituierten ersetzt werden sollen. Kurz, M. Landouzy glaubt,
daß man, um etwas anderes an die Stelle der gegenwärtigen Einrichtung
setzen zu können, zuerst reinen Tisch machen muß. Mau muß das ab¬
schaffen, was besteht, nämlich das durch nichts gerechtfertigte polizeiliche
Einschreiten; sein Verschwinden aber wird der Gesundheitspolizei den
Platz räumen, d. h. der Gerechtigkeit und der Vernunft zum Nutzen des
allgemeinen Wohls.
Professor Fournier bemerkt, daß die Acadämie de mödecine das
Wort „Gesundheitspolizei“ für ein System an wendet, welches auf der
Einschreibung beruht, und er bestätigt, was M. Landouzy betreffs
der Ansteckungsgefahr während der zweiten Periode gesagt hat, obwohl
die Fälle von dem dritten Jahre ab seltener werden; und was die Toleranz¬
häuser als Ansteckungsherde betrifft, hat M. Landouzy durchaus recht.
Auch M. Fournier kennt viele Kranke, die in diesen Anstalten an¬
gesteckt wurden. Er will nichts von den Toleranzhäusern wissen. In
Paris besonders sind diese nur eine Schule der Verderbtheit und des
Trunkes. Das Laster wird dort immer raffinierter und sinkt bis zur
Gemeinheit, zum Unflat herab. Wie kann ferner eine Verwaltung zu
einem Kuppler sagen: „Ich gebe Dir die Befugnis, Vorteil aus der
Prostituierung anderer zu ziehen?“ Was für eine Mißachtung wirft ein
solches Haus dann auch auf das ganze System der Reglementierung!
Schafft nun das Bordell ab, gut! Eine ekelhafte Sache abschaffen ist sehr
gut, aber was wird man dann an seine Stelle setzen? Wodurch wird
das Bordell ersetzt werden? Regieren heißt voraussehen, Prophylaxe
üben heißt auch voraussehen. Aber je mehr man dies alles ändern wird,
desto mehr wird alles dasselbe bleiben; die öffentlichen Häuser werden
verschwinden, aber sie werden wieder auferstehen, sie werden aus ihrer
Asche aufsteigen. Werden Sie die neuen Häuser beaufsichtigen oder nicht
und zwar in doppelter Hinsicht, in moralischer und sanitärer?
M. Turot erwidert zunächst Herrn Hennequin, daß seiner
Meinung nach die Gesellschaft, die durch die Gemeindeverwaltung oder
die Polizei vertreten wird, die Einrichtung von Toleranzhäusern nicht
dulden sollte. Wenn die Mädchen ein Heim haben, wenn sie zu einer
bestimmten Stunde des Tages dahin zurückkehren können, ist immer
noch Aussicht für sie vorhanden, wieder Menschen statt Tiere zu werden.
Der erste Schritt zu ihrer Wiederaufrichtung ist schon getan, wenn man
ihnen die Möglichkeit läßt, wieder unter menschlichen Wesen zu leben,
anstatt elende Tiere zu bleiben oder zu werden. Redner beleuchtet
eine andere Seite der Frage, die Professor Fournier angeregt hat:
Die Bordelle widern uns um so mehr an, als sie Verrückten zum Schlupf¬
winkel dienen. Man kann sagen, daß diese Anstalten den Vorraum zu
Zeitschr. t Bekämpfung d. Geschlechtskranke III. 29
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Tagesgeschichte.
den Irrenanstalten bilden. Der Herr Polizeipräfekt weiß sehr wohl, daß
seine Verwaltung ein ganzes Museum schmutziger Ausschweifungen
kennt. Ferner widerlegt Redner M. Bärengers Ausführungen und
tadelt die Statistik, welche nur auf die Erhaltung der Toleranzhäuser
und damit auf das Weiterbestehen der Sittenpolizei ausgeht. Im all¬
gemeinen kann man wohl sagen, daß die Statistiken nicht auf Wahr¬
heit beruhen, oder wenigstens, daß sie nicht völlig den Tatsachen
entsprechen. Das kann man auch M. Catteau entgegenhalten, und
man fragt sich, wie eine Schätzung von 40 °/ 00 auf einer anderen Seite
auf 3 °/ 00 herabgesetzt sein kann. Endlich bestreitet Redner den Wert
der in dem letzten Berichte des Vorstehers des Gesundheitsamtes vorge¬
nommenen Vergleichung der französischen Armee mit derjenigen von
Großbritannien, da letztere doch ein Söldnerheer ist. Naohdem Redner
auch M. Hennequins Statistik, die auf der Anzahl der Unter¬
suchungen beruht, verworfen hat, erklärt er, daß er ebensowohl das
von M. Bärenger vorgeschlagene System wie auch die jetzige Hand¬
habung bekämpft. Er fordert die sofortige Annahme einer sanitären
Organisation.
Frau Avril de Sainte-Croix erklärt, daß, nachdem Prof. Gide
mit beredten Worten gegen die Reglementierung gesprochen und nachdem
verschiedene Redner so energisch gegen die Toleranzhäuser protestiert
haben, sie keine neuen moralischen Gründe mehr anzuführen hätte, die
zugunsten der Abschaffung dieser Häuser sprächen, wenn nicht die Gründe,
die die Herren Bärenger und Hennequin für ihre These vorbrachten,
unbedingt widerlegt werden müßten. Um die Gefahr zu zeigen, die in
der Abschaffung der Toleranzhäuser liegt, hat M. Bärenger die An¬
sicht des Herrn Professor Flesch aus Frankfurt angeführt, welcher seiner
Meinung nach in entscheidender Weiss die klägliche Lage dargetan hatte,
in welcher Deutschland sich befindet, seitdem man dort die Toleranz¬
häuser hat abschaffen wollen. Professor Flesch hat nie die Regle¬
mentierung unterstützen wollen; er hat nur zeigen wollen, welche schwie¬
rige zweideutige Lage durch die halbe Reglementierung, wie sie in
Deutschland besteht, geschaffen worden ist. Der Beweisgrund, dessen sich
M. Bärenger hat bedienen wollen, kehrt sich gerade gegen seinen Ent¬
wurf: wenn in Deutschland die Lage eine schwierige ist, so gerade des¬
halb, weil man eine so zweideutige Verwaltung, ähnlich der, wie sie
M. Bärenger einführen möchte, eingesetzt hat. Man hat die Toleranz¬
häuser geschlossen, aber man hat die Reglementierung bestehen lassen.
Man weiß, daß beaufsichtigte Häuser entstanden sind, die die Polizei kennt
und die sie bewacht, und wo sie ohne Mühe die Frauen, die sie zu
suchen hat, herausfindet. Frau Avril beleuchtet diese Tatsache durch
ein Beispiel, welches Fräulein Hey mann auf dem Dresdener Kongreß
des Bundes anführte. Und dann legt sie dar, daß die in diesen Häusern
vermeintlich durchgeführten Reformen gar nicht vorgenommen sind. Sie
hält das erschreckende Bild, das die Straßen nach Abschaffung der Regle¬
mentierung und Schließung der Toleranzhäuser bieten sollten, für bloße
Hirngespinste. ,,Was werden die Mütter ihren Kindern sagen, um ihnen
die abscheulichen Dinge zu erklären oder zu verbergen, die sich vor
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Tagesgeschichte.
407
ihren Angen abspielen werden?“ fragen Sie. Ich frage Sie, was sie ihnen
heute antworten und wie sie ihnen heute erklären sollen, daß das lieder¬
liche Leben zu verwerfen ist, wenn sie diesen Kindern, die doch ihre
kindliche Logik besitzen, zu gleicher Zeit sagen müssen, daß der Staat
die Prostitution billigt und sie reglementiert und den Frauen Karten
gewahrt, durch welche sie sich frei bewegen können. Frau Avril be¬
kämpft mit aller Energie die Behauptung, daß die Besserung der Mäd¬
chen in den Toleranzhäusern unmöglich ist und führt Beispiele aus ihrer
eigenen Erfahrung an. Das, fährt Rednerin fort, beweist Ihnen, wie
sehr der Herr Generalsekretär unrecht hat, wenn er geringschätzig be¬
hauptet, daß die Mädchen der Toleranzhäuser für immer verloren sind.
Hier wird Rednerin von M. Hennequin unterbrochen. „Wir
dürfen Anspruch darauf erheben/ 4 sagt er, „ebensoviel Gefühl und Mit¬
leid zu empfinden als jeder andere. Sie schieben den anderen in un¬
gerechter Weise Gefühle unter, die sie nie gehabt haben, und Worte,
denen Sie einen ganz anderen Sinn unterlegen. Das ist wirklich sehr
leicht!“
Frau Avril fährt fort: „Wie M. Gide möchte ich Ihnen auch
sagen: berücksichtigen Sie nicht diese unglückselige Theorie, durch welche
eine Anzahl der ärmsten Mädchen dem Minotaurus der Prostitution zum
Opfer fallen soll, um die anderen zu schützen. Die anständigen Frauen,
die doch auch ein Wort mitzureden haben, protestieren dagegen; sie
haben mehr Vertrauen zu der Würde ihres Geschlechts, und selbst wenn
sie es nicht hätten, wollten sie doch nicht, daß die Tugend der einen
durch die Schmach der anderen erkauft werden soll. 44 Und da nun vor
einigen Tagen M. B6renger, nachdem er sich zuerst in Schmeichel¬
worten gegen die Rednerin ergangen hatte, ihr den Vorwurf machte,
daß sie sowie alle Abolitionisten, getrieben von einem Mitleidsgefühl und
einem vagen Humanismus, nur die eine Seite dieser moralischen Frage
sehen, und daß, während Frau Avril ihre ganze Sorgfalt auf die Pro¬
stituierte verwendet, sie die Arbeiterin ganz unberücksichtigt lasse, liest
Rednerin einen Brief des Blumen- und Federarbeiterinnenverbandes, des
Kravattennäherinnen verbandes, des Schneiderinnen- und Nähterinnen Ver¬
bandes vor, in dem sie gebeten wird, der außerparlamentarischen Sitten¬
kommission den Protest der Arbeiterinnen gegen die Toleranzhäuser vor¬
zulegen, für die Abschaffung dieser ungerechten, häßlichen Einrichtung zu
stimmen, damit nicht mehr eine Pariaklasse aus den armen Mädchen
gemacht werde, die da9 Elend, der Frondienst und der Hungerlohn
zur Prostitution getrieben haben. Die Toleranzhäuser, die vorgeblich
kontrolliert werden, sind nichtsdestoweniger geradezu Krankheitsherde,
sie reizen zum Laster und bilden eine Ansteckungsgefahr für unsere
Kinder in moralischer und physischer Hinsicht. Und da wir nichts ver¬
säumen dürfen zur Wahrung der Sittlichkeit und Gesundheit, fordern wir
die baldmöglichste Aufhebung derselben.
Zum Schluß fordert Rednerin für die prostituierten Mädchen un¬
bedingt alle Vorteile der Gerechtigkeit, und erinnert daran, daß der
nationale Bund der Frauen Frankreichs, welcher aus 73 000 Mitgliedern
besteht, für die Abschaffung der Reglementierung gestimmt hat. Sie
29 *
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408
Referate.
protestiert mit allen edeldenkenden Frauen Frankreichs aufs energischste
gegen die schimpfliche Einführung der Toleranzhäuser.
. Vorsitzender: „Gestatten Sie, gnädige Frau, daß ich als Kommissions¬
mitglied auch protestiere. Es gibt sehr rechtschaffene Frauen, die in
dieser Frage Ihre Ansicht nicht teilen.“
Herr Yves Guyot glaubt, daß es unmöglich ist, daß die Frauen
eines Kulturstaates, welcher auf der Monogamie begründet ist, eine In¬
stitution billigen können, welche die Polygamie der Männer begünstigt,
indem sie gewisse Frauen zur Polyandrie führt.
Referate.
E. Finger. Die Gonorrhoe sonst und jetzt. (Deutsche medizin. Wochenschrift
1905, Nr. 1, S. 28.)
Finger wirft in seiner Arbeit einen Rückblick auf die letzten
25 Jahre Pathologie und Therapie der Gonorrhoe. Als Neißer vor
25 Jahren durch seinen Aufsatz: „Über eine der Gonorrhoe eigen¬
tümliche Mikrokokkenform“ die Entdeckung des Gonococcus veröffentlichte,
wurde dadurch die Frage, ob der Gonorrhoe überhaupt ein eigenes Gift
zukomme, ob sie eine vom Kranken zum Gesunden übertragbare Affektion
sei, in positiver Weise beantwortet.
Finger führt im folgenden aus, wie wesentlich sich heute die
Verhältnisse geändert haben, im Gegensatz zu der vorbakteriologischen
Zeit. Während man früher nur den akuten Tripper für ansteckend
hielt, sind wir heute zu der Erkenntnis gekommen, daß auch der
chronische Tripper, selbst wenn wir keine Gonokokken mehr finden,
noch ansteckend sein kann.
Auch für die Frage der Prostituiertenuntersuchung ist die Ent¬
deckung des Gonokokkus äußerst wichtig gewesen, ebenso ist durch ihn
das Studium der pathologischen Anatomie gefördert und angeregt worden.
Insbesondere gilt das von der Gonorrhoe des Weibes, die früher als
leichte, als „Kinderkrankheit“ angesehen wurde, bis auch hier auf Grund
der Gonokokkenuntersuchung fast uneingeschränkt die tiefernste Be¬
deutung und Gefährlichkeit des weiblichen Trippers wegen der meist
klinisch gar nicht nachweisbaren, aber wegen ihrer Ansteckungsfähigkeit
gefährlichen Gonokokken in der Harnröhre und dem Gebärmutterhalse
bestätigt wurde.
Auch als Erreger der Komplikationen des Trippers (Blasenkatarrh,
Nebenhoden- und Nierenentzündung, Rheumatismus und Herzkrankheiten)
wurde der Gonococcus erkannt und ebenso lernten wir durch seine
Entdeckung die Bedeutung der Erkrankung der Harnröhrendrüsen und
der Vorsteherdrüse kennen.
Gleich bedeutungsvoll wie die theoretischen wissenschaftlichen
Errungenschaften waren die praktischen Bestrebungen. So hat uns die
Entdeckung des Gonococcus darüber belehrt, daß trotz Schwindens aller
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Referate.
409
klinischen Symptome doch Gonokokken in kleinen Herden, in Schlupf¬
winkeln der Schleimhaut Zurückbleiben können, von denen dann Rezidive
und Übertragung erfolgen und daß nur ein wiederholt erfolgtes Nicht-
finden uns berechtigt, auf ein Nichtvorhandensein der Gonokokken zu
schließen.
Ebenso bezüglich der Behandlung des Trippers hat sich unsere Auf¬
fassung wesentlich geändert. Während man früher nur eine anti¬
katarrhalische Behandlung anwendete, so kam man nach Entdeckung
der Gonokokken zu der viel rationelleren Methode, die Gonokokken mit
antiseptischen Mitteln zu bekämpfen.
Finger betont zum Schluß, daß die Entdeckung des Gonococcus
uns aber auch in die Lage versetzt, den Tripper sicher zur Ausheilung
zu bringen und damit zur Einschränkung desselben wesentlich beizutragen.
Brüning (Berlin).
1. W. Scholtz. Vorlesungen Ober die Pathologie und Therapie der Gonorrhoe des
Mannes. Jena 1904, Verlag von Gustav Fischer.
2. Ferdinand Kornfeld. Gonorrhoe und Ehe. Eine klinische und volks¬
hygienische Studie. Wien u. Leipzig 1904, Franz Deuticke.
1. Scholtz gibt in seinen 12 Vorlesungen eine ganz ausführliche
Darstellung der Pathologie und Therapie der Gonorrhoe aus der Neisser-
schen Schule, an deren Ausbau er auch selbst mitgearbeitet hat. So
resultiert auch aus seinen eigenen Untersuchungen die Erfahrungstatsache,
daß die Entscheidung darüber, ob eine chronische Harnröhrenentzündung
noch gonorrhoisch ist, nur durch den mikroskopischen und kulturellen
Nachweis von Gonokokken erbracht werden kann. Die Neissersche
Schule versteht also unter einer chronischen Gonorrhoe , jene nach einem
Tripper zurückbleibenden und im großen und ganzen ziemlich unverändert
bestehen bleibenden Harnröhrenentzündungen, welche sich nur noch in
dem Vorhandensein von Urinfilamenten, in leichter Verklebung der Harn¬
röhrenmündung des Morgens oder gelegentlich einem schleimig-eitrigen
Sekrettropfen bemerkbar machen, aber noch auf Anwesenheit von
Gonokokken beruhen. ... Andere Kriterien für die Infektiosität der
Urethritis als den Gonokokkenbefund haben wir nicht, und es geht ab¬
solut nicht an, die Patienten nur dann für gesund und nicht infektiös
erklären zu wollen und ihnen nur dann dio Ehe gestatten zu wollen,
wenn keinerlei Entzündungserscheinungen mehr bestehen und der Urin
dauernd vollständig frei von Filamenten ist,“
2. Im Gegensatz hierzu stehen die Erfahrungen von Kornfeld,
welcher unsere Forderungen bezüglich der Möglichkeit des Ehekonsenses
unbedingt erweitert und diesen nicht allein auf das völlige Freisein der
Sekretreste von Gonokokken gegründet wissen will, weil er es dadurch
absolut nicht für erwiesen hält, daß auch keine mehr vorhanden sind.
„Das Vorhandensein von Eiterkörperchen, welche die Fortdauer des
chronischen Entzündungsprozesses anzeigen, muß uns die allergrößte
Vorsicht in der Erteilung des Ehekonsenses auferlegen, ja vor derselben
dringend warnen.“ Ebenso bekämpft der Verf. in einer Kritik die neuen
Reformvorschläge Neissers zur Einschränkung der Geschlechtsleiden
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410
Referate.
durch die Reglementierung der Prostitution. Man müßte seiner Ansicht
nach befürchten, daß Neissers Verfahren, welches sich auf so viele
Hunderte, ja Tausende von Klandestinen erstrecken müßte, strenger,
schädlicher als das bisherige und zudem viel kostspieliger, dagegen
schwerlich eifolgversprechender wäre. — Im übrigen kann man dem
Kornfeldschen Buche nur nachrühmen, daß in demselben eine aus¬
giebige Bearbeitung des Themas stattgefunden hat. Es ist auch die
Notwendigkeit der Prüfung des Ejakulates und die Impotenz in der
Ehe besprochen; ebenso ist die Bedeutung des gonorrhoischen Ursprungs
vieler Frauenleiden in entsprechender Weise gewürdigt und die Gonorrhoe¬
übertragung von dem einen Geschlechte auf das andere durch Beispiele
aus der Praxis vor Augen geführt. Natürlich ist auch die Stellung,
welche von dem Arzte in seiner Rolle als Berater hier einzunehmen ist,
präzisiert. B. S.
Pontoppidan, Vestre-Hospital 1904. Kopenhagen 1905.
Aus dem soeben erschienenen sehr interessanten Jahresbericht des
Kopenhagener Prostituiertenkrankenhauses heben wir folgenden Passus
hervor:
„Es ist augenscheinlich, daß alle oder fast alle Prostituierten,
besonders aber die jüngeren, in ihrem Genitaltraktus Gonokokken be¬
herbergen und daß die Wahrscheinlichkeit, in absehbarer Zeit deren
wirkliches und endgültiges Verschwinden, selbst bei Hospitalbehandlung,
zu erreichen, nur sehr gering ist. Das ist freilich keine neue Entdeckung,
aber es stützt die aufkommende Ansicht von der praktischen Unmög¬
lichkeit, eine wirksame Kontrolle oder Behandlung der Prostituierten
darauf zu gründen, obwohl dieser Behandlungsmodus theoretisch und —
soweit Männer und weibliche Nichtprostituierte in Betracht kommen —
auch praktisch empfehlenswert ist.“ E. G.
Knalle« Bericht Ober die auf den Marschallsinsein herrschenden Geschlechts- und
Hautkrankheiten. Arbeiten aus d. Kais. Gesundheitsamt 1903. Bd. 20, Hft. 1.
In den Berichten der auf den Marschallsinseln tätigen Ärzte wurde
eine starke Verbreitung der Syphilis (32 bezw. 50°/ o der Bevölkerung)
angegeben. Es war demnach eine schwere Schädigung der Bevölkerung
durch Entartung und Kinderlosigkeit zu befürchten. Krulle wurde
deshalb zur Untersuchung der dortigen Verhältnisse von der Kolonial¬
abteilung des auswärtigen Amtes nach den Marschallsinseln gesandt.
Bei den angestellten Nachforschungen stellte es sich heraus, daß
die Syphilis auf den Inseln nicht stärker als in europäischen Ländern
verbreitet ist. Jedenfalls waren nicht mehr als 10°/ 0 der Bevölkerung
davon betroffen. Ein besonderes Vorherrschen der bösartigen Form konnte
Krulle nicht feststellen. Er fand unter 2500 Untersuchten nur einen
Fall von Lues maligna. Sehr häufig war tertiäre Lues, wahrscheinlich
infolge des Fehlens jeder ärztlicher Behandlung. Der Ansicht, daß die
Syphilis bei den Farbigen in der sekundären Periode keine Hautexan-
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Referate.
411
theme zeigen soll, vermag sioh Krulle auf Grund seiner Erfahrungen
nicht anzuschließen.
Sehr ausgedehnt sind die Verwüstungen, welche die tertiäre Syphilis
an einzelnen Einwohnern anrichtet. Die Folgeerkrankungen Tabes, Nerven¬
leiden usw. fehlen oder sind verschwindend wenig vorhanden.
Weicher Schanker ist selten. Tripper ist stark verbreitet.
Verf. hat den Eindruck, als ob von Degeneration oder Kinder¬
losigkeit der Eingeborenen bisher wenig zu merken ist. Zwar kam
Kinderlosigkeit als Folge von Tripper hier ebenso wie auch anderwärts
vor, im allgemeinen war jedoch der Kinderreichtum ziemlich erheblich.
Von Tod- oder Fehlgeburten infolge der Syphilis hat er nichts in Er¬
fahrung bringen können. Dohrn (Cassel).
Neumann (Bromberg). Die Geschlechtskrankheiten und ihre besonderen Be¬
ziehungen zur Armee. (Der Militärarzt 1905, Nr. 9. 10.)
In diesem, auf der Breslauer Naturforscher Versammlung gehaltenen
Vortrage bespricht Neumann die Quellen der venerischen Infektion,
ihre gesundheitlichen Schädigungen sowie vor allem die Prophylaxe. Er
legt dabei besonders auf die Forderung der Reinlichkeit und Desinfektion
der Dirnen Wert — wobei er die hygienische Belehrung der letzteren
•durohaus nicht für aussichtslos hält — und verlangt genaue ärztliche
Untersuchung aller Prostituierten, sowohl der frei wohnenden, als auch
der in Bordellen kasernierten. Verf. spricht sich dabei für den Bordell¬
zwang aus und zwar aus moralischen Gründen: „die Unzucht verschwindet
von der Straße“, aus sozialen: „jene Klasse von Menschen (Dirnen usw.)
muß in der Tat anders gewertet werden“, aus rechtlichen: „es wird
gleiches Recht für alle Dirnen gewährt“, endlich aus hygienischen.
Für den Armeezweck kommt nach Ansicht des Verf. folgendes in
Betracht: Belehrung in systematischer Form für alle Angehörigen des
Heeres, Verteilung und Erläuterung gedruckter Belehrungen nach Ana¬
logie der von der D. G. B. G. empfohlenen Merkblätter, Ermittelung und
militärärztliche Behandlung aller Erkrankten im Lazarett, Eruierung und
Namhaftmachung der Ansteckungsquelle.
Die Überwachung der geheimen Prostitution (wie, sagt leider Verf.
nicht. Ref.) und Belehrung aller Volksschichten wird in Zukunft die
Hauptsache bleiben. B. Ch.
Bonette. Die Prophylaxe gegen die venerische Gefahr in der französischen Armee.
Gazette des hopitaux, 26. Januar 1904, p. 89.
Der Autor gibt eine vergleichende Tabelle über den Prozentsatz
der Geschlechtskrankheiten in den Heeren der verschiedenen Nationen.
Es kommen auf 1000 Mann:
venerische Krankheiten speziell Syphilis
Deutschland. 29,9 6,8
England. 174,0 34,9
Österreich.61,0 18,8
Belgien. 33,0 6,5
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412
Referate.
venerische Krankheiten speziell Syphilis
Frankreich. 37,5 7,8
Niederlande. 48,2 9,0
Italien.91,9 12,0
Rumänien. 37,0 13,0
Rußland.36,1 12,0
Bonette bezeichnet als sehr nützliche Mittel: die Aufklärung über
die venerische Gefahr durch Vorträge, die Einschreibung hygienischer
Vorschriften in den Militärpaß, die periodische Untersuchung jedes Mannes,
die Eintragung Syphilitischer in eine diskrete Spezialliste, die Anzeige
ansteckungsfähiger Weiber, das Verbot verdächtiger Kneipen mit Damen¬
bedienung.
Vor allem aber empfiehlt er, dem Soldaten während der ge¬
fährlichen Stunden Beschäftigung und Zerstreuung zu bieten.
Nach 6 Uhr, wo der Soldat nichts mehr zu tun und kein Plätzchen
zum Ausruhen hat, geht er eben in die Kneipe, um sitzen und sich
wärmen zu können, was beides in der Kaserne nicht möglich ist. Es
ist durchaus unerläßlich, Erholungsräume zu schaffen, in denen die
Mannschaften im Winter „nach dem Essen sich auf halten können, wo
sie lesen, singen, mit ihren Kameraden spielen und sich unterhalten
können, ohne an stramme Haltung zu denken, ohne Geld ausgeben zu
müssen, wo sie in der Lage sind, mit den Händen in den Hosentaschen
und der Pfeife im Munde sich für einige Stunden in einer wohligen
Atmosphäre von Licht und Wärme und Jugend auszuruhen.“ E. G.
Augagneur. Contre ia Police des Moeurs. Paris 1904, Edouard Corn41y & Cie.,
Editeurs.
In diesen Kritiken und Berichten ist die wichtige Frage der Regle¬
mentierung der Prostitution erörtert, welche schon lange im Pariser
Magistrat diskutiert worden ist, und die Gegenstand eingehenden Studiums
einer von Co mb es ernannten Kommission ist. In der Schrift sind die An¬
sichten der Soziologen und der berufensten Praktiker, Frau Avril de Sainte-
Croix, YvesGuyot, Queyrat, Charles Wagner und Francis de Pressense ver¬
einigt. Sie enthält den Bericht über die Sittenpolizei, welchen Combes
dem Präsidenten der Republik gegeben hat, die Antwort Yves Guyots an
den Präsidenten der Kammer und das Urteil des Lyoner Gerichts über den
Fall Faure. In der Einleitung zu diesem Bändchen betont Augagneur,
daß mit der Aufhebung der Reglementierung eine große soziale Pflicht
zu erfüllen sei. B. S.
Galewsky. über Ammenuntersuchungen am Säuglingsheim zu Dresden. Archiv
für Kinderheilkunde 1904, Bd. 40, Hft. 1—3.
Wie wichtig eine sorgfältige Ammenuntersuchung ist, geht daraus
hervor, daß bisher allein 1283 Infektionen an der Brust und Brust¬
warze bekannt geworden sind. Trotz aller Vorsichtsmaßregeln des
anerkannt vorzüglich geleiteten Säuglingsheims in Dresden ist es in den
letzten vier Jahren doch zweimal vorgekommen, daß Ammen mit ziem-
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Referate.
41S
lieber Sicherheit durch das Anlegen syphilitischer Säuglinge infiziert
sind. An diesem Ereignis trägt besonders der Umstand Schuld, daß an
dem Säugling die syphilitischen Erscheinungen oft erst nach sechs Wochen
und noch später zum Vorschein kommen.
Um allen Gefahren nach Möglichkeit entgegenzutreten, werden die
aus der Entbindungsanstalt entlassenen Wöchnerinnen direkt nach dem
Säuglingsheim überführt und dort mit ihren Kindern durchschnittlich
4—6 Wochen lang sorgfältig beobachtet und untersucht. Erst dann
werden sie weiter vermietet.
Im allgemeinen ist der Prozentsatz der geschlechtskrank befundenen
Ammen ziemlich niedrig. Unter den seit 1899 untersuchten 648 Ammen
wurde in 6 Fällen Lues, in 10 Fällen Gonorrhoe mit Gonokokken und
in 14 Fällen Gonorrhoeverdacht festgestellt. Wenn die Zahl der krank
Befundenen auch nur gering ist, so ist doch durch die Ausschaltung
dieser Ammen großes Unheil verhütet, da meist nicht nur später die
übernommenen Säuglinge selbst, sondern auch deren Eltern und Ge¬
schwister von dieser Quelle aus leicht infiziert werden. Verf. hat es
erlebt, daß in einer Familie durch das Kindermädchen das Kind, die
Mutter, der Ehemann und die Großmutter infiziert wurden. Das mag
den zahlreichen Eltern, die ihre Kinder mit Dienstmädchen oder Kinder¬
fräulein zusammenschlafen lassen, zur Warnung dienen! Dohm (Cassel).
L. Wolffff. Adam und Eva. Ein Beitrag zur Klärung der sexuellen Frage. München,
Seitz & Schauer.
Die Erörterung dieser heiklen Frage beginnt Wolff damit, daß er
die für das Sexualleben wichtigen Begriffe zu klären sucht; er bespricht
die Bedeutung des Geschlechtstriebes und sein Verhältnis zu anderen
Naturvorgängen, das „Werden“ im allgemeinen und seine Beziehungen
zum Sexualleben, indem er zuerst auf die Entwicklungsideen der antiken
Welt eingeht und sich dann zu den modernen Anschauungen über das
Werden in der Natur und speziell des Menschen wendet; er klärt die
Begriffe „Individuum“, „Lebendiges“, „Seele“, „Liebe“ und erläutert
die psychologischen Unterschiede zwischen Mann und Weib sowie den
Einfluß der Sexualorgane auf das psychische Verhalten, ferner die sexuelle
Moral und das Schamgefühl. Im speziellen Teil wird auf das Sexual¬
leben der Tiere und des Menschen eingegangen und die monogame Ehe
als die würdigste Form des menschlichen Geschlechtslebens proklamiert.
Das führt natürlich zu einer Bekämpfung der Prostitution, als deren
Hanptursache die Nachfrage seitens der Männerwelt bezeichnet wird.
Dann unterzieht Verf. die Organisationen der Prostitution einer Kritik,
weist auf die Unzulänglichkeit der Untersuchung der Kontrollierten hin,
beleuchtet die juristische Seite der Reglementierung und hebt von seiten
der Moral hervor, daß es eine falsche Voraussetzung sei, diejenigen,
welche sich sexuellen Ausschweifungen hingeben, auch sonst für un¬
moralisch zu halten; sie werden es erst, wenn sie in jugendlichem Alter
zur Prostitution geworfen werden. Eine Abhilfe gegen die Prostitution
läßt sich durch keinerlei Gewaltmaßregeln schaffen, solange die Ursache
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Referate.
fortbesteht; auch die Prostitution ist nur von innen heraus, d. h. dadurch,
daß das wirtschaftliche und ethische Niveau sowohl beim Angebot wie
bei der Nachfrage erhöht wird, zwar augenblicklich noch nicht zu be¬
seitigen, aber zu korrigieren. — Weiterhin befaßt Wolff sich mit der
Bedeutung des Geschlechtstriebes für das gesellschaftliche Leben und
betont u. a. mit Recht, daß dieselben Mütter, welche jede sinnliche
Regung mit Worten der Entrüstung von sich weisen, ständig damit be¬
schäftigt sind, ihre Töchter abzurichten, die Männerwelt mit allerlei
koketten Modekünsten an sich zu locken. Zum Schluß bekennt sich
Yerf. zu einer verschiedenen Moral der Geschlechter, ohne damit eine
vollkommen gleiche Wertschätzung auszuschließen. Es ist für ihn auch
nicht von fundamentaler Bedeutung, wenn den Frauen im öffentlichen
Leben gleiche Rechte mit den Männern eingeräumt werden. Nur bei¬
stimmen können wir Wolff, daß an unserer Schulerziehung noch sehr
viel zu arbeiten ist und daß dies nur durch einen Kampf im Hause, in
der Schule und im Leben geleistet werden kann, daß dieser Kampf mit
Nachdruck geführt werden muß, daß wir dabei aber nicht intolerant
sein dürfen. Bruno Sklarek (Berlin).
Magnus Hirschfeld. Berlins drittes Geschlecht. Leipzig u. Berlin, H. See¬
mann Nachf.
Der auf dem Gebiete der sexuellen Zwischenstufen bekannte Autor
liefert einen wertvollen Beitrag zur Kulturgeschichte der Großstadt, indem
er von dem Berliner Leben und Treiben der Urninge ein anschauliches Bild
entwirft. Daß er es einem weiten Kreise vorführt, und nicht nur, wie
er es bisher getan, denjenigen zeigt und erklärt, die durch Beruf oder
Art an der Erforschung des Problems unmittelbar interessiert sein
müssen, wird dem Autor sicherlich von mancher Seite einen Vorwurf
einbringen, den er offenbar schon selber vorausgesehen hat und dem er
in der Einleitung zu begegnen sich bemüht. Seinen ersten Versuch, das
vorliegende Thema vor der Öffentlichkeit zu behandeln, sucht der Verf.
durch den Hinweis darauf zu rechtfertigen, daß die Kenntnis eines
Gegenstandes, der mit dem Schicksal so vieler Familien aller Stände
verknüpft ist, nicht länger auf einen eng begrenzten Kreis beschränkt
bleiben dürfe. Dazu komme, daß die von vielen Seiten gehegte Be¬
fürchtung, durch eine populäre Darstellung könnte am Ende für die
Homosexualität selbst „Propaganda“ gemacht werden, nach des Autors
Ansicht vollkommen grundlos sei, weil eine Veränderung der Trieb¬
richtung durch Verführung überhaupt ausgeschlossen sei, und wenn sie
möglich wäre, nur für die Homosexuellen, nicht aber für die normal
Veranlagten in Betracht käme. Es würde zu weit führen, sich mit
Hirschfeld über diese Punkte auseinanderzusetzen; hieße das doch bei¬
nahe in eine Diskussion über das gesamte Problem des Uranismus ein-
treten. Aber wenn auch eine Notwendigkeit für die gemeinverständliche
Darstellung dieser Probleme in populären Schriften keineswegs besteht,
vielmehr ein Buch wie das vorliegende durchaus nicht als ungefährlich
zu bezeichnen ist — im Gegenteil! —, so muß man doch zugestehen,
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415
daß es dem Verfasser gelangen ist, seine Ausführungen in eine Form zu
kleiden, die irgend welche obscönen Gedanken nur bei gänzlich unreifen
Lesern aufkommen läßt; aber gerade deren wird das Buch genug
finden. Und wenn die Darstellung auch niemals den guten Geschmack
verletzt, so wird die Lektüre des Buches einem perversen Geschmack
doch am Ende wie Zuckerbrot munden.
8. R6ti> Sexuelle Gebrechen. Für Ärzte und Laien. Carl Marhold, Halle a/S.
Ein dringendes Bedürfnis für dies Buch lag entschieden nicht vor;
weder auf Seiten der Ärzte noch auf der von Laien. Jene finden darin
nichts, was ihnen nicht schon längst bekannt wäre, und selbst nach An¬
regungen zu neuer Betrachtungsweise alter Tatsachen suchen sie vergebens.
Diese erfahren au9 ihm nur Dinge, die sie entweder gar nicht zu wissen
brauchen oder die ihnen in anderen Schriften richtiger und besser ge¬
sagt werden. Aber trotzdem wird das in flottem, nicht überall gleich
gutem Feuilleton Stil gehaltene Buch schon seinen Leserkreis finden, der
namentlich an den Schilderungen von ,,Fällen“ und den eingestreuten
Gesprächen zwischen Arzt und Klient besonderes Gefallen finden dürfte; auf
andere freilich werden gerade diese Stellen oftmals einen teils peinlichen,
teils komischen Eindruck machen. Dem Arzte flößen manche Ansichten
des Verfassers, der in therapeutischer Hinsicht vielfach einen, wie mir
scheint, unkritischen Optimismus beweist, ernsthafte Bedenken ein, während
andererseits die rücksichtslose Art, mit der hier ein Arzt seinen ihn um
Rat und Hilfe angehenden Patienten, namentlich Patientinnen gegenüber¬
tritt — in völliger Verkennung seiner Rechte und Pflichten — direkt
verletzend wirkt So sagt R6ti einem von ihrem Lehrer verführten,
verzweifelten jungen Mädchen, die ihn voller Herzensangst wegen Schmerzen
am Genitale konsultiert: „Sie sind jetzt keine Jungfrau mehr; Sie können
sich keineswegs mehr brüsten, ein keusches, reines Mädchen zu sein . . .
Daß Sie mit einem Manne in sträflicher Weise geschlechtlichen Umgang
gepflogen haben, das können Sie nie aus der Welt schaffen! Sie werden
nicht mehr mit gutem Gewissen einem Gatten angehören können . . .“
Das nennt man einen Gemütsmenschen! Noch eine Probe dieses Ge¬
mütes: R6ti wird von einer schwer kranken nymphomanischen Frau
konsultiert; noch während der Ordination wird sie von einem Impetus
befallen und „drückt sich an alle möglichen Kanten, gerät in förmliche
Zuckungen, preßt die harten Möbelstücke an sich.“ Und der Arzt?
Er machte „dieser scheußlichen Szene ein Ende“, indem er sie „zur
Türe hinauswarf*‘. . . . Auch sachlich fordert der Verf., wie ich bereits
erwähnte, mehrfach zu energischem Widerspruch heraus: Von dem mit
einem frischen syphilitischen Primäraffekt behafteten Bräutigam verlangt
er schließlich nur eine 3— 4 monatige Wartezeit bis zur Verheiratung.
Von dem weiblichen Fluor behauptet er, „wenn es Tripper ist, muß
unter allen Umständen auch die Harnröhre affiziert werden.“ Im Kapitel
„Onanie“ erklärt Verf.: „Der Onanist wird nicht vom Geschlechtstrieb
geleitet.“ U. ä. m. Besonders erwähnt muß noch der Abschnitt werden:
„Wie schützt mau sich vor Ansteckung?“ Das Kondom hält R6ti
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wegen seiner leichten Zerreißbarkeit für unzuverlässig; der Verf. ver¬
gißt dabei, daß immer nur die Minderwertigkeit des Fabrikates oder eine
fehlerhafte Technik das Zerreißen verschuldet, dieses sich also durch
Vorsicht und Sorgfalt unschwer verhüten läßt. Andererseits empfiehlt
R6ti das von Bayer in Elberfeld erzeugte „Prophylacticum anti-
gonorrhoicum“ mit dem Hinweis darauf, daß „wir im Protargol ein
vorzügliches Mittel besitzen, welches die Tripperansteckung, man kann
sagen, mit voller Sicherheit verhütet.“ Den Wert des R6tischen Buches
möchte Referent, die Eindrücke zusammen fassend, folgendermaßen beur¬
teilen: Für den Arzt ist seine Lektüre überflüssig, bei einem nicht sonder¬
lich kritisch veranlagten Laien wird sie manche schiefe Vorstellung von
der Bedeutung und dem Wesen der „sexuellen Gebrechen“ sowie anderer¬
seits auch ein falsches Urteil über die Denk- und Handlungsweise der Ärzte
hervorrufen; in der Hand eines verständigen Lesers kann das Buch aber
viel Nutzen stiften, der in gewissen Fällen Arzt und Klient in gleicher
Weise zugute kommt; denn trotz seiuer vielen und gewichtigen Mängel
gehört es immerhin zu den unter Umständen empfehlenswerten medizi¬
nisch-populären Schriften. Noch eines muß gesagt werden: auch der
Arzt, der sich von Standes Vorurteilen völlig frei weiß und es für un¬
vernünftig hält, daß den Kollegen, die jetzt einen schweren wirtschaft¬
lichen Kampf auszufechten haben und aus deren eigenen Reihen, und
zwar von besonders autoritativen Stellen aus, immer nachdrücklicher die
selbstverständliche Tatsache betont wird, daß auch die ärztliche Kunst
nach Brot geht, selbst die anständigste Reklame bei Strafe allgemeiner
Ächtung streng verboten ist, empfindet es gleichwohl überaus peinlich,
daß der Verf. auf dem Umschlag des Buches seine genaue Adresse nebst
Sprechstunden hat in auffallendem Drucke vermerken lassen. —
Max Marcuse (Berlin).
Martin Chotzen. Gesundheitslehre des Geschlechtslebens. Breslau 1905.
E. Lesser. über die Verhütung und Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten.
Jena 1904.
Waldvogel. Die Gefahren der Geschlechtskrankheiten und ihre Verhütung. Stutt¬
gart 1905.
Drei ausgezeichnete Brochüren, denen weite Verbreitung zu wünschen
ist. Entsprechend den verschiedenen Zwecken, denen sie dienen sollen
und den verschiedenen Gelegenheiten, denen sie ihre Entstehung ver¬
danken, macht die Lektüre der einen nicht ohne weiteres die der anderen
überflüssig. Chotzen wendet sich an das Offizierkorps, Lesser an die
Ärzte, Waldvogel an die Studierenden aller Fakultäten; die Aufgabe,
die sich die drei Autoren gestellt haben, erfüllen sie durch Inhalt und
Form ihrer Abhandlungen — man darf wohl sagen: restlos. Da die
Waldvogelscbe Brochüre bei weitem am reichhaltigsten ist, versteht
es sich von selbst, dnß gegen ihren Inhalt auch am ehesten Widersprüche
erhoben werden könnten; es handelt sich indes lediglich um sachliche
Meinungsverschiedenheiten, die dem Werte des Büchelchens keinen
Abbruch tun. A. R. C.
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Zeitschrift
für
Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten
Band 3. 1904/5. Nr. 11.
Welchen Schutz können Bordellstraßen gewähren?
Von Anna Fappritz.
Es ist in diesen Blättern sowohl, wie auf den Kongressen
unserer Gesellschaft bereits vielfach auf die Schädlichkeit der Bor¬
delle im eigentlichen Sinne, d. h. der geschlossenen Zwaugsbordelle
hingewiesen worden. Diese Schädlichkeit ist augenfällig und darum
leicht zu definieren. Sie besteht in erster Linie in ihrem engen
Zusammenhang mit dem Mädchenhandel, denn ohne diesen können
die Bordelle keine „neue Ware“ herbeischaffen; ferner in der ent¬
setzlichen Versklavung der Mädchen, die stets in einem gewissen
Schuld Verhältnis zu den Werten bleiben und nichts von ihrem Ver¬
dienst erübrigen. Schließlich liegt die Hauptgefahr der Bordelle
darin, daß die entlassenen Mädchen (entlassen, vielfach weil sie
krank sind) der Winkelprostitution anheimfallen, so daß auf diese
Weise die Bordelle geradezu zu den Nährquellen der geheimen
Prostitution und der Geschlechtskrankheiten werden. Diesen Be¬
denken gegenüber pflegen nun die Befürworter der „Kasernierung“
das System der Bordellstraßen zu empfehlen, die, angeblich frei
von diesen Schädlichkeiten, den Zweck erfüllen sollen, die Straßen
zu säubern und die Kinder und Jugendlichen vor dem schlechten
Beispiel und der Verführung zu behüten. Es ist nicht zu leugnen,
daß die Bordellstraßen für die Insassinnen das Bessere und
Humanere sind, denn sie dürfen ihren eigenen Verdienst behalten,
sie brauchen nicht jeden Mann anzunehmen und sie können leichter
in geordnete Verhältnisse zurückkehren. Ausgenützt werden natür¬
lich auch sie, denn sie zahlen ihren Wirten täglich 8 Mark für
ein Zimmer (die Möbel müssen sie selbst stellen), ihrer Bedienungs¬
frau 6 Mark, für ihre Beköstigung rechnen sie 2 Mark, also Summa
täglich 16 Mark. Das bedeutet, daß sie täglich drei Männer an¬
nehmen müssen, nur um wohnen und leben zu können. Für ihre
Zeiteohr. t Bekämpfung d. Geachlechtakrankh. HI. 30
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418
Pappritz.
Kleidung und sonstige Ausgaben fällt dabei noch nichts ab. Das
Merkwürdige dabei ist, daß die Polizei diese Verhältnisse nicht
nur kennt, sondern die Kontrollmädchen sogar anweist, in den
betreffenden Wohnungen zu logieren, trotzdem sie von Rechts wegen
doch gegen solche Vermieterinnen wegen Kuppelei (§ 180) Anzeige
erstatten müßte. Sie unterläßt aber nicht nur die Anzeige, son¬
dern erteilt der Vermieterin bezw. der Bedienungsfrau auch die
Konzession zum Verkauf alkoholischer Getränke, woraus die be¬
treffende Dame einen weiteren Sündenlohn zieht, indem sie sich
für eine Flasche Wein, die eine Mark wert ist, das Dreifache zahlen
läßt; eine Flasche deutscher Sekt ä 3 Mark kostet 10 Mark, eine
Flasche einfaches Bier eine Mark.
Trotz dieser Mißstände ist, wie gesagt, für die Prostituierten
selbst, die Bordellstraße dem geschlossenen Zwangsbordell vorzu¬
ziehen, hauptsächlich deswegen, weil sie nicht jeden Mann anzu¬
nehmen brauchen; sie können Kranke zurückweisen, sie brauchen
sich keinen Perversitäten hinzugeben und sie können die Zahl
ihrer Besucher einschränken, wenn sie sich elend fühlen und der
Ruhe bedürfen. Hierbei stoßen wir wieder auf eine merkwürdige
Inkonsequenz: der kranke Mann (die Prostituierte untersucht selbst
ihre Besucher) weigert sich vielfach, sich fortschicken zu lassen;
es kommt zu lauten Lärmszenen, bei denen schließlich polizeiliche
Hilfe requiriert werden muß. Die Polizei veranlaßt zwar den
Herrn, sich zu entfernen, aber sie denkt nicht daran, ihn einer
Zwangsbehandlung zu unterstellen, obgleich man doch überzeugt
sein kann, daß er sein Vorhaben nicht aufgeben, sondern anderswo
sein Glück versuchen und ein anderes Mädchen anstecken wird,
denn der Bordellbesucher beschränkt sich keineswegs darauf, im
Bordell allein seine Befriedigung zu suchen. Die Bordellmädchen
finden häufig, bei ihren regelmäßigen Kunden, daß diese sich
anderswo infiziert haben und die Ansteckung ins Bordell tragen
würden, wenn sie selbst sich nicht zu schützen verstehen. Dies
beweist einmal wieder auf’s schlagendste, daß auch die Kasernierung
der Prostitution in Bordellstraßen keinen gesundheitlichen Schutz
bietet. Aber sie soll wenigstens einen moralischen Schutz bieten,
wie ihre Freunde uns versichern, sie soll zur Säuberung der Straßen
beitragen und die Jugend vor der moralischen Ansteckung behüten.
Untersuchen wir einmal, inwieweit die Bordellstraße imstande ist*
diese Forderung zu erfüllen.
In Mittelstädten hält man eine Bordellstraße von 300—500 In-
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Welchen Schutz können Bordellstraßen gewähren? 419
sassinnen für notwendig, für das „Ideal“ — wie mir wiederholt
von maßgebenden Persönlichkeiten versichert wurde. Glauben
diese Persönlichkeiten nun wirklich, daß eine solche Einrichtung
die gewünschte Sicherung des öffentlichen Anstandes herbeiführen
würde? Die Erfahrung lehrt das Gegenteil. Die Einwohnerinnen
der Bordellstraßen müssen schließlich doch auch an die frische
Luft; sie müssen spazieren gehen, Besorgungen machen. Daß sie
diese Wege dazu benutzen, um eventuell ihre „Kundschaft“ zu
vergrößern, ist nur zu natürlich. Schlimmer als die Verletzung
des öffentlichen Anstandes, die von dieser Seite droht, ist jedoch
das Gebahren der Männerwelt, die in den betreffenden Straßen oft
vor den einzelnen Häusern Queue bildet. Bei Gelegenheit von
Sänger-, Radler-, Turnfesten usw. ziehen die angeheiterten Fest¬
teilnehmer oft zu Hunderten in die berüchtigten Straßen; die Jugend
sammelt sich nun neugierig, ihrem Einzug und mit noch größerem
Gaudium dem Rückzug der Herren zuzuschauen, während die Be¬
wohnerschaft der benachbarten und angrenzenden Häuser durch
dies zynische Treiben aufs tiefste verletzt wird. In solche Straßen
werden aber auch die Laufburschen und Mädchen aus den Ge¬
schäften geschickt; Bäcker, Fleischer, Milchmädchen, Kinder, die
Zeitungen austragen, Friseusen, Näherinnen und Wäscherinnen
werden durch ihr Metier ebenso in diese, wie in andere Straßen
geführt. Es handelt sich also fast immer um jugendliche Indi¬
viduen, die auf diese Weise in einen verderblicheren Kontakt mit
der Prostitution gebracht werden, als wenn die freie Prostituierte
vereinzelt unter dem anständigen Teil der Bürgerschaft wohnt.
Aber selbst Kinder werden vor der Berührung mit diesen Ele¬
menten nicht geschützt. Die Bedienungsfrauen haben selbst Kinder
und Anverwandte, die sie durchaus nicht immer fern von diesen
Stätten des Lasters halten. Eine Prostituierte erzählte mir mit
tiefster Entrüstung, daß ihre Bedienung ihre 12-, 9- und 5jährigen
Kinder beständig bei sich hat und daß diese die häßlichsten Aus¬
drücke wie etwas Selbstverständliches gebrauchen. „Was soll ein¬
mal aus den armen Würmern werden, wenn sie von klein auf so
etwas hören und sehen?“ rief das Mädchen mit ehrlichster Em¬
pörung. Die Empörung war wirklich ungeheuchelt, denn die Be¬
treffende hatte im übrigen mit der größten Ungeniertheit, ja Harm¬
losigkeit von ihrem Metier zu mir gesprochen. Sie nannte es zwar
ein „schmutziges Geschäft“ — ebenso wie etwa ein Schornstein¬
feger oder ein Töpfer von seiner unsauberen Arbeit spricht, —
30 *
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420
Pappritz.
aber ohne jeden moralischen Skrupel, scheinbar ohne jedes
Gefühl für das Menschenunwürdige ihrer Lage. Um so größer war
dagegen ihr physischer Ekel. Sie sprach von ihren Kunden in
Ausdrücken, die nicht zu wiederholen sind und sagte häufig: „Wir
tun’s doch schließlich nur des Geldes wegen, leben muß der Mensch,
verhungern kann man nicht, man muß für die Zukunft sparen,
aber wenn so’n feiner Herr solche Schweinereien zum Vergnügen
macht, so kann man doch bloß vor ihm ausspucken.“ Diese An¬
schauung ist durchaus typisch; die tiefe, moralische Verachtung
vor ihren Kunden, der Ekel vor dem Manne ist mir vielfach bei
Prostituierten begegnet, die sich offen geben, die sich nicht als
„reuige Sünderinnen“ aufspielen. Einem Manne gegenüber werden
sie diese Gefühle natürlich aufs sorgfältigste verbergen, selbst wenn
der betreffende Mann nicht ihr „Besucher“, sondern etwa ihr Arzt
oder ein Seelsorger ist. Die Auffassung, die Handlung des Mannes
verächtlich und ekelhaft zu finden, während sie ihr eigenes Leben
als die Ausübung eines berechtigten Berufes ansehen, diese Auf¬
fassung war mir zuerst natürlich sehr frappierend, da man ihr
doch sonst in der „anständigen“ Gesellschaft nirgends begegnet.
Immerhin hat sie eine gewisse psychologische Berechtigung. Man
beurteilt eben eine Sache, die man von Berufs wegen tut, anders,
als wenn man dasselbe zum Vergnügen tut Die Köchin, die Hühner
abschlachtet, erscheint uns nicht „roh“, würde aber eine andere
Person dies aus Vergnügen am Schlachten tun, so würde man
ihre Passion für eine Freude an Roheit und Grausamkeit empfinden
und verurteilen. So beurteilt die Prostituierte augenscheinlich ihre
und ihres „Kunden“ Handlungsweise. Daß sie ihr eigenes Tun
aber als einen „berechtigten Beruf“ ansieht, ist die Folge des
staatlich sanktionierten Reglementierungs- und Bordellsystems. Bei
der hohen autoritativen Bedeutung, die der Staat, besonders bei
uns in Deutschland, genießt, ist es ganz natürlich, daß Personen,
die innerhalb irgend einer staatlichen Institution tätig sind, sich
als Staatsbeamtinnen fühlen, und dies ist tatsächlich bei den
Bordellmädchen der Fall; ist es doch wiederholt vorgekommen,
daß sie sich als „pensionsberechtigt“ ansehen und sich bitter be¬
klagten, daß ihnen die wohlverdiente Pension vorenthalten würde.
Daß bei diesen Anschauungen Rettungsversuche (seltene Ausnahmen
ausgenommen) ganz aussichtslos sind, ist wohl selbstverständlich,
ganz abgesehen davon, daß die Betreffenden durch ihr Leben auch
physisch so entnervt und verweichlicht wurden, daß sie zu irgend
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Welchen Schutz können Bordellstraßen gewähren?
421
einer systematischen, energischen Arbeit unfähig sind. Diese voll¬
kommene moralische Stumpfheit, der das Bordellmädchen anheim¬
fällt, erstreckt sich aber durchaus nicht auf die Gesamtheit ihres
Innenlebens.
Die Besorgnis für Kinder, die durch die oben angeführte
Äußerung illustriert wird, zeigt sich oft in rührender, tatkräftiger
Weise. Es ist wiederholt vorgekommen, daß „eingeschriebene“
Prostituierte, wenn sie von einer erstmalig Inhaftierten hören, die
gänzlich mittellos, nur aus Not zu dem Gewerbe der Schande ge¬
griffen hat, diese durch Geld unterstützt haben, ja ihr eine Aus¬
stattung besorgten, um ihr den Eintritt in ein Rettungshaus zu
ermöglichen. Der mütterliche Instinkt scheint bei ihnen überhaupt
stark entwickelt, und da er keine normale Befriedigung finden
kann, nehmen sie mit Surrogaten vorlieb. So beobachtet man
häufig, daß Prostituierte sich Hunde halten und mit Puppen
spielen, für die sie die reizendsten Kostüme schneidern. Auch
ihre alten Eltern und Geschwister unterstützen sie vielfach durch
Geldsendungen, natürlich ohne den wahren Ursprung des Geldes
zu verraten. Ganz besonders frappierte es mich, über den Betten
einiger Einwohnerinnen einer Bordellstraße eingerahmte Bibel¬
sprüche und religiöse Bilder zu finden. Die Vorstellung, daß an¬
gesichts eines gekreuzigten Christus die scheußlichsten sexuellen
Exzesse begangen werden, hat selbst für einen nicht positiv gläubigen
Menschen etwas ungemein Verletzendes. Ich konnte denn auch
eine erstaunte Bemerkung nicht unterdrücken und erhielt die Ant¬
wort: „Ja, wenn wir auch ein schlechtes Leben führen, so glauben
wir doch auch an die Gnade Gottes; wenn wir daran nicht mehr
glauben könnten, so müßten wir ja verzweifeln.“ Im ersten Moment
hatte ich das Gefühl, hier einer grenzenlosen sittlichen Verworren¬
heit gegenüberzustehen, bis ich mir klar machte, daß Tausende von
„gläubigen, religiösen“, gebildeten Männern sich mit ganz dem¬
selben Kompromiß abfinden und Kirche und Bordell mit derselben
Regelmäßigkeit besuchen.
Die Psychologie der „wilden“ Prostituierten ist ganz ver¬
schieden von der des Bordellmädchens. Die wegen Unzucht auf¬
gegriffenen Mädchen haben durchaus nicht das Gefühl einer harm¬
losen Selbstverständlichkeit, sondern sind im Gegenteil scheu,
absprechend, verlogen, so daß ihr Auftreten im ersten Augenblick
einen abstoßenderen Eindruck macht, als das ihrer „offiziellen,
beamteten“ Kollegin. Gerade diese Verlogenheit ist doch aber ein
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422
Pappritz.
Beweis von Scham, ein Beweis, daß sie sich des Schlechten ihrer
Handlungsweise noch bewußt sind, und damit geben sie auch eine
Handhabe für Besserungsversuche. Daß dieselben auch hier
schwierig sind und selten reüssieren, soll nicht geleugnet werden,
immerhin liegt der Fehler in solchen Fällen vielfach an dem
Mangel geeigneter Anstalten, die die unglücklichen Entgleisten
und Verirrten erst einmal zu ordentlichen Menschen erziehen.
Denn in den meisten Fällen sind diese Verirrten nur ganz un¬
genügend für den Kampf ums Dasein ausgerüstet; es ist unmöglich,
sie in Dienststellen oder anderen Erwerbszweigen unterzubringen,
weil es ihnen nicht nur an den technischen Fertigkeiten, sondern
auch an Charakterfestigkeit und moralischem Halt gebricht. Aber
weder die kurzen Haftstrafen noch das Arbeitshaus, wie es jetzt
eingerichtet ist, können ihnen das eine oder das andere vermitteln,
im Gegenteil, gerade die kurze Haft im Gefängnis trägt nur dazu
bei, sie noch mehr zu verderben, denn dort tritt die raffinierte
und routinierte Gewerbsprostituierte an die Anfängerin heran und
sagt ihr: „Warum bist du so dumm, laß dich doch unter Kontrolle
stellen und du hast ein bequemes Leben." Auf diese Weise sind
erfahrungsgemäß viele Verirrte erst dauernd auf die Bahn des
Lasters geraten. Wir sollten eben in allen solchen Fällen das
Prinzip der Strafe ausschalten und das Prinzip der Erziehung
befolgen, denn es handelt sich fast immer um unreife, unfertige
Personen, die erst systematisch zur Arbeit und zu allem Guten
herangebildet werden müßten. Dementsprechend dürften derartige
Anstalten auch nicht den Charakter von Magdalenenheimen,
d. h. von Anstalten für Büßerinnen tragen, denn es gilt viel
mehr, gebrochene oder schwankende Existenzen aufzurichten,
statt sie durch das beständige Wachhalten des Furcht- und Sünde¬
gedankens noch mehr zu deprimieren. Dann müßte auch der ge¬
sunden Lebensfreude, ja dem Vergnügen in diesen Erziehungs¬
anstalten ein breiter Spielraum gewährt werden. Der erzieherische
Zweck derartiger Maßregeln würde aber beeinträchtigt, wenn
andererseits Bordellstraßen eingerichtet werden, die sich allen
schwankenden Elementen der weiblichen Jugend als bequemes
Refugium peccatorum anbieten und auch für die Männerwelt zum
Verführer werden. Nirgends bewahrheitet sich die Richtigkeit des
Sprichwortes: „Gelegenheit macht Diebe" in so eklatanter Weise,
wie gerade auf diesem Gebiete. Der freie Prostitutionsverkehr
bietet dem Manne, besonders demjenigen, der als Durchreisender
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Welchen Schatz können Bordellstraßen gewähren? 423
in eine Stadt kommt, doch gewisse Schwierigkeiten, ja Gefahren,
die gerade der junge, unerfahrene Mensch scheut; befindet sich
aber in einer Stadt eine organisierte Prostitution, eine Bordell¬
straße, auf die ihn jeder Kellner, jeder Dienstmann oder Kneip-
tiscbnachbar hinweist, so geht er hin, vielleicht zuerst lediglich
aus „Neugierde", um dann unrettbar der Verführung, der Aus¬
beutung, vielleicht einer Ansteckung zu erliegen. Denn wenn die
Bordelle seihst täglich ärztlich visitiert würden, so gäbe dies
noch keine absolute Sicherheit vor Ansteckung, da die Mädchen
vielfach die Krankheit ihrer Kunden nicht konstatieren können
und ihnen nicht die Zeit bleibt, zwischen den einzelnen Besuchen
desinfizierende Ausspülungen zu machen.
Die Bordellstraße kann also weder in gesundheitlicher noch
in moralischer Beziehung einen Schutz gewähren. Für die Sauber¬
keit der Straßen sollte die Polizei sorgen; unter unserem jetzigen
Reglementierungssystem aber muß sie sowohl den „Renommier¬
bummel" der Prostituierten, wie das Queuestehen der Männer in
den Bordellstraßen dulden, denn beide befinden sich ja in ihrem
guten Recht
Wären alle provozierenden, den öffentlichen Anstand ver¬
letzenden Äußerungen des Prostitutionsbetriebes streng verboten,
so könnte die Sittenpolizei wirklich das sein, was ihr Name sagt,
nämlich eine Hüterin der Sitte; in erster Linie würde dazu
gehören, die schamlose Reklame gewisser Animierkneipen mit
„interessanter, internationaler Damenbedienung" aufs energischste
zu unterdrücken. Gewiß würde der Erfolg derartiger Maßregeln
zunächst nur darin bestehen, das Laster in verschwiegenere
Schlupfwinkel zu verbannen, aber selbst dies wäre meines Er¬
achtens schon ein kleiner Schritt zur Besserung; denn gerade das
Provozierende trägt unendlich viel dazu bei, der Prostitution
immer neue Opfer zuzuführen. Es gilt aber in erster Linie, diesen
neuen Zufluß abzudämmen, indem man der Jugend beiderlei Ge¬
schlechts die Versuchung aus dem Wege räumt; dadurch allein
vermindert man das Anwachsen und damit die Gefahren der Pro¬
stitution. Um die Jugend zu schützen, muß man bereits bei den
Kindern anfangen, sie der vergiftenden Atmosphäre zu entziehen.
Dazu kann uns allein ein sorgfältig ausgebautes Fürsorgegesetz
und ein rationelles Wohnungsgesetz, verbunden mit Wohnungs¬
pflege und Wohnungsinspektion, verhelfen. Es würde den mir zu
Gebote stehenden Raum überschreiten, wollte ich den Ausbau
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424 Pappritz: Welchen Schutz können Bordellstraßen gewähren?
dieser Gesetze näher darlegen, auch gehört eine solche Abhand¬
lung wohl kaum in den Rahmen dieser Zeitschrift. Ich muß mich
deswegen mit dem Hinweis begnügen, daß der Schutz unserer
Jugend vor physischer und moralischer Verseuchung durch andere
Mittel gewährleistet wird, als durch die Einrichtung von Bordell¬
straßen, die in dieser Hinsicht bisher nur verschlimmernd gewirkt
haben und aus den dargelegten Gründen ihrer ganzen Natur nach
immer schädigend wirken müssen.
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Die Reglementierung der Prostitution.
Vortrag, gehalten am 14. Dezember 1904 in der Ortsgruppe Frank¬
furt a. M. der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechts¬
krankheiten
von
Dr. Friedrich Hammer (Stuttgart).
(Schluß.)
Wir kennen die Häufigkeit der venerischen Krankheiten in der
Gesamtbevölkerung nicht. Bezüglich der männlichen Bevölkerung
ist immerhin noch unser einziger Maßstab die Erkrankungsziffer
der stehenden Heere. Unter diesen bietet das deutsche Heer
weitaus die günstigsten Verhältnisse. Dann kommt schon mit be¬
deutend größeren Erkrankungsziffem pro 1000 Mann die französische
Armee. Das österreichische Heer hat mehr als doppelt, das ita¬
lienische mehr als dreimal und das englische sogar siebenmal so
viel Geschlechtskranke auf 1000 Mann der Iststärke als das
deutsche Heer. Und zwar ist überall seit 25 Jahren ein ziem¬
lich gleichmäßiger Abfall der Frequenzzahlen zu verzeichnen auch
in der englischen Armee, obwohl in England schon 1888 jede
Reglementierung abgeschafft wurde. Wenn man nun dies als Be¬
weis angeführt hat, daß die Reglementierung gar keinen sanitären
Nutzen für die übrige Bevölkerung habe, so kann ich dies bezüg¬
lich Englands durchaus nicht zugeben. Man muß doch immer
fragen, war denn auch wirklich die aufgehobene Reglementierung
nicht nur eine papierene Einrichtung oder war sie wirklich
einigermaßen zweckentsprechend durchgeführt. Wenn aber von
englischen Ärzten, Vertretern der Regierung, berichtet wird, daß
gegenwärtig in ganz London, der Sechsmillionenstadt, nicht mehr
als etwa 150 Betten für Geschlechtskranke in sämtlichen Spitälern
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426
Hammer.
zusammengenommen zu finden sind, früher aber noch weniger, und
daß es im übrigen England auch nicht viel besser ist, so kann
man sich einen Begriff davon machen, welche Fürsorge der Ver¬
breitung der venerischen Krankheiten früher und jetzt dort ge¬
schenkt wurde. Und man kann leicht auf den Gedanken kommen,
daß auch die auffallend geringen wissenschaftlichen Leistungen
Englands auf dem Gebiete der venerischen Krankheiten eine Folge
dieser Vogel Strauß-Politik sind.
Daß die venerischen Krankheiten ebenso wie andere Volks¬
seuchen auch einer gewissen Selbstregulierung fähig sind, soll
nicht bestritten werden. Allein so wenig heutzutage gegenüber
den anderen epidemischen Krankheiten, wie Pest und Cholera, die
Rede davon ist von Abwarten und Gehenlassen, so wenig wird man
darauf verzichten, gegen die Geschlechtskrankheiten unsere wissen¬
schaftlichen Kenntnisse und Erfahrungen als Waffe zu benutzen
und dies um so weniger, je mehr die Kultur fortschreitet
Wir haben jedoch ein Land, in dem seit langer Zeit eine
allgemeine Anzeigepflicht für venerische Krankheiten besteht, näm¬
lich Norwegen. Und da, wie ich Ihnen schon mitteilte, Norwegen
im Jahre 1888 ebenfalls die Reglementierung abgeschafft hat, so
kann man die Zahl der Geschlechtskranken in der Bevölkerung
vor und nach der Abschaffung der Reglementierung vergleichen.
Und es ist jedenfalls sehr bemerkenswert, daß diesen Zahlen zufolge
eine auffallende Verschlechterung des Gesundheitsstandes der Be¬
völkerung nach dieser Richtung nicht erzielt wurde. Allerdings
wird dieser Schluß von den norwegischen Anhängern der Regle¬
mentierung auf das Lebhafteste bestritten und bewiesen, daß man
die Zahlen auch ganz anders auslegen könne.
Es sei mir gestattet, Ihnen kurz über die norwegischen Ver¬
hältnisse zu berichten, deren Betrachtung, da man dort auch
einigermaßen auf Ausgleiche für Abschaffung der Reglementierung
bedacht ist, für uns nach jeder Richtung lohnender ist, als die der
englischen. Da die gewerbliche Unzucht in Norwegen vollständig
straffrei ist, kann man dort gegen die Prostituierten nur vorgehen,
wenn sie die allgemeinen Polizeivorschriften übertreten und Ärgernis
geben, oder keine Beschäftigung nachweisen können. Da sich alle
diese Vorschriften nicht allzuschwer umgehen lassen, kann man
nur in recht wenigen Fällen die Prostituierten als Vagabunden
behandeln und in Arbeitshäuser sperren, was allerdings ja dann
auch eine gewisse Bestrafung der Unzucht darstellt, nur daß davon
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Die Reglementierung der Prostitution.
427
nur die Allerdümmsten getroffen werden. Außerdem können die
dortigen Arbeitshäuser nur eine beschränkte Zahl aufnehmen. Es
ist deshalb nicht verwunderlich, wenn darüber geklagt wird, in
welch unangenehmer Weise sich die Straßenprostitution in Christi-
ania breit mache.
Dagegen bestehen im übrigen bezüglich der Geschlechts¬
krankheiten vielfach schärfere Maßnahmen als bei uns. Jeder Arzt
muß jeden Fall einer solchen Krankheit anzeigen, muß den
Kranken nach der Ansteckungsquelle fragen und auch diese zur
Anzeige bringen. Diese Person, sei es Mann oder Frau, wird von
der Sanitätskommission untersucht und, wenn krank befunden, ins
Krankenhaus gewiesen, da in Norwegen gesetzlich jeder Fall von
Geschlechtskrankheit ins Spital gesprochen werden kann.
Der Fernerstehende wird diese Anzeige der Ansteckungsquelle
für eine ausgezeichnete Maßregel halten, und doch ist auch sie
nur eine papierne für den, der weiß, wie außerordentlich schwer
sich dies in wirklich zuverlässiger Weise bewerkstelligen läßt. Auch
die geschlechtskranken Soldaten werden bei uns regelmäßig nach
der Infizientin gefragt und sind infolgedessen auf die Frage schon
gerüstet. Es ist bekannt, daß sie dann in vielen Fällen aus einer
gewissen Dankbarkeit nicht die angeben, die ihnen zu Willen ge¬
wesen ist, sondern eine, der sie lieber eine Unannehmlichkeit gönnen,
oder eine, die man nicht findet
Derjenige, der in Christiania einer falschen Anzeige zum Opfer
fällt und sich untersuchen lassen muß, wird wohl auch nicht gut
auf die Einrichtung zu sprechen sein, und man darf wohl auch
mit Recht die Frage aufwerfen, wird dies alles auch wirklich
gleichmäßig bis in die höchsten Stände durchgeführt?
Die Spitalbehandlung ist, was einen wesentlichen Vorzug gegen
unsere Verhältnisse bedeutet, in Norwegen für venerisch Kranke
umsonst. Trotzdem hat sich in den dortigen Spitälern seit 1888
die Zahl der erkrankten Prostituierten sehr vermindert und die
der Dienstmädchen und Arbeiterinnen vermehrt.
In Norwegen ist also der Zustand verwirklicht, wie ihn die
Abolitionisten erstreben, die vor allen Dingen Mann und Frau
ganz gleich behandelt wissen, die die Bekämpfung der Geschlechts¬
krankheiten ganz und gar von der Prostitution trennen und diese
weder bestraft noch reglementiert haben wollen.
Es ist nun charakteristisch, daß nichtsdestoweniger in Nor¬
wegen die Zustände auch nicht befriedigender, sondern offenbar
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428
Hammer.
gerade, was die öffentliche Moral angeht, schlechter sind als bei
uns, und daß dort eitrigst für Wiederaufnahme der Reglementierung
gekämpft wird.
Wir müssen also bis jetzt noch festhalten, daß sich der Nutzen
oder die Zwecklosigkeit der Reglementierung oder gar, wie die
Abolitionisten sagen, ihre Schädlichkeit aus der Erfahrung nicht
einwandfrei beweisen läßt.
Deshalb möchte ich Sie auch mit meinen eigenen in Stuttgart
gewonnenen Zahlen nicht lange aufhalten, obwohl dieselben sicher
nicht gegen den Wert der Zwangsmaßregeln, wie sie in Stuttgart
gehandhabt werden, sprechen. Es ist immerhin bemerkenswert,
daß die an und für sich schon günstigen Zahlenverhältnisse beim
Militär in den letzten zehn Jahren immer noch bessere geworden
sind und zwar die der Garnison Stuttgart mehr als die des ganzen
Armeekorps, so daß wir wohl Stuttgart in bezug auf Geschlechts¬
krankheiten als eine der gesündesten deutschen Städte über
100000 Einwohner bezeichnen dürfen. Ich kenne die Ein wände,
die mir gemacht werden können, besonders den, daß sowohl durch
die zweijährige Dienstzeit, als auch sonst in den letzten Jahren
die Anforderungen an den einzelnen Soldaten steigende sind und
ihm Zeit und Lust, der Prostitution nachzugehen, aufs äußerste
beschränken.
Von höchst autoritativer Seite hat man geglaubt, das verhaßte
System der zwangsweisen Stellung unter Sittenkontrolle, die durch
die Polizei unabhängig von der ärztlichen Tätigkeit verhängt wird,
dadurch umgehen zu können, daß man den sanitären Charakter
der ganzen Einrichtung in den Vordergrund stellt. Es hätte dann
die Polizei nur in der seitherigen Weise auf gewerblich Unzucht
treibende Personen zu fahnden und dieselben zur ärztlichen Unter¬
suchung zu veranlassen. Falls sich diese Prostituierten aber frei¬
willig einer regelmäßigen Untersuchung unterwerfen und den ärzt¬
lichen Anordnungen willig Folge leisten, was ihnen auf einer Er¬
kennungskarte bestätigt wird, sollten sie gar nichts weiter mit der
Polizei zu tun haben. Sie werden sich an die beiden Haupttypen
der Prostituierten, die ich Ihnen zu skizzieren versuchte, erinnern.
Nach meiner Erfahrung würden sich nun wohl diejenigen, die
sich jetzt freiwillig unter Kontrolle stellen, auch bei dem neuen
System ohne Schwierigkeiten regelmäßig kontrollieren lassen,
während die wilden, in den meisten Städten, soweit man sie ein-
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Die Reglementierung der Prostitution.
429
fangen kann, zwangsweise unter Kontrolle gestellten Dirnen in
ihrem Stumpfsinn und ihrer Teilnahmlosigkeit wohl niemals ohne
beständiges Eingreifen der Polizei zu regelmäßiger Kontrolle werden
bringen lassen. In diesem Sinne habe ich auch in Frankfurt im
März vorigen Jahres beim I. Kongreß der Deutschen Gesellschaft
zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten im Auftrag der Frank¬
furter und einiger auswärtiger Polizeiärzte eine Erklärung ab¬
gegeben.
Wenn aber dem so ist, und die Polizei doch nur mit ihrem
ganzen Apparat und fortwährenden Strafen die Kontrolle in Tätig¬
keit erhalten kann, so vermag ich wirklich die Verbesserung gegen
früher nicht einzusehen. Im Gegenteil halte ich es für die ganze
Tätigkeit des Arztes für nicht besonders förderlich, wenn immer
nur sein Wink und seine Anzeige die Polizei auf die unglücklichen
Gefallenen hetzt. Ja, wenn diese einsehen könnten, daß die ärzt¬
lichen Maßregeln ja doch in erster Linie ihnen selbst zum Nutzen
gereichen, dadurch daß die Krankheit bei ihnen zeitig entdeckt
und in bester Weise behandelt und geheilt wird, dann ließe sich
wohl ein auf Freiwilligkeit gegründetes System durchführen.
So wie die Sache aber in Wirklichkeit liegt, ist nicht daran
zu denken, denn diese Mädchen leben nur dem Augenblick und
denken nicht an die allernächste Zukunft
Ebensowenig halte ich den Kampffmeyerschen Vorschlag,
der eine allgemeine Wohnungsaufsicht eingeführt und ferner die
Krankenversicherung auf alle Personen unter 2000 Mark Einkommen
und auf die Prostituierten ausgedehnt wissen will, für durchführbar.
Nach seinem Plan hätten dann Organe der Krankenkassen darüber
zu wachen, daß die notwendigen sanitären Maßregeln von den
Prostituierten durchgeführt werden.
Auch in Frankreich ist gegenwärtig die Strömung, welche die
Prostitution vollständig straffrei machen will, eine sehr mächtige.
Löpine, der Polizeipräfekt von Paris, hat selbst ein System
ausgearbeitet, welches vom dortigen Gemeinderat angenommen
wurde und jedenfalls auch die Bestätigung des Parlamentes finden
wird. L6pine stellt sich ganz auf den hygienischen Standpunkt
und gründet ein Spezialgesundheitsamt, welches die ganze Be¬
kämpfung der venerischen Krankheiten zu regeln hat.
Bestraft werden nur die großjährigen Prostituierten, die ein
regelmäßig zu erneuerndes Gesundheitsattest nicht besitzen oder
öffentliches Ärgernis erregen. Für freiwillige Behandlung der
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430
Hammer.
Prostituierten werden reichlichst Polikliniken für Geschlechts¬
krankheiten vorgesehen.
Minderjährige Prostituierte werden „sämtlich“ in eine Zwangs¬
erziehungsanstalt vom Charakter einer Gewerbeschule verbracht.
Bordelle läßt man als freie Einrichtungen bestehen, stellt sie
aber unter strenge sanitäre Aufsicht.
Das Projekt ist fein ausgedacht. Zweifelhaft ist mir aber vor
allem, ob man auch wirklich Zwangsbesserungsanstalten in solcher
Anzahl und Ausdehnung gründen wird, daß sie sämtliche minder¬
jährigen Prostituierten von Paris aufzunehmen imstande sind.
Eine sehr berechtigte Forderung bezüglich der Zwangsbehand¬
lung der Prostituierten im Krankenhaus ist, daß man dieselben
hier wirklich nur als Kranke ansieht und sie nicht, wie dies auch
heute noch hier und da geschieht, mit Verachtung straft und ihnen
die schlechtesten Räume und ältesten Gebrauchsgegenstände an*
weist. Es ist sehr wünschenswert, daß die Prostituierten im Spital
Tagräume zur Verfügung haben, wo sie sich nützlich beschäftigen
können, denn die Langeweile ist ihr Hauptfeind.
In jeder Beziehung gefördert werden müssen alle Bestrebungen,
die geeignet sind, das Angebot der Prostitution herunterzudrücken.
In diesem Sinne wirken die Rettungshäuser, deren wir ja eine
ganze Anzahl der vortrefflichsten in Deutschland haben, wo sie in
häuslichen Arbeiten unterrichtet werden und sich an Ordnung ge¬
wöhnen können. Das, was auf diesem Wege erreicht wird, ist ja
im Verhältnis zu der großen Masse der Prostituierten recht wenig.
Allein auch hier muß, wie bei manchen anderen Einrichtungen der
werktätigen Liebe, die auch die Prostitution bekämpft, der Grund¬
satz gelten, daß geschehen muß, was geschehen kann, und der
direkte Erfolg darf nicht maßgebend sein. Unter diesen Männern
und Frauen, die selbstlos genug sind, sich einer solchen Rettungs¬
tätigkeit hinzugeben, die es vermögen, in der Seele einer Prosti¬
tuierten zu lesen und auch hier noch einen glimmenden Funken
finden, die Energie und Geduld, Strenge und Nachsicht im richtigen
Verhältnis besitzen, finden sich wahre Idealgestalten, deren segens¬
reiches Wirken nicht an den nächsten Früchten gemessen wird,
sondern die vielmehr als Vorbilder weite Kreise um sich ziehen.
Sehr zu wünschen wäre, daß das Zwangsfürsorgegesetz in ganz
Deutschland, also auch in Württemberg, bis zum 18. Lebensjahre
ausgedehnt würde und daß seine Durchführung in der Praxis auch
wirklich die Absichten des Gesetzgebers erreichen ließe. Dies ist
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Die Reglementierung der Prostitution.
431
jetzt noch nicht der Fall, und eine Eingabe der Deutschen Ge¬
sellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten will diesem
Übelstande abhelfen. Hoffentlich hat sie Erfolg. Eine notwendige
Folge davon wäre, daß auch eine entsprechende Anzahl gut
organisierter Zwangsbesserungsanstalten geschaffen würde.
Selbstverständlich werden auch alle sozialen Maßnahmen, die
geeignet sind, die Lage der weiblichen Arbeiterinnen in materieller
und geistiger Beziehung zu bessern, der Prostitution Abbruch tun,
wenn ich auch nach meinen Erfahrungen und dem, was mir Geist¬
liche, die genügend Einblick in die Verhältnisse haben, zur Be¬
stätigung gesagt haben, nicht zugeben kann, daß, ganz allgemein
gesprochen, die soziale Not eine der Hauptursachen der Prostitution
ist. Dem widerspricht schon die Tatsache, daß so viele Dienst¬
mädchen, die doch gewiß die materielle Not nicht direkt antreibt,
der Prostitution anheimfallen.
In diesem Zusammenhang möchte ich auch noch eine Ein¬
richtung in Erwähnung bringen, die wir nun seit fast 2 Jahren,
soviel mir bekannt zuerst in Deutschland, einer Empfehlung der
Frau Hanna Bieber-Böhm entsprechend, eingeführt haben,
nämlich die der Polizeiassistentin oder Polizeimatrone, wie man
sie anderwärts nennt. Diese Einrichtung begegnet dem Vor¬
wurfe, daß die Prostituierte auf der Polizei nur mit Männern
in Berührung komme, die kein Verständnis für sie haben, und
ist geeignet, die Härten zu mildern, die der geschäftsmäßige
Gang der Polizeimaßregeln vielleicht mit sich bringt Jede gute
Regung, die sich bei einer Inhaftierten bemerklich macht, kann
durch die Polizeiassistentin sogleich aufgegriffen werden. Sie kann
helfend einspringen, wo materielles Elend dem Wiedereintritt
in geordnete Verhältnisse hinderlich ist, sie kann auch die Be¬
treffenden in ihre Heimat zu ihrer Familie zurückbringen. Dies
hat zwar nach unserer Erfahrung meist wenig Zweck, da ja die
Eltern schon die größte Schuld tragen an dem Verkommen ihrer
Töchter und der viel schwierigeren Aufgabe, dieselben wieder
hinaufzubringen, erst recht nicht gewachsen sind. Dagegen gelingt
es jetzt öfter, solche Mädchen in Rettungsanstalten zu verbringen.
Die meisten dieser Dirnen sind ja nicht bösartig, sondern unter
Umständen nach der guten Seite lenkbar, wenn man sie den
schlechten Einflüssen entzieht. Denn der größte Feind dieser
unglücklichen Geschöpfe ist die Freiheit Gerade dieses höchste
Gut, das die Neuzeit jedem Einzelnen immer mehr sichern will,
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432
Hammer.
ja manchem förmlich aufdrängt, ihnen wird es zum Fluche. Einen
bemerkenswerten Abtrag tut auch die Einrichtung der Polizei¬
assistentin der Prostitution wohl nicht, aber sie ist ein weiteres
Glied in der Kette der Bestrebungen zu ihrer Bekämpfung. Auch
hier schlage ich den indirekten Nutzen, der darin besteht, daß sie
uns mit den wahren Ursachen der Prostitution in Fühlung bringt
und uns dieselben finden hilft, höher an als die direkten Resultate.
Und gerade so sage ich auch von der Reglementierung im
allgemeinen, daß sie es uns ermöglicht, dem obersten Grundsätze
der Kriegsführung, nämlich mit dem Feinde in steter Fühlung zu
bleiben, nachzukommen.
In so schwierigen Verhältnissen werden wir auch aus der Ge¬
schichte einen Leitstern zu gewinnen suchen und nachforschen, ob
denn nicht früher schon ähnliche Verhältnisse, Bestrebungen und
Kämpfe dagewesen sind. Und da muß ich bekennen, daß man
Ihnen alles das, was ich sagen wollte, viel lebendiger und deut¬
licher vor Augen führen könnte, wenn man Ihnen die Geschichte
der Prostitution in Frankfurt vorführen würde, wie sie in der
Festschrift für den Frankfurter Kongreß so mustergültig von
Dr. Hanauer bearbeitet wurde (so daß ich einen Sonderabdruck
derselben und diesem weiteste Verbreitung wünschen möchte). In
überzeugender Weise ist da ausgeführt, wie moralische Bedenken
zur Reformationszeit die Aufhebung der Frauenhäuser durchsetzten,
wie die Folge davon war, daß die Schänken und Gasthäuser zu
Bordellen wurden, wie eine solche moralische Verwilderung und
Verseuchung des Bürgertums ein trat, daß sich die Grenze zwischen
ihm und der Prostitution ganz verwischte. Man hatte damals die
Bestrafung der Unzucht beibehalten, aber sie wurde durch die Ver¬
allgemeinerung derselben ganz illusorisch. Und die Zustände
wurden dermaßen unhaltbar, daß sie sich die Reglementierung,
allerdings ohne Bordelle, wieder erzwangen, und tatsächlich wurde
hierdurch wieder Besserung erzielt
Warum sollten wir aus der Geschichte und der Erfahrung
früherer Zeiten nicht lernen und den gleichen Kreislauf wieder
von vorne anfangen in der Selbstüberhebung, wir könnten etwas
beseitigen, was mehrere Jahrtausende vor uns nicht fertig gebracht
haben.
Auch von der Entstehung der Reglementierung bei uns in Stutt¬
gart kann ich Ihnen sagen, daß dieselbe auf eine enorme Zunahme
der Geschlechtskrankheiten und besonders der Syphilis, von der
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Die Reglementierung der Prostitution.
433
damals gesagt wurde, daß sie bereits in das Mark vieler Familien
hineingefressen habe, in den Jahren 1872 und 73 und auf An¬
regung verschiedener Ärzte zuriickzufiihren ist
Wenn nun von abolitionistischer Seite die Möglichkeit zu¬
gegeben wird, daß nach Aufhebung der Reglementierung die
Häufigkeit der Geschlechtskrankheiten zunächst zunehmen würde,
von der Verschlimmerung der Zustände aber und besonders von
der häufiger vorkommenden Ansteckung unschuldiger Frauen und
Mädchen eine Erweckung der Frauen zum Kampf gegen die
Herrenmoral erwartet wird; so steht der Mut, der sich hierin
ausspricht, nach meinem Gefühl der Vermessenheit sehr nahe und
schlägt nebenbei auch allen geschichtlichen Tatsachen, um die sich
allerdings die Abolitionisten nicht gern kümmern, ins Gesicht. Denn
die Geschichte lehrt, daß die Gesetze, welche die Abschaffung der
Reglementierung verordneten, selten von langem Bestände waren,
und daß es immer Zeiten besonders schlimmer sittlicher und ge¬
sundheitlicher Zustände waren, die die Einführung oder Wieder¬
einführung der Reglementierung erzwangen.
Verehrte Anwesende! Sie werden mir zugeben, daß es un¬
endlich schwer ist, rein verstandesgemäß eine allgemeine Lösung
der Prostitutions- und Reglementierungsfrage zu finden. Daß
diese Frage jetzt so allgemeines Interesse erregt, dazu hat wohl
die internationale Inangriffnahme sehr wirksam beigetragen. Un¬
günstig hat jedoch, meiner Ansicht nach, diese internationale Be¬
handlung insofern gewirkt, als dadurch naturgemäß die allgemeinen
grundsätzlichen Fragen in den Vordergrund gestellt wurden. Über
sie ist aber außerordentlich schwer eine Einigung zu erzielen. Auch
wird die praktische Lösung in den einzelnen Ländern und Städten
ganz verschieden sein, je nach den lokalen traditionellen An¬
schauungen und Gewohnheiten, der Größe und Zusammensetzung
der Bevölkerung, dem Bildungsgrad ihrer einzelnen Schichten usw.,
aber sie wird möglich sein, wenn man festhält, daß man mit keiner
Maßregel einen idealen Zustand erreichen wird.
Wohl nirgends ist das Problem schwerer zu lösen als gerade
in Deutschland. Dies ist einerseits auf dem Boden der bestehenden
Gesetzgebung fast nicht möglich, andererseits wird man an eine
Änderung der bestehenden Gesetzgebung schwer herangehen, da
schon über die Grundfragen, ob die Prostitution gestraft werden
soll oder nicht, Zwiespalt sowohl im Lager der Reglementaristen
als ihrer Gegner besteht.
Zeitachr. t Bekämpfung d. Geschlochtskrankh. III. 31
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434
Hammer.
Besonders gebe ich den Abolitionisten zu bedenken, ob sie
sicher sind, wenn sie bei Regierung und Reichstag die Aufhebung
aller Zwangsbestimmungen bez. der Prostitution erreichen würden,
auch die entsprechenden Kompensationen zu erhalten, die die Vor¬
aussetzung dazu bilden, nämlich die sinngemäße Verallgemeinerung
und tatsächliche Durchführung des Zwangsfürsorgegesetzes, die
Schaffung der dadurch notwendigen Zwangserziehungsanstalten in
genügender Ausdehnung, Zahl und Organisation, die unbedingt
freie Behandlung der Geschlechtskranken, und außerdem eine Menge
von Einrichtungen für das Wohl der schwerer ums Dasein kämpfenden
Stände. Denn was man bis jetzt davon hat, wirkt nur wie der
Tropfen auf dem heißen Stein.
Unter den Verhältnissen aber, wie sie sind, würde die plötz¬
liche Aufhebung aller Zwangsmaßregeln gegen die Prostitution eine
ebensolche moralische Verseuchung des Bürgertums und Wieder¬
zunahme der Geschlechtskrankheiten herbeiführen, wie es die Ge¬
schichte der Prostitution in Frankfurt beweist und wie sie auch
anscheinend gegenwärtig in Norwegen im Gange ist, und alsdann
würde man, des bin ich sicher, wieder nach der Reglementierung
schreien.
Man sagt freilich, man wolle das Übel an der Wurzel an¬
greifen durch soziale und erzieherische Reformen. — Mir ist immer
der Sprung erstaunlich gewesen, der hierbei gemacht wird: Man
beruft sich auf der einen Seite auf die verderbten moralischen
Anschauungen der Gegenwart, besonders der Männerwelt, bringt
aber eine solch* freiheitliche Gesetzgebung in Vorschlag, die un¬
bedingt eine bereits veredelte und in jeder Beziehung gebesserte
Volksseele zur Voraussetzung hat. Man nimmt also das Resultat
dessen, was man erstrebt, frischweg als schon gegeben an.
Was wäre nun bei den ganz zweifellosen Schwierigkeiten, die
eine prinzipielle Änderung der gegenwärtigen Prostitutionszustände
hat, natürlicher, als nicht diese prinzipielle Änderung als nächsten
Angriffspunkt zu nehmen, sondern, da ja alle in den Bestrebungen,
die auf Besserung der sozialen Verhältnisse, auf Veredelung und
Erziehung der männlichen Jugend zu größerer Selbstbeherrschung
und Achtung vor dem weiblichen Geschlecht, und des letzteren
zu besserer Wahrung seiner Würde und auf Aufklärung hinzielen,
vollkommen einig sind, was wäre, sage ich natürlicher, wenn man
vereint zunächst auf diese Reformen seine Kräfte konzentrieren
würde. Man dürfte freilich nicht vergessen, daß dies ein weiter,
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Die Reglementierung der Prostitution.
435
weiter Weg ist, auf dem das Ziel mit festem Sinne ins Auge gefaßt
werden muß und nur mit Geduld und Beharrlichkeit erreicht werden
kann. Aber man wäre dann eher davor gesichert, daß man nicht
nach einiger Zeit wieder rückwärts gehen muß, und es würde sich
dann endlich zeigen, wo. hinaus sich der Weg öffnet, ob nach der
Seite des Abolitionismus, oder der der Reglementierung.
Ich fasse meine Ausführungen, mit denen ich Ihre Auf¬
merksamkeit ungebührlich lange in Anspruch genommen habe,
obwohl ich manches gar nicht und vieles nur andeutungsweise
erwähnt habe, in dem Worte zusammen, das ein Franzose auf
dem Brüsseler Kongreß gesprochen hat: Man lasse die Reglemen¬
tierung sterben, aber man töte sie nicht.
31 *
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Tagesgeschichte.
Das preußische Gesetz, betreffend die übertragbaren Krank¬
heiten vom 28. 8. 05 hat am 10. Oktober die königliche Gegenzeich¬
nung erhalten und ist am 20. Oktober d. J. in Kraft getreten.
Fräulein Dr. med. Agnes Hacker, welche seit länger als drei
Jahren am Berliner Polizeipräsidium die Untersuchung der zum ersten
Male eingelieferten weiblichen Prostituierten leitete, hat wegen Über¬
bürdung mit anderweitigen Arbeiten ihre Stellung niedergelegt. Als
ihre Nachfolgerin ist Frau Dr. med. Natalie Ferchland angestellt
worden.
Die internationale abolitionistische Föderation feierte Ende
September in Neuchätel das Jubiläum ihres 30 jährigen Bestehens. Die
Tagung war im wesentlichen den Berichten über die bisherige Wirk¬
samkeit der Föderation gewidmet. Die übrigen dort behandelten Themata
waren: Föderation und Christentum, Föderation und Hygiene, Föderation
und Moral. Neue Gesichtspunkte sind auf der diesmaligen Zusammen¬
kunft nicht zutage getreten.
Kongresse.
Auf dem 4. Kongreß zur Bekämpfung des Mädchenhandels,
der am 12. Oktober d. J. in Bremen tagte, wurde die Umwandlung des
Nationalkomitees in einen eingetragenen Verein, der den Namen „Deutsches
Nationalkomitee zur Bekämpfung des Mädchenhandels“ führen soll, be¬
schlossen. Der Verein, der alle Kreise der Bevölkerung zur Mitarbeit
heranziehen will, hat sich folgende Aufgaben gestellt: 1. Die Be¬
kämpfung des Mädchenhandels durch Bekämpfung seiner sozialen Ur¬
sachen; 2. Schutz der volljährigen und minderjährigen weiblichen Personen
gegen die Gefahren des Mädchenhandels; 3. Sorge für Unterbringung und
weiteres Fortkommen der Geretteten; 4. Auskunftserteilung an alle im
Interesse Gefährdeter um Rat und Information bittenden Personen; 5. Ver¬
folgung der Mädchenhändler; 6. Bekämpfung der dem Mädchenhandel
dienenden Agenturen und solcher Einrichtungen, die den Mädchenhandel
begünstigen und veranlassen; 7. Überwachung der in- und ausländischen
Presse; 8. Aufklärung der öffentlichen Meinung durch die Presse und
durch Vorträge; 9. Zusammenwirken mit deutschen Vereinen, deren
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Tagesgeschichte.
437
Arbeit sich mit der Bekämpfung des Mädchenhandels berührt und
10. Verständigung und Zusammenwirken mit gleichartigen Organisationen
des Auslandes. — Zur Bekämpfung des Mädchenhandels in Deutschland
untersteht dem Berliner Polizeipräsidium eine eigens errichtete staatliche
Zentralpolizeistelle. Sie wurde zuerst nur für Preußen errichtet; ihre
Wirksamkeit wurde nach Zustimmung sämtlicher Bundesregierungen am
1. August vorigen Jahres aber auf das Reich ausgedehnt. Eine sehr
wertvolle Arbeit hat das Deutsche Nationalkomitee mit der Herausgabe
eines Wegweisers $ geleistet, der sichere Adressen im Auslande angibt.
Im ganzen ist es im vergangenen Jahre gelungen, 28 des Mädchenhandels
verdächtige Personen festzunehmen und 82 verschleppte Mädchen ihren
Eltern zurückzugeben.
Major a. D. Wagener (Berlin) erstattete den Jahresbericht des
Nationalkomitees. Er hält es für nötig, daß zum wirksamen Kampf
gegen den 1 'Mädchenhandel die Bestrafung des Versuches eingeführt
werde. Weiter nötig sei eine statistische Klarheit über die Ursachen
der Prostitution. Während das Deutsche Nationalkomitee nicht einen
Fall ermittelt habe, bei dem die soziale Not die Ursache bilde, führe
die französische Statistik 50°/ o auf soziale Not zurück. Auffälligerweise
seien 80—90°/ 0 der deutschen Bordellmädchen frühere Dienst¬
mädchen. Schwierig sei es vielfach, Einzel vereine ins Leben zu rufen.
Man sage sich, daß man naturgemäß alsdann Stellung gegen die ööent-
lichen Häuser nehmen müsse und man fürchte damit in eine schiefe
Stellung zu den lokalen Behörden zu kommen. Eine Aufklärung der
Mädchen sei dringend nötig. Dieselben kennen meistens die Bestimmungen
des Bürgerlichen Gesetzbuches nicht und wissen nicht, daß sie das Bordell,
ohne die Schulden bezahlt zu haben, jede Minute verlassen können.
Ein nachhaltiger Erfolg der Bestrebungen des Komitees auf diesem wie
auf allen anderen Gebieten werde erst dann zu erzielen sein, wenn die
Schule mehr an der Aufklärung über die sexuellen Fragen mit¬
wirke, Vor allem sollten die abgehenden Schülerinnen über die Gefahren
des Mädchenhandels belehrt werden. Falls das Ministerium die Be¬
lehrung in den Schulen nicht zulassen sollte, so werde man eben die
Flugblätter des Vereins vor den Schulen zur Verbreitung bringen.
Polizeirat Dr. Hop ff (Hamburg), der Vertreter der Hamburger
Polizeibehörde, wiederholte, was er auf dem internationalen Kriminalisten¬
kongreß ausgefübrt hatte, daß im juristischen, kriminalistischen Sinne
ein Mädchenhandel in Deutschland keine Stätte habe, und daß heute in
Deutschland kein unbescholtenes junges Mädchen in Freudenhäuser ver¬
schleppt werde.
Zum Schluß brachte der Vorsitzende einen Antrag der deutschen
Landesgruppe der Internationalen abolitionistischen Föderation in Dresden
zur Verlesung, in dem unter Hinweis auf die vor allem in Hamburg
offenkundig gewordene Mitwisserschaft der Behörden an dem Bordell¬
betriebe die gänzliche Beseitigung aller deutschen Bordelle, weil in
Widerspruch mit dem Strafgesetzbuch stehend, gefordert wird. Zur Be¬
gründung dieses Antrages führte Frl. Anna Pappritz (Berlin) aus: Sie habe
von dem traurigen und furchtbaren Lose der Mädchen zu sprechen, die
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438
Tagesgeschichte.
in Bordelle verhandelt worden seien. Und da sei es ihr doppelt schmerz-
lieh, konstatieren zu müssen, daß sie unter den Männern des Kongresses
nur wenig Freunde für den vorgelegten Antrag finden werde. Die
Rednerin bezieht sich dann auf ein Bild des Simplizissimus, auf dem
dargestellt wird, wie ein junger Mann einen Schutzmann auffordert, auf
eine Kupplerin aufzupassen, die offensichtlich ein junges, hübsches Mäd¬
chen nach dem Auslande verschleppen wolle, mit dem Bemerken: „So
was muß für uns im Lande bleiben“. Genau so zynisch und logisch
sei die Konsequenz derjenigen, die den ausländischen Mädchenhandel be¬
kämpfen, aber gegen die Bordelle im eigenen Lande nichts sagen. Auf
ein Mädchen, das ins Ausland geht, kommen zehn Opfer im Inland.
Diese werden nicht nach Amsterdam, Buenos-Aires usw. verschleppt,
sondern nach Metz, Hamburg und anderen deutschen Bordellorten. Es
mögen ja nicht immer gänzlich unbescholtene Mädchen sein. Sie rekru¬
tieren sich vielfach aus bestraften Mädchen, sitzen gelassenen Wöch¬
nerinnen, an die sich die Kuppler und Kupplerinnen mit ihren Ver¬
heißungen heranmachen. Wenn der internationale Mädchenhandel be¬
kämpft werden soll, muß zuerst der nationale Markt unterbunden werden.
Und wenn gesagt worden sei, die Bordellfrage sei eine Frage von unter¬
geordneter Bedeutung, so erwidere sie, für sie gebe es ohne Bordelle
überhaupt keinen Mädchenhandel.
Der Verein sprach sich dahin aus, daß er die Wichtigkeit der Be¬
kämpfung der Bordelle nicht verkenne, zurzeit aber es nicht für mög¬
lich halte, vorzugehen.
Die Resolution Pappritz in gemilderter Form wurde deshalb dem
Vorstand „zur Berücksichtigung“ überwiesen.
Aus den Verhandlungen der 17. Konferenz der deutschen Sitt¬
lichkeitsvereine, welche am 1. und 2. Oktober d. J. in Magdeburg
tagte, erwähnen wir besonders den Vortrag des dortigen Sanitätsrats
Dr. Brennecke über das Thema: „Wie ist der Kampf gegen die Ge¬
schlechtskrankheiten zu führen?“ Redner wandte sich in seinen Aus¬
führungen gegen unsere Gesellschaft und speziell gegen den I. Vor¬
sitzenden unserer Gesellschaft Geheimrat Professor Dr. Neisser (Breslau),
der den außerehelichen Verkehr als einen natürlichen physiologischen
Vorgang bezeichnet habe. Es sei ungemein bedauerlich, daß ein Verein,
der sich die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten zur Aufgabe mache,
den außerehelichen Verkehr als nicht unsittlich, die Geschlechtskrank¬
heiten als nicht schändlich bezeichne. Es könne nicht laut genug be¬
tont werden, daß eine Beherrschung unsittlicher Triebe nicht nur im
Interesse der Gesundheit und Sittlichkeit geboten, sondern auch vom
medizinischen Standpunkte aus sehr wohl möglich sei. Ehe, Familie,
Kirche, Schule, Gesetzgebung und nicht zum wenigsten die Presse
müssen den Kampf gegen die Unsittlichkeit gemeinsam führen. Es
müsse der naturalistischen Weltanschauung offen der Krieg erklärt werden.
Es müsse im Volke das Bewußtsein Platz greifen, daß Religion ohne
Wissen wenig, Wissen ohne Religion garnichts oder unendlich wenig sei.
Die praktischen Vorschläge des Redners gipfelten in der Forderung der
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Tagesgeschichte.
439
Bestrafung des außerehelichen Geschlechtsverkehrs, wenn er zur bewußten
Infektion fuhrt und der Anzeigepflicht und des Heilzwanges für jeder¬
mann unter Ausrüstung der sanitären Organe mit diskretionärer polizei¬
licher Machtbefugnis.
Eine individuelle Prophylaxe der Geschlechtskrankheiten lehnte der
Redner ab, da sie nur zur Unzucht und Prostitution anreize.
Zu gleicher Zeit tagte Anfang Oktober in Halle a. S. der All¬
gemeine Deutsche Frauenverein und in Berlin der Verband
fortschrittlicher Frauenvereine. In Halle sprach Frl. Pappritz
über die Reform der sexuellen Ethik. In Berlin wurde die Reform der
Ehe von den Damen Lischnewska, Dr. Schirmacher und Dr. Stöcker
besprochen. Soweit Frl. Pappritz für die Anerkennung der völligen
gesetzlichen Gleichberechtigung beider Ehegatten, einer gleichen Moral
für Mann und Weib und für die Ermöglichung früherer Eheschließung
plädierte, ging sie wohl parallel mit den Bestrebungen der fortschritt¬
lichen Frauen, doch schied sie sich von ihnen durch den Gedanken, der
in Absatz 3 der in Halle angenommenen Resolution seinen Ausdruck
fand und wonach alle Theorien, welche, um die Eheschließung zu er¬
leichtern, die mit der Ehe verbundenen sittlichen und sozialen Verant¬
wortungen lockern wollen, abzuweisen seien. Sie hält die Gleichstellung
des freien Verhältnisses mit der legitimen Ehe für einen kulturellen
Rückschritt Frl. Lischnewska und Frl. Dr. Schirmacher äußerten
sich auf der diesmaligen Berliner Tagung nicht zu dieser prinzipiellen
Frage, sondern erörterten die wirtschaftliche Reform der Ehe. Frl. L.
verlangt, daß die Frau nicht länger eine „Versorgte“ bleibe, vielmehr
wirtschaftlich produktiv, die Miternährerin der Familie werde. Um das
zu ermöglichen sind freilich viele soziale Umwälzungen, soziale Um¬
wälzungen in der Erziehung und Versorgung der Kinder, in der Berei¬
tung der Speisen, usw. nötig. Frl. Dr. Schirmacher hält dem ent¬
gegen, daß auch die häuslich-mütterliche Tätigkeit der Frau eine Werte
schaffende ist, und daß sie auch schon auf Grund dieser Tätigkeit die
Anerkennung ihrer wirtschaftlichen Selbständigkeit fordern dürfe.
Frl. Dr. Stöcker zeigt die psychologische Notwendigkeit der Ehe¬
reform. Auch sie forderte die völlige Befreiung der Frau innerhalb
der Ehe, ihre pekuniäre und geistige Unabhängigkeit, ihre Erhebung
gegenüber der entwürdigenden Verantwortungslosigkeit des Ehemannes
in seinem Verkehr mit ihr, Aufhebung des Zölibats der weiblichen
Beamten, Erleichterung der Ehescheidung und die Mutterschaftsver¬
sicherung.
Es kamen dann eine Reihe juristischer Themata zur Verhandlung.
Frl. Dr. Augspurg hält eine durchgreifende Reformierung unseres Straf¬
rechts in dem Sinne für notwendig, daß Frauen als Richter, Frauen als
Schöffen, als Untersuchungsrichter angestellt werden. Frl. Dr. Duensing
sprach über die Reform des Strafrechts in den Bestimmungen, welche
die Verbrechen Jugendlicher betreffen, und in den Bestimmungen, welche
an Jugendlichen begangene Verbrechen bestrafen. Die Reform der
deutschen Strafgesetzgebung vom Standpunkte der geschlechtlichen Sitt-
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440
Tagesgeschichte.
licbkeit behandelte Dr. Dorn (München). Er gebt von der Bedeutung
der geschlechtlichen, sittlichen Probleme für die gesamte sittliche Ent¬
wicklung des Volkes aus und erörtert die Richtlinien einer sittlich ge¬
sunden Entwicklung des geschlechtlichen Lebens und präzisierte dann die
Aufgabe des Strafrechts gegenüber den Erscheinungen dieser Lebenssphäre.
Das Strafrecht habe nicht eine erzieherische Pflicht gegenüber dem einzelnen
und der Gesellschaft. Seine Aufgabe bestehe vielmehr darin, die Störungen
zu verhüten, denen die geschlechtliche, sittliche Persönlichkeit durch
unsozial gesinnte Individuen ausgesetzt ist. Solche Störungen sind:
Gefährdung der Rasse, Mißbrauch der Unmündigkeit, Gefährdung
und Verletzung der Freiheit und Unabhängigkeit des geschlecht¬
lichen Lebens und Gefährdung der Gesundheit und des sittlichen Gefühls.
Unter diesen Gesichtspunkten betrachtete der Referent dann die einzelnen
auf das geschlechtliche, sittliche Leben bezüglichen Bestimmungen des
deutschen Strafrechts und zog zum Vergleich die Strafbestimmungen der
anderen Kulturstaaten heran. Eine Reihe von Bestimmungen, z. B. die
des Eherechtes, die des § 175 und des Konkubinats erklärt er als un¬
vereinbar mit den Grundlinien der modernen Entwicklung. Andererseits
trat er energisch für die Schaffung einzelner neuer Strafbestimmungen
ein, z. ß. für die Bestrafung der Gesundheitsgefährdung durch venerische
Ansteckung. Im allgemeinen schloß sich der Referent der Überzeugung
des jüngst verstorbenen Strafrechtslehrers Seuffert an, daß der künftige
deutsche Gesetzgeber nicht auf neue Straftaten Bedacht zu nehmen,
sondern eine Verminderung der bestehenden zu erwägen habe.
Der im August dieses Jahres in Lüttich tagende Fürsorge¬
kongreß hat folgende Beschlüsse gefaßt:
1. In Anbetracht dessen, daß die Zuhälter die Prostitution der
Weiber begünstigen, weil sie von ihnen leben und sie terrorisieren, und
dadurch ein Haupthindernis der Hebung dieser Unglücklichen und ihrer
Rückkehr in die Reihen der Gesellschaft bilden, daß sie ganz besonders
in den Großstädten eine wahre öffentliche und soziale Gefahr sind, spricht
der Kongreß den Wunsch aus, daß in jeder Nation diese Kategorie von
Übeltätern durch das Gesetz getroffen und hart bestraft werden solle.
2. Der Kongreß macht den Wunsch der Internationalen Brüsseler
Konferenzen von 1899 und 1902 zu dem seinigen, daß die Regierungen
alle ihre Machtmittel zur völligen Unterdrückung jeglicher Prostitution
minderjähriger Mädchen anwenden möchten.
3. Der Kongreß spricht den Wunsch aus, daß das Zivilgesetz die
väterliche Autorität durch teilweise oder vollständige vormundschaft¬
liche Autorität in solchen Fällen zu ersetzen gestatte, wo ein minder¬
jähriges Kind (Knabe oder Mädchen) in Gefahr schwebt, der Prostitution
anheimzufallen. Die vormundschaftliche Erziehung kann der privaten
Wohltätigkeit mit Unterstützung und unter Kontrolle des Staates an¬
vertraut werden.
4. Der Kongreß spricht den Wunsch aus, daß die Reglementierung
der Prostitution vollständig abzuschaffen sei.
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Tagesgeschichte.
441
5. Der Kongreß spricht den Wunsch aus, daß das Strafgesetz die
Kuppelei direkter treffe als jetzt allgemein üblich und die Verschleppung
oder Verführung zur Unzucht auch dann bestrafe, wenn die Tat an
einer Erwachsenen und mit ihrer Zustimmung begangen ist.
6. Der Kongreß ersucht dringend die Fürsorge- und Kinderschutz¬
gesellschaften, deD Prostitutionsfragen und dem Mädchenhandel ihr Inter¬
esse zu widmen und den Vereinigungen, welche sich speziell die Be¬
kämpfung dieser sozialen Übel zum Ziel gesetzt haben, ihre moralische
und materielle Unterstützung zuteil werden zu lassen.
Zu der vom 17.—19. Oktober d. J. in Münster tagenden 22. Jahres¬
versammlung des Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Ge¬
tränke hat die D. G. B. G. den Vorsitzenden ihrer Ortsgruppe Dort¬
mund, Herrn Dr. Fabry, dirigierenden Arzt der Geschlechtskranke n-
abteilung am Dortmunder städtischeu Krankenhause, als ihren Vertreter
entsandt
Aus den Münsterer Verhandlungen heben wir die Ausführungen
des Reg.-Rats Dr. Weymann (Berlin) über „Arbeiterversicherung
und Alkoholismus 14 hervor. Redner ging davon aus, daß jede
Schwankung der Volksgesundheit sich im Haushalte der Arbeiterver¬
sicherung in großen Zahlen als Gewinn oder Verlust ausdrückt. Der
Alkoholmißbrauch steigert die Kosten der Arbeiter Versicherung in der
Kranken- und Invalidenversicherung wie auch in der Unfallversicherung
dadurch, daß er Unfälle herbeiführt, Krankheiten hervorruft und be¬
fördert, bei anderen den Verlauf kompliziert und die Heilung verzögert.
Auf Antrag des Redners wurde folgende Resolution angenommen:
„Die 22. Jahresversammlung des Vereins gegen den Mißbrauch
geistiger Getränke ist überzeugt, daß die Organe der Arbeiterver¬
sicherung mit ihrer Bekämpfung des Alkoholmißbrauchs in ihren
Kreisen gleichzeitig ihre eigenen wirtschaftlichen und sozialpolitischen
Aufgaben fördern und den großen nationalen Interessen, welche auf
dem Spiele stehen, in wirkungsvoller Weise dienen. Die Versamm¬
lung bittet alle Mitarbeiter, der Alkoholfrage ernstes Interesse und
gründliches Studium zuzuwenden und ihren persönlichen und sach¬
lichen Einfluß in diesem Sinne zu verwerten. Der Verein erklärt
sich bereit, mit allen seinen Mitteln diese Bestrebungen zu unterstützen.“
Andere Redner erörterten in interessanten Darlegungen den Ein¬
fluß des Alkoholismus auf die Familie, auf die Kommune, auf das platte
Land, auf den Staat, sowie die Alkoholfrage in unseren Kolonien.
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Referate.
Referate.
1. Feistmantel. Der persönliche Schutz vor geschlechtlicher Infektion. (Wiener
med. Wochenschrift. 1905, Nr. 14—18.)
2. Tändler. Ein Beitrag zur Prophylaxe der Geschlechtskrankheiten. (Der
Militärarzt. 1905, Nr. 7.)
3. Otto Grosse. Schutzmittel gegen Geschlechtskrankheiten. (Münchener med.
Wochenschrift. 1905, Nr. 21.)
Die Frage der persönlichen Prophylaxe der geschlechtlichen Infektion
wird in drei Arbeiten in recht ausführlicher Weise behandelt, von denen
die beiden ersten von um so größerem Interesse sind, als sie sich auf
ein relativ großes Material der ungarischen Armee bezw. der öster¬
reichischen Marine stützen.
1. Feistmantel hat das Resultat seiner Versuche in der Garnison
Budapest in einem längeren Aufsatze: „Der persönliche Schutz vor ge¬
schlechtlicher Infektion“ (Wiener med. Wochenschrift. 1905, Nr. 14—18)
dargelegt. Es teilte seine Versuchspersonen in vier Gruppen ein, um
die Erfolge der verschiedenen Arten der Prophylaxe möglichst ein wands¬
frei feststellen zu können, und zwar wurde bei der I. Gruppe die Des¬
infektion in der Weise ausgeführt, daß die Leute Kal. hyperm. Doppel¬
pastillen, die sie in Glastuben zugewiesen bekamen, auf lösten und
nach genauer Instruktion zur Injektion und Waschung verwandten. Für
die II. Gruppe standen im Marodenzimmer der Kaserne mehrere Liter
der Pastillenlösung zum Gebrauch sofort nach der Heimkehr bereit. Die
III. Gruppe bediente sich der ebenfalls im Marodenzimmer bereitstehenden
Sublimattupfer zur äußerlichen Reinigung und einer 5°/ 0 igen Albargin-
lösung zur Instillation in die Fossa navicularis. Endlich war die
IV. Gruppe zum Vergleich instruiert, möglichst bald post coitum zu
urinieren und die Genitalien möglichst gründlich mit Seife zu säubern.
Das Resultat war folgendes:
Bei den prophylaktisch Behandelten (d. i. Gruppe I—III) erkrankten
von 640 Mann 14, d. i. 21,8 °/ 00 (unter Hinzurechnung von 6 infiziert
eingerückten Rekruten).
Bei den nicht prophylaktisch Behandelten in derselben Garnison
erkrankten während der gleichen Zeit von 5880 Mann 839, d. i. 57,6°/ 00 .
Es wurden also 2 / 3 aller venerischen Erkrankungen durch die Pro¬
phylaxe verhütet, während das nicht verhütete dritte Drittel infiziert
einrückende Rekruten und einzelne Fälle von leichtsinniger Infektion
betraf, d. h. Fälle, in denen die prophylaktische Behandlung überhaupt
nicht oder nicht rechtzeitig (innerhalb der ersten drei Stunden) statthatte.
Auf Grund seiner Beobachtungen empfiehlt Feistmantel:
1. eindringliche theoretische und praktische Belehrung und Bereit¬
stellung der erforderlichen Mittel zur Desinfektion, wobei er einen
gewissen Zwang zur Innehaltung der Vorschriften eingeführt
wissen will;
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443
2. als Desinfektion selbst gegen Harnröhrentripper Instillationen
von 1—2 Tropfen 5°/ 0 iger Albargin- bezw. 5°/ 0 iger Protargol-
lösuog (mit 10°/ 0 Glyzerinzusatz) in die Fossa navicularis innerhalb
der ersten drei Stunden; zur äußeren Desinfektion Waschungen
mit l°/oo*8 er Sublimatlösuug drei Minuten lang.
Für die Offiziere hält er Blokusewski sehe „Amicus“-Appa-
rate bezw. „Sanitas“-01iven und Viro-Tuben für geeignet.
8. In Fällen, wo die Desinfektion den Mannschaften selbst über¬
lassen bleibt, hält er die Bereithaltung mehrerer Liter der ge¬
nannten Doppelpastillenlösung für das Beste.
Urinieren nach dem Beischlaf allein gewährt keinen Schutz
vor Infektion.
Am Schlüsse der Abhandlung gibt Verf. einen ausführlichen und
leichtfaßlichen Abriß der Mannschaftsinstruktion über Geschlechtskrank¬
heiten, ihre Verhütung und das Verhalten bei denselben.
2. Eine ähnliche Belehrung enthält das Merkblatt „Was soll der
Matrose von Geschlechtskrankheiten wissen“, das Dr. Gustav
Tändler für die österreichische Wachtmannschaft in Peking ausgearbeitet
hat und in dem Aufsatze „Ein Beitrag zur Prophylaxe der Geschlechts¬
krankheiten“ (Der Militärarzt. 1905, Nr. 7) mitteilt. Auch die Ge¬
schlechtskrankheiten hätten dank der äußerst zahlreichen und zügellosen
Prostitution, über die Verf. recht interessante Mitteilungen macht, trotz
aller Vorsichtsmaßregeln, wie z. B. Einrichtung eigener, von Ärzten kon¬
trollierter öffentlicher Häuser für die einzelnen Truppenkontingente usw.,
eine solche Höhe unter den Gesandtschaftsschutzwachen, daß der russische
Kommandant eine Versammlung sämtlicher Kommandanten einberief, um
der Verbreitung der venerischen Infektion zu steuern. Da jedoch alle
Maßnahmen erfolglos blieben, nahm Tändler seine Zuflucht zur persön¬
lichen Prophylaxe. Laut Truppenbefehl mußte jedermann unter Straf¬
androhung sich baldigst nach stattgefundenem Koitus im Spitale beim
Krankenwärter melden und wurde dort folgendermaßen behandelt: Nach
Entleerung der Blase erfolgte eine gründliche Waschung der Genitalien
mit l°/ 00 igen Sublimatwattetupfern sowie Instillation einer 20°/ 0 igen
Protargolglyzerinlösung in die Harnröhre mittels Einführung eines Tropf¬
röhrchens auf etwa 2 cm Tiefe, die Lösung blieb zwei Minuten darin.
Bei dieser Behandlung erkrankten von 1560 Fällen 25, d. i. ca. 1,6°/ 0 ,
wobei jedoch nicht absolut sicher ist, ob die Erkrankten genau der In¬
struktion folgten und z. B. rechtzeitig zur Behandlung erschienen. Irgend¬
welche üble Folgen des Verfahrens machten sich nicht bemerkbar.
3. In der dritten Abhandlung, „Schutzmittel gegen Geschlechtskrank¬
heiten“ (Münchener med. Wochenschrift. 1905, Nr. 21) beschreibt Dr. Otto
Grosse (München) ein von ihm angegebenes Schutzmittel „Selbstschutz“,
das aus folgenden zwei Teilen besteht:
1. einer ca. 8 cm langen, bleistiftstarken Tube mit weißem Ver¬
schluß, die das antigonorrhoische Prophylaktikum, Hydrargyrum
oxycyanatum 1:1000 mit Wasser, Glyzerin und Gelatine in
pastöser Form zur Injektion post coitum enthält (Dauer der Ein¬
wirkung eine Minute);
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2. einer ebensogroßen Tube mit rotem Verschluß und dem antilue¬
tischen Prophylaktikum, einem unzersetzlichen Fettgemisch von
Lanolin und Vaseline ohne antiseptischen Zusatz zur Einfettung
des Penis ante coitum.
Katharina Scheven« I. Denkschrift Uber die in Deutschland bestehenden Ver¬
hältnisse in bezug auf das Bordellwesen und über seine sittlichen, sozialen und
hygienischen Gefahren. Dresden 1904, Verlag von 0. V. Böhmert. — II. Die
deutschen Frauen und die Hamburger Bordelle. Pößneck i. Thür., Verlag von
Hermann Schneider Nachf.
I. Obgleich seit der Einführung des jetzt geltenden Strafgesetzbuches
vom 31. Mai 1870 das Halten von sogenannten öffentlichen Häusern im
Deutschen Reiche laut § 180 R.St.G.B. gesetzlich verboten ist, bestehen
doch noch in vielen deutschen Städten Bordelle, wenn dies auch be¬
stritten wird, weil die öffentlichen Häuser polizeitechnisch nicht als
Bordelle anzusehen seien. Die Gesetze scheinen nur dazu da zu sein,
um das Wünschenswerte anzudeuten, tatsächlich werden sie mit dem
stummen Einverständnis der Behörden fortwährend umgangen. Aber
die Bordelle werden trotz ihrer Ungesetzlichkeit nur so lange geduldet,
als die Bevölkerung sich das gefallen läßt. Aus einer Enquöte, welche
die Kommission „zur Hebung der Sittlichkeit“ im Aufträge des Bundes
deutscher Frauenvereine unternommen hat, kann man, wenn die Enquöte
auch nicht den Anspruch auf Vollständigkeit machen kann, doch zwei
sehr lehrreiche Tatsachen ersehen: 1. daß es in Deutschland Städte von
verschiedenster Größe und von verschiedenstem Charakter gibt, welche
ohne Bordelle, ja ohne Reglementierung auskommen, und 2. daß weder
die bestehenden Bordelle noch die Reglementierung die geheime Prosti¬
tution zu unterdrücken vermocht haben. Während man nun im Aus¬
lande die Bordelle abzuschaffen sucht und auf dem Kongreß in Brüssel
den wissenschaftlichen Bankerott dieses mittelalterlichen, von einem un¬
entwickelten sozialen Gewissen zeugenden Systems erklärt hat, haben
auf dem Frankfurter Kongresse Neisser und seine Anhänger für
Deutschland Bordelle gefordert, in denen doch die Mädchen von den
Wirten ausgebeutet und demoralisiert werden. Der Staat oder die
Kommune kann die Organisation dieser Einrichtung nicht in die Hand
nehmen und sie Leuten übergeben, welche den Mädchen persönliche
Freiheit und gute Behandlung garantieren, denn „aus humanitären
Gründen wird niemand Bordellwirt“. Aber nicht nur die Mädchen,
welche in den Öffentlichen Häusern stets dem Trünke verfallen, werden
in denselben sittlich noch mehr heruntergebracht, auch die Männerwelt
wird in ihnen weit mehr demoralisiert als durch den Verkehr mit der
frei lebenden Prostitution, weil die Unzucht nirgends schamlosere Formen
annimmt als im Bordell. — Eine soziale Schädigung, welche durch die
öffentlichen Häuser provoziert wird, ist der Mädchenhandel, ohne welchen
es keine Bordelle gäbe; denn ohne ihn wären jene Anstalten nicht immer
mit neuem und frischem Material zu füllen. An Stelle des privaten
Zuhälters treten die Bordellwirte, welche eigentlich täglich nach § 180
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Referate.
445
R.St.G.B. belangt werden könnten and müßten. Auch der amtliche
Verkehr der unteren Polizeiorgane mit den Bordell wirten stellt eine
Quelle moralischer und sozialer Korruption für diese Leute dar, deren
Bestechungen durch die Wirte an der Tagesordnung sind. Die Bordelle
gewähren aber angeblich auch gar keinen Schutz in hygienischer Be¬
ziehung, sie sollen im Gegenteil wahre Laboratorien der Syphilis sein,
weil sich in ihnen infolge der unersättlichen Habgier der Wirte die
Mädchen wahllos jedem Besucher preisgeben müssen, und es sogar eine
von Kennern der Verhältnisse eingestandene Tatsache sein soll, daß
gerade geschlechtskranke Männer mit Vorliebe ins Bordell gehen, da
dort die Spuren ihrer Handlungen nicht zu verfolgen seien. Eine Unter¬
suchung der Männer hält Verf. aus technischen Gründen für unmöglich.
Auch glaubt sie, es den Ärzten nicht zumuten zu dürfen, eine ärztliche
Portierstellung in einem Bordell zu bekleiden. Außerdem werde eine
unrechtmäßige Maßregel nicht dadurch gerecht, daß man sie gleichmäßig
auf beide Geschlechter anwende. Einem schwereren organischen Übel der
Kulturmenschheit glaubt man mit einem plumpen mechanischen Mittel,
wie es die körperliche Untersuchung einer Anzahl polizeibekannter Dirnen
ist, beikommen zu können, aber die Gesellschaft wird dadurch zu dem
Glauben verführt, daß etwas geschähe, während in Wirklichkeit nichts
geschieht. Aus all diesen Gründen ist der § 180 R.St.G.B. auch vom
abolitionistischen Standpunkte in seiner jetzigen Form abzuschaffen, aber
vorläufig durch einen neuen zu ersetzen, der das einfache Vermieten
einer Wohnung an einzelne Prostituierte oder an Personen, welche ein
außereheliches Verhältnis haben, ignoriert, sofern damit keine gewerbs¬
mäßige Ausbeutung dieser Personen verbunden ist.
II. In dieser Broschüre halten die Frauen, welche in der Bekämpfung
der reglementierten Prostitution und der Bordelle ihre Hauptaufgabe er¬
blicken, Abrechnung mit dem Syndikus Dr. Schäfer-Hamburg wegen
seiner Reichstagsrede am 28. Januar 1904, in welcher er es verteidigte,
daß es Frl. L. G. Heymann verboten worden ist, in Hamburg
über das Thema „Reglementierung der Prostitution“ zu sprechen, weil
diese Dame den betreffenden Gegenstand schon häufig behandelt und
dabei hätte erkennen lassen, daß sie es nicht verstünde, die Grenzen
einer sachlichen Erörterung innezuhalten, und weil diese Versammlungen
von Personen beiderlei Geschlechts besucht worden seien, die zum Teil
in einem Alter gestanden hätten, in dem man solche Dinge noch nicht
zu erfahren pflege. Es würde auch die allerschwerste Gefahr für die
Öffentliche Sittlichkeit in Hamburg entstehen, wenn die Hamburger Be¬
hörden das System aufgäben, das sie nach reiflicher Überlegung ein¬
geführt hätten. Die Hamburger Polizei verfolge mit vollem Bewußtsein
das System der Kasernierung, und man sei in Hamburg stolz darauf,
daß es gelungen sei, das Zuhältertum nahezu vollständig zu unterdrücken.
Es sei auch nicht wahr, daß die Hamburger Polizei durch die sitten¬
polizeilichen Einrichtungen viel Geld verdient. — Diese Ausführungen
gaben den Anlaß zu einer Protestversammlung in Berlin. In der Er¬
öffnungsrede derselben sagte Fräulein Anna Pappritz, daß die ganze
Art und Weise, wie die Mehrheit der Reichstagsabgeordneten die Rede
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446
Referate.
des Hamburger Bundesratsbevollmächtigten aufgenommen hätte, den Be¬
weis liefere, daß ein großer Teil der deutschen Männerwelt nicht die
sittliche Reife und den sittlichen Ernst besäße, um derartige Fragen
überhaupt mit der ihnen gebührenden Würde zu behandeln; daß die er¬
wählten Vertreter des Volkes eine so ernste Sache wie die Sittlichkeits¬
frage wie einen pikanten Schwank behandelt hätten (!). Die Delegierte
für Hamburg, Frau Regina Rüben, weist darauf die Behauptung
Dr. Schäfers zurück, daß nur infolge einer Animosität der Ham¬
burger Polizei gegen Frl. H. die Abhaltung ihrer Versammlung in
Hamburgs Mauern verhindert worden wäre, weil dies trotz des
Wechsels der Vorsitzenden nicht gelungen sei. Die sexuelle Frage sei
in ihren Versammlungen stets auf das reinste und dezenteste behandelt
worden, und es sei nicht wahr, daß 12—14 jährige Kinder an denselben
teilgenommen hätten. Dagegen gebe sie gern zu, daß der Hamburger
Polizei Frl. H. seit Jahren bekannt sei, von der Dr. Schäfer behauptet
hätte, daß sie eine größere Gefahr für ihre Vaterstadt bedeute, als
alle in Hamburg bestehenden Bordelle zusammen; daß Frl. H. der Polizei
sogar so gut bekannt sei, daß dieselbe bei ihr, die sich ganz in den
Dienst der Humanität gestellt, sogar hilfesuchend angeklopfk hätte. Aber
Frl H. hätte an den Stützpfosten der Hamburger Bordelle gerüttelt, die
ja nun endlich auch im polizeitechnischen Sinne existierten, und welche
nicht zur Befriedigung der Lüste der Kulis und Laskaren dienten; nein,
viele reiche verheiratete und unverheiratete Hamburgische Herren verkehrten
in ihnen. Das Raudi-Zuhältertum bestehe allerdings nicht in Hamburg,
aber das weit schlimmere und gefährlichere, das Zuhältertum in Lack¬
stiefeln und Zylinder. Auch würden die Geschlechtskrankheiten durch
die öffentlichen Häuser keineswegs eingedämmt. Zuletzt verlangt Frau
Rüben Rechnungslegung über den Geheimfonds, in den gewaltige
durch die Polizei von den Prostituierten erhobene Summen flössen.
— Im Anhänge wird ein Vortrag gebracht, den Fr. H. am 29. Sep¬
tember 1903 in Altona „über die rechtliche Grundlage und die mora¬
lischen Wirkungen der Prostitution“ gehalten hat. Die Rednerin
macht in demselben auch einen Ausfall gegen die Staatsmänner und
Männer der Wissenschaft, welche, wie die Frauen wiederholt hätten be¬
obachten können, die Grundbegriffe von dem, was die Frauen für die
moralischen Gefahren der Reglementierung der Prostitution hielten, noch
nicht einmal begriffen hätten, und kommt zu dem Schlüsse, daß es eine
rechtliche Grundlage der Reglementierung der Prostitution nicht gäbe.
„Staat und Behörde bringt sie (die Reglementierung) mit den Gesetzen
in Konflikt, sie, die Hüter derselben sein sollen, machen sich des Rechts¬
bruchs schuldig. Mann und Frau, die für einander geschaffen und die
sich in ihren Kindern nicht nur fort-, sondern weiterentwickeln sollen
in harmonischer Kraft und Reinheit, denen bringt sie Disharmonie und
vergiftet den Ursprung des Körpers und der Seele des Kindes. Die
Prostituierte, die um kein Haar tiefer steht, als der von ihr Gebrauch
machende Mann, stößt sie aus der Gesellschaft und ladet deren mora¬
lischen Mord auf sich.“
Bruno Sklarek (Berlin).
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Referate.
447
A. Forel« Die sexuelle Frage. Eine naturwissenschaftliche, psychologische,
hygienische und soziologische Studie für Gebildete. München 1905, Ernst
Reinhard.
Es liegt nahe, den Gründen nachzuspüren, warum in den letzten
Jahren die mit dem Geschlechtsleben in Zusammenhang stehenden Pro¬
bleme ein immer steigendes Interesse gefunden haben und augenblicklich
in fast allen europäischen Kulturländern Gegenstand zahlreicher, zum
Teil leidenschaftlich geführter Diskussionen geworden sind. Sicher
sprechen hier eine ganze Reihe verschiedener Momente mit: auf natur¬
wissenschaftlichem Gebiet die grundlegenden Entdeckungen des letzten
Jahrzehnts mit Bezug auf die Mechanik der Befruchtung und Keimes¬
entwicklung, auf hygienischem die Zunahme der Geschlechtskrankheiten,
der sexuellen Neurasthenie und der sexuellen Perversitäten, auf sozio¬
logischem das gewaltige Anschwellen der Frauenbewegung, auf ethischem
der neu erwachte Kampf zwischen der dogmatisch-autoritativen und einer
naturalistischen, historisch-materialistischen Moral. Alles das hat zweifellos
eine Hochflut von Literatur, guter und minderwertiger, ins Leben ge¬
rufen, welche „die sexuelle Frage“ von den verschiedensten Seiten be¬
leuchtet und oft genug endgültig lösen zu wollen vorgibt.
Nur ein Mann wie Forel konnte den Versuch wagen, in einem
großen Werke einen umfassenden Überblick über das gesamte Geschlechts¬
leben des Menschen in seinen natürlichen Wurzeln und mit all seinen
Rückwirkungen auf das Leben der Individuen und der Gesellschaft zu
geben — nur ein Mann wie Forel, der nicht etwa als dilettierender Essayist
die eine oder andere Seite der Frage geistreich erörtert, sondern aus¬
gerüstet mit dem ganzen Wissen des modernen Arztes und Naturforschers,
begabt mit warmem Herzen für das Volks wohl und mit freiem vorurteils¬
losen Blick das verwickelte Problem in seiner Gesamtheit zu erfassen
und darzustellen versucht. Nach einer klaren Schilderung der Forschungs¬
ergebnisse auf dem Gebiete der Zeugung, Befruchtung und Keimbildung,
der Grundgesetze der Vererbung, der Onto- und Phylogenie, geht er auf
die natürlichen Bedingungen und den Mechanismus der menschlichen Be¬
gattung und der Schwangerschaft ein und erörtert zunächst die körper¬
lichen, weiterhin die psychischen Einwirkungen des Geschlechtslebens und
seiner verschiedenen Phasen auf den Menschen. In der Darstellung der
Ethnologie und Geschichte des menschlichen Sexuallebens schließt er sich
eng — vielleicht etwas zu eng und ausschließlich — an Westermarck
an, dann folgt ein umfangreiches Kapitel über sexuelle Pathologie, in
welchem er im wesentlichen die Geschlechtskrankheiten, die sexuelle Neur¬
asthenie und Impotenz, sowie die verschiedenen Arten der sexuellen
Psychopathologie eingehend erörtert. Die ganze zweite Hälfte des Buches
ist den Wechselbeziehungen gewidmet, die sich zwischen dem Geschlechts¬
leben und den übrigen Lebensbedingungen des Menschen ergeben: Geld
und Besitz, Prostitution, Land- und Stadtleben, Geselligkeit, Alkoholis¬
mus, Klassengliederung, Religion, Recht, Medizin, Moral, Politik, National¬
ökonomie, Pädagogik und Kunst — zum Schluß ein Ausblick auf die
zukünftige Gestaltung des menschlichen Sexuallebens.
Die besten Teile des Buches sind zweifellos die naturwissenschaft-
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448
Referate.
liehen und medizinischen, von den letzteren namentlich diejenigen, die
sich mit der sexuellen Psychopathologie befassen. Hier spricht der
Fachmann zu uns, der hervorragende Psychiater, der den intimsten
Seelenbewegungen mit feinfühligem Verständnis nachspürt und der aus
einer reichen klinischen Erfahrung herausschöpft. Am wenigsten ge¬
lungen scheinen mir die soziologischen Partien. Hier ist Forel nicht
genügend Nationalökonom, vor allem nicht genügend Politiker und Real¬
politiker. Was er z. B. über den Einfluß des Geldes und des Milieus
sagt, bleibt oft an der Oberfläche und zeugt von geringer Kenntnis der
Dinge. Wenn er (S. 318) behauptet, „Fabrikmädchen sind großenteils
mit Dirnen fast identisch“, so muß sich ein wirklicher Kenner der Ver¬
hältnisse fragen, wie der Autor zu solchen Urteilen gelangen konnte.
Dieser Mangel an realpolitischem Verständnis gibt sich auch in seinen
Forderungen kund, z. B.: „Erstens muß das schändliche moderne System
der Ausbeutung des Armen durch ungenügende Bezahlung seiner Arbeit
bekämpft und die soziale Wirtschaft gründlich umgestaltet werden.
Zweitens muß die Sitte des Genusses narkotischer Mittel und speziell
des Alkohols beseitigt werden. Drittens muß die falsche Scham des
Menschen in bezug auf die normalen geschlechtlichen Verhältnisse auf¬
hören.“ Wer mit solchen Sätzen spielend auf wenigen Zeilen ein Programm
entwerfen kann, dessen Erfüllung jahrhundertelange Kämpfe erfordert,
zeigt, daß ihm der Maßstab für die eigentlich wirksamen Kräfte des
Volkslebens mangelt. Forel gehört eben zu jenen warmherzigen Idealisten
und Ideologen, die, nachdem sie einmal irgend eine bestehende Einrichtung
für gemeinschädlich erkannt haben, mit dem kategorischen Imperativ:
„es muß, es müßte, es sollte“ leicht bei der Hand sind. Wer da soll
oder muß, wer da bewirkt, bzw. durchsetzen kann, daß gemußt wird
und ob überhaupt die Möglichkeiten für ein solches Soll oder Muß ge¬
geben oder in Zukunft realisierbar sind, das ist für sie eine untergeordnete
Frage. Forel ist denn auch in erster Linie Ethiker, Ethiker nicht etwa
auf dem Boden starrer christlicher oder sonst einer religiösen Dogmatik,
sondern naturalistischer Sozialethiker, der an alle seine — oft sogar
sehr strengen — Forderungen den Maßstab legt, ob sie nicht nur dem
Individuum, sondern auch der Gesellschaft in jeder Gruppierung: der
Familie, der Rasse, dem Staat, der gesamten Menschheit dienlich sind.
Forel ist alles, nur kein Philister; frei von allen Vorurteilen stellt er
oft Wertungen und Forderungen auf, die der landläufigen, insbesondere
der obrigkeitlich abgestempelten Moral mit aller Gemütsruhe ins Gesicht
schlagen, und alles das mit einem Freimut, der um so erfrischender
wirkt, als wir ihn bei unsern Fachgelehrten in Amt und VVürden fast
nie antreffen. Darum wirken auch die zahlreichen idealistischen und oft
utopistischen Ausblicke des Buches keineswegs störend — man möchte
last sagen, sie geben ihm erst sein eigentümliches großzügiges Gepräge,
indem sie hinter dem Ganzen immer den warmherzigen Volksfreund,
sagen wir ruhig den Demokraten im besten Sinne des Wortes erkennen
lassen — einen Alten mit jugendlichem Feuer, mit reinem Sinn und
warmem Empfinden. Nur ein solcher Mann konnte ein solches Buch
schaffen. A. Blaschko.
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Zeitschrift
für
Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten
Band 3. 1904/5. Nr. 12.
Reichen die bisherigen Bestimmungen des Kranken¬
versicherungsgesetzes zur Heilung von Geschlechtskrank¬
heiten aus?
Von
Dr. Beinhold Ledermann (Berlin),
Spezialarzt für Hautkrankheiten.
In dem Kampfe gegen die Geschlechtskrankheiten spielen die
Krankenkassen eine große, bedeutungsvolle Rolle. Bei der un¬
geheueren Verbreitung dieser Krankheiten in allen Bevölkerungs¬
schichten entfällt naturgemäß auch ein großer Prozentsatz der¬
selben auf die Mitglieder der Krankenkassen und es erwächst den
Krankenkassen dadurch die verantwortungsvolle Aufgabe, durch
sorgfältige und sachgemäße Behandlung der Erkrankten auch ihrer¬
seits an der Eindämmung dieser Volksseuchen mitzuarbeiten und
sich dadurch in den Dienst der Volkshygiene zu stellen. Diese
Aufgabe kann nur dann in ausreichender Weise erfüllt werden,
wenn den Versicherten die Möglichkeit der Krankenunterstützung
bis zur völligen Ausheilung gewährt wird. Ob und inwieweit aber
bei den jetzt geltenden Bestimmungen des Krankenversicherungs¬
gesetzes die Krankenkassen dieser Aufgabe gerecht werden können,
das ist eine Frage, deren Beantwortung im folgenden versucht
werden soll.
Betrachten wir zunächst diejenigen Bestimmungen des Kranken¬
versicherungsgesetzes, welche sich mit der Unterstützungspflicht der
Krankenkassen beschäftigen und folgen wir darin dem ausgezeich¬
neten Kommentar von Hans Seelmann (Die chronisch und rück¬
fälligen Kranken. Volkstümliche Zeitschr. f. prakt. Arbeiterversiche¬
rung Nr. 8 u. 9. 1905), so finden wir Krankheit als einen anor¬
malen Körperzustand definiert, welcher in der Notwendigkeit ärzt-
Zeitschr. f. Bekämpfung d. Geschlechtekrankh. m. 82
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450
Lederin ann.
licher Behandlung oder der Anwendung von Heilmitteln oder in der
Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit wahrnehmbar zutage tritt 1 )
Die Notwendigkeit ärztlicher Behandlung wird dabei nicht durch
die Ansicht des Versicherten, sondern durch das Urteil des be¬
fragten Arztes entschieden. Die Krankenkassen, zu denen auch
die Gemeindeversicherungen gehören, sind, sofern nicht rechtlich
zulässige einschränkende oder erweiternde Sonderbestimmungen
bestehen, zu einer fortlaufenden Unterstützung für mindestens
26 Wochen verpflichtet. 2 ) Bei jeder neuen Krankheit hat der
Kranke wieder die vollen gesetzlichen Leistungen der Kasse zu
verlangen, wobei es gleichgültig ist, ob die neue Krankheit auf der
gleichen, nicht gehobenen Krankheitsursache beruht oder ob eine
ganz andere Krankheitsursache vorliegt Nur muß der Kranke vor
Beendigung des früheren Unterstützungsfalles bis zum Eintritt der
neuen Krankheit im Rechtssinn gesund gewesen sein, d. h. weder
ärztliche Behandlung noch Medikamente gebraucht haben, noch
erwerbsunfähig gewesen sein. 3 )
l ) Eine allgemein anerkannte Definition zu dem Begriff Krankheit gibt
auch das Hanseatische Oberlandesgericht zu Hamburg in seinen Entscheidungen
vom 1. März 1886 und 8. Juli 1887: Krank im Sinne des Gesetzes ist, wer und
so lange er der ärztlichen Hilfe bedarf, gesund im Sinne des Gesetzes, wer
keinen Arzt nötig hat und deshalb seinem Erwerb nachgehen kann, auch
wenn in seinem Organismus eine krankhafte Anlage fortbesteht (Vergl.
Dr. Wiedemann-Memmingen, Was muß der Arzt vom Krankenversiche-
rungsgesetz wissen?)
*) Der § 6 Abs. 2, weicher hier in Betracht kommt, lautet: Die
Krankenunterstützung muß spätestens mit dem Ablauf der 26. Woche nach
Beginn der Krankheit, im Falle der Erwerbsunfähigkeit spätestens mit dem
Ablauf der 26. Woche nach Beginn des Krankengeldbezuges enden. Endet
der Bezug des Krankengeldes erst nach Ablauf der 26. Woche nach dem
Beginn der Krankheit, so endet mit dem Bezüge des Krankengeldes zugleich
auch der Anspruch auf die im Abs. 1 unter Ziffer 1 bezeichnten Leistungen.
Dieser Absatz 1 heißt: Als Krankenunterstützung ist zu gewähren: Vom
Beginn der Krankheit ab freie ärztliche Behandlung, Arznei, sowie Brillen,
Bruchbänder und ähnliche Heilmittel.
*) § 26a Ziffer 3. Ununterbrochene Krankheit. Eine Krankheit
dauert so lange fort, als der Gesundheitszustand eine normale Störung derart
erlitten hat, daß im objektiven Sinne ärztliche Hilfe oder besondere Pflege
erforderlich ist oder daß Erwerbsunfähigkeit oder doch eine erhebliche Be¬
schränkung der Erwerbstätigkeit vorhanden ist. Es kommt also einerseits
nicht darauf an, daß der Erkrankte in dem einzelnen Falle ärztliche Hilfe
tatsächlich in Anspruch genommen hat, andererseits wird aber auch nicht
verlangt, daß die krankhafte Anlage selbst beseitigt ist. Die periodisch
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Reichen die bish. Bestimmgn. des Kranken vers.-Ges. zur Heilg. usw. ans? 451
Wenden wir diese Bestimmungen z. B. auf einen Schulfall von
Syphilis an: Ein Versicherter akquiriert einen harten Schanker und
konsultiert seinen Arzt, der ihn in Behandlung nimmt, und wie es
seine Pflicht ist, eine längere Beobachtung für notwendig hält.
Sechs Wochen nach der ersten Konsultation entsteht, wie gewöhn¬
lich, der erste Ausschlag, die Roseola. Nun macht der Kranke
eine sechs wöchentliche Quecksilberkur durch, nimmt darauf 4 Wochen
lang Schwitzbäder und weitere 4 Wochen lang innerlich Jodkali und
wird dann vom Arzt entlassen mit der Weisung, sich erst in 6 Wochen
wieder vorzustellen. Bleibt er nun, wie so häufig, eine Reihe von
Wochen frei von Krankheitssymptomen und ist deshalb nicht ge¬
nötigt, den Arzt während dieser Zeit aufzusuchen, so hat er, wenn
sich wieder neue Symptome zeigen, sei es, daß er sie selbst ent¬
deckt, oder daß der Arzt bei der gewünschten Untersuchung sie
findet, den vollen Anspruch auf die statutarischen Leistungen der
Krankenkasse für die weitere Dauer von 26 Wochen. In solchem
Falle pflegt der Arzt, wenn er den Kranken nach dem ersten, wie
hier angenommen, etwa 20 wöchentlichen Behandlungstumus ent¬
läßt, den Vermerk „geheilt“ auf den Krankenschein zu setzen,
womit ausgesprochen ist, daß dieser Krankheitsfall als solcher als
erledigt zu betrachten sei. Dabei ist es gleichgültig, ob der Kranke
während dieser Behandlungsdauer erwerbsfähig gewesen ist oder
nicht Allerdings darf er über die 26 Wochen der gesetzlichen
Unterstützungsdauer hinaus keinerlei ärztliche Verordnungen in
irgendeiner Form in der symptomenfreien Zeit benötigen, denn
sonst gilt die Krankheit als fortdauernd und die Unterstützungs¬
pflicht der Krankenkasse ist für diesen Krankheitsfall völlig er¬
schöpft, mag auch die Krankheit, wie das ja bei der Syphilis die
Regel, noch jahrelang weiter dauern.
Anders gestaltet sich die Sachlage, wenn erwerbsfähige Kranke
im Laufe der 26 wöchentlichen Unterstützungsfrist erwerbsunfähig
werden. Alsdann erhält der Kranke von dem Beginn der Erwerbs¬
unfähigkeit an noch weiter 26 Wochen lang Unterstützung. Tritt
diese Erwerbsunfähigkeit am letzten Tage der gesetzlichen Unter¬
wiederkehrenden Ausbrüche einer und derselben krankhaften Anlage dürfen
daher nicht zusammengerechnet werden, vielmehr wird bei einem chronischen
Leiden, also bei Fortbestehen der krankhaften Anlage, der Lauf der Unter-
stützungsfrist durch krankheitsfreie Pausen immer wieder unterbrochen. —
Entsch. der Großb. Bürgermeisterei Gießen vom 17. Dez. 1904 (Volkst Zeitschr.
f. prakt. Arbeitervers. 1906, S. 78).
82 *
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452
Lied ermann.
Stützungszeit von 26 Wochen ein, so kann der Kranke maximal
51 Wochen 6 Tage von der Krankenkasse Unterstützung erhalten.
Bei der Syphilis mit ihren unberechenbaren Rückfällen, besonders
bei den malignen Formen derselben, könnte, wenn wir auf das
vorher erörterte Beispiel zurückgreifen, der Fall eintreten, daß der
Kranke kurz nach Beendigung seiner ersten Quecksilberkur vor
Ablauf der ihm gesetzmäßig zustehenden Unterstützungsdauer neue
schwere Erscheinungen bekommt, welche eine kürzere oder längere
Erwerbsunfähigkeit bedingen. Dann verlängert sich die Unter¬
stützungsdauer von dem Beginn der Erwerbsunfähigkeit an auf
weitere 26 Wochen. Oder um an einem andern Beispiel aus dem
Gebiete der Geschlechtskrankheiten zu erläutern: Ein Tripper¬
kranker bekommt in der 20. Woche nach seinem Eintritt in ärzt¬
liche Behandlung eine fieberhafte akute Nebenhodenentzündung,
welche ihn ans Bett fesselt. Dann genießt er noch weitere 26 Wochen
die Wohltaten der Krankenkassenunterstützung.
Tritt jedoch während der Unterstützungszeit eine andere Krank¬
heit dazu, so wird dies nicht als neuer Krankheitsfall gerechnet
und eine Verlängerung der Unterstützungsfrist findet nicht statt.
Die Gemeinden sind nun nach §§ 6 a, 26 a KVG. ermächtigt,
zu beschließen, daß Versicherten, welche von der Gemeinde die
Krankenunterstützung ununterbrochen oder im Laufe eines Zeit¬
raumes von 12 Monaten für 26 Wochen bezogen haben, bei Eintritt
eines neuen Unterstützungsfalles, sofern die gleiche nicht ge¬
hobene Krankheitsursache fortdauert, im Laufe der nächsten
12 Monate Kranken Unterstützung nur fair die Gesamtdauer von
13 Wochen zu gewähren ist. Diese Kürzung der Krankenunter¬
stützung ist nur dann zulässig, wenn der Versicherte von derjenigen
Gemeinde oder derjenigen Krankenkasse, welche die einschränkende
Bestimmung erlassen hat, bereits in einem gewissen Umfange unter¬
stützt worden ist (Stenogr. Ber. des Reichstags 1892 S. 2985 u.
2988, ferner Seelmann 1. c., Hahn, Commentar z. Krankenver¬
sicherungsgesetz 1904, S. 91). Ist er jedoch von einer anderen
Krankenkasse 26 Wochen hindurch unterstützt worden, so hat er
bei Eintritt in eine neue Krankenkasse wieder vollen Anspruch auf
die gesetzlichen Unterstützungen. Während dieser neuen 12 Monate
hat der Kranke nach der Seelmann sehen Auslegung, der wir uns
anschließen, nur 13 Wochen Krankenunterstützung zu be¬
anspruchen, ohne Rücksicht darauf, ob er ununterbrochen 13 Wochen
lang oder in verschiedenen kürzeren Perioden unterstützt worden ist.
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Reichen die bish. Bestimmgn. des Krankenvers.-Ges. zur Heilg. usw. aus? 453
Gerade diese letzte Bestimmung ist für die Behandlung der Syphilis,
bei welcher der Kranke häufig einer längeren als 26wöchentlichen
Krankenuntersttitzung in dem ersten Erkrankungsjahre bedarf, von
außerordentlicher Bedeutung, wie wir weiterhin sehen werden.
Die eben erörterten Bestimmungen des Krankenversicherungs¬
gesetzes enthalten in manchen sehr wichtigen Punkten Widersprüche,
auf welche mit einigen Worten einzugehen von Interesse sein
dürfte. So erscheint es im höchsten Grade verwunderlich, daß
die Untersttitzungsfrist eines arbeitsfähigen und auch wirklich
arbeitenden Kranken bei Fortdauer der Krankheit nach Ablauf
von 26 Wochen erlischt, während derselbe Kranke, wenn er am
letzten Tage vor Ablauf dieser Frist arbeitsunfähig wird, noch
weitere 26 Wochen auf Unterstützung Anspruch hat. So segens¬
reich diese Bestimmung auch für die daraus Nutzen Ziehenden
ist, so wenig trägt sie den Anforderungen der Wirklichkeit Rechnung.
Zunächst betragen die Kosten für Erwerbsunfähige bei der Kranken¬
kasse ungleich mehr als für Erwerbsfähige, bei welchen die Aus¬
gaben der Krankenkassen sich auf die Gewährung freier Arznei
und freier sogenannter kleiner Heilmittel beschränken. Die Aus¬
gaben für ärztliche Behandlung kommen im allgemeinen nicht in
Betracht, da sie für ärztliche Honorare eine alljährlich festgesetzte
Summe betragen, die entweder von den Krankenkassen als Fixa
an die angestellten Ärzte abgegeben oder, wie bei der freien Arzt¬
wahl, von den Ärzten untereinander verteilt wird. Für die Kasse
kann es also gleichgültig sein, wie oft die Kassenärzte von den
Kranken im Laufe des Jahres in Anspruch genommen werden, für
sie kommt lediglich die Ausgabe an Arzneien und anderen kleinen
Heilmitteln in Betracht. Um so merkwürdiger erscheint die Be¬
stimmung, daß die Krankenkassen, die doch sonst mit ihren Aus¬
gaben nicht verschwenderisch umzugehen pflegen, die höheren Kosten
für Arbeitsunfähige, falls die Arbeitsunfähigkeit im Laufe einer
26 wöchentlichen Krankheitsdauer eintritt, für weitere 26 Wochen
tragen müssen, während es ihnen versagt ist, Erwerbsfähige bis
zur völligen Ausheilung zu unterstützen, wofern die Heilung noch
nicht im Laufe von 26 Wochen eingetreten ist Mit anderen
Worten: Es kann dem erkrankten erwerbsfähigen Kassenmitglied,
dessen völlige Heilung nach 25 Wochen 5 Tagen noch nicht erfolgt
ist, gar nichts Nützlicheres begegnen, als daß er für einige Tage
erwerbsunfähig wird. Alsdann hat er wieder volle 26 Wochen
Zeit zu weiterer Behandlung und völliger Ausheilung seines
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454
Lederm&nn.
Leidens. Man kann nur annehmen, daß sich der Gesetzgeber
von einer weitgehenden Humanität hat leiten lassen, wobei
aber den Verhältnissen des praktischen Lebens nicht hinreichend
Rechnung getragen ist. Praktischer und nützlicher, auch weniger
kostspielig — denn das muß ja bei den Krankenkassen auch eine
Rolle spielen — wäre die Bestimmung gewesen, Erwerbsfähigen
einen längeren Unterstützungszeitraum zu gewähren ; denn der Fall
daß ein lange Zeit erwerbsfähiger Kranker im Laufe der Behand¬
lungsfrist erwerbsunfähig wird und dadurch noch einer längeren
ärztlichen Behandlung bedarf, 1 ) ist ungleich seltener, als der, daß
an chronischen Leiden Erkrankte, wie z. B. viele Geschlechtskranke,
dauernd arbeitsfähig bleiben, aber noch nicht in 26 Wochen ge¬
heilt sind. Mir liegt natürlich nichts ferner, als diese der Kritik
unterworfene menschenfreundliche Bestimmung aus dem Gesetz
ausgeschaltet zu wissen. Aber man muß sich doch andererseits
fragen, warum die arbeitsfähigen Kranken, von welchen viele, die
eine große Familie zu ernähren haben, oft mit Aufbietung aller
Kräfte ihre Arbeit fortsetzen, schlechter gestellt sein sollen, zumal
sie den Kassen wenige Pfennige für Arzneien oder Bäder kosten
und ihre Konsultationen beim Arzt der Kasse keine Mehrkosten
verursachen.
Ein weiterer Widerspruch scheint mir in dem vorher er¬
wähnten § 6 a zu liegen, wonach die Gemeinden beschließen können,
bei 26 wöchentlicher Unterstützungsdauer im ersten Jahre dieselbe
im zweiten Jahre auf 13 Wochen zu reduzieren, falls die Krank¬
heit auf der gleichen Ursache wie im ersten Jahre beruht. Da
das Gesetz nicht vorschreibt, wie lange die Unterstützungsfrist im
dritten Jahr bei Fortbestehen der gleichen Krankheit dauert, so
muß man wohl annehmen, daß im dritten Jahr der Versicherte
wieder Anspruch auf die vollen Leistungen der Krankenkasse, d. h.
auf 26 Wochen hat. Es kann also der Fall eintreten, daß ein
chronisch Kranker — sagen wir z. B. ein erwerbsfähiger Syphili¬
tiker — der im ersten Jahre 26 Wochen hindurch behandelt ist,
im zweiten Jahre mehrfache Rückfälle bekommt, die aber, da die
13 wöchentliche Behandlungsdauer zur Heilung nicht ausreicht,
nur unvollkommen behandelt werden konnten und im dritten Jahre
l ) Nach 0. Mugdan (Das Krankenversicherungsgesetz, Leipzig 1900)
beträgt die Zahl der Personen, die ununterbrochen mehr als 26 Wochen krank
sind, noch nicht 2 °/ 0 aller Kranken.
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Reichen die bish. Bestimmgn. des Krankenvers.-Ges. zur Heilg. nsw. aus? 455
eben wegen der vorausgegangenen unzureichenden Behandlung mit
verstärkter Macht wieder zum Ausdruck kommen. Dann stehen
dem Kranken — wenigstens gibt das Gesetz keine einschränkenden
Bestimmungen — im dritten Jahre wieder 26 Wochen für seine
Behandlung zur Verfügung. Diese ganze 26 wöchentliche Behand¬
lung im dritten Jahre hätte aber erspart werden können, wenn der
Kranke im zweiten Erkrankungsjahr sich hätte so gründlich be¬
handeln lassen können, wie zu seiner Ausheilung notwendig war.
Mit anderen Worten: ein chronisch Kranker, der im dritten Jahre
der Erkrankung einen Rückfall bekommt, befindet sich im Hinblick
auf diese Bestimmungen in günstigerer Lage, als wenn Krankheits¬
ausbrüche, die längere Behandlung erfordern, im zweiten Jahre
erfolgen, während doch gerade eine Ausheilung vieler Leiden im
zweiten Jahre der Erkrankung weit bessere Aussichten bietet und
daher von den Krankenkassen angestrebt werden müßte.
Um nun die Frage zu erörtern, ob und inwieweit die tatsäch¬
lich vorhandenen Bestimmungen des Krankenkassenversicherungs¬
gesetzes für die Ausheilung von Geschlechtskrankheiten ausreichen,
müssen wir uns den Charakter dieser Krankheiten mit wenigen
Worten ins Gedächtnis zurückrufen.
Am wenigsten kommt dabei der weiche Schanker mit seinen
Folgeerscheinungen, den Lymphgefäßentzündungen und der regio¬
nären Drüseneiterung, in Betracht, da bei dieser Krankheit, selbst
im Falle eines operativen Eingriffes, die Dauer von 26 Wochen
nur ausnahmsweise überschritten werden dürfte.
Schwieriger liegen schon die Verhältnisse bei der Gonorrhoe,
welche zwar häufig im Laufe von 26 Wochen zur Heilung kommt,
bei welcher aber doch nicht selten die Behandlungsdauer den Zeit¬
raum von 26'Wochen, ja von einem oder mehreren Jahren über¬
schreitet So kann es namentlich bei chronischen Gonorrhoen mit
ihren begleitenden Folgeerscheinungen, wie z. B. Entzündungen des
Hodens oder der Prostata oder Gelenkentzündungen oder Ham-
röhrenverengerungen zuweilen notwendig werden, daß die Behand¬
lung hintereinander über 26 Wochen dauert. Die bestehenden ge¬
setzlichen Bestimmungen machen es aber jetzt dem Kranken
unmöglich, nicht nur in dem ersten Erkrankungsjahre nach Ablauf
dieser 26 Wochen noch weitere ärztliche Hilfe von der Kasse zu
erlangen, sondern auch bei manchen Kassen im nächsten Jahre
bei dem infolgedessen eingewurzelten Leiden länger als 13 Wochen
Kranken Unterstützung zu beziehen. Solche Fälle kommen, wenn
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456
Lederm&nn.
auch nicht gerade häufig, immerhin vor und können dann in späteren
Jahren durch ihre Folgen den Krankenkassen größere Kosten ver¬
ursachen, als wenn den Kranken zur rechten Zeit die Möglichkeit
gewährt worden wäre, sich gründlich, wenn auch in längerer als
der statutarisch vorgeschriebenen Zeit behandeln zu lassen. Es ist
ja bekannt, daß bei nicht völlig ausgeheilten Trippem oft nach
einer Reihe von Jahren noch Folgeerscheinungen auftreten können,
welche erhebliche und langdauemde Störungen der Gesundheit, ja
vollständige Invalidität bedingen können. Ich erinnere nur an die
zahlreichen Fälle von narbigen Harnröhrenverengerungen, welche oft
ihrerseits wieder die Ursache von Blasen- und Nierenerkrankungen
selbst nach Jahrzehnten bilden. Wären diese Kranken in der Lage
gewesen, sich vollkommen von allen Resten ihres Trippers befreien
zu lassen, so wären den Krankenkassen bezw. den Landesver¬
sicherungsanstalten, welche bei eintretender Invalidität für sie zu
sorgen haben, später erhebliche Opfer erspart geblieben. 1 )
Fassen wir das Gesagte zusammen, so ergibt sich, daß die Zahl
derjenigen Tripperkranken, welche, eine energische Behandlung am
Anfang ihrer Krankheit vorausgesetzt, über das Maß der gesetz¬
lichen Leistungen hinaus unterstützt werden müssen, im ganzen
eine nicht sehr erhebliche ist, daß mithin die Mehrkosten, welche
den Krankenkassen aus der völligen Ausheilung dieser meist er¬
werbsfähigen Kranken erwachsen würden, nicht sehr bedeutende
sein werden. Andererseits geht daraus hervor, daß die Unkosten,
welche aus der Vernachlässigung der Leiden der Minderzahl ent¬
stehen, unter Umständen recht beträchtliche sein können, wenn sie
sich oft auch erst nach Jahren zeigen; denn die Folgeerscheinungen,
welche ungeheilte Tripper nach sich ziehen, betreffen nicht nur die
erkrankten Männer selbst, sondern können sich auch bei ihren
Frauen und Kindern bemerkbar machen. Es ist ja genugsam be¬
kannt und braucht hier nicht des weiteren erörtert zu werden,
wie häufig die Frauen, welche ja ihrerseits wieder vielfach in
Krankenkassen sind, den ungeheilten oder nur scheinbar geheilten
Trippern ihrer Männer zum Opfer fallen und wie diejenigen Kranken¬
kassen, welche viele Frauen zu Mitgliedern haben, schwer an den
*) Diese Folgeerscheinungen (z. B. beim Tripper Verengerungen, bei
Syphilis Apoplexie) gelten natürlich als neue Krankheit im Sinne des Gesetzes
und sind dementsprechend von den Krankenkassen zu behandeln, wenn ein
Symptomen- und behandlungsfreier Zwischenraum zwischen der ursächlichen
Krankheit und den Folgesymptomen vorhanden gewesen ist.
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Reichen die bish. Bestimmgn. des Krankenvers.-Ges. zur Heilg. usw. aus? 457
Ausgaben für Frauenkrankheiten zu tragen haben, von denen ein
großer Teil auf die ungeheilten Krankheiten der Männer zurück-
zuführen ist. Ganz abgesehen schließlich von den sozialen Schäden,
welche sich durch ungeheilte Tripper in der Verminderung des
Bevölkerungszuwachses und der Wehrkraft des Volkes heraus-
stellen.
Noch deutlicher als beim Tripper treten die Schäden, welche
aus einer nur begrenzten Behandlungsmöglichkeit für Kassenmit¬
glieder entstehen können, bei der dritten hier zu erörternden Ge¬
schlechtskrankheit, der Syphilis hervor. Hier wissen wir von
vornherein, daß es sich um eine chronische Krankheit handelt, zu
deren Heilung ein Zeitraum von mehreren Jahren gehört In dieser
Zeit schwebt der Kranke dauernd in Gefahr, von neuen Krank¬
heitssymptomen befallen zu werden, welche nicht nur für ihn von
folgenschwerer Bedeutung sind, sondern auch wegen der Ansteckungs¬
gefahr, welche mit ihnen verknüpft ist, für andere verhängnisvoll
werden können. Dabei ist diese Ansteckungsgefahr gerade in den
ärmeren Bevölkerungsklassen eine unverhältnismäßig größere, als
bei dem wohlhabenden Teil der Bevölkerung. Das Zusammen¬
wohnen vieler Leute in engen, ungenügend ventilierten Bäumen,
das Schlafstellenunwesen, das Zusammenarbeiten zahlreicher Leute
in Fabriken und Werkstätten, die gemeinsame Benutzung von
Arbeitsutensilien und Bedürihisräumen und schließlich das mangelnde
Verständnis für die folgenschwere Bedeutung dieser Krankheit, alle
diese Momente begünstigen die Verbreitung derselben und ver¬
langen gebieterisch die sorgfältigste und gründlichste Behandlung
der davon Befallenen. Wenn nun auch die Dauer der Krankheit,
d. h. die Zeit, innerhalb welcher der Kranke von neuen anstecken¬
den Symptomen befallen wird, durchschnittlich 3 Jahre beträgt, so
ist damit doch nicht gesagt, daß er während der ganzen Dauer dieser
Zeit ständiger ärztlicher Behandlung und sonstiger Unterstützungs¬
mittel von seiten der Krankenkassen bedarf. Stets treten längere
Behandlungspausen ein, selbst wenn der von vielen Ärzten beobachtete
Modus der intermittierenden Behandlung Syphilitischer, d. h. nicht
nur die Behandlung zu Zeiten bestehender Krankheitserscheinungen,
sondern auch in symptomenfreien Zeiten zur Anwendung gelangt.
Wenn daher auch zunächst der Gedanke einer etwa 3 jährigen Be¬
handlungsdauer etwas Erschreckendes an sich hat, so schrumpft
doch tatsächlich dieser Zeitraum beträchtlich zusammen, wenngleich
er in der Regel diejenige Frist überschreiten dürfte, welche das
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458
Ledermann.
Krankenversicherungsgesetz den Kassenmitgliedern als maximale
Unterstützungsdauer gewährt. Denn bei der Syphilis ist es wie
bei keiner anderen chronischen Krankheit notwendig, daß Kranke,
wenn auch nicht in dauernder Behandlung, so doch in dauernder
Beobachtung bleiben und von Zeit zu Zeit, auch wenn sie sich ge¬
sund fühlen und keine Medikamente gebrauchen, sich dem Arzte
vorstellen. Bei dem oft völlig schmerzlosen Charakter der Sym¬
ptome können Erscheinungen auftreten, welche von dem Kranken
nicht bemerkt oder selbst, wenn sie bemerkt werden, vernachlässigt
werden. Es sollte also der Kranke mindestens während des ersten,
oft auch während des zweiten Jahres eigentlich dauernd in ärzt¬
licher Beobachtung bleiben, wenngleich die eigentliche Behandlung,
welche abgesehen von der ärztlichen Untersuchung besondere Auf¬
wendungen erfordert, natürlich nur einen beschränkten Zeitraum
in Anspruch nimmt
Man muß nun dankbar anerkennen, daßdiejetzigenBestimmungen
des Krankenversicherungsgesetzes gegen die früheren, welche über¬
haupt nur eine 13 wöchentliche Unterstützung gewährten und Ge¬
schlechtskranke vielfach von der Behandlung ausschlossen, einen
großen segensreichen Fortschritt bedeuten, und man muß auch zu¬
geben, daß sie für manche regulär verlaufende Fälle von Syphilis
ausreichen dürften. Denn, wenn wir uns ein Behandlungsschema,
soweit es überhaupt möglich ist, aufzeichnen, so würde etwa die
erste Behandlung, wie wir bereits vorher in einem Beispiel gezeigt
haben, den Zeitraum von 26 Wochen nur ausnahmsweise über¬
schreiten. Dann folgt gewöhnlich ein symptomenfreier Zeitraum
von mehreren Monaten, nach dessen Ablauf der Kranke wiederum
Anspruch auf eine 26 wöchentliche Behandlung hat, dessen voll¬
ständige Ausnützung nur in den allerseltensten Fällen erforderlich
sein dürfte. Nach dieser zweiten Behandlung, welche in der Regel
nur 6—8 Wochen in Anspruch nimmt, folgt dann wieder ein mehr¬
monatlicher symptomenfreier Zeitpunkt, an welchen sich von neuem
eine etwa 6 wöchentliche Behandlung anzuschließen haben würde,
so daß, ein normaler Verlauf der Krankheit vorausgesetzt, bei diesem
Modus der Behandlung, welcher aber nicht von allen Ärzten be¬
folgt wird, der Kranke betreffs ärztlicher Behandlung und Kranken-
untersttitzung kaum in Verlegenheit kommen dürfte; aber die ge¬
samte Behandlung bezw. Beobachtung eines Syphilitikers wird fast
immer den Zeitraum von 26 Wochen im ersten Jahre überschreiten
und ihn dadurch in den Kassen, welche für das zweite Jahr ein-
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Reichen die bish. Bestimmgn. des Krankenvers.-Ges. zur Heilg. usw. aus? 459
schränkende Bestimmungen haben, der Möglichkeit berauben, dann
eine mehr als 13 Wochen dauernde Krankenunterstützung zu ge¬
nießen. Nun können wir auch zugeben, daß wiederum bei normalem
Verlauf der Krankheit dieser 13 wöchentliche Zeitraum, wenn er sich
auf zwei verschiedene Perioden verteilt, auch im allgemeinen aus¬
reichen dürfte. Also, wenn alle Syphilisfälle ohne besondere
Zwischenfälle verliefen, so würde für kranke Kassenmitglieder, wenn
auch nicht reichlich, so doch ausreichend bei dem heutigen Stand
der Dinge gesorgt sein. Aber mehr, wie bei anderen Eirankheiten
ist bei der Syphilis der Verlauf ein schwankender und unregelmäßiger,
und gerade diese abnorm, also schwerer verlaufenden Fälle, welche
einer besonderen Sorgfalt, einer längeren Dauer der Behandlung
bedürfen, kommen dabei schlechter fort, indem sie die Segnungen
der Krankenunterstützung oft für kürzere oder längere Zeit entbehren
müssen. Gerade diese Fälle sind es, deren Vernachlässigung sich
später am empfindlichsten rächt, indem nicht nur vorhandene
Symptome sich verschlimmern und die ohnehin beschränkte Arbeits¬
fähigkeit noch mehr herabsetzen, sondern auch dem Gesamtorganis¬
mus dauernden Schaden zufügen können. So legt die Vernach¬
lässigung der Syphilis in den ersten Jahren oft den Keim zur
Entstehung jener gefürchteten Tertiärerscheinungen, welche dauernde
Schädigungen lebenswichtiger Organe nach sich ziehen und die
Kranken frühzeitig — ich erinnere nur an das Heer der Gehirn-
und Nervenkrankheiten — zu Invaliden machen. Diese Erwägungen
sind es auch gewesen, welche die Berliner Landesversicherung ver¬
anlaßt haben, durch Gründung eines eigenen Spezialkrankenhauses
den Kranken eine frühzeitige und gründliche Behandlung zu er¬
möglichen, um späteren Folgeerscheinungen vorzubeugen. Gerade
diese Kranken, welche in der Frtihperiode von häufigen anstecken¬
den Symptomen befallen werden, bedürfen einer energischen Be¬
handlung. Handelt es sich doch bei ihnen nicht nur um Gefahren,
welche ihre eigene Person betreffen, sondern um Beseitigung dieser
Gefahren für andere, worunter neben der Ansteckungsgefahr auch
die Übertragung der Krankheit auf die Nachkommenschaft zu
rechnen ist Aus alledem muß man daher den Schluß ziehen, daß
die Behandlungsmöglichkeit für Syphilitische eine unbeschränkte
sein muß, wenn der Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten auf
der ganzen Linie fortgeführt werden soll. Nun könnte man ja den
Einwand machen, daß auch die Mittel der Krankenkassen begrenzte
sind, und daß man schließlich nichts Unmögliches verlangen kann.
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460
Ledermann.
Allein es ist vorher schon hervorgehoben worden, daß nur eine
Minderzahl von Kranken diesen abnormen Verlauf zeigt und daher
ausgedehnterer Unterstützung bedarf, so daß de facto die mehr ent¬
stehenden Kosten nicht allzu : bedeutende sein werden. Ja, man
kann ohne weiteres behaupten, daß, wenn man die Ausgaben für
die Behandlung Syphilitischer in einer Krankenkasse für eine längere
Reihe von Jahren berechnet, die Ausgaben bei einer unbegrenzten
Behandlungsmöglichkeit kaum größere sein werden, wie jetzt, da
diejenigen Kranken, welche in den ersten Erkrankungsjahren gründ¬
lich ausgeheilt werden, später weniger an den Folgeerscheinungen
der Krankheit leiden und dann seltener den Krankenkassen und
Landesversicherungen zur Last fallen werden; denn viele Krank¬
heiten, welche in den Krankenkassen jahraus, jahrein behandelt
werden, sind in letzter Instanz auf frühere, nicht geheilte Syphilis
zurückzuftthren, wenn sie auch später nicht unter der Diagnose
Syphilis geführt werden.
Es scheint mir daher gerade jetzt an der Zeit, wo eine Revision
des Krankenversicherungsgesetzes in Aussicht genommen ist, auf
diese Sachlage hinzuweisen und dabei den Wunsch auszusprechen,
daß für die Behandlungsdauer der Geschlechtskrankheiten, wenig¬
stens für die ambulante Behandlung, alle einschränkenden
Bestimmungen fallen mögen. Diese Forderung ist nicht, wie es
zunächst den Anschein hat, eine besonders übertriebene; sie er¬
höht den Etat der Krankenkassen nicht beträchtlich, da die Kuren,
welche ambulante Syphilitiker durchmachen, außerordentlich billige
sind. Sie lassen sich, da ja die Kosten für ärztliche Behandlung,
wie schon vorher erwähnt, sich nicht erhöhen, oft mit wenigen
Mark bestreiten und betragen inkl. Medikamenten, Bäder usw. kaum
mehr, als einige Tage Aufenthalt im Krankenhause sonst kosten.
An der Kostenfrage dürfte also dieser Vorschlag kaum scheitern.
Die Annahme desselben dürfte sich aber auch aus dem Grunde
empfehlen, weil Syphilitiker nicht nur behandelt, sondern, wie schon
erwähnt, auch beobachtet werden müssen, also eigentlich dauernd
in ärztlicher Obhut stehen sollen. Diese Beobachtung arbeits¬
fähiger Kranken verursacht aber den Krankenkassen aus
den schon mehrfach erwähnten Gründen überhaupt keine
Kosten. Wenn aber selbst Beobachtung und Behandlung manch¬
mal zusammenfielen — denn manche Ärzte geben z. B. Jahre
hindurch ununterbrochen kleine billige Dosen von Quecksilber
(Hutchinson) oder andere schließen an die erste Hauptkur nicht
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Reichen die bish. Bestimmgn. des Krankenvers.-Ges. zur Heilg. usw. aus? 461
in bestimmten Zwischenräumen zusammenhängende Euren an,
sondern injizieren in mehrwöchentlichen Zwischenräumen eine be¬
stimmte Quecksilberdosis längere Zeit hindurch (Jullien) —, so
dürften immerhin die entstehenden Arzneikosten, denn um diese
handelt es sich, abgesehen von Bädern dabei, leicht von den Kassen
zu tragen sein.
Eine Vorbedingung aber für die gründliche Heilung Geschlechts¬
kranker ist die Forderung ausreichender Behandlungsstätten,
namentlich in ambulanter Form, wie ich dies vorgeschlagen
habe. 1 ) Denn der größte Teil der Geschlechtskranken dürfte wohl
später, wie jetzt, außerhalb der Krankenhäuser ihre Kuren durch¬
machen.
Andrerseits müssen aber für diejenigen Kranken, deren am¬
bulante Behandlung aus äußeren Gründen nicht möglich ist, Spezial¬
krankenhäuser in hinreichender Zahl geschaffen werden; denn es
genügt in vielen Fällen nicht, daß die Kassen ihren Mitgliedern
die Mittel für ärztliche Hilfe und Medikamente gewähren; oft ist
auch die Unterbringung in geeigneten Krankenhäusern eine zwingende
Notwendigkeit, um eine schnellere und gründlichere Behandlung
zu ermöglichen und die Infektionsgefahr für andere zu verringern.
Gerade die gründliche Behandlung in Krankenhäusern mit allen
zur Behandlung notwendigen Einrichtungen kann dazu beitragen,
den Krankenkassen später neue, aus den Folgen ungenügend ge¬
heilter Krankheiten erwachsende Kosten zu ersparen.
Dieser Aufenthalt in den Krankenhäusern dürfte aber wohl nur
ausnahmsweise den bisher gesetzlich zulässigen Zeitraum über¬
schreiten, weshalb für diesen Fall besondere erweiternde Be¬
stimmungen im Krankenversicherungsgesetz nicht notwendig sind.
Nur muß den Kranken nach ihrer Entlassung aus dem Kranken¬
haus die Möglichkeit gewährt werden, sich so lange weiter be¬
obachten und behandeln zu lassen, als nach ärztlicher Ansicht
zur Heilung nötig ist.
Was aber für die Geschlechtskranken zu erstreben ist, das
gilt in gleicher Weise auch für andere chronisch Kranke. So¬
lange diese Kranken arbeiten und nur gezwungen sind, alle paar
Wochen zum Arzt zu gehen, um sich untersuchen und eventuell
*) Reinhold Ledermann. Über Errichtung ambulanter Behandlungs¬
stätten für Syphilitisch-Kranke. Volkst. Ztschr. für prakt. Arbeiterversicherung.
1903. Nr. 15. Ferner derselbe: Über die Einrichtung von öffentlichen „Schmier-
stuben u zur Behandlung Syphilitischer. Med. Reform. 1902. Nr. 42.
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462
Ledermann.
ein Heilmittel verschreiben zu lassen, sollten alle beschränkenden
Bestimmungen bezüglich der Untersttitzungsfrist aufgehoben werden.
Wenn die Kranken sich auf diese Weise arbeitsfähig erhalten
können, so ersparen sie den Krankenkassen die großen Kosten,
welche später bei vernachlässigten Leiden durch längere Arbeits¬
unfähigkeit oder durch längeren Aufenthalt in Krankenhäusern
entstehen.
Am einfachsten würde sich diese ganze Angelegenheit er¬
ledigen, wenn der von dem Vorsitzenden der Landesversicherungs-
anstalt Berlin, Dr. Richard Freund, seit dem Jahre 1895
vertretene und auch von anderer Seite befürwortete Plan der
Schaffung eines organischen Zusammenhanges zwischen derKranken-
und Invalidenversicherung zur Ausführung gelangen würde. Für
diese allgemeine einheitliche Zusammenlegung wird als Voraus¬
setzung die Übernahme der Krankenrente von der Invalidenversiche¬
rung nach der 26. Krankheitswoche angeführt (Forderungen und
Vorschläge der Arzte zur Abänderung der deutschen Arbeiter¬
versicherungsgesetze. Beilage zum ärztl. Vereinsbl. f. Deutschi. 1905
Nr. 555). Wenn dann nach Ablauf der 26. Krankheitswoche stets
die Landesversicherungsgesellschaften die Kosten der weiteren Be¬
handlung übernähmen, so würde die ganze hier diskutierte Frage
zur allseitigen Befriedigung gelöst sein. 1 )
Von außerordentlicher Bedeutung dürfte auch die Einführung
einer Arbeitslosenversicherung sein. Bekanntlich sind diejenigen
Kranken am schlimmsten daran, bei welchen Krankheit und
Arbeitslosigkeit zusammenfallt und denen die Vorteile des Kranken¬
versicherungsgesetzes nicht zugute kommen. Es ist für manchen
in dieser Lage befindlichen, sonst fleißigen und unverschuldet aus
seiner Tätigkeit gekommenen Arbeiter ein schwerer Entschluß, sich
an die Armenverwaltung um Unterstützung zu wenden. Hier würde
die Schaffung der Arbeitslosenversicherung segensreich eintreten
und namentlich arbeitslosen Kranken einige Erleichterung ver¬
schaffen.
l ) 0. Mugdan (1. c.) möchte sogar die Behandlung Syphilitischer ganz
den Versicherungsanstalten übertragen wissen. Er schreibt: die frühzeitige
Invalidisierung durch Syphilis könnte mit Erfolg verhindert werden, wenn
die Versicherungsanstalten alle Versicherten, die sich einmal syphilitisch in¬
fiziert haben, in gewissen Zwischenräumen — auch wenn dieselben kein
Symptom der Krankheit mehr zeigen — einer antisyphilitischen Kur unter¬
würfen.
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Reichen die bish. Bestimmgn. des Kranken vers.-Ges. zur Heilg. usw. aus? 463
Inwieweit aber diese Pläne sich werden verwirklichen lassen,
ist im Augenblick schwer vorauszusagen. Wir müssen uns also
mit unseren Vorschlägen zunächst an bestehende Einrichtungen
halten und versuchen, im Rahmen und unter Zugrundelegung des
Vorhandenen Verbesserungen anzustreben. Da scheint es mir nach
den voraufgegangenen Erörterungen ratsam und wünschenswert,
den § 6 II des Krankenversicherungsgesetzes in folgender Weise
zu verändern: Die Erankenunterstützung endet bei einem
Falle der Erwerbsunfähigkeit mit dem Ablauf der
26. Woche nach Beginn des Erankengeldbezuges. Er¬
werbsfähige Kranke haben von Beginn der Krankheit
ab bis zur vollendeten Heilung Anspruch auf freie ärzt¬
liche Behandlung, Arznei, sowie Brillen, Bruchbänder
und ähnliche Heilmittel.
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Feuilleton.
Tagebuch einer Verlorenen.
Von einer Toten.
Überarbeitet und herausgegeben von Margarete Böhme. 1 }
Besprochen von Prof. Dr. M. Flesch.
Die Besprechung des unerwartet schnell berühmt gewordenen „Tage¬
buches einer Verlorenen“ in einem wissenschaftlichen Fachblatt hat eine
andere Aufgabe als in der Tagespresse. Der Fleiß und der Scharfsinn,
welche von den Rezensenten darauf verwendet werden, nachzuweisen, daß
das Buch nichts sei als eine geschickte Mystifikation des Publikums
seitens der Herausgeberin, Frau Margarete Böhme, würden größeren
Nutzen bringen, wenn sie der Lösung der Probleme zugute kämen,
welche darin gestreift werden. Wir haben uns hier nicht darum zu
kümmern, ob das bereits in das 45. Tausend gelangte Werk tatsächlich
die eigenen Aufzeichnungen einer Prostituierten enthält oder ob es einen
in Tagebuchform gekleideten Roman darstellt. Weder in dem einen
noch in dem anderen Fall wird der schaurige Ernst des behandelten
Stoffes spurlos an dem Leser vorübergehen, auch nicht bei denen — das
wird ja leider zunächst die Mehrheit sein — welche es in die Hand
genommen haben in der Meinung, Befriedigung im Sinne einer pikanten
Lektüre, etwa nach Art des Mirbeauschen „Tagebuches einer Kammer¬
jungfer“, zu finden. Auch ohne ein Dokument aus der Hand einer Pro¬
stituierten zu sein, wird dem „Tagebuch“ als Darstellung des sozialen
und psychologischen Entwicklungsganges des Hetärismus bleibender Wert
zuzuerkennen sein, allerdings nur unter der Voraussetzung, daß sein In¬
halt ein treues Spiegelbild der tatsächlichen Verhältnisse abgibt. Diese
Voraussetzung zu prüfen ist unser Zweck; kommen wir, wie ich es
glaube, zu einer bejahenden Antwort, so können alle, die sich für die
Bekämpfung der aus der Prostitution erwachsenden Schäden interessieren,
sich nicht genug über den Erfolg des Buches freuen. Aus den Reihen
seiner Leser, auch derer, welche es aus ganz anderen Motiven in die
Hand genommen haben, werden uns Mitarbeiter erstehen: nolentem fata
trahunt. Die Heldin des Buches, Thymian Gotteball, ist keine gewöhn¬
liche Dirne, der Hefe entstammend und durch die materielle Not, der
ein mehr oder minder schwachsinnig veranlagtes Wesen nicht zu wider¬
stehen vermag, der Venus vulgivaga zugeführt. Nein, ein offenbar nach
manchen Richtungen sogar außergewöhnlich begabtes Kind bürgerlicher
') Verlag von F. Fontane & Cie. Berlin 1905.
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Tagebuch einer Verlorenen.
465
Kreise, repräsentiert sie eine seltenere Form der Prostitution, der Hetäre
des alten Athen nahestehend, gerade dadurch aber besonders geeignet,
die Wege und Motive erkennen zu lassen, denen zu folgen die Mehrheit
der Verlorenen sich unter dem Druck der äußeren Not verleiten läßt.
Übersehe ich aus meinen eignen Erinnerungen, was mir von den Lebens¬
vorgängen derartiger, den besser situierten Kreisen entstammenden
„Dirnen“ bekannt ist, so finde ich ein Moment, das in dem Tagebuch
mit packender Wahrheit hervorgehoben ist, als das wesentliche: unter
dem Schein des soliden bürgerlichen Lebens tatsächlich ungeordnete, ver¬
lotterte häusliche, bezw. Familienverhältnisse, infolge davon vorzeitiges
Sichselbstüberlassensein der Kinder, sei es, daß sie zu früh ins Leben
hinausgestoßen werden, sei es, daß sie im Haus der Eltern unüber-
wacht dahintaumelnd der Leitung entbehren. Ich denke beispielsweise
an eine vor kurzem gestorbene Ausländerin, welche als Sängerin zu
Namen gekommen ist; mit 15 Jahren war sie „zu ihrer Ausbildung“
aus den wenig erquicklichen Verhältnissen ihres elterlichen Hauses einem
Konservatorium anvertraut worden; in dem vornehmen Pensionat, in
welchem sie wohnte, war sie in der besten Gesellchaft; in dieser fand
sieb auch bald der gewissenlose Lump, der nach einem gemeinsamen
Ausflug, als der Alkohol seine Dienste getan hatte, es verstand „profiter
de Toccasion“. Und die Folge: nicht der Herr, sondern das Mädchen,
das, noch ein halbes Kind, „gefallen“ war, mußte, als die Sache bekannt
wurde, Knall und Fall die Pension räumen; von den Eltern verstoßen,
ohne Anschluß im fremden Land, glitt sie weiter auf der abschüssigen
Bahn. Als ihr das Glück wurde, einen Freund zu finden, der, im Besitz
der nötigen Mittel, sie zur Sängerin ausbilden ließ, gelang es ihr, sich
so weit aus dem Sumpf zu reißen, daß sie wenigstens — dank der
freieren Auffassung in ihren Berufskreisen — wieder in geordneten
Verhältnissen stand. Sie hätte — körperlich und geistig — für Thymian
Gotteball Modell gestanden haben können. Noch mehr stimmt aber die
Parallele für ein anderes Mädchen, dessen Fall, wie in dem Buch der
Thymians, im Elternhaus selbst erfolgt ist. Dort war es zwischen Vater
und Mutter durch Geistesstörung bei der letzteren nach jahrelangem,
glücklichem Familienleben zum Zerfall gekommen. Aus Mangel an
Mitteln zur standesgemäßen Unterhaltung der Kranken in einer Irren¬
anstalt hatte sich der Vater gezwungen gesehen, die Kranke in das Haus
zurückzunehmen. Daraus entwickelten sich unerquickliche Zustände,
durch welche der ältesten Tochter ihre Familie verleidet wurde. Zu¬
fällig fand sich ein Bewerber; der Vater hintertrieb die Verheiratung,
weil der junge Mann nicht in fester Stellung war. Den damit ver¬
bundenen Aufregungen schrieb man es zu, als sich bei dem Mädchen,
einer seltenen Schönheit, Bleichsuchtserscheinungen einstellten. Da er¬
schien in meiner Sprechstunde eia junger Mann, der, nachdem er sich
vorgestellt hatte, erklärte, in einer privaten Angelegenheit zu kommen,
für welche er mein Berufsgeheimnis in Anspruch nehme!! Nachdem
ihm das zugesichert war, erklärte er in Sachen des Fräulein X. zu
kommen. Er habe mit ihr geschlechtlich verkehrt, und am selben Abend
— also unzweifelhaft ohne Zusammenhang damit — entdeckt, daß er
Zeitsohr. t Bekämpfung <L Geschlechtskranke HL 33
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466
Flesch.
geschlechtskrank sei. Er wolle, da er wisse, daß sie mich aufgesucht
habe, und daß ich der Hausarzt der Familie sei — es sei ihm un¬
angenehm, daß er das Mädchen geschlechtskrank gemacht habe — mir
ermöglichen, daß sie geheilt würde. Tags darauf war das Mädchen ver¬
schwunden; die Zeitungen meldeten ihren Selbstmord. In Wahrheit
war sie mit einem anderen Liebhaber abgereist. Heute ist sie Halb-
weltlerin in einer Großstadt.
Ich könnte die Beispiele leicht vermehren, die beweisen, wie ein
der häuslichen Ordnung entbehrendes Milieu den Boden für die Ent¬
gleisung der „besseren“ Prostituierten abgegeben hat. Scharf charak¬
terisiert hat das ein junges Mädchen, das als Lehrerin durch Selbstmord
endete, ebe sie auf der schiefen Ebene angelangt war. Sie war als
Waise durch fremde Hilfe nach dem Tod der Eltern, die beide demselben
Stand angehört hatten, zu ihrem Beruf erzogen worden. Bald da, bald
dort, in strenger Zucht gehütet bis nach abgelegtem Examen, hatte sie
die Versuchung in der Freiheit manchmal an sich herantreten sehen.
Mehr als einmal hat sie mir gesagt: Was ist denn der uns gewährte
Schutz gewesen? Man hat von uns verlangt, daß wir auf eigenen Füßen
fest im Leben stehen; nichts Böses sollte an uns herantreten; ängstlich
verwarnt wurden wir vor allen angeblichen Versuchungen; und dabei
hatte man uns allein und fremd hinausgestellt, „wo uns der Sturm um
die Ohren brauste“, die wildeste Versuchung trat uns entgegen, während
die, welche uns ermahnten, ahnungslos dabei standen.
So ist der Fall Thymian Gotteballs ein Beispiel, wie es tagtäglich
vorkommt; die Folge ungeordneter Verhältnisse, mangelnder Bewahrung
in scheinbar tadelloser Umgebung. Aber auch die Art, wie sie Mit,
ist nichts Abnormes: unbewußt dessen, was mit ihr geschieht, ohne sinn¬
liches Empfinden und Begreifen erliegt sie dem Verführer. Auch das
entspricht den Tatsachen, wie ich sie oft kennen gelernt habe. Speziell
weiß ich das aus der Geschichte der beiden jüngsten mir in der Praxis
zu Gesicht gekommenen geschwängerten Kinder; das eine davon war ein
Bauernmädchen, das knapp 14 Jahre ält, niederkam, von einem Burschen
an seinem Konfirmationstag in der Annahme, daß damit die Altersgrenze
erreicht sei, verführt, um die Heirat mit ihr zu erzwingen.*) Sie hatte
keine Ahnung von dem Geschehenen, obwohl der Alkohol hier gar keine
Rolle gespielt hatte. Der Vorgang hatte sich am hellen Tag nach der
Heimkehr vom Abendmahl vollzogen! Bei der anderen, einem aus an¬
ständiger bürgerlicher Familie stammenden Mädchen war die Verführung
*) Der Fall ist nicht ohne historisch-politisches Interesse. In der Gegend
des entwickelten Kleinstaatenwesens, in welcher er spielt, haben sich noch Reste
gesetzgeberischer Verschiedenheiten innerhalb enger Bezirke erhalten. In dem
einen Dorf findet die Konfirmation unter Umständen 6—8 Monate später statt,
als in dem Nachbardorfe. Dann schicken die Bauern ihre Kinder, um sie
früher gewerblich ausnutzen zu können, in dieses zur Konfirmation. Im Volke
besteht nun der Glaube, daß der Konfirmationstag die Altersgrenze bilde.
Diese Feststellung bildete den Ausgangspunkt, von dem aus es dem Ver¬
teidiger gelang, dem Verführer Straflosigkeit zu erwirken.
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Tagebuch einer Verlorenen.
467
allerdings im Rausch während eines Balles erfolgt; es bestand aber so
wenig Bewußtsein, daß erst die Feststellung der Schwangerschaft ihr
von dem Geschehenen Kenntnis gab.
Auch darin, daß nach erfolgter Erkenntnis des Geschehenen die zur
Mutter Gewordene die Heirat ablehnt, statt auf die angebotene Remedur
einzugehen, entspricht das Tagebuch der Wirklichkeit. Der Haß gegen
den Verführer erscheint mir direkt als die natürliche Reaktion, ganz
entgegen der in dem Mirbeausehen Tagebuch einer Kammerjungfer
enthaltenen Darstellung, nach der sich die später auf die tiefste Stufe
gesunkene Heldin noch nach Jahren des schmutzigen Fischers, der sie
als Dreizehnjährige zu Fall gebracht, mit sehnsuchtsvoller Dankbarkeit
erinnert. Ich habe in allen Fällen eher Äußerungen des erbittertsten
Hasses vernommen: nicht nur von jungen Mädchen, welche vom Verführer
verlassen, allein die Folgen des Geschehenen tragen mußten, sondern mehr
als einmal von nachträglich zur Legitimation gelangten Frauen, wenn
sie sich bewußt wurden, daß der jetzige Ehemann vorher durch die
Verführung einen Akt der Mißachtung verübt hatte, so daß sie in der
nachträglichen Ehe keineswegs die Erfüllung einer Ehrenpflicht, sondern
eine aufgezwungene Sühne sahen. Besonders charakteristisch nach dieser
Richtung scheint mir ein Fall, in welchem eine Witwe, die aus ihrer
Ehe mehrere Kinder hatte, unter dem Einfluß des Alkohols von dem
eigenen Schwager verführt und vergewaltigt wurde: sie sah darin eine
derartige Beleidigung, daß sie, als derselbe auf die Heirat drang, absolut
nicht zu bewegen war, darauf einzugehen und es vorzog, sich mit ihren
vier früheren Kindern und dem neuen Ankömmling allein zu ernähren.
Es würde zu weit führen, wollte man Punkt für Punkt verfolgen,
wie weit sich die Erzählungen des Tagebuchs über die Psychologie der
Heldin an Beispielen verifizieren lassen. Ich denke, daß gerade den hier
vorgeführten Parallelfällen, weil sie sich auf die Einleitung des Falles
der Heldin beziehen, ein größeres Interesse zukommt. Aus deren späterem
Leben möchte ich vor allem einen Punkt berühren, bezüglich dessen ich
wiederholt habe Zweifel äußern hören. Es ist das Streben nach Fort¬
bildung, der „Bildungshunger“, der nicht nur in der Erzählung, sondern
in der Verfeinerung des Empfindens der Thymian Gotteball zutage tritt.
Von zwei Prostituierten, von welchen die eine aus der Hefe hervor¬
gegangen war, während die andere, die bereits erwähnte Sängerin, aus
gebildeter Umgebung stammte, habe ich das gesehen. Letztere hat die
Gelegenheit, welche ihr zur Ausbildung geboten wurde, derart benutzt,
daß sie sich eine ehrenvolle Stellung unter ihren Berufsgenossinnen er¬
zwungen hat, nur durch ihren frühen, vermutlich auf Syphilis zurück¬
zuführenden Tod ist sie schnell vergessen worden. Die andere, die
Tochter eines Kneipwirtes schlimmster Art, sehe ich fort und fort be¬
müht, die Lücken ihrer Erziehung durch Lektüre aller Art zu ergänzen,
vor allem durch Studium der Klassiker und strenge Mitarbeit an den
Schularbeiten eines von ihr — nachdem sie als Geliebte eines Mannes
in relativ geordnete Verhältnisse gelangt ist — zur Erziehung an¬
genommenen Kindes zu ergänzen. Aber auch außer diesen von mir
genauer gekannten Fällen habe ich mit Erstaunen gesehen, wie oft in
38*
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468
Flesch.
Prostitution oder in Verhältnis lebende Mädchen in der Auswahl ihrer
Lektüre besseren Geschmack bewiesen haben, als manche der höheren
Töchterschule entsprungene nie Gefallene.
Auch das Bestreben der Thymian, nachdem sie aus dem Schmutz
der Venus vulgivaga entflohen ist, an wohltätigen Arbeiten teilzunehmen,
braucht keineswegs dem Wunsch, sich in die Gesellschaft einzudrängen,
zu entstammen. Es kann echt sein und entspricht dem, was ich gesehen
habe. Neu ist das übrigens nicht. „Gutherzig sind sie alle“, wirft
schon Ferdinand in „Kabale und Liebe“ seiner Luise an den Kopf. Ernste
Hingabe an wahres Wohltun habe ich mehr als einmal gesehen. Es ist
mir unvergeßlich, wie ich in einer grauenhaften Winternacht von einer
in einen langen Mantel gehüllten Dame zu einer in Wehen liegenden
Frau in einer elenden Dachstube geholt wurde; die vorher gerufenen
Hebammen hatten — das wurde später festgestellt — ihre Hilfe ver¬
weigert; als ich ankam, fehlte alles, selbst das nötige Wasser. Ohne
weiteres warf die „Dame“ den verhüllenden Mantel ab und stand in
ihrem Dirnenkostüm halb nackt vor uns; sie half, bis für die Arme
gesorgt war; schließlich wollte sie noch für sie bezahlen! In dem dicht
bewohnten Haus hatte nur die „Dirne“ ein Herz für die Not der Ver¬
lassenen gezeigt! — Die frühere Insassin eines Brüsseler Bordells hatte
in einer süddeutschen Universitätsstadt eine Wirtschaft übernommen.
Ihre Vergangenheit war bekannt, sie machte daraus kein Hehl; das bis
dahin von einem anständigen Publikum besuchte Lokal geriet durch das
dimenmäßige Verhalten der Wirtin in schlechten Ruf, so daß man sich
von dort zurückzog. Gleichwohl fand sich ein Mediziner, der nach ab¬
gelegtem Examen die frühere Dirne heiratete. In einer kleinen Stadt,
wo man deren Antecedentien nicht kannte, ließ er sich als Arzt nieder.
Bald war die „Frau Doktor“, die ängstlich jeden Anstoß vermied, mit
den Frauen der Kollegen bekannt und befreundet. Ein unglücklicher
Zufall bewirkte aber, daß ihre Vorgeschichte den anderen Ärzten bekannt
wurde. Man zog sich von dem Paar zurück, das nun ganz auf sich
angewiesen war. In weiteren Kreisen wurde indessen nichts verlautet.
Als nach dem einige Jahre später erfolgten Tod des Mannes aber die
Frau fortzog, war das ein großer, viel beklagter Verlust für die Armen
des Städtchens, denen sie eine unersetzliche Wohltäterin gewesen war.
Auch nach dieser Richtung könnte ich noch manches Beispiel anführen.
Es bedarf aber wohl kaum weiterer Dokumente für die Behauptung, daß
ein Ein wand gegen die Wahrheitstreue des Buches auch aus diesem
Zuge ernster Lebensauffassung der Heldin nicht zu entnehmen ist.
Läßt die Prüfung der Darstellung auf die psychologische Möglich¬
keit des darin gezeichneten Charakters ihm das Placet zuerkennen, so
kommen wir zu der m. E. wichtigeren Aufgabe einer ernsten Kritik
des Werkes, sei es Roman, sei es Wahrheit, festzustellen nämlich, weiche
Werte wir ihm für die Behandlung der Prostitutionsfrage entnehmen
können. Im Eingang der Besprechung habe ich darauf hingewiesen, daß
die Heldin keineswegs dem gewöhnlichen Typus der Prostituierten ent¬
spricht. Aber damit, daß hier ein weniger häufiger Fall sich den viel¬
fach in der Literatur, der belletristischen wie der sozial-medizinischen
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Tagebuch einer Verlorenen.
469
enthaltenen Schilderungen anreiht, ist schließlich nichts Besonderes ge¬
leistet: eine Vermehrung der Kasuistik der Kameliendamen um einen
„schönen Fall“ nach ärztlicher Terminologie! Aber nach einer bestimmten
Richtung beleuchtet das Buch für das Studium und die Beschränkung
der Prostitution wichtige Tatsachen, die ich noch nirgends anderwärts
in gleich treffender Weise dem Urteil des Lesers yorgeführt gesehen habe:
die Rolle der Mitwelt in der Kette der Vorgänge durch welche der ein¬
mal Gefallenen der Rücktritt in die Welt der bürgerlichen Gesellschaft
abgeschnitten wird. Alles andere, die Gestaltung der Halbwelt zu einer
eigenen Klasse mit selbständigen Sitten, mit Solidaritätsgefühlen, mit
Abstufungen von der „feinen“ Halbweltlerin im seidenen Kleid zu der
„Sechserkalle“ die sich für wenige Pfennige hingeben muß, die Rolle
des Zuhältertums in dieser Welt der Leichen, dessen Organisation, all
das und was wir sonst von Schilderungen tatsächlicher Art in dem
Buche finden, wird keinem, der sich mit der Frage beschäftigt hat, etwas
Neues bieten. Im Gegenteil: wenn irgendwo habe ich mich bei diesen
Schilderungen fragen müssen, ob nicht das Buch hier vielleicht aus dem
Prozeß Berger und ähnlichen Quellen geschöpft hat. Aber in der Be¬
handlung der hier berührten Seite scheint mir das Buch geeignet, nicht nur
zum Denken, sondern auch zu praktischer Ausnützung seitens derer,
welchen es mit der Einschränkung der Prostitution ernst ist, anzuregen.
In einer früheren Schrift 1 ) habe ich versucht, dem Problem der
Stellungnahme der Gesellschaft zu den Opfern der Prostitution näher¬
zutreten. Damals schrieb ich: „Wenn der außereheliche geschlechtliche
Verkehr ein Bedürfnis ist, wenn er in der heutigen Gesellschaftsordnung
durch das Mißverhältnis zwischen Naturtrieb und der sozialen Möglich¬
keit zu dessen Befriedigung auf der Höhe des geschlechtsreifen Lebens
unentbehrlich geworden ist, wenn tatsächlich die Männerwelt aller Stände
fast ausnahmslos der Frauen bedarf, welche ihnen diese Lücke des physio¬
logischen Lebens ergänzen, dann dürfen diese Frauen nicht als Auswurf
der Gesellschaft behandelt werden. Ein notwendiges und nützliches Glied
der Menschheit, als welches die Prostituierten danach gelten müssten,
darf nicht mit Verbrechern auf eine Linie gestellt werden, wie es durch
Zwangsinternierung usw. geschieht.“ Das ist ein altes Lied, wiederkehrend,
wo der Dichter in der Tragödie der aus der Gesellschaft Ausgestoßenen,
der Verteidiger im Kampf um die Rettung der Kindesmörderin, der
Armenvorsteher im Fürsorgedienst an das Problem herantritt. In der
Zeichnung des auf der entgleisten Frau lastenden Fluches, vom Beginn
bis zu dem einsamen Begräbnis der Thymian erreicht das Buch seine
Höhe; aufsteigend von Anfang bis zu Ende in der Wirkung auf den
Leser, der vielleicht zuerst es achselzuckend hinnimmt, wenn der Ver¬
führer der Thymian die Stirn hat, die Ehe mit der Tochter seines Prin¬
zipals, mit dem im Bunde er so manche Orgie durchschwelgt hat, als
eine Art Gnadenakt hinzustellen. Wird er sich aber dem Kontrast ent¬
ziehen können, der durch das Wiedersehen der beiden entsteht, bei welchem
*) Prostitution und Frauenkrankheiten. II. Aufl. Frankfurt a/M. 1898,
Johannes Alt
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470
Flesch: Tagebuch einer Verlorenen.
die einst Verführte wehrlos den Schimpf des Dirnentums aus dem Munde
des Verführers hinnehmen muß! Sie, die es vorher dulden mußte, als
sie sich eben aus dem Schmutze herausgerissen hatte, daß einer derer,
die sie als Dirne gekannt hatten, weil er vor zwei Tagen durch seine
Verlobung „solid“ geworden war, ihre Ausstoßung aus einem Kreis be¬
wirkt hatte, in den man sie ohne von jener Vergangenheit zu wissen,
fast gegen ihren Willen genötigt hatte. Keine Gnade, keine Sühne
existiert für die gefallene Frau; keine Rettungsarbeit ihrer selbst, keine der
Mitmenschen vermögen hier Erlösung zu bringen, nicht einmal den Denun¬
zianten, den Verführer, trifft; ein noch so kleiner Teil der Verachtung, der
die „Verlorene“ unbarmherzig überwiesen wird. Und dann wundert
man sich, wenn andere, gleich ihr Geächtete, Rache an der Gesellschaft
zu nehmen suchen? Wenn die Dirne in Brieuxs „Avari6s“ eine wollüstige
Freude darin findet, den Mörder ihrer bürgerlichen Existenz und seine
Helfer, die erbarmungslose Gesellschaft, mit dem Gift der Seuche, die zu
ihrem Gewerbe gehört, zu infizieren?
In den vielen Diskussionen, zu welchen die Anteilnahme am Kampfe
gegen die Geschlechtskrankheiten Anlaß gibt, finden wir als leitenden
Faden das Wort vom notwendigem Übel. Wir lesen und hören von
der Gefahr der sexuellen Enthaltsamkeit, von der Berechtigung der Ver¬
ordnung des außerehelichen Geschlechtsverkehrs durch den Arzt. Und
auch wer das nicht anerkennt, muß, wenn er sich nicht weltfremd den
Tatsachen verschließen will, zugeben, daß heute eine Austilgung der
Prostitution nicht denkbar ist; sie kann nur durch eine Arbeit ungezählter
Jahre erstrebt werden. Dann sollte aber von jenen, welche glauben, die
Konsequenz der Berechtigung des notwendigen Übels und seiner Begleit¬
erscheinungen ziehen zu dürfen, verlangt werden, daß sie den Mut haben,
dem Pharisäismus entgegenzutreten, der heute die Behandlung des Prosti¬
tution sproblems kennzeichnet Schutz den Opfern der Gesellschaft, den
Märtyrerinnen des Staates, wie sie Lenz in dem alten Drama der Sturm¬
und Drangzeit bereits nennt! Das, nicht Entrechtung zum Paria unter der
heutigen Form der Reglementierung im öffentlichen, unter der doppelten
Moral im privaten Leben, müßte die Parole werden. Sollte das Buch
der Frau Margarethe Böhme dazu beitragen, das Verständnis für
diese Forderung zu wecken, dann wäre es nicht vergebens geschrieben.
Daran wird es nicht fehlen, wenn die, welche es lesen, auch heran treten
ohne Grübelei, mit warmem Herzen, mit ehrlicher Selbstprüfung.
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Tagesgeschichte.
Über den Begriff der Unzüchtigkeit einer Schrift sind das
Berliner Landgericht I und das Reichsgericht in einem Falle, der der
Prüfung der Ferien Strafkammer am Berliner Landgericht unterlag, ver¬
schiedener Meinung gewesen. Der Redakteur Max Ludwig war wegen
einer in der „W. a. M.“ erschienen Skizze „Der Fatalist“ von Troll an¬
geklagt gewesen. Die Erzählung gipfelt, wie das Gericht feststellte, in
der Darstellung der Verführung eines anständigen jungen Mädchens aus
guter Familie, einer Braut. Die dritte Strafkammer des Berliner Land¬
gerichts I war zwar der Meinung, daß die „Tendenz der Geschichte in
hohem Maße gegen das moralische Empfinden verstößt und unanständig und
frivol ist.“ Das Gericht kam aber doch zu einer Freisprechung. Es ver¬
neinte die Unzüchtigkeit des Artikels in der Erwägung, daß die Form
der Darstellung das Scham- und Sittlichkeitsgefübl in geschlechtlicher Be¬
ziehung nicht gröblich verletze, weil sie objektiv keine Unzüchtigkeiten
enthalte und die wenigen Ausdrücke, die auf eine geschlechtliche Be¬
ziehung hin weisen, so unbedeutend seien, daß sie dem Ganzen auch nicht
den Charakter einer unzüchtigen Schrift geben könnten. Das Reichs¬
gericht hat dies für eine Verkennung des Begriffs der Unzüchtigkeit
erklärt. Zunächst gehöre dazu nicht das Vorhandensein einer „gröblichen“
Verletzung des Scham- und Sittlichkeitsgefühls, andererseits sei es auch
eine irrige Meinung, daß die Form der Darstellung unzüchtig sein müsse,
um der Schrift selbst diese Eigenschaft zu verleihen. Die bloße Fest¬
stellung eines Mangels solcher Stellen, die für sich allein als unzüchtig
bezeichnet werden könnten, schließe nicht aus, daß der in dem Artikel
niedergelegte Gedankeninhalt das allgemeine Scham- und Sittlichkeits¬
gefühl des lesenden Publikums entweder durch Reizung der Lüsternheit
oder durch Erregung von Abscheu und Widerwillen auf geschlechtlichem
Gebiet verletzt und dadurch die Schrift als Ganzes zu einer unzüchtigen
macht. Das Reichsgericht hob aus diesen Erwägungen das erste Urteil
auf und verwies die Sache an das Landgericht II. Die erste Ferien¬
strafkammer kam jetzt nach längerer Verhandlung zu einer Verurteilung
des Angeklagten und erkannte auf 1000 Mk. Geldstrafe, Vernichtung
der Platten und Formen usw.
In einer später gefällten Entscheidung operiert das Reichsgericht
mit einem ebenfalls außerordentlich weit greifenden Unzüchtigkeitsbegriff.
Es handelt sich um die Feilhaltung und den Verkauf von Ansichts¬
postkarten, welche Bilder aus dem Pariser „Salon“ wiedergeben. Von
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Referate.
seiten des einen Angeklagten war geltend gemacht worden, daß die Ori¬
ginale, also auch die Reproduktionen einen von der Ausstellungsjory
durch die Aufnahme gewissermaßen garantierten Kunstwert besitzen.
Dazu meint nun das Reichsgericht, die Postkartenbilder könnten
trotz ihres „selbständigen Kunstwertes“ dennoch schamverletzend wirken.
„Daran ändert auch nichts die Annahme, daß der Angeklagte jene Post¬
kartenbilder für „reine“ Kunstwerke gehalten hat; denn damit soll
offenbar nicht gesagt sein, der Angeklagte habe den Stoff und die Dar¬
stellung für rein im Gegensatz zum Unreinen und Gemeinen gehalten,
sondern lediglich, daß er den Bildern einen wirklichen und selb¬
ständigen Kunstwert beigemessen habe. Wenn aber ein selbständiger
Kunstwert unter Umständen mit dem, was Scham und Sitte verletzt,
sich verträgt, so hat der Richter die Umstände ins Auge zu fassen,
unter denen dergleichen „Kunstwerke“ dem Einzelnen oder dem Publi¬
kum dargeboten werden. Es entscheidet hierbei keineswegs bloß der
Zweck, den derjenige verfolgt, der das angebliche Kunstwerk dem Be¬
schauer darbietet: und eben deshalb kann auch die Annahme des Vorder¬
richters nicht ausschlaggebend sein, daß der Angeklagte „nur im Inter¬
esse des Publikums, um auch den minder bemittelten Personen einen
Einblick in die französische Kunst zu gewähren, die Darstellungen an¬
gekauft und ausgestellt hat.“ Er konnte diesen Zweck verfolgen und den¬
noch das Bewußtsein haben, daß er unzüchtige Bilder ausstellte, un¬
züchtig, wenn nicht unter allen, so doch unter denj enigen Umständen,
unter denen er sie darbot. Nur im stetigen Hinblick auf diese be¬
sonderen Umstände konnte sachgemäß darüber entschieden werden,
ob überhaupt unzüchtige Abbildungen verbreitet worden sind und ob
der Angeklagte das Bewußtsein hiervon gehabt hat.“
Referate.
1. Willy Hellp ach. Prostitution und Prostituierte. Moderne Zeitfragen. 1905.
Nr. 5. Pan Verlag.
2. Wilh. Hammer. Zehn Lebensläufe Berliner Kontrollmädchen. Großstadt-
Dokumente. Bd. 23. Berlin u. Leipzig, Hermann Seemann Nachf. 1905.
3. Traugott Hermann. Die Prostitution und ihr Anhang. Erfahrungen und
Mitteilungen eines Kriminalpsychologen aus dem Strafvollzüge und
Schutzfürsorge. Leipzig 1905, H. G. Wallmann.
4. Paul Kampfffmeyer. Die Prostitution als soziale Massenerscheinung und
ihre sozialpolitische Bekämpfung. Berlin 1905, Buchhandlung Vorwärts.
Die starke Bewegung, welche in den letzten Jahren fast in allen
Kulturländern gegen die Geschlechtskrankheiten einsetzte und die bei
uns in Deutschland fast zu einer Art von Volksbewegung geworden ist,
hat auch wieder in erhöhtem Maße [das Interesse auf die Prostitution
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Referate.
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nnd auf die Prostituierten als soziologisches und psychologisches Problem
gelenkt. Eine der am heißesten umstrittenen Fragen ist die: Sind die
Prostituierten, wie Lombroso und Tarnowsky meinen, von Geburt
an, durch ererbte pathologische Anlage von vornherein zu diesem Gewerbe
prädestinierte Geschöpfe, degenerierte Exemplare der Gattung Mensch,
oder sind sie von Hause aus Menschen wie alle anderen und werden
sie nur durch äußere Umstände, das Milieu: schlechte Erziehung, un¬
günstige Existenzbedingungen, Not, Verführung u. dergl. der Prostitution
zugeführt? Die ganze Frage ist nicht nur theoretisch außerordentlich
interessant, sondern auch praktisch von eminenter Bedeutung — von
ihrer Entscheidung in dem einen oder dem anderen Sinne hängt es
natürlich ab, welche Mittel wir zur Bekämpfung der Prostitution für
geeignet, ja ob wir überhaupt den Kampf gegen die Prostitution für
aussichtsreich erachten. Das Problem, wie wird ein Mädchen zur Pro¬
stituierten, und inwieweit und durch welche Mittel ist es möglich,
ihren Fall zu verhüten, hat denn auch von jeher Menschenfreunde und
Soziologen in hohem Grade gefesselt — es bildet auch den Kernpunkt
der vier obengenannten in letzter Zeit erschienenen Schriften.
1. Hellpach gibt in seiner kleinen Broschüre eine sozialpsycho¬
logische Studie der Prostituierten, in der er festzustellen sucht, wieviel
Einfluß dem Milieu, wieviel den ursprünglichen Anlagen auf den Werde¬
gang der Prostituierten zuzumessen ist. Seine Ausführungen sind, wie
alles, was Hellpach schreibt, überaus geistreich und pointiert, oft sogar
in der psychologischen Analyse von überraschender Feinheit; aber es
zeigt sich auch die Kehrseite seines Stils: Neigung zu blendenden Anti¬
thesen und Paradoxen, zu Gruppierungen und Motivierungen, die oft
der Wirklichkeit nicht entsprechen, sondern aus einem vorgefaßten Aper 9 U
heraus künstlich konstruiert sind. Was die Hauptfrage betrifft, so ist
Hellpach viel zu einsichtsvoll, um sich bedingungslos für die eine der
beiden Erklärungsweisen festzulegen; er steckt den Anteil, den die äußeren
und den, den die inneren Faktoren an der Genese der Prostituierten
haben, ein Verhältnis, das in jedem Einzelfalle anders liegt, geschickt
und zutreffend ab. Weniger treffend sind seine Ausführungen zur
Prostitutionspolitik; hier merkt man, daß der Autor zu wenig die
tatsächlichen Verhältnisse kennt. Sein Hauptprogramm ist: für kleine
und Mittelstädte (aber nur für diese) Bordelle; im übrigen rücksichtslose
Beseitigung der Erwerbszweige, die nur den Deckmantel für die geheime
Prostitution abgeben: Verbot der Animierkneipen, rigorose Beaufsichtigung
des Masseusen- und Manikürenwesens, der Vermieterinnen, „Pensionen“
u. dergl. im großen. Da das Bedürfnis nach vorehelichem Geschlechts¬
verkehr doch nicht im wesentlichen herabzumindern ist, sondern eher
die Tendenz hat zu steigen, da weiterhin dieses Bedürfnis außer durch
die Prostitution auch durch das „Verhältnis“ befriedigt wird, muß man
suchen, das Angebot herabzumindern. Die Wege dazu sind: Verbürger¬
lichung der arbeitenden Massen durch gründliche Umgestaltung der Er¬
ziehung „der Mädchen niederen Standes“ für den Beruf von Hausfrau,
Gattin und Mutter. Für die ländlich-kleinbürgerliche Bevölkerung scheint
ihm der Durchgang durch das wirkliche Proletariat, das rücksichtslose
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Referate.
Vordringen des Kapitalismus und die damit verknüpfte Austilgung nicht
mehr lebensfähiger Arbeitsweisen unvermeidlich — als Ergänzung aber
„die Hinausführung des in die Städte zusammengepferchten Überflusses
aufs Land, die agrarische Kolonisation“.
2. Weniger geistvoll, aber dafür mehr auf dem Boden der Er¬
fahrung stehend präsentiert sich die Hamm er sehe Broschüre, originell
vor allem durch die ziemlich wortgetreue Wiedergabe von zehn, zum
großen Teil gewiß auch wahrheitsgetreuen selbsterzählten Prostituierten¬
biographien. Verfasser will den Nachweis führen, daß nicht die Not oder
der Brothunger die Mädchen auf die Straße treibe. Nun, in dieser Kra߬
heit bat das wohl niemand, der sich eingehend mit dieser Frage be¬
schäftigt hat, behauptet; aber die Hamm ersehen Biographien zeigen,
daß es sich eigentlich nur bei zwei oder drei Prostituierten um wirklich
pathologische oder perverse Naturen handelt; die übrigen sind Durch¬
schnittsfrauen, die, früh ins Leben hinausgestoßen, nicht die Kraft hatten,
sich allein durch die Fährnisse und Schwierigkeiten des Lebens durch¬
zuschlagen. Bei den meisten kam ein Moment, wo sie, von Liebhabern
verstoßen oder betrogen, subsistenzlos und an Arbeit nicht gewöhnt, auf
der Straße standen und wo sich ihnen die Prostitution als naheliegender
Rettungsanker nur allzu leicht und in allzu verführerischen Formen dar¬
bot. In einigen Fällen spielt die systematische Verführung durch den
Mann die Hauptrolle, in andern eine von Hause aus schlechte Erziehung
oder, wenn die Mädchen aus gebildeten Familien stammen, eine für ihren
Lebenskampf gänzlich unzureichende und ungeeignete Erziehung, die Un¬
fähigkeit, sich allein in der Großstadt durchzuhelfen.
Wenn Hammer sagt:
„Die Erfahrung, daß der Hunger
Junge Mädchen aus dem Volke
Auf die Bahn oft bringt des Lasters
kann ich bei Berliner Sittenmädchen nicht machen. Kein einziges Mädchen
wird unter Sittenkontrolle gestellt, ohne vorher Gelegenheit zu haben,
sich auf anderem Wege zu ernähren, sei es auch nur durch Vermittlung
des Stiftes. Ist ein Mädchen arbeits- und wohnungslos, so stehen ihr
die gastlichen Räume des städtischen Obdaches offen“ — so beweist das
nur, wie wenig für diese Mädchen wirklich geschieht und — unter
den obwaltenden Umständen — geschehen kann. Mit Augenblicksunter¬
stützungen ist natürlich keinem Mädchen geholfen. H. ist viel mehr
auf dem richtigen Wege, wenn er in einer Kritik der heute üblichen
Fürsorgeerziehung, bei der die Mädchen nur Hausarbeit und leichte Hand¬
arbeit erlernen, vorschlägt, statt dessen in den zwei Jahren den Mädchen
ein Handwerk beizubringen, das sie vollständig erlernen und mit dem
sie sich nachher selbst ernähren können. Freilich, wenn H. rät,
dieser Erziehung zum Handwerk mit Schlägen nachzuhelfen, Schläge,
„die nicht zu heftig, aber auch, wenn sie wirken sollen, nicht zu sanft
sein“ sollen, so dürfte bei einem derartigen Erziehungssystem nicht
viel Ersprießliches herauskommen. Auch sonst vergreift sich H. bei
seinen Reformvorschlägen verschiedentlich; doch ist die Veröffentlichung
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Referate.
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der zehn Lebensgeschichten für sich schon verdienstlich genug. Ein
Fehler ist, daß es sich hierbei nur um „Kontrolldirnen“, also um eine
ganz bestimmte Sorte von Prostituierten handelt und daß die Zahl der
veröffentlichten Biographien zu gering ist, um einen Schluß auf die
Allgemeinheit zuzulassen. Eine Veröffentlichung der übrigen vom Autor
gesammelten Biographien wäre daher schon aus diesem Grunde sehr
wünschenswert.
3. Der Autor des drittgenannten Buches sucht — ebenfalls auf
kasuistischem Wege — ungefähr den entgegengesetzten Nachweis zu
führen wie Hammer. Im übrigen bringt die Schrift nicht viel Neues,
obwohl das Material angeblich von einem „Kriminalpsychologen“ stammt.
Interessant ist das Bemühen des Verfassers, den Zuhälter sympathischer
erscheinen zu lassen, als er in der Volksmeinung gewöhnlich eingeschätzt
wird. Möglich wird das dadurch, daß er diejenigen Zuhälter, die nicht
bloß die Geliebten ihrer Dirne sind, sondern sie wirklich in gemeiner
und verbrecherischer Weise ausbeuten, nicht Zuhälter, sondern fälsch¬
licherweise Kuppler nennt. Daß ein Teil der Zuhälter einfach entgleiste
Existenzen sind, die nicht imstande sind, selber durch Arbeit ihr Leben
zu fristen, sondern ein behagliches Schmarotzerdasein führen, ohne doch
ihre Geliebte zu ihrem Gewerbe „anzuhalten“ oder sie zu brutalisieren,
ist zweifellos zuzugeben. — Die Vorschläge des Verfassers zur Be¬
kämpfung der Prostitution zeugen von totalem Mangel an Verständnis
für die sozialen Zustände, aus denen die Prostitution herauswächst.
4. Auf wesentlich höherem Niveau steht die Schrift Kampff-
meyers, der gerade die sozialen Zustände, welche die Prostitution be¬
dingen, mit großem Verständnis behandelt. Kampffmeyer war durch die
Wohnungsenquete unserer Gesellschaft, deren Bearbeitung ihm zugefallen
war und über die er in dieser Zeitschrift (Bd. IIIS. 165) einen unsern Lesern
wohl bekannten mustergültigen Bericht erstattet hat, veranlaßt worden,
sich eingehender mit diesen Zuständen zu beschäftigen, und man kann
ihm das Zeugnis nicht versagen, daß er es verstanden hat, der so viel¬
fach — manche möchten sagen, zum Überdruß — erörterten Pro¬
stitutionsfrage neue Seiten abzugewinnen, neues, wenig bekanntes Material
beizubringen und beachtenswerte Vorschläge zu machen. Von besonderem
Interesse sind in der diesmaligen Schrift neben seinen schon früher ge¬
machten Vorschlägen zur Wohnungsinspektion seine eingehende Darlegung
der Mißstände, wie sie heute trotz unseres sogenannten Jugendfürsorge¬
gesetzes in der Erziehung sittlich gefährdeter und verwahrloster Jugend
bestehen. Er verlangt — hier in Übereinstimmung mit den namhaftesten
Pädagogen und Soziologen wie Plass, Klumker, Spann, Taube
u. a. — eine gründliche Umgestaltung der Fürsorgeerziehung und des
Vormundschaftswesens. Die Vormundschaft — fordert er — muß in den
Händen eines mit öffentlichen Mitteln ausgestatteten Institutes liegen,
das von pädagogisch-sachverständigen Männern und Frauen geleitet wird,
das durch ständige Verbindung mit tüchtigen für die Kindererziehung
und für die gewerbliche Schulung der heran wachsenden Jugend ge¬
eigneten Elementen erst wirklich geordnete Lebens- und Erziehungs¬
bedingungen für die vaterlosen Söhne und Töchter unseres Volkes
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Referate.
schaffen kann, eines Institutes, welches zugleich auch für uneheliche
Kinder die Herbeischaffung der Alimentationsmittel ermöglicht bzw.
beschleunigt. Was er sonst über die Begründung einer Mutterschafts-
Versicherung, der beruflichen Kollektivvormundschaft und die Beteiligung
der Lehrer an diesem Amt, die Reform der Fürsorgeerziehungsinstitute
und Rettungsanstalten für Prostituierte sagt, ist in hohem Maße be¬
herzigenswert Die kleine Schrift verdient die Beachtung der weitesten
Kreise. A. Bl.
S. Bettmann. Die ärztliche Überwachung der Prostituierten. Jena 1905, Gustav
Fischer.
Mit bewundernswertem Fleiße und großem Scharfsinn hat Bettmann
in dem vorliegenden Bande, der auch als Teil des großen von Fürst
u. Windscheid herausgegebenen Handbuches der sozialen Medizin er¬
schienen ist, unser gesamtes derzeitiges Wissen von der ärztlichen Über¬
wachung der Prostitution zusammengestellt. Nach einer historischen
Einleitung schildert er in großen Zügen den jetzigen Stand der Über¬
wachung in verschiedenen Kulturländern, um dann die Erkrankungen
der Prostituierten, die Ausführung der Überwachung und Behandlung
sowie die Ergebnisse der Reglementierung eingehend zu erörtern. Der
Autor geht mit größter Sorgfalt auf alle Details ein und zeigt sich als
ein wohlwollender und im ganzen eher optimistischer Beurteiler der
herrschenden Zustände. In vielen Einzelpunkten sucht er nachzuweisen,
daß die an dem heute üblichen Verfahren geübte Kritik zu scharf und un¬
gerecht sei und er hält im einzelnen die Möglichkeit von Reformen
keineswegs für aussichtslos. Er ist Anhänger der GonokokkenunterBuchung,
und plädiert für deren möglichste Ausdehnung, auch hält er die Prosti¬
tuiertengonorrhoe in einem überwiegenden Bruchteil der Fälle für heilbar.
Um so niederschmetternder ist das Gesamtresultat zu dem er endlich kommt:
„Selbst wenn alle jene Verbesserungen des medizinischen Teiles der
Kontrolle, die praktisch erreichbar sind, eingefübrt würden, und damit
bezüglich der Überwachten die Einwände wegfielen, die sich aus mangel¬
haften hygienischen Maßnahmen herleiten, besteht die Tatsache fort, daß
durch die jetzige Methode nur ein beschränkter Bruchteil der Prosti¬
tuierten einer regelmäßigen ärztlichen Kontrolle unterstellt bleibt. Auch
dann, wenn im Rahmen der Reglementierung der humane Standpunkt
immer mehr zu seinem Rechte kommt, fehlt es dem System an der
nötigen Erweiterungsfähigkeit. Die Reglementierung an sich behält ab¬
schreckende Härten, die sich durch die praktische Ausführung vielleicht
einengen, aber nicht beseitigen lassen. Die Überzahl der Prostituierten
der Kulturländer sucht der Kontrolle zu entrinnen, und diese Tendenz
steigert sich in fortschreitender Entwicklung. Dazu muß die Behörde
selbst immer mehr gewisse Elemente von der Reglementierung aus¬
schließen — und das betrifft vor allem die gefährliche Quote der
Mindeijährigen. So führt das System allmählich statt zur Erweiterung
zur Einengung seiner Wirksamkeit. Unter den älteren Prostituierten,
die unter der Reglementierung verbleiben, befindet sich ein großer
Bruchteil von solchen, die der genauen hygienischen Überwachung kaum
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Referate.
477
mehr bedürfen; wenn diese der Kontrolle zu anscheinend guten Re¬
sultaten verhelfen, so bedeutet das noch nichts für die Vortrefflichkeit
des Systems; und je größere Bedeutung die geheime Prostitution ge¬
winnt, die der Reglementierung unerreichbar bleibt, um so mehr wird
man sich fragen müssen, ob die ganze Steigerung an Mühen und Kosten,
die für die hygienische Ausgestaltung jener Kontrolle angestrebt werden,
sich lohnt und ob nicht unsere ganzen Bestrebungen mit einem Luxus¬
experimente enden, das einer unfruchtbaren Bemühung höchstens den
Schein von Erfolgsmöglichkeiten verleiht. Wir wollen auf eine Ver¬
minderung der Prostitution im ganzen hinaus, möchten aber eine Zu¬
nahme des kontrollierten Bruchteiles erreichen; die tatsächlichen Ver¬
hältnisse führen eher zu einer Vermehrung der Prostitution, sicher aber
zu einer Abnahme der kontrollierten Dirnen. Denn es scheint ebenso
aussichtslos, die Nachfrage der Männer selbst durch das Lockmittel der
gesundheitlichen Garantien auf jene reglementierten Prostituierten be¬
schränken zu wollen, wie es unmöglich bleibt, die Überzahl der Prosti¬
tuierten der großen Städte unter die Reglementierung zu zwingen; und
wenn es richtig ist, daß die Existenz überwachter Prostituierten sowohl
die Nachfrage der Männer nach geheimen Prostituierten steigern wie
auch den Nachschub frischer Elemente in die Prostitution überhaupt
fördern kann, so wäre damit schon eine sehr bedenkliche Einschränkung
der allernächsten hygienischen Vorteile der Reglementierung erwiesen.“
Nach diesem Endurteil geht er dazu über, die Ersatzmittel der Regle¬
mentierung zu erörtern und er stellt sich hier auf dem Boden des
Zwanges, der allein imstande sei, die Prostituierten dieser regelmäßigen
Überwachung zuzuführen.
Jedoch bekämpft er den bekannten Lesserschen Vorschlag der
Prostituierten-Polikliniken mit der Bemerkung, daß die der Zwangskontrolle
nicht unterstellten Mädchen sich wohl hüten würden, diese Polikliniken
zu frequentieren, da sie sich ja damit selbst als gewerbsmäßige Prosti¬
tuierte qualifizieren würden. Auch die übrigen Vorschläge — von
Schmölder, Liszt, Stenglein, Neisser und Kampffmeyer —
diskutiert er eingehend, legt ihre Vorzüge und ihre schwachen Seiten
dar, ohne doch schließlich selbst einen eignen festen Standpunkt zu ge¬
winnen. Aber dieser Mangel einer ausgesprochenen eignen Stellungnahme
ist bei der Schwierigkeit des ganzen Problems sicherlich zu verstehen;
ja in gewissem Sinne stellt er sich als ein Vorzug des Buches dar, in
welchem die gesamte Frage der Reglementierung mit einer solchen Ob¬
jektivität abgehandelt worden ist, daß sowohl Anhänger als Gegner der¬
selben aus dem Buche lernen und ihm auf Jahre hinaus ihr Material
werden entnehmen müssen. A. Bl.
E« Stiehl« Die Wohnungsverhältnisse der Prostituierten. Korrespondenzblatt zur
Bekämpfung der Sittenlosigkeit 1905. Nr. 9.
Die Stettiner Volksschullehrerin Frl. E. Stiehl, die sich seit Jahren
öffentlich in praktischer sozialer Hilfsarbeit — z. B. durch Übernahme
einer KoUektivvormundschaffc über alle in einem bestimmten Zeitraum
und in einem bestimmten Stadtviertel geborenen unehelichen Kinder —
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478
Referate.
betätigt, erörtert im „Korrespondenzblatt“ die Mißstände in den Wohnungs-
verbältnissen der Prostituierten.
Nach Frl. Stiehl bewirkt das Wohnen der Erwerbsprostituierten
inmitten kinderreicher, zum Teil ehrbarer Familien durch Herabdrückung
des sittlichen Urteils und Empfindens, durch indirekte wie direkte Ver¬
führung eine sittliche Durchseuchung unserer gesamten Volksschuljugend
und ein Übergreifen der Prostitution Jugendlicher in Volksschichten, die
ihr bisher fern standen.
Sie schlägt daher zweierlei vor:
1. Eine Petition an den Bundesrat und Reichstag oder das Reichsjustiz¬
amt zu richten, des Inhalts:
Es sei bei der Revision des Strafgesetzbuches, eventuell im An¬
schluß an den Ausbau des § 180 zu verbieten, daß Personen, welche
der sittenpolizeilichen Kontrolle unterstellt oder sonst als solche be¬
kannt sind, welche ausschließlich vom Ertrag wahllosen Geschlechts¬
verkehrs leben, Wohnung nehmen in Häusern, in denen Kinder bezw.
Schlafleute im Alter 5—18 Jahren leben.
2. Da bis zur vollendeten Revision des Strafgesetzbuches noch Jahre
oder Jahrzehnte vergehen können, ein derartiges Verbot sofort auf
dem Verwaltungswege zu erstreben, in Preußen durch Petition an
den Minister des Innern, er möge durch Erlaß alle Polizeibehörden
größerer Städte an weisen, durch Ortsstatut ein solches Verbot zu
erlassen.
Zur Begründung führt sie aus:
„Die Bestimmung, daß Personen, die sich ausschließlich durch wahl¬
losen Geschlechtsverkehr ernähren, in Häusern mit Kindern und Jugendlichen
nicht wohnen dürfen, würde sich meines Erachtens auch nach der even¬
tuellen Aufhebung der Reglementierung durchführen lassen. Durch die
Schule, durch Armen- und Waisenpfleger und -pflegerinnen, durch Recher¬
oben in Fürsorgeerziehungssachen, durch Krankenkassen- und Wohnungs-
inspektionen, durch die in weiterem Umfange in die soziale Hilfsarbeit
eintretende gebildete Frauenwelt usw. wird man zahlreichen derartigen
Einmieterinnen auf die Spur kommen, und in der Regel dürfte der
private Hinweis auf den betreffenden Paragraphen des Ortsstatuts oder
des Strafgesetzes sie zum Ausziehen bewegen. So wird es sich ganz
von selbst und ohne direkten Zwang vollziehen, daß die Erwerbsprosti¬
tuierten in bestimmten Häusern in freiem Mietsverhältnis zusammen
wohnen. Nicht getroffen werden dürfen die gelegentlich z. B. aus Not
zur Verbesserung ihres unzureichenden Erwerbs sich Prostituierenden.
Eine Beschränkung ihrer Wohnfreiheit würde ihr völliges Emporsteigen
hemmen. Auch bieten letztere der Jugend nicht das grell verlockende
Beispiel eines völlig arbeitslosen Genußlebens.“
Die abolitionistische Richtung der Sittlichkeitsbewegung lehnt ein
derartiges Verbot ab in der Befürchtung, dadurch der Reglementierung
und Kasernierung Vorschub zu leisten. Nach Mitteilung von jener
Seite soll z. B. in Dresden ein derartiges Polizeiverbot bestehen und
die Folge gehabt haben, daß die Mädchen, welche anfangs als freie
Mieterinnen in bestimmten Straßen wohnten, jetzt schon wieder in bor-
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Referate«
479
dellähnlichen Pensionsverhältnissen beisammen leben. Aber, so führt
Frl. Stiehl ans, der Schutz unserer gesamten Volksschuljugend ist doch
wahrlich wichtiger als der Schutz der verhältnismäßig wenigen Prostituierten,
wenn dieselben ohne äußeren Zwang, einzig infolge ihrer beklagenswerten
Schwäche in bordellartige Verhältnisse hineingeraten.
Interessant ist die Antwort des Berliner Polizeipräsidenten auf den
Antrag der Kreissynode Berlin II, das Wohnen der kontrollierten Dirnen
in Familien mit Kindern und Jugendlichen zwischen 6 und 18 Jahren
zu untersagen. Als Grund der Ablehnung führt er an: 1. würde da¬
durch die Wohnungsnot vermehrt und das Treiben der Prostituierten
in erhöhtem Maße an die Öffentlichkeit gedrängt werden und 2. böten
zur Vorbeugung gegen Verwahrlosung das Fürsorgeerziehungsgesetz und
die §§ 1666 und 1838 BGB. eine genügende Handhabe.
Frl. Stiehl widerlegt diese polizeiliche Auffassung und erwartet
die gründliche Besserung dieser Mißstände erst von der Zeit, wo „die
Überwachung der Erwerbsprostituierten — der reglementierten und un-
reglementierten — in naher oder ferner Zukunft nicht von der Polizei,
sondern von dem in sozialer Arbeit mit ihnen in Berührung kommenden
Publikum“ ausgeführt werden wird.
Am Schmedding. Die Gesetze, betr. die Bekämpfung gemeingefährlicher Krank¬
heiten vom 30. Juni 1900 und Preußisches Gesetz, betr. die Bekämpfung über¬
tragbarer Krankheiten vom 28. August 1905 nebst Ausführungsbestimmungen er¬
läutert für Preußen. Münster 1905, Aschendorff sehe Bachhandlang.
Nachdem das Preußische Gesetz zur Bekämpfung übertragbarer
Krankheiten, das sogenannte preußische Seuchengesetz, und die Aus¬
führungsbestimmungen dazu nunmehr in Kraft getreten sind, hat Landes¬
rat Schmedding eine Zusammenstellung und Erläuterung dieses Ge¬
setzes und des Reichsseuchengesetzes von 1900 herausgegeben. Das
kleine handliche Buch wird allen, die sich mit den in Frage kommenden
Gesetzen zu beschäftigen haben, das Studium und die Anwendung der¬
selben erleichtern und sich für alle im öffentlichen hygienischen Leben
Stehenden als ein unentbehrlicher Ratgeber in diesen Fragen erweisen.
E. G.
Ernest Finger. Die Blennorrhoe der Sexualorgane und ihre Komplikationen.
6. Auf!. 1905. Leipzig-Wien, Deuticke.
Obwohl das Fingersche Werk rein fach wissenschaftlich ist und
nur dem Mediziner dieses Spezialgebiet unter Berücksichtigung aller
Einzelheiten und neueren Beobachtungen vor Augen führen soll, so sei
es als die hervorragendste Erscheinung auf diesem Spezialgebiete auch
an dieser Stelle erwähnt, da ja auch der Sozialhygieniker wertvolles
Material daraus schöpfen kann.
Was die Stellung des Verf. zur ärztlichen Untersuchung der Pro¬
stituierten anbetrifft, so vertritt er den Standpunkt, daß neben der bis¬
her geübten rein klinischen Methode auch die bakteriologische Unter¬
suchung der Genital sekrete zu verlangen sei. Er stützt dabei seine
Forderung auf die Untersuchungen Neissers u. a. Autoren, die er in
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480
Referate.
extenso auf führt. Aber auch die heute geübte Methode scheint der
Verf., wenn man seine Ausführungen auf S. 50 in Betracht zieht, nicht
für überflüssig zu halten.
Die Frage der persönlichen Prophylaxe wird ebenfalls ausführlich
besprochen und zwar steht der Verf. den chemischen Prophylaktizis, wie
sie von Blokusewski, Franke u. a. empfohlen wurden, auf Grund
eigener Beobachtungen ablehnend gegenüber. B. Ch.
O. Rosenthal. Alkoholismus und Prostitution. Berlin 1905, August Hirschwald.
Der an Tatsachenmaterial außerordentlich reiche Vortrag, den der
bekannte Berliner Arzt in den wissenschaftlichen Kursen des Zentral¬
verbandes zur Bekämpfung des Alkoholismus in diesem Jahre gehalten
hat, liegt jetzt im Druck vor.
Die Anschaffung des Heftchens ist jedem zu empfehlen, der sich
über die Verwüstungen, die der Alkoholismus anrichtet und zugleich
über die Wechselwirkung zwischen diesem und der Prostitution unter¬
richten will, besonders lohnend wird sie für diejenigen sein, die Stoff
zu Vorträgen zu erhalten wünschen. — tt—
Henri Minod. La lütte contre la Prostitution. Rapport pr£sent6 k la
troisieme section du Congr&s international des patronages k Liöge, 1905.
Gen6ve 1905.
Der Bericht des bekannten Generalsekretärs der Föderation gibt
denjenigen, welche noch nicht mit der Geschichte der abolitionistischen
Bewegung, mit ihren Prinzipien und Argumentationen vertraut sind, in
außerordentlich klarer Weise einen Einblick in das ganze Problem. Und
sicherlich werden auch Gegner des Abolitionismus aus dieser Schrift viel
Anregung schöpfen. In den am Schluß aufgestellten sechs Thesen ver¬
langt er:
1. die völlige Abschaffung der Reglementierung;
2. Schutz sexueller Integrität der Minderjährigen durch das Straf¬
gesetz;
3. Zwangsvormundscbaft im Falle von sittlicher Gefährdung;
4. gesetzlich festgelegte Verantwortlichkeit des unehelichen Vaters;
5. strengere Bestrafung der Kuppelei;
6. Schadenersatzanspruch an diejenigen, welche durch Verschleppung
usw. die Mädchen geschädigt haben. E. G.
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Namenregister,
(Die fettgedruckten Seitenzahlen weisen an/ Originalarbeiten hin).
Alexander 84.
Angagneur 412.
Bettmann 476.
Blokusewski 148.
Böhme 464.
Bonette 411.
Br6 150.
Batte 88. 150. 151.
Campagnolle, de 1. 51. 279.
Chotzen 416.
Dohrn 872.
Düring, von 267. 297.
Eggers-Smidt 386.
Ernst 256.
Feistmantel 442.
Ferdy 144.
Finger 869. 408. 479.
Flachs 152.
Flesch 464.
Forel 447.
Galandatier 872.
Galewsky 412.
Grön 119.
Grosse 442.
Grober 295.
Hammer, F., 373. 425.
Hammer, W. 256. 472.
Hanauer 122.
Hellpach 472.
Hermann 472.
Hirsch 187.
Hirschfeld 414.
Jauneau 34.
Jereild 119.
Kogon 82.
Kornfeld 409.
Koßmann 125.
Krulle 410.
LedefmanU 449.
Lesser 416.
Lobedank 295.
Loeb 88.
j Loewenfeld 230.
Marcuse 872.
Mayer 39.
Minod 480.
Morrow 84.
Heuberger 295.
Neumann 411.
Oppler 152.
Pappritz 417.
Pontoppidan 410.
Prinring 37.
I R6gnault 34.
I Mti 415.
Rieoke 295.
| Boeenfeld 321.
I Rosenthal 480.
Öcheven 444.
Schirren 865.
Schmedding 479.
Schölte 409.
Schrank 124.
Spann 128.
Stiehl 477.
Tändler 442.
Ustaedt 119.
Kampfiineyer 165. 351. 472.
Kiscn 871.
Waldvogel 416.
Wolff 413.
Zeitachr. f. Bekämpfung d. Gdsehiechtskrankh. UL
34
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Sachregister.
Abortivbehandlung der Gonorrhoe, Die
Prophylaxe und — (Finger) 369.
Abstinenz, Über sexuelle — (Loewen-
feld) 230.
Adam und Eva (Wolff) 413.
Ärztliche Überwachung der Prosti¬
tuierten (Bettmann) 476.
Alkohol und Geschlechtsleben (Rosen¬
feld) 321.
Alkoholismus und Prostitution (Rosen¬
thal) 480.
Ammenuntersuchungen am Säuglings
heim zu Dresden (Galewsky) 412.
Antialkohol-Kongreß in Münster 443. j
Armee, Die Geschlechtskrankheiten und j
ihre besonderen Beziehungen zur — |
(Bonette) 411.
Assistance publique, La Prostitution
et r— (Butte) 151.
Aufklärung, Über die geschlechtliche—
der Jugend (Marcuse) 372.
— Über die geschlechtliche — der
Jugend (Dohrn) 372.
— Sexuelle Jugend— (Galandaner) 372.
— Zur Frage der sexuellen — (Flachs)
I Berufsgeheimnis, Ärztliches — und
Reglementierung (Butte) 33.
j Blennorhoe der Sexualorgane und ihre
1 Komplikationen. Die — (Finger) 479.
Blennorrhoea neonatorum, Zur Ver¬
hütung der — nach Credo (Ernst) 256
Bordellstraßen, Welchen Schutz können
! — gewähren? (Pappritz) 417.
Bordellwesen, Denkschrift über das —
| (Scheven) 444.
Cervikal sekret der Prostituierten
(Jersild) 119.
Circumcision und Syphylisprophylaxe
(Loeb) 38.
Coecal-Condom, Zur Geschichte des —
(Ferdy) 144.
Dienstboten und Prostitution (Hanauer)
122 .
Dienstmädchen und uneheliche Ge¬
burten (Spann) 123.
Denkschrift über das Bordellwesen
usw. (Scheven) 444.
Drittes Geschlecht, Berlins — (Hirsch¬
feld) 414.
152. |
Dasselbe (Oppler) 152. i
Außerehelicher Geschlechtsverkehr,
Darf der Arzt zum — raten ? (Koß-
mann) 125.
Dasselbe (Hirsch) 137. I
Bedeutung und Gefahren der Ge- 1
schlechtskrankheiten (Riecke) 295.
Bekämpfung, Über die Verhütung und
— der Geschlechtskrankheiten
(Lesser) 416.
— der Geschlechtskrankheiten, Per¬
sönliche Ansichten über die Ma߬
regeln zur — (v. Düring) 257. 297.
— Die Geschlechtkrankheiten, ihre
Verhütung und — (Lobedank) 295.
— der venerischen Krankheiten in
den Fabriken (Kogon) 32.
— und Verbreitung der venerischen
Krankheiten in Christiania 1903 !
(Ustaedt) 119.
— Der Mädchenhandel und seine —
124.
Berufsgeheimnis, Ärztliches — und
Syphilis (Prince Morrow) 34.
Ehe, Gonorrhoe und — (Kornfeld) 409.
Ehen, Sterile — (Prinzing) 37.
Enthaltsamkeit, Die gesundheitlichen
Gefahren geschlechtlicher — (W.
Hammer) 256.
Erwiderung auf Dr. R. de Campag-
nolles Arbeit „Über den Wert der
modernen lnstillationsprophylaxe
der Gonorrhoe“ (Blokusewski) 148.
Erziehungsarbeit an Prostituierten
(Kampnmeyer) 351.
| Frauenkongresse in Halle u. Berlin 439.
1 Fürsorgekongreß in Lüttich 438.
Gefahren, Die — der Geschlechts¬
krankheiten und ihre Verhütung
(Waldvogel) 416.
— der Geschlechtskrankheiten, Bedeu¬
tung und — (Riecke) 295.
Geschlechtliche Aufklärung der Jugend,
Über die — (Marcuse) 372.
I-Über die — (Dohrn) 372.
I Geschlechtlichen, Die gesundheitlichen
| Gefahren der — Enthaltsamkeit (W.
I Hammer) 256.
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Sachregister.
383
Geschlechtlicher Infektion, Der persön¬
liche Schutz vor — (Feistmantel) 442.
Geschlechts- und Hautkrankheiten,
Bericht über die auf den Marschalls-
inseln herrschenden — (Krulle) 410.
Geschlechtskrankheiten, Die — und
ihre besonderen Beziehungen zur
Armee (Bonette) 411.
— Vierter und fünfter Bericht über
die — in Kiel und Umgebung für
die Jahre 1901—1903 (Schirren) 365.
— Die —, ihre Verhütung und Be¬
kämpfung (Lobedank) 295.
— Ein Beitrag zur Prophylaxe der —
(Tändler) 442.
— Schutzmittel gegen — (Große) 442.
— Die Gefahren der — und ihre Ver¬
hütung (Waldvogel) 416.
— Die Verhütung der — (Neuberger)
295.
— Über die Verhütung und Bekäm¬
pfung der — (Lesaer) 416.
— Bedeutung und Gefahren der —
(Blecke) 295.
Geschlechtsleben, Hygiene des —
(Grober) 295.
— Das — des Weibes in physiolo¬
gischer, pathologischer und hygie¬
nischer Beziehung (Kisch) 371.
— Gesundheitslehre des — (Chotzen)416.
— Alkohol und — (Rosenfeld) 821.
Gesetze, betr. die Bekämpfung gemein¬
gefährlicher Krenkheiten. Die —
(Schmedding) 479.
Gesundheitslehre des Geschlechts¬
lebens (Chotzen) 416.
Gonorrhoe, Die Prophylaxe und Ab¬
ortivbehandlung der — (Finger) 369.
— und Ehe (Kornfeld) 409.
— des Mannes, Vorlesungen über die
Pathologie und Therapie der —
(Scholtz) 409.
— Die — sonst und jetzt (Finger) 408.
— Über den Wert der modernen In
stillationsprophylaxe(deCampagnollc j
1. 51.
Bemerkung zu Blokusewskis Erwide¬
rung 279.
Hygiene des Geschlechtslebens, darge¬
stellt für Männer (Grober) 295.
Instillationsprophylaxe der Gonorrhoe,
Über den Wert der modernen —
(de Campagnolle) 1. 51.
Bemerkung zu Blokusewskis Er¬
widerung 279.
Jugendauf klärong, Sexuelle — (Galan-
dauer 372, Flachs 152, Oppler 152,
Marcuse 372, Dohm 372).
Kontrollmädchen. Zehn Lebensläufe
Berliner — (W. Hammer) 472.
Libido sexualis. Sexualhygiene, Fraueu-
proteste und — (Alexander) 34.
Lutte contre la Prostitution. La —
(Minod) 480.
Mädchenhandel, Der — und seine Be¬
kämpfung (Schrank) 124.
Mädchenhandelkongreß, Bremen 337.
Maßregeln zur Bekämpfung der Ge¬
schlechtskrankheiten , Persönliche
Ansichten über — (v. Düring) 257.
297.
Mutterrecht, Staatskinder oder — (Br6)
150.
Neugeborenen. Zur Verhütung der
Blennorhe der — (Ernst) 256.
Nourrices, Les — sont soumises k une
r^glementation (Butte) 150.
Pathologie u. Therapie der Gonorrhoe
des Mannes, Vorlesungen über die —
(Scholtz) 409.
Persönlicher Schutz vor geschlecht¬
licher Infektion (Feistmantel) 442.
Police des moeursäBordeaux(R^gnault)
34.
— Contre la — (Augagneur) 412.
Prognose der Syphilis (Mayer) 39.
Prophylaxe der Geschlechtskrankheiten,
Ein Beitrag zur — (Tändler) 442.
— der venerischen Krankheiten (Grön)
119.
— u. Abortivbehandlung der Gonorrhoe
(Finger) 369.
— der Gonorrhoe, Über den Wert der
modernen Instillations— (de Campag¬
nolle) 1. 51.
Bemerkung zu Blokusewskis Erwide¬
rung 279.
Prostituierten, Warum sollen die —
nicht reglementiert werden, da doch
die Ammen einer Reglementierung
unterworfen sind? (Butte) 160.
— Die Wohnungsverhältnisse der —
(Stiehl) 477.
— Die ärztliche Überwachung der —
(Bettmann) 476.
— Von der Erziehungsarbeit an —
(Kampflmeyer) 351.
Prostituiertenbriefe (Eggers-Smidt) 326.
Prostitution und Dienstboten (Hanauer)
122
— und Prostituierte (Hellpach) 472.
— La — et Fassistance publique
(Butte) 151.
34*
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484
Sachregister.
Prostitution. Die Reglementierung der
— (F. Hammer) 378. 425.
— und ihr Anhang. Die — (Hermann)
472.
— La lutte contre la — (Minod) 480.
— Alkoholismus und — (Rosenthal)
480.
— als soziale Massenerscheinung und
ihre sozialpolitische Bekämpfung
(Kampffineyer) 472.
Prostitutionswesen, Die Wohnungsmiß-
stfinde im — und im Schlafg$nger-
wesen und ihre gesetzliche Reform
(Kampffineyer) 165.
Reglernentation, Les nourrices sont
soumises 4 une — etc. (Butte) 150.
Reglementierung, Ärztliches Berufs¬
geheimnis und — (Butte) 33.
— der Prostitution (F. Hammer) 373.
425.
— Studie über gewerbliche — und
venerische Erkrankungen in Brest
(Janneau) 34.
Säuglingsheim , Über Ammenunter¬
suchungen am — zu Dresden (Ga-
lewsky) 412.
Schlafgängerwosen, Die Wohnungs¬
mißstände im Prostitutions- und im
— und ihre gesetzliche Reform
(Kampffineyer) 165.
Schutzmittel gegen Geschlechtskrank¬
heiten (Große) 442.
Seuohengesetz - Kommentar (Schmed-
ding) 479.
Sexualhygiene, Frauenproteste und
Libido sexualis (Alexander) 34.
Sexuelle Abstinenz, Über — (Löwen¬
feld) 230.
— Aufklärung, Zur Frage der —
(Flachs) 152.
Dasselbe (Oppler) 152.
— Frage (Forel) 447.
— Frage. Adam und Eva. Ein Bei¬
trag zur Klärung der — (Wolff) 43.
— Gebrechen (R4ti) 415.
— Jugendaufklfirung (Galandaner) 372.
Sittenpolizei, Gegen die — (Augagneur)
412.
— in Bordeaux (R6gnault) 34.
Sittlichkeitskonferenz 1904 116, 1905
439.
Staatskinder oder Mutterrecht(Br6) 150.
Sterile Ehen (Prinzing) 37.
Studie über die venerischen Erkran¬
kungen und die Resultate der ge¬
werblichen Reglementierungen in
Brest (Jauneau) 34.
Syphilis, Ärztliches Geheimnis und —
(Prince MorrQw) 34.
Syphilisprognose (Mayer) 39.
Syphilisprophylaxe, Cireumcision und
— (Loeb) 88.
Tagebuch einer Verlorenen (Böhme,
bespr. von Flesch) 464.
Tagesgeschichte 39. 158. 281. 353. 386.
436. 471.
Therapie der Gonorrhoe, Vorlesungen
über die Pathologie und — des
Mannes (Scholtz) 409.
Uneheliche Geburten und Dienst¬
mädchen (Spann) 128.
Verbreitung und Bekämpfung der vene¬
rischen Krankheiten in Christiania
1903 (üstaedt) 119.
Verbältnisse, Die geschlechtlich - sitt¬
lichen — im Dienstboten- und Ar¬
beiterinnenstande, gemessen an der
Erscheinung der unehelichen Ge¬
burten (Spann) 123.
Verhütung der Blennorrhoea neonato¬
rum, Zur — nach Credö (Ernst) 256.
— und Bekämpfung der Geschlechts¬
krankheiten , Über die—(Lesser) 416.
— Die Gefahren der Geschlechtskrank¬
heiten und ihre — (Waldvogel) 416.
— und Bekämpfung, Die Geschlechts¬
krankheiten, ihre — (Lobedank) 295.
—- der Geschlechtskrankheiten (Neu¬
berger) 295.
Venerische Erkrankungen und gewerbl.
Reglementierungen in Brest (Janneau)
34.
— Krankheiten, Prophylaxe der —
(Gron) 119.
Vestre Hospital 1904 (Pontoppidan) 410.
Weibes, Das Geschlechtsleben des —
in physiologischer, pathologischer
und hygienischer Beziehung (Kisch)
37i.
Wohnungsmißstände im Prostitutions¬
und im Schlafgängerwesen und ihre
gesetzliche Reform (Kampffineyer)
165
Wohnungsverhältnisse'der’Prostituier-
ten. Die — (Stiehl) 477.
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