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Zeitschrift
für
Geschichtswissenschaft.
Unter Mitwirkung der Herren
A« Boeckh, J. und W. Grimm, 6* H. Pertz and L. fUnke
herausgegeben ' S
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von v"*9 ..,>.;
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Dr. W. Adolf Schmidt,
ausserord. Professor der Geschichte an der Universität zu Berlin.
Vierter Band«
Berlin, 1845.
Verlag von Veit und Comp.
Heinrich der Löwe. Anfänge Lübecks*
Heber die allmählig zu Deutschland gezogenen slawischen
Länder an der Ostsee, Wagrien, Mecklenburg und Pommern,
ist schon im früheren Mittelalter einiges geschichtliche Licht
verbreitet worden. Bereits im neunten Jahrhundert ist die
ganze Gegend unter dem Namen Wendland bekannt gewe-
sen, angelsächsisch Wineda-Land.*) Neben den verdienstli-
chen Bemühungen christlicher Geistlichen, und den Erobe-
rungen sächsischer Nachbaren hat zur Kenntniss dieser Kü-
stengegenden der Waarentausch beigetragen, auf den gegen-
seitig das Bedürfniss, oder Eitelkeit und Sinnlichkeit geführt
haben. Wie sich aber fast überall die Anfänge eines Völker-
schädlichen Verkehrs im Dunkel verlieren, so sind auch in
dem scandinavisch- wendisch- sächsischen die ersten Tausch-
plätze unbekannt. Da ist denn aus Missverstand und entstell-
ten Ueberlieferungen der weit getriebene und lange fest ge-
haltene Wahn entstanden von einer an dieser Küste einst
blühenden, grossen und reichen Handelsstadt Wineta, ein
Seitenstück zu Thule und Atlantis.
Wenn es fast ganz an Nachrichten fehlt, an welchen sla-
wischen Landungsplätzen der früheste Umsatz zwischen den
nordischen und sächsischen Handelsleuten Statt gehabt habe,
so ist doch die Strasse ziemlich deutlich zu erkennen, auf
welcher die Güter durch Ost- und Westphalen geführt, und
auf Seitenwegen weiter vertrieben worden: von Bardewik,
*) Des Königs Alfred Beschreibung des nördlichen Europa,
deutsch in Försters Geschichte der Entdeckungen und Schiffahr-
ten im Norden, S. 79. Auch in Scblözer's Nestor II. 67.
Zeitschrift f. GetchichUir. IT. 1845. ±
2 Heinrich der Löwe.
einem früh und stark besuchten nordsächsischen Handels-
platze,*) über Magdeburg und Goslar, durch Westphalen, gros-
sentheils über Soest, nach Köln und Thiel. Der Zwischen-
handel Magdeburgs und Goslars von Bardewik bis an den
Miederrhein und die Waal erhellt aus einem königlichen Frei-
briefe, worin erklärt wird, dass die Kaufleute der beiden erst-
genannten Orte durch ganz Deutschland zollfrei gewesen, nur
nicht an den Zollstätten von Bardewik, Köln und Thiel/*)
Der Ruf von Soest, als einem volkreichen und wohlhabenden
Orte, reicht hinauf bis in das zehnte/**) ja das neunte f)
Jahrhundert
Die auf diesem Wege umgesetzten Waaren standen in
genauem Zusammenhange mit dem Ganzen des Zeitalters und
der Stufe seiner Bildung, mit seinen eigenthümlichen Genüs-
sen, Kleidertrachten, Kriegsbedürfnissen, Kirchengebräuchen»
Vorurtheilen und Verirrungen der Einbildungskraft; ein eitles
Beginnen daher, von einem Zeitalter, das sich überlebt hat,
einzelne Theile entlehnen, und sie in das Ganze eines späte-
ren einfugen zu wollen, da doch wenigstens die unzertrenn-
lich damit verbundenen ebenfalls mit eingeschaltet werden
müssten. Von den Erzeugnissen des Nordens kommen am
häufigsten in den Handel getrocknete Fische zur Kost an Fast-
tagen, Wachs zu dem starken Verbrauche von Kirchenlichtern,
Honig zu Speisen und Getränken, Eisen und Stahl aus Schwe-
den zu vielen unentbehrlichen Geräthen, Werkzeugen und
Waffen. Nach Häuten und Fellen für die Werkstätten der
Gerber, Sattler, Riemer und Handschuhmacher war die Nach-
frage allgemein; denn die Hauptstärke eines Heeres bestand
in der Reiterei, auf die Jagd begab sich der Gutsherr, wie
der Bischof und der Abt, nur zu Pferde, und ebenso gescha-
hen fast alle grösseren Reisen. In Pelzwerk wurden sehr
+) Ottonis I. dipl. 965, ap. Schlöpke, Chronicon von Barde-
wik p. 159.
**) Lotharii regis dipl. a. 1134, in Heineccii anliqq. Goslar,
p. 139 extr.
♦*» Narratio a. 937: Leibnitz. Script!. Bruns. I. 399 extr.
t Vila S. Idae, ibid. p. 177.
Anfänge Lübecks. $
bedeutende Geschäfte gemacht. Der grosse Kaiser Karl hatte
seinen Schafpelz getragen; den fanden die deutschen Fürsten
und Ritter zu gemein, mit köstlichem Wildwerk aus dem ho-
hen Norden mussten die Feierkleider gefüttert, wenigstens
verbrämt sein; ja wegen des mannhaft; gebietenden Ansehens,
das solcher Pelz zu geben schien, maasste sich ihn der zünf-
tige Adel spät noch als Auszeichnung an, die dem Gewerb-
stande untersagt sein sollte.*)
Bei den Fürstenmänteln ist hierin die Hoffart am weite-
sten gegangen, im Süden und Norden. Die Pelzfürsten (prin-
cipes pelliti) und die Purpurfürsten (principes purpurei) haben
sich gegenseitig in der Prunksucht angesteckt: auf die letzte-
ren, nebst den Bischöfen, sind die prahlenden Kragen und
der Besatz übergegangen, auf die nordischen der Ueberzug von
purpurfarbenem Sammt. Aus solchem bestand nämlich der
aus Griechenland eingeführte Stoff der Fürstenmäntel,**) und
die Purpurfarbe war dabei die gewöhnliche.***) Allerdings ist
diese Waare von allen nach dem Norden ausgeführten die
seltenste und theuerste gewesen. Die gangbarsten bestanden
in friesischen und niederländischen Tüchern, feiner Leinwand,
wahrscheinlich westphälischer, Metallgeräthscbaften und Werk-
zeugen; Waffen, Südfrüchten, Wein, Gewürzen und Räu-
cherwerk.
Als älteste slawische Niederlassung an der angegebenen
Küste zum Austausche dieser Gegenstände wird ein Ort an
dem kleinen Flusse Swartow im nordöstlichen Wagrien ge-
nannt, der sich in die Trave, auf deren Nordwestseite, ergiesst
Der ursprüngliche slawische ist in den heutigen Namen Lü-
beck verändert. Als es um das Jahr 1140 dem Grafen von
Holstein, Adolf dem zweiten, gelang, ganz Wagrien zu be-
setzen, und es seinem Lande einzuverleiben, kam auch das
Swartow'sche Alt-Lübeck unter Holstein'sche Herrschaft, aber
*) Reicbs-Abschied v. J. 1497. In der Sammlung der Reichs*
Abschiede II. 31.
**) Arnold. Lubec. I. 5. ap. Leibnit. 1. 1. Vol. II. p. 633.
***) Charta a. 1978: Schannat tradilt. Fuldens. p. 276: „pur*
pura, quae vulgariter dicitur Samyt."
1*
8<8I.
U
%fcfa
8 Heinrich der Löwe.
Erzbischof von Köln landesherrliche Rechte über die Soöster
Bürgerschaft ausgeübt hat, denn neben der Rathsbehörde und
dem bürgerschaftlichen Schulzen bestand, zur Wahrnehmung
der öffentlichen Ordnung und Sicherheit und der damit ver-
bundenen Strafgerichtsbarkeit, ein erzbischöflicher Vogt: ganz
wie in Köln.*) So wäre Lübeck, wenn diese Beweisführung
gegründet ist, in Ansehung seiner gemeinheitlichen Grund-
verfassung, eine Enkelin der deutschen Urstadt Köln.
In dieser soll aber ein städtischer Rath (consilium civi-
tatis), dessen Mitglieder von der Bürgerschaft, ohne Wissen
und Willen des Erzbischofs, gewählt worden, erst zur Zeit
Engelbert' s (des Ersten) entstanden sein/*) Das ist aber eine
urkundliche Unwahrheit. Denn Engelbert hat die Würde von
1215—1225 inne gehabt***); wenn aber die Kölnische Stadt-
verfassung schon 1120 bei der Gründung der Freiburgschen,
mit Einführung von Rathmannen, zum Vorbilde gedient, so
hat jene wenigstens schon im elften Jahrhundert bestanden.
Wie vor ihm der Zähringer Berthold, älterer Bruder des
Schwiegervaters von Heinrich, hat auch dieser das Bewusst-
sein gewürdigt, das eine Bürgerschaft belebt, die unter Auf-
sicht der Regierung ihre gemeinsamen Angelegenheiten selbst
verwaltet. Gegenüber dem Bedürfnisse des Zeitalters, den
Bürgerstand zu befördern, erkannte er als ein ebenso drin-
gendes, dem Stande der Lehnmannen, und der ihm amtlich
untergebenen Grafen zu wehren, dass sie ihre Befugnisse
nicht überschritten ; und doch hatte er viele treue Anhänger,
die auch nach dem Umschlage seines Glücks noch fest an ihm
hielten. Hervorragend unter den Zeitgenossen ist er beson-
ders durch die Einsicht und den Muth, mit dem er die Ein-
griffe des Kirchenrechts in das Staatsrecht hemmte, weshalb
auch die Bischöfe seines herzoglichen Sprengeis, namentlich
Hermann von Hildesheim, Adalrich von Halberstadt, Wich-
*) Ibid. p. 101. 120.
**) Urkunde eines Vergleichs des Erzbischofs mit der Bürger-
schaft vom Jahre 1258: (Bossart) Securis ad radicem posita, Beila-
gen, S. 76.
***) Cronica von Collen fol. 184 b.
Anfänge Lübecks. 9
mann von Magdeburg, und vor allen Reinhold und darauf
Philipp von Köln, auch der undankbare Konrad von Lübeck,*)
am meisten das Feuer des Hasses angefacht haben.**) Die von
ihm gestifteten Bischofthümer in den eroberten wendischen
Gegenden hatte er mit Gütern ausgestattet, er behauptete also
das Recht, die Bischöfe zu ernennen und einzusetzen.***)
Durchfahrend und rauh, wie der fürstliche Gebieter nicht
sein soll, und in der Wahl der Mittel zu seinen Zwecken oft
gewaltthätig, aber mit seltenem Blick auf die Bewegungen
der drei Stände, die hier begünstigt, dort eingeschränkt wer-
den mussten, war Heinrich der Löwe unstreitig der erste
Staatsmann seines Jahrhunderts, und wenn er sich noch et-
was mehr über seine Zeit erhoben hatte, um auch das ge-
ringe Landvolk ins Auge zu fassen, wäre er der erste wahr-
hafte des ganzen Mittelalters.
*) Helmold. II. 7. 9. p. 623. 624. Arnold. Lubec. I. 17—20. 25
bis 28. p. 641. 644-646.
*) Id. I. 16. p. 640: „pontifices ante omnes cet."
•) Friderici I. dipl. ap. Scheid, origg. Guelf. III. 470. Helmold.
1. 70. 87. II. 1. p. 595. 612. 618. Arnold. Lubec. I. 13. p. 638.
Bonn. Hüllmann.
Betrachtungen über Boclalismus und
Communlsmus«
Dritter Abschnitt.
Wir haben im Vorigen zwei ganz entgegengesetzte Auflas-
sungsweisen der socialen Verhältnisse und ihrer Zukunft ken-
nen gelernt: zuerst die der Communisten, der Socialisten und
des Herrn Stein, welche darin übereinstimmen, dass der heu-
tige Gesellschaftszustand ohne das äusserste Verderben nicht
fortdauern kann, vielmehr einer wesentlichen Reform bedarf,
wenn sie auch über die Art und Weise dieser Reform sehr
von einander abweichen, auch zum Theil wohl alle bisheri-
gen Vorschläge der Art für sehr verfehlt ansehen, und über
das Richtige einstweilen noch ganz im Dunkeln zu sein be-
kennen; sodann die von Chevalier, welcher die Leiden der
Gegenwart als notwendigen, aber bald überwundenen Durch-
gang betrachtet, ganz auf dem bisherigen Wege fortzufahren
ratb, und grade in denjenigen Instituten die sichersten Keime
einer schönen Zukunft erblickt, die von den Anklägern un-
serer Zeit am meisten getadelt werden. — Der günstige Le-
ser wird schon von selbst erwarten, dass die historische An-
sicht des Unterzeichneten, deren Grundlagen vorhin erörtert
worden, auch hier zu eigentümlichen Resultaten fuhren, und
zwischen den beiden Extremen einen gewissen Mittelweg
versuchen wird.
Vor allen Dingen mache ich darauf aufmerksam, dass
selbst die wunderlichsten, abstrusesten Systeme
des Socialismus gar nicht so weit von den wirkli-
chen Zuständen entfernt liegen, wie es auf den er-
Betrachtungen über Sociali$mu$ und Communimus. 11
sten Blick scheinen möchte. Diese Bemerkung ist noth-
wendig, damit der Beobachter von dem Fremdartigen jener
Systeme nicht verblüfft werde. Jede politische Theorie, die
ein Staatsideal aufstellt, und irgend allgemeineren Anklang
findet, pflegt nur ein mehr oder weniger verschärftes Abbild
desjenigen Zustandes zu sein, welcher den Verf. in der Wirk*
lichkeit umgiebt. Eine Geschichte der Menschheit, die bloss
nach den verschiedenen Staatsidealen geschrieben würde, muss
in allen Hauptpunkten mit der gewöhnlichen Geschichtsdar-
stellung zusammentreffen. Ich habe diese Erscheinung an ei-
nem andern Orte zu erklären versucht/) Wie jeder tonan-
gebende Mann, so gelangt auch der politische Theoretiker
nur dadurch zu weit- und tiefgreifender Anerkennung, dass
er den dunkelen Gefühlen und unbegründeten Wünschen sei-
ner Zeit wissenschaftliche Klarheit und Begründung gewahrt.
Nun werden aber die wirklichen Bedürfnisse der Zeit im
Grossen und Ganzen, und namentlich auf die Dauer, allemal
befriedigt werden. Es beruht also jene Erscheinung ganz ein-
fach auf dem Satze, wenn zwei Dinge einem dritten gleich
sind, so sind sie auch unter einander gleich. So habe ich
z. B. in meiner Doctordissertation zu zeigen versucht, dass
der platonische Idealstaat, den Piaton selber für gänzlich ab-
stract hielt, nicht bloss den Lakedämonischen Einrichtungen/*)
sondern überhaupt den griechischen Staats- und Socialver-
hältnissen seiner Zeit auf das Merkwürdigste parallel läuft. —
In Bezug auf unseren vorliegenden Gegenstand mögen fol-
gende Bemerkungen einem tieferen Studium als Fingerzeige
dienen.
1) Ich habe schon oben daran erinnert, dass auf den hö-
heren Kulturstufen die Macht des Staates relativ immer
bedeutender wird. Das Gebiet seiner Zwecke erweitert sich
mehr und mehr; während er ursprünglich nur nach Aussen
zu für die Sicherheit seiner Angehörigen hatte einstehen müs-
sen, sorgt er allmählig durch Einführung des Landfriedens,
*) Klio, Beitrage zur Geschichte der historischen Kunst. Bd. I.
S. 35 ff.
**) Wie schon Morgenstern bewiesen hatte.
12 Betrachtungen über Socialismus
«
Abstellung der Blutrache etc. auch für die innere Rechtssi-
cherheit; weiterhin für den Wohlstand, die Bildung, die Be-
quemlichkeit des Volkes. In demselben Verbältnisse aber,
wie seine Leistungen, müssen auch seine Ansprüche wach-
sen. Die Staatsabgaben, Staatsschulden etc. werden immer be-
deutender. Während Lowe das reine Einkommen des briti-
schen Volkes auf 250 Millionen L. St. jährlich anschlägt, be-
trugen die Staatsausgaben 1817, also nach dem grossen Kriege,
über 80 Millionen. Jedermann also musste etwa 30 Procent
seines Einkommens für öffentliche Zwecke hingeben. Zu glei-
cher Zeit wird es immer üblicher, durch Expropriationen etc.
dem Gemeinbesten die wohlerworbenen Privatrechte aufzuop-
fern. Wie unermesslich wichtig ist es doch in dieser Hinsicht,
dass die allgemeine Wehrpflicht in so vielen Ländern jeden dazu
fähigen Unterthan zwingt, drei oder mehr Jahre seines Lebens
dem Staatsdienste zu widmen! Wie hat nicht auf den höheren
Kulturstufen die öffentliche Erziehung, der Volksunterricht,
selbst der Zwang darin einzutreten, zugenommen, die blosse
Privaterziebung abgenommen! Hoffentlich wird sie sich bald
allgemein auch auf die körperliche Ausbildung erstrecken. —
Rechnet man hierzu die grosse Menge der Vereine, der Ac-
tiengesellschaften, der Volksfeste, vor Allem der Assecuran-
zen gegen jederlei Gefahr: so lässt sich in der That behaup-
ten, dass wir dem Ideale der Gütergemeinschaft näher gerückt
sind, als man es vor hundert Jahren hätte träumen können.
Und zwar sind dies lauter Institute, in welchen die eigen-
tümliche Kraft und Tüchtigkeit unseres Zeitalters hervor-
leuchtet. Aehnlich bei jedem Volke auf entsprechender Bil-
dungsstufe. Wie in so vielen Dingen ein Zusammenwirken
der scheinbar entgegengesetzten Triebe das Höchste überhaupt
leistet, so namentlich im Volksleben ein heilsames Gleichge-
wicht zwischen Eigennutz und Gemeinsinn. Wer die' Macht
zweier Völker mit einander. vergleichen will, der muss nicht
allein ihre Elemente geistiger und körperlicher Stärke, son-
dern ganz vornehmlich ihre Geneigtheit beachten, jene Ele-
mente zu allgemeinen Zwecken zusammenwirken zu lassen.
Und doch sahen wir oben, dass völlige Gütergemeinschaft der
und Comtnunismus. 13
Tod des Volkes sein würde. Welches ist nun der Punkt,
wo die Gemeinschaft aufhört, eine Wohlthat zu sein? Er ist
im Allgemeinen ebenso leicht zu bestimmen, wie im einzel-
nen Falle schwer. Nur so lange, aber auch so lange
gewiss sind die Fortschritte des Zusammenwirkens,
des Gemeinhabens wohlthatig, wie sie den Fort-
schritten des Gemeinsinnes entsprechen, der Vater-
lands- und Menschenliebe. Alles Weitere ist vom Uebel.
2) Insbesondere sehen wir fast überall, dass auf den hö-
heren Kulturstufen der Staat die Armenpflege immer mehr
in seine Obhut nimmt. So lange die Armuth noch wenig be-
deutend, namentlich politisch bedeutend ist, kann sie der freien
Privatwohlthätigkeit überlassen bleiben. Reicht aber diese nicht
mehr aus, so muss eine durch den Staat erzwungene, gere-
gelte und concentrirte Wohlthatigkeit an die Stelle treten.
Es entsteht die gesetzliche Armenpflege: die Armen erhalten
T&in Zwangsrecht, mit Arbeit oder directer Hülfe unterstützt
zu werden; den Reichen wird eine Zwangspflicht aufgebür-
det Wie ungeheuer schwer der Druck dieser Armenpflege
vor einiger Zeit in England geworden, ist allgemein bekannt.
In einer Gemeinde von Oxfordshire kamen 25, in zwei an-
deren 24 Schillinge Armentaxe auf den Acre. Es gab in Bed-
fordshire Gemeinden, wo die Armenlast per Kopf 12j-> 21, ja
35 Schillinge betrug. Ein Gut von 615 L. St. Pachtzins war
mit 427 L. Armentaxe beschwert. In der Gemeinde Choles-
bury in Buckingham hörte 1832, als die Taxe auf 367 L. ge-
stiegen war, die Zahlung derselben plötzlich auf, weil die
Grundbesitzer und Pächter ihr Land, der Geistliche seinen
Zehnten etc. aufgegeben hatten. Das also frei gewordene Land
ward unter die Armen vertheilt! Die Armen selbst lebten da-
bei ganz vortrefflich. In den Armenhausern ward 4 mal wö-
chentlich Fleisch gegeben, dazu auf die Person wöchentlich
i Pfd. Butter, 7 Pfd. Brot, 7 Pinten Bier, Sonntags Pudding.
Alles in bester Qualität. Der Accordnehmer musste in Kent
den Armenhausbewohnern alle sechs Wochen das Haar schnei-
den lassen, im Nöthfälle selbst für Perrücken sorgen» In ei-
ner Gemeinde wurden die Hochzeitskosten eines Armen mit
14 Betrachtungen über Socialismus
6 L. 121 S. aus der Armenkasse bestritten; der Trauring al-
lein kostete 8 S. Anderswo kaufte sich ein Armer ein Pferd,
um damit nach der Sandgrube zu reiten, wo er arbeiten musste.
Sachverständige konnten der Ansicht sein, dass von 100 L.
Geldalmosen noch an demselben Tage 30 L. durchschnittlich
im Wirtbshause vertrunken würden. — Man sieht auch hier
wieder eine grosse Aehnlichkeit mit der Gütergemeinschaft.
Dies ist aber bei den meisten Völkern auf ihren späteren Ent-
wicklungsstufen der Fall. Von den alten Römern habe ich
schon oben geredet. Dass bei den Griechen das eigentliche
Armen wesen eine so viel geringere Rolle spielt, als bei den
Neueren, rührt wohl nicht, wie Böckh meinte, von der gros*
seren Hartherzigkeit der Alten her, sondern von ihrer Skla-
verei. In Sklavenstaaten muss eine Hauptursache des Pau-
perismus, die Uebervölkerung, sehr viel seltener vorkommen,
weil die Fortpflanzung der Sklaven unter Gontrole ihrer Her-
ren steht. Sollte es ja zu viele Sklaven geben, so kann man
sie sogar zu Gelde machen. Neben den sehr geringfügigen
Leistungen der eigentlichen Armenpflege, die in Athen erst
nach dem peloponnesischen Kriege etwas bedeutender wurde,
findet sich ein anderes Institut, welches unserer Armentaxe
viel directer parallel läuft. Je demokratischer nämlich der
Staat wurde, desto mehr wurden nicht bloss alle Staatslasten
auf die Reichen allein gewälzt, sondern der Staat musste so-
gar den ganzen Lebensunterhalt des grossen Haufens bestrei-
ten. Ging der Bürger in die Volksversammlung, ward er in
den Rath gewählt, sass er zu Gericht: immer empfing er
Sold ; und alle Behörden waren absichtlich überaus zahlreich,
damit möglichst Viele dieses Soldes theilhaftig würden. So
gab es z. B. 6000 Richter zu Athen, während die Stadt über-
haupt nur gegen 20000 Bürger zählte. Hierzu kam eine un-
zählige Menge von Lustbarkeiten, Festen etc., die bald Vom
Staate, bald von angesehenen Privaten dem Volke gegeben
werden mussten. Jeder Bürger hatte freies Theater. U. dgl. m.
So lange der Staat auswärtige Unterthanen besass, mussten
diese die Kosten tragen; nachher die einheimischen Reichen.
Wo dieser Zustand sehr entwickelt ist, da muss er natürlioh
und Communismus, 15
annäherungsweise dieselben Wirkungen haben, wie die Gü-
tergemeinschaft. Namentlich hat man in England bemerkt,
dass das leichtsinnige Heiratben und Verschwenden der Ar-
men, überhaupt ihre völlige Sorglosigkeit für die Zukunft; un-
gemein dadurch gesteigert wird. Ihre Arbeiten waren in der
Regel fast gänzlich unbrauchbar, wie denn viele Sachkundige
die Armenarbeit nicht um ihres directen Nutzens willen em-
pfehlen (der ist oft genug Minus), sondern wegen ihres sitt-
lichen Einflusses auf den Armen selbst, und als einen Prüf-
stein der wahren und falschen Armuth. Die nachtheiligste
Folge der Armentaxe ist das Verschwinden der Bescheiden-
heit und Dankbarkeit auf Seiten des Armen, der nun ein
Recht zu haben glaubt, und der Wohlthatigkeit auf Seiten
des Reichen; wodurch die Absicht der Vorsehung, in der
Armuth eine sittliche Anstalt Tür Reiche und Arme zu schaf-
fen, analog der gegenseitigen Bedürftigkeit der Lebensalter,
der Geschlechter etc., vereitelt wird. So lange, aber auch
nur so lange ist die Armenpflege kein directes Hin-
derniss der Volkswirthschaft, wie sie als Wohlthat
geleistet und empfangen wird.*)
*) Vorschläge, die auf Gütergemeinschaft abzielen, können auf ei*
nem blossen Irrthume des Kopfes beruhen ; Weibergemeinschaft
dagegen wird unter Christen nur ein verdorbenes Herz empfehlen.
Daher auch nur eine moralisch sehr gesunkene Zeit irgend welche
Analogien zu der letztem darbieten kann. Es leuchtet ein, dass
bei jedem Volke die Versuchung zu fleischlichen Sünden um so
grösser .ist, je mehr die Population durch das Maass ihrer Nahrungs-
mittel eingeengt wird, je schwieriger also die Ehe und die legale
Aufziehung der Kinder wird. In diese gefährliche Lage pflegt ein
jedes Volk zu gerathen, wenn es die äussersten Grenzen, die sei*
ner wirtschaftlichen Ausdehnung gesteckt sind, erreicht hat; die
Gefahr wird grösser, wenn der Volkswohlstand Rückschritte zu ma-
chen anfängt; sie wird unwiderstehlich, wenn zu derselben Zeit
ein Sinken der allgemeinen sittlichen Kraft eintreten sollte. Wäre
nur eine ziemlich gleichmassige Vermögenstheilung damit verbun-
den, so könnten immer noch Alle des Familiengiückes theilhaftig
werden, nur etwas später, als in anderen Ländern; wir haben je-
doch gesehen, dass auf der vorliegenden Kulturstufe die Ungleich-
heit des Besitzes immer grösser wird, daher Unzählige hier zeitle-
iß Betrachtungen über Socialismtis
i *
3) Was unsere Zeit der s. g. Organisation der Arbeit
Analoges darbietet, lässt sich in solche Momente eintheilen,
bens zur Ehelosigkeit verdammt scheinen. Die traurigen Folgen
eines solchen Zustandes liegen vor Augen. Mit der wachsenden
Anzahl der unehelichen Kinder, der öffentlichen Dirnen und der
unnatürlichen Laster nimmt die Schande, welche früher auf ihnen
ruhete, stufenweise ab. Die Bedeutung der Findelhäuser steht hier-
mit im engsten Zusammenhange. Immer weniger wird die Heilig-
keit des Ehebandes respectirt; Speculationsheirathen , Ehebrüche,
wilde Ehen, Cicisbeate werden immer häufiger und erregen immer
weniger Anstoss. Als Ursache und Wirkung hiervon ist die wach-
sende Leichtigkeit der Ehescheidungen zu betrachten. Wer Dru-
mann's Geschichte der spätem römischen Republik kennt, dem
wird es erinnerlich sein , dass von den hervorragenden Personen
damals sehr wenige ganz ohne dergleichen Skandal waren. Non
consulum numero, sagt Seneca von gewissen Frauen seiner Zeit,
sed marilorum annos suos computänt (De benef. Hl, 16). Hierony-
mus erzählt von einem Manne, der seine 21ste Frau begraben; er
selbst war ihr 22ster Mann gewesen. Was die Geschichte der grie-
chischen Päderastie betrifft, so hatte noch Solon. Todesstrafe dar-
auf gesetzt; in Aeschines Zeit dagegen besass man öffentlich aner-
kannte Knabenbordelle, die sogar Gewerbesteuer zahlten. — Aehn-
liche Verhältnisse dürfen wir leider allenthalben voraussetzen, wo
bei einem hochcultivirten Volke die Population seit Menschenallern
stille steht. Wenn auf den allerrohesten Kulturstufen der vornehmste
„check" der Volksvermehrung in Lastern besteht, so nicht minder
auf den allerraffinirtesten. Haben diese Laster eine sehr grosse
Ausdehnung gewonnen, so können sie unter Umständen der Wei-
bergemeinschaft %nahe kommen. Besonders mache ich noch auf
zwei Symptome dieses Zustandes aufmerksam. Das eine ist die
s. g. Emancipation der Weiber, wenigstens der verheirateten . Denn
die Jungfrauen, um überhaupt an den Mann zu kommen, werden
da wohl in klösterlicher Zucht gehalten, und leben hernach um so
zwangloser. (So in Italien, so in Altrom und Griechenland zur Zeit
ihres Verfalles; während in sittlich reineren Zeilen die Jungfrau
umgekehrt viel mehr der Welt exponirt wird, als die Frau. Man
denke an Sparta im Gegensatze zu Athen!) Je weibischer die Män-
ner, desto männlicher die Weiber. Es ist kein gutes Zeichen, wenn
im Schriftstellern, Regieren etc. zwischen Mann und Weib kein Un-
terschied mehr; so war es zu Rom in der Kaiserzeit, in Griechen-
land während der makedonischen Periode. — Sodann das Aufkom-
men einer Philosophie, welche die „Rehabilitation des Fleisches u
predigt, mögen es nun Epikureer sein oder Andere. Irgend allge-
und Communismus. 17
die von Oben her, von Seiten des Staates oder der Reichen,
also auf dem Wege der Wohlthätigkeit erfolgen, und solche,
die von den Arbeitern selbst ausgehen. — Schon die Ar-
menarbeitshäuser bilden einen Anfang dazu; auch die
Strafanstalten, welche durch die neuere Philanthropie
mehr und mehr den Arbeitshäusern ähnlich werden. Hierzu
kommen alsdann diejenigen Einrichtungen, die ich bereits
oben aus Chevalier angeführt habe. Die Kleinkinderschu-
len, die mehr als tausend Anderes dazu beitragen, zwischen
Besitzenden und Proletariern ein milderes Verhältniss zu be-
wirken, indem sie die zartesten Bestandtheile beider Klassen
in unmittelbare freundliche Berührung bringen. Die Volks-
schulen, dieses vornehmste Mittel gegen Verarmung, indem
sie den Hauptgrund derselben, die Unfähigkeit der Produc-
tion, wesentlich einschränken. Rechnen wir dazu noch die
Waisenhäuser, die Bibelgesellschaften, die Anstalten
der s. g. innern Mission, so lasst sich allerdings nicht
läugnen, dass sehr bedeutende und erfreuliche Anfänge ge-
macht sind, eine öffentliche Erziehung der niederen Klassen
auf gemeine Unkosten ins Leben zu rufen, •aber ohne die
Unsittlichkeiten der von den Socialisten erstrebten Familien-
auflösung. Ich erinnere weiter an die Sonntags- und Feier-
abendschulen für erwachsene Arbeiter; an die technologischen
Vorträge und Demonstrationen, wie sie jetzt schon in vielen
grossen Städten für die Arbeiter gehalten werden; an die
Feierabendvereine, wo ihnen unter Aufsicht achtungs-
werther Männer unentgeltlich zu anständigem und belehren-
dem Zeitvertreibe Gelegenheit geboten wird. Nichts ist mehr
geeignet, communistischer Ansteckung vorzubeugen, als eine
meinen Anklang wird eine solche Theorie der Unzucht nur unter
den obenerwähnten Verhältnissen finden. Wiederum theils Sym-
ptom, theils Ursache.
Ist einmal von lasterhaften Verhältnissen die Rede, so muss
auch der grossen Vermehrung aller Betrügereien und. Diebstähle
gedacht werden, welche dem Fortschreiten der Kultur leider fast
parallel geht. Das „stehlende Proletariat", mit dem uns die Com-
munisten bedroht haben, falls wir nicht auf ihre Gütergemeinschaft
eingingen, ist in vielen Ländern schon jetzt nur zu sehr verwirklicht.
Zeitschrift f. Guckicktow. IT. 1845. 2
18 Betrachtungen über Socialisimis
solche Fürsorge der höheren Stände für die Mussestunden
der niederen. Nur muss die polizeiliche Absicht dabei von
der menschenfreundlichen entschieden überwogen werden!
Ueberhaupt keimen schon jetzt, und zwar zum sittlichen Vor-
teile beider Klassen, eine Menge von Patronatsverhält-
nissen hervor, die Arbeitscommissionen, die Specialaufsicht
einzelner Menschenfreunde über die entlassenen Waisenkin-
der etc.; lauter Dinge, die, ohne eigentlich Armenpflege zu
sein, unendlich viel wirksamer und wohlthätiger sind, als
diese. Freilich werden diese Einrichtungen nicht völlig durch-
dringen können, ohne dass dadurch die Abhängigkeit der nie-
deren Stände von den höheren wachst. Jedermann ist abhän-
gig, der nicht ganz auf eigenen Füssen steht, der ausser den
strengen Rechte noch das Wohlwollen Anderer in Anspruch
nehmen muss. Allein ist denn jetzt der Arbeiter ganz unab-
hängig? Namentlich kann die obrigkeitliche Beschützung der
armen Fabrikkinder, die von der Menschlichkeit und von der
Sorge Tür die Zukunft des ganzen Volkes so dringend gefor-
dert wird, nur auf dem Wege einer sehr geschärften Aufsicht
gegen den Eigennutz der Herren und der Eltern durchgesetzt
werden; am besten in Verbindung mit einem rücksichtslos ge-
handhabten Schulzwange. Der grosse, oft übertriebene Wertb,
den man in England auf persönliche Ungebundenheit legt,
und der insbesondere alle Gedanken an Schulpflichtigkeit ver-
werfen lässt, hat zwar unberechenbar viel zu dem Aufschwünge
der englischen Volkswirtschaft beigetragen ; aber unter der-
selben Sonne ist mit dem Waizen auch das Unkraut, der
Pauperismus etc. so üppig emporgewuchert — Zu den schön-
sten Versuchen einer wahren Organisation der Arbeit gehö-
ren diejenigen Maassregeln, welche man neuerdings zur
richtigeren Vertheilung der Arbeitskräfte im Lande
ergriffen hat. Hier zeigt sich am besten, wie selbst der ma-
terielle Vortheil der Proletarier und der Besitzenden bei wei-
ser Leitung Hand in Hand gehen kann. So hat man in Eng-
land mit dem grössten Erfolge aus den südlichen Grafschaf-
ten Arbeiter in die nördlichen, wo der Tagelohn höher steht,
übergesiedelt. Die gemeinsten Arbeiter verdienten sich da-
und Commmismus. jg
durch mit ihrer Familie statt 8 — 14 Schillinge wöchentlich,
27—32. Wenn auch die ältere Generation meistens nur in
demselben Arbeitszweige, wie bisher, zu brauchen ist, so öff-
net sich der jüngeren, mehr lernfähigen auch in dieser Hin-
sicht der freieste Spielraum. Noch bedeutender versprechen
die Wakefield'scben Kolonisationsplane zu werden, zu
deren Ausführung freilich nur wenige Länder geeignet sind.
Es kommt hierbei darauf an, die überzählige Arbeitermasse,
die sich jetzt nur gegenseitig die Nahrung beengt und dem
Staate die Armenlast erschwert, in jungcultivirte Länder zu
▼ersetzen, wo sie sich frei ausbreiten, eine wesentliche Er-
gänzung des Mutterlandes bilden, und namentlich durch Er-
zeugung von Rohstoffen der ergiebigste Abnehmer für dessen
Gewerbsproducte werden kann. Bekanntlich ist der Austausch
▼on Robstoffen gegen Gewerbsproducte überhaupt das vor-
nehmste materielle Band' zwischen den Kolonien und Mut-
terländern. Was früher eine Last war, das soll auf diese Art
eine Hülfe werden. Der Wakefield'sche Plan ist nun vor
Kurzem durch den Handelsminister Gladstone in vergrösser-
tem Maasstabe erneuert, ja die Frage aller Fragen genannt
worden; man hat vorgeschlagen, die ersten Kosten der An-
Siedlung, sowie die Garantie des ganzen Unternehmens auf
den Staat zu wälzen, die Ueberfahrt auf der unbeschäftigten
Kriegsflotte zu bewerkstelligen, die Ausrodung der Wälder,
die Anfänge des Städtebaus etc. auf halbmilitärische Weise
durch Staatsingenieure zu leiten etc. England würde auf
solche Art mittelst eines geringen und sich bald wieder er«
setzenden Vorschusses nicht bloss eine ausserordentliche Ver-
mehrung seines innern Reichthums erlangen, sondern auch
die Küsten des Oceans mit einer Menge blühender Tochter-
städten bedecken : ein Weltreich, wovon selbst die Römerzeit
keine Ahnung gehabt hätte! Der merkwürdige Aufsatz von
Gladstone, worin dies entwickelt ist, — bei der Stellung des
Verfassers wohl ein Ereigniss zu nennen — schliesst mit den
Worten: „Zu deinen Schiffen, o England! mache dich auf,
und erfülle die Bestimmungen des Himmels!" Freilieb treten
der vollkommenen Ausführung dieses Riesenptanes selbst in
2*
20 Betrachtungen über Socialismus
England mancherlei Hindernisse entgegen. Was die Erleich-
terung des Mutterlandes betrifft, so pflegt bekanntlich jeder
regelmässige Auswanderungsabfluss eine vermehrte Nach-
zeugung hervorzurufen, welche das unbehagliche Gedrängt-
sein der Bevölkerung gar bald wieder eintreten lässt Das
beabsichtigte Weltreich wird schon durch den Umstand pa-
ralysirt werden, dass die mündig gewordenen Kolonien nie-
mals in der früheren Abhängigkeit fortbestehen wollen. Und
diese Mündigkeit würde man durch Uebersiedlung vieler Fa-
brikarbeiter in hohem Grade beschleunigen. Jedenfalls aber
sehen wir hier eine Tendenz, welche der anderen Tendenz
eines immer schärferen Gegensatzes von Reich und Arm di-
rect entgegenarbeitet: keine Radicalcur, aber eine wichtige
Palliative. Wäre der Gladstone'sche Plan zeitiger befolgt, so
hätte der Abfluss von Kapitalien und Arbeitern aus dem Mut-
terlande dort keinen so fieberhaften Aufschwung der Gewerbe
gestattet. Die Goncurrenz würde nicht so zügellos geworden
sein, die neuen Maschinen nicht so bald durch noch neuere
überflügelt etc. Die nächste Zukunft Englands wird ganz vor-
nehmlich davon abhängen, ob jene bauende, oder diese zer-
störende Tendenz raschere Fortschritte machen. — inwiefern
eine poch weitergehende Organisation der Arbeit durch den
Staat in einzelnen Gewerben möglich sei, ist nicht im All-
gemeinen, sondern nur durch die genaueste technologische
Kenntniss der verschiedenen Gewerbe selbst zu beantworten.
Am ersten wird in denjenigen daran gedacht werden können,
wo die ganz unbeschränkte Privatconcurrenz augenscheinlich
selbst materiellen Schaden bringt So z. B. in def Forstwirt-
schaft, wo der fürs Ganze absolut vorteilhafteste Betrieb die
Hochwaldkultur verlangt, während die Privaten für ihr In-
teresse den Niederwald vorziehen. Ich erinnere ferner an den
grossen, vielleicht unersetzlichen Schaden, welchen die deut-
sche Leinenmanufactur durch den Individualismus erlitten hat
Besonders lehrreich ist in dieser Hinsicht das Studium meh-
rer Bergwerksverfassungen. Bekanntlich ist es in Deutschland
gelungen, die s. g. Freiheit des.ßergbaus mit dem Berg-
regale wohl zu vereinigen. In Sachsen u. A. haben die Berg-
und . Communismus. 2 1
leute ihren sichern, nach Alter, Rangstufe etc. fixirten Lohn,
namentlich auch mit einem Vorzugsrechte bei Bergeoneursen.
Die Weiber arbeiten gar nicht mit; die Knaben erst vom 1?.
Jahre an, und bis zum 14. Jahre empfangen sie daneben Un-
terricht auf der Grube. Die Schichtzeit, meistens nur 8 Stun-
den täglich, darf niemals, und zwar mit Einschluss des Ze-
chenweges, über 12 Stunden betragen. Sehr ausgebildet sind
die Knappschaftsverbande für Invaliden, Wittwen etc. Die
strenge Disciplin der Bergleute ist bekannt. Auf dem Harze
greift ihnen der Staat namentlich auch durch ein grosses Ma-
gazin unter die Arme, woraus ihnen das Korn zu festen Prei-
sen, und zwar mit einem beträchtlichen „Magazinschaden"
verabreicht wird. Diese Einrichtungen sind für unseren Zweck
um so merkwürdiger, weil der Bergbau durch die Grösse der
dazu erforderlichen Kapitalien, durch die Stellung, welche die
Maschinen darin einnehmen, die sociale Lage der Arbeiter
elc. ungemein viel Aehnlichkeit mit dem grossen Fabrikbe-
triebe hat.
4) Bei Weitem das Meiste wird von den Arbei-
tern selbst ausgehen müssen. Hilf dir selbst, so wird
der Himmel dir helfen ! Nur frelich nicht auf dem Wege der
Verschwörung, der Arbeitskündigung in Masse, welche durch-
aus zum endlichen Verderben der Theilnehmenden ausschla-
gen muss. Abgesehen davon, dass solche Verschwörungen
gar leicht den Charakter des Aufruhrs annehmen, und dem-
gemäss unterdrückt werden müssen, können die Herren das
Stocken der Arbeit in der Regel weit länger aushalten, als die
Arbeiter, bleiben also zuletzt, wenn diese ihre Nothpfennige
aufgezehrt haben, doch in der Regel Sieger. Sie können ihre
eigenen Verabredungen, schon ihrer geringeren Zahl wegen,
ungleich heimlicher, weiter verbreitet und wirksamer treffen.
Solche Turn-outs, wie sie in England heissen, zwingen die Lohn-
herren gar häufig zur Einführung neuer Maschinen*); oder
wenigstens dazu, jede grössere Bestellung vor ihren Leuten
*) Man denke an die rasche Verbreitung des „Eisernen Man-
nes" nach der grossen Union der Baumwollarbeiler in England!
22 Betrachtungen über Socialistnus
geheim zu halten, wodurch diese ausser Stand gerathen, auch
nur für die nächste Zukunft ihre Lage vorauszusehen. Wo der-
gleichen öfters eintritt, da werden die Kapitalisten das unsichere
Land verlassen. Die grosse englische Arbeiterunion bald nach
1824 wollte nicht bloss die Arbeitszeit und Lohnhöhe, son-
dern auch die Anzahl der Lehrlinge feststellen, und diese, um
den Zudrang zu vermindern, zu hohen Abgaben zwingen. Da
unter den Verschworenen, wie natürlich, die faulen und un-
geschickten Arbeiter die Mehrzahl bildeten, so ward eine Ge-
sammtliste angefertigt, und die Fabrikanten sollten ohne Wahl,
nach der Reihenfolge dieser Liste ihre Arbeiter sich zuweisen
lassen. Bei manchen isolirt gelegenen Fabriken setzte die
Union freilich ihren Plan durch; allein wem konnte deren
Bankerott, der bald unvermeidlich war, am Ende mehr scha-
den, als den Arbeitern selbst? — Dagegen liegt der entschie-
den hoffnungsvollste Keim der „Organisation" in den Verei-
nen der Arbeiter zur wechselseitigen Unterstüt-
zung. Ein schönes Vorbild dazu geben in gewisser Hinsicht
die Sqccvo* der alten Athener. Dergleichen Vereine sollten
»ich billig, der besseren Assecuranz wegen, aus möglichst ver-
schiedenen Gewerben zusammensetzen. Viele sind leider zu
Grunde gegangen, weil sie schlechte Mortalitätsrecbnnngen be-
folgten, zu viel Scbmausereien gaben und Arbeiterverschwö-
rungen begünstigten. Am besten sind daher solche Vereine
gediehen, wie der zu Nantes, der auf Beitragen der Tbeil-
nehmer und Geschenken beruht, und sowohl in der Central-
verwaltung, als in der specialen über je 15 Mitglieder, zugleich
von der Industriegesellschaft, wobltbätigen Gebern und Ar-
beiterdeputirten geleitet wird. So stehen die Vereine der
belgischen Kohlenarbeiter unter einem Verwaltungsratbe, der
aus dem Statthalter der Provinz, dem Oberbergmeister, 6 De*
putirten der Grubenbesitzer und 3 Deputaten der Arbeiter ge-
bildet wird. Diese Vereine sind im erfreulichsten Aufschwünge
begriflfen: von den 38500 Arbeitern der Provinzen Namur,
Hennegau, Lüttich und Luxemburg waren 1842 schon 31400
beigetreten. Aehnlicbe Anstalten haben die Eisenbahnarbei-
ter und die Lootsen Belgiens. — Hierher geboren yor Allem
und Cowmunumus. 23
auch die Sparkassen. Welche Garantie für die öffentliche
Ruhe Frankreichs z. B., dass in Paris allein 149000 Deponenten
mit etwa i 00 Millionen Fr. Depositum existiren; im ganzen
Reiche 320 Millionen Depositum! Es ist nicht ohne Bedeutung,
dass bei den Proletarieraufständen zu Paris kein einziger. Ar-
beiter betheiligt war, der in der Sparkasse ein Guthaben be-
sass. Bis jetzt sind freilich, selbst in England und der Schweiz,
die Sparkassen nicht viel mehr, als blosse Keime. Abgesehen
von der noch viel zu geringen Zahl der Theilnehmer über-
haupt,*) wie kann es selbst Air diese genügen, wenn der Mit-
telbetrag der Einlagen in England etwa 380 Gulden betrügt,
in der Schweiz 129? Aber es lassen sich die besten Hoffnun-
gen daran knüpfen/*) Sentimentale Schriftsteller, die aber in
den Anfangsgründen der Nationalökonomie noch unbewandert
sind, haben wohl mit einer gewissen Indignation die Zumu-
thung abgewiesen, dass die Sicherheit der Arbeiter haupt-
sächlich durch Ersparnisse von ihrem eigenen Lohne bewirkt
werden sollte. Von diesem so schon unzureichenden Lohne?
*) In England kommen auf 1000 Einwohner 35 Sparkassenmit-
glieder, in der Schweiz 29.
**) Sehr bedeutend könnte auch eine zweckmassige Associa-
tion des Handwerkerstandes dazu beitragen, diesen gegen die Ueber-
wocht der grossen Fabriken zu vertheidigen. Zunächst müssten
sich Handwerker desselben Gewerbes assoeiiren, um ihren Rohstoff
gemeinsam und im Grossen zu kaufen, Modelle, Vorlegeblätter, Ma-
schinen gemeinsam zu nutzen, auch um die Preise ihrer Waare an
fremden Orten zu erfahren, Niederlagen daselbst zu errichten etc.
Auf diese Art könnten insbesondere mehre Meister durch einen
einzigen Agenten Jahrmärkte beziehen; sie könnten in einer gros*
sen Stadt fern vom Mittelpunkte, d. h. also wohlfei!, wohnen, und
dabei einen gemeinschaftlichen Laden an der Passagestrasse er-
richten. Oder es könnten auch verschiedene Gewerbe, die aber
zusammen wirken, eine Association bilden: so z. B. Sattler, Schmiede,
Gttrtler, Wagner, Laekirer für Wagen; Holzhändler, Fournirmüiler,
Dessinzeichner, Schreiner, Drechsler, Tapezierer, Bildhauer, Polirer
für Mobilien; so Gerber und Schuster etc. (Idee von Dr. Kittel in
Ascbaffenburg). — So ist es z. B. bei den englischen Wollwebern
sehr üblich, dass mehre Kleine zusammen eine Maschine ankaufen,
wo dann jeder Theilnehmer eine Anzahl Webestühle, mit Dampf
getrieben, miethen kann.
•h«.
24 Betrachtungen über Socialismus
ruft man achselzuckend aus. Aber man muss sich erinnern,
dass die Höhe des Arbeitslohnes in gewisser Hinsicht
von den Arbeitern selbst abhängt. Sind sie in der Re-
gel auch genöthigt, ihre gegenwärtige Thäti^keit ganz zu Markte
zu tragen, so steht es doch in ihrem Belieben, das zukünftige
Arbeitsangebot zu vergrössern oder zu verringern. Ist es nun
allen Arbeitern — der Einzelne kann hier natürlich nicht viel
ausrichten — wirklicher Ernst damit, ihre Zukunft sicher zu
stellen; unterlassen sie namentlich das Kinderzeugen, so lange
sie dies noch nicht erreicht haben: so wird unzweifelhaft spä-
testens in einem Menschenalter ihr Lohn um die hierzu er-
forderliche Summe gestiegen sein. Freilich nach einer Ueber-
gangsperiode voller Entbehrungen; allein welches Grosse kann
ohne alle Opfer von Seiten der Betheiligten gewonnen wer-
den? Ich sage, spätestens in einem Menschenalter, wenn näm-
lich die ganze Steigerung bloss durch vermindertes Angebot
verursacht werden soll; vielleicht schon früher, wenn inzwi-
schen ein Aufblühen der Industrie etc. die Machfrage nach
Arbeit vergrössert.*) Was sich hier durch Klugheit und Ein-
*) Von grosser Wichtigkeit ist in dieser Hinsicht u. A. die Hei-
lighaltung der Feiertage: ich meine nicht die ebenso wenig
christliche wie menschenfreundliche Verpönung erlaubten Vergnü-
gens, sondern das Unterlassen jeder grobmateriellen Arbeit. Wenn
jetzt die Feiertage streng gebalten würden, so müsste freilich in
den Gegenden, welche bisher davon entwöhnt waren, eine Ueber-
gangszeit verminderter Einnahmen für den Arbeiterstand erfolgen.
Bald aber würde der Lohn durch das verminderte Angebot von Arbeit
so hoch steigen, dass der Arbeiter vom Erlrage der sechs Wochen-
tage auch den Feiertag hindurch nach seinen usualen Bedürfnissen
leben könnte. Bei demselben Lohne also würden die niederen Klas-
sen weniger zu arbeiten brauchen, mehr Zeit für Erholungen, Fa-
milienfreuden, geistliche Sammlung etc. übrig haben. Fangen sie
umgekehrt an, den Sonntag zum Werkeltage zu machen, so ist die
hieraus erwachsende Erhöhung ihres Lohnes sehr temporär; das
vermehrte Angebot wird ihn bald auf seinen früheren Stand wie-
der herabdrücken, und nur die vermehrte Anstrengung ist geblie-
ben. — Man sieht, wie die wahre Religiosität und die wahre Volks-
freundlichkeit auf dasselbe Ziel hinauslaufen. Der einzelne Arbeiter
vermag auch hier, im Guten wie im Bösen, nur wenig; aber ein
Gesetz mit gehörigen Conlrolemaassregeln könnte ungemein wohl-
und Cammunismus. 25
tracht der niederen Stände ausrichten lässt, hat die englische
Geschichte des vorigen Jahrhunderts bewiesen. Als unter
Georg IL der grosse Aufschwung der englischen Volkswirt-
schaft und die* gesteigerte Nachfrage nach Arbeitern deren Lohn
in die Höhe trieb, gewöhnte sich das niedere Volk in Eng-
land ein bequemeres, comfortableres Leben an, nicht bloss
von der Hand in den Mund, sondern voll Sauberkeit, Nettig-
keit und Sicherheit für die Zukunft. Desgleichen in Schott-
land, etwa eine Generation später. Den entgegengesetzten
Weg schlugen die Irländer ein, als im Anfange des 18. Jahr-
hunderts durch den beispiellos vermehrten Kartoffelbau die
Productionskosten der Arbeit wesentlich sanken, der Nahrungs-
spielraum des Volkes also weiter wurde. Dem Iren fiel es
nicht ein, als Staatsbürger und Gentleman eine Stellung ein-
nehmen zu wollen; die (Jnsauberkeit seiner Kleidung, seiner
Wohnung ist ihm nicht zuwider; sein Leichtsinn denkt nicht
an die Zukunft. Solchen Menschen kommt es zu, sich an
die Genüsse des Augenblicks zu halten, und die vermehrten
Unterhaltsmittcl nur zu einer noch stärkeren Populationsver-
mehrung anzuwenden. So haben die Engländer und Schot-
ten ihren hohen Lohn selbst verdient, die Iren den niedrigen
grossentheils selbst verschuldet. — Niemand glaube übrigens,
dass eine Lohnerhöhung in der eben beschriebenen Weise
den höheren Klassen, Grundherren und Kapitalisten, nachthei-
lig sein müsse. Wo ganze Districte oder gar Nationen in dem
Rufe stehen, bessere Arbeiter zu besitzen, als andere, da ist
in der Regel dieser Umstand, von der besseren Nahrung, Klei-
dung etc. bedingt. So hat man gefunden, dass der geringere
Werth der französischen Arbeiter gegenüber den englischen
sehr zusammenhangt mit ihrer geringen Fletschnahrung. Rei
besserer Kost, wie manche Reispiele zeigen, arbeitet auch der
Franzose besser. So haben französische Fabrikanten auch
bemerkt, dass nach Reduction der sehr hoch getriebenen Ar-
beitszeit um eine halbe Stunde das Product sich an Masse
thatig wirken. Dies Gesetz wäre alsdann gleichsam das Organ ei-
ner allgemeinen Arbeiterverabredung.
26 Betrachtungen über Socialimus
und Güte nicht verminderte, sondern um ,V zunahm/) —
Sismondi hat einst gemeint, die Fabrikherren müssten zur
Sorge für die Krankheiten, das Alter etc. der Arbeiter strenge
verpflichtet werden ; dagegen durften sich die Letzteren ohne
ihren Gonsens nicht verheirathen. Offenbar ein etwas chi-
märischer Vorschlag, da der einzelne Fabrikant, der so leicht
Bankerott macht, unmöglich eine solche, erst nach langer
Zeit fällige, Leistung sichern kann; einstweilen auch der Ar-
beiter schwerlich dahin zu bringen wäre, dass er ihm einen
so grossen Theil seiner Selbstständigkeit aufopferte. Was
Sismondi hier durch papierne Gesetze erreichen wollte, das
sucht auf die von mir bezeichnete Weise das Leben selbst,
organisch, mit Freiheit zu erreichen. Ob es gelingen wird;
ob die grosse Masse der Arbeiter einer solchen Vorsicht,
Selbstbeherrschung und Beharrlichkeit fähig ist, wie sie die-
ser Zweck erfordert: — das ist eben der Angelpunkt, um
welchen sich die Frage von der Unvermeidlichkeit der geld-
oligarchisch-proletariscben Spaltung und dem Altern des Vol-
kes überhaupt dreht Wer woHte verkennen, dass alle die-
jenigen, welche irgend auf das Volk Einfluss besitzen, Lehrer
von jeder Art, Schriftsteller, Staatsbeamte, Gesetzgeber, au
einer glücklichen Lösung dieser Frage viel, sehr viel beitragen
können? Sie sind Alle heilig dazu verpflichtet Ganz beson-
ders auch die Fabrikanten, die Industrievereine u.s.w.: es
müssten denn solche Unmenschen sein, wie man sie in Frank-
reich wohl hier und da bemerkt hat,**) weiche «. B. den Spar-
*) Chevalier Cours I, 115. 151. Aehnliche Erfahrungen in
Schleswig -Holstein: Hanssen in Raus Archiv IV, 421.
**) Commissionsbericht von Dupin in- der franz. Deputirten-
kammer vom 16. Mai 1834. Mit der höchsten Achtung muss dage-
gen mancher anderen Fabrikanten, zumal im Elsass, gedacht wer-
den, die ihren Arbeitern Haus und Garten als Tbefl ihres Lohnes
anweisen, und 6ie durch fortgesetzte Sparsamkeit endlich Eigen-
tbumsrecht daran gewinnen lassen. — Wann aber werden die Fa-
brikanten einsehen lernen, dass sie in ungewöhnlich günstiger Zeit
zu einer angemessenen Lohnerhöhung verpflichtet sind, wenn
sie in ungewöhnlich ungünstiger zu einer Lohnenriedrigang be-
rechtigt sein wollen?
und Commumsmut. 27
Lassen gram sind, um ihre Arbeiter nicht allzu unabhängig
werden zu lassen. Jeder Fortschritt, den das Volk in wahrer
Aufklärung, wahrer Freiheit, wahrer Religiosität macht, ist
auch ein Fortschritt der vorliegenden Sache. Ob das Ge-
bäude vollendet werden kann, steht in Gottes Hand. Wehe
dem, welcher voreilig daran verzweifelte 1 Auch nur ein Stock-
werk, ja nur einen Stein hinzuzufügen, „ist ein grosser Ge-
danke, und des Schweisses der Edlen werth."
Nachschrift.
So eben lese ich den Aufsatz, welchen H. Leo im No-
vemberhefte der evangelischen Kirchenzeitung über E. Sue's
neueste Romane geschrieben hat Nun kann es Niemandem
weniger einfallen, für Sue zum Bitter zu werden, als mir.
Aber ich muss doch sagen, so geistvoll der Leo'sche Aufsatz
im Einzelnen ist, wenn auch von zahlreichen (Jebertreibungen
und Leidenschaftlichkeiten entstellt, und so wohlmeinend ge-
wiss im Ganzen, so doch auch in der Hauptsache ungemein
kurzsichtig. Ein grosser, gefährlicher principieller Irrthum
liegt ihm zu Grunde. Leo redet davon, däss sich ganz un-
vermeidlich sehr vieles Elend auf der Erde finde, vorzugsweise
für die niederen Klassen und in grossen Städten. Gewiss!
Nun habe zum Glück die Macht der Gewohnheit alle dieje-
nigen, welche fortwährend durch jenes Elend berührt werden,
mit einer heilsamen „Schwielenhaut" versehen, wodurch sie
eine Menge von Dingen, die uns Anderen unerträglich sind,
leicht ertrügen. Auch wahr! Diese Schwielenhaut ihnen
abzuziehen, sei die ärgste Grausamkeit. Hier liegt der Irr-
thum. Wäre jenes Elend gänzlich ohne Hoffnung des Bes-
serwerdens, so hätte Leo Recht Das ist es aber, Gott sei
Dank, nicht: die Erfahrung lehrt, dass sich allerdings die nie-
deren Klassen« ganzer Völker und lange Zeit hindurch in be-
haglicher, menschenwürdiger Lage befinden können. Um da-
hin zu gelangen, ist die erste Bedingung, dass die betreffen-
den selbst danach streben. Wie können sie dies, so lange
jene Schwielenhaut unverdünnt bleibt? Freilich die Ueber-
gangsperiode zwischen dem Erwachen des Bedürfnisses und
28 Betrachtungen über Socialismus und Communismus.
seiner Befriedigung ist eine vielfach drückende, und sie kann
ein volles Menscbenalter hindurch fortdauern; manche Ein-
zelne werden der Versuchung unterliegen, selbst ganze Völ-
ker sie nur dann bestehen, wenn sie noch einen bedeuten-
den Kern nationaler und sittlicher Lebenskrall in sich tragen.
Aber wo in der Welt gäbe es einen Fortschritt, der nicht
zeitweilige Opfer und für den ganz Schwachen Gefahren mit
sich brächte? Ist es auch „grausam," dem Wilden sein uu-
stätes, heimathloses Leben zu verleiden, wenn man ihn da-
durch zum Ackerbau und zur Gründung eines Vaterlandes
anleitet? Ist es „grausam," einen natürlichen Menschen die
Höllenfahrt der Selbsterkenntniss antreten zu lassen, wenn
man ihn dadurch zu Gott führt? Jeder Fortschritt zum Bes-
seren besteht in der Anregung neuer, höherer Bedürfnisse,
sammt deren Befriedigung. Die Leo'sche „Schwielenhaut,"
consequent ausgebildet, würde den Menschen zum Tbier er-
niedrigen. Sie abzustreifen, kann wohl schädlich wirken,
wenn der Arzt ein Pfuscher oder der Kranke unheilbar ist;
aber es ist doch immer, wenn richtig angewendet, die uner-
lässliche Vorbedingung des Gesund Werdens.
Göttingen.
W. Röscher.
Steuere Erscheinungen der historischen
Literatur in .Italien*
(Siehe Bd. HI. S. 497 ff)
5.
Wenn man bedenkt, wie unglaublich gross die Masse histo-
rischen Materials in den römischen Archiven und Bibliothe-
ken ist, so dass sie noch Jahr für Jahr auswärtige Gelehrte
herbeilockt, wie auf der anderen Seite es keinen Ort der
Erde giebt, an dem so viele und so grosse Erinnerungen haf-
ten, wie an der Stadt der sieben Hügel, so weiss man sich
kaum zu erklären, wie die historische Literatur zu dem Grade
der Erstarrtheit hier hat herabsinken können, auf dem sie
sich jetzt beßndet. Rom Sst bekanntlich reich an Akade-
mien, in dopen auch die Geschichtswissenschaft vertreten ist,
und wo nicht selten historische Abhandlungen gelesen wer-
den, die dann in Brochüren wohl auch in ein grösseres Pu-
blicum kommen. Aber ausser diesen und einigen Artikeln
der neugestifteten Zeitschrift: II Saggiatore, redigirt von A.
Gennarelli und P. Mazio, sieht man sich vergeblich nach Pro-
ductionen auf diesem Gebiete der Wissenschaft um, man
müsste denn Gompilationen , die nur dem nächsten Bedürf-
nisse entsprechen und alles wissenschaftlichen Gehalts ent-
behren, hierher ziehen wollen.
Die erwähnte Zeitschrift: II Saggiatore, die seit dem
Anfange dieses Jahres in Heften erscheint, von denen monat-
lich zwei ausgegeben werden, will nicht der Geschichte allein
dienen, sondern zugleich der Literatur im Allgemeinen, den
schönen Künsten, der Philologie u. s. w., aber der bedeutend-
30 Neuere Erscheinungen der
sie Theil ihrer Mittheilungen ist dennoch geschichtlicher Art
Die Mitarbeiter, meist jüngere Gelehrte, die sich hier wäh-
rend des Winters zu wissenschaftlichen Unterhaltungen im
Hause des amerikanischen Consuls Greene zu vereinigen pfle-
gen, fühlen sich auf diesem Felde besonders heimisch, und
können über ein reichhaltiges Material gebieten, da ihnen die
meisten Privatarchive geöffnet sind. . So sind denn schon
manche interessante Actenstücke durch sie an den Tag ge-
kommen, besonders für die Geschichte Kaiser Karls V. und
König Heinrichs IV. von Frankreich; was zur Erläuterung
derselben von den Herausgebern geschah, scheint mir eben
nicht von grossem Belang, und wo diese ohne einen solchen
bestimmten Anhaltspunkt sich selbstständig auf das Gebiet
der Geschichte wagen, verlieren die sich leicht in zweck-
und ziellose Reflexionen, die leider dem Geschmack der heu-
tigen Römer nur allzusehr zuzusagen scheinen.
Aus der Bibliothek des Yaticans hat der Cardinal A. Mai
in den 10 Bänden seines Spicilegium Romanum neuer-
dings Vielerlei und Mancherlei publicirt So sehr man auch
den Arbeiten des Cardinais das Bestreben ansiebt iu möglich-
ster Schnelligkeit starke Volumina zu machen, so musff man
ihm doch den grössten Dank für seine Mittbeihnigen wissen,
da er von den einheimischen Gelehrten wirklich der Einzige
ist, der die Schätze des Vaticans in umfassender Weise sieb
und Anderen zu Nutze macht. Was alles Einzelne in dieser
Sammlung werth ist, möchte schwerlich ein Einzelner beur-
teilen können, denn aus sehr verschiedenen Gebieten der
Wissenschaft ist der Stoff zusammengebracht. Für die Ge-
schichte dürfte der sechste Band am bedeutendsten sein,
der ein* Sammlung von meist ungedruckten Biographien der
Päpste bildet. Der Abdruck des bisher unedirten Leben des
Bernardus Guido wird freilich schwerlich ein solches Be-
dürfnis* gewesen sein, wie A. Mai meintr und von den kur-
zen historischen Notizen über die Päpste des Mittelalters, die
hier und da in dem Bande zerstreut sind, ist bereits ein nicht
geringer Theil an anderen Orten gedruckt Sehr interessant
waren mir die p. 282 abgedruckten: Vitae aliquot pontifiemn
historischen Literatur tu Italien. ,1t
quas ex diversis bibliothecae vaticanae codicibus Laur. Zac-
cagnius eiusdem bibliothecae praefectus delibaverat, weil sie
mir noch völlig neu waren, als ich sie hier las. A. Mai hat
die Arbeit von Zaccagni, einem seiner Vorgänger als Präfect
der Vaticana, abdrucken lassen; wie man annehmen muss
ohne selbst die Handschriften zu kennen und nachzusehen,
aus denen jener schöpfte, denn sonst wären nicht nur man-
nigfache Ungenauigkeiten, sondern auch bedeutende Lücken
im Text derselben unerklärlich. Die Hauptmasse jener Leben
ist aus dem Cod. Vat 1984 entnommen, aus dem sie jetzt
auch in den Monum. Germ, nach der Abschrift von Pertz
abgedruckt sind. Mir steht diese neue Ausgabe noch nicht
zu Gebote, aber die Yergleichung des Mai'scfaen Abdruckes
mit dem Hanuscript ergab, dass nach dem ersten Leben Ge-
lasius' IL eine ganze Seite des Manuscripts dort ausgelassen
ist/) vieler Abweichungen im Einzelnen nicht zu gedenken.
Das zweite Leben Gelasius' IL, wie das zweite Victors IL,
sind vielleicht aus dem Cod. Vatic. 1437 von Zaccagni ent-
nommen, sie sind unbedeutend und waren auch beide bereits
gedruckt Das erste unter dem Namen des Gardinais von
Arragonien bei Muratori, das andere bei Höfler (Deutsch«
Päpste I. 2, p. 379). Zu welchem Cyclus von Papstleben diese
gehören, und von wem dieser Cyclus zuerst geordnet ist, hoffe
ich später einmal ausführlich zu erörtern. In den letzten
Bänden des Spicilegium findet sich nicht Weniges aus den
zahlreichen noch in Handschriften vorhandenen Werken des
berühmten Augustininermönches Onuphrius Panvinius abge-
druckt, aber es sind zum grossen Theile nur Bruchstücke und
Auszüge, die in solchen Fällen wenig helfen. Die Einleitun-
gen, welche der Cardinal diesen und ähnlichen kirchenhisto-
*) Späterer Zusatz: In dem Abdrucke der Mon. Germ. Script.
T. V., der mir jetzt erst zu Händen kommt, findet sich die bei Mai
ausgelassene Stelle p. 477 und 478 von Huius temporibus in hac
civitate Romana — et mansit aput eum usque dum ex häc vita sub-
tractus est. Uebrigens beweist der neue Abdruck vollständig, was
ich von A. Mai's Ausgabe oben gesagt habe.
Berlin den 2. Mai 1845.
32 Neuere Erscheinungen der
rischen Stucken vorausgeschickt hat, zeigen, dass er in der
klassischen Philologie mehr zu Hause ist, als auf diesem Ge-
biete, wie er dies auch selbst an einer Stelle zu verstehen giebt
Unter den historischen Abhandlungen, die ursprünglich
für den Vortrag in einer gelehrten Gesellschaft bestimmt, erst
später einem grösseren Leserkreis eröffnet wurden, nimmt
eine ausgezeichnete Stelle ein:
Diplomatica pontificia ossieno osservazioni paleo-
graöche ed erudite sulle bolle de' Papi. Dissertazione di Mon-
signore Marino Marini. 8. 70 S. 1841.
Bei dem Interesse des Gegenstandes und bei der be-
schränkten Verbreitung der Brochüre (sie ist meines Wissens
gar nicht in den Buchhandel gekommen) ist es vielleicht nicht
unerwünscht über diese Abhandlung, obwohl sie bereits am
14. Januar 1841 in der Versammlung der römischen Gesell-
schaft für Archäologie gelesen wurde, noch jetzt einige Worte
zu hören. Uebrigens wird, wie ich vernehme, ein stark ver-
mehrter-Abdruck vorbereitet, der dann auch wohl weiterhin
seinen Weg finden wird.
Der Graf Monsignore Marino Marini, Hausprälat des re-
gierenden Papstes und Präfect der Vatikanischen Archive, hat
sich durch Unterstützung fremder Studien, wie durch eigene
Arbeiten einen Namen in der Gelehrtenwelt neben seinem
grossen Oheim Gaetano Marini gesichert. Zu einer Arbeit,
wie die vorliegende, konnte schon seiner Stellung nach nie-
mand mehr befähigt sein, als er, der fast sein ganzes Leben
in den Räumen der päpstlichen Archive zugebracht bat, und
mit jenen Schätzen vertraut ist, die leider noch immer dem
Blicke anderer Menschen entzogen sind. Alles, was er von
diesen darbietet, muss dankenswerth sein, und kann nur im-
mer aufs Neue das Verlangen rege machen, nach noch reich-
licheren, noch ausführlicheren Mittheilungen.
In dieser Abhandlung spricht der Verf. 'zuerst von den
verschiedenen Sammlungen alter und neuer Zeit, durch welche
päpstliche Bullen bekannt geworden sind, dann von der gros-
sen Bedeutung, welche diese durch ihren Inhalt gewinnen.
Kürzer ist er über ihren Werth als Quelle des kanonischen
historische^ Literatur in Italien. 33
Rechts, ausführlich über ihre Wichtigkeit für die allgemeine
Geschichte, namentlich im Mittelalter. Er entwirft erst ein
glänzendes, meiner Meinung nach zu glänzendes, Bild von der
politischen Stellung, welche die Päpste in jener Zeit einnah-
men, denn dass Gregor V. die deutschen Kurfürsten einge-
setzt, Innocenz IV. ihre Zahl auf sieben beschränkt, dass die
Päpste die Königskrone von Polen genommen und gegeben
hätten, glaubt man wohl nirgends mehr, als eben in Rom.
Welche Eingriffe übrigens in die Wahl der deutschen Kö-
nige die Päpste zu Zeiten sich erlaubten, zeigt die vom Verf.
unter A. mitgetheilte Bulle Urban's IV. recht deutlich. An vielen
Beispielen wird dann'dargethan, wie die Geschäfte von der
höchsten Wichtigkeit fast durch ganz Europa dem Urteils-
spruche der Päpste im Mittelalter unterworfen, und durch
päpstliche Bullen entschieden wurden; die hier erwähnten
Facta werden theils durch Gitate aus den Originalregesten,
theils durch ausführlichere Mittheilungen aus denselben be-
legt. Die unter B und G abgedruckten Excerpte aus zwei
Bullen Innocenz' IV. betreffen die Verhältnisse des deutschen
Ordens zu Russland, die Bulle Alexanders IV. unter D die
Besitzergreifung Curlands durch den Orden, das unter E ab-
gedruckte Document Johann's XXII. bezieht sich auf die mai-
ländische Geschichte.
Nachdem so im Allgemeinen von dem Inhalt und der
Bedeutung der päpstlichen Bullen gehandelt, kommt der Verf.
auf sein Hauptthema, wo vornehmlich die Form derselben in
das Auge gefasst wird. Soviel auch über alle die hier ein-
schlagenden Punkte der Diplomatik geschrieben ist, bleibt
doch nach Mabillon, den Maurinem, Maffei u. A. noch un-
endlich Vieles zweifelhaft, und namentlich für die schriftlichen
Documente aus den frühesten Zeiten des Papstthums ist bei
dem grossen Mangel an authentischen Urkunden wie an zu-
verlässigen Nachrichten fast Alles in Unsicherheit gestellt.
Marini ist es gelungen einzelne Punkte mehr aufzuklären, als
es bisher geschehen war, und bei anderen mindestens Fin-
gerzeige zu geben, wie man in dieser schwierigen Materie
weiter gelangen kann. Er spricht zuerst von den Bullen selbst,
Zcitedirift f. Ge.cbichtaw. IT. 1849. 3
34 Neuere Erscheinungen der
von denen die Schreiben der Päpste den Namen erhielten,
und lässt sich besonders ausführlich darüber aus, wie es zu
erklären sei, dass in den Bleisiegeln der Kopf des h. Paulus
immer zur Rechten, der des h. Pelrus zur Linken gesetzt ist,*)
da diesem doch von jeher in der römischen Kirche der Vor-
rang vor jenem eingeräumt sei. Dann handelt Marini von den
monogrammatischen Cirkeln, welche wir seit dem 11. Jahr-
hundert in den Bullen gezeichnet Gnden. Diese Materie hät-
ten wir noch ausführlicher behandelt gewünscht, da sich in
den Wahlsprüchen der Papste, die hier ihre Stelle fanden und
wie ich in mehreren Originalbullen glaube bemerkt zu haben,
oft von ihrer eigenen Hand geschrieben sind, mehr indivi-
duelle Beziehungen zu entdecken sind, als man sonst bei Din-
gen dieser Art erwartet. Es lässt sich zeigen, dass der Ge-
brauch einen bestimmten Wahlspruch in die Cirkel zu schrei-
ben erst unter Gregor VII. sich fixirte. Victor II. schrieb noch
zwischen jene Cirkel: Victoris II. S. Romanae et apostolicae
sedis papae nach einer Bulle im Berliner geheimen Staats-
Archiv; der Wahlspruch dieses Papstes, den Marini anführt,
ward von Stephan IX. angewandt,**) von Victor iL ist mir
kein Beispiel bekannt. Alexander II. wechselte noch mit dem
Motto: Magnus dominus noster et magna virtus eius und dem
anderen: Deus noster refugium et virtus. Eine Bulle von ihm
mit dem Bilde des h. Petrus, dem eine Hand aus den Wol-
ken einen Schiüssel reicht und der Umschrift: Quod nectes
nectam quod solves ipse resolvam, wie die bei Ciaconio er-
wähnte, findet sich auch im Berliner geh. Staatsarchiv an ei-
ner Urkunde, und zeigt dass man solcher Siegel sich bis zu
jener Zeit öfters bediente, und dass sie nicht, wie Marini an-
zunehmen geneigt ist, allein als Medaillen dienten. Einen
*) Beide Köpfe durch ein Kreuz getrennt, wie man sie noch
jetzt bei den päpstlichen Bullen anwendet, solten zuerst unter Pa-
schal II. in Gebrauch gekommen sein. Ich habe im Archiv von La
Cava eine Bulle Gregor's VH. gesehen, auf der die beiden Köpfe in
gleicher Weise, doch ohne das Kreuz in der Mitte dargestellt wa-
ren; eine Abbildung dieses Siegels findet sich in Muratori's Antiqui-
tates V. p. 488. **) Murat. Antiquit. V. p. 975.
historischen Literatur in Italien. 35
bestimmten Wahlspruch stets in die monogrammatischen Cir-
kel zu setzen, wurde, wie eben erwähnt, erst seit Gregor VII.
fester Gebrauch, Marini hat eine nicht geringe Anzahl sol-
cher Motto's beigebracht, die sich aber leicht noch vermehren
liesse. Dann spricht der Verf. über die verschiedenen Arten
der papstlichen Schreiben, wie sie in ihren Formeln dem
Inhalte gemäss modificirt wurden, wobei er sich besonders
bei den epistolae formatae aufhält, die in der frühesten Zeit
der Kirche vielfach erwähnt werden und deren Wesen nichts
desto weniger ziemlich räthselhaft ist. Hieraufgeht er zu den
Regesten über, in denen die Gopien der papstlichen Schrei-
ben aufbewahrt wurden. Zum Beweise, wie hoch die Glaub-
würdigkeit der päpstlichen Regesten angeschlagen wurde, fuhrt
er aus den Regesten Gregor's IX. einen Vertrag des Herzogs
Wladislaw von Polen mit seinem Bruder Heinrich vom J. 1234
an, in dem es ausdrücklich am Schlüsse beisst: Ad maius
facti robur et evidentiam haec omnia in Registris Domini Pa-
pae Dominis Episcopis procurantibus redigantur. Das Acten-
stäck ist unter F. mitgetheilt. Lieber das Material, auf dem
und die Charaktere, in denen die Bullen geschrieben wurden,
lässt sich der Verf. nur kurz aus, ausführlicher über die Zeit-
bestimmungen in der Datumszeile, über die Formeln am Ein-
gang und Ausgang der Bullen. Zum Beweise, dass zuweilen
der Name des Papstes im Monogramm geschrieben wurde,
wird unter G. eine Bulle Jobann's XII. für die Kirche S.
Trifone in Rom mitgetheilt, die auch in anderer Beziehung
interessant ist Marini versichert, dass sie die einzige sei in
den Vaticanischen Archiven, in der sich ein solches Namens-
monogramm finde, und sohliesst daraus, dass der Gebrauch
desselben sehr selten gewesen sei. Indessen erinnere ich mich
auch andere Bullen des zehnten Jahrhunderts gesehen zu ha-
ben, in denen ein solches Monogramm, wie es in jenen Zei-
ten durchgängig auf päpstlichen .Münzen und häufig an römi-
schen Bauwerken vorkommt, sich antrifft. Für das zum Mo-
nogramm verzogene Bene-valete, das sich in unzähligen Bullen
findet, war es wohl unnötbig das unter H. abgedruckte Do-
cmnent Clemens III. für S. Trifone beizubringen, indessen ist
3*
36 Neuere Erscheinungen der
es an sich eine dankenswerthe Gabe, wie jedes Document
des früheren Mittelalters, das sich auf Rom bezieht, da wir,
von allen andern ausführlichen Quellen verlassen, unsere
Kenntniss der so wichtigen Stadtgeschichte fast nur aus sol-
chen und ahnlichen Urkunden schöpfen können.
Bei der ausgezeichneten Stellung, die Monsignore Marini
einnimmt, dürfte es vielleicht manchem künftigen Forscher
von Interesse sein den Umfang seiner literarischen Arbeiten
zu kennen, zumal da nicht wenige derselben ungedruckt oder
nicht in den Buchhandel gekommen sind. Ich bin um so mehr
im Stande für die Richtigkeit meiner Angaben einzustehen,
da ich mich dabei auf Mittheilungen stütze, die ich der Ge-
fälligkeit des Verf. selbst verdanke. Die Schriften sind in
chronologischer Folge diese:
1816. Memorie storiche dell' occupazione e restituzione
degli Archivj PontiOcj e del riacquisto de' Godici Yaticani e
de' manoscritti, e museo di storia naturale di Bologna. Unedirt
1818. Monumenta Galliensia medii aevi. Unedirt
1820. Lettera diretta a Mgr. Antonio Frosini relativa
alla Specola Vaticana. Unedirt.
1821. De' pregi di un manoscritto italiano dell' anno 1279
recentemente trovato negli Archivi Yaticani. 4. Roma presso
de Romanis.
1822. Nuovo esame dell' autenticitä de9 diplomi di Lu-
dovico Pio, Ottone I. ed Arrigo II. sul dominio temporale de'
Romani Pontefici. 4. Roma presso de Romanis. Als Anhang
Lettera diretta al Barone Carlo Yan Yivere sul inerito del
Regesto di Gencio Gatnerario.
1822. Degli Aneddoti di Gaetano Marini. 4. Roma presso
Lino Contedini.
1824. Memoria concernente la riunione in Roma di tutti
gli Archivj diplomatici dello stato Pontificio, corredata degli
analoghi Brevi di Pio IV. e di Pio V. e di una lettera del
Cardinal Amulio. Scritta per ordine di Leone XII. Unedirt
1828. Appendice alle memorie storiche suIP occupazione
e restituzione degli Archivi Yaticani etc. Unedirt
1832. Di un anello e di un Cammeo, dissertazione epi-
historischen Literatur in Italien. 37
stolare diretta a Mgr. Alberto Barbolani de' Conti di Mon-
tanto. 8. Roma presso Salviucci.
1834. Difesa di Msr. Gaetano Marini per Popera de9 Pa-
piri. Lettera anonima diretta da Filalete al Marchese Ber-
nabö. Roma presso Menicanti e Giunchi.
1835. Spicilegium genealogicum et historicum Regalis
Familiae a Sabaudia monumentis e tabulariis Vaticanis de-
promptis congestum. Nicht publicirt.
1836. Serie cronologica degli Abbati del Monastero di
Farfa, dissertazione epistolare diretta all' Emo e R"° Principe
Luigi Card. Lambruschini. 4. Roma presso Giunchi e Me-
nicanti.
1841. Diplomatica Pontificia (s. oben).
1842. Risposte ai quesiti della Deputazione pei monu-
menti al Metastasio, al Visconti, al Pinelli. Roma.
So eben ist Msr. Marini mit der Herausgabe historischer
Denkwürdigkeiten seiner Vaterstadt Arcangelo beschäftigt/)
mit welcher Arbeit er, wie er mir sagte, seine literarische
Lau/bahn beschliessen wird. Mindestens ebenso grosse Ver-
dienste, als durch seine eigenen Productionen hat sich Ma-
rini durch die Art und Weise erworben, wie er Schatze des
Vaticans für die Geschichte anderer Länder zugänglicher machte,
indem er theils durch „musterhafte Gefälligkeit/4 die schon
Pertz von ihm rühmt, fremde Gelehrte bei ihren Nachsu-
chungen unterstützte, theils selbst die Hand daran legte, dass
Abschriften und Auszüge der Vaticanischen Urkunden an an-
deren Orten verbreitet wurden. In erster Beziehung hat die
Geschichte Deutschlands und Böhmens bei den umfassenden
Arbeiten von Pertz und Palacky viel durch ihn gewonnen, wie
allgemein bekannt ist. In der letzteren hat er der Geschichte
Englands und Russlands den wichtigsten Beistand geleistet, wie
der in vier Bänden gedruckte Codex diplomaticus Rutheno-
Moscoviticus zeigt, und wie noch mehr die sechs Bände der
*) Späterer Zusatz. Diese ^chrift ist inzwischen erschienen
und Msr. Marini ist jetzt mit der neuen Ausgabe seiner Diplomatica
Pontificia eifrigst beschäftigt.
3g Neuere Erscheinungen der
Monumenta Britannica medii aevi beweisen würden, wenn
diese der literarischen Welt zugänglich wären.
Rom. November 1844.
6.
Bei weitem mehr literarisches Leben, als in Rom, ist in
Florenz, und namentlich kommt dies auch der Geschichtswis-
senschaft zu gute, für welche die Mediceerstadt einst so Gros-
ses geleistet hat und sich den alten Ruhm mit Recht nicht
ganz entreissen lassen will. Die Bibliotheken und Archive,
mit rühmenswerther Freigebigkeit eröffnet, bieten einen un-
ermesslichen Stoff dar, und selbst zu umfassenden Arbeiten
würden sich leicht tüchtige Kräfte finden, wenn diese Stu-
dien besonderer Gunst der Regierung oder aufmunternder
Theilnahme beim grossen Publicum sich erfreuten. Aber an
beiden gebricht es doch sehr, wie mir scheint So geschieht
denn im Grossen und Ganzen doch nicht so viel, als man
meinen sollte, die besten Kräfte erlahmen oder zersplittern sich.
Fasst man aber den Stand der historischen Literatur
hier, wie er nun einmal- ist, näher in das Auge, so ist be-
merkenswerth, wie man sich vorzugsweise auf die Heraus-
gabe bisher ungedruckter Quellen und Actenstücke gelegt bat,
während die eigentliche Forschung und Darstellung wenig in
bedeutender Weise versucht ist Ausser den bekannten Do-
cumenti di storia Italiana, von Giuseppe Molini herausgege-
ben und vom Marchese Gino Gapponi vortrefflich eommentirt,
sind hier seit dem J. 1838 5 Bände der venetianischen Ge-
sandtschaftsberichte durch Eugenio Alberi, 3 Bände des Car-
teggio d'artisti von dem zu früh verstorbenen Gaye, die Istorie
Fiorentine di Giovanni Cavalcanti, eine Hauptquelle des Mac-
chiavelli, von Filippo Polidori, die Ricordi storici di Filippo di
Gino Rinuccini von G. Aiazzi neu herausgegeben und erläu-
tert worden, und die florentinischen Chroniken des Jacopo
Nardi und Benedetto Varchi in neuen, verbesserten Ausgaben
erschienen. Aber alle diese Publicationen sind an Umfang,
wie an innerer Bedeutung durch das Archivio Storico Ita-
liano überboten worden, voh dem seit 1842 8 starke B^nde
ausgegeben sind von dem reichsten und mannigfaltigsten In-
historischen Literatur iu Italien. 39
halte — eine Sammlung von historischem Material, wie seit
Muratori keine ähnliche für Italien erschienen ist.
Das Hauptverdienst bei diesem Unternehmen gebührt ohne
Zweifel dem Verleger Gio. Pietro Vieusseux, der mit sel-
tenem Geschick bedeutende literarische Fähigkeiten für dies
Unternehmen zu gewinnen wusste, und mit Einsicht nicht nur
die äusseren Geschäfte desselben leitet, sondern auch bei der
Bedaction der einzelnen Erscheinungen wesentlich betheiligt
ist. Mächst ihm hat sich am wirksamsten erwiesen der Mar-
chese Gino Capponi, der wohl als der wissenschaftliche Lei*
ter der ganzen Unternehmung anzusehen ist. Ein Name von
bedeutendem Kufe in Italien und ein Mann von dem klarsten
Blick, sehr umfassenden Kenntnissen und Studien, der aber
leider durch ein Augenübel an umfangsreichen selbstständigen
Arbeiten verhindert noch mehr bestimmt scheint durch An-
trieb und Einfluss auf Andere der Wissenschaft zu dienen,
als durch eigene Werke. Ausser ihm waren bisher vornehmlich
noch an der Redaction betheiligt, von Anfang an der als Her-
ausgeber des Gavalcanti bereits genannte Filippo Polidori,
und später Tommaso Gar, von dem so eben eine Ueberset-
zung des Papencordt'schen Cola di Rienzo in Turin erschie-
nen ist, die ausser dem Werthe der Treue auch noch den hat
manche Verbesserungen besonders in den AcUnstücken zu er-
halten, ferner Giuseppe Ganestrini und Garlo Milanesi.
Man wird bei dem ganzen Unternehmen immer im Auge
behalten müssen, dass es,' obgleich im besten Sinne des Wor-
tes, doch immer ein buchhändlerisches ist; keine Regierung,
keine grössere wissenschaftliche Verbrüderung trägt das Ganze,
sondern allein die Gunst eines sehr launischen Publicums,
dem fortwährend geschmeichelt werden muss, um seine Theil-
nahme nicht ganz erkalten zu lassen. Die äusseren Verhält-
nisse, in denen das Archiv steht, sind durchaus nicht glän-
zend. Bedenkt man dies, so wird man dem Editore, wie den
Redactoren das aufrichtige Lob zollen müssen, dass sie sehr
Bedeutendes geleistet haben, und dass, wo etwa Mängel
sichtbar werden^ sie sicher nicht ihrer Fahrlässigkeit beizu-
messen sind.
40 Neuere Erscheinungen der
An eine chronologische Anoplnung des zu druckenden
Materials war unter den gegebenen Bedingungen gar nicht
zu denken, es blieb keine Wahl, als nach Materien zu ord-
nen und zwar vornehmlich so, dass die auf eine Stadt bezüg-
lichen Quellen und Actenstücke zusammengebracht wurden —
eine Eintheilung, die durch den Charakter der italienischen
Geschichte und Literatur nicht minder erlaubt schien, als sie
das buchhändlerische Interesse gebot, da auf den communa-
len Patriotismus in der Kostenberechnung stark gezählt wer-
den musste. In der Auswahl des Stoffes sah man vornehm»
lieh auf durchaus Neues, nach meiner Meinung vielleicht zu
ängstlich, indem es wohl bisweilen gerathener gewesen wäre,
schlechte Texte von bereits bekannten Autoren erster Bedeu-
tung zu verbessern und neu herauszugeben, als Mittelgut zu
drucken, das eher noch ein Weilchen in den Bibliotheken
hätte ruhen können. Ferner suchte man für das mehr ange-
nehme Belehrung als wissenschaftlichen Gewinn suchende Pu-
blicum durch Arbeiten zu sorgen, die auch in anmuthiger, ein-
schmeichelnder Form geschrieben waren. Daher vorzugsweise
Schriftsteller der Quattrocento und Cinquecento bisher gedruckt
sind. Solche Rücksichten und andere haben vielleicht hier und
da dem streng wissenschaftlichen Charakter des Unternehmens
Eintrag gethan, aber im Grossen und Ganzen bleibt der Haupt-
gewinn desselben doch der Wissenschaft.
Der erste Band des Archivs ist der florentinischen Ge-
schichte, wie billig, eingeräumt und enthält als Hauptwerk
die Istoria Fiorentina di Jacopo Pitti, von der leider nur 2
Bücher vollständig, die andern in Fragmenten erhalten sind,
dann mehre kleinere Stücke, unter denen von vorzüglicher
Schönheit und grossem psychologischen Interesse die Erzäh-
lung des Luca della Robbia über die letzten Stunden des
Pietro Paolo Boscolo und Agostino Capponi, die wegen einer
Verschwörung gegen die Medici im J. 1512 hingerichtet wur-
den — ein Kleinod der italienischen Literatur, das durch eine
Uebersetzung auch dem deutschen Publicum bekannt gemacht
zu werden verdiente — endlich folgen veffchiedene Acten-
stücke. Die . Herausgabe dieses Bandes ist besonders durch
historischen Literatur in Italien. 41
Polidori besorgt. Der zweite Band, von Gaetano Milanesi
herausgegeben, ist Siena gewidmet, den Kern desselben bil-
det 11 successo delle rivoluzioni della cittä di Siena, ein Werk
des Alessandro di Girolamo Sozzini, dem sich wiederum klei-
nere Schriften und Documente anschliessen. Den dritten Band
edirte Gesare Gantü, in ihm finden sich die drei mailändi-
sehen Chronisten Giovan Pietro Cagnola, Giovanni Andrea
Prato und Giovan Marco Burigozzo, vornehmlich für das 15.
und 16. Jahrhundert von Bedeutung. Den vierten Band neh-
men Lebensbeschreibungen berühmter Italiener ein, beson-
ders solche, die aus der Feder des Yespasiano Bisticci ge-
flossen sind, und die zum Theil auch gleichzeitig durch den
Cardinal Mai edirt wurden. Die Herausgabe ist von mehren
Mitarbeitern besorgt worden. Der fünfte Band enthalt mehre
bisher unedirte Schriften des Dogen Marco Foscarini, vor-
nehmlich seine Storia arcana der merkwürdigen Ereignisse,
welche vom Jahre 1733 — 1735 so gewaltige Verluste für das
Haus Oeslerreich in Italien herbeiführten, gewiss eines der
ausgezeichneteren Geschichts werke des vorigen Jahrhunderts;
als Anhang ist ein Yerzeichniss der Handschriften der Fos-
carinischen Collection in der K. K. Hofbibliothek zu Wien
gegeben, dieses wie die Herausgabe des ganzen Bandes dankt
man Tommaso Gar. Der erste Theil des sechsten Bandes
enthält die 16 Bücher pisanischer Geschichten des Raflaello
Roncioni, ein Werk vom Ende des 16. Jahrhunderts, das bei
manchen Vorzügen auch grosse Schwächen hat, und dem um
so mehr ein so vortrefflicher Herausgeber zu wünschen war,
wie es ihn in dem Professor Francesco Bonaini zu Pisa
gefunden hat Der siebente TheiJ ist wieder der Geschichte
Venedigs gewidmet, er zerfällt in zwei Bände, von denen der
erste die beiden ersten Abtheilungen der Annalen des Do-
menico Malipiero von 1457 — 1499 enthält, herausgegeben von
Agostino Sagredo in Venedig; der zweite giebt die Fortset-
zung und das Ende derselben, dann die Depeschen des Fran-
cesco Foscari und der anderen Venetianischen Gesandten am
Hofe Maximilians im J. 1496 an den Senat, Actenstücke, die
auch für die deutsche Geschichte von Wichtigkeit sind, und
42 Neuere Erscheinungen der
endlich die Venetianische Geschichte des Daniele Barbara vom
J. 1512—1515, welche wie die Depeschen wieder von T. Gar
für den Druck besorgt ist.
Es würde mir unmöglich sein auf die einzelnen Publi-
cationen des Archivs hier näher einzugehen, auch scheint es
weniger nöthig, da dieselben schon seit längerer Zeit in den
Händen derer sind, die vorzugsweise sich dem Studium der
italienischen Geschichte zugewandt haben, und durch solche
zum Tbeil auch in weiteren Kreisen bekannt geworden sind.
Dankenswerther wird es sein, wenn ich eine kurze Nach-
richt von dem gebe, was zunächst vom Archiv zu erwarten
steht, indem ich mich dabei der mir freundlich zu Dienst
gestellten Druckbogen bediene.
Zunächst liegt ein bedeutender Theil von der zweiten
Abtheilung des sechsten Bandes vor mir, in dem Professor
Bonaini das zur Kritik des Boncioni erforderlfche Material
von Documenten und Quellen zusammengestellt hat. Den
Anfang bildet eine Sammlung auf fioncioni's Werk bezügli-
cher Urkunden, nur in Summarien angegeben, wenn sie ge-
druckt waren, in extenso publicirt, wenn sie bisher gar nicht
oder nur stückweise herausgegeben waren. Ich ziehe die bis
jetzt gedruckten sehr interessanten Urkunden unserer Kaiser an.
1162. Friedrich I. Verspricht den Pisanern, er werde den
in Beichsacht thun, der sie beschädigt, während sie im Kriege
in seinen Diensten stehen.
1162. März. Friedrich L meldet den Pisanern das Schick-
sal Mailands.
1191. 1. März. Heinrich VI. bestätigt in einer sehr aus-
gedehnten Urkunde den Pisanern die Besitzungen und Ge-
rechtsame, die sie vom Beiche besitzen, schenkt ihnen die
Hälfte von Palermo, Messina, Salerno und Neapel mit den
betreffenden Bezirken, wie Gaeta, Mezzari und Trapani un-
geteilt, und räumt ihnen einen Handelsweg mit Kaufmanns-
häusern in allen von Tankred besetzten Städten ein, wie den
dritten Theil von dem Schatz desselben unter der Bedingung,
dass sie ihn unterstützen, wie ihr Podestä Theodicius ge-
schworen hat.
historischen Literatur in Italien. 43
1191. 21. October. Heinrich VI. bestätigt die Gerecht-
same und Besitzungen des Capitels von S. Maria maggiore in
Pisa. Die beiden Urkunden* Heinrich's sind in Pisa gegeben.
Der Druck der Diplome ist erst bis zum J. 1192 vorge-
rückt, weiter ist man bei dem der Quellen vorgeschritten.
Es sind: Bernardi Marongonis vetus Ghronicon Pisanum, schon
bei Muratori gedruckt, hier aber aus einem Pariser Codex
sehr verbessert, Gronaca Pisana di Ranieri Sardo (vom J. 962
bis 1400), sei Capitoli dell' acquisto di Pisa fatto dai Fioren-
tini nel 1406 di Giovanni di Ser Piero, Memorial« di Gio-
vanni Portoveneri (vom J. 1494—1500).
Nur im Vorübergehen erwähne ich, dass der neunte Theil
neapolitanische Sachen enthalten wird, von denen bereits das
Leben des Don Pietro di Toledo (Vicekönig von 1532—1553)
geschrieben von Scipione Miccio mit den dazu gehörigen Do-
cumenten gedruckt ist; werde aber länger bei dem achten
Bande verweilen, der bald in den Händen des Publicums sein
wird und nach meiner Meinung an Wichtigkeit und Interesse
alle früheren Bände des Archivs übertrifft. Er bringt nämlich
zwei venetianische Chroniken des 13. Jahrhunderts: die eine
ohne zureichenden Grund, wie mir scheint, Ghronicon AI«
tinate genannt, in lateinischer Sprache; die andere ein Werk
desMartino daCanale, französisch geschrieben. Beide mit
der sogenannten Ghronik des Sagornino, die man von dem Jo-
hannes Diaconus nennen sollte, bilden nun für die ältere Ge-
schichte Venedigs ein ziemlich bedeutendes Material, wäh-
rend man bisher fast immer noch dem Dandolo folgte, der
für jene Zeiten doch nicht ohne grosse Vorsicht benutzt wer-
den kann. Freilich wird eine gründliche Kritik erst jetzt mög-
lich, wo uns in der Gbronik des Johannes, in der sogenann-
ten Altinatischen und, wie ich glaube, auch im Ganale Dan-
dolo's Gewährsmänner ziemlich vollständig vorliegen.
Ein wunderlicheres Gemisch, als wir hier im Ghronicon
Altinate vor uns haben, existirt wohl kaum in der ganzen
historischen Literatur; es sind Verzeichnisse von Dogen, Bi-
schöfen, kleine Chroniken, Fragmente von grösseren fast ohne
alle Ordnung durcheinandergewürfelt, Werke verschiedener
44 Neuere Erscheinungen der
Zeiten, verschiedenen Inhalts, verschiedener Verfasser bunt
durcheinander zusammengeschrieben.*) Wenn es irgendwo
eine wichtige und dankbare Aufgabe für die historische Kritik
giebt, so ist sie hier, doch man könnte nicht sagen, dass der
Herausgeber dieser Quelle, der Professor A. Rossi, sie voll-
ständig zu lösen auch nur versucht habe, obwohl er einen
weitläufigen und in vielen Beziehungen dankenswerthen Gom-
mentar geliefert hat. In einem Briefe an Filippo Polidorf habe
ich, soweit dies mir für den Augenblick möglich war, ver-
sucht die verschiedenen Bestandteile der Chronik zu tren-
nen und die Epoche der einzelnen Stücke zu bestimmen. Ich
mag die dort gegebene Begründung meiner Alisicht jetzt um
so weniger des Breiten wiederholen, als vielleicht jener Brief
anderweitig zur Kenntniss des Publicums kommt. Nor die
Endresultate erlaube ich mir vorläufig anzuführen.
Die Chronik enthält acht Bücher, das erste giebt dasYer-
zeichniss der Dogen, das zweite das der Patriareben von Grado,
wie der Bischöfe von Oliveto und Torcello, beide werden,
ihrer ersten Anlage nach, um das Jahr 1032 von einem Ver-
fasser geschrieben sein, und später Zusätze erhalten haben.
Als Anhang des zweiten Buches dient eine Geschichte der
Verlegung des Bisthums von Altino nach Torcello, die in
der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts abgefasst sein muss;
da sie in ihrer ganz barbarischen Latinität ein neues Zeug-
niss für die Bildung Italiens in jener Epoche giebt, so mag
diese Barbarei auch ihr zu einem Verdienste mehr gereichen,
wie dem Benedict von Soracte (Pertz ital. Reise S. 147). Das
dritte Buch liefert in derselben verwahrlosten, fast unverständ-
lichen Schreibart ein Verzeichniss der von den venetianischen
*) Späterer Zusatz. Eine venetianische Chronik des 13.
Jahrhunderts, die sich in der Bibliothek zu Dresden handschrift-
lich befindet, scheint eine Umarbeitung des Chronicon Altinate zu
enthalten, oder es müssen ihr wenigstens mehre Stücke mit diesem
gemeinsam sein. Die Notiz von dieser Handschrift verdanke ich
Herrn T. Gar, der bei seinem Aufenthalte zu Dresden sie einzuse-
hen Gelegenheit hatte.
Berlin den 2. Mai 1845.
n
historischen Literatur in Italien. 45
Familien gestifteten Kirchen, wie der Familien, die von He-
raclea nach Malamocco und Rialto sich umsiedelten, und die
Erzählung der Kämpfe zwischen diesen Inselstädten, bis end-
lich Rialto als Hauptstadt emporwuchs; hier sind gewiss manche
Interpolationen untergelaufen, aber der Kern des Buches rührt
von einem Verfasser her und ist mindestens vor 93? ge-
schrieben. Uebrigens haben wir hier, wie schon in dem' An-
hang des zweiten Buches sicherlich Volkstraditionen vor uns,
in denen das Fabelhalle mit dem Wahren wunderlich gemischt,
die Zeiten verwirrt, die Personen verwechselt sind. Sehr auf-
fallend ist besonders die Rolle, welche überall in diesen Sa-
gen die Dogen Obelerius und Beatus spielen, und die nur
daraus zu erklären, dass unter ihnen durch die Zerstörung
Heraclea's die letzte grosse Umwandlung auf den Venetiani-
schen Inseln erfolgte. Das vierte Buch ist ein Fragment ei-
ner grösseren Chronik von Grado, das sich in einem Vatika-
nischen Codex des 11. Jahrhunderts schon vorfindet, und da
es bereits dem Diaconus Johannes bekannt war, mindestens
vom Ende des 10. Jahrhunderts herrührt; zum grossen Theil
finden wir hier nur Wiederholung des Anhangs zum zweiten
Buche, jedoch in besserer, klarerer Form, so dass gar nicht
zu verkennen, was Original und was Bearbeitung sei. Der
Herausgeber bringt ein sehr positives Zeugniss bei, dass die-
ses Fragment von dem Patriarchen Vitalis Candiani herrühre,
und es möchte kein Grund vorhanden sein, diesem Zeugniss
zu widersprechen. Man kann vielmehr, wie ich glaube, mit
grosser Wahrscheinlichkeit annehmen, dass uns hier wirklich
ein Fragment der Chronik jenes Patriarchen erbalten sei, die
sich dann weiter aus der Chronik des Barberinischen Codex er-
gänzen lässt, von der Ughelli in der Italica sacra (V. p. 1081 ff.)
Bruchstücke abdruckte. Aber auch diese Erzählung des Vitalis
ist in den ersten Zeiten durchaus auf Quellen gestützt, die
der Volkstradition folgten, und erst später nimmt sie einen
strengeren Charakter an/) Johannes Diaconus wird demnach
*) Die Chronik des Vitalis hat in letzter Zeit von sich sprechen
machen. In dem venetianiseben Journal : II Gondoliere (Jahrg. 1844.
No. 29) trat ein Herr F. Francesconi auf, und berichtete, dass ein
46 Neuere Erscheinungen der
immer der Erste unter den Venetianern bleiben, der Sinn für
wahrhafte Geschichte hatte. Sein Nachfolger gewissermaassen
war der Verfasser des 5. uncf 6. Buches unserer Chronik, der
vom Dogen Ordelafo Faliero bis zum Dogen Pietro Ziani um
das J. 1230 ein Gompendium der Venetianischen Geschichte
schrieb, das von der höchsten Bedeutung ist Der Verfasser
fasst die Dinge wirklich im Grossen auf, und schreibt klar
und würdig; wiederholentlich bezieht er sich auf ausführli-
chere Annalen der Stadt, die uns verloren gegangen schei-
nen. Leider haben wir grade hier in dem einzigen bis jetzt
bekannten Codex des Chronicon Altinate eine sehr bedeu-
tende Lücke; tbeil weise lässt sie sich jedoch ergänzen — zum
Glück auch da, wo die Chronik Tür uns am wichtigsten wird,
m der Erzählung von dem Frieden des J. 1177 — aus einer
Copie des 17. Jahrhunderts, die sich in der Bibliothek von
S. Marco findet (Codd. Ital. Cl. VII. No. 212). Schon, früher
hat A. Zon in dem vierten Bande des wichtigen Inschriften-
Werkes von E. Cicogna dieses Stück aus jener Copie mit ei-
ner sehr gründlichen Abhandlung über den Frieden von Ve-
nedig herausgegeben. Der Verfasser der Erzählung schöpfte
bereits aus einer älteren Quelle, und sein Bericht stimmt
durchaus mit dem zweier Augenzeugen überein, des Romuai-
dus Salernitanus und des Verfassers der Lebensbeschreibung
Alexanders III., die von Muratori unter dem Namen des Car-
dinais von Arragonien gedruckt ist. Wir lesen hier nichts
von jenen fabelhaften Dingen, die später über die Zusammen-
Freund von ihm in Spanien eine Chronik gekauft habe, deren Ti»
tel Xrofi. Vea V. Rand. M. sei, am Ende Gnde sich das J. 979, die
Schrift sei durch so viel Abbreviaturen unterbrochen, dass die Ent-
zifferung fast unmöglich. Es wurde ein Specimen gegeben, und zur
Lösung der Aufgabe aufgefordert, die allerdings verzweifelt scheint.
Bin Herr A. Giacomelli erklarte die Sache für einen Puff, und es
entspann sich so ein Federkrieg, bei dem nicht viel mehr zum Vor-
schein kam, als eine glänzende Unwissenheit in der Palaographie.
Man leitete unter andern die gothische Schrift von den Einfällen
des Alarich her. Ein weiteres Urlheil in der Sache abzugeben, halte
ich für ganz unthunlich , da es an allem sicheren Fundament für
die Untersuchung fehlt.
historischen Literatur in Italien. 47
kunft des Kaisers und des Papstes von Venedig aus verbrei-
tet wurden, und die vielleicht auch der Verfasser schon kannte,
denn er hält es für nöthig seinem Bericht ausdrücklich hin-
zuzufügen: „Sic constat manifeste in historia de hiis conti-
nente." Sehr merkwürdig ist, dass derselbe, der keineswegs
dem Kaiser sehr geneigt ist, ihn doch durchaus nicht in so
verzweifelter Lage vor dem Frieden erscheinen lässt, wie fast
alle anderen Quellen. Das siebente und achte Buch der Chro-
nik, die auch von einem Verfasser herrühren und bald nach
1106 geschrieben sein müssen, bringen wieder in abscheuli-
cher Latinitat Fabeln, die alles historischen Gehaltes entbeh-
ren, romanhafte Erzählungen von Narses, Longinus, Carl dem
Grossen^, s.av. Es scheint so die Volkstradition endlich ganz
im Roman erstorben zu sein; dagegen tritt nun um so stärker
die gelehrte Geschichtserfindung oder besser Geschichtslüge
hervor, von der wir freilich auch bereits schon im 3. Buche
unserer Chronik Spuren bemerken, die aber ausgebildet für
uns erst im Canale zum Vorschein kommt, obwohl diese Er-
findungen, die Canale, wie mir scheint, bereits auf guten
Glauben hinnahm, wohl älter sein werden.
Canale folgte, wie er selbst sagt, in dem grösseren Theile
seiner Arbeit einer lateinischen Chronik, und auf diese wer-
den auch jene absichtlichen Entstellungen der venetianischen
Geschichte wohl zurückzuführen sein, die wir in dem frühe-
ren Theile seines Werkes finden. Hier schon begegnet uns
das J. 421 als Stiftungsepoche der Stadt auf dem Rialto,
hier schon haben wir jene Erzählung von der Demüthigung
Friedrichs, wie der Papst ihm den Fuss auf den Nacken ge-
setzt habe mit den Worten des Psalmisten: Du wirst über
Schlangen und Basilisken wandern und wirst zu Boden tre-
ten Löwen und Drachen, und wie der Kaiser geantwortet
habe: Es gilt nicht dir, sondern dem h. Peter. Nur ist hier
die Replik des Papstes nicht wie gewöhnlich: dem h. Peter
und mir; sie ist viel feiner und zugleich viel angemessener;
Nicht dir, sondern dem heiligen Constantin. Canale hat übri-
gens sein Hauptverdienst nicht in diesem früheren Theile, son-
dern vielmehr da, wo er die Erlebnisse seiner Zeit von 1250 bis
48 Neuere Erscheinungen der
1275 beschreibt. Seine Erzählung ist hier reich an dem in*
teressantesten Detail; die Kriege, die ßandelsunternehmun-
gen, die Feste und Gewohnheiten Venedigs beschreibt er in
höchst belehrender Weise und zugleich in' der anmuthigsten
Form. Es weht ein eigentümlich romantisch -naiver Geist
durch das ganze Buch, und ich wüsste es keinem anderen
italienischen Erzeugniss jener Epoche zu vergleichen, wohl
aber möchte es den catalonischen Chroniken des Muntaner
und d'Esdot in seinem Charakter sich nähern. Die Heraus-
gabe ist nach dem einzigen bekannten Codex in der Bibl.
Riccardiana von Polidori mit grösstem Fleisse besorgt; dem
Originale ist eine Uebersetzung in das Italienische des Tre-
cento beigegeben, die der Graf Giovanni Galvan} in Mo-
dena besorgt hat, ein ausgezeichneter Kenner der altfranzö-
sischen, wie der altitalienischen Sprache. Durch ausführliche
Noten bat man der Ausgabe noch einen besonderen Werth
verliehen; Cicogna, Zon, Galvani, Gar, Polidori haben zu den-
selben beigesteuert. Diese Andeutungen werden genügen, um
auch das deutsche Publicum auf diese nahe bevorstehende
wichtige Publication aufmerksam zu machen.
Mit dem Archiv in Verbindung steht eine Art von Zeit-
schrift unter dem Titel Appendice,die vierteljährlich ausge-
geben zu werden pflegt Die ersten Nummern enthielten fast
nichts als Verbesserungen, Anmerkungen u. s. w. zu den be-
reits gedruckten Bänden des Archivs, und bibliographische
Notizen über die neueste historische Literatur auf wenigen
Blättern. Allmählig ist jedoch der Umfang bedeutend erwei-
tert worden, man bat ausfuhrlichere Anzeigen der neuesten
Geschichtswerke aufgenommen, sich selbst einer strengeren
Kritik derselben, die übrigens, worauf nicht genug hinzuwei-
sen ist, in Italien fast ganz verabsäumt wird, genähert, und
endlich auch Actenstücke und Quellen von geringem Umfang,
die anderweitig nicht Platz fanden, hier abdrucken lassen.
So hat dieser Anbang seit der siebenten Nummer eine Gestalt
angenommen, in der er eine historische Zeitschrift von Belang
zu werden verspricht; für Italien würde dadurch einem sehr
fühlbaren Bedürfniss abgeholfen werden. Ich beschränke mich
historischen Literatur in Italien. 49
jetzt darauf einige Beiträge zu nennen, die ein allgemeineres
Interesse haben. No. 7. enthält vor Allem zwei vortreffliche
Briefe des Marchese Gino Gapponi an den Professor Capei
in Pisa über die Herrschaft der Langobarden in Italien, nicht
ohne Polemik gegen die Ansichten Troya's; ich denke später
über die hier einschlagenden Streitpunkte und dann auch
über diese Briefe ausführlicher zu sprechen. Das achte Heft
giebt nach dem neapolitanischen Abdruck einen zweiten der
Tafel und der Gewohnheitsrechte von Amalfi, der wie der
erste nach der sehr schlechten Wiener Handschrift besorgt
ist, die freilich bis jetzt die einzig bekannte ist; Gar hat ei-
nige Verbesserungen versucht, doch bleibt immer noch viel
zu thun übrig. Es folgen ebenfalls von Gar herausgegeben
mehre sehr wichtige Documente in Bezug auf Julian von Me-
dici und Leo X., der Brief des Cardinal Wolsey an den Bi-
schof Sil vestro Gigli und die Antwort des Letzteren sind auch
für die deutsche Geschichte von grossem Interesse, es han-
delt sich darin um die Versprechungen, die Leo X. Heinrich
dem Achten für seine Bewerbungen um die Kaiserkrone ge-
geben hatte. Das neunte Heft bringt eine Nachlese der Do-
cumente, die G. Molini in Paris und London bei seinen Stu-
dien für die italienische Geschichte sammelte, sie betreffen
die Epoche von 1522—1530 und sind vom Marchese Gino
Gapponi mit gewohnter Meisterschaft commentirt, einige dar-
unter berühren auch die deutschen Verhältnisse. Unter den
übrigen Beiträgen verdienen besonders Aufmerksamkeit die
Bemerkungen von M. A. (Michele Amari ohne Zweifel) über
dreizehn Werke. in Bezug auf italienische Geschichte, die in
den letzten Jahren in französischer Sprache erschienen sind.
Das Urtheil des Beferenten ist lakonisch, aber auch ener-
gisch und geistvoll.
Florenz im März 1845.
Dr. W. Giesebrecht.
Ztiteefarift f. Ctackichteir. IT. 1845.
Die griechische KomenverfaMungr als Mo-
ment der Entwickelung- des Städtewesen»
Im Altertlrame.
Einer jeden der Epochen, in welche die Geschichte zerfallt,
ist das Siegel der Offenbarung eines eigentümlichen Geistes auf
gedrückt Die menschlichen Dinge tragen in einer jeden Zeit den
allgemeinen Charakter des dieselbe beherrschenden Geistes an sich.
Denn die natürliche Anziehungskraft gleichartiger Elemente be-
wirkt, dass die Fermente des Geistes von dem mütterlichen Schosse,
aus welchem sie zuerst emporgestiegen, sich auch allenthalben ver-
zweigten, wo sie einen für ihre Aufnahme irgend empfänglichen
Boden antrafen. Daher spiegeln die Institutionen, in denen die
Eigenthümlichkeit der verschiedenen Epochen sich offenbart, in
den verschiedenen Völkern einer jeden sich besonders ab. Gesetzt
auch, dass sie in dem einen derselben früher oder schärfer als in
dem andern ausgeprägt erscheinen, so sehen wir sie allmählig nichts
destoweniger in dem Gemeinbesitz der meisten übrigen überge-
hen ; sei es, dass sie auf diese mechanisch übertragen, ihnen durch
Kriege, Pflanzvolker u. dgl. mitgetbeilt, oder von ihnen frei-
willig angenommen wurden.
Die Erforschung der Geschichte gewahrt das Resultat, dass sie
uns die Analogie in der Entwickelung der Völker einer jeden Epoche
genauer vergegenwärtigt. So hat die neuere Bearbeitung der Ge-
schichte jenes Mikrokosmos, als welchen das Reich deutscher Na-
tion in der Periode gegen das Ende des Mittelalters sich ankündigt,
die Momente der Üebereinstimmung in den mannigfaltigen Bildun-
gen der, wiewohl aus einem Stamm entsprossenen, doch in entgfr>
gengesetzte Bahnen der Entwickelung fortgerissenen Glieder des-
selben, schärfer als früher hervorgehoben1). — In den Formen
des öffentlichen Lebens in Beziehung auf Staat und Religion
bei den verschiedenen Völkern einer jeden Epoche, wird daher
») Ranke: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. IT.
454—464. 838— 839. 445. f. V. 434.
Die griechische Komenverfa$sung als Moment etc. 5t
sowohl der Ausdruck dessen, was einem jeden dieser Völker eigen«
thüinlicb, als was allen gemeinsam gehört, beurkundet.
Der überwältigende Einfluss jener allgemeinen Formen im Ver-
hältniss zu der Eigentümlichkeit der einzelnen Völker, ja ganzer
Völkergruppen, tritt jedoch in keiner Periode allgemeiner oder be-
deutender als in dem Mittelalter hervor. Bei allem Reichthum der
inneren Entwickelung und der Selbständigkeit der einzelnen Theile,
welche unstreitig den Charakter des Mittelalters, wie des Alter-
thums bildeten, giebt es doch kein Volk des Abendländischen Europa,
das seine angestammte Art, uml Sitte in jenem Conflicte unverän-
dert bewahrt hätte.
Vielmehr sowie allmählig das eine nach dem andern von dem
allgemeinen Strome der Europäischen Entwickelung ergriffen ward,
bietet uns diese das ausserordentliche Schauspiel dar, dass sie uns
das ganze damalige Europa in allen seinen Verzweigungen nicht
nur von denselben Normen weltlichen und geistlichen Inhalts be-
herrscht, sondern auch wie von Einem Geiste und Bewusstsein er-
füllt zeigt. Das Ergebniss dieser Entwickelung beruhte vor Allem
in dem kriegerisch-priesterlichen Staat, welcher dem Mittelalter sein
Entstehen verdankte, und ihm zugleich sein eigentümliches Ge-
präge aufgedrückt hat. Und wie die Einheit des neuern Europa
durch diesen zuerst begründet ward, so bat sie sich auch niemals
durchgreifender geoflenbart, als so lange derselbe, zusammenge-
halten durch das doppelte Band des Lehnswesens und der Kirche,
sich in ungeschwächter Kraft erhielt.
Man kann dieselbe Analogie in Rücksicht auf einzelne Momente
der Entwickelung einer jeden Epoche verfolgen. Sie zeigt sich
in der Entfaltung wie in den Abwandlungen der Ordnungen der
Städte, welche, nach dem Vorbilde des classischen Alterthums in
einem Theile des neuern Europa frühe zu fast gleicher Macht und
Bedeutung erwuchsen; während die zeitige Kräftigung fürstlicher
Obergewalt ihrer Entwickelung anderswo engere Grenzen setzte«
Sie zeigt sich ebenso in der Geschichte der monarchischen Staa-
ten des neuern Europa. Vor allem aber in der Entstehung und
Ausbildung der grossen Monarchien, auf denen seit den mittleren
Jahrhunderten die neuere Geschichte vornehmlich beruhte
Denn es bestand von jeher eine ähnliche Wechselwirkung un-
ter den Europäischen Staaten, wie wir jetzt sie wahrnehmen. Schon
der lebendige Zusammenbang aller schloss Gleichheit der Bedürfnisse
wie der Mittel diesen abzuhelfen, in sich. Es ereignete sich wohl,
dass eine Regierung die Formen der Administration, welche eine
andere angenommen, von dieser unmittelbar entlehnte. In man«
eben Fällen entlehnte man sogar nicht nur die Institutionen, son-
dern zugleich die Werkzeuge, um diese bei sich einzuführen Seihet
4#
52 Die griechische Komeneerfassung ah Moment
in kleinern Staaten spiegelten sich oft in überraschender Weise
die Vorbilder der grössern ab, welche sie bei ihren Einrichtungen
zum Muster genommen.
Schon die Vereinigung jener Monarchien in Form von land-
schaftlichen Aggregaten, zum Theil von einander so entgegenge-
setzter Natur, dass jene noch beut die Spuren dieser Verschieden-
heit an sich tragen, ist grossenlheils unter entsprechenden Um-
ständen und fast in dem nämlichen Zeiträume bewirkt worden.
Doch die innere Consolidirung derselben beurkundet nicht minder
die entsprechenden Phasen. Ja, die Verkettung ihrer ionera Um«
Wandlungen last sich fasst durch jeden Abschnitt der folgenden
Jahrhunderte genauer nachweisen.
Es war dasselbe Prinzip, welches in den bezeichneten Staaten
das Uebergewicht der grossen Vasallen brach, den corporativen
Berechtigungen nicht zu überschreitende Grenzen setzte, und so
der neuern Administration Raum gab, — das Product jener Ent-
wickelung, wie deren vorzüglichstes. Werkzeug, dessen allmählige
Einwirkung eine jede dieser Monarchien, wo nicht zu einer or-
ganischen Einheit, so doch zu einem concentrischen , seiner als
solchen sich bewussten Organismus, die Stammeseinheit selbst zur
moralischen und intellectuellen der Nationalitat erhob. War nun diese
Entwickelung grossentheils eine gleichförmige, so legt die Prüfung
der innern Zustande der meisten Staaten des neuern Europa seit
dem Ausgange des Mittelalters durch alle folgenden Abschnitte nicht
minder eine gewisse Gleichförmigkeit ihrer äussern Umrisse and
Formen dar. Man möge die Attribute fürstlicher Obergewalt, oder
die Rechte der einzelnen Körperschaften, die Anordnung der all-
gemeinen Behörden des Staats, wie die Verwaltung der Gemein-
den, die Stande des Volks und die Beschaffenheit der denselben
auferlegten Lasten näher in Betracht ziehen: überall zeigt sich in
den vergangenen Jahrhunderten eine unverkennbare Uebereinstim-
mung, wo nicht unter sammtlichen Europäischen Staaten, doch
unter denen des Festlandes, indem nur einzelne minder bedeu-
tende Ausnahmen Platz griffen.
Für uns genügt es ohne Zweifel, dass wir an diese Erschei-
nung erinnern, damit wir uns derselben deutlicher bewusst wer-
den. Denn wir blicken auf eine Periode zurück, in welcher eine
Umwandlung der angedeuteten Art, mächtiger und unwiderstehli-
cher als alle früheren, die Völker Europas gleichsam mit einem un-
bewussten, sympathetischen Drange ergriff. Das vornehmste Re-
sultat dieser Umwandlung war, dass die Form der Repräsentativ-
regierung von der vergleich ungs weise engen Sphäre, auf welche
wir diese gegen das Ende des vergangenen Jahrhunderts beschränkt
sahen, allmählig in einem beträchtlichen Theile der gegenwärtigen
der Entwicklung des Städtewesen* im Alterthum. 53
Welt an die Steile der früher bestehenden gesetzt wurde. Und
wenn nicht zu leugnen ist, dass diese Umwandlung in mancher
Beziehung als eine blos äussert iche sich darstellt, so durchdrang
doch das ihr zu Grunde liegende Prinzip mehr und mehr die un-
tern Schichten des öffentlichen Lebens der Staaten, welche es an-
genommen, so verschieden auch der nationale und locale Unter-
bau derselben beschauen sein mochte. Es durchdrang zum TheH
selbst das innere Triebwerk derjenigen Staaten welche die allge-
meinem Folgerungen desselben verworfen hatten, in denen es fast
ebenso bedeutende Umgestaltungen in den administrativen und bür-
gerlichen Ordnungen, als dort in den politischen, und .den Verhält*
nissen der Regierung hervorrief.
Eine ähnliche Wechselwirkung wie in der Geschichte der mitt-
lem, neuern oder neuesten Zeit, waltete auch in der Welt des Al-
terthums ob. Die Wahrnehmung einer au Identität grenzenden,
verwandtschaftlichen Uebereinstimmung in der Verfassung fast al-
ler Staaten des classischen Alterlhums, darf uns daher ebenso we-
nig überraschen, als die gleiche Erscheinung, welche die Betrach-
tung der Verfassung der neuern Staaten darbietet.
Die Analogie, welche die Betrachtung der Verfassung der Staa-
ten des Alterthums ergiebt, beschränkte sich keineswegs blos auf
einzelne Institutionen; wie etwa das Wesen der Magistratur, der
Begriff der Einzelgerichte, das sich wechselseilig ergänzende Ver-
häitniss des Senats und der Magistrate, ja selbst die individuelle
Ergänzung des erstem aus denen welche diese geführt, die Ge-
schlechter und so manches andere, dem Alterthum mehr oder we-
niger allgemein angehörten. Sie erstreckte sich nicht minder auf
die Normen des öffentlichen und bürgerlichen Rechts, durch welche
der Staat als Ganzes getragen und zusammengehalten ward; sie
begriff schon die ersten Bedingungen der gesellschaftlichen Ver-
einigung, worauf die Idee des Staates beruhte, in sich. Denn wie
in Allem, was dem Alterlhume in der erstem Beziehung am eigen-
tümlichsten angehören dürfte, gerade die grösste Uebereinstim-
mung unter den bedeutendsten Völkern desselben beurkundet
wird: so ist es uns, wenn wir die gebildete Welt des Alterthums
als ein abgeschlossenes Ganzes betrachten, als ob auch nur Ein
Begriff oder Eine Form des Staates in derselben vorgewaltet habe
oder zur Entwickelung gelangt sei.
Der Begriff einer Stadt im Alterthum inbesondere war von al-
lem demjenigen wesentlich verschieden, was wir unter dieser Be-
zeichnung verstehen und zunächst um uns her zu erblicken ge-
wohnt sind.
Die Stellung einer Stadt im Alterthum dem platten Lande ge-
54 Die griechische Komenverfassung als Moment
genüber war vornehmlich durch eine Ansicht vom Staat and dar-
auf gegründeter Berechtigung bedingt, zu welcher, ungeachtet man-
cher entsprechenden Momente in der Entwickelung eines neuern
Landes, die neuere Geschichte dennoch keine vollständige Analo-
gie darbietet. Die Alten fassten als die Substanz des Staates die
Gesammtheit der Grundeigentümer auf. In den republicanischen
Verfassungen des Alterthums erblicken wir die Verwirklichung der
auf diese Ansicht gegründeten Berechtigung. Die Erstere verdient,
zumal in solcher Schärfe ausgeprägt, dem Alterthume um so mehr
als ihm eigenthürolich vindicirt zu werden, da sie in diesem allge-
mein, vielleicht noch allgemeiner vorzuherrschcn scheint, wie der
höhere Umfang jener Berechtigung selbst, welcher gleichsam den
natürlichen Abschluss jenes Verhältnisses bildet.
Es wäre vor Allem erforderlich, den Begriff, welchen das Al-
terthum mit der Bezeichnung einer Stadt verknüpfte, nach dessen
eigenthümlicher Schärfe und mit möglichster Berücksichtigung der
Reichhaltigkeit des Stoffes, welche diesem Gegenstande vor andern
eigen, zur Vergegenwärtigung zu bringen. Dies dürfte am genügend-
sten bewirkt werden, duroh eine historische Untersuchung über
die Entstehung der Städte der Alten. Denn, sowie in aller
Geschichte, so reicht es in dieser Beziehung nicht bin, blos die
abstracten Principien hervorzuheben, worauf etwa jener Begriff
ruhte. Diese Principien selbst können vielmehr nur alsdann vollständig
gewürdigt werden, wenn man sie in Verbindung mit den geschicht-
lichen Thatsachen auffasst, deren Ergebniss und Ausdruck sie sind.
Denn sowie das spätere Römische Reich, in Anwendung der Grund-
sätze des antiken Staatsrechts auf die gegebenen Verhältnisse, d.i.
diejenigen der Universalmonarchie, gleichsam die Manifestation des
antiken Staates in seiner höchsten mechanischen Entwickelang in
sich schltesst, über welche hinaus er abstarb, ohne die MöglichkehVder
Verjüngung aus eigenen Elementen: so gewähren auch die Städte
des Römischen Reichs, obschon der Freiheit beraubt, nichts desto-
weniger eine durch Jahrhunderte fortdauernde Identität mit den
ursprünglichen Bedingungen und Grundlagen der Entwickelung des
gesammten Alterthums * ).
Die Städte enthielten zugleich den Begriff der Gemeinde und
des Staates selbst in sich. Sie sind nicht nur die Punete, von
welchen alle höhere Entwickelung des Alterthums zuerst ausgegan-
gen ist, sondern auch die Kreise, in welchen Leben und Bildung,
Vorstellung und Gesinnung, Sitte und Gewohnheit des Alterthums
*) Der Unterzeichnete, seit einer Reihe von Jahren mit einem Werke
über die Römischen Gemeinden beschäftigt, ist durch vorstehende Betrach-
tung zu gegenwärtigem Aufsatz veranlasst worden.
der Entwicklung des Städtewesens üh Alterthum. 55
sich am unmittelbarsten bewegten und abschlössen. Sie sind es
endlich, auf denen der Begriff des spätem Römischen Geraeinwe-
sens vor Allem mitberuhte. Nichts dürfte daher in der Tbat mehr
dazu beitragen um von der eigentümlichen Entwickelung des Al-
terthums eine anschauliche Vorstellung zu gewahren, nichts scheint
insbesondere so geeignet zu sein um die entgegengesetzten Bedin-
gungen auf welchen die Entwickelung des AUerthums und der
neuern Zeit, diejenige der Völker des Südens und des Nordens
beruhte, zu lebhafter Vergegenwärtigung zu bringen, als die ge
schichtliche Ergründung der Natur jener organischen Körperschaf-
ten, welche wir in dem Alterlhume unter der Bezeichnung der
Städte antreffen, der Gesetze ihrer organischen Gliederung, und
der unauflösbaren organischen Cobäsion derselben, — im Vergleich
mit der willkürlichen Gebietsaffiliation, welche als dem Princip des
Lehenswesens entsprechend der BHdung der neuern Staaten und
Reiche zu Grunde liegt.
Der Begriff einer Stadt im Alterthum beruhte auf der Verknü-
pfung von Stadt und Laad zu einem einigen, den Gegensatz der-
selben ausschliessenden Organismus. Will man daher ein vollkom-
men deutliches Bild von den eigentümlichen Verhaltnissen der
Stadtgemeinden, auch der Römischen, gewinnen: so müsste man
vor Allem das gegenseitige Verhaltniss von Stadt und Land, wie
es aus dem Gesichtspunct des Altertbums überhaupt sich ankün-
digt, zu ermessen und darzustellen trachten. Und dies könnte
nicht geschehen, ohne dass man auf ein Moment zurückginge, wel-
ches, wenn es gleich den Uranfängen der politischen Gestaltung
anzugehören scheint, nichts destoweniger die ganze alte Geschichte
erfüllt; ich meine die Gründung der Städte — eine Handlung, welche
in ihrer für die Gestaltung aller Begriffe und Verhältnisse des Al-
tertbums kaum genugsam zu würdigenden Bedeutung, weit entfernt
dem Dunkel der Sage oder der Vorzeit ausschliessend anheimzu-
fallen, gerade in den bedeutendsten Fällen in dem Lichte der Ge-
schichte vollzogen ist. Dadurch eben dass man sich die Principien
vergegenwärtigt, von welchen die Alten bei Gründung einer Stadt
geleitet wurden, setzt man sich in den Stand, die Motive zu wür-
digen, worauf das gegenseitige Verhaltniss von Stadt und Land bei
ihnen beruhte.
Die geschichtliche Entwickelung des Begriffs der Stadt drückte
der politischen Entwickelung des gesammten Alterthums gleichsam
erst das Siegel auf. Denn dieser Begriff in seiner significanten Be-
deutung gehörte nicht nur in denjenigen Theilen der alten Welt,
welche erst durch die Römer zu höherer Ausbildung berufen wur-
den, sondern überhaupt in jeglichem Theite derselben einer ver*
56 Die griechische Kometwerfassung als Moment
hältnissmässig jüngeren Periode an« Er deutet insbesondere bei
jedwedem einzelnen Volke des Alterthums, bei welchem wir ihn
antreffen , auf ein weiter vorgerücktes Stadium der Entwickeiung
bin, als dasjenige ist, worauf, seien es die ältesten Ueberlieferun-
gen einheimischer Sage, seien es die Angaben der gleichzeitigen
Geschichte in Rücksicht auf deu Zustand roher Völker des Alter-
thums, uns zurückverweisen. Er gehörte, um es mit einem Worte
auszudrücken, der eigentlich geschichtlichen Periode nicht nur des
klassischen Alterthums überhaupt, sondern auch jedes einzelnen
Volks an, bei dem wir ihn vorßnden.
Dies wird noch deutlicher erkannt, wenn man einen Bück auf
den ursprünglichen Zustand der Völker des klassischen Alterthums
wirft, und diesen mit dem späteren vergleicht. Denn wir finden,
dass die Menschen in sämmtlichen Theilen der alten Welt ur-
sprünglich im Gau zerstreut wohnten, bevor man sie in Städte
zusammenzog; gerade so wie in unserem Vaterlande.
Das war vor Allem in derjenigen Lebensepoche des Griechi-
schen Volks der Fall, welche wir mit dem Namen des Griechischen
Heldenalters bezeichnen. Es wird in 'ahnlicher Weise durch die
Sage nicht minder als durch die Geschichte der meisten Italischen
Völker beurkundet, dass in einer entfernteren Vorzeit in dem
grösseren Theile Italiens eben so wenig eigentliche Städte in der
späteren Bedeutung dieses Namens angetroffen wurden, als dies
im Durchschnitt in der vorgeschichtlichen Periode Griechenlands
der Fall war. Die gleiche Erscheinung offenbart sich, wenn wir
unsern Blick auf diejenigen Theile der alten Welt richten, auf
welche die Eroberung derselben durch die Römer zugleich den
erslen sicheren Lichtstrahl der Geschichte fallen lasst, und welche
erst durch die Römer zu höherer Ausbildung berufen sind. Denn
die äussere Form und Zusammensetzung der Gemeinwesen dieser
Länder, in Rücksicht auf die Bedingungen des gesellschaftlichen
Zusammenwohnens, bildete einen ebenso erheblichen Abstand von
den Italischen und Griechischen' Formen derselben in ihrer späte-
ren Entwickeiung: als der gesellschaftliche Zustand jener Länder
überhaupt nicht nur in damaliger Zeit, sondern noch lange nach-
her einen gleich erheblichen Abstand von demjenigen fast des ge-
sammten übrigen Theils der alten Welt bildete. Dies ergiebt sich
ebensowohl aus den schwankenden Ausdrücken und Bezeichnun-
gen derjenigen, welche hierüber Bericht erstatten, als aus ihren
Andeutungen in Betreff der durch die Römer in dieser Beziehung
bewirkten Veränderungen; und ich erblicke darin den überzeu-
genden Beweis, dass der Zustand jener Länder in der angedeute-
ten Beziehung demjenigen fast des gesammten übrigen Alterthums
in der uranfänglichen oder vorgeschichtlichen Periode des Letzte-
J
der Entwicklung des Städtewesens m Alterthum. 57
ren entsprochen habe. Innerhalb der Grenzen des bezeichneten
Verhältnisses waltet jedoch noch ein eigentümlicher Unterschied
ob: der Gegensatz, welchen die ursprüngliche Lebensweise des
Volks der Germanen im Verhältniss zu den ursprünglichen Le-
bensbedingungen sämmtlicber übrigen Völker der alten Welt bil-
dete. Denn während fast alle diese betreffenden Angaben wenig-
stens in dem Gesichtspuncle sich vereinigen, dass sie die Erwäh-
nung derselben an die Existenz einer Anzahl von geschlossenen
Ortschaften („connexis et cohaerentibus aedificiis") knüpften;
wurde es als eine Eigentümlichkeit in der Lebensweise der Ger-
manen hervorgehoben, dass der Wohnsitz eines Jeden derselben
von demjenigen des andern getrennt sei *).
Der in Vorstehendem angedeutete Gesichtspunct soll nun in
Bezug auf Griechenland noch schärfer entwickelt werden. Die
Ausführlichkeit, mit weicher dies in dem Folgenden bewirkt ist,
und welche vielleicht Manchen überraschen dürfte, glaube ich
durch die Fülle des Materials, welches die Griechische Geschichte
für den angedeuteten Zweck uns darbietet, entschuldigen zu dür-
fen. Denn während vo» anderen Völkern der alten Welt als Ita-
lischen, Spanischen, in dieser Beziehung fast nichts als die That-
sache gemeldet wird, dass sie ursprünglich in einer Menge von
kleinen Ortschaften gewohnt hätten, verharrten nicht wenige Grie-
chische Stämme fast die ganze Zeit der Griechischen Geschichte
hindurch in einem derartigen Zustande der Zersplitterung. Und
wenngleich die meisten unter diesen Völkern auf die allgemeine
Griechische Geschichte weniger selbsttbätig einwirkten, so konnte
es doch nicht fehlen, dass diese selbst auf ihren Zustand ein Licht
wirft, durch welches derselbe deutlicher erhellt wird, als dies ir-
gend wo anders der Fall sein dürfte.
Es ist zunächst dem Einwände zu begegnen, dass schon die
Sage und das Gedicht alle darin verflochtenen Ortschaften unter
der gemeinsamen Benennung iv6Uqy Stadt, zusammenfassten. Diese
Auffassung war lediglich dadurch begründet, dass die entferntere
Vorzeit die Anwendung unterscheidender Bezeichnungen für grös-
sere oder kleinere Orte so wenig gekannt oder geübt zu haben
scheint, dass wenigstens in Sage und Gedicht keine sicheren Spu-
ren dieser Unterscheidung aufzufinden sein dürften.
Es blieb erst einer späteren Epoche vorbehalten, zugleich mit
dem Unterschiede der Oerter den Begriff einer Stadt selbst noch
genauer zu fixiren. Als jedoch dieser feststand, so bedurfte es
auch nur einer oberflächlichen Vergleichung dessen, was in frühe-
f) Tacitus Germania c. 46.
56 Die griechische Koment>erfa$$ung ah Moment
ren Zeiten unter der Benennung einer Stadt verstanden wurde,
mit dem später entwickelten Begriffe, um daraus die Folgerung
abzuleiten, dass die in der Vorzeit so benannten Städte diesen
Namen fast insgesamml mit Unrecht führten ■).
Denn was hier zuvörderst die zahlreichen Städte, deren Ho-
mer gedenkt, insbesondere anlangt, so dürften in der Thal nur
wenige unter diesen einen gegründeten Anspruch darauf gehabt
haben, dass sie, selbst abgesehen von der staatsrechtlichen Bedeu-
tung jenes Ausdrucks in der späteren Periode, zum mindesten das
äussere Gepräge einer Stadt der geschichtlichen Zeit an sich trü-
gen. „Die Homerischen Gesänge," so urtheilt ein neuerer Schrift-
steller in dieser Beziehung •), „verrathen den Eifer des Neustädti-
schen." Nur Athen, Theben und einige andere unter den daselbst
aufgeführten, können wirklich als bereits damals vorhandene Städte
nach den Begriffen der späteren Zeit betrachtet werden. *)
Umgekehrt dürfte die Mehrzahl jener Städte als blosse Burgen
aufzufassen sein. So die Wohnorte der Vasallen der Atreiden:
Alektor in Sparta *), Diokles in Pherai '), Orsilochos in Messene •).
Auch Bienelaos hegte den Wunsch, daa* es ihm vergönnt sein
möge, eines der ihm unterthänigen Städtchen, nachdem dasselbe
von seinen Bewohnern geleert, dem Odysseus, dessen Sohn und
Gefolge, .zum Wohnsitze einzuräumen 7). Würden aber nicht die
übrigen edlen Geschlechter, mit welchen gemeinschaftlich einst
Odysseus in Ilhaka zusammeogewohnt •) unter jener Voraussetzung
daselbst zurückgeblieben sein? Und wäre dies, würden dann
nicht Odysseus und die ihm unmittelbar angehörten, gleichsam die
einzigen Inhaber der ihnen zum Wohnsitze angewiesenen Stadt
dargestellt haben?
Gerade der vorher gedachte Umstand jedoch ergiefct, dass al-
lerdings unter obiger Bezeichnung in manchen Fällen wirkliche
Ortschaften verstanden werden müssen. Es wird nämlich von
einigen derselben, wie eben von Ithaka, ausdrücklich hervorgebo-
') Str. VIII, 336 fin. 337 pr. bezieht sich unstreitig auf Stellen wie
Was IX, 453. Odyss. IV, 471. XXI, 45. Vgl. Paos. IV, 4,3. f) Wachs«
muth, Hellenische Alterthumakunde I, 4 S. 400. *) Denn ersterea war
schon durch Theseus, dessen Lebenszeit nach Eusebios 54 Jahr vor Trojas
Fall, zusammengebaut, lieber die Erbauung von Theben, d. h. der Unter-
stadt, vgl Od. XI, 263. Pausanias IX, 5, 3. Doch hotte es damals wüst
gelegen. Strabo IX, 449. C. Ottfr. Müller, Hellenische Stämme I, 997.
♦) Od. IV, 40. Vgl. Über Sparta, Müller a. a. 0. II, 93. *) U. V, 544
sq. Od. IU, 48«. XV, 486. Vgl. über Pherai U. IX, 449. 6) Od. XXI,
4 5 sq. In Messeue, d. h. dem Lande (*a$ dquof), nicht der Stadt. Paus.
IV, 4, 3. Wäre dieser Orsilochos mit Diokles Vater (II. V, 546) nur Eine
Person, so würde auch das unbenannte Haus des ersteren mit dem vor-
hererwähnten Pherai idenüsch sein. T) Od. IV. 474 sq. *) 4d.I. 359.
der Enttcicklung de* Städteveeeni im AUerihm. 59
b$n, dass hier, xavä m6Uv, die Edlen des Gaues vereinigt gewohnt
hätten »); anstatt dass das niedere Volk: Dolios, Philoitios, Eumaio»,
zerstreut umberwohnte *). — Von ähnlicher Beschaffenheit wie
jene mochten auch die zwölf selbständigen Gemeinwesen aufzu-
fassen sein, in welche, nach der Sage, Attika vor Theseus geord-
net war *). Denn wenn mit Rücksicht auf diese Periode gemeldet
wird: dass die Athener unter Erechthens und die Eleusinier ein-
ander bekriegt hätten, als deren Anführer in diesem Kriege fiu-
molpos, ein verbündeter Heeresfürst der Thrakier bezeichnet wird ;
so ergiebt sich klar, dass hierunter nicht bloss Einzelne, sondern
die Angehörigen selbstständiger Orte zu denken seien. Nichts desto»
weniger bleibt so viel gewiss, dass alle jene Orte ausnehmend
klein waren. Dies bezeugt schon Thukydtdes mit Rücksicht auf
Mykenai, den Sitz Agamemnons 4). Noch augenscheinlicher wird
dies durch die Wahrnehmung bestätigt, dass der Name, welchen
die Akropolen der griechischen Städte, so lange als deren Umfang
auf jene beschränkt, hiernach mit Recht eigentümlich führten,
nämlich: 7tök$g und dtotv •), in alter thümKcher Erinnerung mehren
der ersteren für immer zu eigen blieb •>.
Nehmen wir demzufolge an, dass ursprünglich von den Grie-
chen jeder Ort Polis benannt sei, mit welchem Namen Thukydtdes
einen abgesonderten Flecken der Hyaier, eines Zweigs der Ozoli-
scben Lokrer, bezeichnet7), wie nach Pausanias Angabe der Berg,
auf welchem die Ruinen von Altmantineia lagen, noch zu seiner
Zeit den Namen Ptotis trug •): so würde es sich dadurch erklären,
dass andere, der Benennung Polis entgegengesetzte Ortsbezeicb-
nungen bei den Griechen vielmehr erst dann in Gebrauch gekom»
men seien, nachdem in Ansehung eines Theils der ursprünglich so
bezeichneten Orte eine solche Veränderung bewerkstelligt worden
war, durch welche das Verhäliöiss dieser Orte zu andern mit ih-
nen auf gleicher Stufe stehenden, zuerst völlig eigentümlich be-
stimmt, und auf diese Weise ein thatsächlicher Gegensatz in der
Stellung der früher so bezeichneten Orte zu einander hervorgeru-
fen worden war, •
Doch es hat auch an sieh keine geringere Wahrscheinlichkeit,
dass der Begriff und die Entstehung des Namens der Klasse von
Ortschaften, welche in der späteren Epoche Griechenlands mit dem
Namen, der Kornea benannt wurden, einer Periode angehören,
in welcher bereits wirkliche Städte in der späteren Bedeutung
*) Od. XXIV, 443. f447, 468. 5S6. *) Datier «He Stichwort© bei
Homer: xstpvouFtattv, dfxxpiv*fjb£t&aa~ *) Hermann, Griechische Staats^
alterthümer, Deidelb. 4844, §. 94, Anm 9, 4) I, 40. «) Daher noch
das Homerische „«&*$ ax^u 11. VI, 8Ä. 3S7 «. a, •) Thttkyd. II, 45
fin. Wachsmutb a.a. 0. 1, 4,346. 7) III, 404. 9) VTU, 42, 4, vgl. 8, 1
60 Die griechische Komenverfassung als Moment
dieses Ausdrucks daselbst vorhanden waren. Denn darauf deutet
andrerseits die bekannte Herleitung der Benennung Korne *), wel-
cher völlig das Gepräge einer jener auf sich beruhenden, authenti-
schen Traditionen beiwohnt, denen wir oft gerade die schärfste
Beleuchtung dunkler Gegenstände des Alterthums verdanken.
Sie setzt nämlich offenbar voraus, dass das Land den Städten
gegenüber ganz oder grösstentheils unbewohnt sei. Sowie aber
diese Voraussetzung nur mit Rücksicht auf eine andere Voraus-
setzung: nämlich diejenige der Zusammenziehung der Landbewoh-
ner in den Städten, zu erklären sein durfte, so gewinnt auch diese
Herleitung selbst einen um desto höheren Grad der Glaubwürdig-
keit durch die Analogie einer späteren Epoche. Denn die Entste-
hung der der späteren Latinilat angehörenden Ortsbenennungen :
Mansio, Mutatio, kann als auf gleichen Gründen oder Voraus-
setzungen als diejenige der Komen beruhend angesehen werden *).
Aus dem Angeführten ergiebt sich, dass der Begriff einer
Korne im Gegensatz zu Polis, aus dem späteren Gegensatze abge-
leitet sei, welchen alle sowohl ursprünglich vorhandenen, als auch
erst in späterer Zeit entstandenen Ortschaften, im Verhältnisse zu
derjenigen Klasse von Orten bildeten, in deren Betracht die vor«
her angedeutete Veränderung zuerst ins Werk gesetzt worden
war. Vergegenwärtigen wir uns nun vor Allem, worin in Thuky-
dides Zeilalter das unterscheidende Merkmal einer Korne im Ver-
hällniss zu Polis gestellt wurde!
Als die Dorier nach vergeblichen . Versuchen den Isthmos zu
überschreiten, von Naupaktos aus in den Peloponnes vordrangen,
so waren sie doch weit entfernt sich sogleich des ganzen Landes
zu bemächtigen. Sie suchten sich im Gegentheil zuerst nur auf
einzelnen Puncten desselben festzusetzen, von welchen aus sie
dann die befestigten Achaischen Orte mit Krieg überzogen. Das
Erstere geschah von Seiten derjenigen unter ihnen, welche in La-
konika einfielen, in der Gegend von Sparta: dessen Lage mit der-
jenigen von Rom eine ausgesprochene Aehalichkeit besitzen muss *).
In dieser« Gegend erbauten jene in geringer Entfernung von einan-
der gelegen eine Anzahl von Ortschaften, und von diesen aus be-
l) Stepb, Byz.^v. xw/iij:,, sv rcuq /naxqcuq oSotq /xcVa %w(Ha exu-
crctv Ttqoq to xotfiaOctat wxroq «aaytyvo^uVijg ' o&ev xat IxtKiyChTpau
u>q &L%oi£voq" etc. Etymologien m roagnam v. xio/ulo&lv 650, 56: „o>«v
ocat wo/Lun to %<aqtov f\ xot/iijTijfHo; xat dvaxccvaiq %ia<av rs neu, dv^-qw-
sfwv asro twv dyqiavif • v. xuua 651, 5: „tovs yaq Toxovq ©| xaXau-
04 9tw/u,o-uq ««Äow * xou, xwjulcu tv aiq efts%\ov xoi,aao\dat.u *) Vgl.
Jacob Golnoft-edus ad L. 9. C. Tb. de ann. et trib. (4 4, 4) Tom IV, p. 49
ed. Ritter, ltiner. Anton, p. 94 ed. Wesseling. „inanalonibus nunc instUutis".
») Paus. III, 4 7, %.
der Entwicklung des Städtetcesens im Alterthum. 61
meisterten sie sich allmählig, obwohl erst nach Verlauf mehrer Jahr-
hunderte, aller übrigen Orte dieser Landschaft >). Der Andrang
Dorischer Uebermacht bewirkte eine Reihe von Auswanderungen
der in ihrer ursprünglichen Heimath in den Nomos Amyklaios und
den Taygetos zurückgedrängten Achaier, sowie der von diesen auf-
genommenen Minyer, deren Bestimmung jedoch, wie schon die-
jenige der ersten Achaischen *), zu den dunkelsten Puncten in
der alten Geschichte gehören dürfte s). Der Rest der ehemaligen
Beherrscher des Landes wurde durch die Eroberer Dorischen Stam-
mes in untertänigen Stand versetzt. Diese führten aber die Re-
gierung des gesammten Landes von denselben Orten aus, in wel-
chen sie sich zuerst als Kriegsscbaar niedergelassen, und welche
sie fortwährend besetzt hielten 4).
Dies war Sparta, welches uns Thukydides mit den Worten
zeichnet: , Jass es nicht zu einer Stadt zusammengebaut, sondern
nach aller ^eise der Hellenen in Gestalt von abgesonderten Ort-
schaften oder Komen erbaut sei ')". Neuere Untersuchungen ma-
chen es wahrscheinlich, dass diese Ortschaften oder Komen mit
den vier bis fünf örtlichen Phylen , in welche die Sparliaten ein-
gelheilt wurden, identisch waren 6). Die angeführten Umstände
würden es erklären, dass die Sparliaten öfters nach diesen z. B.
ein Mesoat, ein Pitanat, anstatt nach ihrem Gesammtnamen Spar-
liaten benannt wurden.
Ein Umstand, woran man in der angegebenen Beziehung mit
Unrecht Ansloss genommen hat, ist, dass die Zahl der verschiede*
») C. Otlfr. Müller, welcher abgesonderten, aber um desto bedeuten-
deren Traditionen folgt. Hell. St. I, 3. 34 9 f. II, 96 f., vgl. S. 78. 85
a) Strabo XUI , 682. Vgl. Müller Hell. St. I, 477. ») Ausser
der Theilnahme -der Amyklaier an den Wanderungen ihrer Slammgenossen
nach Aigialos und Aiolis (Müller a. a. 0. IT, 91) gingen von derselben Ge-
gend folgende Colonlen ans: 4) unter Theras nach Thera, Her. IV, 445—
448, und die Kritik dieser Erzählung durch Müller I, 329 — 339 u. 353,
Mit dieser verbindet Herodot c. 48 die Auswanderung eines Theils der La-
konischen Minyer nach Triphylien als gleichzeitig, s. jedoch Müller I, 334.
360. 3) Unter Pollls, mit der Argivischen des Althaimenes verbunden,
nach ifelos und Gortyna: Conon narrat. 36. 47, vgl. Müller I, 347. Her-
mann, Griech. Staatsalterth. g. 30, Anm. 8. Dazu 3) der Abzug der Pha-
riten nnd Geronthraten , Paus. III, 3, 6. 33, 5 — den jedoch ein weiter
Abstand von der Gründung von Kroton (Hermann a. a. 0 80, 4 0) trennt.
4) Müller Hell. St. III, 48. _ _ •) I, 40: „out« 4wotiu?£*ta'w *o%£*>?...
*ara xu/umq Öe t<J> araX*cu<j> rJJ? Ek%aÖoq rqoxy otxt<r>*i<rij<;. So erscheint
noch Sparta bei dessen Verlheidigung durch Agesilaos gegen Epaminondas:
Plutarch. Ages. c. 34: „rot /ueo'a tiJc jrotaw? xau x'uqiwTOtTa rotg oxkircug
xtgtovitgoyievo?" und c. 33, als die Feinde den Fluss zu überschreiten
sich anschickten, um in die Stadt einzudringen: „txXitwv ra totara *qo<t-
rrotgato «oo xwv (u<r<av xcd -uij^Xwv". Polybius IX, 8. °) Müller
Hell. St. UI, 49 f. 454.
tit Die griechische Komenverfauung als Moment
nen abgesonderten Oertlicbkeiten Spartas, deren Namen auf uns
gelangt sind, derjenigen der eimefnen Phylen desselben mit rich-
ten entsprochen habe l). Denn zuvörderst ergiebt sich, dass die
ersteren grösstenteils in unmittelbarer Nabe der Pbyle and Korne
Pitana lagen *); anstatt dass z. B. die Phyle Limnai, als nqodmtwv*),
doch wohl als abgesondert, oder in grösserer Entfernung von 'den
übrigen gelegen, zu denken sein würde. Sowie nun aber Oinus,
ebenfalls in der Nähe von Pitana erst nach Lykurg entstanden sein
muss 4), so könnte* dieser Umstand vielleicht auf die Vermuthang
fähren, dass auch alle übrigen, unabhängig von den Namen der
Phylen uns aufbehaltenen Oertlicbkeiten Spartas, den Anwaebs der
spatern Zeit darstellten. Hiernach würden Limnai, Kynosura, Mesoa
und Pilana allerdings einmal das gesammle acntspartialische Ge-
biet vorgestellt haben •). Sollten aber nicht die spater entstande-
nen Orte unter dieser Voraussetzung zu einer benachbarten Phyle
geschlagen sein? Was nun diese letztere Vermuthung insbesondere
anlangt, so dürfte derjenige keine unbesiegbaren Zweifel gegen die-
selbe hegen, der die von Ortsst'ämmen oder Phylen ihrer Natur
nach unzertrennlichen, aus dieser im Verlaufe der Zeit sieb gleich-
sam von selbst ergebenden Abweichungen von dem ursprüngli-
chen Ebenmaasse derselben erwägt. Jene Vermuthung wird aber
insbesondere durch eine bestimmte Andeutung des Pausanias em-
pfohlen •). Umgekehrt dürfte der Lochos Pitanates kein genügen-
des Motiv zu deren Verwerfung enthalten *). Denn nach dem Zu-
sammenhange der Stelle, worin seiner gedacht wird 8), erscheint
dieser ungleich bedeutender, als was gewöhnlich unter einem Lo-
chos verstanden wurde. Ich schliesse daraus, dass seine Erwäh-
nung auf eine frühere Ordnung, als diejenige der Moren zu bezie-
hen sein dürfte •).
Wenden wir uns nun zu der Beantwortung der oben aufge-
worfenen Frage: worin eigentlich in Thukydides Zeitalter das cha-
racterislische Merkmal einer Korne im Verhältniss zu Polis gesetzt
worden sei? In Vergegenwärligung der Komen Spartas, so wie
diese in vorstehender Stelle- des Thukydides und auch sonst ge^
schildert werden, nehme ich keinen Anstand jene Frage dahin zu
beantworten: dass, wenngleich der Begriff solcher Orte als der be*
») Mans© Sparta I, 9, 48. *) Müller a. a. 0. Der Lage nach bei
Paus. III, 48, 4. cf. 4 vermuthlich auch Alpion. ») Str. VIII, 363. *) Plot.
lyc. 6. *) Paus. HI, 46, 6. Wacbsmutb Hell. Altert haltete, II, 4 S. SO.
•) lfl, 44, Ä. 7) Wachsmuth a. a. 0. •) Her. IX, 55 *q. ») Vgl:
Mutier Bell. St. 111, 338. 239, Anm. 6. Noch weit spater in der 8cblacbt
von Mantineia waren die Lochen absichtlich bis aum vierfachen verstärkt,
so dass sie einer Mors entsprachen, und deshalb auch von PoieoMtrcheo
anstatt von Lochagen befehligt wurden. Thuk, V, 68. 74. Müller a. a. O, 931,
der Entwicklung des Städteicesens im Alterthum. 63
zeichneten wesentlich darauf beruhte, dass sie unter sich politisch
zu einem Ganzen verbunden waren, nichts desloweniger ein jeder
derselben räumlich abgesondert für sich bestanden habe.
Jedoch die. angeführte Stelle des Thukydides besitzt für uns
zugleich noch eine allgemeinere Bedeutung als die entwickelte:
in wiefern sie uns die Veranlassung darbietet, den angedeuteten
Gesichtspunct zugleich in Rucksicht auf andere hellenische Völker
noch scharfer zu verfolgen.
Denn die durch die oben angezogenen Worte des Thukydides
„nach alter Weise der Hellenen " ausgedruckte Vergleicbung, be-
rechtigt uns gerade in umgekehrtem Verbaltnisse als Thukydides,
den in den verschiedenen Oertlicbkeiten Spartas abgespiegelten
Begriff der Komen, auf die ursprüngliche Verfassung des gesammten
Heilenischen Volkes rückwärts zu bezieben. So ahnen wir, wie oben
angedeutet, dass dio meisten Hellenischen Stämme ursprünglich in
einem entsprechenden oder doch ungefähr ähnlichen Verhältnisse
als die Spartiaten in mehre Ortschaften aufgelöst und getrennt
waren, bevor sie umgekehrt in Einem Orte vereinigt wurden.
Dass nun das Erstere keine blosse Hypothese sei, dies verbürgt
vor Allem das ausführliche Zeugniss des Strabo. Denn Strabo be-
richtet mit klaren Worten: „dass Elis so wie die meisten übrigen
Orte oder Landschaften des Peloponnes (tönot, jfotya*) aus einer
bestimmten Anzahl von Deinen, dasselbe was Komen, bestanden
hatten ". Er bemerkt nämlich: „dass aus diesen in der 6pätern
Zeit die berühmten Städte zusammengezogen worden seien"; von
welchen er als ausdrücklichen Beleg seiner Behauptung bei dieser
Gelegenheit nächst Elis noch das Beispiel von drei Arkadischen und
drei Achaiiscben Städten besonders heraushebt >). Dieser Angabe
des Strabo entspricht auch, was von ihm in einer andern Stelle
in Betreff der früheren Jonischen Bevölkerung des Aigialos im Ver-
gleich mit den Achaiern gemeldet wird *). Das ist auffallend, dass
Strabo die angeführte Behauptung mehr oder weniger auf die ge?
genannten Peloponnesischen Orte oder Landschaften zu beschränken
scheint. Denn er hebt Obiges gewissermassen als eine Eigentümlich-
keit der Letztern hervor. Indess erklärt, wenn ich nicht irre, schon
der bekannte, auch in unserer SteHe angedeutete Umstand (vGnqov),
dass die Eleier, die Arkader, und vielleicht auch die Achaier, die
M SU". VIII, 336 fin. sq.: „ HXiq öi 4 **>* *d**G jn> *« exwrro
aXkoxjq toxov? rcug xara IUXo^owt^ov xXyy oXtywv, o-uq iaxtiX$&v o
" et
cxTtcrav .
64 Die griechische Komerwerfaesung ah Moment
aUerthümliche Gewohnheit gesonderter Wohnsitze verglefchang3-
weise am längsten unter den Hellenischen Stämmen beibehielten,
in Betracht jener ersteren warum er dies that Was dagegen die
oben angeführte zweite Bemerkung des Strabo anlangt, dass die
Jonier des Aigialos in Komen gewohnt, die Achaier im GegenlheÜ
wirkliche Städte in dem später nach ihnen benannten Lande er-
baut hätten : so durfte sie entweder auf Rechnung eines dem vor-
her angedeuteten der Achaier und Spartiaten entsprechenden Ge-.
gensatzes der besiegten Jonier zu den eingedrungenen Achaiern1),
oder sonst eines eigentbümlichen Umstandes zu setzen sein.
Es dürfte nicht unpassend erscheinen, wenn wir die verschie-
denen Peloponnesischen .Völker und Landschaften, welche vorste-
hende Angaben betreffen, hier noch in genauere Betrachtung zie-
hen. Dazu fordert uns, um mit der letztem dieser Angaben zu
beginnen, schon der Widerspruch auf, in welchem die die genann-
ten Jonier betreffenden Angaben des Pausanias mit der vorherge-
henden Angabe des Strabo zu stehen scheinen.
Jonier.
Denn Pausanias erblickt nicht nur schon in den zwölf Theilen
(fiiqri3fjL(qfa), in welche, sowie nach seinem eigenen, so auch nach
Sirabos1) und Herodots •) Zeugnissen, die Jonier bereits in ihrer ur-
sprünglichen Heimath eingetheilt waren, die zwölf Städte des nach-
maligen Achaja4). Sondern er berichtet sogar, lange bevor die
Achaier sich des nach ihnen benannten Landes bemeisterten, von
einem einzelnen Bezirke desselben: „dass Eumelos, welcher diesen
zuerst bewohnt und beherrscht habe, nachdem er durch Triptotemos,
welcher aus Attika eben dahin gekommen sei, in den Künsten des
Feldbaues und Städtebauens unterwiesen worden, mit Hülfe des
Letztern in jenem drei Städte des Namens: Aroa, Antheia und Me-
satis erbaut habe •). — Doch die zusammenhängende Würdigung sei-
nes Berichts, insoweit als dieser den angedeuteten Bezirk insbe-
sondere betrifft, gestattet uns einerseits den positiven Inhalt vor-
stehender Ueberlieferung von dem Gewand der Sage, womit der-
selbe umkleidet ist, vollständig zu sondern. Andrerseits dürften
wir dadurch zugleich in den Stand gesetzt werden, sowohl die ab*
weichenden Angaben beider Schriftsteller unter sich zu vereinigen,
als auch unsere in dem Bisherigen enthaltenen Voraussetzungen
zu bekräftigen.
Pausanias fährt nämlich weiterhin fort: „die Ionier, welche
vorbenannte drei Städte inne gehabt, hätten ein gemeinschaftliches
i) Vgl. Müller III, 74. ») VIII, 383. *) I, 445. *) Paus. VII,
6, 4. •) VII, 48, *.
der Entwicklung des Städtewesens im Alterthum. SS
Heiligthum besessen , welches in der Nähe des späteren Patrat be-
legen '), der Artemis mit dem offenbar auf diese Gemeinschaft
deutenden Beinamen der Triklaria gewidmet war. Bei diesem
hätten die Ersteren alljährlich ein gemeinschaftliches Fest zu Eh-
ren der Artemis gefeiert" a). Obwohl aber dieses Fest durch ein
der ionischen Periode gleichzeitiges Ereigniss eine ModiÖcation
erlitt *) , so erhielt es sich unter der angegebenen Modißcation
nichtsdestoweniger noch bis auf Pausanias Zeit herab 4). Die Bild-
nisse des Dionysos, welche ein Tempelchen in Palrai selbst ent-
hielt, und welche den vormaligen ionischen Städten sowohl ihrer
Zahl als Benennung nach entsprachen: Aroeus, Antheus und
Bf esaleus, dienten ebenfalls noch zu Pausanias Zeit als Beleg der
wechselseitigen Gemeinschaft, durch welche diese drei ionischen
Städte in einer früheren Epoche mit einander verbunden gewesen
waren *).
Was nun zunächst den Zeitpunct anlangt, in welchen die en-
gere Verbindung der gedachten Orte, ein jeder derselben als
abgesondert, zu setzen sein durfte: so könnte vielleicht darin,
dass diese in der von Pausanias mitgelheilten , an die O ert-
lichkeit von Patrai geknüpften Ueberlieferung, als ein von Ursprung
abgeschlossenes und gleichsam für sich bestehendes Gebiet aufge-
fasst werden, eine Rückspiegelung späterer Verhältnisse vorliegen.
Denn Pausanias selbst ist nicht allein weit entfernt, das angedeutete
Gebiet den zwölf Theilen beizuzählen, in welche sowie das frühere
lonien, so das spätere Achaia ihmzufolge zerßelen. Sondern er
sieht gerade in jenem, nach den von obigen blos örtlichen Traditio-
nen unabhängigen Berichten, ein vom letzteren abgerissenes Stück
Landes. Er erzählt nämlich: die Achaier hätten dasselbe dem
Preugenes, sowie dessen Sohne Palreus, welche vielleicht als Füh-
rer einer erst später vor dem Andrang der Dorier sich ablösenden
Abtheilung der in ihrer ursprünglichen Heimath in den Nomos
Amyklaios zurückgedrängten Achaier aufzufassen sein dürften, zum
Wohnsitze und zur Herrschaft angewiesen e). — Nichtsdestoweni-
*) VII, 22, 7. *) Vif, c. 4 9. •) L. 1. g. 3. ♦) VH, 30 pr#
*) VII, 24, 2. •) Paus. VII, 6, 4. 2. III, 2. 4. vgl. VII, 48,4. 2, 3. 4.
Dies wird übrigens nicht dadurch widerlegt, dass Herodol in der ange-
führten Stelle Patrai wirklich unter den zwölf Theilen aufzählt. Denn das
Verzeichniss dieser Theile bei Herodot umfasst die Zahl der zwölf achol-
ischen Städte im Zeitalter des Herodot. Dasselbe beruht auf der umge-
kehrten Voraussetzung: dass die ionischen mit diesen eins gewesen seien,
wie Pausanias die achaiischen mit den von ihm aufgezählten ionischen
als identisch betrachtet. Da nun die Grundzahl zwölf unabänderlich fest«
stand* (vgl. Nieb. Rom. Gesch. II, 23.), so erklärt sich daraus, dass Herodot
auf die spätere Entstehung von Patrai, das an die Stelle von Keryneia ge-
treten sein mnss, keine Rücksicht nimmt.
Z«iUckri(l f. Gwekicktow. IT. 184». 5
66 Die griechische Komencerfaaung ah Moment
ger bleibt soviel gewiss, dass jene drei Städte wirklich einmal ab-
gesondert von einander bestanden haben müssen. Denn eben der
erwähnte Patreas zog sie in eine einzige zusammen, welche er
nach seinem Namen Patrai benannte '). Die durch die vorherge-
dachten Umstände bezeugte politische und religiöse Gemeinschaft
derselben würde daher bloss mit Rücksicht auf die, ihrer Vereini-
gung durch Patreus unmittelbar vorhergehende, Epoche als hin*
länglich verbürgt erachtet werden können.
Hiernach scheint als erwiesen angenommen werden zu dür-
fen: dass die ionische Bevölkerung eines in sich verbundenen,
und zugleich in sich abgeschlossenen Theils von Aigialos in drei
von einander getrennten Ortschaften gewohnt habe; anstatt dass
die nach jener diesen Theil beherrschenden Achaier in eine
einzige zusammengezogen wurden. Denn die gemeinsame Ver-
ehrung der Artemis von Seiten der drei Städte an einem Orte, —
vielleicht nach Gewohnheit der Griechen da, wo dieselben zusam-
menstiessen, jedesfalls ausserhalb Aroa gelegen; — noch mehr
die Verkettung der Ereignisse, durch welche die Form ihrer Ver-
ehrung und die von Pausanias hervorgehobene Modification der
letzteren bedingt wurden, und welche ebenfalls die Bewohner der
drei Städte als zu gemeinsamen Widmungen verbunden darstellt,
berechtigen uns einerseits diese als ein Volk oder als Gesammtheit
aufzufassen. Andrerseits wird der in sich abgeschlossene Bestand
einer jeden dieser drei Städte durch den Namen der dreige-
th eilten Artemis, wie durch das dreifache Bildniss des Dionysos,
mit welchem das Tempelchen dieses Gottes geschmückt war,
ausgedrückt.
Setzen wir nun der obenangeführten Stelle des Thukjrdides
zufolge den Unterschied von Korne und Polis in den in Vorstehen«
dem entwickelten zwiefachen Gesichtspunct, so würde daraus her-
vorgehen, dass insofern als das erstere Motiv auf vorgedachte
ionische Städte Anwendung leide, diese dem Begriffe der Komen
entsprachen *); sowie dass die Behauptung des Strabo: die Ionier
hätten in Komen gewohnt, nichts anderes besage als was hier an-
gedeutet. Daraus ergiebt sich also, dass jene drei ionischen Städte,
aus welchen Pausanias das achaische Patrai erwachsen lässt, nichts
anders denn als die Komen aufzufassen seien, in welchen der Be-
hauptung des Strabo zufolge die Ionier gelebt haben sollen. Der
Umstand dagegen, dass Pausanias, welcher doch in der Gegenwart
beide Gassen von Ortschaften mit fast nie fehlgreifendem Takte
') Paus. VII, 48, 3. Daher ,'A^ Tgtrogyoc" Sibylle nach Etymo-
logicum magnum v. 'Agoq.
3) S. das Etymologicum magnum L 1. Müller Hell. St. II, 374. Anm. 8.
der Entwicklung des Städtewesens m Alterthum. 67
unterscheidet, die angeführten durch Städte bezeichnet, beweist
nur soviel, dass auch er, was Sage und ursprüngliche Geschichte
anlangt, nichtsdestoweniger dem schon früher angedeuteten Ge-
brauch huldigte, welcher bis tief in die geschichtliche Epoche je-
den für sich bestehenden Ort durch Potis bezeichnete.
Sowie nun die innigere Verschmelzung aller einzelnen Ele-
mente des Staates in dem Alterthum häufig zugleich durch eine
neue Eintheilung des Volks begleitet wurde, und z. fi. die Bevöl-
kerung von Tegea, welches aus neun Komen zusammengefügt
wurde '), später in vierPhylen eingelheilt worden ist: also weihete
hier eine jede der letzteren dem Apollon Agyieus ein Bildniss,
welches den Namen derselben führte *). „Die vielen Altäre" in der
nach dem Zeus Klarios benannten Stadtgegend von Tegea, dürften
dagegen das Gedächtniss der ehemaligen Komen, sowie das bei
ersteren begangene Fest, dasjenige ihrer Vereinigung vergegen-
wärtigen J).
Wir fassen nun die in der ersteren Stelle des Strabo hervor-
gehobenen peloponnesischen Völker der Reihe nach noch etwas
schärfer ins Auge, in der Absicht, das von ihnen dort Gemeldete
hier ebenfalls einer noch mehr in das Einzelne eingehenden Un-
tersuchung zu unterwerfen.
E 1 e i e r.
Schon Oxylos bewog die Bewohner der Elis zunächst liegen-
den Komen in diesen Ort zu ziehen4). Sowie aber dieser Um-
stand die Thatsache nicht ausschliesst, dass die Eleier auch noch
später in viele Demen getrennt blieben, so genügt dies zur Erklä-
rung, weshalb Strabo die Erweiterung durch Oxylos gar nicht als
identisch mit der Erbauung von Elis betrachtete, sondern diese
vielmehr erst nach dem Persischen Kriege, oder Ol. 77, 2.
ansetzte.
Denn mit Rücksicht auf diesen Zeitpunct berichtet derselbe:
„die Eleier seien aus vielen Demen in die nachmalige Stadt Elis
zusammengezogen, und so diese aus den umliegenden Orten gleich-
sam als Inbegriff derselben zusammengefügt worden" '). Folgen-
der Umstand verleiht diesen Worten des Strabo einen besondern
Nackdruck, welcher den meisten ähnlichen Angaben fehlt Strabo
bemerkt nämlich von mehreren Ortschaften des Eleiiscben Gebiets,
*) Str. VH, 337 pn Paus. VIII, 45, 4. *) Paus. VIII, 53, 3.
•) Paus. VIH, 53, 4. _ 4) Paus. V, 4,^4. •) Sjr. 1. 1. p» 33«:
•i . . . otye 6e *ot« <rw»>*>ov tiq vqv wv xofriv tijv HXtv- furo, xct
rUgcnxa e« xoXikuv ÖryuMv" und 337 pr. „out« ßi «at i\ Wwq **
ruv xtqiocx.iöwv <rwticd)iii<r$n fua tovtwv".
5*
68 Die griechische Komenterfa$$ung als Moment
als Buprasion, Hypana: dass sie zu Elis Erbauung mit verwandt
worden seien. Er deutet zugleich an: dies sei der Grund, weshalb
jene Ortschaften jetzt nicht mehr beständen »).
Die Vergleichung vorstehender Stelle des Strabo mit der das
nämliche Ereigniss betreffenden Angabe des Diodor, sowie mit
noch zwei andern Stellen des Pausanias wie des Strabo selbst enthalt
jedoch noch einen neuen Beleg zu dem schon früher hervorgeho-
benen. Denn es wiederholt sich in Betreff dieser sämmtlichen An-
gaben die vorausgesandte Bemerkung: dass das hellenische Alter-
thum sämmtlichen in diesem bereits vorhandenen Ortschaften, in
denen ein staatskundiger Schriftsteller der spätem Zeit wie Strabo
natürlich in den meisten Fällen nur Komen oder Demen erblicken
konnte, nichts destoweniger durch Städte bezeichnete.
Diodor berichtet nämlich: „dass die Eleicr bis zu deren Zu-
sammenzieht! Dg in dem Einen Orte Elis mehre und kleine Städte
bewohnt hätten *)". Das Letztere ist aber eine Umschreibung, an-
statt deren Diodor an andern Orten, so gut als Thukydides oder
Xenophon und Strabo oder Pausanias, sich ebeufalls der Bezeich-
nung „Komen" bedienten3).
Eine entsprechende Bewandniss dürfte es mit der unstreitig
jene ältere Periode betreffenden Angabe des Pausanias besitzen:
„dass Eleia einst sechzehn Städte gezählt habe4)". Denn dass diese
sechzehn Städte ihrem Begriffe nach nichts anderes gewesen seien
als Demen, erhellt schon daraus, dass Pausanias die Benennung
Demos in Beziehung auf eine dieser sechzehn Städte wirklich an-
wendet. Er erzählt nämlich von ihnen : sie hätten zusammen sech-
zehn Frauen erwählt. Physkoa, eine der letztern war jedoch sei-
ner Angabe zufolge aus dem Demos Ortliia «)• Folglich war die-
ser identisch mit einer jener sechzehn Städte. Aus Pausanias Dar*
Stellung ergiebt sich ferner, dass von den erwähnten sechzehn
Städten acht auf das hohle oder eigentliche Elis, und eben so viele
auf Pisatis kamen 6). Derjenigen der Pisatis gedenkt auch Strabo T),
welcher sie jedoch im Widerspruch mit seiner gewöhnlichen Auf-
fassung hier ebenfalls durch Städte bezeichnet, ohne Zweifel, weil
es sich hier von einer Periode bandelte, in welcher sie wirklich
diesen Namen führten.
Ich hoffe weiterhin überzeugend dartbun zu können, weshalb
unter den „vielen Demen", aus welchen nach den Worten des
') L. 1. p.^ 340. 344. ^ *) XI, 54 pr. ,,'HXetpt tiiv xXnovc «o* /u-
*gaf grata*? oixoxrvTtq elq fuav <ruvyxla$vi<Tav Tipv ovofUxZofitvqv HXtv."
-) II, 38. XV, 73 Bn. *) V, 4 6, 4. 5. «) V, 46, 5. •) Vgl. be-
sonders C. 0. Müller: die Phylen von Elis und Pisa, Rhein. Mus. f. Philol.
II, 2, 4834. S. 473. Anna. 6. T) VUI, 356. 357 pr.
der Entwicklung des Städtewesens im Alterthum. 69
Strabo clas spätere Elis zusammengefügt wurde, jene sechzehn
Städte nicht verstanden werden dürften, obgleich schon angedeu-
tet ist, dass zu dessen Erbauung nicht blos Ortschaften des
hohlen oder eigentlichen Elis wio Buprasion , sondern auch
pisalische oder triphylische Orte gleich Hypana verwandt worden
seien. Je genauer daher die angezogene Stelle des Strabo heraus-
hebt, aus wie viel Demen eine jede der übrigen, im Fortgange der-
selben von ihm namentlich angeführten Städte zusammengezogen
worden seien, um desto mehr müssen wir beklagen, dass sie die
Anzahl der zu Elis Erbauung verwandten Demen überall nicht ge-
nauer angiebt.
A r k a der.
Die Arkader zerfielen gleich den Eleiern in eine grosse Anzah'
von abgesonderten Ortschaften. Dies folgt schon aus der Genea-
logie, welche die Gründung der meisten Ortschaften Arkadiens den
Abkömmlingen des Pelasgos zuschreibt ').
Arkas, Urenkel des Pelasgos, soll das Land unter seine Söhne
getheilt, .und diese sollen drei Reiche gestiftet haben, weiche spä-
ter in ein einziges zusammenflössen *). Allein die Angaben hier-
über lassen sich nicht von dem sie umhüllenden Gewände der
Sage trennen1). Wie unsicher sie sind, lässt sich schon daraus
abnehmen, dass Aristokrates , der letzte jener vermeinten Könige
von ganz Arkadien, zugleich die erste geschichtliche Person der
arkadischen Geschichte 4, von Strabo König von Orchomenos ge-
nannt wird *. Ferner, dass obgleich nach einigen die Arkader zur
Strafe des durch jenen in dem zweiten messenischen Kriege ver-
übten Verraths sein Geschlecht der königlichen Würde entsetzt
haben sollen 6) , andere Schriftsteller dasselbe noch später über
Orchomenos herrschen lassen 7).
Wie dem nun auch gewesen sein möge, so deuten doch alle
■) Paus. VIII, 2 sq. Apollodor HI, 8, 4. Hermann Gr. Staatsalterth.
§. 4 7. Anm.* 3. *) Paus. VJII, 4 sq. Apoll. III, 9, 4. Azania nach dem
ältesten der Söhne benannt, hatte 47 Städte, Steph. Byz. v. 'Aiavla. Das
Reich des Apheidas fiel in der Folge den Nachkommen des Elatos zu.
Paus. VIII, 5. 3. Vergl. Her. VI, 427. ») Ganz ungenügend sind Kor-
tüms Yermuthungen über diesen Gegenstand. Hell. Staatsverfassungen. S.
456—463. Vgl. dagegen z. B. C. O. Müller, Hell. St. III, 449 Ende 450.
4) Paus. VIII, 5? 9. IV, 47, 2, 4. Plutarch de sera nura. vind. Vol. VIII,
p. 469 ed. Reiske. Heraklides Ponticus b. Diog. Laert. I, 94^ „a%zöov
*a<njs 'Aqxaöiaq äxfalav". *) VIII, 362 „tov'Oqxo/luvo-G ßaertkea".
•} Pausan. VIII, 5, 9. IV, 22, 3. 4. Polyb. IV, 33. 7) Herakl. Pont. 1. 1.
Plutarch parallel. Vol. VII, p. 243 ed. Reiske. Vgl. C. 0. Müller Aegi-
netica p. 65. Hell. St. II, 450. Hier war auch das Grabmal des altern
Aristokrates, eines Vorfahren des obengedachten. Pausan. VIII, 4 3, 4.
70 Die griechische Komeneerfa$sung ab Moment
sichern historischen Ueberliefernngen über einzelne Orte der Ar
kader darauf hin, dass diese von dem Augenblicke , da sie in dia
Geschichte eintreten, in sich völlig selbstständig bestanden ft). Und
daraus lasst sich schliessen, dass das Band, welches diese Orte in
der Urzeit vereinigte, ebenfalls nur schwach gewesen sein dürfte.
Aber ihre Selbstständigkeit hatte noch einen ganz andern Nach-
druck als die der einzelnen Deinen der Eleier. Elis Vertrag mit
Heraia *) bezeugt nämlich auf der einen Seite, dass die Gesammt«
heit der Eleier darüber wachte, dass kein. „Damos" von den Be-
schlüssen derselben abtrünnig würde. Auf der andern jedoch, dass
schon einer einzelnen Ortschaft der Arkader für sich betrachtet
das Recht der Selbstbestimmung zustand. Ich glaube nun durch
die Analogie beweisen zu können, dass nicht wenigeren, ja noch
mehren der letztern Orte, als obige Genealogie deren angiebt,
die gleichen Befugnisse mit Heraia beigewohnt haben.
Es wird nämlich von mehreren und gerade den unbedeutend-
sten *) unter sämmtlichen Orten der Arkader ausdrücklich hervorgeho-
ben, dass die Bürger derselben bei den delphischen und olympischen
Spielen so wenig unter einer andern Bezeichnung vom «Herolde
als Sieger ausgerufen, als auch in die von den Bleiern geführten
Verzeichnisse der olympischen Sieger 4) eingeschrieben worden
seien, als unter derjenigen ihres Heimathsortes s). Dies aber wurde
gerade bei den Hellenen als das untrüglichste Merkmal beides städ-
tischer Würde und politischer Selbstständigkeit angesehen, sowie
das entgegengesetzte Verfahren als Beweis des Mangels derselben •).
Und da nun äussere Selbstständigkeit die Grundbedingung des Be-
griffs Stadt bildete, so gab dies dazu Veranlassung, dass ein jeder
dieser unabhängigen Orte der Arkader selbst Stadt, Polis, benannt
wurde.
Daraus ergiebt sich also, dass die Gesammtheit der Arkader
nicht nur eineF innigeren Verschmelzung, wie sie nach der Auf-
fassung der Griechen von städtischer Concentration als unzertrenn-
lich sich darstellte, sondern auch eines jedweden einzelnen Ort
überwachenden, alle gemeinschaftlich verknüpfenden Vereins, wie
der der Eleier, ermangelte. Und dieser Umstand kann zur
') Ueberhaupt Her. VI, 74. IX, 28. 77. Pausan. IV, 47, S: „'AqW-
öutv ßsßori&nxoTuv a*o xacrwv tu* aroXfwv". Tegea, welches schon in
dem Kriege des Charillos als selbständig erscheiut, Paus. VIII, 5. 6. 48, 3.
111, 7, 3, blieb auch spater in dem zweiten messenischen Kriege von den
übrigen getrennt. Plutarch quaest. gr. Vol. VII, p. 473 ed. Reiske. Ueber
Phigalea und Oresthasion vergl. Paus. VIII, 39, 8. a) S. Böckh Ines,
inscr. p. 31. ') Paus. VI, 4*, 3. 4) Paus. III, 94, 4 An. V, 4, 4 fin.
$4, 6. VI, S, 4. 89, 9. X, 36, 4. 4) Paus. VIII, 48, 3. 36, 4. VI, 7, 3.
•) Paus. V, 6, 3.
der Entwicklung des Städtewesens im Alterthum. 71
geschichtlichen Motivirung der Thatsache dienen, dass die Arkader
anderen hellenischen Stämmen gegenüber in comparativer Schwache
erscheinen.
Nichts destoweniger entwickelte sich aus der Gesammtheit der
Arkader eine Anzahl von staatsbürgerlichen Vereinen untergeord-
neter Art. Das Merkwürdige ist aber, dass in Rücksicht auf die
Bedingungen ihrer innern Zusammensetzung wie äusseren Macbt-
entfaltung, unter diesen Vereinen ein Gegensatz obwaltete,, ent-
sprechend dem angedeuteten der Arkader zu anderen helleni-
schen Stämmen.
Wir treffen nämlich unter ihnen ebensowohl solche an, in
denen einem einzelnen Orte die ausschliessende Leitung aller übri-
gen zum Vereine gehörigen Ortschaften an sich zu reissen und
diese mit sich zu verschmelzen gelang, als auch solche, in denen
ein jeder der dazu gehörigen Orte zu den andern in dem Verhält-
nisse völliger Gleichheit stand. Die Wirkung dieses Unterschiedes
zeigte sich eines Theils darin: die ersteren erhoben sich nach
dem Vorgange anderer hellenischen Stämme, rücksichtlich deren
eine ähnliche Concentration staltgefunden hatte, in Folge derselben
ebenso zu nachhaltiger Kraft, als zu einem überwiegenden Ein-
flüsse in Beziehung auf die übrigen untergeordneten Vereine der
Arkader. Die entgegengesetzte Wirkung trat anderen Theils bei
denen hervor, welche, weil sie schon von Ursprung die Schwäch-
sten1), sich freiwillig desto enger einander anschlössen. Denn
das Gewicht dieser letzteren Orte ist überall dadurch nur wenig
vermehrt worden, dass sie Gauverbindungen mit gleichem Recht
unter sich eingingen.
Die in der obenangezogenen Stelle des Strabo namentlich auf-
geführten arkadischen Städte Mantineia, Tegea und Heraia ent-
halten das Beispiel solcher kleinen staatsbürgerlichen Vereine, auf
welche die ersterejVerbindung Anwendung leidet *). Mantineia ge-
bot vier oder fünf Demen, deren Vereinigung mit jenem dieser
Stelle zufolge die Argeier, unstreitig erst nachdem sie bei sich ähn-
liches vorgenommen hatten, d h. nach dem persischen Kriege be-
wirkten a). ©
Tegea, der uralte Sitz des von Apheidas gegründeten Reichs4)
') »rag öi J| ogxij? v*o d<T$£vuaq atpavtarsQaq", wie sie von
Pausanias (VI, 49, 3) bezeichnet werden. a) VUI, 336: „otov r^q 'Aj-
vtaölaq Mcurtvcta fxsv ix. *«'«*« Syuwv *u* Agya'wv awyiua&ti ' Teyta
ös *4 ivvea ' in Tocotrrwv St otat Hqala twro KX*Jeo/h/3qoto*u if xnco K*#eww-
tu>v". •) C. 0. Müller Bell. St. III, 70. «) Paus. VIII, 4, 3. 5. Die Spu-
ren der Genealogie verweisen namentlich auf Mantineia, VIII, 8, 3, Alea 33
pr., Kapnyai 35, 3. als dazu gehörig.
72 Die griechische Komenverfassung nh Moment
stand später an der Spitze von acht Deinen, welche es ungewiss
wann, doch vermuthlich schoa sehr früh, in sich hineinzog •).
Eine Verbindung von neun Demen erkannte Heraia als Haupt
an, welches noch Olymp. 101, 2 als Akropolis bezeichnet wird *).
Da es gewöhnlich der lakedämonischen > wie Mantineia der argeii-
schen Politik folgte, so würde es sich dadurch erklären, dass die
Zusammenziehung seiner Demen durch den Sparliatischen König
Kleombrotos (+ Ol. 102, 2) oder Kleonymos (Kleomenes? Ol. 102,
3) bewirkt worden sei *).
Die Beispiele der Orte dieser Kategorie beschränken sich je-
doch mit nichten auf die von Strabo hervorgehobenen. Im Ge-
gen theil, .wenn es erlaubt ist aus den blos gelegentlichen Erwäh-
nungen der Komen von Pheneos4), Kaphyai und Kleitor*), Tbel-
pusa 6), Phigalea 7), einen allgemeinen Schluss zu ziehen: so wur-
den fast alle selbständigen Orte des nordwestlichen] Arkadiens, des
alten Azaniens, als eben solche Verbindungen von Deinen aufzu-
fassen sein, wie die von Strabo angeführten •); wie wir denn auch
von Heraia fast blos durch Strabo wissen, dass es eigentlich einer
Verbindung von Demen den Namen gegeben habe. Es verdient
jedoch in dieser Beziehung noch besonders hervorgehoben zu wer-
den, dass nur derjenige Ort, welcher einer jeden dieser Verbin-
dungen den Namen gegeben, durch die Zurückführung auf einen
der Abkömmlinge des Pelasgos zugleich als uralt ausgezeichnet
ward. Daher die Demen aller dieser Orte, wo sie auch nicht so
wie die Heraias uns sogar dem Namen nach völlig unbe-
kannt sind, doch als erst später entstanden aufzufassen sein dürf-
ten. Orchomenos gewährte im Gegensalze hierzu, wo nicht das
einzige, doch das characteristischste Beispiel eines arkadischen Orts,
zu welchem noch andere und jenem ursprünglich völlig gleichste-
hende Orte der Arkader nichts destoweniger schon früh in eine
Stellung geriethen , welche der der Komen oder Demen der
von Strabo hervorgehobenen mehr oder weniger entsprochen ha-
ben dürfte 9). In ähnlicher Weise gerieth schon früh Nonakris in
Abhängigkeit von Pheneos * °). Melaineai fiel an Heraia ■ ' ), und wie-
wohl sehr spät^isoi an Kleitor1*).
Ich gehe auf den südöstlichen Theil Arkadiens über. Die in
») Müller a. a. O. >) Diodor XV. 40. ») Vgl. Böckh thes. inscr.
p. 27. «) Paus. VIII, 4 3, 5. 19, 3. Müller III, 440. a) Paus. VIII, 23, 2, 5. 6.
6) 25,1. 7) 30, 2, vgl. 4 4,5. •) Als mehr isollrt stehend betrachte ich
Lusoi, Paus. VIII, 48, 3, Nonakris 4 7, 5, Kynaitha 40, Melaineai 26, 5 u. V, 7, 4.
Stymphalos und das von O. Müller übersehene Aiea, Paus, VIII, 23, 4.
•) Paus. VIII, 27, 3. 5. Vgl. 3, 4. 4 3, 4. 28, 3. 36, 4. 38, 3. *•) Anm.
8. Conon narrat. 45. Vgl. Kanne p. 96. Callim. fr. 75, 32. C. O.Müller
III, 440. «■) Anm. 8. la) Anm. 8. Polyb. IV, 48. 2» 4. IX. 34, 9.
J
der Entwicklung des Städtewesens im Alterthum. 73
demselben enthaltenen Ortschaften entsprachen zwar ebenfalls de-
nen der vorhergehenden Kategorie, insofern als eine jede der-
selben eigentlich ein Gemeinwesen für sich bildete, dessen Grün-
dung gleich den voriiergenannten auf unvordenkliche Zeiten zu-
rückgeführt, somit einem der Abkömmlinge des Pelasgos zugeschrie-
ben ward. Weil aber die in diesem Theile Arkadiens gelegenen
Orte so zahlreich waren, dass sie nur in geringerer Entfernung an
einander grenzten, so kommt auch die Erwähnung von Komen
derselben nur spärlich vor« Wir treffen eine solche fast blos in
der Orestis und in der Kromitis an ').
Ich vermuthe, dass der angeführte Umstand zugleich die Ver-
anlassung enthalt, dass die zuletzt bezeichneten Orte nach gewis-
ses Bezirken schon vor Alters 9) Bündnisse mit gleichen Rechte
urter sich schlössen. Jene sind daher zugleich als Mitglieder die-
sei Verbindungen aufzufassen. Denn gleichwie in der Geschichte
unserer Alpengegenden und der an diese angrenzende Lander die
einzelnen Orte gewöhnlich unter der allgemeinen Bezeichnung von
Gaien zusammengefasst werden, deren Ursprung sich in das Al-
tern um verliert, deren Name und Bedeutung, ausser wo diese
durch ein bezeichnendes Merkmal der Natur bedingt sind, dem
Femestebenden sogar unter uns dunkel bleibt: so tauchen auch
die Namen der Orte des südöstlichen Arkadiens in den unifassen*
deren Bezeichnungen der Gaugenossenschaften der Mainalier, Parrha-
sier Eutresier, Kynurier, Aipytier, unter3). Als Beleg dienen: der
Schbchthaufen der Mainalier in dem Peloponnesiscben Heere 4);
die Bezeichnung olympischer Sieger u. a. m. auf Inschriften sowie
im alltäglichen Leben als Mainalier, Parrhasier u. s. w. •),• endlich
die Xnwenduug der Namen dieser Verbindungen selbst in der Be-
deutung als Landschaften 6).
Iasofern als nun s'ämmtliche zu einer jeden dieser Verbindun-
gen gehörigen Ortschaften in dieser Beziehung als Theile eines
grössern Ganzen sich darstellen, so würde es sich daraus erklären,
dass sie von den späteren Griechen mit dem Namen „Komen"
bezeichnet werden; wie dies unter andern in einer schon früher
i) Thuk. IV, 434. Paus. VIII, 34, 3. Vgl. noch 35, 7, 8, 38. *) II. II,
408. •) Haupistelle: Paus. VIII, 27, 3. 4) Thuk. V. 67. ») Paus.
V, 26, 5. 27, 4. 4. VI, 6, 4. 8, 2. 3. 9, 4. 8) Thuk. V. 64. Xen.
bist, gr. VII, 4, 28. 29. Am bezeichnendsten ist „i% MouvdXov" statt
Tijs Mouvaktwv %<Jt%ctq" (Paus. VI, 7, 3). Dies war nämlich der Name
eines Berges (Paus. VIII, 36, 5), und zugleich einer ehemaligen Stadt (VIII,
3, 4 fin. 36, 5). Ei wird aber ebenso wie in unserer Sprache die ent-
sprechenden Formen „vom Harz, Rhein", oder der schon von Luther ge-
brauchte Ausdruck: „Rheinländer" in der Bedeutung als Landschaft ge-
braucht. Paus. V, 27, 4. VI, 6, 4, 8, 3; es wäre denn, dass in letzterer
Stelle die Stadt zu verstehen sei.
74 Die griechische Komenverfassung ah Moment
von mir angezogenen Stelle des Diodor geschieht '). Ja dieser Um*
stand gab unstreitig dazu Veranlrssung, dass die spatem Griechen
den Begriff der Komen, d. h., der in eine Menge von selbststandi-
gen Ortschaften getrennten Verfassung an den Stamm der Arka-
der speciell knüpften *). Und wie nun schon bei dem Namen
der Tyroler, ohne an die Städte dieses Landes zu denken, das Cha-
rakterbild seiner Landbevölkerung vor unsern Geist tritt., in ähn-
licher Art wotifate auch bei den Griechen dem Begriffe der Komen
die Beziehung auf das Ländliche, Bäuerliche bei. Denn obwohl
diese Parallele keine vollständige ist, indem die Städte der Alten
nicht minder als die Komen auf den Betrieb der Landwirtschaft
gegründet waren, so ist doch gewiss, dass das Leben in den Ko-
men im Vergleich mit den Städten, auch von den Griechen als
um desto geeigneter für den Betrieb der Landwirtschaft betrach-
tet wurde, je näher natürlich die Eigenthümer selbst in dem er-
steren Falle ihren Landgütern, welche sie in den Komen besassen,
wohnten *).
Die Geschichte keines andern Volkes als die der Griechen,
und unter diesen wieder der Arkader insbesondere , belegt
wohl mit bedeutenderen Zügen, dass der Grad der politischen Knt-
wickelung eines Volkes auf dem Princip der Centralisation , der
Unterordnung des einzelnen Theils unter das Ganze, beruhe; hin-
gegen Schwäche, politische Unmündigkeit, wie gehemmte Entwik-
kelung durch den Gegensatz beider nothwendig bedingt seien. Denn
keinem andern Grunde als dem Mangel der Centralisation, wie der
auf einen Zweck gerichteteten vorörtlichen Leitung bei den Par-
rhasiern u. a. kann es zugeschrieben werden, dass die Manlineier,
ungeachtet diese blos fünf Komen zählten, jene ihrer Herrschaft zu
unterwerfen im Stande waren 4).
Als das Resultat dieser Untersuchung ergiebt sich, dass die Orte
des nordwestlichen Arkadiens wahrscheinlich in entsprechender
Weise, wie die von Strabo hervorgehobenen, je aus eines bestimm-
ten Anzahl von Demen bestanden; die südöstlichen hingegen als
Demen aufzufassen seien, weil sie unter sich Verbindungen schlös-
sen, deren jede eine politische Gesammtheit darstellte, und daher
aus diesem Gesichtspuncte mit den Orten der vorhergebenden Ka-
tegorie von uns auf gleiche Stufe gestellt werden dürfte. — Dies
war der Grund, dass die nämlichen Orte, von welchen zuerst aus
Päusanias nachgewiesen worden ist, dass sie mit Rücksicht auf die
ihnen beiwohnende Befugniss der Selbstbestimmung des Titels de/
M XV, 72 An. •) Aristot. Polit. II, 4,5. •) Vgl, Xenoph. bist,
gr. V, 2, 7. Paus. VII, 48, 5. «) Ttouk. V, 29, 33, 84. Nicht die
Mainalier, Thuk. V, 67. C. 0. Müller 111, 449.
der Entwicklung des Städtetcesens im Alterthum. 75
Städte gewürdigt worden seien, nichtsdestoweniger Komen benannt
worden sind, inwiefern sie als Mitglieder jener Verbindungen auf-
gefassJburden; — nach dem nämlichen Grundsatze, nach welchem
die ionischen Städte, von welchen früher die Rede war, von Strabo
Komen benannt sind.
A c h a i e r.
Sowie alles öffentliche Wesen auf dem Recht und der dasselbe
verborgenden Gewalt beruht, so ist die Concentration beider an
Einem Orte ein Symbol der Zusammenziehung des gesammten
Volks, und bildet daher schon an sich, indem sie die Vereinigung
des Volks sinnbildlich darstellt, einen Gegensatz zu örtlicher Zer-
splitterung. So genügte es schon zur Erfüllung des Begriffs einer
Stadt, wenn das Recht und die öffentliche Gewalt aller übrigen
Orte auf einen einzigen übertragen wurden.
Auf diese Weise vereinigt man wohl am besten die Angabe
des Strabo: ein jeder der zwölf achahschen Theile (fiigrj, (leqtdeg1)
sei so volkreich gewesen, dass er aus sieben oder acht Demen be-
standen habe *); — mit der ihr unmittelbar vorhergebenden Angabe
desselben Schriftstellers: die Ionier halten in Komen gewohnt, die
Achaier hingegen Städte gebaut •). Denn wenn die Einnahme des
A ig ial os durch die Achaier auch nur die vorherangedeutete Folge
hatte, und die Achaier damit zugleich eine Erweiterung und Befe-
stigung desselben Orts verbanden 4), so genügte dies schon zur
Erklärung der zweiten Behauptung des Strabo. Dass es aber bei
der Eroberung jenes Landes durch die Achaier wirklich so zuge-
gangen sei, wie hier vorausgesetzt, könnte man sGhon aus ihrer
Stellung zu den mulhmasslich in jenem Lande zurückgebliebenen
früheren Bewohnern desselben folgern. Es wird aber insbesondere
durch dasjenige bestätigt, was Pausanias bei Gelegenheit eines der
zwölf Theile des ersteren mittheilt.
Dieser berichtet nämlich, was die schon früher erwähnte Ent-
stehung von Patrai anlangt, mit Rücksicht auf diesen Gegenstand
genauer wie folgt: „Patreus habe den mit ihm gekommenen Achaiern
ausdrücklich verboten, sich in Antheia und Mesatis niederzulassen,
dafür aber den Umkreis von Aroa erweitert, und ihm nach seinem
eigenen den Namen Patrai ertbeilt *)". Setzen wir den Fall, dass
l) VIII, 383. 386 fin., entsprechend den To*ot. %uQcu, p. 336 fln. 8p.
») VUI, 386: *Exacr™ 6e ~ * '* ■'• f * '
«OTTO- XOt OXTW TOffOUTOV
/uv o\3V Iwveq xco/i/qäov
O. Müller, Hell. St. III, 74, Anm. 4 erklärt: „04 /llbv ©vi/"lwi/*g xw,il<ij6ov
Jxopv" durch „onne^Mauern der Städte", und verweist dabei auf Thuk.
HI, 33. «) Paus. VII, 18, 3.
76 Die griechische Koment er fastung als Moment
in einem jeden der übrigen achaiischen Tbeile Aebolicbes verord-
net sei, wie bei Patrai geschah, so konnte Strabo dies mit einigem
Grunde so ausdrücken: die Achaier hatten Städte gebaut. M
Aber selbst die Zusammenziehung eines Volks in einem ein-
zigen Orte, ist in der Regel nur von einem Theile des Volkes zu
verstehen, und zwar von dem durch Zahl oder Bedeutung überwie-
genden. Der Beweis Tür diese Behauptung ist darin enthalten, dass
in den meisten Fallen dieselben Orte, von denen bezeugt wird,
dass ihre Bewohner in einem einzigen Orte zusammengezogen wor-
den seien, dessenungeachtet als solche fortbestanden, also jeden-
falls nicht unbewohnt gewesen sein können. Möge daher entwe-
der die vorhergehende Mittheilung des Pausanias als buchstäblicher
Ausdruck dessen, was bei Gründung von Patrai sich ereignete, be-
trachtet, oder vielmehr angenommen werden, dass eine Verschmel-
zung der vorhergedachten drei Städte zu einer stattgefunden habe,
wie der Ausdruck der Sibylle: *Aqdri TQtnvQyog erralben lässt1),
so würde es sich immer mit Rücksicht auf diese zweite Bemerkung
erklären, dass Antheia und Mesatis als Komen fortbestanden, und
in der spätem Geschichte von Patrai wiederauftauchen.
Hiernach erscheint es weniger auffallend, wie es heissen könne :
die Achaier hätten Städte gebaut, da doch jeglicher Theil derselben
in sieben oder acht Demen zerfallen sein soll. Wir lernen daraus,
dass auch solche Orte, welche ihre Demen noch nicht an sich ge-
zogen, sondern blos die oberste Leitung derselben an sich genom-
men hatten, bisweilen Städte benannt wurden1). Jene zweite An-
gabe des Strabo dient insbesondere noch zur Bestätigung, dass
was von den meisten Orten der Arkader blos gefolgert werden
konnte, auf die achaiischen insgesammt Anwendung leide« Sie be-
zeugt nämlich, dass sämmtlicbe achaiischen Theile denjenigen ent-
sprechend construirt gewesen seien, welche in der zu Anfange
dieser Untersuchung von mir angezogenen Stelle des Strabo von
ihm als ausdrücklicher Beleg seiner Behauptung: dass ursprüng-
lich fast jeder selbständige Ort oder Landschaft des Peloponnes
aus einer bestimmten Anzahl von Demen bestanden habe, beson-
ders hervorgehoben werden.
Strabo führt aber in dieser Stelle nächst Elis und den drei
arkadischen , auch noch das Beispiel von folgenden drei achaiischen
Städten an, welche in späterer Zeit (vangoy) aus solchen Demen
zusammengezogen worden seien: als Aigion aus sieben oder acht,
Patrai aus sieben, Dyme aus acht •). Je weniger an der Zuverläs-
M Elymolog. magn, v. 'Aoon. s) Vgl. Xen. h. gr. VH, 4, 17. 48.
■) Str. VIII, 337: ,,wgö amxiaq Atytov «4 ***** aj oxtw öfytttr **•-»■■»»-
tv crwHro-
der Entwicklung des Städtetoesens im Altertimm. 77
sigkeit dieser Angaben des Strabo überhaupt zu zweifeln ist, desto-
weniger darf hier die Frage mit Stillschweigen übergangen wer-
den: wie seine Palrai insbesondere betreffende Angabe mit der,
nach welcher Patrai schon durch Patreus, und zwar aus drei Kö-
rnen zusammengezogen sein soll, zu vereinigen sein dürfte?
Die natürlichste Erklärung, welche sich uns darbietet, möchte
die sein: dass Strabo das Letztere nur deshalb verschweige, weil
die Zusammenziehung blos einzelner Komen nicht hinreichte, um
den Begriff einer Stadt in der spätem Bedeutung des Wortes zu
erfüllen. Jene beiden Angaben stehen demnach zu einander genau
in demselben Verhältnisse, in welchem die Angabe: dass dieEleier
ans allen Demen in die einige Gesammtstadt Elis übersiedelt wor-
den l), zu der hinsichtlich Elis Erweiterung durch Oxylos steht*).
Ein drittes Beispiel des wiederholten und auf einen erweiterten
Umkreis ausgedehnten Synoikismos würde Theben darbieten *).
Der Zeitpunkt, in welchen der zweite Synoikismos von Palrai
gefallen sein dürfte, lasst sich nur insoweit bestimmen, dass er
vor den Zug des Brennus Ol. 125, 2 gesetzt werden muss. Die
Stadtgeschichte von Patrai berichtet nämlich, dass die Palrenser
damals allein von allen Achaiern den Aitolern Beistand geleistet,
hernach aber, um sich von der in diesem Krieg erlittenen Ein-
busse durch desto fieissigeren Anbau des Landes zu erholen, Pa-
trai grösstenteils verlassen, und in die Komen oder kleinen Städte An-
Ibeia, Mesatis, Boline, Argyra, Arba sich zurückgezogen hätten. Wären
nun diese Patrai nicht schon früher incorporirt worden, so bliebe
für das von Strabo gemeldete Ereigniss gar kein Raum übrig. Denn
erst Augustus führte die Menschen aus den gedachten kleinen
Städten nach Patrai zurück : der dritte Synoikismos von Patrai 4).
Es ist meine Absicht, späterhin noch genauer zu untersu-
chen, inwiefern die Angabe des Strabo, nach welcher ursprüng-
lich in dem ganzen Peloponnes Komenverfassung geherrscht habe,
noch durch mehre irgend bedeutsame Beispiele bestätigt werde.
(Hierbei werde ich mich jedoch keineswegs blos auf den Pelo-
ponnes beschränken, sondern auch zugleich^fes übrige Griechen-
land in Betracht ziehen). Denn sowie Thukyaides Zeugniss dem
von Strabo noch umfänglicher entwickelten Begriff den Stempel
allgemeiner Anwendung ertheilt, so fehlt es auch nicht an andern
Zeugnissen, wodurch der letzlere gerechtfertigt wird.
M i n y e r.
Es ist schon früher angedeutet, dass Minyer von Lemnos ver-
') Str. VIII, 336. ■) Paus. V, 4, 4. ») Paus. IX, 5, I. vgl. 9.
4) Paus. VII, 48, 5 cf. 20, 3. X, 33, 4.
78 Die griechische Komenverfastung als Moment
trieben in Lakonika eines dauernden Besitzes genossen. Sie wur-
den aber zugleich mit den Achaiern, welche sie bei sich aufge-
nommen, durch den Andrang der Dorier genötbigt, entferntere
Wohnsitze aufzusuchen. Die Colonien der Blinyer sind geschicht-
lich und enthalten einen neuen Beleg jener altertümlichen Weise
gesonderter Wohnsitze. Denn nicht in irgend einer von der
der Städte verschiedenen Anlage oder sonst eigentümlichen
Beschaffenheit, sondern darin dass ein griechisches Volk, welches
wie die Minyer mit dem Stempel volkstümlicher Einheit in der
Geschichte auftritt, in eine bestimmte grössere Anzahl von Ort-
schaften anstatt Einer getheilt war, beruhte der Begriff der Komen.
Darum sind nicht nur die sieben Flecken (x<3qcu), in welche die
minyeische Colonie auf Thera zerfiel *), sondern auch die sechs
oder vermuthlich sieben Städte, welche- der grössere Theil dieses
Volks, Paroreaten und Kaukonen vertreibend, in Triphylien grün-
dete *), als Komen zu betrachten. Denn wie die Ionier von
Aroa, Antheia und Mesatis alljährlich das gemeinschaftliche Pest der
Artemis Triktaria begingen, so steuerten sammtlicbe tripbyliscben
Städte zu dem Tempel des samiscben Poseidon bei, welcher auf
einem Vorgebirge Tripbyliens, Namens Samikoa gelegen, das Sym-
bol ihrer Einheit darstellte ').
P i s a t e n,
Pisa erscheint besonders rätbselhafl in der Geschichte durch
seine Verknüpfung mit Elis. Diese spiegelt sich schon in der
Sage, welche bald den Beherrscher des einen Landes in das an-
dere Land versetzt, bald beide Länder zu einem verbindet4}, von
denen ein jedes unabhängig von dem anderen das Recht in An-
spruch nahm, dem Tempel des Zeus in Olympia vorzustehen.
Die vereinten Chöre von sechzehn eleiischen Frauen, acht
eleiische und acht pisatische Ortschaften darstellend *), enthalten
eine bestimmte Andeutung, dass Elis und Pisa in grauer Vorzeit
zu einem Zwillingsstaate verbunden gewesen seien. Hiermit ist viel-
leicht die Angabe cjAPausanias zu verbinden, dass Ol. 50, da Pisa
zerstört wurde, zwei Kampfrichter in Olympia anstatt des früheren
einen blos aus den Bleiern durch das Loos gewählt worden seien •),
l) Her. IV, 453. *) Her. IV, U8. Str. VIII, 337. 347, Vgl. Mül-
ler Hell. St. I, 360 f. *) Strabo VIII, 343. Paus. VI, 35, 5. *) Str.
VIII, 366. Vgl. 357 Über Salmoneus. Steph. Byz. v. Al™%oq. ') Paus.
V, 46, 4. Vgl. C. 0. Müller, die Pbylen von Elis und Pisa. Rhein. Mas.
f. Philol. II, 2. 4834, S. 473. Anna. 6. °) V, 9, 4. '„«4 a*aVrwv Xa-
%ovi<nv 'HWmv" wäre eine leicht za erklärende Verwechselung anstatt
„blos aus den Eleiern"; zumal die Bemerkung vorhergeht, dass die Herr«
•eher aus dem Geschlechte des Oxylos früher selbst den Vorsitz geführt
hätten.
der Entwicklung des Staatswesens im Alterthum. 79
da doch nach Hellanikos Angabe deren schon ursprünglich zwei
gewesen waren *). Die frühe Anwendung des Namens der Eleier
als Gesammlbezeichnung der Eleier und Pisaten würde uns jedoch
unter der angegebenen Voraussetzung zu der Vermuthung berech-
tigen, dass Elis in jenem Bundesverhältnisse ungefähr seit Oxylos
den Vorrang vor Pisa behauptet habe. So führte schon Phlegon
nach Stephanos von Byzanz in dem Verzeichnisse olympischer
Sieger OL 4 und 27 zwei olympische Sieger unter der Bezeich-
nung als Eleier aus Dyspontion auf; ungeachtet dieser Ort ent-
schieden pisatisch war a). Auf das umgekehrte Verhaltniss in der
Periode von Oxylos und das frühere Uebergewicht Pisas über Elis
deutet dagegen ebenso unverkennbar das Schiffsverzeichniss des
Homer durch die Angabe in Betreff der überwiegenden Starke der
Pylier im Vergleich mit der der Epeier *), gleichwie die Be-
hauptung der Pisaten selbst, dass sie die ältesten Vorsteher des
olympischen Tempels und der Spiele gewesen seien 4).
Das angedeutete Bundesverhältniss zwischen Elis und Pisa
erhielt sich ungeachtet vorübergehender Störungen bis gegen
die fünfzigste Olympiade. Damals aber erhob sich wegen des
Vorsitzes der olympischen Spiele ein Krieg zwischen beiden, in
welchem der Beistand, welchen Sparta Elis gewährte, den Aus-
schlag gab '). Er endete damit, dass Pisa und alle mit ihm ver-
bündeten Orte, insbesondere aber Dyspontion, Makistos und Skil-
lus zerstört6), und die Landschaft Pisa nebst einem Theile von
Triphylien zur Perioikis, d. h. zu einem eroberten und unterthäni-
gen Gebiete des hohlen oder eigentlichen Elis gemacht wurde 7).
Seit diesem Zeitpunkte entschwindet der Name Pisa allmahlig
aus der Geschichte wie aus dem Gedächtnisse und Bewusstsein
der Menschen; unter den griechischen Geschichtschreibern redet
nur Herodot von Pisa, versteht aber unter diesem den Tempel
des Zeus in Olympia •). Eine Frage, welche sich hierbei von selbst
aufdrängt, ist, ob ausser den von Pausanias angeführten gemein-
schaftlich in der ehemaligen Pisatis begriffenen Städten Pisa und
Dyspontion, auch die übrigen Orte, deren Namen als zu den acht
») Schol. Pind. Ol. 111, 22. Vgl. Müller, die Phylen von Elis und Pisa.
a. a. O. S. 179. a) V. AuoWvtiov. Vgl. auch Paus. IV, 4 5, 4. V.
46, 4. VI, 24, 4, über das Factische besonders VI, 22, 2. •) Vgl.
Sir. Vm, 354. *) Str. 1. 1. Xen. h. gr. VII, 4, 28. Diodor. XV, 78.
Müller Hell. St. H, 446. *) Str. VII|, 355 fln. 6) Paus. VI, 22, 2:
„ . . . MoMu'cmot xott SxtXXo-uvuot, oirrot /i*v in •njq TiJi<pvXia<;< twv 6m
aXXwv xiqioinuv Awxovrtot . . . IJtacuo'uq /wv Sy «at ocroi tov sroXf-
juuru Uiacuoiq fiUTi<r%ov9 txeXaßsv avcurraroiyg iwro YO**luv y€v*a^>atu.
Vgl. V, 6, 4, 40, 2; VI, 25, 5. Her. IV, 448. 7) Thuk. H, 25. Xen.
h. gr. m, 2, 23. •) II, 7.
80 Die griechische Komeiwerfassung als Moment
Städten der Pisatis gehörend uns durch Strabo erhalten sind '),
das Loos der Vorgenannten theillen ? Diese Frage lässt sich jedoch
bei dem Stillschweigen der Geschichte über dieselbe blos durch
eine allgemeine Würdigung der hierauf Bezug habenden thatsäcb-
lichen Umstände beantworten.
Zwar meldet auch Slrabo nur von Dyspontion, dass es ver-
lassen, und dessen Bewohner nach Epidamnos und ApoIIonia ge-
zogen seien. Er sowohl als Pausanias') reden dagegen von jenen
acht Städten überhaupt nie anders als wie von einer vorlängst
abgekommenen Eintheilung. Die derjenigen Pisas entsprechende
Einlheilung des hohlen oder eigentlichen Elis in acht Städte, ver-
weist jedoch in Betreff jener Eintheilung unverkennbar auf die
Periode, in welcher beide noch als frei verbunden neben einan-
der bestanden. Insbesondere spricht aber für den Untergang je-
ner acht Städte, dass sowenig Salmone, Kykesion, Harpinna und
Herakleia, von welchen wir durch Strabo gewiss wissen, dass sie
zu ihrer Zahl gehörten, als Dyspontion oder Pisa selbst, in der
spätem Geschichte vorkommen. Erst unter römischer Herrschaft
treffen wir die zufällige Erwähnung Herakleias, d.h. als einer Kome
der Eleier an *), und eine dieser entsprechende Bewandniss dürfte
es auch mit der Harpinnas gehabt haben 4). Wollte man
selbst gegen vorstehende Schlussfolgerung den Einwand erheben,
das Stillschweigen der Geschichte könne ein blos zufälliges sein,
so vermag ich dem aus folgenden Gründen nicht beizupflichten.
Erstens, die triphylischen Städte Makistos und Skillus, welche
gleichzeitig mit Pisa zerstört sein sollen, werden später wiederholt
genannt, so gut als Lepreon, Phrixa, Epeion'). Zweitens, während
kein einziger Ort, von welchem sich bestimmt behaupten lässt,
dass er zu der Zahl jener acht Städte gehört habe, in der spätem
Geschichte handelnd auftritt, werden die nämlichen Orte, welche
nach der wahrscheinlichen Begrenzung der allen Pisatis bei Xeno-
phon und Diodor im Umfange der letzteren -zuerst auftauchen,
nicht minder von Strabo und Pausanias als noch zu ihrer Zeit be-
stehend angegeben. .
Strabo bezeichnet als Grenze von Pisatis und Triphylien einen
Berg6). Dies war vermulhlich die Akroreia, ein gebirgiger Land-
strich im Süden des Alpheios T), von welchem die darauf befind-
lichen Städte den Namen der akrorischen führten 8). Xenophon
») VIII, 356, 357 pr. a) V, 16, 2 sq. ) Paus. VI, 22, 4.
4) Lucian. de mort. peregrinor. 35. *) Xenoph. h. gr. 111, 2, 25, 30.
VI, 5, 2, vergl. mit Her. IV, H8.^ «) VIII. 343. Müller Hell. St. I, 362.
7) Diodor XIV. 4 7: „... Sud rijs Attgwgetag cvyaywv to crtQCtioxeöov
rertaqou; *o\«tg" cet. •) Xen. h. gr. VII, 4, 14: „rag vwv *A*flw-
..'-,-.S... -aJL. *=\— .',*_— ..«
qttutv xotetq . . . xMjv 0gavoTov
der Entwicklung des Städtewesens im Alterthum. 81
erwähnt von Letztern blos Tbrauslos; Diodor nennt vier dersel-
ben: Thraistos, Alton, Eupagion, Opus. Auf diese folgte zunächst
am Alpheios Epitalion1). Jenseits desselben: Letrinoi, Amphidoloi,
Marganeis '). Noch wird Kromion in der Nähe von Olympia als
Ortschaft genannt *). Von allen diesen werden Epitalion, Amphi-
doloi, Margalai, Opus von Strabo *); Letrinoi von Pausanias als
noch damals bestehend angeführt *).
Ich stehe demzufolge nicht an, hier die Vermuthung auszu-
drücken, dass sämmlliche vorhergenannten pisatischen Städte be-
reits seit dem angegebenen Zeitpunkte in Trümmern lagen, wie
einige von ihnen später geschildert werden °).
Um denselben Zeitpunkt, von welchem hier vorausgesetzt wird,
dass die acht Städte, welche die Sage in Pisatis setzte und die mei-
sten minyschen verwüstet wurden, erhielt sich im Süden Triphy-
liens, vermulhlich durch die besondere Begünstigung der Spartia-
ten, ein Kern Selbstständigkeit wie des spätem Widerstandes ge-
gen das Uebergewicht der Eleier über die ganze Westküste des
Peloponnes. Dies war Lepreon. Dasselbe zog sogar durch die
Vermittlung der Spartiaten noch andere Elemente der zerstörten
Gemeinwesen der Minyer oder Lemnier an sich 8). Diese Nach-
richt ist blos durch Strabo erhalten. Dass sie aber ungefähr in den-
selben Zeitpunkt zu setzen sei, in welchem die Spartiaten den Eleiern
beistanden, sich allmählig das ganze Land bis gegen die Grenze Mes-
seniens zu unterwerfen, dürfte daraus gefolgert werden, weil Strabo
in der nämlichen Stelle als Grund der Mitwirkung der Spartiaten zu
der angegebenen Vergrößerung von Elis hervorhebt, dass die Spartia-
ten so gehandelt hätten, weil die Eleier ihnen in dem zweiten mes-
senischen Kriege Beistand geleistet hätten, im Gegensatze zu Ne-
storiden und Arkadern, welche die Messenier unterstützt hätten.
Denn Pausanias bezeugt das Erslere ausdrücklich von den Lepre-
aten •). Wenn hingegen Pausanias bei dieser. Gelegenheit ausser
Arkadern, Argeiern und Sikyoniern zugleich die Eleier, unter wel
eben er hier sowie in mehren anderen Stellen die Pisaten mitbe-
greift, als Bundesgenossen der Messenier bezeichnet, so wider-
spricht'dies streng genommen nicht der vorhergehenden Angabe
des Strabo; denn dieser führt die Eleier in dem zweiten messenischen
Kriege ebenfalls unter den Bundesgenossen der Messenier mit auf10).
Beide Angaben dürften sich vielmehr durch die Annahme mit ein-
s-
•) Xen. 1. 1. III, 2, 29. a) Xen. 1. 1. III, 2, 25, 30. IV, 2, 46.
VI, 5, 2. VII, 4, 44, 26. Diodor XV, 77. 8) Diodor I. I. 4) VIU,
344, 349. IX, 425. *) VI, 22, 5. «) Paus. VI, 24, 6, 6. 22, 4.
V, 6, 3. 7) Str. VIII, 355 fln. ») IV, 45, 4. •) VIII, 362.
Zeitschrift f. Geschieht**-. IV. 1845« • g
82 Die griechische Kommverfassung als Moment
ander vereinigen lassen, dass die Bleier gegen das Ende des Kriegs
aus Hass gegen Pisa zu den Spartiaten übergesprungen seien1). —
Soviel steht fest, dass Lepreon im persischen Kriege autonom
und unabhängig von Elis war *}. Auch beschützten die Spartiaten
seine Unabhängigkeit von diesem, nachdem es ihrer in der Folge
mehrmals wieder verlustig gegangen war. So im peloponnesischen
Kriege, vor welchem es den Eleiern mit Einem Talent ziusbar ge-
worden war*), so noch später. In jene erstere Periode durfte
auch allem Anscheine nach die Angabe gehören, dass so oft ein
Lepreat in den olympischen Spielen gesiegt habe, er als ein Eleier
aus Lepreon vom Herolde ausgerufen worden sei 4). Lepreons
Verhältniss wirft folglich keinen täuschenden Schein auf den Stand
der Perioiken überhaupt •), sondern jenes selbst war abwechselnd
entweder unabhängig oder Elis unterthan. Die wiederholt als un-
abhängig von Elis sich ankündigende Stellung Lepreons ergiebt,
dass ihm vor allen übrigen Perioikenslädten der Eleier eigentüm-
liche Elemente der Selbstständigkeit und staatsbürgerlichen Kraft
beiwohnten.
Schon oben ist angedeutet, dass Makistos und Skillos, das Letz-
tere nicht blos durch Xenophons Verbannung berühmt*), noch
später bedeutend waren. Sie müssen sich daher von der ZersUj
rung Ol. 50 wieder erholt haben. Xenophon sagt von Epilation,
einem Ort in der Niederung des Alpheios in bedeutender Entfer-
nung von Makistos gelegen, er grenze an die Makistier T). Strabo macht
denselben zu einem Flecken der Makistia •). Für die Bedeutung
von Makistos spricht noch, dass Strabo öfters die Benennung Ma-
kistia •), anstatt der ausgestorbenen Thriphylta l0) anwendet —
Ausser diesen sowie einigen schon früher erwähnten tripbyliseben
Städten gab es jedoch offenbar keinen altberühmten oder bedeu-
tenden Ort in der ganzen Perioikis der Eleier; namentlich nicht in
dem im Norden des Alpheios gelegenen Theile derselben. Es würde
sich daher erklären, das jene tripbylischen Städte die einzigen
Orte waren, deren Namen in der Entfernung einen Wiederklang
hatte, wenn von jener geredet wurde &l). Insbesondere aber, dass
der Name Tripbylien bisweilen auf die ganze Perioikis der Bieter,
d. h. mit Einschluss der Orte im Norden des Alpheios, ausgedehnt
') Vgl. Müller Hell. St. II, 449, Anm 9. III, 507. ») Her. IX, SS.
Pau«. V, 23, 4. ») Thuk. V, 34, 34, 49. &6q*qv m'xog c. 49 isl
wohl nicht Phrixa aber doch Pyrgon. 4) Paus. V, 5, 8. VI, 3, 8.
•) Wachsmath Hell. Alterthumskunde I, 4 S. 464. •) Xen. expecHt.
Cyri V, 3, 7 sq. Diog. Laert. II, segln. 58 sq. Paus. V, 6, 4. Str. Yffl,
387. med. *) H. gr. III, 9, 85. •) VIII, 349 c. •} VIH, 343. d.
349 c. '•) 355 fin. ■ •) Aristophanis aves v. 449.
. der Entwicklung des Städtewesens im Altertktm. 83
worden sei, obwohl derselbe im engern Sinne blos auf die Stadt-
gebiete von Lepreon und Makistos beschränkt wird '),
Wenn wir die Andeutungen der griechischen Geschichtschrei-
ber in Rücksicht auf ojh Verhältniss der einzelnen Theile des eleu*
sehen Gebiets in der sjRtern Geschichte mit einander vergleichen,
so stellen sich folgende Resultate heraus. Xenophon scheint
mehre Orte im Norden des Alpheios zu Triphylien zu rechnen ').
Damit würde übereinstimmen, dass Stephanos von Byzanz, wie-
wohl derselbe Salmone, Kykesion, Dyspontion Städte der Pisatis
nennt, dessenungeachtet die meisten der Orte, welche nach der
wahrscheinlichen Begrenzung der alten Pisatis ebenfalls im Um-
fange der letzteren gelegen dennoch erst später in der Geschichte
auftauchen, als : Akroreia, Epitalion und selbst Amphtdoloi in Tri-
phylien setzte. Aber selbst wo Xenophon die Orte im Norden
des Alpheios von den tripbylischen unterscheidet, bezeichnet
er die ersteren entweder blos durch Anführung des Namens der-
selben oder mit dem unbestimmten Ausdrucke „die übrigen*)".
Bei Polybios findet sich der Name Pisatis nur als Reminiscenz in
einem geschichtlichen Rückblicke 4). Obwohl aber Triphylien bei
ihm*), sowie nach einigen andern Andeutungen, durch den Al-
pheios begrenzt erscheint c), so ermangelt doch die Landschaft, in
welcher Olympia lag, bei ihm sowie bei Xenophon eines eigen*
tbümficben Namens T). Nichtsdestoweniger erklärt es sich von
selbst, dass die Unterscheidung der hohlen oder eigentlichen Elis
von der Pisatis der Natur der Sache nach unverändert fortdauerte9).
Eine gelegentliche Anführung, dass die Eleier Pisa Elis benannt
hätten 9), kann folglich nur in dem Sinne aufgefasst werden, wo-
nach jedes seiner Selbstständigkeit beraubte Gebiet mit dem Na-
men des Eroberers bezeichnet wurde: z. B. Korintb Argos10),
Triphylien selbst Elis l l). Wäre hingegen als völlig erwiesen an-
zusehen, dass Olympia, unvergänglich durch die Feier der olym-
pischen Spiele, seinen Namen später zugleich der Landschaft,
welcbe dasselbe umgab, mitgetheilt habe, so würde darin der
») Xenophon h. gr. IV; J, 46. VI. 5, ». VH, 4, J6. •) fl. gr.
1H, 9, 30, vgl. 35. 3) B\ gr. IV, S, 46. VI, 6, J. VH, 4, 16. „tovC
öe Teiyi>>*ou$ *«* tovs ahXovf". 4) IV, 74 pr. ») C. 77, 9.
e) Nach Strabo VIII, 343 floss der Alpheios durch Pisatis und Triphylien«
Bypana und Typana (vgl Paus. V, 6, 5) nennt jener 344 med. triphylische
Städte. 343 med. ist bei ihm statt Uvtdv^q Tvxdvnq zu lesen. Auch
bei Xen. h. gr. IV, 3, 16 erscheinen die Völker im Süden und Norden
des Alpheios als gesondert. T) Pol. IV, 73, 3, 4. •) Tbuk. II, J5. Pol.
IV, 73, 4. •) Didymus in schol. vet. ad Pind, Ol. XI (X) 65. »•) Xen.
b. gr. IV, 4, 6. »») Steph. Byz. s. v, Ttypvfo*.
6*
1
84 Die griechische Komenverfassung als Moment
sicherste Beweis liegen, dass das Gedächtniss an Pisa gänzlich
erloschen war lf).
Alle diese Umstände, die Nichtanwendung der Namen Pisa,
Pisatis und Pisaten in einer andern als blo^alterthümlichen Bedeu-
tung, gegenüber der erweiterten Ausdenming des Namens Tri-
phylia und der Umschreibung durch Olympia vereinigen sich mit
dem Verschwinden jener acht Städte, um un3 in der Ueberzeu-
gung zu befestigen, dass jene Namen in dem klassischen Aller-
thume zu den verschollenen gehörten, gleichwie für uns die Na-
men der Ostphalen und Engern, des bairischen Nordgau und der
Allemannen. Doch nicht blos der Name jenes Landes war ver-
schwunden. Die Namen der einzelnen Ortschaften, welche wir in
der späteren Epoche im Gegensalz zu den ehemaligen acht Städ-
ten der Pisatis in diesem Lande antreffen, scheinen nicht minder
darauf hinzudeuten , dass unter eleiischer Herrschaft ein neues
Land mit neuen Namen der Ortschaften entstanden sei, welche zu
der früheren Eintheilung in acht Städte dem Begriffe nach sich
etwa so verhallen haben dürften, wie die neuere Lombardei und
die Ortschaften derselben zu der alten Aemilia. Gleichwohl wird
in der beglaubigten griechischen Geschichte eine ausdrückliche
Erwähnung der Pisaten angetroffen. Diese dürfte jedoch eine Er-
klärung gestatten, wodurch das angeführte Resultat bestätigt wird.
Die Spartiaten lösten im Frieden Ol. 95, 3 a) alle die Orte,
welche die Eleier im Norden wie im Süden des Alpheios zu ihrem
ursprünglichen Gebiet hinzuerobert, oder durch Kauf erworben
hatten, als unabhängige Staaten aus dem Unterthanenverbande mit
Elis ab; die Aufsicht des Tempels des olympischen Zeus, wiewohl
keine angestammte Gerechtsame der Eleier, entzogen sie ihnen
dagegen nicht. Denn sie dachten, dass diejenigen, welche anstatt
der Eleier darauf Anspruch machen würden, Landleute, /tottrat,
folglich dazu ungeeignet wären ■). Dies autonome Verhältniss der
früheren Perioiken der Eleier erhielt sich wahrscheinlich bis nach
*) Stepb. Byz. „OVu^atf/a ^ «qoVqov ll/cra >»«yo/ifiVija und nt<ra
XoKiq xat «(mjVij ttJ? OVu/urtag". Paus. V, 4 4, 2. ,,"nj> Au tw Aaro-
/xinw, e^tXaiJVOVTL t«ijs KXisiag O^sv/uxtaq tojs /lvioc", was Aelian. de
nat. anlmal. V, 4 7 auf die uxnac Hmtcctlösc bezieht Paus. VIÜ, 4, 4:
„Tifg ös yqq vqq 1KaiElcu; kolto, /luv OXv/luxiolv ocat toi* AAtCpEtOTj ratq
zxßoXaq ar^ocr vqv Meawriviav naiv oqoi,", weil nach der späteren Ein-
theilung Triphylien grösslentheils zu Arkadien geschlagen war. Paus. V,
5; 3. a) So C. 0. Müller u. Andere anders, je nach der verschiedenen
Auffassung von Xenophons Chronologie. Des Ersteren Darstellung Hell.
St. 374, 375 leidet jedoch an dem Zwang, welcher aus dem Bestreben
ungleichartige Berichte zu einem Ganzen zu verschmelzen entstanden ist.
Xen. h. gr. III, 2, 24,- 39. Diod. XIV, 4 7, vergl. Paus, 111,8, 2. ») Xen.
h. gr. III, 2, 30, 34. Vgl. Diod. XIV, 34.
der Entwicklung des Städtewesens im Altert hum. So
dem Sturze von Spartas Hegemonie Ol. 102, 2 l); wann hingegen
die Eleier den Besitz der losgerissenen Gegenden wieder erlang.
ten, wird nirgends genau angegeben"). Wir erfahren blos, dass
sie Ol. 103, 3, sowohl jene als Kyparissia und Koryphasion in Mes-
sene besetzt hatten; als sie jedoch in diesem Jahre auch Lasion
wieder einnahmen, die Arkader ihnen deshalb den Krieg erklärten,
weil dieser Ort, wenngleich vor Ol. 95, 3 den Eleiern gehörig,
doch in damaliger Zeit zu Arkadien gerechnet wurde7). Im Ver-
laufe dieses Krieges trat der olympische Monat ein. Dies war
Veranlassung, dass die Arkader nebst den Pisaten, welche die dar-
gebotene Gelegenheit ergriffen, um ihre frühere Gerechtsame gel-
tend zu machen, sich zu dem Zweck verbanden, um die 104 Olym-
piade gemeinschaftlich an der Stelle der Eleier zu feiern •?).
Wer aber waren diese Pisaten? Man hat für sie eine Stelle in
der Umgegend von Olympia gesucht, und demzufolge angenom-
men, dass die Bürger der ehemaligen Stadt Pisa in Dörfern zer-
streut, die Zerstörung der ersteren überdauert hatten •); gleichwie
Smyrna seit der Zerstörung durch die Lyder vier Jahrhunderte in
Komen fortbestanden haben soll6), oder das hundertthorige The-
ben seit Cambyses 7); ja nicht weniger griechische Stamme selbst
noch in der Verbannung den Begriff ihres angestammten Gemein-
wesens bewahrten *). Diese Deutung würde jedoch voraussetzen,
dass der Name der Pisaten auf diese Bürger der Stadt im Gegen-
satz der Landschaft Pisa beschränkt gewesen sei, anstatt dass, was
wir über Pisas frühere Geschichte wissen, uns vielmehr veranlas-
sen sollte, beide im Gegensatz zu Elis als ein Ganzes aufzufassen.
Bezeichnete doch in diesem Sinne schon Stesichoros die Land-
schaft Pisa wie andere Dichter andere Landschaften durch Po-
lis9). Und hätten die Ausleger des Pindar wohl eine Erklärung
für Pisa gesucht, dessen Stätte sie als öde schildern 10), wenn le-
bendige Zeugen desselben in dessen nächster Umgebung sich er-
halten hätten? Obige Deutung ist, wenn ich nicht irre, eben da-
l) Vgl. Xenoph. h. gr. III, 5, 42. IV, 2, 46. VI, 5, 2. VII, 4, 26.
*) Nach Müller, die Phylen von Elis und Pisa S. 70, wäre dies bereits
vor Ol. 403 geschehen. Die Eleier zählten nämlich in diesem Jahre zwölf
Phylen, Paus. V, 9. 5. Dies kann aber blos durch die Aufnahme ihrer
früberen Unterthanen in die letzteren erklärt werden. Vgl. auch Schnei-
der in epimetro ad Xen. Anab. p. 474. ■) Xen. h. gr. VII, 4, 4 3, 4 4.
Diod. XV, 77. «) Xen. h. gr. VII, 4. 28. Diod. XV, 78. vgl. Paus.
VJ, 4, 2. 8, 2, 22, 2. *) Müller Hell. St. III, 459. Phylen von Elis
und Pisa, S. 475. Wachsmuth, Hell. Alterthumsk. 1, 2,240.253. 6) Str.
XV, 646. 7) Str. XVII, 846 vgl. 805. •) Paus. IV, 27, 5. 9) Str.
VIII, 356. I0) Schol. (vet.) ad Pind. Ol^I, 24. 28: „**qi ös nJ^lTi-
<FHq ort o TOXoq Iv KXicöc •üjto TJi\ni%wv ox«^wv Ke^w/fifjAVoq IIoX*/iwv
yqriv". XI (X) 54—57.
86 Die griechische Komenverfassung als Moment
durch veranlasst, dass in der spätem Pisatis für den Namen der
Pisaten kein Raum ist. Wie aber wenn Xenophon und derjenige,
welchen Diodor vor Augen halte, den abgestorbenen Namen der
Pisaten hier nur deshalb aus der Vergessenheil hervorgezogen
und auf die damals wirklich vorhandenen Völkerschaften der ehe-
maligen Pisatis angewendet hätte, weil jener mit der Sage über
die erste Einsetzung und die Feier der olympischen Spiele unzer-
trennlich verknüpft war? Vermutlich war Pisatis damals in zwei
Parteien getheilt '). Wiewohl daher Margalieis bereits vor dem
Feste wieder in die Rande der Eleier gefallen war *}, so konnte
doch die auf Seiten der Arkader stehende Partei die Stelle der Pi-
saten bei den Olympien vertreten. Waren diese Voraussetzungen
begründet, so würde zugleich die Bezeichnung als £a>£frat, welche
Xenophon den Pisaten erlheilt mit Rücksicht auf das uns vorliegende
Material eine tiefere Bestätigung gewinnen, als dies bei der frühe-
ren Erklärung der Fall ist.
Blicken wir zunächst auf denjenigen Theil des eleiischeu Gebiets,
welchem diese Untersuchung gewidmet ist, so verdient in dieser
Beziehung noch besonders hervorgehoben zu werden, dass Xenophon
Amphidoloi, Marganeis in ähnlicher Art wie Akroreioi, nie anders
als in der Mehrzahl aufführt. Geschah dies etwa in der Absicht,
um jene Orte von denen zu unterscheiden, welche sowie Lasion,
Epitalion, erweislich nur aus einer einzelnen Ortschaft bestanden •),
so könnte der angerührte Umstand zu einer ähnlichen Deutung
jener Namen als des ebengedachlen Akroreioi oder der schon frü-
her erwähnten Gauverbindungen der Arkader, der Mainalier, Par-
rhasier u. s. w. Anlass geben. Denn gleichwie Stephanos von
Byzanz Akroreia als Polis bezeichnet, ungeachtet wie wir oben
sahen dasselbe eine Menge von Ortschaften in sich scbtoss, so
könnten auch jene Collectivbenennungen sein, deren jede eine be-
stimmte Anzahl von Ortschaften begriff; was zugleich ein weiteres
Motiv zur Erklärung des obenberührten Mangels einer allgemeinen
Bezeichnung für das gesammte Land enthielte.
Das eleiische Gebiet, j^a, wird ferner der Stadt entgegen-
gesetzt, und dieser Name im ausgezeichneten Sinne stets vorzugs-
weise der Hauptstadt Eiis ertheilt '). Jenes zeichnete sich nach
Polybios vor sämmtlichen übrigen Theilen des Peloponnes so*
wohl durch Anbau als in Rücksicht auf wohnliche Benutzung
") S. Xenoph. h. gr. VII, 4, U. Diöd. XV, 77: „'A^xadwv yvya-
8tQu ,.«goqpaVu twv <p-uydl6wvu. Jenes, weil die eleiischeu Perioike*
sich damals Arkader genahnt hätten. Xenoph. h. gr. VII, 4, 26, vgl. auch
über y\yy*6iq, Xenoph. h. gr. tll, 4, 49. •) Xenoph. h. gr. Vtt, 4, 46.
*) Xen. h. gr. Itt, % »0, «) Xe*. h. fcf. Hl, 4, J6, «7. VII, 4, II.
i6, 17, 49, 16, 3S.
der Entwicklung des Städtewesens im Alterthum. 87
von Seiten der Grundeigentümer aus, von denen manche bis in
das zweite oder dritte Geschlecht nie die Stadt gesehen hatten,
weif der Tempel des olympischen Zeus nicht nur, einen Got-
tesfrieden gewährte, sondern auch von Seiten der Oberhäup-
ter des eleiischen Staats besondere Vorkehrungen für die auf dem
Lande Wohnenden getroffen waren. Dahin gehörte vor allem die
Einrichtung, dass in ihren Wohnbezirken selbst Recht gesprochen
wurde t). .
Was nun die zuerst geäusserte Vermuthung anlangt, so wird
diese in der That durch das Zeugniss des Strabo gerechtfertigt
Denn Strabo bezeichnet einen Ort Aiesiaion als eine Ortschaft in
Amphidolis, hinzufügend: dass hier jeden Monat die ümherwohnen-
den eine Zusammenkunft hielten»), wogegen er andrerseits Mar-
galai selbst ebenfalls in Amphidolia setzet >). Sowie aber hiernach
kein Zweifel darüber obwaltet, dass Amphidoloi wenigstens eine
Collectivbenennung der vorher angegebenen Art war, so dürfte man
auch die Choriten des Xenophon in den Pierioiken des Strabo
wieder erkennen, denen auf dem Lande selbst Recht gesprochen
wurde. ,„.■»!_ .™
Denn dies war, wenn ich nicht irre, der Sinn der oben ange-
führten Worte des Strabo: das charakteristische Verbindungsmit-
tel zerstreut lebender Bevölkerungen im Alterthume überhaupt de-
nen dadurch ein Ersatz Tür das Zusammenleben in den Städten
verliehen wurde. Der Name äyogä erinnert an die Fora und Con-
ciliabula Römischer Bürger, welche in den ausserhalb des eigentli-
chen Ager Romanus dem römischen Volke ausgetheilten Landereien
zum Behuf der Rechtspflege gegründet wurden •). In ähnlicher
Weise erinnern die festen Burgen des Eleiischen Gebiets, welche
gleitf Thalamai •), Pyrgoi •) bei feindlichen üeberfallen den Be-
wohnern des platten Landes Schutz boten, an die Pagi des eigen -
Jchen Ager Romanus, die Schöpfung des Königs Servius Tulhus ').
Dr. E. Kuhn.
M Pol IV, 73, 6-40. «) VUI. 341: „xo wv A^crtouov,, X^?
*uw*»v oc **•£" ' Awt6^), 'iBd vgl. auch Xen. n. gr. VU,
r:tq\T Di?C^ derben <ler Orte
* iL WesseUngad Diodor p. 653 „quasi ejus regionis taulum« --darf
— laut wesseung au j g concniabu-
uns nicht irre machen. ) »J^^u ^enze fr legis Serviliae re-
lis . ubi juridicundo praeesse solent . Klenze n\ legis
us . . . uu J ft2 Haubold monum. leg. p. 45. •) roiy».
KV vi V%9 «r. VU«, .«. »> ««• IV, !•. ,gU W.
V. 44. IX, t>6 (hier *f<j«ro%ta genannt).
Allgemeine Eiteraturberlcfite.
Rom.
Jahrbücher der römischen Geschichte, mit erläuternden historischen,
chronologischen, mythologischen, archäologischen Anmerkungen, von A.
Scheiffele, Prof. Heft I— V. Nördlingen, Beck. 4842—44. 330 S. 4.
Wenn keine Behandlungsweise geschichtlicher Stoffe dem in-
nersten Wesen der Geschichte weniger entspricht, als die streng
annalistische, weil das historische Leben in einer unendlichen Fülle
von Trieben dahinströmt, deren Anfang, Ende und Wechsel sich
sowenig wie der Zug der Gedanken nach willkürlichen Zeitmaassen
berechnen und begrenzen lässt: so ist doch andrerseits keine mehr
geeignet als sie, dem ersten Detailstudium eine sichere Grundlage
zu verleihen, weil gerade sie die sinnlichen Erscheinungen, welche
der geheime Drang der Geschichte hervortreibt, auf die sinnlichste
Weise zu fixinen, den Verlauf äusserer Entwickelungen in der
ausserlichsten Aufeinanderfolge darzustellen vermag. Daher ist
allen Jüngern der Wissenschaft, welche sich zu einem ersten, gründ-
lichen Anlauf rüsten um des geschichtlichen Details und seiner
Quellen Herr zu werden, dieser Weg, und mithin auch jegliches
Hülfsmittel zu empfehlen, das gleich dem vorliegenden denselben
zu ebenen bemüht ist. Die Zweckmässigkeit der Sch.'schen Arbeit,
hat der Erfolg bewährt; von dem lsten Heft liegt uns schon die
2te verbesserte Auflage vor. Der Verf. hat die doppelte Absicht
zugleich einen chronologischen Ueberblick und eine fortlaufende
Erzählung zu beschaffen. Diese letztere muss sich freilich der Le-
ser aus den Noten selbst gleichsam bilden; doch hat der Verf.
Recht, wenn er bemerkt, dass gerade dies „ dem Jüngling zu eige-
ner Forschung Anleitung" giebt; und auf diese Anleitung kommt
es eben an. Die zahlreichen, meist wohlgewählten Anmerkungen,
die stete Verweisung auf die Abweichungen oder die dctaillirenden
Berichte der Quellen, die Citationen aus denselben, geben zu aller-
hand Vergteichungen den unmittelbarsten Anlass und erwecken
einen unwiderstehlichen Reiz, die Lösung der angeregten Fragen
durch Selbstthätigkeit zu versuchen. In der Verwendung der No-
ten zu diesem Zweck oder in der Methode der Arbeit liegt nun
aber auch deren eigentlicher Werth. Mit den Ausgangspunkten
und Ansichten sind wir keineswegs immer einverstanden, vielmehr
überzeugt, dass manche derselben, wofern sie nicht bei nächster
Gelegenheit streng ausgemerzt* werden, der Verbreitung des Bu-
Allgemeine Literaturberichte. 89
ches auf die Dauer sehr hinderlich werden könnten. Nicht dass wir
an einzelnen Mängeln und Versehen peinlichen Anstoss nähmen,
oder überall schlagende Resultate und selbständige Ueberzeugungen
forderten, oder die Schattengänge der Urzeit plötzlich in Lichtpfade
umgewandelt wissen möchten! Wohl aber dürfen wir neben einem
steten Hervorheben des Wesentlichen das sorgfältige Vermeiden
labyrinthischer Irrfahrten, eine entschiedene Consequenz, eine ein-
sichtige Prüfung und entsprechende Berücksichtigung der Hülfsmit-
tel verlangen. Erscheint nun der Verfasser einerseits in der Be-
handlung der Sagenzeit zu orthodox — denn wie wesentlich auch
die Kenntniss der Sagen zum Verstandniss des Volksgeistes ist, so
wenig darf doch ihr Inhalt auch nur anscheinend das Gewand der
Historie usurpiren — : so verfährt er andrerseits zuweilen mit den
glücklichsten and folgereichsten Resultaten kritischer Forschung
wiederum in wahrhaft destructiver oder doch höchst leichtsinniger
Weise. Die Grundpfeiler der historischen Wahrheit, wie sie Nie-
buhr aufgerichtet, (z. B. die Begriffe der Curien, Tribus und Gen-
turien), anfangs von dem Verf. unangetastet aufrecht erhallen, se*
hen wir plötzlich wie durch ein Wunder umgestürzt, und — was
am wundersamsten ist — durch nichts anderes ersetzt, als durch
das Geröll und den Schutt der Bröcker'schen „Vorarbeiten". Man
kann sich nicht leicht in ein grösseres Labyrinth von Confusionen
und Widersprüchen versetzt fühlen, als wenn man bei Hrn. Scheif-
fele z. B. rait den Noten 77—79 und 220 die Note 327 vergleicht,
wo mit einemmale, anderer Inconsequenzen nicht zu gedenken,
die dort patricischen Curien als plebejische, und die dort plebeji-
schen Centurien als patricische auftreten. Wer soll da sich zurecht
und einen Ausgang finden, wer nicht zuvor schon die Localitäten
vollkommen erforscht, und das ist doch am wenigsten dem „stu-
direnden Jüngling" zuzumuthen, der sie nur vom Hörensagen kennt,
der noch der fremden „Anleitung" bedarf, und dem diese Anlei-
tung zu „geben" der Verf. selbst übernommen hat! Je weniger
wir daher die Nützlichkeit seines Unternehmens in Abrede stellen,
je dringender dürfen wir es ihm ans Herz legen, durch grössere
Sorgfalt und strenge Sichtung dasselbe in Zukunft noch nützlicher
zu gestalten. Die vorliegenden 5 Hefte reichen bis zum Jahre 146
v. Chr. Adolf Schmidt.
Handbuch der römischen Alterthümer nach den Quellen bearbeitet von
Wilh. Ad. Becker. Zweiter Theil. Erste Abiheilung. Leipzig 4844. XX
und 407 S. 8.*)
Der zweite Theil des Becker'schen Werkes ist der Behandlung
der römischen Staatsverfassung gewidmet: die vorliegende erste
*) Auf den Ersten Theil kommen wir später zurück. Red.
90 Allgemeine Literaturberichte,
Abtheilung desselben enthält die Darstellung des Ursprunges des
röffl. Staates (S. 3—25), der Gliederungen der röm. Bevölkerung
(S. 26—290) und der bürgerlichen Verfassung unter den Königen
(S. 291—394), an welche sich schliesslich Nachträge zu diesem, wie
zum vorhergehenden Bande anreihen (S. 395—407). Auch hier hat
der Verf. seine anerkannten Vorzüge in vollem Maasse geltend ge-
macht: umfasseude Belesenheit, eindringender Scharfsinn, vor Allem
aber Unbefangenheit des Urlheils und ungetrübte, ruhige Klarheit der
Darstellung werden seinem Werke, wenn es vollendet dasteht, den
ersten Rang unter den vorhandenen zuweisen. Durch scharfsinnige
und geschickt ausgeführte Combinationen der Neueren ungeblendet,
ist Hr. B. voraussetzungslos überall zu den Quellen zurückgegangen
und hat in ihnen die Hauptpunkte der Ansichten Niebubr's im We-
sentlichen bestätigt gefunden. Namentlich gilt dies von dem Ur-
sprünge der plebs aus den von den Königen nach Rom verpflanz-
ten Bevölkerungen bezwungener Städte, so wie von der Deutung
der patres als Gesammtheit der Patricier im Gegensatze zu der na-
mentlich von Rubino vertretenen Meinung, die unter den patres nur
den Senat verstehen will. Hier hat Hr. B. einem gründlichen und
geistreichen Gegner gegenüber das von ihm, wie von uns, für rich-
tig Erkannte mit meisterhafter Schärfe und Präcision durchzuführen
gewusst (S. 138 sqq.). In engem Zusammenhange damit steht die
Stelle über die lex curiata de imperio und die patrum auctoritas
(S. 314 sqq.), die als gleichbedeutend und zwar als $anction des
allgemeinen Volksbeschlusses durch die in den Curiatcomitien er-
theilte Zustimmung der Patricier angesehen und erwiesen werden.
So erhalten wir in vielen Hauptpunkten zwar Niebuhr's Ansicht
wieder, aber überall durch die Feuerprobe eines ernsten und wis-
senschaftlichen Widerspruches hindurchgegangen und geläutert.
Nirgend aber folgt der Verf. einer Autorität, sondern überall seiner
Ueberzeugung: auch auf Niebuhr fusst er keinesweges unbedingt
So tritt er z. B., um einige der bedeutendsten Abweichungen von
demselben anzuzeigen, in Beziehung auf die gentes und die dtxddsg
des Dionysius von Halicarnass seiner Ansicht entgegen (p. 35 sqq.),
ebenso erklärt er die 21 Tribus des Jahres 259 nicht mit ihm aus
der Abtretung des Dritlheils des Landes an Porsena (p. 168 sqq.),
auch in der vielfach besprochenen Stelle Cic. de rep. II. 22 stimmt
er nicht mit Niebuhr überein (p. 204 sqq.): er folgt hier den Ver-
besserungen der man. sec, wonach aber ein offenbarer Irrthum
Cicero's über die Centurienzahl der ersten Klasse sich ergiebL Was
der Verf. dabei p. 207 sqq. Anm. 426 über Cicero's Unkenntniss
der röm. Archäologie sagt, ist zwar bis auf einen gewissen Grad
zuzugeben: dass er aber solch einen wesentlichen Punkt in der
Verfassungsgeschichte ignorirt habe, scheint Ref. kaum denkbar.
Allgemeine Literaturberichte. 91
Freilich ist dieser Ausweg immer noch viel annehmbarer als der Ton
Arn. F. Ritter (Rh. Mus. I. 1849. p. 575 sqq.) dem Cicero aufgebür-
dete Additionsfehler. Auf Mommsen's scharfsinnige, aber doch ge-
wiss zu kühne Emendation der Stelle (die röm. Tribus p. 60 sqq.)
konnte noch keine liücksicht genommen werden. Allein der Zweck
und der Umfang dieser Anzeige erlauben es nicht, naher auf Einzel-
heiten einzugehen: als besonders klare und anziehende Ausführun-
gen erwähnen wir noch der Abschnitte über capul und capitis de-
minutio, über nobilttas und ius imaginum, über equites und ordo
equ4sler, in welchem Capitel es vorzüglich hervortritt, wie der Verf.
die wirklichen Fortschritte der Forschung seit Kiebuhr anerkennt
und benutzt: auch der folgende Abschnitt über das Königthum weiss
trotz des gänzlichen Abweichens von der Grundansicht Rubino's
die anregenden Untersuchungen desselben für den Gegenstand frucht-
bar zu machen: seiner ruhigen und consequenten Darstellung ge-
lingt es ohne eine fortlaufende, hier ungehörige Polemik in ihrer
objeetiven Haltung jene geistreich und scharfsinnig durchgerührte,
aber einer unbefangenen Betrachtung der Quellenzeugnisse vielfach
widersprechende Annahme eines in den Auspicien und ihrer Fort-
leitung gegebenen theokralischen Elements mit seinen Consequen-
zen einer fast absoluten königlichen Gewalt auf eine, für den Ref.
wenigstens, überzeugende Weise zu beseitigen. — So erscheint auch
dieser Tbeil des Becker'schen Werkes als eine in der Methode wie
in der Ausführung gleich ausgezeichnete Arbeit: auf vollständiger
Beherrschung des Materials basirend, alle Momente unbefangen prü-
fend und erwägend gelangt sie zwar nicht zu einem Abschlüsse
aller Fragen — denn das ist bei der Beschaffenheit unserer Quellen
theils absolut theils den Kräften des Einzelnen unmöglich , — aber
sie liefert eine auf selbstständige Forschung gegründete, mit Takt
and Umsicht ausgeführte, vielfach einen Forlschritt in der Untersu-
chung bezeichnende Darstellung, die uns der Fortsetzung des Wer-
kes mit grossem Verlangen entgegensehen lässt.
Geschichte Bom's in seinem Uebergange von der republicanischen zur
monarchischen Verfassung oder Pompeius, Caesar, Cicero und ihre Zeitge-
nossen. Naci Geschlechtern und mit genealog. Tabellen. Von W. Dru-
mann. Sechster und letzter Band. Königsberg 4 844. XVI. und 802. S. 8.
Wir begrüssen in diesem Bande den Schluss eines grossarti-
gen und mit seltener Beharrlichkeil durch einen Zeitraum von mehr
als zwanzig Jahren verfolgten Unternehmens. Es kann hier der Ort
nicht sein, über die Anordnung des Ganzen und den hohen Werth
der Leistungen desselben zu berichten. Nur die Bemerkung sei
vergönnt, dass die Kritiken, namentlich die hierorts erschienenen,
bisher viel zu wenig sich auf den Standpunkt des Verfassers zu
stellen gewusst haben. Dass derselbe einen klar vorgezetchneten
92 Allgemeine Literaturberichte.
und reiflich erwogenen Plan mit sicherer Hand verfolgte, musste
dazu auffordern, in seine Intentionen nachdenkend einzugehen, statt
mit Einwürfen hervorzutreten, die grösstenteils auf der Hand lie-
gen und die der Verf. sich selbst längst gemacht und beantwortet
haben musste. Ein fruchtbares Feld der Erörterung gewährt seine
Ansicht über den Charakter des Cicero, die erst jetzt in vollende-
ter Entwicklung vorliegt. Der vorliegende Band nämlich ist fast
noch ganz (bis S. 685) der Darstellung dos Lebens des berühmten
Redners gewidmet, die schon die grössere Hälfte des vorhergehen-
den Theils in Anspruch genommen hatte. Die Paragraphen 61 bis
105 führen die Erzählung vom Jahre 55 bis zum Tode des Cicero,
das politische Verhalten desselben mit gleicher Ausführlichkeit schil-
dernd als seine literarische Thäligkeit, der sich eine Betrachtung
seiner äusseren Verhältnisse (Vermögen, Landgüter, Gestalt, Klei-
dung u. A.) zunächst anschliesst. Die letzten Paragraphen (111 bis
144) geben dann als Resume und Ergänzung des gegebenen Tbat-
bestandes und in steter Zurückbeziehung auf denselben eine allsei-
tige Beurtheilung und Würdigung des Cicero. Dass Hrn. Dr. auf
sorgfältigste Quellenforschung gegründete Ansicht über densel-
ben der gangbaren Bewunderung entschieden gegenüber steht, ist
bekannt: eine ungezügelte Ruhmbegierde erscheint ihm als die
Haupt triebfeder seiner Handlungen und schonungslos deckt er
die Schwächen seines Charakters, das haltlose Schwanken seines
politischen Handelns auf. Auch die Mängel seiner Beredsamkeit,
vornämlich die Hinneigung zum Wortschwall asiatischer Eloquenz
und Gedankenarmut*) bei formaler Vollendung bebt er hervor. Den
Schluss bildet die Betrachtung Cicero's als Juristen und Philosophen
und in seinem Verhältnisse zu den exaclen Wissenschaften und den
schönen Künsten. Mit Recht verlangt Hr. Dr. von denen, die seine
Darstellung bestreiten möchten (S IX.), dass sie sich dabei nicht
sofort auf die Charakteristik werfen oder Einzelnes herausreissen :
nur eine Geschichte des Cicero vom entgegengesetzten Standpunkte
geschrieben erscheint ihm als eine die Wissenschaft fördernde Po-
lemik. Ref. hält ein solches Unternehmen nach Drumann's conse-
quenter und überall quellenmässig begründeter Auffassung für ein
sehr schwieriges, denn er wenigstens muss bekennen, bis auf ei-
nige hier und da schroffer hervortretende Härten, die sich wohl auch
bei derselben Grundanschauung milder fassen lassen möchten, durch
die Gewalt der in ihrem Zusammenhange geltend gemachten That-
sachen überzeugt zu sein.
Dem Leben des Cicero folgt das der Seinen, namentlich seiner
Gemahlinneu, Terentia und Publilia, seiner Tochter, seines unbe-
deutenden Sohnes Marcus ; in ausführlicherer Darstellung wird dar-
auf Q. Cicero abgehandelt und mehr als selbstständige Erscheinung
Allgemeine Literaturberichte. 93
gefasst, wie es von denen geschieht, die ihn ganz in seinen Bruder
aufgeben lassen : freilich schloss er fast überall demselben fügsam
sich an, aber, wenn er auch „nach seinen geistigen Anlagen nicht
in der ersten Reihe der Zeitgenossen steht" so „verdankt er (S. 749)
es nicht bloss dem Ruhme des Cicero, dass er jetzt noch genannt
wird." Sein Sohn Quintus, der 23 Jahre alt, nach einem unsläten
Leben, das durch den Zwist seiner Aeltern von Anbeginn an ge-
trübt war, und nach vielfachen Zerwürfnissen mit den Seinigen,
mit dem Vater zusammen erschlagen wurde, beschliesst die Reihe
der Tullii, des letzten der von Drumann behandelten Geschlechter.
Es folgt noch eine Uebersicht der Geschichte des AI. Tullius Cicero,
d. h. eine Inhaltsangabe der einzelnen, diesem Bande angehorigen
Paragraphen und ein sehr erwünschtes Register zu sära milichen
sechs Theilen. — Somit liegt eine der bedeutungsvollsten Epochen
der römischen Geschichte, die in gährender Entwicklung die Elemente
einer neuen Zeit in sich trägt, in den Lebensbildern der Haupttheil-
nehmer an jenen grossen Bewegungen, um die sich ihre Angehöri-
gen und Genossen gruppiren, uns abgeschlossen und vollendet vor:
in hellem Lichte erscheinen die widerstreitenden Parteien sowie
die Stellung der Einzelnen zu denselben, und aus eingehender Be-
trachtung des Dargebotenen ergiebt sich auch ein vollständiges und
abgerundetes Bild der Ereignisse in ihrem Zusammenhange, reich
an den gerade damals so bedeutungsvoll hervortretenden persönli-
chen Beziehungen und psychologischen Motiven, in deren klarer
Erkenntniss wir einen Hauptvorzug des Werkes sehen. Herr Dru-
mann hat uns in demselben ein xirjfia ig utt überliefert: möge eine
gerechte Anerkennung seines Verdienstes für alle aufgewandten
Mühen ihn entschädigen.
Geschichte der römischen Literatur von J. C. F. Bahr. Dritte durchaus
verbesserte und vermehrte Ausgabe. Carlsruhe \ 844.4 845. 2 Tnl.524 u. 747 S. 8.
Schon der äussere Umfang der neuen Ausgabe, der eine Th ei-
lung in zwei Bände nöthig machte, zeigt, dass der Hr. Verf. um
die Erweiterung und Vervollständigung seines Werks eifrig bemüht
gewesen ist. Man wird ihm das Anerkenntniss nicht versagen dür-
fen, eine umfassende Materialiensammlung mit einem grossen Auf-
wände von Fleiss geliefert zu haben. Einzelne Abschnitte haben
wesentliche Umarbeitungen und Ergänzungen erfahren, namentlich
im ersten Bande die Capitel, die die ältesten Denkmale römischer
Poesie und die dramatische Dichtkunst behandeln, im zweiten die
Darstellung der ältesten Geschichtschreibung, der Beredsamkeit und
der Grammatik. Die reichen Ergebnisse der Forschung in den letz-
ten zwölf Jahren sind mit einer sehr grossen Vollständigkeit nach-
getragen und so wird sich das Werk in dieser neuen Gestalt als
ein brauchbares und nützliches Hülfsmittel in erhöhtem Maasse er-
94 Allgemeine Literaturberichte.
weisen. Neben diesem Vorzüge aber dürfen wir nicht verschwei-
gen, dass eine auf kritischer Durchdringung des gesammten Stoffes
beruhende Genauigkeit noch nicht durchweg gleichmassig erreicht
ist: doch hat Hr. B. auch hierin mehr geleistet, als in den ersten
Ausgaben. Eine überall durch den zu behandelnden Gegenstand
selbst bedingte Form der Darstellung aber vermissen wir auch jetzt
noch häufig. Hr. B. schliesst sich hier oft zu sehr an die zufallige
Aufeinanderfolge verschiedener Forschungen über einen Gegenstand
an, statt diesen selbst zur Grundlage und zum Ausgangspunkte sei-
ner Exposition zu nehmen. Darauf wird der Hr. Verf. bei einer
folgenden Auflage hauptsachlich sein Augenmerk zu richten haben,
um sein Werk dem von ihm redlich und mühsam erstrebten Ziele
immer naher zu führen.
Ueber die Religionsbücher der Römer. Von Julius Alhanasius Ara-
brosch (Abdruck aus der Zeltschrift für katholische Theologie und Philo-
sophie). Bonn 4 843. 63 S. S.
Der Verf. gewinnt nach Betrachtung der betreffenden Stellen
für indigilare den Begriff der Anrufung eines Gottes verbunden mit
der Anzeige seiner Eigenschaften (Macr. Sat. 1. 17), der dann über-
haupt für „auf priesterliche Weise einen Gott bezeichnen u ange-
wandt sei (Macr. 1. 1. 1. 12 von Maia). Bezeichne es aber ein Anru-
fen und Nennen eines oder mehrer Götter nach einer im ius di-
vinum bestimmten Norm, so dürfe man über das durch Cens. de
D. N. 3. Serv. ad. Ge. I. 21 direct Bezeugte hinausgehend, alle die
Gottheiten als in den indigitamentis verzeichnet ansehen, auf die
mit Beziehung auf die pontifices oder deren Bücher jener Ausdruck
angewandt werde. Aus jenen ergab sich für die indigiiamenta, de-
nen die Ausführung Varros in den antiqq. rer. divin. (Aug. de C.
D. VI. 9) entsprach, das Verzeichniss theils auf die Person des Men-
schen bezüglicher Götter, deren jeder nur einmal in einem beson-
deren Lebensmoment Einfluss auf ihn äussert, theils solcher, die
sich auf seine Thätigkeit beziehen. In Bezug auf die ersteren urgirt
Hr. A. zu sehr das einmalige Hervortreten: es giebt in der Regel
oder zuweilen öfter im Leben wiederkehrende Momente (z. B. Ge-
bären, eine zweite Heirath etc.), die jedesmal eine erneute Anru-
fung jener Götter bedingen. In sorgfältiger Zusammenstellung giebt
Hr. A. als Probe dieses Theils 3er indig. ein Verzeichniss einiger
Götterreihen der ersten, so wie der auf den Ackerbau bezüglichen
der zweiten Classe. Diese zusammen aber bilden nur einen ver-
haltnissmässig geringen Theil derselben. Denn es kommen dazu,
dem oben angedeuteten Principe zufolge, noch sehr viele andere
und der höchsten Wahrscheinlichkeit nach sämmlliche durch Ur-
sprung oder zeitige Reception dem älteren Staatseultus angebörige
Gottheiten, die aber in ihrer Gesammtheit nach ihrer kfrchlicb-pe-
Allgemeine Literaturberichte. 95
titischen Bedeutung in heiliges Dunkel gehüllt waren. Die geistreiche
daran sich knüpfende Betrachtang, die das innerste Wesen der röm.
Religion in vielfachen Anknüpfungen berührt, erlaubt keinen Aus-
zog. Die ganze Abhandlung gewährt einen schatzbaren Beitrag zur
Kunde eines vielfach verdunkelten, aber hochwichtigen Denkmals
des Römerlhums, das in seinen Ursprüngen bis auf Numa zurück-
geführt wird. Wird eine allseitige Restitution desselben auch nicht
möglich sein, so gelingt es dem Hrn. Verf., der fortgesetzte Unter-
suchung verheisst, vielleicht noch mehre jener Götterreihen, wenn
auch nicht ohne Lücken, wie sie in jenen heiligen Urkunden stan-
den, zur Anschauung zu bringen. Kleine Nachlässigkeiten im Ein-
zelnen, z. B. den contaminirle Fabius Pictor Servilianus S. 3 und
störende Druckfehler Cornelius Laber für Labeo (S. 36. 39), das sinn-
entstellende vergönnt (S. 59, 7) wahrscheinlich für verpönt (doch
auch wohl das Opuleische Gesetz S. 48 statt des Ogulniscben?)
wünschten wir fort, um ungestört der eindringenden und gewandten
Untersuchung des feinsinnigen Forschers uns hingeben zu können.
G. P. Co rasen de poesi Romana antiquissima coromentationis praemlo
academico oraatae pars selecta. Berol. 4 844. 8. diss. inaug. philo». 38 p. S.
Die kleine, aber inhaltsvolle Schrift beschäftigt sich ausschliess-
lich mit den saliarischen Gesängen. Der Verf , der seine Resultate
selbst S. 13 ff. und 33 zusammenfasst , weist nach, dass der salia-
rische Cultus, aus italisch - pelasgischem Heraklesdienst hervorge-
gangen, nach Rom zunächst aus der etruskischen Verehrung der
Consentes übertragen sei: wie diese die 12 Monate repräsentiren,
so Mars, der saliarische Gott der Römer, ursprünglich den Früh-
ling, nicht den Gott des Krieges. Ihm ist der März geheiligt: dieser
ist daher die Zeit des Festes. Schon Härtung hatte diese Seite des
Mars hervorgehoben (Rel. d. R. II. p. 155 sqq ), aber weniger ent-
schieden als der Verf., dessen Ableitung des Gradivus p. 20 sq. als
Gra (= creator) divus freilich manchen Zweifel übrig lässt. Auch
die andern von den Saliern angerufenen, im März gefeierten Göt-
ter erscheinen in enger Beziehung zum Frühling und dem Früh-
lingsgotte. Allmählig %rst erhielt die civile und kriegerische Bedeu-
tung des Festes die Oberhand. Schliesslich betrachtet der Verf. die
Gebräuche des Festes, den Inhalt der Gesänge im Allgemeinen, die
specielle Bearbeitung der Bruchstücke sich vorbehaltend, den Na-
men der axamenta oder assamenta und ihre wahrscheinlich ziem-
lich früh anzusetzende Aufzeichnung. — Der Verf. zeigt gründliche
Studien und geschickte Combinalionsgabe , die z. B. bei der Deu-
tung der Consentes und der damit zusammenhangenden Einführung
des salischen Dienstes in Rom durch Numa (p. 12 sq.) in überra-
schender Weise sich geltend macht Der Verf. erregt durch diese
Probe nicht geringe Erwartungen von dem Ganzen seiner Arbeit,
96 Allgemeine Literaturberichte.
die, der gestellten Aufgabe gemäss, eine Erörterung der ältesten
röm. Volkspoesie nebst Zusammenstellung der Fragmente und, in-
soweit sie die Thaten der Altvordern besangen, eine Beurtbeilung
ihres Einflusses auf die Gestaltung der ältesten röm. Geschichte,
umfasste. Wir wünschen, dass der Verf. bald Gelegenheit finden möge,
uns mit seinen Forschungen auf diesem schwierigen und interessan-
ten Gebiete in weiterem Umfange bekannt zu machen. Möchte er
dann auch der Correctur des Druckes grössere Sorgfalt zuwenden.
G. Lucilius und die römische Satura. Ein Beitrag zur römischen Lite
rat Urgeschichte von Franz Do*-. Gerlach. Basel 4 844. 23 S. 4.
Dieses Schriftchen erscheint als Vorlaufer einer Ausgabe der
Fragmente des Lucilius. Es beschäftigt sich hauptsächlich damit
dem Satiriker seine Stellung in der Entwicklung der römischen Li-
teratur anzuweisen: in ihm leben die, in Ennius saturae (über die
S. 11 manches Unerwiesene aufgestellt wird) untergegangenen Ele-
mente der altnationalen, ländlichen Poesie der neckischen Satura
wieder auf, obwohl er in Form und Inhalt über sich selbst sie hin-
ausführend (p. 11 sq.), einen neuen Geist ihr einhauchte (S. 21),
wodurch sie wieder keck und muthig in das Leben trat. Der nä-
heren Ausführung des geistreichen, durch seine geschmackvolle
Darstellung ausgezeichneten Verf. wird man mit Vergnügen folgen,
wenn man auch nicht in allen Einzelheiten mit ihm übereinstimmt:
gewiss richtig aber ist, was er (S. 12 ff.), der gegebenen Ueb er lie-
ferung folgend, über Lucilius' äussere Lebens Verhältnisse gegen die
zwar mit Scharfsinn und Gelehrsamkeit durchgeführte, aber vor
einer unbefangenen Kritik nicht stichhaltige Hypothese van Heusdes
bemerkt. Dr. M. «Hertz.
Dissertationen und Programme.
Lorenz, de praetoribus munieipalibus commentalio. Typis ofßc.
Grimensis, 1843 18 S. 4.
Göttüng, nova edilio Legis de scribis, viatoribus et praeconibus
quaesloriis, facta ad aeneam tabulam Neapolilanam. Jenae, From
mann.. 1844. 9 S. 4.
H e r m a h n, disputatio de lege Lutatia. Gottingae, Dieterich. 1844. 9 S. 4,
Pfund, de antiquissima apud Italos Faba9 eultura ac religione.
Berolini, 1845. 38 S. 8.
M. Hertz, Sinnius Capito, eine Abhandlung zur Geschichte der
römischen Grammatik. Berlin, 1844. Oehmigke. 37 S. 8.
Brückner, Cicero num Catütnam repetundarum reum defendtt
Suidnicii, Heeg. 1844. HS. 4.
Pfilzn-er, Kritische Bemerkungen zu Tacitus Agricola. Beleuch-
tung der „Beiträge zur Kritik und Erläuterung von Tacitus Agri-
cola" von Wex. Neubrandenburg bei C. Brünslow. 1843. 32 S. 4.
Derselbe, commentatro quot quibusque numeris insignes legiones
inde ab Augusto usque ad Vespasiani prineipatum in Oriente te-
tenderint. Ebendaselbst, Höpfner. 1844. 12 S. 4.
Teuf fei, de Juliano imperatore Christianismi contemtore et osore.
Tubingae, Fues. 1844. 37 S. 8.
Heber Hie Entwicklung der deutschen
Historiographie im Mittelalter.
(Schlussarlikel. Siehe Bd. II. S. 39 ff. 97 ff.)
4.
tlrosse Veränderungen in der deutseben Geschichtschreibung
zeigen sieb seit dem 1*2. und 13. Jahrhundert, so dass wir <
wohl berechtigt sind, hier eine neue Periode zu beginnen.
Freilich nicht auf einmal machen sie sich geltend, nur lang-
sam und allmählig dringen sie durch; die neuen Foonen tre-
ten anfangs nur vereinzelt auf, gehen neben denen her, die
bis dahin die gewöhnlichen waren und die sich auch noch
lange in vielfacher Anwendung erhielten; nach und nach wer-
den sie dann aber die vorherrschenden, und wenn sie auch die
anderen nicht gleich verdrängen, so sind wir nun doch genö-
tbigt den Charakter der Historiographie überhaupt nach ihnen
zu bestimmen. Es sind dann aber wieder unter sich sehr ver-
schiedene Tendenzen, die auf diese Umwandlung ihren Ein-
fluss ausüben; es zeigen sich Richtungen, welche von ganz
verschiedenen Grundlagen ausgehen und sich oft nur sehr we-
nig berühren; sie hängen theils mit früheren zusammen, theils
sind sie der gerade Gegensatz dagegen; aber in ihrer Man-
nigfaltigkeit geben sie der historischen Literatur des späteren
Mittelalters einen ganz eigenthümlichen, fast buntscheckigen
Charakter. Und dieser wird dann noch dadurch vermehrt,
dass immer auch die alten Formen beibehalten werden und
selbst in der spätesten Zeit noch Werke entstehen, die denen
des früheren Mittelalters gleichartig oder nachgeahmt sind;
es finden sich unmittelbare Fortsetzungen älterer Arbeiten,
ZtiUchrifl f. Geschickte«-. IV. 1845. 7
98 lieber die Entwicklung der deutschen
in denen man freilich nicht gerade sklavisch an die Art und
Weise der Vorgänger sich anschliesst, aber doch auch keinen
ganz neuen Ton anzuschlagen gemeint ist Dazu kommt end-
lich die ungeheure Productivität dieser Zeit Die kleinen ano-
nymen Annalcn, Chroniken und Geschichten lassen sich kaum
zählen; nun ist kein Kloster, keine Kirche, fast keine Loca-
lität, die nicht irgend eine Aufzeichnung über ihre Geschichte
oder doch über einzelne Hauptbegebenheiten derselben, aber
die Entstehung, Wiederherstellung, Reformation u. dgl. auf*
zuweisen hatte. Wie vor Alters, so werden auch jetzt anna-
listische Aufzeichnungen abgeschrieben, fortgesetzt, vermehrt,
und mit wuchernder Kraft wachsen aller Orten solche zum
Theil kaum der Literatur angehörige Arbeiten hervor, die un-
ter sich verwandt und doch immer wieder in Einigem selbst-
ständig und eigentümlich sind. Ein grosser Theil derselben
liegt noch in den Bibliotheken verborgen, und wenn auch
die historische Ausbeute, die aus ihnen zu erwarten ist, ver-
hältnissmässig gering sein mag, so ist doch die vollständige
Untersuchung derselben nothwendig, um die eigentliche Ent-
stehung dieser Arbeiten darlegen zu können, und diese wird
ohne Zweifel od genug darthun, dass die gedruckten Werke
nicht die originalen sind, sondern aus anderen abgeleitet, aus-
gezogen, und nur deshalb pdblicirt, weil sie zufällig ihren
Herausgebern in die Hände gefallen waren«
Ich enthalte mich von diesen Arbeiten oder auch nur den
wichtigeren unter ihnen zu sprechen — ein besonders nen-
nenswertes Beispiel sind die österreichischen Annalen, un-
ter denen einige doch von mehr als gewohnlicher Bedeutung;
— ich bin genöthigt auch die grösseren Werke namhafter Ver-
fasser zu übergehen, insofern sich in ihnen nicht eine von
der früheren verschiedene Behandlungsweise geltend macht
Ich komme vielleicht auch in Gefahr, einzelne deshalb nicht
genug zu berücksichtigen, weil sie mir nicht hinreichend be-
kannt sind; denn ich kann mich allerdings nicht rühmen die
Werke dieser späteren Zeit alle gelesea zu haben. Ich muss
mich begnügen die Hauptrichtungen zu bezeichnen, welche
auf die Umbildung des Charakters der Historiographie einen
Historiographie im Mittelalter. 99
unmittelbaren Einfluss ausgeübt haben, und werde daneben
nur einige der hervorragendsten Erscheinungen besonders er-
wähnen können. •
Als charakteristisch für die Zeit des 12. und 13. Jahr-
hunderts ist es zunächst hervorzuheben, dass das sagenhafte V
Element mehr und mehr in die Geschichte eindrang.
Sage oder der Sage verwandte Ueberlieforung, war der Anfang
aller Geschichte bei den Deutschen gewesen, erst nach und
nach hatte diese sieh davon losgesagt, hatte sich zu einer freie-
ren und höheren Behandlung erhoben. Aber auch vor dem
hellen Lichte der Historie war die Sage nicht gewichen, son-
dern sie behauptete sich nur zunächst in anderen Sphären.
Es ist deutlich, wie die grossen Begebenheiten der Geschichte
der mündlichen Unterhaltung und Erzählung des Volkes ebenso
wie der bewussten poetischen Gestaltung als Stoff dienten
und auf diese Weise den eigenthümlichsten Auflassungen, den
wunderlichsten Umgestaltungen unterlagen. Nicht so gleich
fanden solche Traditionen ihren Weg in die Literatur; doch
währte es nicht lange, dass sie auch hier erschienen, und bald
in ihrer wahren Beschaffenheit, bald aber auch unter dem
Scheine der Geschichte auftraten. Unter dem Urenkel Karl's
des Grossen schreibt ein Sangaller Mönch ein Buch voll der
wunderlichsten Geschichten über den grossen Kaiser, die er
meist aus dem Munde älterer Zeitgenossen überkommen hat
Kaum ein Jahrhundert später begegnet uns die erste Spur
der Erzählungen über Karl's Zug nach dem Morgenlande, und
auch die erste uns bekannte poetische — ich sage so, ob*
schon die Darstellung selbst in lateinischer Prosa niederge-
schrieben ist — Bearbeitung der Kämpfe zwischen Christen
und Soracenen in Spanien zu Karl's Zeiten ist noch aus dem
10. Jahrhunderte. Erst bedeutend später erschien dann je-
nes Werk des sogenannten Turpinus, das ganz und gar den
Charakter des Romanes an sich trägt, obschon es sich für
Geschichte ausgiebt. Aber schon vorher haben solche Ueber-
lieferungen in historische Werke Eingang gefunden , zu-
erst in Italien, wo die Chroniken des Benedict von S. An-
dreas, eines unbekannten Salernitaners und des Mönches von
100 Veber die Entwicklung der deutschen
Novalese eben dadurch einen so eigentümlichen Charakter
erbalten haben« — Ans dem Munde des Volkes, vielleicht ans
Liedern und Gelängen entnahm Dado von St. Quentin, was
er am Anfang des 11. Jahrhunderts über die Zöge und Nie-
derlassungen der Normannen in Frankreich schrieb- — Und
auf ähnliche Weise fand nun auch in Deutschland die Sage
bei den Historikern Berücksichtigung ; der treffliche Widukind
hat nicht allein die Urgesobichtep seines Volkes daraus ge-
schöpft, er hat auch spater, noch in der«Geschichte Hein-
riche 1., die Volksüberlieferung nicht ganz verschmäht, wenn
er ihr auch nicht eben viel einräumt Viel häufiger bezieht
sich Ekhehard von Sangallen auf das, was gesagt und gesun-
gen wurde von den Begebenheiten des 10. Jahrhunderts» van
Adalbert's Fall durch Hatto's List und anderen merkwürdigen
Di »gen. Ja untersuchen wir das Werk dieses Verf. näher,
so zeigt sieb, dass, so sinnlich treu seine Erzählung auch die
Zustände zu vergegenwärtigen scheint, doch- in Wahrheit eben
nur eine Sagengeschichte gegeben wird ; es ist nichts als nie-
dergeschriebene Klostertradition und Volksüberlieferung; fast
überall lässt sich Genauigkeit der Namen und Zeitbestimmungen
vermissen; der Verf. hat keine geschriebenen Quellen vor sich,
und daher beruht seine Darstellung ganz und gar auf dem
unsicheren Boden mündlicher sagenhafter Mittheilongen. --—
leb kann hier nicht alle Werke bezeichnen, die hier oder da
Elemente dieser Art in sich enthalten; ich hebe es nur noch
hervor» dass einzelne Quellen, die Annalen von Quedlinburg,
eine Würzburger Chronik und Ekhehard von Oranjia sich ge-
radezu auf die weit verbreitete im Volksmunde und in Lie-
dern lebende deutsche Heldensage berufen, die ifctt der wah-
ren Geschichte Ermanrich's und Theodorickte zu vermitteln
namentlich dem letzteren schwierig genng erscheint. E* wä-
ren uns gewiss noch weit mehr sagenhafte Ueberlieferungen
aas dieser Zeit erhalten, wenn nicht die grossen Chretiiken,
die' sich besonders mit der älteren Geschichte beschäftigten,
es vorgezogen hätten, ältere Quellen »wörtlich auszuschrei-
ben, sei es dass sie den unhitftoriseben Charakter anderer
Überlieferungen erkannten, sei es dass sie aus einer gewis-
Historiographie im Mittelalter. 101
sen gelehrten Opposition gegen diese im Volke lebenden Er-
zählungen an ihnen vorübergingen. Es wäre doch zu wün-
schen gewesen, dass ein Autor uns alle solche volkstümli-
chen Geschichten und Anecdoten gesammelt hätte, deren Vor-
handensein uns z. B. das merkwürdige Buch des englischen
Chronisten Willelmus Malmesburiensis darthut und die mei-
stens einen novellenartigen Charakter an sich tragen.
Es geschah freilieb etwas der Art, doch in einer Weise,
die es uns schwer macht zu unterscheiden, was dem eigent-
lichen Gebiet der Sage und was der frei und willkürlich
schaffenden Dichtkunst angehört Denn indem im 12. Jahr-
hunderte die deutsche Dichtkunst sich in grossartiger, glän-
zender Weise ausbildete, zog sie auch diesen Stoff in ihr Be-
reich, und zwar nicht bloss die Thaten einzelner schon der
Sage anheim gefallener Persönlichkeiten, sondern es wurde
ihr die ganze Geschichte der Gegenstand cigenthümlicber dich-
terischer Bearbeitung und Darstellung.
Schon in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts entstand
die sogenannte Kaisercbronik , wenigstens gehen die ältesten
Handschriften nur bis Lothar; Umarbeitungen und Erweiterun-
gen gehören dann in die späteren Jahre des 12. Jahrhunderts.
Das Ganze aber ist eine freie poetische Behandlung der ge-
sammten Geschichte wie sie das Mittelalter kannte, aber so frei,
dass es oft hockst schwierig erscheint auch nur die Anknüp-
fungspunkte an die wahre Geschichte oder die sonstige Ueber-
lieferung zu finden, wenigstens in den Tbetlen, die mir be-
kannt geworden sind. Manches mag aus solchen vereinzelten
legenden- oder novellenartigen Erzählungen, wie ich sie vor-
hin bezeichnete, entlehnt sein; — doch zweifle ich, dass es
Massmanns Gelehrsamkeit gelingen wird überaH die Quellen
nachzuweisen, und Vieles, und besonders die ganze Ausfüh-
rung wird doch wob! dem Dichter angehören, obschon dieser
geradö mit grosser Entschiedenheit sich für die wahre. Ge-
schichte gegen die erdichteten Romane seiner Zeit ausspricht.
— - Nicht anders Rudolf von Ems in der Weltchronik, die
selbst freilich kaum an dieser Stelle in Betracht kommen kann,
da sie nur einen Theil der biblischen Geschichte utafasst der
102 Heb er die Entwicklung der deutschen
aber vielfach umgearbeitet, fortgesetzt wurde und ähnlichen
Arbeiten der Zeitgenossen zur Grundlage diente. — Der Stoff,
den diese Werke verarbeiteten, ist auf jeden Fall kein aus-
schliesslich und ursprünglich defitscher, sondern es- sind Sa-
gen und Geschichten des Orients, der römischen Welt, Ita-
liens und des übrigen Südens, die hier mit volksmassigen
deutschen Erzählungen verbunden werden, und die der Dich-
ter dann ausführt, erweitert, auch wohl aus eigener Phanta-
sie vermehrt. Sie sind das Resultat jener grossen phanta-
stisch-religiösen Bewegung, welche die Welt des Abendlan-
des seit dem Ende des 10. und dem II. Jahrhundert ergriff
und die ihren Höhepunkt in der Zeit der ersten Kreuzzüge
erreichte. Durch die Kreuzzüge wurde plötzlich die ganze
weite, orientalische Welt dem Abendlande erschlossen, und
eben sie haben auf die Vermischung der Sagen, auf die ganze
Ausbildung dieser Literatur den bedeutendsten Einfluss geübt.
In der Tbat gehörte dies Alles aber der Geschichte der
Prosa viel mehr an, als einer Betrachtung der historiographi-
schen Leistungen; wir sind hier wenigstens auf ein Gebiet
gerathen, wo die angebliche Geschichte gleicbmässig in Stoff
und in Form der Dichtkunst sich anreiht. Dass die Historio-
graphie dieser die Form entlehnt, ist freilich auch sonst der
Fall, ohne dass deshalb der eigentlich geschichtliche Charak-
ter diesen Werken verloren ginge. Wir sehen aber zunächst
noch hiervon ab und verfolgen es noch etwas weiter, wie die
Sage auf die Geschichtschreibung eingewirkt hat.
Da sehen wir, wie seit der Mitte des 12. Jahrhunderts
eine sagenhafte Ueberlieferung immer mehr Aufnahme in die
historischen Werke findet; ich meine aber hier dife eigent-
liche Volkstradition, die sich unwillkürlich über jedes wich-
tigere Ereignis» der Geschichte bildet und die von jenen no-
vellenartigen Erzählungen doch noch wesentlich zu> unter-
scheiden ist. Da ist es bald Karl der Grosse, theils und vor-
zugsweise sind es .die grossen Könige und Kaiser des 10.
Jahrhunderts, deren Personen und Thaftan in solcher sagen-
haften Gestalt erscheinen. In der Kaisercbronik ist ihre Ge-
schichte zum blossen Gedicht geworden; hier dagegen ist der
Historiographie im Mittelalter. 103
Stamm der Geschichte geblieben, aber eine wuchernde Fülle
traditioneller Ueberlieferungen hat .sich an denselben ange-
setzt und verdeckt ihn oft ganz und gar dem Auge des ober-
flächlichen Betrachters. Selbst in so rein compilatorische
Werke wie die des sogenannten Annalista Saxo dringen sie
ein ; sie finden hier freilich keine vollständige Aufnahme, doch
sieht man aus manchen Andeutungen, wie sie weite Verbrei-
tung erlangt haben und wie die Historiker sich ihrer nicht
mehr erwehren können. Etwas später finden sie dann auch
einen Autor, der sie bereitwillig aufnimmt und verarbeitet,
den Godfried von Viterbo, einen Italiener, der aber grossen-
theils in Deutschland lebte, und dessen Memoria seculorum
eine fast ganz in lateinischen Versen geschriebene Sammlung
solcher Geschichten von den einzelnen Königen, Kaisern und
anderen merkwürdigen Personen enthält Wir würden viel-
leicht auch dies Buch in die Poesie zu verweisen haben, wenn
der Verfasser nicht so bestimmt in seiner Vorrede an K.
Heinrich VI. den historischen Charakter für dasselbe in An-
sprach nähme und wenigstens die Angelegenheiten Fried-
riche I. in einer mehr geschichtlichen Weise dargestellt hätte,
wenn er nicht ausserdem später einen prosaischen Text, den
er freilich aus Otto von Freisingen entlehnte, hinzugelugt und
das Ganze nun aufs Neue unter dem Namen Pantheon als
ein wahres Geschichtsbuch edirt hätte. Es bat denn auch
den grössten Einfluss auf die späteren Autoren Deutschlands
wie Italiens ausgeübt, seine Geschichten haben die weiteste
Verbreitung gefunden, und was in seinen Versen leicht als
blosse Erfindung oder Ausschmückung erscheint, nimmt, in
schlechte Prosa umgesetzt, später nur zu od einen unbedingt
historischen Charakter in Anspruch. — Diese anekdotenartige
Geschichtserzählung wurde nun besonders beliebt und machte
sich wie in den deutseben Chroniken, die seit der Zeit ent-
stehen, so auch in denen geltend, die sich in Sprache und
Form den früheren Vorbildern anschlössen; namentlich in je-
nen ungeheuren Cempilationen, wie sie seit dem 1?. und 13.
Jahrhundert häufig sich finden, denen jede Ueberlieferung
recht und willkommen war und als deren Hauptrepräsentan-
104 lieber die Entwicklung der deutschen
ten ich nur den Alberieus und das Speouhim historiae des
Vincentius vqp Beauvais nennen- will, sodann aber > auch ra
den Kaiser- und Papstgeschichten, von denen keine be-
rühmter ist als die des Martiuus Polonus aus der zweiten
Hälfte des 13. Jahrhunderts, ein Buch, das eine fast unglaub-
liche Verbreitung in ganz Europa gefunden und diese Ge-
schichtcheo, die es statt der wahren Geschichte gab, zur all-
gemeinsten Kenntnis» gebracht hat Indem. diese Historien
nun amplificirt, weiter entstellt, durcheinander gewirrt,, in-
dem Ficüonen zu bestimmten, z. B. hierarchischen Zwecken
hinzugerügt wurden, so kam es bald dahin, das* statt der
Geschichte nur eine grosse Reihe von Fabeln, in denen selbst
die ursprünglichen echt sagenhaften Bestandteile schwer
herauszufinden sind, fortgeschleppt wurde. Und das Ganze
bildet in den Chroniken des 14. und 15. Jahrhunderte ein
Gewebe, das, wenn man es nicht in die einzelnen Fäden
aufzulösen und jeden auf seinen Ursprung zurückzufuhren
weiss, als ein Gewirr erseheint, das man vendriessüch am
liebsten von sich werfen möchte. Schon lange hat die Kritik
gesucht sich dieses Wustes zu entledigen; doeh in der Reget
ohne rechte Gonsequenz, und. Einiges bat sieh bis zw jüng-
sten Zeit in unseren Geschichtsbüchern erbalten oder* sucht
von Zeit zu Zeit sich wieder Geltung zu verschaffen. Man
meint dies zu rechtfertigen, wenn man steh eben auf die
Volkssage als die Quelle dieser Ueberlieferungen beruft*' Um
aber bis zur echten Sage vorzudringen, bedarf es sorgfältiger
Sichtung; die allmählige Entstehung, An wachsung, Ausbildung,
Verbreitung dieses Stoffes ist nachzuweisen, Vieles« als rein
willkürliche Erdichtung auszuscheiden, und auch der wahr-
haft sagenhafte Bestandtheil ist doch eben nur als Sage, nicht
als wahre Geschichte zu würdigen.
Wie aber die geschichtliche Literatur des Mittelalters,
insofern sie sich mit den filteren Zeiten beschäftigte, hierdurch
einen ganz eigentümlichen, aber nicht erfreulichen Charak-
ter erhalten musste, liegt zu Tage.
Von ebenso grosser Bedeutung aber und viel erfreulicher
zugleich war es, dass die geschichtlichen Werke jetzt
im Mittelalter. 105
grossentheiis in heimischer Sprache geschrieben
wurden. Es hängt das zumTheil mit jenem ersten zusam-
men. Wie nämlich Sage und Dichtkunst auf den Stoff der
Historiographie einen wesentlichen Einflnss ausübten, so ge-
brauchte diese auch nicht selten die poetische Form für ihre
Darstellungen. In lateinischen Versen hat man auch früher
schon historische Stoffe bearbeitet, wie in Deutschland be-
sonders das Werk des sächsischen Diohters über das Leben
Karl's des Grossen und die Gedichte der Hrotvuit über die
Thaten Otto's I. und die Geschichte Gandersheims einen be-
deutenden Namen erlangt haben. Sie sind aber keineswegs
die einzigen, sondern in Deutschland wie in Italien und Frank-
reich, in carolingtscber und in späterer Zeit lassen sich im-
mer Arbeiten der Art nachweisen; eins der merkwürdigsten
Betspiele wUrde ans dem 12. Jahrhundert das Gedicht des
Gmtheros Ligurinus über die Thaten Friedriche I. sein, wenn
wir uns der Zweifel über die Echtheit entschlagen könnten.
Dagegen muss das schon genannte Werk Godfried's von Vi-
terbo hierher gesohlt werden. Wir haben aber an dieser Stelle
doeh nicht näher hiervon, sondern nur von den Geschichten
und Chroniken in deutschen Versen zu sprechen, wie sie ent-
standen, sobald die deutsche Dichtkunst jenen höheren Auf-
schwung nahm und jene weite Verbreitung erlangte, welche
wir besonders seit dem 12. Jahrhundert wahrnehmen. Eben
jene Kaiserchronik und die Weltchronik des Rudolf von Ems
stehen hier am Uebergange von reiner Dichtung zur Historie
im dichterischen Gewände. An sie schliesst sich dann zu-
nächst das Werk des Enenkel, eines Oesterreichers um die
Mitte des 13. Jahrhunderts. Auch von ihm haben wir eine
Weltchronik, jener des Rudolf und seiner Fortsetzer in An-
lage und Ausfuhrung ziemlich gleichartig; dem biblischen Stoff
sind auch die romanhaften Eraihtangen vom Trojanischen
Krieg und Alexander zugemisoht, dazu anderes, das freilich
noch nicht Geschichte ist, doch ihr mehr sich annähert und
anderswo dafür gHt. Derselbe Mann dichtete aber auch eine
Geschichte des österreichischen Hauses (Fürstenbuch}, und
betritt hier schon ein mehr historisches Gebiet, das er dann
106 Heber die Entwicklung der deutschen
aber freilich auch immer mit den verschiedenartigsten Ge-
schichtchen, oft den fremdartigsten und ungehörigsten, be-
reichert. Und im Laufe des 13. und 14. Jahrhunderts wird
dann diese poetische Form auch auf rein historische Gegen-
stände angewandt, und es entsteht die eigentliche Reim-
chronik, die einen wichtigen Platz in der Historiographie
des späteren Mittelalters einnimmt. Auch ihr Charakter ist
nicht mit Einem Worte zu bezeichnen, sondern verschieden
nach dem Inhalt und nach der Individualität des Verfassers:
mitunter Bearbeitung lateinischer Quellen oder eigene treue
Darstellung der Thatsachen, mitunter freiere Behandlung des
Gegenstandes. Zu jener Gattung müssen wir die niederdeut-
sche Chronik Eberhard's von Gandersheim noch aus dem An-
fang des 13. Jahrhunderts, zum Theil auch die Chronik des
Braunschweigisch- Weifischen Hauses rechnen. Kineo volks-
tümlichen frischen Charakter tragen alle diese Werke an
sich. Jenen sagenhalten Stoff nehmen sie auf und verarbei-
ten ihn, v wo sie die früheren Zeiten in den Kreis ihrer Darr
Stellung hineinziehen; von der unmittelbarsten Wichtigkeit
aber sind sie, wo gleichzeitige Begebenheiten den Gegenstand
der Darstellung ausmachen. Godfried's Hagen Beimcbronik
von Köln ist aus Deutschland eins der bedeutendsten Bei-
spiele, und daran reihen sich die zahlreichen belgischen und
niederländischen Arbeiten dieser Art; hier drängte der ganze
Charakter des Volks die Poeten zur Behandlung solcher Stoße,
die nicht ausschliesslich, nicht vorzugsweise dem Gebiete 4er
Phantasie angehörten. Bald wurden allgemeine Chroniken,
wie der berühmte Geschichtsspiegel des Afaerlant, bald ein-
zelne Begebenheiten, wie von Heelu die Sehlacht bei Worin-
gen, zum Gegenstand der Behandlung gemacht; auehdie» Lan-
desgeschichte schrieb man mit Vorliebe in dieser Weise und
Form. — Die interessanteste Verbindung aber historischer
Darstellung und poetischer Behandlung zeigt Ottokar von
Horneck in seiner österreichischen Chronik aus dem Ende
des 14. Jahrhunderts, einem Werke, dem an lebendiger Auf-
fassung und Vergegenwärtigung der Zustände und Begeben-
heiten kaum ein anderes an die Seite gestellt werden kann, so
Historiographie im Mittelalter. 107
wenig auch die Erzählung auf unbedingte historische Glaubwür-
digkeit Anspruch zu machen hat, da der Verfasser wenigstens
oft mit dem ihig überlieferten Stoff ebenso frei schaltete wie
der Dichter mit den von ihm bearbeiteten Sagen und Romanen.
Das Eigenthümliche und Bedeutende in diesen Werken
war immer, dass sie in heimischer Sprache geschrieben wa-
ren; so härten sie auf blosse Arbeiten der Gelehrsamkeit zu
sein, nun fanden sie Eingang beim Volk und nahmen eine
bedeutende Stellung ein in der literarischen Entwicklung des-
selben. Und nur kurze Zeit, so that man den entscheidenden
Schritt und schrieb in deutscher Prosa, was man bis dabin
in ein poetisches Gewand, wenigstens äusserlich, eingehüllt
hatte. Ist dies einerseits ein Zeichen der Fortbildung, deren
die prosaische Darstellung überhaupt sich zu erfreuen hatte,
so hat es andererseits auch selbst dazu beigetragen, sie zu
einer höheren Stufe freier mannigfaltiger Darstellung zu füh-
ren. Später und in weniger bedeutender Weise als in den
Nachbarländern ist es in Deutschland geschehen; den Ville-
bardouin, Joinville, Malaspini und Villani haben wir aus die-
ser Zeit kein gleiches Werk an die Seite zu stellen. Das
älteste Werk von erheblicher Wichtigkeit ist die Sachsen-
chronik, die um die Mitte des 13. Jahrhunderts entstand und
sich wenigstens durch die Darstellung vortheilbaft auszeich-
net. Theils ist sie nach älteren lateinischen Quellen gearbei-
tet» theils ist der Stoff hier der im Munde des Volks leben-
den Tradition entnommen; vielleicht zeigt sich nirgends eine
eigenthümiichere Vereinigung der gelehrten und volkstüm-
lichen Ueberlieferung; scharfer Kritik gelingt es noch wohl
"sie zu sondern, doch sind sie immer höchst eigenthümtich
verbunden und geben dem Werke einen besonderen Reiz. E»
hat auch in Nerddeutscbland grosse Verbreitung gefunden und
ist Quelle und Vorbild für viele andere ähnliche Arbeiten
geworden.
Später hat dann die historische Prosa immer allgemei-
nere Pflege erhalten und sich zu grösseren Leistungen auch
in Deutschland erhoben. Ehe ich einzelne dieser Werke nenne,
muss ich aber darauf aufmerksam machen, dass jetzt wie die
108 Ueber die EntwickUtng der deutschen
Wissenschaft und Literatur überhaupt, so besonders auch die
Geschichte den Händen der Geistlichen grossen-
theils entzogen wurde, indem nun theilg von den Dich-
tern und Literaten, wie sie besonders in Italien, mitunter
auch an dem kaiserlichen Hof sich finden, theils von Rechts-
gelehrten und Staatsmannern, mitunter wohl von den han-
delnden Personen selbst, theils endlich in den aufblühenden
Städten von Mitgliedern des Bürgerstandes ihre Bearbeitung
unternommen wurde. Für eine weitere reichere Ausbildung
war das von grosser Bedeutung. Es ist freilich nicht gesagt,
dass damit immer eine Ablassung in deutscher Sprache ver-
bunden war; es blieb Latein die Sprache nicht bloss der Ge-
lehrsamkeit und der Wissenschaft, auch der Stantsgeschifte
und politischen Verhandlung, und sie war wie an den Hö-
fen, so auch in den Städten jederzeit wohl bekannt. Anob
wandte man in den späteren Zeiten des Mittelalters- sich grade
mit Vorliebe einer eleganten Ausbildung des lateinischen Styles
zu, und wenn man aufs Neue begann in fremder Sprache mit
den Dichtern des Alterthums zu weiteifern, und wenn selbst
ein Petrarcha solche Versuche seinen unsterblichen Sonetten
vorziehen konnte, so ist es nicht zu wundern^ dass auch die
weltliche Geschtchtaehreibung noch oft dieses Gewende« sich
bediente. So schrieb der Kanzler Mathiaa von Neuenburg mit
wahrer politischer Einsicht die Geschichte des 13. und 14.
Jahrhunderts; den ausgezeichneten Staatsmann Albertinus
Mussatus, den Biographen K. Beinrich's V1L, dürfen < wir »n
dieser Stelle nennen, obwohl er ein Italiener war; dem K.
Karl IV. selbst verdenken wir eine Darstellung seiner frohe-
ren Lebensjahre. Diesen Autoren^ aber reihen sich auch ein-
zelne Geistliche »an, die entweder selbst zu wichtigen Staats-
geschäften gebraucht und so in den Stand geeetzt wurden,
die Geschichte ihrenZeit mit voller Sachkenntnis»- zu 'schrei-
ben, oder die als höher gebildete und gelehrte Männer xu
historischen Arbeiten besonders- befähigt waren. — Die letzte
Zeit der Hohenstaufen und die nächsten unruhigen Jahre sind
weniger reich an solchen Arbeiten als sonst irgend eine Pe-
riode der deutschen Geschichte; in den folgenden Zeiten &m
HUioriographU im Mittelalter. 109
hen wir aber auch hier wieder bedeutendere Kräfte thatig.
Der Verfasser der Colmarer Annalen, der Geistliche, der das
Leben des Bischofs Balduin von Trier geschrieben , der Abt
Johann von Victring u. A. sind mit verdientem Lobe hervor-
zuheben. Auch in den Städten wurde noch manche Chronik
lateinisch geschrieben, auch hier waren es nicht selten Geist«
liehe, die mit der Abfassung solcher Werke beauftragt und
beschäftig!* waren. Doch keineswegs immer; auch die Stadt-
schretber und andere weltlichen Standes übernahmen diese
Arbeit
Auch müssen wir es als die Begel betrachten, dass hier
die deutsche Sprache, die von jedermann verstanden wurde,
den Vorzug erhielt Gerade in de» Städten entstanden nun die
ausgezeichnetsten prosaischen Geschichtsbücher, die Deutsch-
land im Mittelalter aufzuweisen bat, vortreffliche Stadt- und
Provinzialgeschichten, die Strasaburgtr Chronik von Cloeener,
und etwas später in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts
die Elsassische Chronik von Jäkob Königshoven, um dieselbe
Zeit in Norddeutschland die bremische Chronik von Scheue
und ßynesberch, die Lübecker Stadtchronik und ihre Ueber-
arbeitungen und Fortsetzungen von Detmar und anderen im
15. Jahrhundert Im Laufe dieser Zeit und besonders gegen
da» Ende des Mittelalters erhielt dann fast jede bedeutendere
Stadt ihren Chronisten, auch wohl mehre kurz nach einander,
die sich fortsetzten, oder indem sie sich ausschrieben, doch
auch gegenseitig ergänzten. Da entstanden die „hillige Chro-
nik der Stadt Köln," Chroniken von Nürnberg, Augsburg,
Magdeburg, Hamburg und vielen anderen Orten. Und einen
ähnlichen Charakter haben nun die Geschichten der einzelnen
Länder und Provinzen, deren es aus dem 15. Jahrhundert eine
fast zu grosse Menge giebt, von Thüringen, Hessen, Baiern,
Oesterreich. Auch die südschwäbischen Städte haben schon
{ruber* ihre Chronisten aufzuweisen, Zürich den Eberhard
Möller und andere, Bern de« Justingor, nun entstehen die
nationalen Schweizer Chroniken von Schilling, Stumpf, und
Tschadi , mit denen wir schon die Grenze des Mittelalters
erreichen, zom Ttoü überschreiten.
110 lieber die Entwicklung der deutsclien
Auf die wunderlichste Weise zeigen oft alle diese Bü-
cher sowohl die Fehler als die Vorzüge, die wir den Wer-
ken dieser Zeit im Allgemeinen zugeschrieben haben. In ih-
ren früheren Theilen sind sie meistens reich an apocryphen
Nachrichten, sei es dass die Verfasser die einmal in Umlauf
gebrachten Geschiebten aufnahmen, oder dass sie neuen Stoff
aus der Sage, aus der Dichtung entlehnten; jede Stadt wusste
sich nun eines besonderen in der Regel ganz uabistonschen
Ursprunges zu rühmen, solche Gelehrsamkeit hat meistens die
Sache veranlasst oder doch weiter ausgeschmückt; und nicht
anders ist es mit den Ursprüngen der einzelnen Stamme und
Fürstengeschlechter gegangen; freche Zudringlichkeit scheute
sich nicht ihnen eine Urgeschichte anzudichten, die meistens
aller wahren Ueberlieferung, ja aller vernünftigen Ansicht wi-
derspricht Dieselben Werke aber erscheinen, wenn ihre Dar-
stellung die spatere Zeit erreicht, vortrefflich derch die ge-
sunde Autfassung der Verbaltnisse, durch die frische aus dem
Leben selbst geschöpfte Erzählung; man sieht, die Verfasser
kannten das Leben und wussten es zu schildern.
Es giebt aber auch Bücher, die nur die Zeitgeschichte
zum Gegenstande haben und daher jenem Tadel entgehen.
Einige Stadt- und Landesgeschichten gehören dahin; hier will
ich nur Eberhard Windeck's Geschichte des Kaiser Sigtsmund
und seiner Zeit anfuhren, ein Buch, das durch die Stellung
des Verfassers — er war dem Kaiser nahe verbunden — >
durch die umfassende Behandlung des Gegenstandes usd die
Darstellung in deutscher Sprache immer in hohem Maasse
die Aufmerksamkeit der Freunde deutscher Historiographie
auf sich gezogen bat, wenn es gleich nicht in alles Bezie-
hungen mit manchen anspruchsloseren Arbeiten au wetteifern
im Stande ist
Neben diesen verschiedenen Richtungen «acht sich nun
aber, wie ich schon bemerkte, auch noch manche aus frühe-
rer Zeit beibehaltene Art der Behandlung geltend; es finden
sich die Bischofs- und Klosterchroniken, auch jene Lebens-
beschreibungen angesehener Geistlichen fest noch ganz in der
alten Weise. Noch immer entstehen Weltchroniken, wie man
j
Historiographie im Mittelalter. 111
sie im 11. und 12. Jahrhundert liebte, bald rein annalistisch,
bald nach Kaisern und Päpsten geordnet Hier ist es, wo
eine weitschichtige Gelehrsamkeit sich zu Tage legt» in der
Regel nicht in der erfreulichsten Weise. Diese Werke, die
als Speculum historiae, flores historiarum, imago mundi, cos*
modromium, fasciculus rerum u. s. w., immer aufs Neue ent-
stehen, sind tbeilweise doch nur grosse Ablagerungsplätze fiir
Lieberlieferungen aller möglichen Art; Geschiebte und Sage,
Excerpte aus älteren Quellen und neue Erdichtung, Erudi-
dition und krasse Unwissenheit liegen hier im bunten Ge-
misch nebeneinander, und so lauge das Mittelalter dauert,
findet diese Literatur kein Ende, sie dauert noch über das-
selbe hinaus. Für dies Gebiet ist auch die Neubelebung der
classischen Studien ohne alle Bedeutung; man lässi einmal
von der gewohnten Weise nicht ab, und kümmert sich we-
nig um die Fortschritte, die in Darstellung und historischer
Auffassung gemacht worden sind und fortwährend gemacht
werden.
Allerdings aber* war diese Beschäftigung mit der Litera-
tur des Alterthums auch fiir die Historiographie von grosser
Bedeutung; gelang es auch sobald noch nicht die verworrene
Tradition zu lichten und nach Anleitung der echten Quellen
sich der Irrtbümer und falschen Begriffe, welche die Welt
beherrschten, zu entschlagen, so lernte man doch die Zeit-
geschichte mit grösserer Eleganz schreiben, es widmeten
sich ihr aufs Neue Männer von höherer politischer Bildaag,
wie jener Aeneas Sylvius, dem wir mehre wichtige Bücher
über deutsche Geschichte verdanken, und wie andere beson-
ders in Italien thätig waren.
Einen so eigentümlichen Anblick bot die Historiographie
am Ende des 15. Jahrhunderts dar: man schrieb in lateini-
scher und deutscher Sprache; die Geschichte war durch die
Bemühungen ausgezeichneter Männer volksthümlich geworden,
doch strebte sie auch nach Eleganz und Zierlichkeit im frem-
den Gewände; man zeigte Sinn für höhere politische Auf-
fassung wenigstens der Zeitgeschichte und war befangen in
den falschesten Ansichten über die Vergangenheit; die An-
112 lieber die Entwicklung der deutschen
m
fange schärferer Kritik begannen sich zu regen, so wie der
Kreis der zugänglichen Quellen ein grösserer wurde, und zu-
gleich wagte man die frechsten Erdichtungen in den Urge-
schichten einzelner Länder, Städte und Geschlechter; gesunde,
entwicklungsfähige und abgestorbene, faule Elemente lagen
unmittelbar neben einander; oft treten sie uns in demselben
Buche entgegen. Kein lebendigeres Beispiel Tässt sich den-
ken als Johann von Trittenheim (Trithemiüs), von dem ein-
zelne Werke steh durch Gelehrsamkeit und elegante Dar-
stellung aufs vorteilhafteste auszeichnen; noch jetzt ist na-
mentlich sein Chronicon Hirsangiense besonders m literarhi-
storischer Beziehung ein unschätzbares Hülfemittel; während
er zugleich den phantastischen Sinn und- die Lügenlust jener
Jahre in solcher Weise theilte, dass er jene wunderlichen
Geschichten der alten Franken erdichtete, die er unter den
Namen eines Hunibald und Wattbald mit dreister Stirn in
dte Welt schickte.
Dann aber regt sich auch in der deutschen Gesfchkht-
sebreibung ein anderer Geist; eine feinere historische Kritik,
eine gelehrte und zugleich geschmackvolle Bebandtang macht
sieh mehr und mehr geltend. Turnmayr (Aventtmis) schrieb
seine bayersche Chronik, ein Werk ebenso gründlicher For-
schung wie einer gesunden echt patriotischen Gesinnung, die
den Mann beseelte. Albert Krantz verfasste gleichzeitig seine
Bücher über norddeutsche Geschichte, die doch schon ganz
auf umfassender sorgfältiger Forschung beruhen. Daran rei-
hen sich die Werke von Hartmann Schede! , Jacob Wtmpfe-
1mg, Sebastfcn Frank, Johann Cario und Andern, die an der
Grenze des Mittelalters stehen oder dasselbe bereits ganz hin-
ter sich lassen, und die dann hinüberführen in die neue Zeit,
wo Slehbtnus und mancher seiner Zeitgenossen an dem Ein-
gang einer neueto Periode deutscher Historiographie stehen.
" Kiel.
G. Wiitz.
Heber das Unterrlchtoweften der Jesuiten.
Wer es unternähme, das Unterrichtswesen der Jesuiten in
seinem ganzen Lfm fange darzustellen, dürfte dasselbe nicht
losgerissen von dem Institute, dem es zu dienen bestimmt
war, betrachten. In gewisser Beziehung könnte man sogar
die Schulen und Gollegien der Jesuiten als die eigentlichen
Träger und Repräsentanten des Geistes überhaupt, der sie
belebte, ansehen, weil durch sie mehr als durch irgend eine
andere ihrer Einrichtungen die Tendenzen des Ordens prac-
tisch durchgeführt und ihre Lehren dem heranwachsenden
Geschlechte eingeimpft werden sollten.
Im Allgemeinen, darf man wohl sagen, fehlt aber noch
eine erschöpfende, den Gegenstand in seinem innersten We-
sen auffassende Untersuchung über die jesuitischen Unter-
richtsanstalten. Während die Politik, die Moral und die Dog-
matik dieses Ordens in mehr oder weniger gediegenen Streit-
schriften erörtert % angegriffen oder vertheidigt wurden, hat
man sich über das Schulwesen desselben mit allgemeinen An-
sichten begnügt und demselben, auch protestantischer Seits,
im Grossen und Ganzen immer eine grosse Anerkennung gezollt
Da nun aber der Orden jetzt wieder stolz sein Haupt
erhebt und auf die Leitung und Regierung der katholischen
Kirche den unverkennbarsten Einfluss gewonnen, so ist zu
erwarten, dass er die Erfolge, welche er in den Cabinetten
der Fürsten wie in der öffentlichen Meinung zu erringen ge-
wusst, nach alter bewährter Sitte durch Erweiterung seiner
Unterrichtsanstalten für die Zukunft dauernd zu sichern su-
chen, wird. Dass er dies beabsichtigt, bezeugt einer der aus-
Zeitschrift f. 6«sebiehUw. IV. 1845. g
114 lieber das Unterrichtstoesen der Jesuiten.
gezeichnetsten Jesuiten unserer Zeit. Die Erziehung, sagt
Ravignan/) nimmt einen grossen Platz in unserm Le-
ben ein, wenn es uns erlaubt ist, in diesem Punkte
unsern Constitutionen zu folgen.
Die protestantische Wissenschaft — und wir bedauern
am meisten, dass wir diese Bezeichnung gebrauchen, auf die
reinste Thätigkeit des Geistes den Parteinamen confessionel-
len Haders übertragen müssen, — wird sieh daher bald in
dem Fall sehen, diese Richtung jesuitischer Thätigkeit näher
zu würdigen und sich überhaupt die Frage vorzulegen, ob
die Pädagogik der Gesellschaft Jesu von ihr als eine wissen-
schaftliche und im höheren Sinne menschliche anerkannt wer-
den könne.
Vorliegender Beitrag zur Lösung dieser Frage macht
nicht den Anspruch, dieselbe nach allen Richtungen hin in
erschöpfen und sämmtliche Beziehungen, in welchen das Un-
terrichts- und Erziehungswesen mit dem ganzen Institute der
Jesuiten steht, ausführlich nachzuweisen. Derselbe strebt nur
dahin, mehr als in den bisherigen Bearbeitungen geschehen
ist, auf den principiellen Zusammenbang, in welchem die
jesuitische Pädagogik mit dem ganzen Geiste des Ordens steht,
aufmerksam zu machen, sodann ihren Werth und ihre Be-
deutung für die heutige Zeit und die moderne Wissenschaft
näher zu erörtern.
Um es gleich mit einem Wort zu sagen, wir glauben,
die früheren günstigen Urlbeile selbst protestantischer Schrift-
steller über das Unterrichtswesen der Jesuiten können für
die beutige Betrachtungsweise um so weniger massgebend
sein, als die protestantische Wissenschaft damals selbst, an
Aeusserlichkeiten haftend und einem hohlen Schematismus
verfallen grado hierin mit den Jesuiten aufs Beste barmo-
nirte. Auoh neuere Schriftsteller, wie Ruhkopf und Schwan,
haben nicht angestanden, in ihren Werken über die Geschichte
der Erziehung diese Urtheile wiederzugeben, und der Letz-
tere dabei den Werth oder Unwertb der jesuitischen Päda*
*) De Peiistence et de l'institut des J6suites. Paris 1844.
lieber das Unterrichtswesen der Jesuiten, 11$
gogik für die heutige Zeit zu besprechen, völlig ausser Acht
gelassen.
Wir werden zunächst für einige Augenblicke den Ur-
sprung der Gesellschaft Jesu und die Antriebe betrachten,
welche derselben die noch heut zu Tage obwaltende Rich-
tung gegeben.
Die grosse wissenschaftliche Bewegung, welche im 15.
und 16.. Jahrhundert die Völker des Abendlandes ergriffen,
und ihren dürstenden Geist zu den unerschöpflichen Quellen
des Wissens, auf die Denkmäler des hellenischen Alterthums
zurückgeführt hatte, war für die Päpste, obwohl anfangs von
ihnen aufs eifrigste gepflegt und unterstützt, doch zuletzt von
den bedenklichsten Folgen gewesen. Sie mussten den Abfall
der ocoidentalen Nationen von der Autorität des römischen
Stuhls wesentlich dem Wiederaufleben der griechischen Li-
teratur zuschreiben, und richteten, sobald der Katbolicismus
sich rehabilitirt hatte und aufs Neue zum Bewusstsein seiner
Gewalt gekommen war, die ernstesten Repressivmaassregeln
gegen die Wissenschaft, die solchen Abfall des halben Eu-
ropa^ verschuldete.
Eines der vorzüglichsten Werkzeuge hierfür war der neue
Jesuiten-Orden. Er verfuhr in dieser Beziehung ganz in der
klugen Weise und mit der Gewandtheit, die ihn immer aus-
gezeichnet haben. „Er begriff, wie Möhler sagt/) seine Zeit";
er sah ein, dass die Wissenschaften, wie sie aus den Antrie-
ben des 15. Jahrhunderts erwachsen, ein Lebenselement der
europäischen Völker geworden, ihr Dasein nicht mehr abzu-
leugnen, ihre Wirkungen nicht aufzuheben waren. Anstatt
aber gegen den Strom der literarischen Bewegung sich stem-
men su wollen, nahm er die Wissenschaften in den Kreis seiner
Thätigkeit auf, aber er machte sie dem Glauben dienstbar.
Es giebt eine höhere Einheit des Glaubens und der Wis-
senschaft, worin beide nur als die verschiedenen Ausstrah-
*) Geschichte und Beurtheilung der Jesuiten. Aus Collegien-
heften, bekannt gemacht von J. B. Leu. Luzern 1840.
8*
116 Heber das Unterrichtswesen der Jesuiten.
Jungen des einen göttlichen Geistes gedacht werden. Die
abendländischen Völker haben vom Anbeginn ihrer Bildung
danach gerungen, sie zu erreichen. Noch heute bildet das
Streben nach dieser Einheit die Aufgabe unserer Philosophie
und bewegt unsere Literatur.
War es diese Einheit, welche auch die Jesuiteu mein-
ten? In keiner Weise. Die Wissenschaft war ihnen an sich
nichts; am allerwenigsten erkannten sie ihren Selbstzweck
an; sie galt ihnen nur als Mittel zum Zweck.
Wollte man den Geist, der ihren ganzen Orden bewegt
und treibt, aus seinen Mitgliedern die vorzüglichsten Streiter
für das wiederhergestellte Papstthum macht, mit einem Worte
bezeichnen, so könnte man ihr Institut den in Staat, Kirche
und Schule sich verwirklichenden Mechanismus nennen. Eben-
so wenig als der Glaube, den sie lehren, ein wahrhaft innerlich
gewordenes Eigenthum des Gemüths ist, wie ihre Moral weit
entfernt das innere Heilende und Heiligende der christlichen
Sittenlehre zu besitzen -sich in eine flache Casuistik verliert/)
und in ihrem verrufenen Probabilismus die Sünde als ein
rein äusserlicher Begriff, als ein durch eben so äusserliche
Handlungen Abzuthuendes aufgefasst wird, wie es hierbei
ihnen nicht auf die innere Reue, sondern auf das mecha-
nische Substituiren eines Vorwandes oder einer probablen
Meinung ankommt, um der Sünde enthoben zu sein: so war
es ihnen in den Schulen nicht um eine innerliche, den gan-
zen Menschen durchdringende und sittlich kräftigende Bil-
dung zu thun. Sie eigneten sich dieselbe an, weil der Besitz
der Wissenschaften eine nothwendige Bedingung zur Herr-
schaft war. Aber der Jesuitismus ist hierin wie in allem
Uebrigen eine blosse Maschine, ohne innern lebendigen, schö-
pferischen Geist/*) Unter militärischer Disciplin stehend, ei-
*) Wir berufen uns mit Absiebt auf den augenblicklieb noch
in hohem Ansehn stehenden Dogmaliker Monier in der angeführ-
ten Schrift p. 22.
**) Man wird uns dieses Ausdrucks wegen nicht der Unbillig-
keit zeihen, wenn man bedenkt, dass Ravignan in der heiligsten
Angelegenheit des menschlichen Herzens, in der Religion, p. 43 von
lieber das Unterrichtstcesen der Jesuiten. 117
nem Antriebe folgend, konnte er allerdings dem neugegrün-
deten Papstthum für einige Zeit die Gewalt wieder verschaf-
fen. Aber dieselbe war weit entfernt, das zu sein, was sie
behauptete: eine rein geistige; vielmehr war sie durch und
durch von weltlichen Interessen bewegt und ihr Dasein auf
politische Parteiungen gegründet. Ihr Werkzeug in diesen
Kämpfen musste daher, wenn es überhaupt ein wahrhaft in-
neres Princip besessen, dies doch bald verflachen und ver-
weltlichen. Um wie viel mehr musste aber die Wissenschaft
in ihren Händen diesem Einfluss unterliegen. Die Jesuiten
haben jene ungestüme Bewegung auf das Alterthum zurück,
in ihr Gebiet geleitet. Aber in wie enge Grenzen haben sie
den früher so mächtigen Strom gedämmt, wie muss er ar-
beiten in den Mühlwerken ihrer Collegien, und wie schleicht
er dann traurig durch die Wüsten und Steppen ihrer Wis-
senschaft einher! In drittehalb Jahrhunderten wie wenige
Männer von originalem Geist und wahrhaftem Genius unter
ihnen. Und was mehr sagen will, hat die ganze neuere Lite-
ratur des modernen Europa's sich nicht unter Mitwirkung
des protestantischen Europa's und wesentlich in Opposition
zu dem vom Jesuitismus vertretenen Katholicismus entwickelt?
Freuen wir uns, es sagen zu können: das protestantische
Deutschland bat unter allen Ländern Europa's, beinahe allein
das grosse wissenschaftliche Erbe des 15 und 16. Jahrhun-
derts zu schätzen, zu wahren und zu entwickeln gewusst.
Aus der Zeit todter Aeusserlichkeit und leeren Schematis-
mus, die im ganzen 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jahr-
hunderts wie ein Bann auf den Wissenschaften lagen, ist es
durchgedrungen zu ihrem wahrhaften, innerlichen, freien und
befreienden Besitz.
Das wichtigste, authentische Document über das Unter-
richtswesen der Jesuiten ist die Batio studiorum/j Gegen
einer politique toute sumalurelle et sacr6e spricht und die Or-
ganisation des Ordens p. 55 als ein rouage facile et regulier be-
zeichnet.
*) Im Institutum Societatis Jesu. Prag 1757. Yol. II. p. 169 sq.
118 lieber das Ünterrichtstcesen der Jesuitett.
Ende des 16. Jahrhunderts, im Moment der grössten Aus-
breitung des Ordens unter Mitwirkung sämmllicher damals
beim Unterricht beschäftigten Jesuiten entstanden, enthält
dieselbe eine bis ins geringste Detail gehende Instruction für
die Vorsteher und Lehrer der Schulen, welche ihrer iodivi-
duellen Lehrmethode den geringstmöglichen Spielraum lässt,
sie gradezu zu Werkzeugen (instrumenta) ihrer Obern macht,
Und dafür sorgt, dass der Unterricht von den höchsten, un-
sern Universitäten gleichkommenden Glassen bis zu den Ru-
dimenten herab in einem und demselben Geiste betrieben
wurde.
Zur Errichtung von Gollegien und Schulen wurde Igna-
tius Loyola von Anfang an besonders durch die Wahrneh-
mung bestimmt, dass es „Männer, die zugleich vollkommen
ausgebildet und gut und fromm wären, nur wenige gäbe/1')
Er sah ein, dass er sich die notwendigen Werkzeuge fiff
seine Zwecke erst heranbilden müsse, oder, wie andere Je-
suiten sich ausdrücken, „Ecclesia müsse die beste Hoffnung
auf die künftige Posterität bauen" (Lang. G. der Jes. in Baiern
1819 p. 15). Indem aber die Jesuiten zuerst nur für ihr In-
stitut die Jugend heranbilden, erweitern sich allmählig ihrc
Zwecke und umfassen das ganze heranwachsende Geschlecht
des katholischen Europa's. Nicht minder aber auch des pro-
testantischen. Wir wissen, dass durch ihre Collegien Intri-
guen in protestantischen Ländern unterhalten und die Herr-
schaft des Katholicismus vorbereitet wurde. Und kaum war
ein Land durch die Gegenreformation dem Papsfthum wie-
dergewonnen, so erschienen auch die Jesuiten, um diese Er-
oberung durch ihre Collegien dem Papstthum geistig zu si-
chern. In dieser Beziehung haben sie demselben die wesent-
HchstenJDienste geleistet.**) Ihr Unterricht war in den katho-
*) Ranke Pä'psle. Erste Aus. I. p. 216; nach den Constitutio-
nen: boni simul et eruditi pauci inveniuntur.
**) Edwin Sandis. Relation de I'Estat de la Religion (frz. Aosg.
von 1641) in den ersten Jahren des 17. Jahrhunderts geschrieben, er-
wähnt S. 163, wie die englischen Seminarien der Jesuiten in Italien,
Frankreich und den spanischen Niederlanden besonders dazu 8e'
lieber das Unterrichtswesen der Jesuiten. 119
tischen Landern ohne Zweifel besser und systematischer als
der frühere; und durfte auch mit den protestantischen Gym-
nasien» selbst nach dem Zeugniss von Edwin Sandis, Anfangs
den Vergleich nicht scheuen. Zudem war er unentgeltich;
man kann sich denken, welchen Zulauf sie hatten/)
Ihr ganzes Schulinstitut umfasste zwei Abtheilungen, die
höheren Classen, welche unseren Universitäten, die unte-
ren, welche unseren Gymnasien entsprachen. Jene zerfie-
len in die Theologischen, mit den Professoren der h. Schrift,
der hebräischen Sprache, der scholastischen Theologie und
der Gewissensfälle und die Philosophischen mit den Pro-
fessoren der eigentlichen Philosophie, der Moralphilosophie
und der Mathematik; diese aber in die Humanitäts-Glas-
sen (Poetik und Rhetorik) und die grammatischen Glas-
sen: InGma oder Budimenta, Secunda und Syntaxis.
An der Spitze des ganzen Instituts stand der Bector ßol-
legii, der einen Studienpraefecten für die Universitäts- und
einen anderen fiir die Gymnasialclassen unter sich hatte. Der
Studienpraefect war, wie die Ratio Studiorum p. 178 sagt»
das instrumentum generale des Rectors. Er unterrichtete nicht
selbst und hatte nur für die Aufrechterhaltung der Disciplin
zu sorgen, so wie die Thätigkeit der Lehrer und Schüler zu
beaufsichtigen. Deswegen muss er während der ganzen Zeit
dient, katholische Umtriebe in England zu unterhalten. — Für uns
nicht ohne Interesse ist die Nachricht, dass um 1574 gegen vier*
hundert junge Brandenburger, welche in den Jesuitercollegien der
benachbarten Staaten ihre Erziehung erhalten, zum Katholicisinus
übergetreten waren. Dies hatte dann die Verbesserung der Berli-
ner Schulen und die Erhöhung des Gehaltes der Lehrer zur Folge.
Ruhkopf, Gesch. des Schulwesens I. p. 383.
*) Sandis 1. c. wirft ihnen aber hierbei vor: que comme ils
ont des vises mondaines de gloire, de profit et de caba*
les, plustot que d'acquit de conscience et de beneficence purement
charitable, ils n'ont point eu grand esgard a ('Instruction
des enfans de basse condition, soit pour la naissance,
soit pour la capacite naturelle: en lieu que les Protestans y
vont avec uneplus religieuse indifference seseotans par conscience
däbiteurs de ce talent d'instruction de piöte ä tous, riches et poures,
nobles et ignobles. #
120 Heber das Unterrichtswesen der Jesuiten.
des Unterrichts in den Vorsälen verweilen oder die Gassen
der einzelnen Lehrer besuchen (R. St. 178—186, 196—201).
Häufig aber stellte sich zwischen ihm und den jüngeren Leh-
rern ein sehr lebhafter Gegensatz ein, wovon Cornova (die
Jesuiten als Gymnasiallehrer. Prag 1804.) S. 111 aus eigener
Erfahrung zu sprechen weiss.
Der Jüngling, welcher sich dem Orden widmen wollte,*)
trat gewöhnlich aus der Rhetorik, der obersten Gymnasial-
classe, durch einfache Ablegung der drei Gelübde in den Or-
den ein, d. h. er versprach dies einst zu thun und wäre, wenn
er diesem Gelöbniss ungetreu gewesen, in den Bann verfal-
len (Ranke I. 217); doch übernahm die Gesellschaft ihm ge-
genüber keine Verpflichtung und konnte ihn in bestimmten
Fällen wieder entlassen. Auf den Eintritt folgte ein Noviziat
von zwei Jahren, welches in der Abgeschiedenheit zugebracht
und worin die Seele des Novizen durch geistliche Betrach-
tungen und Hebungen im Sinne des Ordens bearbeitet wurde;
hierauf folgte die repetitio humaniorum, d.h. die Vorberei-
tung zum Lehramt für die unteren Glassen. Dieselbe be-
zweckte wesentlich nur eine weitere Ausbildung im Lateini-
schen und wurde nach einer nur den Oberen anvertrauten
Instructio privata geleitet. Diese Repetition dauerte ebenfalls
zwei Jahre. Innerhalb dieser letzten vier Jahre des Novizi-
ats und der Repetition, musste auch der dreijährige philoso-
phische Gursus absolvirt sein (Gerlach, Gesch. des Brauos-
berger Gymnasiums. Schulprogr. von 1832 S. 8). In einigen
Provinzen wie namentlich in Böhmen fing derselbe aber erst
nach beendeter Repetition an (Gornova S. 81). Hatten die
Novizen diesen Gursus beendet und das Examen bestanden,
*) Nach der R. St. p. 203 war es streng verboten, Jünglinge
zum Eintritt in den Orden zu verlocken; diejenigen, welche Lust
zum Eintritt bezeigten, musste der Lehrer an den Beichtvater ver-
weisen. Die angeblichen monita secreta (Paderborn 1661 p. 14>)
stellen dagegen als Grundsalz der Jesuiten auf, dass sie vorzugs-
weise kluge, schöne und edle Jünglinge anzulocken und durch Dro-
hungen und Geschenke zu gewinnen suchten. In Polen und Deutsch-
land hätten namentlich die geistlichen üebungen sich hiefür sehr
zweckmässig erwiesen.
lieber das Unterrichtswesen der Jesuiten. 121
so wurden sie alle, abgesehen von ihrer grösseren oder ge-
ringeren Fähigkeit, Lehrer der unteren Classen, und gelang-
ten erst, nachdem sie hier 4 — 5 Jahre gewirkt, zum Studium
der Theologie, welches sie 4 Jahre beschäftigte. Nach Verlauf
derselben unterzogen sie sich, im Alter von 32 — 33 Jahren,
der letzten Prüfung oder des Tertiorats und traten sodann
unter feierlicher Ablegung der 4 Gelübde in den Orden ein,
der sie seinen Zwecken und ihren Anlagen und Fähigkeiten
gemäss als Professoren der höheren Classen, als Beichtväter
oder Missionare verwendete. (Gornova S. 46 und 94. Ger-
lach S. 7. Ravignan S. 44. 48 sq. Doch Gndet sich über die
Reihenfolge derStudien manche verschiedene Angabe bei ihnen).
Der Unterricht nun, immer demselben Grundgedanken
folgend und nur auf die Wissenschaften sich erstreckend,
welche den Zwecken des Ordens entsprachen,*) war weit ent-
fernt ein frei wissenschaftlicher zu sein. Er bewegte sich viel-
mehr vorzugsweise in zwei Richtungen, die aber in sich wie-
der aufs engste verbunden den Ordensmitgliedern die Ein-
heit der Lehre und der Ansicht gegeben und aus ihnen zu
gleicher Zeit die gewandtesten Dialektiker und die feinsten
Weltmänner gemacht haben. Zuerst also in der Richtung
auf eine starre Orthodoxie, die selbst auf dem eigentlichen
Gebiete der katholischen Kirchenlehre noch die einer tieferen,
spirituelleren Auffassung Zugethanen ausschloss; diese spricht
sieb vornehmlich in den* Universitäts-Classen aus; dann aber
in der Richtung auf eine formelle Verstandesbildung, welche
besonders in den Gymnasial-Classen vertreten wurde.
In Retreff des ersteren Punktes setzt die Ratio St. S. 171
ausdrücklich fest: dass Niemand Professor der Theologie wer-
den dürfe, der nicht der Lehre des heil. Thomas von Aquino
ganz und gar zugethan sei (vergl. S. 185). Wer aber dieser
Lehre fern stehe oder sich um dieselbe nicht kümmere, solle
*) Rat. St. S. 170: omnes diseiplinas Instituto nostro con-
gruentes ita tradere. Von der Methode der früheren Professoren
im Lehren und Disputiren, durfte kein spaterer abweichen, voraus-
gesetzt, dass dieselbe dem Geiste und der Art des ganzen Institu«
tes entsprochen hatte. Rat. St. S. 191.
122 lieber das Vnterrichtstcesen der Jesuiten.
gar nicht zum Lehramt zugelassen werden (Rat St S. 171).
Auch mussten die Professoren der Philosophie den theologi-
schen Gursus absolvirt und denselben während zweier Jahre
repetirt haben, damit ihre kirchliche Lehre desto fester sei
und der Theologie desto mehr diene (ib.). Aristoteles bildete
zwar die Grundlage des philosophischen Unterrichtes und ge-
noss des höchsten Ansehens. Auch durfte der Professor in
keinem wichtigen Stücke von ihm abweichen; nur da musste
er ihn widerlegen, wo er der Orthodoxie widerstritt Dies
galt dann besonders auch von seinen Commentatoren, nament-
lich dem Averroes: wenn man aus ihm etwas Gutes anfüh-
ren müsse, so solle dies ohne Lob geschehen; womöglich
müsjsc gezeigt werden, dass er dies anderswoher genommen
habe; vom h. Thomas dürfe man nie anders als ehrenvoll spre-
chen.*) Wer aber zu Neuerungen geneigt, oder zu freien
Geistes sei, der wäre ohne Umstände vom Lehramte zu ent-
fernen.
In Betreff der zweiten Richtung war es ihnen vornehmlich
<larum zu thun , gute Redner und fertige Dialektiker zu bil-
den, die sich durch keinen Einwand einschüchtern Hessen,
auch gegen den begründetsten immer noch eine Einrede w
machen wussten.**) So wird zwar festgesetzt R. St. 172, dass
*) R. St. S. 193. Sed si quid boni ex ipso (Averroe) profe-
rendum sit, sine laude proferat, et si fieri polest, id eum aliunde
sumpsisse demonstret — Coutra vero de S. Thoma nunquam non
loquatur honorifice. Dies heisst doch in gewisser Beziehung nicht
anders als dem Lehrer anbefehlen, lügnerisch zu verfahren, ebenso
wie 8; 186: Non satis est Üoctorum sententias referre et suam re-
ticere; sed defendatopinionem S. Thomae, ut dictum est, vel quae-
stionem ipsam omittat. Leichtere Fragen wurden einfach da-
durch entschieden (ibid.), dass man sagte: S. Thomas respondet ne-
gando vel afflrmando. Die k. Kirche will immer vom h. Geiste ge-
leitet und gelenkt worden sein — und hier wird den Aussprüchen
eines Menschen eine fast göttliche Autorität beigemessen! — Der
Ausspruch über Averroes erinnert an einen ähnlichen eines Jesui-
ten, der uns von einem Jesuiten selbst überliefert wird: Cornova
S. 7 : Si auctor libri est haereticus, jam Über eo ipso nihil valet
**) Der Bericht von Edwin Sandis ist über diesen Punkt inter-
essant S. 165. Et pour rendre ies enfans encore plus intraitaWes
Ueber das Unterrichtstcesen der Jesuiten. 123
Niemand von der Philosophie zur Theologie übergehen dürfe,
der nicht die Mittelmässigkeit übersteige, aber zugleich in dem
Falle eine Ausnahme statu irt, dass bei solch mittelmässigem
Kopfe sich ausgezeichnete Talente zum Regieren der Gewis-
sen (ad gubernandum) oder zum Reden fänden. Der Unterricht,
heisst es S. 195, müsse darauf hinwirken, dass die Jünglinge
über nichts mehr Scham fühlten, als von den Gesetzen der
Form abgewichen zu sein, und der Lehrer nichts strenger
von ihnen verlangen, als dass sie die Gesetze des Disputi-
rens wüssten; auch habe man bei der Preisvertheilung be-
sonders darauf zu sehen: cujus melior erit orationis forma
(R. St. S. 202). Um nun diese formelle Verstandesbildung zu
erreichen, ward vorzugsweise die lateinische Sprache getrieben,
die dann auch ohne Unterlass täglich gesprochen und geübt
wurde; in ihr waren alle schriftlichen Ausarbeitungen anzu-
fertigen, alle Concertationen, Disputationen und andre öffent-
liche Aufführungen, welche einen grossen Theil der Zeit die
Jesuitenschüler beschäftigte, zu halten. Ebenso wenig aber
wie es darauf ankam, die Lehren des Glaubens in der inner-
ä aueune contraire persuasion, ils leur impriment par grand arti-
fice une certaine acariastre et avertine obstination, d'aflecter Ia vi-
ctoire en tous differens, par une desmesuröe passion et violence
d'esprit: — S. 166. Mais les Jesuites, presumaos d'estre en actu-
elle et non debatable possession de la veritä; et ne s'esludians
ä autre chose, qua l'avancement de leur parti, sont fort
diligens ä impriroer dans les esprils de leurs escoliers cette fiertä
et obstinalton qui les rende ardans amaleurs et defen9eurs de leurs
opinions; et impatiens et intraitables ä loutes considerations con-
traires, comme n'ayant autre but en leurs disputes que la
vic Loire. Et pour ancrer profondement ces passions en leurs
esprits par l'exercice, je les ai veu en leurs Colleges alliser et
acharner leurs escoliers, mesmes les plus pelits en leurs disputes
grammaticales, jusques-Iä qu'ä peu qu'Us ne se sautassent aux yeux
et ne se deschirassent la face ä belies ongles les uns aus autres;
de quoi les assistans estrangers se scandalizoyent et les Jesuites
au contraire y prenoient singulier plaisir et en faisoyent gloire.
Wir werden von der übermässigen Beförderung des Ehrgeizes, der
in den Jesuiten -Collegien herrschte, unten noch weitere Beispiele
beibringen.
124 lieber das Unterrichtswesen der Jesuiten.
sten Ueberzeugung der Jugend gegen die Anfechtungen des
Verstandes zu sichern, wie die Jesuiten sich allein damit be-
gnügten, die recipirte Ansicht des h. Thomas ii> ihrer ganzen
Strenge zu überliefern, sonst aber jede freie Regung auf dem
Gebiete der Theologie mit dem Banne belegten: so beabsich-
tigten sie bei Betreibung der alten Sprachen und ihrer Lite-
ratur auch nicht im entferntesten das ethische Moment die-
ser Disciplinen hervorzuheben. Auf den wahrhaft lebendigen
und bildenden Inhalt derselben nahmen sie gar keine Bäck-
sicht, Wie ihr Zögling in Sachen des Glaubens zu einer al-
lerdings rein äusserlichen Beruhigung gekommen war, so sollte
er auch in den vollkommensten Besitz des damals als Gelehr-
ten- und Diplomaten-Sprache allein herrschenden Lateins ge-
setzt werden. Dass dabei die Bildung der Beredsamkeit, der
gute Vortrag und eine schöne äussere Haltung vorzugsweise
beachtet wurde, versteht sich wohl ebenso gut von selbst, als
wie dass ihre Methode wohl gewandte, glatte, schönredende
Weltmänner bilden konnte und noch bildet, ohne aber des-
wegen an Gemütb, Gesinnung und Charakter starke Menschen
hervorzubringen.
Wir werden uns nun vorzugsweise mit dem Gymnasial-
unterrichte beschädigen.
Aeussere Einrichtung des Unterrichtes.
Das Schuljahr läuft von Ostern zu Ostern. An diesem
Zeitpunkte treten die grossen Ferien mit dem allgemeinen
Examen und der grossen Versetzung ein. Durchschnittlich
gilt die Begel, dass im ersten halben Jahre das Pensum ab-
solvirt, im zweiten aber wiederholt wird (B. St 197).
Die Schulstunden sind täglich Vormittags von 8 — 1W
und Nachmittags von 2 — 4£ Uhr. An zwei Tagen in der
Woche ist nur Vormittags Stunde (dies vacationis). Der Un-
terricht wird nach einem kurzen Gebete damit begonnen, dass
der Lehrer am Vormittage von 8—9 die Ausarbeitungen der
Schüler corrigirt, sie einzeln hervorruft und auf die Fehler
leise aufmerksam macht. Während dessen sind die übrigen
Schüler mit Anfertigung neuer Arbeiten beschäftigt, wie Be-
schreibung irgend einer Oertlichkeit, Nachahmung der Stelle
lieber das Unterrichtswesen der Jesuiten. 125
eines alten Schriftstellers, (Jebersetzung aus dem Lateinischen,
Anfertigung von Epigrammen, Epitaphien etc., verschieden je
nach dem wissenschaftlichen Standpunkte der Schüler (B. SL
S. 205. Gerlach S. 12). Hierauf folgt der eigentliche Unter-
richt, der eben nichts besonderes hat; als Eigentümlichkeit
heben wir noch hervor, dass um die Aufmerksamkeit der
Schüler desto reger zu erhalten, des Nachmittags von halber
zu halber Stunde mit dem Griechischen und Lateinischen ab-
gewechselt und die Zeit von 4 — 4\ zur sogenannten Concer-
tation benutzt wurde, d. h. zu gegenseitigen Hebungen der
Schüler, von denen jeder einzelne seinen aemulus hatte. Die
übrige Einrichtung des Unterrichtes haben Gerlach I. c. und
Sökeland, Progr. des Münster'schen Gymnas. v. 1826 vollkom-
men klar nach den Quellen, und wie es scheint, auch nach
lebendigen Traditionen dargestellt.
Die einzelnen Lehrobjecte der Jesuiten-Gymnasien waren :
A. Dqs Lateinische.
Wie Sökeland mit Recht bemerkt, das A und das O des
ganzen Jesuiten-Unterrichtes, die einzige Disciplin, worin sie
sich unbestreitbare Verdienste erworben haben. Cicero vor Al-
lem war das Musterbild, dessen Ausdrücke und Wendungen sich
anzueignen für die höchste Aufgabe der Schüler galt, zu wel-
chem Zwecke einzelne Perioden aus seinen Schriften, besonders
den Reden, den Schülern dictirt wurden, um ähnliche Gedan-
ken in ähnlicher Weise auszudrücken. Bei Yertheilung der
Preise wurde auf den lateinischen Styl fast einzig Rücksicht
genommen.*) In der Rhetorik und Poetik musste jeden Sonn-
abend ein Schüler eine von ihm angefertigte Rede oder Ge-
dicht vortragen; wozu vom Professor sehr ins Einzelne ge-
hende Anweisungen dictirt und in den Stunden bestandig er-
läutert wurden;**) Einzelne solcher lateinischen Gedichte müs-
*) R. St S. 202: dummodo potior semper solutae orationis la-
tinae ratio habeatur.
**) Rat. St. S. 210. Sökeland S. 10 theilt Beispiele solcher An-
weisungen mit: Initium fiat per triplicem exclnmationem, perverba
gravia oder splendida, tunc sequatur interrogatio. Von Gedichten
würden Epigramme, Oden, Elegien, Episteln angefertigt.
126 Heber das Unterrichtswesen der Jesuiten.
sen die tollste Mischung antiker Reminiscenzen und jesuitisch-
katholischer Frömmigkeit gewesen sein/) Der beständige Ge-
brauch der lateinischen Sprache war in den oberen Gassen
unerlässlich (B. St. S. 204); erst in den grammatischen wird
die Landessprache zur Erklärung der Schriftsteller benutzt
Gelesen wurden folgende lateinische Autoren:
In der Rhetorik die rhetorischen Rücher Gicero's und
seine Reden. In der auch vorzugsweise Humanität genann-
ten zweiten Classe, der Poetik: unus Cicero iis fere libris,
qui Philosophiam de moribus continent; dann Caesar» Sallust,
Livius, Gurtius und Virgil (exceptis Eclogis et quarto Aeoei-
dos); ausserdem ausgewählte Oden des Horaz und Elegien
und Epigramme andrer Dichter (modo sint ab omni obscoe-
nitate expurgati). Im zweiten halben Jahre wird eine Ueber-
sicht der Regeln der Rhetorik gegeben und die leichteren
Reden des Cicero gelesen. In der ersten grammatischen
Classe Gicero's Briefe ad Famil., ad Att., ad Quint. f ratr. ;
sodann ausgewählte und gereinigte Stücke aus Catull, Tibull
und Properz ; zuweilen auch das 4. Buch der Georg., das 5.
und 7. der Aeneide. In der zweiten einzelne Briefe des
Cicero und die leichteren Gesänge des Ovid; in der dritten
einige auserwählte Stücke des Cicero. Den wissenschaftli-
chen Standpunkt dieser fünf Classen charakterisirt die Ratio
nun in folgender Weise: III. Gramm«: Rudimcntorum per-
fecta, syntaxis inchoata cognitio. II. Gramm.: totius quidem
Grammaticae, minus tarnen plena cognitio. I. Gramm.: ab-
soluta Grammaticae cognitio. Humanit postquam ex Gram-
maticis excesserint, praeparetur veluti solum eloquentiae. R be-
tone a ad perfeetam eloquentiam informat, quae duas facul-
tates maximas, Oratoriam et Poeticam comprebendit; ex bis
autem duabus primae semper partes oratoriae tribuantar.
R. Dem Griechischen ward im Vergleich mit dem
Lateinischen nicht eben viel Aufmerksamkeit gewidmet; auch
sind die Anweisungen über das Studium desselben ausseror-
*) Michelet und Qu inet Les Jösuites S. 269. Aus dem Parn.
ehrist. St. Ignatii auspicio adsurgens, Eklogen wie: S. Ignatius et
primus ejus socius Petrus Faber sub persona Dapbnidis et Lycidae.
üeber das Unterrichtswesen der Jesuiten. 127
dentHch kurz und nur so obenhin gegeben. Was Cornova
S. 64 über die Betreibung des Griechischen während der fie-
pet, hum. sagt, dass man es gehasst, weil es an den Erho-
lungstagen getrieben worden und die Lehrer desselben als
die Diebe der Zeit angesehen, welche den lateinischen Pro-
fessoren von Rechtswegen ganz zugehört, wird auch wohl auf
das ganze Lehrinstitut seine Anwendung finden. Mögen die
Absichten mancher Oberen in dieser Beziehung auch gut ge-
wesen sein (Gerlach S. 10), so wurde das Studium des Grie-
chischen doch bei Seite gesetzt, weil das Lateinische das ein-
sige war, worin man sich hervorthun konnte.
Gelesen wurde von griechischen Autoren:
In der Rhetorik: Demosthenes, Tbukydides, Homer, He-
siod, Pindar und einige Kirchenvater. Für die Poetik finde
ich keine besonderen Autoren angegeben; der wissenschaft-
liche Standpunkt der Glasse ist, ut mediocriter scriptorei
intelligant et 6cribere aliquid Graece norint. In der erstep
grammatischen Glasse: Ghrysostomus und Aesop; in der zwei-
ten der griechische Catechismus und Cebetis tabula; in der
dritten endlich wird nur conjugirt und declinirt.
G. Der Religionsunterricht
war nach dem Zeugnisse zweier katholischer Schulmanner,
Gerlach 's und Sokeland's, ohne alle Einrede sehr schlecht und
bestand airt nichts weiter als den Gatechismus des Ganisius
auswendig zu lernen. Bei einem Orden, der wie die Jesui-
ten die Verteidigung des katholischen Glaubens zu seiner
Lebensaufgabe gemacht, muss dies billigerweise höchlichst
auffallen. Der Religionsunterricht fand jeden Freitag und
Sonnabend in der ersten und letzten halben Stunde statt Das
tägliche Gebet vor Anfang des Unterrichtes wurde vom Leh-
rer und den Schülern mit entblösstem Haupte und auf den
Knien verrichtet; ausserdem musste derselbe noch geistliche
Gespräche mit seinen Zöglingen fuhren, die Litanei der h.
Jungfrau jeden Abend in seiner Glasse recitiren lassen und
den Schülern zur Privatlectüre vorzüglich das Leben der Hei-
ligen empfehlen.
Kur Mehrung des religiösen Sinnes waren an den mei-
128 Heber das Unt er rieht stce&en der Jesuiten.
sten Schulen noch Sodalitäten annuntiatae Mariae Virginia
errichtet, welche aus den bessern Schülern der Classen be-
standen, die sich besonders zu dem Zwecke vereinigten, um
geistliche Uebtfngen und öffentliche Aufzüge mit wehenden
Fahnen zu halten. In den Fasten sahen die Jesuiten es gern,
wenn soviel Schüler als möglich sich zu den freiwilligen Geis-
selungen einstellten (Sökeland S. 21). Von 1000—1200 Schä-
lern des Münsterschen Gymnasiums geisselten sich im 17ten
Jahrhundert durchschnittlich 300 — 500 jahrlich, worüber die
Jesuiten ausführliche Listen geführt haben.
Dies sind die hauptsächlichsten Disciplinen des Gymna-
sial-Unterrichts der Jesuiten. Von philosophischen, mathe-
matischen, historischen und geographischen Studien ist in
ihren Schulinstituten älterer Zeit aus natürlichen Gründen
ebensowenig die Rede, als von einer tüchtigen und würdigen
Betreibung der Landessprache und Literatur. Nur an den
sogenannten Vacationstagen wurde den Schülern ein Aggre-
gat von allerlei Notizen über das Alterthum gegeben, worin
die Hieroglyphen eine sonderbare Rolle spielen (Rat St 210.
Gerlach S. 14).
In den Gollegien , welche sie neuerdings seit ihrer
Wiederherstellung gegründet, wie das Institut St Michel in
Freiburg, ist die Geschichte nun allerdings in den Lections-
plan mit aufgenommen, dagegen das Deutsche nicht allein
ausgeschlossen, sondern Werke classischer deutscher Dichter
selbst ihren Schülern zu lesen verboten worden. Im Allge-
meinen tbun sie aber mit ihrer Erziehung sehr geheim und
gestatten den Fremden nicht gern, Einsicht in die Mysterien
ihres Unterrichtswesens zu gewinnen (Mundt, Freihafen 1839.
I. S. 34 und 63).
Uns sind aber mehrere ihrer Geschichtslehrbücher zuge-
kommen, welche für ihre Erziehungshäuser in Frankreich ge-
schrieben sind und über deren Einrichtungen ein genügendes
Licht verbreiten. Zwar betreffen alle diejenigen, deren wir
habhaft werden konnten, nur den Unterricht der Geschichte;
aber grade diese haben für uns die grösste Wichtigkeit, weil
sie aufs bündigste die ganze Weltanschauung der Jesuiten
lieber das Unterrichtswesen der Jesuiten. 129
ausdrücken, und den Protestantismus aufs Unverhohlenste dar-
über aufklären, wessen er sich von den ehrwürdigen Vätern
der Gesellschaft Jesu zu versehen habe.
Aus einem literarischen Verzeichniss der in ihren Unter-
richtshäusern eingeführten Lehrbücher ersehen wir, dass der
lateinische Unterricht ungefähr derselbe geblieben, der grie-
chische dagegen -völlig ausgefallen ist, dafür aber der Unter-
richt in den Elementen der französischen Sprache, der Geo-
graphie, der Arithmetik und Buchhaltern', so wie in der Ge-
schichte mit in den Lectionsplan aufgenommen worden. Die
ganze Sammlung kündigt sich, unter dem pomphaften Titel
Collection de Glassiques A. M. D. G... (ad majorem Dei glo-
riam) an; wir, die wir von der politique toute surnaturelle
et sacreä des Ordens, die der salbungsvolle Vater v. Bavignan
in diesen Worten ausgedrückt Gndet, keine Idee haben, wir
können uns freilich nur mit mitleidigem Lächeln oder voll
Ekel abwenden, wenn wir auch Bücher, wie die Epitome de
Diis et Heroibus poeticis, wie Phaedri fabulae, oder die Se-
lectae Ovidii fabulae, oder endlich wie ihr Lehrbuch der kauf-
männischen Buchhaltern herausgegeben finden: ad majorem
Dei gloriam! #
D. Der Geschichtsunterricht, mit dem wir uns
hier noch einige Augenblicke beschäftigen wollen, wird in
ihren französischen Gollegien jetzt folgendermaassen ertheilt:
In Sixifcme die Histoire sainte, in Cinquifeme die Histoire de
rEglise (jedes Buch, 1 Volumen, in Fragen und Antworten
zum wörtlichen Auswendiglernen), in Quatrifeme die Hist.
ancienne (1 Vol.); in Troisi&me die Bist, romaine (1 Vol. als
ob sie nicht zur Hist. anc. gehöre!), in Seconde und fihäto*
rique die Hist. de France (2 Vol.). Zum Wiederholen für alle
Glassen und zum Unterricht in der Geschichte der modernen
Staaten dient der Gours d'Hist, welcher nebeneinanderlaufend
Hist. sacrte und profane enthält, und welchem einige nötions
präliminaires für Huitifeme und Septföme angehängt sind.
Die Methode dieser Bücher, welche alle dem Jesuiten G.
ihr Dasein verdanken und in Lyon bei Busand erschienen sind,
Zeitschrift f. ÜMehichUw. IV. 1845. Q
130 Ueber das Unterrichtswesen der Jesuiten.
ist die der R6sum<s; unter allen übrigen bat man diese vorge-
zogen, weil, wie der Verf. des Cours d'Hist sagt, eile donne aux
jeunes gens la memoire des choses, eile les forme k mettrc
en ordre et k exprimer leurs idies; eile prAte k leur style
de la puret6, de la facilitö et de Pabondance et leur Ate in-
failliblement cet embarras qu'äprouvent presque toujours les
personnes, qui n'ont pas pris de bonne benre l'habitude de
parier et d'öcrire. Man sieht leicht, es ist nur die formelle
Verstandesbildung, welche auch die neueren Jesuiten anstre-
ben. Anstatt wie die deutsch- protestantischen Schulen dem
kindlichen Alter die Fülle des historischen Lebens in der
Form der kindlichen Sagen des AUerthums und der Biogra-
phien zu geben, und allmäblig mit den erhöhten Geisteskräf-
ten des Knaben und Jünglings auch den Standpunkt histo-
rischer Betrachtungsweise sich erhöhen zu lassen, und von
der biographischen Auffassungsweise allmäMig zur ethnogra-
phischen und pragmatischen überzugehen — geben' sie der
zartesten Kindheit gleich eine Masse unverstandenen Stoffes
aus der ganzen profanen und heiligen Geschichte, prägen we
dem Gedächtniss des Kindes rein mechanisch «in und lassen
sein#n Verstand sich bemühen, dessen äusserlich. Herr zu
werden, was es nicht verstehen kann (wie namentlich die Ge-
schichte der christlichen Kirche und der verschiedenen Hae-
resien, die mit grosser Ausführlichkeit behandelt sind), und was
keine Beziehung zu seinem Geiste und Gemüthe haben kann.
Der mehrfach erwähnte Jesuit Ravignan sagt S. 46 sei-
ner angeführten Schrift: S. Ignace veut — des hommes so-
Kdement instruits, des hommes qui ne s'ägarent point, qoi
marchent d*un pas assurö dans le* voies de la v6rit£ — des
hommes, qui sacbent tout ce qu'ü faut savoir, qüi se pla-
cent fid&lement en präsence du mouvement de la
science et se maintiennent k sa hauteur; qui en tout,
en bistoire, en physique, en philosophier en tittörature,
comme en thtologie ne restent point en arri&re de leur
siede, mais puissent en suivre ou mtoie en aider
les pro gros, sans jamais oubäer toutefiris, qu'ils sont vouto
k la döfense de la religion et au salut des Arnes.
Heber das Unterrichtswesen der Jesuiten, 131
Er gestatte uns, diesen hohen Maasstab auf eisige der
genannten Bücher seines Mitbruders G. anzulegen.
Wie weit der Letztere den Fortschritten des Jahrhun-
derts in der Geschichtswissenschaft nachgeeilt sei, ja sie so-
gar befördert habe, dafür mögen folgende aus seinem Cours
d'Histoire gezogenen Zeugnisse dienen:
Yon der Völkerwanderung, ihren Ursachen und Folgen
hat derselbe nicht die mindeste Idee; er weiss nicht, dass
alle die Staaten des neueren Europa's von den Germanen
allein, oder Ton ihnen im Bunde mit den römischen Provin-
zialen gegründet worden sind. Wenn die Germanen ja ein«
mal vorkommen, so werden sie regelmässig barbares, mit dem
ebenso regelmässigen Zusätze: sortis du Nord de FEurope et
de l'A&ie genannt Nur von den Franken, deren Enkel er
durch seine Lehrbücher auf den Weg des scietices et des
arts setzen und zu Staatsmännern erziehen will, hat er
eine ebenso neue als für sieh und seine Nation schmeichel-
hafte Idee, er nennt sie S. 81, man staune: Scythes d'ori*-
gine! Von der Bildung des Frankenreichs, seiner Ausbreitung
über Gallien und Frankreich weiss er freilich nichts, dafür
entschädigt er uns aber damit, dass er des Ostgothen Theo-
dertck's Zug nach Italien ins Jahr 483 setzt, und dabei die
judieiöse Bemerkung einschaltet S. 85: Presque dans le meine
temps (483!) les Anglais (dass diese Völker damals Angle*
und Saxons oder Anglo-Saxons genannt werden müssen, weil
der Name Anglais erst im 11. Jahrhunderte aufkommt, ist
zu unbedeutend, ab dass er es wissen könnte), sortis du
Nord de l'Europe s'emparent de la grande Bretagne. L'Ecosse
ei la Pologne ont d&s lors (seit 483!) leurs Souveräns par-
ticiiüers, wodurch er wiederum die Geschiebte in dankens-
werter Weise verwehrt Mit den Daten, welche, wie er sagt,
ue sont que pour l'exactitude, hat er freilieh ein merkwür-
diges Unglück. So setzt er Pipin's Thronbesteigung in das
Jahr 750, den bekannten Vertrag von Verdüa ins Jahr 842,
Genua's Trennung Tom deutschen Reiche ins Jahr 936 und
die Einsetzung des CoUeguims der sieben Kurfürsten ins J.
1Q64. Dafür können wir uns an folgender dazwischen Stelle
9#
132 lieber das Unterrichtswesen der Jesuiten.
erfreuen: Aprfes plusieurs guerres sanglantes, ils separtagent
l'AIIemagne, la France et l'Italie (wie wir gelernt haben, im
Jahre 84?). Les gouverneurs de provinces profitent des trou-
bles pour se rendre indäpendants: on voit paroitre entr'autres
les petites souverainitls de Milan, de Toscane, de Savoie, de
Loraine, de Flandre et de Brandebourg. L'AIIemagne passe
des princes frangais (Ludwig der Deutsche und seine Nach-
kommen sind natürlich Franzosen) aux ducs de Saxe 936!,
zu welchem Jahre dann beiläufig auch die Uebertragung der
römischen Kaiserwürde an Otto I. erwähnt wird. Die deutsche
Geschichte überhaupt wird mit einer musterhaften Treue und
Gründlichkeit behandelt. Von den sächsischen Kaisern kennt
dieser Gelehrte nur Otto I., von den fränkischen keinen, von
den Hohenstaufen nur Friedrich II. und von dem Luxembur-
ger Hause wiederum keinen. Dass es das illustre maison
d'Autriche gewesen, dessen Joch die Schweizer abgeschüttelt,
und nicht das der Empereurs d'Occident, wie er will, thut
auch wenig zur Sache. Von der Geschichte des Papstthums,
seiner Unterordnung unter die deutschen Kaiser, seiner Jlman-
cipation, seiner Weltherrschaft und seinem Falle, der doch
in jeder Beziehung die französische Geschichte angeht, mag
der Verf. ganz schöne und neue Ideen- haben, nur schade,
dass er sie seiner lernbegierige! Jugend vorenthält; sie muss
sich begnügen zu erfahren, dass die Päpste sich lange Zeit
in Avignon aufgehalten haben. Dafür ist er aber um so aus-
führlicher bei der Geschichte der Reformation, wo er die
ganze christliche Milde seines Ordens im schönsten Lichte
entfaltet.
Man verarge uns den scherzhaften Ton nicht, womit vir
diese Bötiseh des ehrw. Vaters abgefertigt haben, aber man
erlaube uns ihm und seinen Genossen in Deutschland den
Rath zu ertheilen, erst Geschichte zu lernen, bevor sie es
unternehmen, die Jugend darin unterrichten zu wollen. Ein
ganz, anderes Urtheil müssen wir aber über die Art und Weise
fällen, wie derselbe die Kirchengeschichte, namentlich die der
Reformation, mit dem Gifte seines tödtlichen Hasses gegen
den Protestantismus erfüllt und die Jugend in Grundsätzen
Heber das Unterrichtstcesen der Jesuiten. 133
errieht, die, wenn sie sich verwirklichen, nicht anders als
den Frieden aller Staaten vernichten können.
Wir werden, um die Ansichten der heutigen Jesuiten in
diesen Punkten näher kennen zu lernen, ausser dem Gours
d'Hist, auch die Hist. eccläs. und die Hist de France benutzen.
Im Allgemeinen muss schon der finster-mönchische Geist
auffallen, mit welchem die Geschichte und Entstehung der
verschiedenen Haeresien aufgefasst ist. In ihnen erscheint re-
gelmässig der Teufel thatig. Hist. eccl6s. S. 36 u. 41 le demon
oder l'enfer qui voyant les idoles renvers6es, suscite les h6-
rlsies; ihr ganz eigentümlicher Charakter c'est le mensonge
et l'obstination *) (ib. S. 43). Auch von dem Ursprünge des
*) Eine ganz ähnliche, für die protestantische Welt noch weit
bedeutsamere Aeusserung hat jüngst Herr Laurent, General-Vicar
von Luxemburg, päpstlicher Haus-Prälat etc. in einer Art Rund-
schreiben zur Eröffnung des von ihm begründeten Priester -Semi-
nars gemacht. Er schreibt zuerst den Verfall der Kirche inj 15.
und 16. Jahrhundert dem Umstände zu, dass die Mitglieder der
Kirche selbst vom Zauber stolzer Wissenschaft verlockt wären.
Sodann fährt er fort: „Da so die Kinder Gottes sich mit den Kin-
dern der Menschen verbanden, hatlen bald alle Geister ihre Wege
verdorben, so dass es Gott den Herrn gereuen musste (!),
die Völker aus dem Unterschiede der Sprachen zur Einheit des
Glaubens geführt zu haben. In seiner Gerechtigkeit nahm er sei-
nen Geist von den fleischlich gewordenen Menschen hinweg und
aus den geöffneten Brunnen des Abgrunds fuhren die
Geister der Lüge über die Erde herauf and es entstand
der grosse Abfall vom Glauben, der die Christenheit,
besonders in unserm deutschen Vaterlande durch und
durch spaltete, und der Irr- und Unglaube ergoss sich
über die Erde, wie eine Sündfluth" (abgedruckt in der Lu-
xemburger Zeitung vom 22. Februar 1845). Herr Laurent erwirbt
sich Verdienste um Aufrechterhallung der deutschen Sprache auf
jenen vom französischen Elemente von jeher gefährdeten Grenzen
unserer Nation. Will er aber die Einheit des Volks so verstehen,
dass sie auch die Einheit des Glaubens, in seinem Sinne, herbei-
führe, so muss Jeder, dem das Wohl des gemeinsamen Vaterlan-
des am Herzen liegt, aufs Unumwundenste hiergegen Protest ein-
legen. Das Land gemischt - confessioneller Bevölkerung mag sich
freuen, wo in diesem Sinne gebildete Priester eine Einwirkung auf
das Volk erlangen.
134 lieber das Unterrichtswesen der Jesuiten.
Mahomedanismus haben sie eine dein ganz analoge Ansieht
(ib. S. 59). Au commencement du 7ifeme siicle le dßmon
youlut avoir un empire dont il Tut le seul mattre, et
comme c'ötait dans I'Eglise d 'Orient que les schismeset
les h6r£sies avaient eu jusqu'alors le plus de succ&s, ce fut
aussi dans cette Eglise que Dieu par un juste effet de
sa colfere, lui permit d'ex^cuter les projets de destruction
qu'il mäditaif. Mahomet fut l'instrument dont se servit 1'esprit
de mensonge. Yon dem Kampfe des deutseben Kaisertums
mit dem Papsttbum erfahren die Schüler auch hier nichts,
wenn man nicht die S. 64 ausgesprochene Ansicht, dass der
Kaisertitel KarTs des Grossen eine Belohnung gewesen sei,
welche die Kirche und die Römer für die der ersteren er-
zeigten Dienste verliehen, hieher ziehen will, wobei die Schul-
jugend freilich sich die Frage allein beantworten kann, wer
denn der Kirche das Recht gegeben, Kaisertitel zu verleihen.
Von der Gefangenschaft der Päpste heisst es gleichfalls nur:
Clement V. fixa sa r6sidence 4 Avignon. Dagegen enthüllen
sie ihre wahre Uerzensmeinung bei Erwähnung des Costnitzer
Goncils und des Todes von Johann Huss S. 87: le Concile
ne sollicita point son supplice, mais il laissa agir la justiee
du Souverain, qui certainement peut pour le bien
de PEtat punir (d.h. verbrennen) ceux qui troublent
l'ordre, en räpandant de mauvaises doctrines, sou-
vent plus funestes ä la tranquillitö publique que
les vols et les assassinats*) und sprechen auch zu uns
Protestanten in unzweideutigem Rüde, wenn sie S. 88 die
Einnahme Constantinopels durch die Türken als eine puni-
tion manifeste de l'opinidtretö des Grecs schismatiques dar-
stellen. Wissen doch die protestantischen Staaten nun, was
ihnen gewiss bevorsteht, da das endurcisseflkeat der Ketzer
doch noch viel mehr criminel sein muss, als das der Schis-
matiker. Der Höhepunkt ihrer Darstellung ist aber die Zeit
m
*) Wir erröthen es sagen zu müssen, auch ein protestantischer
Historiker, Leo, hat im zweiten Theil seiner niederländischen Ge-
schichten beinahe mit Obigem wörtlich übereinstimmende Grund-
sätze geäussert.
lieber das Unterrichtswesen der Jesuiten. 135
der Reformation, wo das Lutherthum entsteht, cette h£r£sie,
la plus terrible et la plus funeste qui ait attaquä I'Eglise,
cette secte favorable aux inclinations corrompues de l'homme
(ib. S. 89 sq.). Mit einem so tiefen und innigen Charakter wie
Luther werden sie äusserst leicht fertig: Esprit inquiet et
ardent, il se mit ä parier et ä lerire — et cet amas d'erreurs
il le qualifia du nom de r6formation, II exhala sans m£na-
gement sa bile contre le souverain pontife et contre les d6-
fenseurs de la foi catbolique. On ne peut voir sans Indigna-
tion les bouifoneries, les grossieretäs, les turpitudes m6me,
dont ce fougueux apötre a sali ses ouvrages et Ton aurait
peine ä concevoir, comment il a pu söduire tant de peuples,
si l'on ne conn^isflnt, quelle est la foree de la passion des
richesses et des plaisirs sur le coeur bumain. Sie stehen
selbst nicht an ihm auch noch andere Verbrechen vorzuwer-
fen S. 91 : Luther avait pr6ch6 hautement la revolte non seu-
lement contre I'Eglise, mais aussi contre les Princes, und häu-
fen ähnliche Anschuldigungen auf Calvin, wobei die Naive-
tat ihrer Insinuationen höchst komisch ist. Hist. de France,
k l'usage de la jeunesse 1840. I. Bd. S. 284: la conjuration
d'Amboise, oü les Calvinistes donnferent le premier exemple
de la fureur que Theräsie peut inspirer contre les
puissances legitimes, wobei sie sich denn wohl hüten,
jenen Fanatikern der Ligue, welche den Königsmord predig-
ten, ihren wahren Namen, Jesuiten, zu geben und sie blos
als. certains prädicateurs beizeichnen (ib. S. 308). Aber was
muss der Protestantismus nicht alles ausbaden? Auf die Frage
(Hist. eccl. S. 99) A quelle cause doit-on attribuer Pincrädu-
lit6 du 18. siecle? geben sie guten Mutbs die Antwort: la
doctrine de Luther et de Calvin, teile fut la source fatale d'oü
sortit l'increcjplitä pour se propager en Angleterre d'abord,
puis en France, et de \k dans toute FEorope. Sie construi-
»in ihre Geschichte dann weiter: Der Jansenismus und der
nglaube sind die Ursachen der Revolution (Cours d'Hist.
S. 132, Hist. eccl. S. 102, Hist. de France II. 104): L'impiet6
sous le nom de Philosophie profite des plaies faites k l'auto-
ritö eccläsiastique; eile obtient la suppression de la Compa-
136 lieber das Unterrichtswesen der Jesuiten.
gnie de J6sus, ( — le grand obstacle aux progrfes de rincri-
dulitö — de tout temps le fteau de I'incr6dulit6 et de I'h6r6-
sie — par wie distinction bien honorable on lui comptait
autant d'ennemis qu'ä la religion) et dfeslors eile rtpand pres-
que sans obstacle le poison de la licence et de Pincrfduliti.
La foi s'affaibit, les moeurs se däpravent (erst 1773? der Hof
Ludwig's XIV, ihres bäros chrätieu, des Regenten und Lud-
wig's XV, waren ohne Zweifel sehr tugendhaft), les principes
de l'anarcbie se propagent et minent les fondements de la
soci£t£ et de la Religion. Nachdem sie sodann nach ihrer
Weise den Fortgang der Revolution geschildert, schliessen sie
damit, dass die princes legitimes par la plus soudaine et la
plus beureuse des rävolutions (!) wiedeAuf den Thron ge-
stiegen, und dass der erste Act des (meist durch Ketzer und
Schismatikerl) in seine Rechte wieder eingesetzten Papstes die
Wiederherstellung des Jesuiten -Ordens war. Auch in der
histoire de France, wovon uns eine Ausgabe von 1840 vor-
liegt, haben sie die Geschichte nicht weiter als bis 1815 geführt.
Wir haben uns vielleicht über die Gebühr bei ihrem Ge-
schichtsunterricht aufgehalten, und der wissenschaftliche Werth
ihrer Lehrbücher wenigstens würde dies in keiner Weise recht-
fertigen, aber wir haben es in der Absicht gethan, um so viel
an uns ist nachzuweisen, dass wenn solche Auffassungsweise
der Geschichte, wie es allen Anschein hat, auch bei uns ein-
dringt, und die Jugend unseres katholischen Deutschlands
in diesem Geiste und in diesen Lehren erzogen wird, als-
dann alle Errungenschaften früherer Jahrhunderte, die Resul-
tate langer, unseliger Kämpfe, die unserem Vaterlande sein
Herzblut gekostet und das erniedrigte Deutsehland zum' Spiel-
ball fremder Willkür gemacht, für die Zukunft in Frage ge-
stellt sind und dies neue unselige Verwicklungen herbeizu-
führen nicht verfehlen würde.
Wir kehren jetzt zu unserer Aufgabe zurück. Dem l^-
terricht von Seiten der Schuljugend eine lebendige Theilnahme
zuzuwenden, war eine Haupttendenz der Jesuiten. Kann
man auch zugeben, dass einzelne ihrer Einrichtungen in die-
ser Reziehung eine nähere Würdigung und vielleicht selbst
lieber das Unterrichtswesen der Jesuiten. 137
Nachahmung verdienten, so blieben sie doch auch hierin ih-
rem Principe getreu und bewirkten einen grösseren Wett-
eifer einzig durch äussere, nur auf die Eitelkeit und Ehr-
sucht der Schüler berechnete Mittel, nicht aber durch Bele-
bung der idealen Triebfedern in der Jugend. Hierhin gehören
vor Allem die Akademien d.h. Vereinigungen der besseren
Schüler zum Zweck gemeinsamer Hebungen in mündlichen
Vorträgen und Disputationen, der Art, dass die Schüler der
Theologie und Philosophie eine Akademie, die der Rhetorik
und Poetik eine zweite, und die der drei grammatischen Gas-
sen eine dritte Akademie bildeten. Dieselben hielten jährlich
zweimal unter grossem Gepränge öffentliche Sitzungen und
besassen ausserdem das Recht, aus ihrer Mitte ihre Beamten
und Vorsteher, d. h. einen Rector, zwei Räthe und einen Se-
cretair zu wählen; einer der Glassen- Ordinarien leitete ihre
liebungen als Moderator. Die Mitglieder der Sodalität zur
h. Jungfrau sind eo ipso auch Mitglieder der Akademie ihrer
Glasse (Ratio Studiorum S. 221).
Die Versetzungen fanden jährlich einmal nach den
grossen Ferien statt. Für die zu diesem Behufe anzustellen-
den Prüfungen werden die Schüler einen Monat lang vor-
bereitet (ibid. 207)«. Bei der schriftlichen Prüfung giebt der
Praefect das Thema, worauf Niemand von den Schülern, nicht
einmal mit dem Praefecten sprechen darf. Die mündlichen
Examina werden nicht von den ordentlichen Lehrern der Glasse,
sondern vom Praefecten und zwei durch diesen in Gemein-
schaft mit dem Rector ernannten Jesuiten abgehalten. Diese
Examinatoren haben einen vom Hauptlehrer angelegten Gata-
log, wdrin die Schüler nach 6 Kategorien als Optimi, Boni,
Mediocres, Dubii, Retinendi, Rejiciendi unterschieden sind (ib.
S. 207), in Händen, rufen die Schüler je drei und drei zur
mündlichen Prüfung auf und verkünden unmittelbar nachher
das von ihnen unter Berücksichtigung der Gomposition und
der vom Lehrer hinzugefügten Note das Resultat derselben
(ib. S. 199).
Ausserdem werden noch andere Examina Behufs der
Preisverteilung angestellt. Die Rhetorik, hatte 8 Preise,
138 Heber das Unterrichtswesen der Jesuiten.
die Poetik 5, die erste grammatische Classe 6, die beiden
übrigen deren 4 zu vertheilen. Nachdem die Schüler die be-
treffenden Ausarbeitungen vollendet, übergeben sie dieselben
mit einem Motto versehen; ihr Name befindet sich in einem
mit demselben Motto versehenen und versiegelten Papier. Die
drei Richter, von welchen der Eine ein Fremder sein kann,
geben ihr Urtheil mit besonderer Berücksichtigung der Form
der Ausarbeitung, worauf dann am festgesetzten Tage mit fei-
erlichen Worten ein Praeco dem Sieger den Preis ertbeilt,
und ein carmen brevissimum recitirt, was sogleich von den
Sängern wiederholt wird (Rat. St. S. 202). Abgesehen von
diesen öffentlichen Preisen hat jeder Lehrer in seiner Classe
den Wetteifer und den Ehrgeiz seiner Schüler durch Privat-
preise oder Siegeszeichen anzustacheln, und damit Einzelne
zu belohnen, welche entweder ihren Gegner besiegt oder ein
Buch ganz auswendig gelernt, oder sonst dergleichen „Illu-
stres" getban haben.
Dieselbe Verweltlichung des Unterrichtes, die wir hier
schon wahrnehmen, zeigt sich auch in den vielbesprochenen
öffentlichen Aufführungen, so wie in der Einrichtung, dass
die besten Gedichte oder Gompositionen der Schüler öffent-
lich angeschlagen wurden (ib. S. 210). Nicht minder aber
auch in den Goncertationen zweier Glossen untereinander
(de iis tantum rebus, quae utrique .classi communes sunt ib.
S. 206), wo immer je zwei oder drei Schüler mit einan-
der disputiren und sich durch Fragen in die Enge zu trei-
ben suchen (siehe oben). Welche Wonne dann für die nie-
dere Classe, wenn sie die höhere besiegt und welche Schmach
für die letztere! Aufs Schärfste aber trat dies unsittliche Mo-
ment, die Schüler allein durch Ehrgeiz zu bewegen, in den
besonderen Monats-Goucertationen jeder Classe hervor. Diese
wurden vorgenommen, um die besten der Schüler mit den
prangenden Namen des Alterthums zu schmücken, so gab es
in jeder Classe ein Rom und ein Carthago, in beiden zwei
Gonsulen, hierauf Senatoren und Ritter. Die letzten Bänke
nahm die Plebs ein, über denselben waren Eselsköpfe und
andere sinnreiche Embleme befestigt, mit der Inschrift; JNos
lieber das Unterrichtstceten der Jesuiten. 13$
numerus sumus, fruges consumere nati (R. St. S. 206. Söke-
land S. 22). Jeder Schüler hatte so seinen Aemulus, der seine
Arbeit durchsah und die Fehler anstrich, bevor dieselbe in
die Hände des Lehrers kam.
Diese Einrichtung regte unzweifelhaft den Wetteifer der
Schüler an. Indem die Jesuiten aber einen der wesentlich-
sten Zwecke bei Betreibung classischer Studien, das jugend-
lich reine Gemüth mit den Idealen des Alterthums zu erfül-
len, verkannten, statt dessen aber nur weltliche Triebe in sie
pflanzten, das Herz der Knaben vom Anbeginn an vergifteten,
und sie zu aufgeblasenen hochmüthigen Geschöpfen machten:
darf es nicht Wunder nehmen, wenn die Schulzucht, wel-
che von dem sittlichen Geiste des Institutes zeugen soll, in
fast allen ihren Instituten äusserst zerrüttet war. Zwar fehlt
es auch in dieser Beziehung an Verordnungen nicht; es sind
selbst Vorschriften über Beobachtung des Susseren Anstandes
vorbanden, welche auch das Kleinste, Unbedeutendste, Gleich-
gültigste nicht dem eignen, freien Antriebe überlassen, und
den Schüler wirklich zu einem willenlosen Stab in der Hand
seines Oberen, zu' einem Leichnam machen, (perinde ac ca-
daver essent!) *) Es schreibt die Rat. St S. 200 ausdrücklich
vor, die Lehrer sollten im Geiste der Milde, des Friedens
und der Liebe mit den Schülern verfahren ; aber dennoch fin-
den sich auch Anweisungen, dass man die Excedenten,
wenn sie sich weigern, die dictirten Schläge zu empfangen,
sobald dies mit Sicherheit geschehen könne, zwin-
gen, oder anderen Falles fortschicken solle. Zu den
*) Instit. Soc. Jesu IL 114 Regulae modestiae. 2. Caput huc
illuc leviter non moveatur, sed cum gravitate ubi opus
erit, et si opus non sit, teneatur rectum cum moderata
inflexione in partem anteriorem, ad neulram partem
deflectendo. 3. Ocuios demissos ut plurimum teneant, nee im-
moderate eos elevando, nee in banc aut illam partem circumfle-
ctendo. 4. toter loquendum, cum homiuibus praesertim alieujus
auetoritatis, non defigatur aspectus in eorum vultus, sed potius
sub ocuios. 5. Rugae in fronte, ac multo magis in naso
evitenlur. 6. Labia nee nimium compressa, nee nimium
dedueta.
140 lieber das Unterrichtswesen der Jesuiten.
Züchtigungen war ein eigener Corrector vorhanden, der nicht
zur Gesellschaft gehörte. Weil aber eben der Geist des gan-
zen Schulinstitutes der Jesuiten ein falscher und lügnerischer
ist, so klagen auch die Geschichten fast aller ihrer Schulen
über den gänzlichen Verfall der Zucht, so namentlich auch
Sökeland S. 29, welcher die Bemerkung macht, dass man in
unseren Tagen den Untergang aller bürgerlichen Ordnung vor-
hersagen würde, wenn auf unseren Schulen nur ein Drittheil
des Unfugs geübt würde, der auf dem Münster'schen Gymna-
sium vorgekommen ist Auch hierin ist der Charakter jesuiti-
scher Pädagogik noch heutigen Tages sich gleich geblieben. Was
man von Gutunterrichteten über das Freiburger Institut ver-
nimmt, stimmt ganz mit dem Obengesagten überein. Die gross-
ten Excesse sind dort an der Tagesordnung; die Schüler füh-
ren Pistolen und Messer und gebrauchen sie nicht selten gegen
die Professoren, trotzdem dass diese, um den Hass der Be-
straften von sich abzulenken, die Züchtigungen durch maskirte
Diener vornehmen lassen, wobei die jungen Leute oft den kin-
dischsten, ja den unanständigsten Strafen unterworfen werden.
Nicht ohne ein inneres Widerstreben können wir hier
noch anderer Anklagen gedeuken, welche der Ritter von Lang
1815 gegen die Jesuiten-Schulen erhoben und die das grau-
envollste Licht auf die bodenlose Unsittlichkeit werfen, welche
wenigstens in ihren Gollegien des oberen Deutschlands ge-
herrscht haben muss. Was diesen Beschuldigungen ein so
grosses Gewicht verleiht, ist der Umstand, dass Lang's betref-
fende Schrift nicht etwa Anklagen oder Verläumdungen Sei-
tens der Feinde der Jesuiten enthält, deren Werth ein rela-
tiver und fraglicher wäre, sondern sich vielmehr auf die un-
widerleglichsten Actenstücke gründet, die aus den bei Auf-
hebung des Ordens in die Hände der bairischen Regierung
gefallenen Archiven der Gesellschaft herrühren. Hier sind es
also die amtlichen Berichte der Jesuiten selbst, welche die
entsetzlichste Unsittlichkeit ihrer Gollegien ins hellste Licht
stellen. Betitelt ist Lang's Bücheichen*) nach dem Vater Ja-
*) Jacobi Marelli S. J. Amores e Scriniis Provinc. Super. Ger-
Ueber das Unterrichtsioe&en der Jesuiten. 141
cob Marel, welcher im Augsburger Gollegium sich die schnö-
deste Unzucht mit seinen Zöglingen, besonders denen, welche
Adel der Geburt und körperliche Schönheit auszeichnete, er-
laubte und sie namentlich durch grosse Geschenke in seine
verbrecherischen Absichten zu willigen vermochte. Es sind
die edelsten reichsfiirstlichen, noch heute blühenden Geschlech-
ter, v. Ö., v. F — B. und F — K — W., deren Sprösslinge, von
seinen unzüchtigen Begierden befleckt, die Berichte des Con-
sultors Jac. Banholzer und des Beichtigers Ignatius Erhard an
den Pater Provinzial des oberen Deutschlands, durch ihr eig-
nes schriftliches Zeugniss bestätigt haben! So gross war die
Verruchtheit des Marel, die Details erfüllen den Leser wirk-
lich mit dem tiefsten Grauen, dass die Zöglinge selbst fürch-
teten, dass Marel, wenn er das Venerabile emporhielte, um
das Volk zu segnen, einst vom Blitze getroffen darnieder sin-
ken möchte. Aber Marel war nicht der einzige Verbrecher
dieser Art in seinem Orden;' Lang sagt in der Vorrede, er
könne ähnlicher Vergehen der Jesuiten noch mehr denn 100
nachweisen und giebt uns im Anbange noch die Liste von
gegen 30 gleicher Vergehen überführten Mitgliedern der Ge-
sellschaft, deren Schuld die Actenstücke desselben Archivs
constatiren, und die sämmtlich in der letzten Hälfte des
17. Jahrhunderts gelebt haben. Was hierbei besonders auf-
fällt, ist wie die laxe Moral, welche man ihrem Orden Schuld
gegeben und die derselbe immer von sich abgelehnt hat, hier
wirklich in Fleisch und Blut übergegangen erscheint, so dass
Victor Wagner, der in Luzern 11 Knaben in ipsa Cathedra
stuprirte, öffentlich lehrte: haec sine peccato licere und Ma-
rel selbst, ganz im Sinne und Geiste des Quietismus die Kna-
ben zu jener Sünde durch die Vorstellung zu bewegen wusste:
maniae Monachü nuper apertis brevi libello expositi per K. H. de
Lang. Monachü 1815. Diese Ausgabe wurde, wie man sagt, ihrer
Zeit von den Jesuiten beinahe ganz aufgekauft. Xav. Schneider hat
sie neuerdings (1837), mit einer Uebersetzung versehen, wieder
herausgegeben, und sie wohl aus dem genannten Grunde, unter
dem sonderbaren Titel: Notice sur l'instruction secondaire unter
das Publicum verbreitet»
142 lieber das Unterrichtswesen der Jesuiten.
licere ista omnia, modo absil consensus in voluptatem. Nicht
minder bemerkenswert!! ist aber auch die Schwachheit und
die Nachsicht der Oberen diesen Freveln gegenüber; der Art,
dass die gewöhnlichen fleischlichen Vergehen des Jesuiten Fer-
dinand gar nicht nach Born gemeldet (inter parietes meliora
edoctus puniatur), dieselben beim Pater Georg Lauth nicht
für hinreichend erachtet werden, um ihn aus der Gesellschaft
zu entfernen, beim Pater Theodor Beck die Stupration von
10 Knaben nur mit Auferlegung eines jejunium sabbattnum
bestraft, der Pater Herler, desselben Verbrechens gegen 17
junge Leute, worunter 13 aus den besten Familien, überfuhrt,
nach einem entfernteren Gollegium versetzt, und als er auch
hier wieder in die alte Sünde verfällt, Augustiner zu werden
gezwungen, Jacob Marel endlich, wegen seiner Vergehen, ein-
fach aus der Gesellschaft entlassen wird. Dies Alles aus Buck-
sicht für die bona fama societatisl
Uns bleibt hier nichts weiter übrig, als einen Ausspruch
des ehrw. Pater v. Bavignan anzuführen. La culpabilitä
d'une sociätä, sagt derselbe S. 8, nepeütavoir une ex-
pression pratique et juste que daos les fautes de
ceux qui la composent. A ceux-ci, aux individus,
appartiennent l'action, le crime, la vertu. Quels sont
parmi nous les coupables?
Dr. R. Wilmaos-
Ii£
Zur beschichte des Kaiser« Jullanu».
1. Die chronologische Bestimmung von Julian's
Jugendgeschichte.
In keinem Punkte von Julian's Geschichte stossen wir auf so
viele Dunkelheiten und Schwierigkeilen wie bei dem Versuche, die
verschiedenen Angaben über seine Jugendzeit zu verbinden und
in eine entsprechende Ordnung zu bringen. Gibbon z.B., der
sich noch am gründlichsten darauf einlässt, stellt die ungenaue Be-
hauptung auf, Julian habe in Mailand 7 Monate in bestandiger To-
desfurcht geschmachtet ((II, 206 der Wiener Ausgabe) und fügt in
einer Note die noch unrichtigere Bemerkung hinzu, Julian vergrös-
sere in seinem Sendschreiben an die Athener absichtlich seine Lei-
den, indem er, obwohl in dunkeln Ausdrücken, zu verstehen gebe,
dass dieselben über ein Jahr gedauert, ein Zeitraum, der sich mit
der chronologischen Wahrheit nicht vereinigen lasse. Auch, ist es
nicht richtig berechnet, wenn Gibbon den Aufenthalt Julian's in
Athen auf sechs Monate bestimmt. Und solcher Irrthümer liessen
sich bei Andern noch mehre nachweisen, z. B. bei Neander (über
den Kaiser Julian) S. 80. 93 die mangelhafte Datirung der Reise nach
lonien, die quellen widrige Behauptung eines dreimaligen Aufenthalts
in Athen (S. 83. 86) u. A. Es scheint daher passend, die Quellennach-
richten über diesen Zeitraum zusammenzustellen und zu prüfen.
Wenn JuKan bei seinem Tode im J. 363 32 Jahre alt war, so
war er demnach im J. 331 geboren. Am 22. Mai 337 starb Con-
stantmus und nach dessen Tode wurden bekanntlich alle Glieder
des kaiserlichen Hauses ausser den drei Söhnen des Constantin
und Gallus und Julianus, auf directes oder indirectes Anstiften des
Constantius von der Soldateska ermordet. Den Gallus rottete, dass
er grade todkrank war, den Julianus sein zartes Aller. Libanius, der
dies berichtet, sagt (oratt. I, 525 Reiske): ovrog de xal nqecßvzeqog
äfcXg>ig bfAondxqtog rov noXi)v öiacpevyova* tpovov, jiv fälv vögov
facapivitSj q nqdg &dmiov dno%yifitw iS6xu, rdv de irjg ifiiatiag,
— äqx* yäq dnijXXaxio ydXaxrog. Sokrates, der sich im
144 Zur Geschichte de$ Kaisers Jutianus.
Uebrigen an ihn anschliesst, gerätb in Beziehung aof die Berech-
nung des Allers auf das entgegengesetzte Extrem; er sagt nämlich
(III, 1, S. 135 C): 'Iovhaviv de rj rjUxCa {dxxaex^g yuq fy in)
dU<SU)Gtv. Und ebenso Sozom. V, 2, S. 482 fin.: in yäq Sydoov
fjTuxtag Ijysv irog; nur ist hier deutlicher ausgesprochen, dass er
das achte Jahr noch nicht vollendet hatte.*) Dies stimmt gleich wohl
nicht zu der Chronologie. Im Sommer 337 war Julian erst sechs Jahre
alt und man kann durch kein Mittel acht herausbringen. Nur jene
Zahl stimmt auch recht zu dem Zusammenhange. Ein achtjähriger
Knabe ist, vollends im Orient, von der Reife nicht so entfernt, dass
er ganz und gar ungefährlich erscheinen könnte. Mst* iviavzüv
ißiofiov wurde Julianus, wie er selbst angiebt (Misopog. 352 CJ,
dem Eunuchen Mardonius zur Erziehung übergeben. Wo er sich
damals aufgehalten habe, darüber haben wir keine directe Angabe;
nur wissen wir, dass die Güter seines ermordeten Vaters von Con-
slantius 'eingezogen worden waren (Jul. ad Athen. 273 B) und ihm
so nur sein mütterliches Vermögen blieb, zu welchem unter An-
derem ein Gut in Bithynien gehörte, von welchem er Epist. 46 sagt:
zotiro Ipol (luqaxty xofjudfj vim nedtov idöxet tptXiaiov. Er wird
also wohl seine Knabenzeit entfernt vom Hofe und von diesem un-
beachtet (wenigstens sah ihn Constantius erst in Kappadokien zum
ersten Male ad Ath. S. 274 A) auf seinen mütterlichen Besitzungen
zugebracht haben.
Von jetzt an werden die Angaben widersprechend und unklar.
Vor Allem handelt es sich um Julian's Aufenthalt in Constantino-
pel, in Bezug auf welchen es sich fragt, ob er zweimal Statt hatte,
einmal vor der kappadokischen Gefangenschaft, das andere Mal
nach derselben, oder ob nur einmal und zu welcher Zeft alsdann?
Stellen wir die Quellenangaben zusammen. Libanius lasst (or. Fu-
nebr. I, S. 525. Reiske) auf die Erzählung der Rettung des Lebens
von Julian die Worte folgep: dtiiqiße mal rovg Myovg iv ttJ pt-
ytotfl pträ u)v cPa>fw/v noXtt (d. h. Constantinopel) yontov $ig bV
dacxaXelov . . ov coßdSv ovdi Xvnwv ovd* ä&äv unoßXiTt&S&ak JmI
nXfj&og äxoXov&wv xal ibv da? txttvtov &6$vßov aXV cvyovgrfg
n ßiknCTOg awcpqoövvrig <pvXa% (Mardonius) xal naiday&yiq §n-
Qog ovx äpoiQog navdttag. löxhjg n fierqCa u\ s. f. (I, 526): rjStj (Je
nq6<St\ßog rjv xal rd Trjg yvtieuig ßatoXixdv noXXoTg xal ptydhotg
t(X(Ar}(>toig ifirjvvaq. xal ravia ovx eXa xa&tvduv Kwytndmor.
StCaag de firj noXv fisydXrj ... Imtinatöß nqbg vfyv äqeTrjv rov vtov
* ' ' ■ ♦
*) Bei dieser Uebereinstimmuog der Nachrichten ist nicht abzusehen,
-wie Markus von Areihusa einen wesentlichen Einfluss auf Julian's Errettung
gehabt haben könne, von welchem Gregor von Naz (orat. Ul, S. 90 C) sagt:
twv ereo'wxoTWv rov sc,ayiarov njvixa ro yevoq arvry xav extv&uvi've *cu
<5ta 3X0*179 \)Xtttay<xyövTwv tu; wutoq fjv.
Zur Geschickte des Kaisers Julianus: 145
. . nipmt adtdv dg rfjv Nixofirjdovg ttöXiv (wie Libanius in seiner
Eigennamen umgehenden Rhetorenmanier Nikomedia benennt), nat-
dtvead-ai d* iCötaciv QovaCav. 6 6i ov tponä fiev naq* ipi, rov£
Xöyovg 6s (dvov/mevog SjmXwv ovx tXöei. Durch diese Beziehung auf
seine eigene Person wird Libanius' Zeugniss noch beachlenswer-
(her. Sichtlich kannten und benutzten ihn Sokrates und Sozome-
nus. Jener erzählt (III, 1, S. 143 f. Vales.): iml % xaj avnov (Gal-
lus uud Jul.) tov ßuöMwg oqfirj (wie sie sich in der Ermordung
ihrer Verwandten bewiesen hatte) ixtxavvww, rdXXog fuv roig iv
ylwv(u xarä Trjv 7>E<p€<Tov Itpoda StdaüxdXovg, h&a aviolg xal
xrij<ug jjv ix nqoyövatv noXhi\ (vergl. Liban I, 531 R.). YovXiavdg
de av£r]&flg twv iv Kwv&mnCvov noXn TtoudevTriqttov rjxqodio,
dg t%v ßa&XiXTJVj iv&a töib tu naiSivi^qia rp, iv Xntö tyiffian
nqoia)v xal V7i6 Maqöovtov rod evvov%ov Ttaiiaytayov'iMvog. (Nach-
dem er sodann Julian's (christliche) Lehrer in der Grammatik und
Rhetorik genannt, fährt Sokrates (S. 144 A) fort: äx/id^ovrog 6i
avxov mql TOvg Xöyovg <ptffMi Hg dg tov 6rj(iov SUrq^BV (hg ettj
txavdg rot cPo)fiaC(ov nqdyfiaxa dtOMUv* xal tovto Xomiv tpavt-
qwg &qvXXov(isvov taqax^v Inoiu reo ßaötXet. dw ps&tGirjaw ad-
tov ix Tfjg fi$yaXo7fdXi(og dg ttjv NixofitfdHav. Offenbar ist nach
diesen beiden Schriftstellern der Hergang folgender: Julianus be-
suchte als Knabe und angehender Jüngling unter der Aufsicht des
Mardonius die Unterrichtsanstalten zu Gonstantinopel in dem Auf«
zuge eines Nacbgeborenen ; als aber seine Talente und Fortschritte
die Bücke und die Neigung des Volkes ihm zuwandten, entrückte
ihn der eifersüchtige und ängstliche Constanlius nach Nikomedia.
Ein Theil dieser Darstellung wird dadurch bestätigt, dass nach der
schon aufgeführten Angabe des Julianus selbst Mardonius wirklich
sein Pädagog war. Dagegen widerspricht den meisten dieser Data
der Bericht des Sozomenus. Dieser erzählt (V, 2, S. 465 f. Vales.)
zuerst ausführlich die Gefangenschaft der beiden Brüder in Makel-
lum und fährt dann fort (S. 166 C): find xqovov nvä Ttavaafiivov
KiüvGravrtov Tfjg oqyfjg (also dieselbe Wendung, mit welcher So-
krates von dem Attentat auf das Leben der Brüder weiter gegan-
gen war), rdXXog /mv dg t^v *AoCav iX&wv iv *E<p£ocö dt,hqißtv,
iv&a drj rd nXtCw tfig ovatag efyev (ganz wie Sokrates). °lovXia-
vbg di dg KwvGTavrwov'noXiv inavtX&wv rolg ixuGt dtdacxd-
Xo&g i<poCra. cfricewg di tv %%{xiV *a* T0?S ficid^fiact fyadfwg IxoV
iovg ovx iXdv&avsv iv IÖhätov yäq cxrfpan rdg nqoöoovg nowv'-
fuvog noXXolg GvvtyCvtTO* irrst de, ola cpiXtT iv öfiCXtp xal ßatik-
Xsvovöfl nöXet, ädsXyög wv tov xqaroVvTog xal nqdyfiara dwtxtlv
Ixavdg elvai <pawö(itvog TfQogsdoxuro ßatiiXvouv xal noXvg mql
avTOv TOiovxog ixqdui X6yog, nqogndx&vi iv NMoprjäda didyuv.
Also ganz dasselbe, was Libanius und Sokrates indirect vor die
Ztiuchrifl f. Gefcbichtsw. IV. 184". IQ
146 Zur Geschichte da Kaieere Juüamti.
kappadokische Haft setzen, 6etzt Sozomenus Ausdrücklich nach der-
selben; so Gallus Aufenthalt in Ephesus, so Julians Studien in
Coostantinopel. In Bezug auf das Erstere scheint Sozomenus nun
gleich im Unrecht zu sein; denn dass Gallus und Julianus gleich*
zeitig aus Aiakellum entlassen wurden, und zwar jener um vom
Kaiser zum Cäsar ernannt zu werden und alsbaid .an seinen Po*
sten nach Antiochia abzugehen, wird durch viele Zeugnisse ausser
Zweifel gesetzt; m. s. Jul. ad Athen. S. 270 D. 971 D. Gregor Nazor.
III, S. 61 D: tdv (Mv äishpdv rj (piXayd-qumia rov avTOXQdroQog
&nodkttw<S{, ßatoXia, — «ff 6*1 wrrJQZ* ***«£ noXXtjy Qowrfar xai
ädnav u. s. f. Liban. or. I, S. 527 R.: ixshup (ih> ovr fiiv ubqI tovz*
fj GTrovty (in Nikomedia), rd! d* ddtXcpcß yCvrcav /utiomrfo zijg ßa-
CiteCag xarä ri dsvuQov äxfjpa; Ammian. 11. XIV, 1, 1 von Gal-
lus: ex sqvalore nimio miseriarum ... ad principale culmen-pro-
vectus, vergl. Tillemont hist. des emp. IV, S. 694, not. 2. Was aber
die andere Differenz betrifft, die in Bezug auf Julian's Studienzeit
in Constantinopel, so scheint eine Vermittlung nahe zu liegen. We-
der Libanius noch Sokrates sprechen nämlich von Julian's Haft in
Ifakellum, vielleicht weil sie nichts davon wissen; der Erstere, der
doch wohl Julian's Sendschreiben an die Athener gelesen hatte,
vielleicht aus Versehen oder mit Absicht; Sozomenus aber ist mit
Julian derjenige, welcher die genauesten Notizen über diese Haft
mittheilt. Sechs Jahre lang (Jul. ad Ath. S. 271 B) war nämlich Ju-
lian mit seinem Bruder Gallus in fundo Maceili (Amm. Bl. XV, 2, 7.
vergl. Sozom. X, 2, S. 165 D Vales. nqoq%jdxd^aav iv KaTtmioxfa
iutTQlßtw iv MaxiXkw, welcher Aufenthalt von Soz. als ein ganz
erträglicher dargestellt wird), von allem standesgemässen Umgänge
abgesperrt (ad Ath. S. 271 C) — denn der Besuch des Constantius
(ad Ath. S. 274 A) war ein vorübergehender und hatte wohl andere
Zwecke — , allein auf Bücher (vergl. z. B. Jul. Epist. 9 extr.) und
ihre Dienerschaft angewiesen. Da von hier aus Gallus zum Cäsar
ernannt wurde und dieses im März 351 geschah, so wissen wir,
dass der Anfangspunkt dieser sechsjährigen Gefangenschaft das Jahr
345 ist, wo Julian 14 Jahre alt war. Es liegt nun die vermittelnde
Annahme nahe, dass Julian sowohl vor seiner kappadokisohen Ge-
fangenschaft, als nach dieser, in Constantinopel studirt habe, und
darauf führt Sozomenus' Ausdruck: er sei dahin zurückgekehrt
'(ArawAdW), von selbst. Nun fragt sich zuerst, welche von bei*
den Studienzeiten die Eifersucht des Constantius erregte? Nimmt
man die frühere an, so hat man den Vortheil, dass nun die kappa-
dokische Haft nicht mehr so unmotivirt dasteht, und dass mit ihr
nun wirklich die Reihe dessen beginnt, was Julianus persönlich
durch Constantius erlitten (da die Ermordung seines Vaters und
älteren Bruders und die Einziehung seines Vermögens früher Statt
Zur Geschichte des Kaisers Juliama. 147
halte, als Julian's Selbstbewusstsein vollständig wach war), wie
Julian selbst es darstellt ad Äth. S. 271 B; für die zweite sich zu
entscheiden, könnte man durch den Umstand veranlasst werden,
dass bei dem alsdann schon vorgerückteren Alter des Julian die
Eifersucht des Constantius natürlicher erscheint, und dass die An-
gabe des Libanius mehr zu ihrem Rechte kommt, da dieser, in
Nikomedia wohnend, doch wohl darüber unterrichtet war, von wo
aus Julian in diese Stadt gekommen sei. Indessen wird, was das
Letzte betrifft, die Untrüglichkeit von Libanius' Angaben durch seine
Auslassung der historisch feststehenden kappadokischen Haft be-
deutend vermindert, und in Bezug auf das Erste ist es zweifelhaft,
ob Constantius, wenn Julian schon erwachsen war, als er die Auf-
merksamkeit des Volkes und die Eifersucht des Kaisers erregte,
sich mit der blossen Verweisung in eine andere Stadt begnügt hätte;
auch hatte das Volk nach Julian's kappadokisclfer Haft weit weni-
ger Veranlassung in ihm den künftigen Kaiser zu erblicken, da eben
erst Gallus zum Cäsar ernannt war und sich noch durch nichts
verhasst gemacht hatte. Es ist daher an sich schon überwiegend
wahrscheinlich, dass der Verlauf folgender war. Vielleicht von. sei-
nem zehnten Jahre an (weil es doch längerer Zeit bedurfte, bis der
Ruf der Talente eines bescheiden auftretenden Knaben so weit sich
verbreitet und solche Gedanken erregt) besuchte Julian die Unter-
richtsanstalten zu Conslantinopel ; durch seine Fähigketten wurde
die Aufmerksamkeit des Volkes und der Argwohn des Kaisers rege
gemacht, und dieser verbannte ihn nebst seinem Halbbruder nach
dem fernen Kappadokien und bielt sie dort 0 Jahre lang in stren-
ger Haft. Nach seiner Freilassung kehrte Julianus nach Constanti-
nopel zurück, das ihm am meisten bekannt und durch seine Ju-
genderinnerungen theuer war, und wohin er sich um so furcht*
loser begab, weil damals sein Verfolger nicht dort residirte. Von
hier aus führte den Julian sein Lerntrieb bald nach dem nahen Ni-
komedia, dessen Unterrichtsanstalten sich damals grade eines be-
sonderen Rufes erfreuten. Julian kam also wirklich von Constan-
tinopel aas nach Nikomedia, — darin hat Libanius vollkommen Recht
und darüber konnte er sich auch nicht wohl täuschen, um so we-
niger, weil er persönlich die Wirkung davon zu empfinden hatte,
dass Julian unmittelbar von Constantinopel herkam (durch das Ver-
bot seiner Vorlesungen); aber darin hat er Unrecht, dass er die-
sen zweiten kurzen Aufenthalt in Constantinopel verwechselt mit
dem früheren längeren und daher bekannteren, welcher durch Con-
stantius unterbrochen worden war, während den zweiten JuKan
freiwillig beendigte. In Folge dieser Verwechslung fand Libanius
keinen Raum für Julian's Aufenthalt in Makellum, und Sokrates
sehloss sich in alten Punkten an ihn an. Die ganze Schilderung,
10*
148 Zur Geschichte des Kaisers JuHasws.
welche beide von Julian's Rolle io Constantinopel geben, ist richtig
und passt nur auf dessen frühere Jahre , nur auf die Zeit vor Ma-
kellum; erst in den Folgen, weiche sie diesem Aufenthalte gebeu,
irren sie, indem sie als solche die Verweisung nach Nikomedia an«
statt der nach Makellum angeben und so einen Zeitraum von sechs
Jahren überspringen. Sozomenus sah den letzteren Fehler ein,
verfiel aber, indem er ihn verbessern wollte, in einen andern. Er
versetzte nämlich das, was seine Vorganger richtig in Julian's 11
bis 14. Lebensjahr setzen, in dessen zwanzigstes, wohin es nicht
passt, liess aber die Erzählung jener durchblicken, indem er die
nach Makellum erfolgende Reise nach Constantinopel eine Rückkehr
nannte, was nur unter der Voraussetzung verstandlich ist, dass der
erste Theil der Angaben des Libanius und Sokrates die Wahrheit
enthält. Richtig ist also an Sozomenus' Bericht die Einschiebuog der
kappadokischen Haft und die Andeutung eines zweimaligen Aufent-
haltes in Constantinopel; irrig aber ist, dass er den zweiten Auf-
enthalt daselbst auf eine Weise schildert und ihm Folgen beimisst,
welche vielmehr zu dem ersten gehören; dieser Irrtbum ist daher
entstanden, dass Sozomenus die Angabe seiner Vorgänger, Julian
sei durch die Eifersucht des Kaisers nach Nikomedia verwiesen
worden, beizubehalten suchte, anstatt sie zu berichtigen.
Zu dieser Darstellung stimmt auch dasjenige Datum, welches
einen weiteren schwierigen Punkt im Leben des Julian bildet, näm-
lich seine Zusammenkunft mit Gallus. Als man später, nach der
Ermordung des Letzleren, nach einem Vorwande suchte, auch den
Julian zu verdächtigen und anzuklagen, stützte man sich auf zwei
Punkte: quod a Macelli fundo ad Asiam demigrarat liberalium de-
siderio doctrinarum et per Constantinopolim transenntem viderat
fratrem (Amm. M. XV, 2, 7). Das Erste scheint sich darauf zu be-
zieben, dass Julian von Makellum aus nicht an den Hof sich begab,
sondern seinem Wissenstrieb folgte und nach Nikomedien sich
wandte. Dies that er insofern non sine iussu, als Constantius aus-
drücklich ihm die Erlaubniss ertheilt halte, sich zu unterrichten wo
er wolle, indem er es gern sah, mql rä ßißXta itkaväa&a* utör
xal uqyüv fiäXXov fj xov yivovg xal irjg ßatoXefag vnofuiwffiK"
o&cu (Eunap. Max. I, S. 48 Boisson.). Amniian überspringt hiebei
wegen der Beiläufigkeit seiner Notiz den kurzen zweiten Aufenthalt
Julian's in Constantinopel wenigstens insofern, als er denselben
nicht ausdrücklich erwähnt, aber auch nicht ausschliesst. Hätte er
ganz genau sein wollen, so hätte er sagen müssen: weil er, von
Makellum entlassen, in Constantinopel nicht geblieben war, son-
dern sich alsbald von da aus nach Nikomedia begeben hatte (aus
Wissensdurst). Uebrigens scbliesst hier Ammian Kappadokien, als
den westlichsten TheiJ, von dem eigentlichen Kleinasien aus; denn
Zur Geschichte des Kaisers Julianus. 149
dass er Asta hier nicht in dem engsten Sinne (As. propria) nehme,
sondern in dem von Kleinasien, beweist der Umstand, dass er Ni-<
komedia darunter milbegreift, wofern die Benennung nicht über*
haupt vom europäischen (constantinopolischen) Standpunkte aus
gewählt ist. Schwieriger ist der zweite Punkt der Anklage. Nach
Ammian fand also die Zusammenkunft in Constantinopel statt und
zwar zu der Zeit als Gallus, im Begriffe sich nach Antiochia zu
verfugen, durch diese Stadt reiste. Wenn er blos durchreiste, wo-
her kam er? 'Z?? VraXCag, sagt Liban I, 527 R. (nifimrai, ££ Y.
rijy nqdg iü) (pQOvqfotov). Was hatte er dort zu thun? Er hatte
von Gonstanlius seine Belehnung mit der Cäsarwürde entgegenge-
nommen. Hatte aber Constantius damals (J. 351) seine Hofhaltung
bereits in Italien, in Mediolanum? Unmöglich. Noch herrschte Ma-
gnentius im Occidente und eben darum war Gallus zum Cäsar er-
nannt worden, damit Constantius seine Aufmerksamkeit und Kraft
ungetheilt dem Magnentius zuwenden könnte, der dann auch im
J. 353 seinen Untergang fand. Man muss daher annehmen, Con-
stantius habe sich zu Anfang des Jahres 351 zwar in Mediolanum
ebensowenig als in Constantinopel aufgehallen, aber doch in der
Nähe von Italien und dem Kriegsschauplatze, so dass Libanius den
allgemeinen unbestimmten Ausdruck gebrauchen konnte £§ Yr«-
Xtag, während doch Constantius das eigentliche Italien erst im fol-
genden Jahre (352) von Magnentius eroberte. Dahin, wo sich grade
der Kaiser befand, wurde Gallus berufen, zum Cäsar ernannt und
erhielt die Weisung, sich schleunigst nach Antiochia zu begeben.
Auf dem Wege dahin kam er durch Constantinopel und hier sah
er, nach Ammian, seihen Bruder Julian. Möglich ist dies wohl; es
beweist, wenn es richtig ist, nur di$ Schnelligkeit, mit der sich Gal-
lus auf seinen Posten begab, vermöge welcher er seinen Bruder
Doch in Constantinopel antraf, so kurz dessen Aufenthalt in dieser
Stadt war. Aber bei Libanius findet sich noch eine andere Ver-
sion: ixuvog fjth> ovv (der zum Cäsar ernannte Gallus) xal 8iä v?tg
Btdwfag doQVfpoQOvfievog IjfcJ^e* xal tldov (die Brüder) älX?jX(ü
(or. I, 527 R.) Während es in Libanius' Darstellung zweifelhaft
bleibt, ob das Zusammentreffen Zufall oder Absicht war, glaubt
dessen Nachfolger Sokrates bestimmter sagen zu dürfen: Kaitiaq
ävaÖux&slg rtxw dipdfitvog avxdv (den Julian) dg zrjv NvxofiridHaVj
öi€ inl ttiv ioiav Inoqtvsio (III, 1). Wer hat nun Recht, Ammian
oder Libanius? Fand die Zusammenkunft in Constantinopel stall
oder in Nikomedia? Im Ganzen ist dies ziemlich gleichgültig, da
die beiden Städte so nahe bei einander liegen, dass äs in chrono-
logischer Beziehung so gut als keinen Unterschied macht, ob Julian
zur Zeit, da Gallus sich in seine Residenz verfügte, noch in Con-
stantinopel war oder bereits nach Nikomedia abgegangen. Indessen
150 Zur Geschichte des Kaisers Juhaaus.
scheint doch dem Zeugni&s des Libanus mehr Glauben zu sehen-
•&en zu sein, weil dieser damals selbst in Nikomedia lebte und so-
mit aus der besten Quelle, aus dem Augenschein, seine Angabc
schöpfte. In Nikomedia halte also diese Zusammenkunft statu Giebt
man aber in diesem Punkte die Darstellung des Ammian auf, so
versteht es sich von selbst, dass auch die Rechtfertigung des Ju-
lian nicht darin bestehen kounte, dass er nachwies, auch diese Zu*
sammenkunft habe non sine iussu imperatoris stattgefunden; er
musste vielmehr erhärten, dass Gallus ihn aufgesucht habe, nicht
er den Gallus, und dass die damaligen Verhandlupgen entfernt keine
politische Tendenz gehabt hätten. Dies wird er um so mehr getbao
haben, als er auch Ep. ad Ath. S. 273 A eidlich versichert, dass er
so gut als gar keine, am wenigsten aber eine politische Verbindung
mit Gallus gehabt habe, was auch Libanius (or. I, 530) nachdrück-
lich bekräftigt. -.
In Nikomedia also war Julian frei und konnte Lehrer wählen,
welche ihm beliebte, nur mit einer Ausuahme: den Libanius, deo
berühmtesten, durfte er nicht hören, das hatte er seinem früheren
Lehrer in Constantinopel, dem Christen Bkebolius, eidlich verspre-
chen müssen (Liban. I, 527), ein Eid, dessen lästige Wirkung er
durch seinen Eifer zu vereiteln wusstc, indem er sich um schwe-
res Geld einen ständigen Nachschreiber bei Libanius hielt (no(ft-
p£a nvä %wv nad* rifUqav XiyofUvwv SwQtcug (jKydlcug xafiär
ptvog, ibid.). Dieses Factum, worüber Libanius doch Gewissheit
haben musste, ist einer der stärksten Beweise, dass Julian von Con-
stantinopel aus nach Nikomedia kam. Der Aufenthalt in dieser Stadt
wurde für Julian's Religions- Richtung entscheidend. Hier war es
nämlich, wo seine von Kindheit an gehegte Vorliebe für die helle-
nische Religion (Ammian. Marc. XXII, 5, 1 a rudjmentis pueritiae
primis inc|inatior erat erga numinum eultum, vergl. Julian, or. in
Sol, S. 130 C inivqxf fxat äswdg ix nat&wv rwv avytiSv rov &o*
Ttd&ogj und aus der kappadokischen Zeit die Notiz bei Gregor Naz.
or. III, S. 61 C, Julian habe gegen seinen Bruder immer die Ma-
nische Religion vertheidigt) vorzugsweise durch den um seinet-
willen hieher gekommenen Philosophen Maximus (Sokrates III, 1,
S. 136 BC) solche Nahrung fand, dass er innerlich vollständig ®il
dem Christentimme brach und nur den äusserlichen Soheia aus
Furcht noch beibehielt (vergl Julian. Ep. 42, S. 80 Heyler, Liban. I,
588. Ammian. M. XXII, 5. I f. Sokr. III, 1, S. 144 C. Sozom- V, %
S. 166 D Vales). Daher sagt auch Gregor von Naz. or. III. S. 611 D:
l<4<rCa r\v avitS to rrjg uttßstog ddacxalfiov und schreib! 8$
Recht der Philosophie sein Abwendigwerden vpn dem Christ«0*
thume zu: hei di dg üvdqaq nqoUvxtg (Gallus und Julian) tJÄ
rwv iv (ptlvaeyty dQ/iwiiuiv %tyt*VTO (dg /*tjmi* &f*kf»t) *«*
Zur Geschichte des Kaisers Julianus. 151
Ttfi ix tov Xöyov nQogtXdpßavov dvvapw, .. ovxin xatix**» &Xtp
vijv vöaov oUg u fy (Julian nämlich), ibid. A., womit vollkommen
übereinstimmt Liban. or. I, 528 Reiske: Kai non (in Nikomedien)
xoig %ov IlXdtwvog yipovöw dg tuviov iX&dv äxofaag virio r«
&ewv xal daifiövw u. s. w., äXfivqäv dxorjv ämxXrjaaTO notlpq
X6yq> xal ndvxa tov Ifjmqoc&tv ixßaXu)v vd-Xov uvmgrjyaytv dg
t%v tyvxty *& tfS äkti&tCag xdXXog wGjisq tfg nva fiiyav vsdv
äydXpara &e<8v nqdtsqov vßqrtfiiva ßoqßöqto. xal jjv /mv nsql
xavza heqogy iGxyfiaiC&io d£ rd nqöc&iv, ov ydq i£fjv cpavfjva*.
Eine bedeutend abweichende Darstellung giebt Eunajfms in Max.
1, 48 Boisson. : Ttaviaxov ßa&iwv xal ßaqvtdiwv viroxMfiivwv xvq-
ftdtwv fterä ßamXixrjg vnovotag xal doqvcpoqtag ntq^cpotia xal
di&Gn*x& b*n$ ßovXono . xal dr} xal dg niqyafiov icpixveTicu xard
xXiog nljg Aid tat ov cog>(ag. Aber dieser selbst schon zu alt, weist
ihn an seine Schüler, von denen aber grade nur Chrysanlhius und
Eusebius anwesend sind. Von dem Letzteren geheimnissvoll auf
Maximus hingewiesen, eilt er diesem nach Ephesus nach; auch den
Chrysanthfus ruft er hieber xal (x6Xt,g tjqxow äp<pu) ifj tov naidbg
sig tag ftadyCHg evqvxwqCa (ib. S. 51). Aber ist schon Eunapius
überhaupt ein unglaubwürdiger Schriftsteller, welcher um jeden
Preis seine Helden verherrlichen will (daher er hier den Julian dem
Maximus nachreisen lässt, nicht umgekehrt, wie Sokr.JII, I,S. 136 C
erzählt nach der Andeutung bei Liban. or. funebr. I, 528: irjg <pif-
fji/qg navjaxol (peqofjtivqg ndvng o\ mql tag MovCag xal tovg äX-
Xovg f€ &eoig o\ fiev liiomöqow, ol cP ijrXeov, (Sjv&vdovxig Idsiv
x ixüvov xal cvyyevid&ai xal elmlv aviot n xal äxovaat, Xiyov-
tog), so verrath sich die Unrichtigkeit dieses Berichtes insbeson*
dere noch in manchen einzelnen Punkten. Einmal in der Ueber-
treibung, womit Julians Reich th um und in Folge dessen sein Auf-
zug geschildert ist, und welche nur den Zweck hat, seine Bemühung
um Aidesius und Maximus in ein für diese noch schmeichelhafteres
Licht zu rücken; denn Julian war damals nicht reich, da er sein
vollständiges väterliches Vermögen erst als Kaiser wieder in seinen
Besitz bekam (vergl. Jul. Ep. ad Ath. S. 273 B), und noch weniger
war ein glänzender, Aufsehen erregender Aufzug der Julian's Nei-
gungen und Erziehung entsprechende. Auch beweist der Ausdruck
io$ na*ä6gs wie wenig Kenntniss Eunapius von der Chronologie
batte, da Julian um diese Zeit in seinem zwanzigsten Jahre war.
Denn dass seine Abwendung vom Christenthume in diesem Lebens-
alter erfolgte, giebt Julian selbst an (Epist. 51: m&6p*voi, t<$ tcq-
Qtv&ivu xaxtlvrp rrp bdov, nämlich das Christentbum, axqig Itwy
stxoc*). Wir haben also alle Ursache, die Erzählung des Eunapius
bei Seite zu lassen und uns an die mit Julian's eigenen Angaben
übereinstimmende Darstellung des Libanius und Sokrates zu halten,
152 Zur Geschichte des Kaisers Julianus.
wonach er (von Kappadokien aus, also nach seinem 19. Jahre) nach
Nikomedien kam und hier für die hellenische Philosophie und Re-
ligion vollständig gewonnen wurde. Nur so viel können wir an
Eunapius' Erzählung als richtig anerkennen, dass allerdings Julian
um diese Zeit (etwa unmittelbar nach seiner Freilassung) allerlei
kleine Reisen in Asien herum ausführte, deren er in seinem Briefe
au Themistius S. 259 BC selbst Erwähnung thuL Jedenfalls aber
befand er sich in Nikomedien als sein Bruder Gallus ermordet wurde.
Dieses Ereigniss war auch für Julian von bedeutenden Folgen. Man
beschuldigte* ihn bei dem ängstlichen, misstrau ischen Kaiser des
Einverständnisses mit Gallus. Die Anklagepunkte und die Rechtfer»
tigung, welche ihnen Julian entgegensetzen konnte, haben wir des
Näheren bereits betrachtet. Es ist uns hier nur noch übrig, die
ausserlichen Hergänge, welche sich an diese Anklage knüpften, dar-
zulegen.
Der Tod des Gallus erfolgte nach Gibbon im December des
J. 354, wo Julian volle 23 Jahre alt war, Gallus aber 29 (Amm. M.
XIV, 11, 27). Die Folgen, welche dieses Ereigniss für ihrf hatte, er-
zählt Julian selbst (ad Ath. S. 272 D) so: Tokio v xiuvui naqiiw*
(Constantius) totg ix&t<STOi,g, ifie de d<prtxe pöyig imd (jltivwv 6Xwv
IfocvGag rfjde xaxeTae xul TtOHfjödfisvog i/Mpqovqwv. Also von Gal-
lus' Tod an wurde Julian 7 volle Monate lang hin und hergeschleppt
und gefangen gehalten. Dies wird im Wesentlichen auch durch Li-
banius bestätigt, der (Oratt. I, S. 530 R.) berichtet: (JaUo?) <*0*-
&vt}<fxev a<pa)vog, . . xul uviCxu oiiog (Julian) dvicnacxo tb xal fy
iv fiiaco cpvXdxwv ihnXtßfiivüiv . • • xa* xqogfjv rd fjujdi iy &°$
tSqvG&cu xcüqCov, TÖirovg de ix jötuov dfieCßew iv Takawwqty
Sokrates schliesst sich auch hier an Libanius an, indem er (III, h
S. 144 D Vales.) erzählt: inel rdXXog dv$Qt&T}, naqaxq^V^ xa*
*IovXwvdg vnonxog xaiicvt] t<8 ßatoXu* i&o cpqovqsic&cu avriv
IxiXevöev. ItyviTag d£ diaSqdacu rovg cpqovqovvrag avrdv r6nw
ix TÖnov äfietßiüv dteötü&zo • 3ipe 6i non ff jov ßatoXiwg y^V^
EvöeßCa xqvmöfitvov ävevqovaa net&ei, rdv ßatoXia fi>rjdev (W
avrdv dqäticu xaxovj Gvyxioqrjöat, 6i inl tag *A&ijvag iXfrdvn y**
Xococpelv. Nur hat Julian und Libanius statt dieses romanhaften;
aus blossem Missverständniss der Ausdrücke des Libanius entstan-
denen Versteckens und Entdecktwerdens, von welchem auch Am-
mian nichts weiss, eine wahrscheinlichere Version, dass nämlich
Julian gefangen herumgeschleppt worden sei. Worin aber bestand
dieses ihcvea&art Jedenfalls einmal darin, dass Julian von Niko-
tnedia an den Hof, der sich jetzt zu Mediolanum befand, transpor-
lirt wurde (perductus, Ammian XV, 2, 7; vergl. ib. §. 10 u* c 3, h
wo derselbe Ausdruck wieder von Gefangenen gebraucht ist). Con-
stantius bereute die Ermordung des Gallus, sobald sie vollzogen
Zur Geschichte des Kaisers Julianus. 153
war, um so mehr aber hiess ihn sein böses Gewissen die Rache
des Julianas fürchten. Gern verwandelte sich die Furcht in Zorn,
als ihm seine Camarilla einredete, Julian habe sich mit Gallus ge-
gen ihn verschworen gehabt. Aber der Kaiserin Eusebia Fürsprache
und Vermittlung beseitigte für Julian die ihm drohende Gefahr. Sie
verschaffte dem Gefangenen und Angeklagten eine Privataudienz
bei dem Kaiser, der ihn seit Kappadokien nicht mehr gesehen hatte
(ad Ath. 274 A), worin Julian die falschen Anklagen zurückwies
und sich vollständig rechtfertigte (Jul. ad Ath. 273 A. Or. III, S. 118 B
ovx ävfjxsv 7j Evotßta tolvtu deofiivrj nqiv i/u rjyayev Big 8tf>w tipt
ßatoXiwg xal rvjraV inoCrjGs Xdyov, xal änoXvofiivqy näcav alzlav
ädtxov (Svvtjg&t] ; vergl. ad Ath. 274 A &na% iv *haXla, v&q äv irjs
cwxriqCag rüg ifiavrov &a^^<fatfu). Constantius versprach ihm,
ihn noch öfter vor sich zu rufen, was aber der Eunuch Eusebius
zu hintertreiben wusste, so dass ihn Gonslantius, obwohl Julian
ungefähr sechs Monate in Mediolanum sich aufhielt (Jul. ad Ath.
S. 274 A xaixoh rijv avrrjv ahoi ndXw ££ dtxrjGa fifjvagj xal piviot
xal vni<$xtx6 p* dsdaseftou, ndXtv) , nicht wieder sah bis nach
seiner Rückkunft aus Hellas. Sogar sein Leben wäre in Mediolanum
vor den Nachstellungen der schuldbewussten und daher ihn fürch-
tenden Camarilla nicht sicher gewesen (quum obieeta dilueret, ne-
fando adsentatorum coetu perisset urgente, Ammian XV, 2, 8, vergl.
Jul. ad Ath. 273 A), ni Eusebia suffragante regina duetus ad Com um
oppidum Mediolano vicinum (wo er seinen Feinden aus dem Ge-
sicht war), ibique paulisper moratus proeudendi ingenii causa, ut
cupidine flagravit, ad Graeciam ire permissus esset. So Ammian
und ebenso Libanius (Orr. I, 531 R): rdv de eldsv .. fj Kajv<nav-
rtov ywij xal rdv pev (Julian) fjXirjaCj xov dt (Constantius) ifidXa^e
xal noXXaZg raTg Ixtctcug iXvcsv (von seinen Banden) iqiSvxa rvjg
lEXXddog xal f*dXi<na Stj xov xijg 'EXXddog d(p&aXfioti> x(Sv *Ad^i
vwv, dg yijv iotofiivrjv iripfya*. Aber die Darstellung beider Schrift-
steller ist aus Julian in einem Punkte zu ergänzen: Julian wurde
nicht unmittelbar von Gomum aus nach Hellas entlassen, sondern
er hatte, unterstützt von Eusebia, sich die Erlaubniss ausgewirkt,
in die Heimath seiner Mutter, htl jjjv irjg firjxqdg (weil sein väter-
liches Vermögen confiscirt war) iaxlav (ad Ath. 273 B), also wohl
nach Bithynien oder Jonien, zurückzukehren (Or. III, S. 118 B von
Eusebia: oXxais tmd-v/iovvx* ndXiv amtvai nofm^v ä<rg>aXtj nu-
q£GXev> iiMQiifßai, nqwxov xdv ßaCkXia %v^iithica<5a)* Schon war
er unterwegs (vergl. ad Ath. 273 A d)g ovv dnoyvywv ixu&ev <?<ty*e-
vog lnoQtv6[M)y inl Trjv tilg fiyjrQog itixtav, und nachher noqevofxi-
vov hcl tfjv iaxlav) } als sich ttbqI to 2Cq(mov und nachher aus
Gallien Sykophanlen erhoben und Unruhen aus ihren Gegenden
meldeten (ad Ath. 273. CD; in der Lobrede auf Eusebia, Or. HI, S.
154 Zur Geschichie des Kaisers Julianus.
118 C drückt er sich wie es der Tact gebot, od bestimmt aus: iui-
fjkovoq tj rwog ^vnvxCag äXXoxoTOv bdbv xuvvq» vTtonfAOftfvft).
Der misstrauische Constantias fürchtete, Julianus möchte steh an
die Spitze einer dieser Empörungen stellen (deicag wxnämto xol
(poßrjd-clg, ad Alb. 273 D), schickt ihm daher sogleich nach (avtixa
It? ifti nipmi) und weist ihn weg von dem Schauplatze beider
Aufstände, nach Hellas, wofür sich in seiner Abwesenheit Eusebia,
seine Neigungen wohl kennend, verwendet hatte (Or. III, S. 118 C
von Eusebia: ijtotpdfiwov jiifimi rrjy 'EXkdda, javvrjv aliqGom
naqä ßaatXiwg vttbq £pov xal äTrodrjpovvTog tjSrj t^v £«'(»?).*)
Wir wissen also, dass er erst 7 volle Monate nach GaJhis Tod
nach Hellas kam, also im Sommer des Jahres 355, und deo Aus-
druck ihtvead-a* wissen wir so zu erläutern, dass Julian von Ni-
komedien nach Mediolanum transportirt, von da nach Comum ge-
wiesen, von da nach Constantinopel entlassen, unterwegs aber nach
Athen beordert wurde. Zugleich aber sehen wir, dass es mit dem
siebenmon&tlichen Herumgezerrtwerden nicht allzustreng zu neh-
men ist; nur etwa einen vollen Monat #ang brachte er unterwegs
zu, die übrigen sechs Monate verweilte er in Mediolanum, freilich
in einer Lage, welche unangenehm genug war, da er sich allent-
halben von Feinden umringt sah. Auch wie lange Julian in Hellas,
oder vielmehr Athen, wohin er sich sogleich begab, verweilte, kön-
nen wir bestimmen, da wir den Anfangspunkt seines dortigen Auf-
enthalts wie den Endpunkt desselben kennen. Der Anfangspunkt
ist, wie wir eben gesehen haben, etwa der Juni des Jahres 355.
Nun war er aber am 6. November desselben Jahres schon einige
Zeit, wenn auch nicht lange (baud ita dudum ab Achaico tractu
accitus, Ammian XV, 8, 1) in Mediolanum; deun an diesem Tage
wurde er dort zum Cäsar ernannt, dem Heere vorgestellt u. s. w,;
er muss also Anfangs October den Befehl zu schleuniger Rückkehr
an den Hof erhalten und Athen verlassen haben. Er war somit
nicht über ein Vierteljahr in Athen, wozu auch ganz der Ausdruck
passt fuxQÖv ilg tijv vEXXd6a xsXivCag vnoxw^ijaa^ ad Ath. S. 273 D-
Julian benutzte hier seine Müsse (<#oäi) ixtivfj, Ep. ad Tbemisl»
S. 260 B, wo er auoh seine damalige Besitzlosigkeit schildert, vergl
Liban. oratt. I, 531 R.) zu emsigem Studium der Philosophie, wie-
*) Gregor Naz. IV, 4 24 D sagt, er habe ausdrücklich den Kaiser uro
Erlaubnis* zur Reise nach Hellas gebeten, angeblich um das Land und seine
Bildungsanstalten kennen zu lernen, In Wahrheit aber, um mit den dort!"
gen Opferern und Gauklern sich zu besprechen. Wahrscheinlich bat Julian
dem Gregor gesagt, was sein geheimstes Motiv sei? — Dagegen Libantos
sroocgxw. 1, 44 0, 8 Reiske sagt richtig: eta og^e^c njv totj 3a6ityv
o*oi ßo-uXr^ttriq e^ervertav iv toio'Utcj) %w(hw otawxXeto*^?, ty> o *<*v"
wf av HSqajLLSc Server lag v*OH>%oy<rijs. Und Julian selbst (ep. ad Themi***
t6Q A) ; ouuuv e*i w}v eE^td6a *dtevy o-re p* fpe^iyuv ivipiiv» «WWW-
Zur Geschickte des Kaisers Julianus. 166
wofal er sich bereits durch seine gründlichen Kenntnisse auszeichnete
(Zosimus III, 2, 1 ix rdSv *A&r\vüv *IovXiavdv fitiomifinnak, rolg ai-
tq&i <p*XoGog>ovot evvdvta xal iv navtl 7tcuäsv<K(xtg eXdft tovg iav-
tov xa&* jjytfAdvag vmQßaXXdit&vov, und Libanius oratt. I, 532:
pdvog ixuvog viwv twv Adyva& fjxdnwv d*dd$ag n paXXov fj
fia&wv ä^Xd-ij Taiyaqovv ätf nva Cfiijrr] mol avtdv iwoäro viü)v,
TtQecßtrrfQtoVj <pAQ<Td<pu)Vj ^ijidqwv). Aber er war damals noch so
schüchtern, dass er erröthete, so oft er zum Sprechen kam (Liban.
I, 533: 6 de Xiywv « rjv Sfiolwg d-avpaGtdg xal aldovfi&vog. od
yuq fyf &n x^fa iQv&rjfiaiog icp&iyytzo). Hier machte er auch
die Bekanntschaft des eleusinischen Hierophanlen, Eunap. vita Ma-
ximi I, S. 52 f. (Boiss.), der aber freilich nach seiner Gleichgültig-
keit gegen den historischen Rahmen oder nach seiner Unkenntniss
des streng Geschichtlichen diese Bekanntschaft in eine viel frübepe
Zeit setzt» Andere Bekannte von Athen her begegnen uns Epist. 55
und Ammian XXII, 9, 13. Auch Gregor von Nazianz und Basilius
waren gleichzeitig mit ihm in Athen, aber wohl ohne dass er ih-
nen bei seiner damals bereits entschiedenen Richtung besonderes
Interesse widmete (rfjg nq^dirpog aviov änuvng än$Xavovs tov
mrttvtc&ai, de ol ßiXncioi,, Liban. 1, 532) ; vielleicht auch wurden
sie von ihm verdunkelt und dadurch gekränkt Bald aber rief Con~
stantius, nachdem Eusebia die entgegenstehenden tptvdelg vnotpCag
dtiXvtev, ivaoyu uxfurjQCeo u3 ßCq> t<$(jh$ xQto/jLivrj (or. III, S. 121 A),
ihn an seinen Hof zurück (pMqdv elg tijv 'EXXdda xiXsdaug &ro-
XWQijccu ndXtv lxü$hv ixdlti naq* iavxdv, ad Alh. 273 D. Or. III,
S. 121 B). unter schmerzlichen Tbranen ging Julian aus der theuren
Stadt einem noch ungewissen Geschicke entgegen (ad. Ath. 275 A).
In Mailand, wo er iv im nQoa<mt<$ sich einquartierte (ad Ath.
275 B), Hess ihn in Abwesenheit des Kaisers Eusebia freundlichst
bewillkommen (ib. S. 274 B) ; bald kam auch Constantius, nachdem
er eben den Feldzug gegen Silvanius glücklich beendigt hatte, nach
Mediolanum und Julian wurde nun an den Hof gezogen (ibid. 274 C),
wo er sich wegen seiner Philosophentracht Manches gefallen las-
sen musste (ib. 274 CD). So war er nun unter Einem Dache (o/io-
qdipiog) mit denen, von welchen er wusste, dass sie seiner gan-
zen Familie den Untergang bereitet hatten (S. 274 0). Zwar schwand
allmähUg der Argwohn der Höflinge gegen ihn (ib. 274 D), aber
Julian fühlte sich nicht heimisch in dieser Atmosphäre und wollte
daher die Kaiserin in einem flehentlichen Briefe uqi die Erlaubniss
zur Rückkehr ersuchen (ib. 275 C); aber er bedachte die Gefähr-
lichkeit dieses Schrittes und da er noch überdies durch einen Traum
davor gewarnt wurde, so unterliess er ihn (ibid.) Ueberbaupt eut-
sohloss er sich jetzt zu vollkommener Ergebung in seih Schicksal
(ib. 275 D bis. 277 A) und Hess es sich daher auch gefallen, als ihn
156 Zur Geschichte des Kaisers Julia***.
Constantius am 6. November 355 zum Cäsar ernannte, so bang ihm
dabei war (ib. 377 A. vergl. Misopog. S. 357 B. Liban. I, 533. Amm.
XV, 8, 17), ertrug auch die zwar glanzende, aber harte Gefangen-
schaft, in welcher er die 24 Tage bis zu seinem Abgang von Mai-
land lebte (ad Atb. 277 A— C). Am 1. December 355 ging er nach
Gallien ab (ib. 277 D und Amm. XV, 8, 18), wobei die Art, wie Con-
stantius für seine Ausrüstung sorgte (Jul. Ep. ad Atb. S. 277 D. Liban.
orr. f, 535 Zos. 111, 3, 3. Amm. XV, 8, 18) die Vermuthung nährte,
dass er nach Gallien geschickt werde oty Iva ßatotevrj xwv htivji
pövov, äXX Iva iv ifj ßatnUta dt,u<p&aQJj (Eunap. Max. I, 53. Socr.
111, 1, S. 145 C. Ammian XVI, 11, 13), was aber wohl nur ein Wech-
selfall war, den man zwar keineswegs fürchtete, aber auch nicht
unmittelbar wünschte.
Aus dieser Darstellung muss sich ergeben haben, dass die Haupt-
quellen, Julianus, Libanius und Ammianus, in keinem Theile mit-
einander in Widerspruch sind; nur erzählt Julianus manchen un-
tergeordneten Punkt und manchen Nebenzug, welchen Ammianos,
der nur einen kurzen beiläufigen Blick rückwärts wirft auf die Ge-
schichte des Julian ehe er Cäsar wurde, überspringen konnte und
rousste, Libanius aber entweder nicht kannte oder übersah; wir
haben somit festen historischen Boden genug um eine zusammen-
hängende Darstellung dieses Theiles seines Lebens geben zu können.
2. lieber die Aechtheit einiger Briefe des Julian.
Eine ergiebige Quelle für die Geschichte des Julianus und die
Erkenntniss seines Charakters als Mensch und als Regent sind seine
Briefe. Schade, dass wir sie nicht alle haben, dass die erhaltenen
nicht alle vollständig sind, nicht einmal die Aechtheit aller ausser
Zweifel ist. Doch ist letztere Zwei fei haftigkeit bei weitem nicht so
gross, als es der neueste Herausgeber derselben, L. H. Heyler, dar-
stellt. Dieser verdächtigt z. B. Ep. 25, deren Inhalt er so angiebt:
Collata in Judaeos beneficia sua recenset. Quos tum hortatur, ot
in ipsius gratiam preces ad Deum miltant. Denique Hierosolymam
ab ipso refectum iri pollicetur. Man sieht, der Brief hat historisches
Interesse und die Frage über seine Aechtheit ist daher schon viel-
fach verhandelt worden, s. die Literatur bei Heyler S. 974. Was
sind die Zweifelsgründe? Heyler selbst führt sie nicht auf, sondern
giebt nur an, dass schon Aldus, Martinius und Petavius Bedenklich-
keiten gehabt haben, indem sie der Ueberschrifl des Briefes bei-
fügten: „d yvri<tfwsff. Von äusseren Gründen könnte hieher nur
der Umstand gehören, dass einige Handschriften den Brief nicht
haben ,• was aber für den, der die handschriftliche Beschaffenheit
der Julianischen Briefe naher kennt, durchaus nichts Befremdendes
hat. Von inneren Gründen dürfte nur der von Belang sein, dass
Zur Geschichte des Kaisers Julianus. 157
sich Julian in diesem Briefe über sein Verfahren gegen den Hof
des Constanlius auf eine Weise ausspricht, die der Geschichte zu-
wider ist und auf einen Verfasser fuhren könnte, welcher gegen
Julian feindselig gesinnt gewesen wäre. Während nämlich nach
Ammian {XXH, 4,2. data quo velint eundipotestate proiecit, vergl,
Socr. III, 1, S. 139 joüg (üv ovv dkä javxag rag ahtag QißaXe)
nur von einer Entlassung, Ausweisung des Hofgesindes die Rede
sein kann, sagt Julian in dem Briefe: Qvg per iyii dg ßö&qov äeag
(oXtGa. Aber recht verstanden sagen die Worte, wenn auch in ei-
ner etwas übertriebenen Form , doch im Wesentlichen nichts an-
deres als was Ammian und Sokrates auch sagen : er stiees sie von
dem behaglichen müssigen Leben, welches sie bisher geführt, hin-
aus in ein herbes, stiess sie von ihrer Höhe herab und da die mei-
sten nichts Ordentliches gelernt hatten, und ausser der Hofatmo-
sphäre nicht gedeihen konnten, so mochte bei vielen die Folge
sein, dass sie untergingen. So schwach somit die Gründe gegen
die Aechtheit sind, so stark sind die für dieselbe. Zuerst die äus-
seren: ausdrücklich berichtet Sozom. V, 22: *Iovdatotg ivvpvg ijv
xal nqaog .. xal uvtw de tcm 7iXij&£t, fyqatytv «u£€<r#a* vttbq av-
tov xal vqg aviov ßaaikstog. Dies entspricht den Worten des Briefs:
Iva fw (ie(£ovag svx&g norfie rrjg ifirjg ßatoteCag. Hätte (wie Hey-
ler annimmt) ein Falscher die Worte des Sozomenos sich zum
Thema gewählt, wonach er den gegenwärtigen Brief ausarbeitete,
so hätte er sicher nicht unterlassen, auch das vmQ avroti seines
Originals auszudrücken ; und wie kann man eine so untergeordnete
Aeusserung zum Mittelpunkte des Briefs machen und annehmen,
dass alle die übrigen theilweise wichtigen historischen Angaben
desselben nur zur Bekleidung jener einzigen gedient haben! Aber
noch andere innere Gründe sprechen 4fc die Aechtheit. Erstens
hätte man später gar kein Interesse gehaßt, einen Brief dieser Art
dem Julian unterzuschieben, oder hätte man es gethan, so hätte das
Product ganz anders ausfallen müssen. Ein nachahmender Verfäl-
scher pflegt die charakteristischen Eigenthümlichkeiten des Nachzu-
ahmenden möglichst stark aufzutragen, Julian aber war durch die
Declamationen der christlichen Schriftsteller allmählig in ein Licht ge-
rückt worden, als habe er das Christenthum gebassi und verfolgt. Ein
Späterer nun, der einen Brief JuHan's an die Juden fabricirt hätte,
halte ganz gewiss nicht unterlassen, dem Kaiser Aeusserungen die-
ses Inhalts unterzuschieben, wovon aber in Ep. 25 keine Spur ist.
Ebenso spricht sich der Brief über Julian's Vorgänger, den christ-
lichen Kaiser Conslantius, nicht stärker aus, als Julian sonst %u
thun pflegt. Auch wäre es wohl keinem Fälscher eingefallen, den
Julian sagen zu lassen, er habe die auf die Steuern der Juden be-
züglichen Oocumente in seinem Archive verbrannt, was ein sonst
i6S Zur Geschichte des Kaisers JuKanus.
nirgendsher bekanntes und nicht leicht 2Q erfindendes Datum ist.
Endlich kann an dem universell -religiösen Julianus die Achtung,
womit er von dem Judengotte in diesem Briefe redet, um so we-
niger auffallen, als er Ep. 63 (S. 133 Heyler) die Ueberzeugung aas-
spricht, dass nur die Benennungen der Götter verschiedene seien,
das Wesentliche aber allenthalben dasselbe.
Ebenso scheint der Brief an Arsaces (Ep. 67) nur mit Unrecht
verdächtigt zu werden. Heyler sagt S. 485: mtnime credendum est,
ab Juliano profeclas esse litteras arrogantiam spirantes qualem in-
dignissimi nebulones prae se ferrent. Eine sehr geistreiche Art zu
argumentiren! Der bombastische, grosssprecherische Ton des Brie-
fes ist absichtlich angenommen, weil er einem Barbaren und zwar
einem orientalischen Fürsten gilt, und ist darauf berechnet, diesem
zu imponiren (lxir%fj£u*ß vergl. Epist. ad Themist. S. 363 A). Eine
andere, aber nicht hieher gehörige Frage ist, ob zu diesem Zwecke
ganz die rechten Mittel gewählt sind; da aber dieser Ton Julian
durchaus nicht natürlich war, so werden wir gegen Fehlgriffe im
Einzelnen Nachsicht haben müssen. Nicht triftiger ist Heyler's zwei-
ter Grund : praeter Julian! morem insultatur memoriae Constantini.
Dieser wird nämlich äßq6juxog xat noXvfrfjg genannt, welches letz-
tere der dreissigjahrige Julian von dem 45jährigen Constantius im-
merhin sagen konnte. Auch diese Herabsetzung des Constanttas
ist darauf angelegt, den Arsaces einzuschüchtern und ihm zu sa-
gen, dass jetzt strengere Saiten aufgezogen werden. Ob derselbe
Zweck nicht auch auf eine tactvollere Weise zu erreichen gewesen
w'äre, gehört nicht hieher. Auch dieser Brief ist durch Sozomenos
hinreichend beschützt. Dieser sagt (VI, 1): IdQtfaxfm ... ¥ygcnps
(fvfifiC^at mql t^v nofafitov* änavd-adeiaadfievdg re 7i4qav zov
fingCov iv t# Imäzolfj tötadibv f*ffv i^dqag dg imTtjfotor nqog
IjyifiovCav xal (ptlov olg lvö[u& &eoig (was alles Wort für Wort
auf Ep. 67 passt), KwvGtavrtcp rt, 6V dtedQaw, wg dvdvSqoo xoü
äasßti XoidöQrjödfiBvog u. s. w. Die Unmännlichkeit liegt in &ßq4-
Totrog ausgesprochen, das Prädicat äasß^g oder dvtfGeßjjg aber muss,
wenn man es nicht schon in dem Gegensatze zu Julian, der sich
rbv d-twv &sgamvrtft nennt, liegen sollte, an die Stelle des ohne-
hin sehr auffallenden und nur auf Muratori's Handschrift beruhen-
den TToXvsr^g gesetzt werden. Wenn endlich Sozomenos als wei-
teren Inhalt des Briefs angiebt: Imi Xqrtnavbv dVra iitw&dvtto
(rdv ^Aqadxiov) , imnCvcov rffv vßqw f[ ßXa<r<pri(iHv ä pf} &£(ug
&7toi)ddt>ü)V dg rdv Xqwibv, . . • ämx6[ma<fcv vTtodrjXwv äg oi*
btafufooi, Sv fiyiXtai &edv ih,y(OQOvvn rdSv TVQogrtrayfAivwv, — so
kann dies nur zum Beweise dienen, dass hier derselbe Fall ist, wie
so häufig bei Julian (vergl. Heyler zu Ep. 97, S. 292, zu 38 fin. S. 350
und zu 03 fir). S. 479), dass nämlich 6i^ mönchischen Abschreiber
Zur Geschichte des Kotier* Jutianui. 159
die dem Christentum feiodlioben Stellen gradezu weggelassen ha-
ben; vielleicht aber ist die Stelle nur eine Remfniscenz von einer
aus'Sokrates herübergenommenen früheren Erzählung (V,4, S.483D),
wo es von Julian hiess: imi öe xal inuSxulmw ol äntq dutäti
dg tdy XqustÜv, ßka<r<f7}ftatv od i§ o yahXaiog cov (des blinden
Bischofs Maris) &tdg, stnt, &SQamvcn at. Endlich tnuss selbst
Heyler, der pathetisch sagt: equidem totum foetum ut impurum
damno; scripserit aliquis fraudafor, qui e Sozomeno didicerat, Ja*
lianam similis argumenti litteras ad Arsacem deditse, — zugeben:
quisquis fuerit auctor, non imperitus erat stili Juliani. Also ein
neuer Bestätigungsgrund der Aechtheit.
Auch die zuerst von Fabricius herausgegebenen, von Heyler
sub No. 68 — 77 abgedruckten Briefe halte ich mit Ausschluss des
letzten und etwa des ersten alle für acht. Heyler in seiner aple-
diluvianischen Manier urtheilt über sie (S. 495): mea sententia com-
plures Jntersunt indignae Juliane Aliae sunt adeo futiles, ut argu-
mentum agnoscam nullum easque scriptae censeam ab otioso quo-
piam homine, qui nugis eiusmodi tetapus faller et; aliae, quibus
argumentum est quantumvis leve, tantam in singulis locutionibus
cum stilo Juliani concordantiam referunt, ut Julianum se ipsum ex-
scripsisse minus existimem quam servum aliquod iuiitatorum pe-
cus (?) fueum nobis facere voiuisse. So ungeschickt indessen diese
ganze Argumentation ist, so ist doch einzelnes davon nicht zu be-
streiten. So ist es an Ep. 68, die bei Heyler 8 Zeilen füllt, doch
auffallend, dass fast die Hälfte- aus Wendungen besteht, welche
wörtlich ebenso in früheren Briefen vorkommen (s. Heylers Noten).
Desto weniger ist bei Ep. 69 Grund zur Verdächtigung. Inhalt und
Form ist durchaus in der sonstigen Weise des Julian, und auch
Heyler sagt (S. 497): quaedam leguntur utique convenientissima
Juliano. Nichtsdestoweniger meint er: sententiae complures adeo
sunt inconcinnae, ut interpolatus videatur conlextus. Nur hat er
diese sententiae inconcinnae näher nachzuweisen unterlassen, und
die Annahme einer blossen Interpolation enthält das Zugeständnis*
der Aechtheit in sich. Auch Ep. 70 erklärt Heyler für unverdächtig,
wie er den Inhalt von Ep. 71 non alienum a Juliani moribus findet»
Ep. 72 erklärt er stillschweigend für acht, von Ep. 73 urtheilt er
(S. 500): insunt complura stilum Juliani referentia. Dagegen bei
Ep. 74 heisst es (S. 503): absurdes hasce litteras nemo sanus iudi-
eabit esse Juliani. Is enim pro vitandis publicae vecturae incom-
modis (unrichtige Darstellung; die Post ist nur nicht zu rechter
Zeit da, und er tröstet sich, er wäre doch nur durchgeschüttelt
worden u.s. w.) minime coactus esset pedibus uti suis; vel si de-
leciationis gratia pedestre fecisset iter nunciaturus a puerili tempe*
rasset östentatione, quae nugarum insuUissimum venatorem prodit.
I
I
I
160 Zur Geschickte des Kaisers Jutianus.
Mit solchen polternden Urtheiien kann man sich nur lächerlich ma-
chen. Abgesehen davon, dass es nicht unmöglich ist, dass der Brief
von Julian geschrieben wurde ehe er eine öffentliche Stellung hatte,
ist es ganz in der Art des mit seiner Einfachheit und Abhärtung
sogar etwas kokettirenden Kaisers, wenn o'ie erwartete Fahrgele-
genheit nicht im Augenblick zur Stelle ist, einen Theil des Weges
(bis er eingeholt wird) zu Fusse zurückzulegen. Und was die osten-
tatio betrifft, so hatte ein Privatmann (was der nugarum venator
wäre) dazu ja gar keine Veranlassung gehabt, indem nur bei einem
Hochstehenden etwas derartiges einigermaassen bemerkenswert
erscheinen kann ; indessen ist die ostentatio in dem Briefe gar nicht
vorhanden und derselbe hat so viele kleine Eigentümlichkeiten
des Julian an sich (Citate aus Homer und Plato, Lieblingswörter
wie. äXXoxöiog u. dgl.), dass wir ihn unbedenklich für acht hallen.
— Zu Ep. 75 bemerkt Hey ler (S. 505): adeo futilis est, ut an (num)
Julian i sit, addubitare liceat. Otiosj sophistae poterit esse lucubra-
tio (also — wenn wir nur das Uebertriebcne dieser Behauptung
abziehen — auch Juliani). Locutiones tarnen usurpantur, quas ad
instar bonorum auctorum Julianus frequentavit (d. h. quibus saepe
usus est); unde liquet, fraudatorem, si exstitit, non ex toto rüdem
fuisse. Dies hebt sich von selbst auf und der Brief ist also julia-
nisch. — Ep. 76 ist, wie auch Heyler (S. 507) anerkennt, entschie-
den acht und auch ausserlich ganz gut beglaubigt. Aber Ep. 77 ist
das Fabricat eines Christen, so gewiss wie der angebliche Brief des
Gallus an seinen Bruder Julianus. Heyler (S. 510) echauffirt sich
wieder: quae hinc elucent, intolerabilis arrogantia prorsusque ri-
dicula iaetatio, non minus ab indole Juliani sunt alienae, quam ab
eius stilo vocabula quaedam abhorrent monstruösa, quae nonnisi
ab insulsissimo nebulone poterant effingi. Andere Verdachtsgründe
sind: Julian, der mehre Jahre in Gallien und Germanien zubrachte,
hätte die fiogtpr} uyqiatvovGa der Gothen nicht neu und bemer-
kenswert!) finden können; er hätte nicht voraus und am wenigsten
an Basilius geschrieben: Sei fi€ ctiv noXXtS tw 7d%€* xaraXaßtiv
irjg IltQGüv, was gradezu komisch ist; die Wendung (du fu tjo-
m6<TaGd-cu töv 2dnu)QU)) ä%Qt,g oi vjzöfpoqog xal vTfOttXrjg po*
ytvriTai,, ist eine speeifisch christliche (neutestamentliche) und hier
sehr übel angebracht; Julian soll sich zu seiner Legitimation auf
nichts Besseres zu berufen wissen, als darauf, dass er KanKftM'
rtvov tov XQuittixov dir&yovog sei, was bei einem Christen aller-
dings fast die einzige unbedenkliche Beglaubigung für Julian war;
endlich ist die Abzweckung des ganzen Briefs vollständig absurd
und in der Form zeigt sich eine ganz unjulianische Armuth an
Ausdrücken, so dass dreimal von Julian's Charakter yaXrjvdg ge-
braucht wird, was Julian niemals in diesem Sinne angewandt hätte,
lieber Kruse* s Necrolivonica. 161
zweimal die Verbindung vnöyoQoq xai inonkfa u. s. f. Die ün-
äcblheit kann daher kaum bezweifelt werden. Aecbt ist nur das
durch Sozom. V, 18 hinreichend beglaubigte Witz wort am Schlüsse
(dvfyvwv, eyvutv Kai xmiyvwv), welches die Veranlassung zur Fa-
brication des ganzen Briefes -gegeben hat.
Tübingen. Dr. W. Teuffei.
Heber Kruse'* Necrolivonica.
Die Altertfaümer, welche die Ueberschwemmung der Düna im
* Frühjahr 1837 zu Tage brachte, erregten sofort die Aufmerksamkeit,
wie. des historischen Vereines in Riga, so auch der russischen Re-
gierung. Von Seiten der letzteren wurde Prof. Kruse in Dorpat
beauftragt, einen Theil des Fundes, der nach Mitau gekommen war,
genauer zu untersuchen. Er that es und berichtete darauf i. J. 1838,
die meisten der von ihm gesehenen Alterthümer seien warägisch-
russischen Ursprunges, man habe jedoch auch an mphren Orten
der livländiscben und kurlandischen Küste acht römische und grie-
chische Antiquitäten gefunden, denen näher nachzuforschen erfor-
derlich .sein möchte. Auf den Grund dieses Berichtes wurde eine
zweite grössere Untersuchungsreise durch Kurland, Livland und
die Insel Oesel angeordnet. Herr Kruse, der sie auszuführen hatte,
erhielt dabei die Vorschrift, die genauesten Nachforschungen anzu-
stellen, um die Oertlichkeit , den Zustand und die äussere Gestalt
der alten Gräber mit mehr Bestimmtheit kennen zu lernen und die
in ihnen enthaltenen Sachen zur Erläuterung der historischen Nach»
richten über den Seehandel dieser Gouvernements in den alten Zei~
ten zir untersuchen. Durch diese Instruction waren, wie der In-
struirte selbst richtig bemerkt, die Resultate seiner Reise bedingt.
Fügt er aber hinzu, schöner und präciser könne die Aufgabe, die
ein Alterthumsforscher sich hier setzen müsse, gewiss nicht gestellt
werden: so ist kein Zweifel, dass sie ihm selbst in dem Lichte er«
scheint, sie ist unverkennbar der Wiederhall seines ersten- Berich»
tes, der alle jene Alterthümer für ausländisch erklärt hatte. Wer
davon nicht vorweg überzeugt ist, wird schwerlich einverstanden
sein, dass die Gräber und Grabalterthümer eines Landes allein oder
vornehmlich über dessen Handel, ja nur über dessen Seehandel Auf»
schluss geben können; er wird die Frage der unbefangenen For-
schung hinderlich Gndfen, Sie ist indessen gestellt, und Prof. Kruse
hat «ich eifrigst um ihre Lösung bemüht. Er. hat die ihm aufgetra*
Zeitschrift f Geschieht»*-. IV. 1845. H
1
162 Ueber Kruse'* Necrotwonica.
gene Reise im Sommer 1839 gemacht, bat dann i. J. 1840 eine zweit«
zur Untersuchung der alten Feste Isborsk und das Jahr darauf ein«
dritte nach Reval unternommen, alle mehr oder minder ausschliess-
lich für den einen archäologischen Zweck. Ausgebreitete bachge-
lehrte Studien sipd ergänzend hinzugekommen. Das Resultat dieser
mehrseitigen Th'ätigkeit sind die Necrolivonica.
Dies Buch umfasst Erörterungen und Abbildungen. Die letz-
teren machen einen Atlas von 44 Blättern altertümlicher Gegen-
stände und einer Karte von Kurland, Livland und Esthland aas.
Besonders gefällig und sauber ausgeführt kann man die Arbeit nicht
nennen; sie steht in der Hinsicht den Abbildungen des Friderico-
Francisceum von Lisch bedeutend nach. Auch vollständig ist sie
nicht. Eine beträchtliche Anzahl Blätter, auf welche das Buch ver-
weist, sind in dem Atlas nicht enthalten. Doch ist dieser, aller Man-
gel ungeachtet, eine dankenswerthe Gabe; er veranschaulicht eine
Menge altertümlicher Gegenstände, wie die Beschreibung es nicht
vermöchte, und hat dadurch der nordischen Archäologie einen we-
sentlichen Dienst geleistet. Der erörternde Theii der Necrolivonica
hat gleichfalls ein unfertiges Ansehen. Er besteht aus einem Ge-
neralberichte an den Minister v. Ouwarow mit sechs Beilagen. Diese
sieben Stücke machen nicht einmal äusserlich ein Ganzes aus, je-
des ist besonders paginirt; innerlich sind sie es eben so wenig.
Der Leser wird unaufhörlich von dem Berichte in die Beilagen, von
diesen in jenen verwiesen, durch Wiederholungen ermüdet und
gelangt doch kaum zu einer klaren Uebersicht. Auch dem Inhalte,
den Untersuchungen, den geschichtlichen Combiuationen und Hy-
pothesen des Verf. tässt sich vielfach nicht beistimmen. Aber seine
ausgebreitete Belesenheit hat von da und dort her eine reiche Fülle
historischen und archäologischen Materials zusammengebracht, das
späteren Forschern zu Gute kommt, nnd woraus diese, aufgefor-
dert selbst durch dessen erste Behandlung, unbedenklich in vielen
Stücken ganz andere Ergebnisse gewinnen werden, als die vorlie-
genden und doch aus ihnen hervorgegangene. Seien daher die Ne-
crolivonica mit geziemender Anerkenntniss, aber mit dem Vorbe-
halte der Einsage auf vielen Punkten, als eine bedeutende Erschei-
nung in dem Gebiete der nordischen Altertumswissenschaft will*
kommen geheissen,
Der Verf. beginnt damit die historischen Nachrichten über
den Seehandel der russischen Ostseeprovinzen zusammenzustellen,
welche nach der Vorschrift der Regierung durch die Altertbümer
sollten erläutert werden. Der Bernstein und die griechische Mythe
von dessen Entstehung sind, wie gewöhnlich, voran; ihnen folgen
Hypothesen über einen alten Handelsverk*Nr der Phönicier nnd
Griechen mit der von Pytbeas erwähnten Insel Basilia, nach Herrn
lieber Kruse'* Necrolkxmica. 163
Kruse dem jetzigen Oesel, und dem Lande am Eridanus, der die
Windau oder Düna sein soll Die Getanen, welche nach Herodol
(IV. 108) hellenischer Abkunft aus den Empörten am schwarzen
Meere waren, sucht der Verf. an der Stelle, wo später Novgorod
gegründet wurde. Nach den Griechen sind die Römer auf See- und
Landwegen mit dem Bernsteinlande in Handeisverbindung getreten,
auch mit Liviand. So wird behauptet; durch geschichtliche Zeugnisse
begründet ist dieser römisch-livländische Bändel so wenig, als manche
vorhergegangene Annahme. In noch näherer Berührung als Grie-
chen und Römer sollen die Geten, Gothen und Skandinavier mit
den Einwohnern Livlands gestanden haben. Die Geschichte dieser
Verhältnisse ist ein sehr verschlungenes Gesgjnnst alter und neuer,
glaubwürdiger und unhaltbarer, mitunter nicht einmal richtig excer-
pirter. Nachrichten: es in seine Bestandtheile aufzulösen und diese
einzeln zu würdigen, erforderte eine besondere Arbeit. Im AI Ige-
meinen liegt dem Kundigen am* Tage, dass der Verf. mit dem Cha-
rakter und der Entstehung der nordischen Sagen,*) auf deren Zeug*
niss er mit Recht ein Gewicht legt, nicht hinreichend bekannt ist.
lflüiler'3 Sagabibliothek, die Untersuchungen desselben Geschichtfor-
schers über die Quellen des Saxo und des Snorre, selbst der kleine,
inhattreiebe Aufsatz über den Ursprung, die Blüthe und den Unter»
gang der islandischen Geschichtschreibung**) scheinen für ihn gar
nicht vorhanden, eben so wenig Dahlmann's Einleitung in die Kri-
tik der Geschichte von Altdänemark. Oder lagen vielleicht auch diese
Arbeiten auf dem von Herrn Kruse verschmähten Wege der neuen
Hyperkritik , welche fast alle Quellen der früheren Zeit durchaus
verdächtigt, verfolgt? Was die Necrolivonica auf dem Wege der
gewagten Gombinationen erreicht haben, lauft auf Folgendes hinaus;
Schon zur Zeit Odin's, eines Zeitgenossen des Augustus, und
bald nachher wurden von den dänischen Königen Hading und sei-
nem Sehne Frotho L, später auch von einem anderen dänischen
Könige Hother und von Rorik, der König von Dänemark und Schwe-
den soll gewesen sein, desgleichen von anderen schwedischen Kö-
nigen Heerfahrten nach Esthland und Kurland gemacht, welche Er-
oberungen von Festen und Landschaften und zeitweilige Zinspflicht
der Bewohner zur Folge hatten. Ein esthnischer König Olimar
soll sich mit dem Hunnenkönige Attila;gegen Dänemark verbündet
haben aber geschlagen sein. Frotho Uli unterwarf darauf Esthland,
üolmgard und Kiew, sein Sohn Frotho IV. auch Kurland, Semgal-
*) Berr Kräfte schreibt : Saga«, ein Plural, der so wenig deutsch, als
isländisch und dänisch ist.
**) Er sieht deutsch In den historisch - antiquarischen Miltheilungen
der Gesellschaft für nordische Alterthumskunde, welche die NecroHvonica
cltiren, konnte also Herrn Kruse nicht unbekannt sein.
11*
1
164 lieber Kruse9» Necrolwonicv.
len und PreuSsen. Die bezwungenen Estben nahmen die Hülfe Theo-
dorich's des Grossen in Anspruch; aber der Ostgothe leistete sie
nicht wegen der grossen Entfernung. So standen die Esthen noch
in der Mitte des sechsten Jahrhunderts unter danischer Herrschaft,
denn König Yngwar von Schweden, der sie bekriegte, wurde von
ihnen erschlagen , und Yngwar's Sohn , König Anund eroberte ihr
Land wieder.*) Damals wurde Schweden oft von Danen, Esthen,
Liven und Kuren geplündert, und als König Anund in Eslhlaod
einfiel, erschlugen ihn die Eslben. Nicht lange nachher endete das
Ynglingergeschlecht in Schweden, und Iwar Vidfadme gelangte zur
Herrschaft. Dieser eroberte ausser anderen Landern auch wieder
Esthiand. In der firagallaschlacht, welche Iwar's Enkel Harald Hil-
detand und Sigurd Ring einander lieferten, hielten sich Kurland and
Esthiand zu diesem, Kiew und Ostragard zu jenem. Sigurd gewann
den Sieg und das Königthum, doch unterwarf Sigurd's Sohn und
Nachfolger Ragnar Lodbrok von rieuem die Liven ( Hellespontii),
Tschuden (Scythae), Kurland und Samland. Nach dessen Tode wurde
der dänische Unterkönig Rurik, der Jätland von der Eider bis zum
Meere in Besitz hatte, durch die Tschuden, zu denen auch die Esthen
gehörten, Slawen, Krivitschen und Wessen gerufen, um über sie
zu herrschen (861). Er ist der bekannte Stifter des Grossfürsten-
ihums Russland.
Herr Kruse legt auf diese Entdeckung ein besonderes Gewicht.
Es ist nun klar, meint er, dass die ersten Vorfahren des erhabenen
russischen Herrschergeschlechtes nicht rohe Gaziken oder gemeine
Seeräuberhäuptlinge waren, wie manche Historiker fabeln, soodern
in der genauesten Verbindung standen mit dem soandinavtscheo
Herrschergeschlechte , weiches mehre berühmte Throne auch des
westlichen Europa gründete und vor Columbus seine Entdeckun-
gen bis Amerika ausdehnte. Ohne Rhetorik gesprochen, der Verf.
sucht darzuthun: die Russen, welche nach Nestors Erzählung an*
Rurik und seinen Brüdern sich in Novgorod, Bielosero und Isborsk
niederliessen , kamen nicht, wie man bisher angenommen bat, aus
Schweden*, sondern aus dem Rosengao, der in der Gegend von
Schleswig und um die Quellen der Eider lag, südlich begrenzt von
den Obotriten, nördlich von den Angeln; Rurik selbst war eine
Person mit Rorik, dem Bruder des Dänenkönigs Heriold, der auf
Antrieb Ludwigs des Frommen in Mainz die Taufe empfing. Aber
die Argumentation, durch welche die neue Hypothese sieb be-
gründet, gewährt keine Ueberzeugung.
Rorik, der Bruder Heriolds, wurde von dem Dänenkönige zum
*) In dieser Weise durch „denn", wie durch „und" verbindet der
Verf. die angeführten Tbatsachen.
r*
lieber Kruse' s Necrolivonica. 165
Unterkönige oder Comes von Jütland eingesetzt behauptet Herr
Kruse, gestützt auf das Zeugniss der Fulder Annalen, welche beim
Jahre 857 berichten, der Nortmanne Rorik habe von Dorestat aus,
mit Zustimmung seines Herrn, des Königs Lothar, eine Flotte nach
den Grenzen der Dänen geführt und sammt seinen Gefährten mit
Zustimmung des Dänenkönigs Qorich den Theil des Königreiches
besetzt, der zwischen dem Meere und der Eider belegen.4) Un-
möglich können die Worte den Sinn haben, den die Hypothese in
ihnen findet: sie waren dann der schiefste Ausdruck, den ein ein-
facher Gedanke finden könnte, und der sie schrieb, der Annalist
Ruodolf, war nach der Meinung seiner Zeitgenossen ein ausgezeich-
neter Geschichtschreiber und Dichter, ein herrlicher Meister in al-
len freien Künsten (Ann. Fuld. 865). In der angeführten Erzählung
ist unverkennbar von nichts anderem die Rede, als von einer vor-
übergehenden militärischen Besetzung, die der Danenkönig gestat-
tete, damit von hier aus irgend ein Kriegsunternehmen ausgeführt
werde. Welches, deuten auch die Annalen hinreichend an. Die
Garolingischen Könige Lothar und Ludwig der Deutsche hatten schon
vor Rorik's Aufbruch aus Dorestat eine Zusammenkunft gehabt (Ann.
Fuld. 857). Sie muss nicht zu beiderseitiger Zufriedenheit ausge-
fallen sein, denn zu einer zweiten, die im April des folgenden Jah-
res in Coblenz statt finden sollte, fand Lothar sich nicht ein. Er
schloss vielmehr ein Bündniss mit dem Könige Carl dem Kahlen
gegen Ludwig. Dieser rückte mit Heeresmacht in Carl's Königreich
ein (Ann. Fuld. 858). Da fielen Dänen in Sachsen ein, das zum
Reiche Ludwig's des Deutschen gehörte, wurden aber zurückge-
schlagen *nn. Bertin. 858). Es waren allem Ansehen nach die Da-
nen Rorik's, die eben zu dem Zwecke an die Eider hinüber gegan-
gen waren, um von da aus Ludwig's Gebiet zu bedrohen. Däni-
scher ünterkönig, Comes von ganz Jütland, ist mithin der Bruder
des Heriold nie gewesen 5 das von ihm auf kurze Zeit besetzte Land
zwischen dem Meere und der Eider kann nicht mehr begriffen ha-
ben, als die jetzige Eiderstedter Marsch mit der Strecke Geest in
ihr, den Raum von der Eidermündung bis zur Hever Tiefe. Aus
der Gegend von Schleswig, aus dem Rosengau, müsste demnach
der Stifter des Grossfürstenlhums Russland weichen. Auch der Gau
weicht von der ihm angewiesenen Stelle. Der Rosengau ist näm-
lich das nur einmal in der Chronik von Moissac erwähnte Rosogavi.
Dass diese Landschaft am linken Ufer der untern Elbe, in der
Nähe des Gaues Wihmuodi gelegen, unterliegt keinem Zweifel. Die
_
*) Rorih Nordmannus, qui praeerat Dorestado, cum consenau domint
sui, Hlotharii regis, classem duxit in fines Danorum, el consentiente Horico
Danorum rege, partera regni quae «St inter mare et Egidoraro cum sociis
suis possedit. Ann. Fuld. 857.
166 Ueber Kruse1 s NecroUeonica.
Chronik von Mois%ac berichtet beim Jahre 804: Deinde misit Impe-
rator scaras suas in Wimodia et in Hostingabi et in Rosogavi, ut
illam gentem foras patriam traducerent; nee non et illos Saumes,
qui ultra Albiam erant, transdnxit foras (Pertz Monom. Germ. T.I.
S. 307 ). Die Stelle zeigt zugleich , wie unhaltbar die Annahme ei-
nes früheren Rosengaues am rechten Eibufer ist, dessen Bewoh-
ner Carl der Grosse eben i. J. 804 soll fortgeführt und auf die linke
Seite des Stromes verpflanzt haben, woraus dann der spatere Ro-
sengau entstanden.
Schleswig ist also nicht die Beimath der Russen. Ihre Verknü-
pfung mit dem Rosengau ist nur ein phantastisches Spiel mit Na-
men. „Es scheint — äussert sich der Urheber dieser Meinung—
als wenn ein Theil der Russen besonders den (bei den Byzanti-
nern üblichen) Namen der Ros oder Rosen geführt hatte, denn(!)
es gab jenseits der Elbe einen besonderen Rosengau." Die ältere
Ansicht über das Vaterland Rurik's und seiner Genossen hat sieb
nach haltbareren Gründen umgesehen. Nestor selbst giebt keine
bestimmte Auskunft, wohl aber Prudentius Trecensis, ein fränki-
scher Annalist, der um eben die Zeit schrieb, da die Russen sich
in Novgorod niederliessen: sein Geschichtbuch scbliesst mit dem
Jahre 86I. In ihm wird beim Jahre 839 gemeldet, der griechische
Kaiser Theophilus habe Gesandte an Ludwig den Frommen geschickt,
um wegen eines Bündnisses *zu unterhandeln. Mit diesen Griechen
seien auch einige Fremdlinge gekommen, die sich in Constantinopel
als zum Geschlechte der Rhos gehörig, als Abgeordnete ihres Kö-
nigs, kund gegeben hallen (qui se, id est feentem suanjw Rhos ?o-
cari dicebant, quos rex illorum, Chacanus vocabulo, arrse (Theo-
philum) amicitiae, sieul asserebant, causa direxerat), und welche
der Kaiser dem Frankenkönige empfohlen habe, damit dieser ihnen
die Heimkehr durch sein Land gestalte. Kaiser Ludwig habe der
Sache weiter nachgefragt und in Erfahrung gebracht, die Männer
seien vom Geschlechte der Schweden (comperit eos gentis esse
Sueonum (Pertz Mon. T. I. S. 434). Dem gemäss bat man bisher
angenommen, Schweden sei die Heimath der Russen und ihrer er-
sten Führer an die Ufer des Ladoga und Urnen Sees. Herr Kruse
dagegen interpretirt : „Wenn die Rhos sich i. J. 839 gegen Ludwig
den Frommen ex genle Sueonum nannten, als einige von einer
Gesandtschaft nach Byzanz zurückkehrten: so ist darunter wohl
nur zu verstehen, dass das ganze Geschlecht des Odin ex gente
Sueonum war." Aber von dem ganzen Geschlechte des Odin W
in der Erzählung des Annalisten gar nicht die Rede, sondern sehr
bestimmt von niemand anders, als den aus Constantinopel gekom-
menen Männern vom Geschlechte der Rhos, mit welchem Namen
Photius und Kaiser Constantin Porphyrogenitus die Russen bezeich-
lieber Kruse7 $ Necrolivonica. 167
neu. Es ist also nach allem Bisherigen kein Grund der älteren
Meinung von dem Vaterlande Rurik's zu Gunsten der neueren ab-
zusagen.
Rurik's nächste Nachfolger, melden die Necrolivonica weiter,
auf Nestor gestützt, behaupteten die Herrschaft über die Tschuden.
Im zehnten Jahrhunderte entstand, durch einen neuangekommenen
Waräger Fürsten Rogwolod begründet, ein von Russland unabhän-
giges Fürstentum Polozk, dem sich die Liven unterwarfen; nur
war dessen Selbstständigkeit nicht von Dauer; Wladimir der Grosse
brachte es unter russische Herrschaft. Damals standen die jetzt
russischen Ostseeländer Livland und Gsthland in bedeutendem Han-
delsverkehr mit Dänemark und Schweden, der Mittelpunkt dieses
Handels war Birca. Bald aber erhoben sich aus den dänischen See*
fahrern, die das Ghristenthum nicht annehmen wollten, die gefürch-
teten Askemänner, die an allen Küsten der Ostsee und jenseits der
Ostsee in Sachsen, Friesiand und England als Seeräuber umher-
schwärmten. Deren Hauptniederlassung sucht Herr Kruse an der
Düna, da, wo die Ueberschwemmung des Jahres 1837 die merkwür-
digen Alterthümer zum Vorscheine gebracht hat. Der Name Asche-
raden, welcher von dem Altnordischen askr Schiff und rade, dem
deutschen Rhede, herkommen und Schiffsrhede bedeuten soll, muss
zur Begründung der Hypothese dienen. Allein ein altnordisches
Wort rade in der angeführten Bedeutung ist mir nicht bekannt, fin-
det sich auch so wenig bei Björn Haldorson, als in den sonstigen
Glossarien, die mir eben zur Hand sind, und Asch bedeutet im
Mittelhochdeutschen eben sowohl ein Schiff, als askr im Isländischen.
Auch wird der Name Ascomanni von Adam von Bremen, bei dem
er allein vorkommt, ausdrücklich als deutsch bezeichnet;*) im Nor
den findet sich kein anderer, als der altübliche der Vikinger. Asche-
raden ist demnach höchst wahrscheinlich erst von den deutschen
Ansiedlern in Livland benamt, wie die dortige Burg erst dem Mei-
ster Winne, dem Erbauer von Segewold und Wenden, ihre Ent-
stehung verdankt. Von ihm meldet die livländische Chronik, Welche
man dem Dilleb von Alnpeke zugeschrieben hat (Ausgabe von
Pfeiffer v. 638-642):
er was von guotem rate,
das hüs ze Aschräte
büte er dar nach zebant
er tröste wol daz arme lant
mit siner grözen vrumekeit.
*) Fenint eo tempore classem piratarura, quos dos tri Aseomannos
vocant, Saxoniae appulsam, orania Fresiae atque Hathulae vastasse maritima.
Adana. Brom. 73.
168 lieber Kruse'* Necrolieonica.
Als die Züge der Askemanner gegen die Mitte des eilften Jahr-
hunderts aufhörten, hatten die Danen bereits England erobert; Kö-
nig Knud der Glosse, der beide Reiche beherrschte, eroberte aacfe
wenigstens einen Theil von Esthland. Dagegen erbaute um eben
die Zeit der russische Gross fürst Jaroslav I., Wladimirs Sohn, Dor-
pat als nördliche Grenzfeste gegen die Dänen, während er ausge-
breitete Verbindungen mit Byzanz, Polen, Deutschland, England,
Ungarn etc. unterhielt. Dennoch nahm der „ Dänenkönig Knud II.
i. J. 1080 Kurland, Samogitien und Esthland ein; damals war Wse-
wolod Jaroslawitsch Gross fürst von Russland. Erst dessen Nach-
folger wussten sich wieder Einfluss unter den Tschuden zu ver-
schaffen. Zugleich wurde Nowgorod mächtig durch seinen Han-
del mit deutschen Waaren, deutsche Kaufleute Hessen sich in der
Stadt nieder, deutsche Handelsschiffe aus Cöln, Bremen, Hamburg,
bald auch aus Lübeck segelten nach Kurland, Livland und Esthland.
Durch sie gelangte Meinhard an diese Küste, mit dem das Cbristen-
thum und die deutsche Colonisation ihren Anfang nahmen.
Den historischen Nachrichten über den Handel der russischen
Ostseelande folgt die Betrachtung der Alterthümer, welche
jene erläutern sollen. Schritt vor Schritt der Instruction folgend
beginnen die Necrolivonica damit die Oertlicbkeit nicht nur der
alten Gräber, sondern auch der alten Befestigungen und Opferplätze
zu untersuchen, der beiden letzteren, weil sie die vormals bewohn-
ten Gegenden bezeichnen, wo man mit Sicherheit auch Grabalter-
thümer erwarten kann. Die Gräber, wird bemerkt, finden sich
meistenteils in den Niederungen an den bedeutenderen Flüssen
und am Meere z. B. längs der Düna, an der Abau, an der Windau,
am rigischen Meerbusen, selten in höheren Gegenden. Daraus zieht
der Verf. den Schluss, jene Denkmäler rühren zum grössien Theile
von einem der See- und Flussschiffahrt kundigen Volke her. Er
bestimmt diese allgemeine Andeutung näher, indem er, wie andere
vor ihm, die Bauerburgen unterscheidet in solche, die oben platt
und ohne Brustwehr und solche, die mit einer Brustwehr umgeben
sind. Letztere trifft er in den esthnischen, erstere in den lettischen
Gegenden an, diese ist er geneigt warägischen, jene einheimischen
Ursprunges zu glauben. Indessen erscheinen die Burgwälle auch
anderwärts, wohin die Waräger nicht gekommen sind, in jeuer zwie-
fachen Form. In Pommern sind die, welche Brustwehren haben,
die häufigeren, doch fehlen die platten nicht ganz: der vierte Jah-
resbericht der Gesellschaft für pommersche Geschichte und Alter-
tumskunde erwähnt eines solchen am Ahlbeker See in der Ueker-
münder Forst (Neue Pomm. Prov. Bl. IV. S. 203. 204). Auch liegen
die Opferplätze und Bauerburgen, in deren Nähe der Verf. mit Recht
die alten Gräber sucht, keines weges ausschliesslich in den Fluss-
lieber Kruse9 s Necrolivonica. 1G9
niederungen und an der Seeküste; die Nation, welcher die Gräber
angehören , kann also nicht als eine ausschliesslich oder vorzugs-
weise Schiffahrt treibende gedacht werden. Der skandinavische
Ursprung der Graber bei Ascheraden und aller ihnen ahnlicher,
auf den die Argumentation hinaus will, ist aus ihrer Oertlichkeit
nicht zu folgern. Die Necrolivonica erwägen demnächst die Form
der Gräber. Zwischen Gräbern und Grabmälern wird nicht aus-
drücklich unterschieden, doch zeigen die Angaben, dass der Unter-
schied hier, wie anderwärts, vorhanden. Den Gräbern, die keinen
monumentalen Zweck haben, ist die von dem Verf. beschriebene
erste Form beizuzählen: die Gruft ist in den ganz ebenen Boden
gemacht, die Leiche mit ihrem Schmucke in der Richtung von N.
nach S. hinein gelegt; über der Brust liegen mehre grosse Feld-
sleine. Das Ganze aber ist so mit Erde überschüttet, dass auf der
Oberfläche nichts ein Grab andeutet. Ob auch Urnenlager ohne äus-
sere Bezeichnung gefunden werden, wie die in Meklenburg und Pom-
mern bekannten Wenden- oder Heidenkirchhöfe, ergiebt sich nicht mit
Bestimmtheit. Es wird nur bemerkt, dass auch zuweilen in natür-
lichen Hügeln, Kiesgruben, Wäldern und Sümpfen Grabalterthümer
vorkommen, manchmal selbst auf neuen Kirchhöfen, denn diese
seien oft angelegt, wo früher heidnische Begräbnisse waren. Die
Grabmäler, von denen die Necrolivonica melden, sind theils eben,
theils erhöbt, die letzteren wieder entweder für einzelne oder für
mehre Leichen gemacht, Monandrien oder Polyandrien, nach der
Benennung des Verf. ; die erhöhten Monandrien sind Hügel, entwe-
der von Sand oder von Steinen aufgeschüttet. Steinhügel, Dysser
wie sie in Dänemark heissen, kennt Herr Kruse nicht aus eigener
Ansicht; sie kommen aber nach der Versicherung des Prof. Hueck
an der Grenze Livland's gegen Russland in der Gegend von Neu-
hausen vor und enthalten rohe Urnen mit Asche. Die monandri-
schen Sandhügel sind zum Theil ohne Stein Umsetzung, zum Theil
in einem Umkreise von grossen Feldsteinen, die nicht eingefassten
bald niedriger, bald höber. In den niedrigen liegen grösstenteils
unverbrannte Leichen in der Richtung von N. nach S. ; sie enthal-
ten daher gewöhnlich mehr Grabalterthümer als die höheren, die
meist Brandstätten bedecken. Sandhügel mit Steinen umkränzt trifft
man nur bei Seiburg, nirgend in Livland, Esthland und dem nörd-
lichen Kurland; auch sie sind über Brandstätten aufgeworfen. Po-
lyandrische Grabmäler fand der Verf. der Necrolivonica an zwei
Orten, bei Kapsehten und Dreymannsdorf. Es sind hohe Hügel von
Sand. Rings umher in bedeutender Ausdehnung bemerkt man, dass
der Boden 1 oder l\ Fuss tief mit einer Lage von vielen Kohlen
vermischt ist, in der sich Urnen, Bronzefragmente und eiserne Ge-
räthe vorfinden, fast alle mit Kennzeichen des Brandes. Man sieht,
170 Ueber Kruse' $ NecroUeomca.
dass die Körper der Todten rings um den grossen BegräbnissplaU
verbrannt and dann die Urnen mit Knochen and lletallüberresten
in den Hügel verscharrt wurden. Die ebenen Grabmäler sind all«
monandrisch , liegen aber an manchen Orten in grosser Zahl bei
einander. Sie sind von zweierlei Art. Die einen bestehen aus
Steinquadraten, die auf ebener 'Erde liegen und in der Mitte nocb
eine Steinsetzung, einen Kreis oder ein Oblongum, enthalten. Die
Leichen darin sind unverbrannt, ihre Lage von N. nach S., die
Tiefe des Grabes ungefähr 24 Fuss; der Bestattete bat seinen gan-
zen Schmuck, seine ganze Bewaffnung bei sich. So sind die Grab-
statten bei Ascberaden und an mehren andern Orten des Dunatba-
les; ob sie immer so waren, ob nicht ursprünglich Erdbügel über
den Steinquadraten aufgeschüttet standen, ist dem Verf. fraglich.
Bei Ascheraden war vor der Ueberscbwemmung von den Steinset-
zungen nichts zu sehen, sie waren mit Erde bedeckt, die erst durch
den Fluss weggesefalämmt wurde. Gewiss von jeher eben ist die
andere Art dieser Grabmaler, Steinquadrate« gleich der ersterea,
aber darin ihr ungleich, dass die Quadrate ganz mit kleinen Stei-
nen angefüllt sind, unter welchen unmittelbar ein sehr schwarzer,
mit Kohlen vermischter Boden, Reste verbrannter Knochen, Urnen-
scherben, Stücke zerschmolzenen Metalls, mitunter etwas tiefer eioe
ganze Urne.
Die Necrolivonica mühen sich nun nachzuweisen, was die fort-
während im Hintergrunde stehende Hypothese fordert, dass alle
Gräber und Grabmäler Livland's auch in Skandinavien vorkommen.
Wie trüglich aber der Schluss von der Uebereinstimmung des äus-
seren und Inneren der Gräber auf gleiche Nationalität ihrer Stifter,
ist schon früher bemerkt. In dem vorliegenden Falle hat sogar
die Uebereinstimmung Schwierigkeilen. Die Sandhügel in Kreises
von Feldsteinen, wie sie bei Seiburg erscheinen, haben ihres Glei-
chen nicht überall im scandinavischen Norden, sondern nur in
Schweden, und Rurik soll aus Schleswig gekommen sein. So ge-
hören sie vielleicht — erwiedert Herr Kruse — dem mit Rogwolod
eingewanderten Geschlechte an, das sich in Polozk und am linken
Ufer der Düna niederliess. Die Steinhügel scheinen ihm von Rö-
mern gemacht, nach dem römischen Geräthe zu schliessen, das
man in Schlesien in einem solchen Grabmale gefunden hat, doch
wird die Annahme ihm selbst wieder zweifelhaft, weil häufiger als
in Schlesien die Dysser sich in Schweden und Norwegen zeigen.
Man muss hinzufügen: sie fehlen auch in den deutschen Ostsee-
ländern nicht, es sind in Meklenburg, wie in Schlesien^ römische
Alterthümer in ihnen gefunden. Deshalb hat auch Lisch wenig-
stens einige .dieser Grabmäler den Römern zugeschrieben) die bal-
tischen Studien (IX. H.2. S. 174 etc.) betrachten nur. den alterthüm-
lieber Kruse*» Necrolivonica. 171
lieben Inhalt, nicht die Steinhügel selbst als das Werk römischer
Hände. Völlig abweichend von den scandinavischeji Gräbern sind
unter den Inländischen nur die zuerst beschriebenen, welche die
Todten unverbrannt mit schweren Steinen auf der Brust in sich
bergen: sie scheinen kaum irgendwo anders im Norden vorzukom-
men. Vielleicht sah man in der Last, womit die Leiche beschwert
wurde, ein Mittel zur Sicherung ihrer Grabesruhe gegen necro-
mantiseben Zauber, der wie überall so auch bei den nordischen
Völkern geglaubt, geübt und gefürchtet wurde (Edda Saem. T. L
S. 340 etc. T. II. S. 536 etc. Rafn Fornaldar Sögur Nordrlanda B. I,
bes. 434 etc. Vgl. Finn Magnusen Eddalaeren B.1V. S. 259—267);
in Kurland waren, nach dem Ausdrucke Adam's von Bremen (cap.
223), alle Häuser voll Todtenbeschwörer, die sich durch eine be-
sondere der Mönchskleidung ähnliche Tracht auszeichneten. So
waren die Vorstellungen, welche in jener Livland eigenthümlichen
Bestattungsweise ihren Ausdruck fanden, nur anders geäussert, dem
ganzen Norden gemein, ja sie reichten weit über diesen hinaus.
Die Necrolivonica meinen es anders. Sie finden keinen Grund die
zuletzt bezeichneten Gräber von den übrigen zu trennen d. h. sie
nicht für scandinavisch zu halten, weil die Schmucksachen, welche
sich in ihnen finden, in Form und Legirung ganz dieselben sind.
Denn auch den Inhalt der Gräber, von den Todten abge-
sehen, betrachtet Herr Kruse als grösstentheils aus einer Quelle ge-
flossen und durch den Handel unter den verschiedenen Völkern
dieser Gegend verbreitet Die scandinavischen Waräger, welche
ihren Austurweg durch die Düna und den Dnjepr nach Byzanz
nahmen und mit den dort erbandelten Produclen zurückkehrten,
waren, seiner Meinung nach, die Verbreiter dieser Handelsartikel
wie der, die aus ihrer Heimath kamen. Die Annahme zu erhärten
untersucht er die gefundenen Alterthümer ihrer Masse und ihrer
Form nach.
Die Masse ist Stein, Glas, Bernstein, Thon, selbst Stücke von
Leder, Hanf, Bast und wollenem Gewebe haben sich gezeigt; vor-
waltend sind metallische Stoffe, Silber, Gold, Zinn und Blei ver-
hältnissmassig wenig, etwas mehr Eisen, am meisten Bronze. Nun
mangeln aber in den russischen Oslseeprovinzen alle Metalle, auoh
die Bestandtheile der Bronze, auch erscheinen die alten Estben,
Liven und Letten in den Nachrichten der ersten deutschen Ansied-
ler im Lande als wenig cultivirt. Daraus schliesst der Verf. der
Necrolivonica: die Bronzealterlhümer von Ascheraden und was ih-
nen ähnlich können nicht im Lande selbst und von den Einhei-
mischen gearbeitet sein. Gegen das letzte der beiden Argumente
hat indessen schon v. Brackel in den Mittheilungen des Rigaer hi-
storischen Vereines (B. II. S. 362 etc.) erinnert, die christlichen
172 lieber Kruse* 8 Necrokvonicä
Chronisten seien keine unbefangene Zeugen,*) und selbst wenn
man ihre Aussagen als wahr annehme, so gehe doch daraus nur
hervor, dass der sittliche und intellectuelle Bildungszustand der
heidnischen Bewohner Livland's in der Zeit, da die Kirche unter
ihnen ihr Werk begann, ein herabgestimmter gewesen. In der
That wird eine solche Detonation überall in der Geschichte zu-
nächst vor dem Eintritte des Christenthumes, vor jeder grossen
Erhebung des Geistes bemerkbar. Der von dem Nichtvorhanden-
sein der Metalle hergenommene Einwand würde nicht blos Liviand
treffen, sondern die ganze südliche Ostseeküste, auch Dänemark
und Schleswig, die vermeintliche Heimath Rurik'ff und seiner Wa-
räger. Doch hat man in M eklen bürg neben altertümlichem, bron-
zenen Geräthe die Formen, in" denen es gegossen, und Stücke un-
verarbeiteten Metallös gefunden, in Dänemark ein dünnes Gefäss
von Bronze, in dem noch die hart gebrannte Thonmasse, über die
es gegossen ward (Worsaae Dänemarks Vorzeit durch Afterthü*
mer und Grabhügel beleuchtet S. 35. Jahresbericht des Vereines
für meklenburgische Geschichte II. S. 140). Dass der Erzguss in
jenen Ländern selbst getrieben ist, wird nach so handgreiflichen
Zeugnissen nicht zu bezweifeln sein. Die Geschichte ist damit im
Einklänge. Nicht nur Widukind (III. 68) gedenkt eines ehernen
Götzenbildes der Wagrier, das zur Zeit Otlo's des Grossen von den
Sachsen erobert wurde; schon viel früher, mindestens ein Jahr-
hundert vor christlicher Zeitrechnung, gebrauchten die Cimbern
Bronze zu Geräthen ihres Cultus (Strabo VII. 2. £iSapa xahutöv
etc. xgaTfJQa x^facotiv etc.). Woher die Rohstoffe kamen,
steht dahin. Der Annahme, welche England als ihre Mutterstätte
betrachtet (Worsaae a. a. 0. S. 35, 36), ist zwar die Nachricht gün-
stig, dass auf den Kassiteriden Zinn und Blei in geringer Tiefe ge-
funden wurden, als die Römer zuerst dorthin kamen, auch dass die
Einwohner bereits ihre Metalle an Kaufleute, die zu ihnen kamen,
verhandelten ; aber was sie dafür eintauschten, war bronzenes Ge-
*) Gewiss stimmen sie nicht zu den gelegentlichen Nachrichten der
nordischen Egilssage (46, 53) Über den Culiurzustand der Kurländer im
Anfange des zehnten Jahrhunderts. Damals fanden hier die isländischen
Vikinger Thorolf und Egil an der Mündung eines grossen Flusses (vermutn-
lich der Düna) wohl angebaute Felder, stattliche Gehöfte, Reichtbum und
Wohlleben. Die Einwohner waren mit Pfeilen, Wurfspiessen, Lanzen und
Schwertern bewaffnet; eins der letzteren nahm Thorolf von da mit und
gab ihm seiner Schärfe und Trefflichkeit halber den Namen der Natter.
In der Küche eines gut eingerichteten kurländiscben Hauses sah man Kes-
sel, die über dem Feuer hingen, und Schüsseln, in denen die Speisen auf-
getragen wurden; es gab im Hause ein grosses Speisegemach und einen
Schlafsaal, viele Diener waren hier und da beschäftigt, selbst an Kostbar-
keiten fehlte es nicht, besonders war Silber reichlich vorhanden.
lieber Kru$e'$ Necroticonica. 173
räth (Strabo III. 5). Uebereinstimmend damit berichtet Cäsar (de
hello gall. y. 12) von Britannien, das Binnenland enthalte weisses
Blei, die Küste Eisen, aber wenig; die Bronze, deren man sich be-
diene, sei eingeführt. Jeden Falles zeigt die Analogie Dänemark'«
und Meklenburg's, dass die Abwesenheit einheimischer Metallstoffe
kein Grund ist, den russischen Ostseeländern und ihren alten Be-
wohnern die einheimische Bereitung und Verarbeitung der Bronze
abzusprechen. Von wo ihnen, was sie dazu gebrauchten, könnte
zugegangen sein, ist bis jetzt eben so wenig klar, als woher jene
westlicheren Lande es empfingen. Auf die Tschudengruben des
Altai verweist v. Brackel. Dem widerspricht, so weit chemische
Untersuchungen reichen, die Mischung der in den Tschudengräbern
gefundenen Bronze.
Prof. Kruse hat dies nicht übersehen. Von ihm veranlasst
führte Prof. Gobel in Dorpat eine Reihe chemischer Analysen nicht
blos Ascheradener, sondern auch anderer Altertbümer von Bronze
aus; die Resultate wurden mit anderwärts gewonnenen verglichen:
so ist man zu folgenden Bestimmungen gelangt. Alle* Legirungen,
welche von den Griechen und ihren Colonien abstammen, besteben
aus Kupfer und Zinn oder aus Kupfer, Zinn und Blei; niemals fin-
det sich in ihnen Zink. Bronzen, welche dieses enthalten mit Zinn
und Blei oder darohne, sind römischen Ursprunges; das bezeugen
die meisten Resultate der' chemischen Untersuchungen, doch er-
giebt sich aus einseitigen und mit ihnen aus den von dem äl-
teren Plinius (XXXIV. 20) angeführten Legirungen, dass es auch
Bronzen ohne Zink bei den Römern gegeben hat. Die Alterthümer
aus den russischen Ostseeprovinzen, welche nicht classisch-antiken
Ursprunges sind, enthalten, so viele ihrer analysirt wurden, ohne
Ausnahme Zink, stimmen also mit der eigentümlich römischen Me-
tallmischung überein, wahrend alterthümliches Bronzegeräth aus
Tschudengräbern, aus Frankreich, aus der Mark Brandenburg, von
der Insel Rügen, und selbst aus Scandinavien, das man chemisch
untersucht hat, nur aus Kupfer und Zinn bestand wie die griechi-
sche Composition. Das Ergebniss widersprach der Hypothese, die
Alterthümer aus Ascheraden seien scandinavischer Herkunft. Allein
bald verlautete von Kopenhagen her, die bisher analyslrten nordi-
schen Bronzen seien aus dem eigentlichen Bronzezeitalter, man
habe nun auch andere späterer Zeit aus einem Grabhügel im Kirch-
spiele Növling unweit Alborg, die, aller Wahrscheinlichkeit nach, dem
zehnten Jahrhunderte angehörten, einer solchen Untersuchung un-
terworfen und in ihnen Zink gefunden, wie in den livländischen,
Demnach scheint Herrn Kruse das Bronzezeitalter der Scandinavier
das voraugusteische oder griechische zu sein, in welchem man noch
kein Zink gebrauchte, während nachher in der späteren römischen
174 lieber Kruse* s NecroUconica.
Kaiserzeit io Italien wie auch im Norden Zink mit beigemischt
wurde. Das Zeitalter im Norden fiele sonach mit dem an die Stell«
der eigentlichen Bronzezeit getretenen Eisenalter (Leitfaden zur
nordischen Alterthumskunde S. 60, 61. Worsaae a. a. 0. S. 36,
37) zusammen. Dessen Anfang in die Zeit des Augustus zu set-
zen widerstreitet aber bestimmten geschichtlichen Zeugnissen, wie
früher in dieser Zeitschrift (B. II. S. 179) nachgewiesen ist.
Als gelöst lässt sich mithin die Frage nach dem geschichtlichen
Verhalten jener alterthümlichen Legirungen zu einander noch nicht
betrachten; sie ist erst angeregt. Noch bleibt zu untersuchen, ob
beide von einem 'Punkte ausgegangen oder von mehren, ob Grie-
chen und Römer die Erfinder waren, oder nur die, welche sich
des Erfundenen vor allen andern Völkern zu den kunstreichsten
Gebilden bedienten. Die Probleme sind, ohne Zweifel für die Cul-
turgeschichte von Bedeutung; nicht minder für die Religionsge-
schichte. Denn das Schmelzen der Metalle haben, nach den My-
then, überall die Götter gelehrt. Sind also metallurgische Tradi-
tionen von Volk zu Volk gegangen, so waren sie an religiöse ge-
knüpft, so wurden sie durch Priester und Religionsstifter verbreitet.
Die zunächst vorliegende "Frage nach dem Ursprünge der
Inländischen Bronzen ist eben so wenig klar gelöst. Den Tscbu-
den sind sie abzusprechen, wenn ia deren Grabern wirklich über-
all nur die Melallmischung ohne Zink gefunden wird, eine Tbat-
sache, die bis jetzt noch nicht erwiesen, nicht einmal wahrschein-
lich gemacht ist. Dass sie den Scandinaviern zuzusprechen, be-
weist ihre Masse wenigstens nicht: die Legirung gehört nicht
ausschliesslich jenem Volke an.
Die Form der fraglichen Alterthümer findet der Verf. der Ne-
crolivonica im Allgemeinen nicht anders als die der scandinavi-
schen und norddeutschen, ja meistentheils sind sie diesen so aho-
lich, als ob sie aus einer Werkstatt hervorgegangen wären. Eine
Aehnlichkeit wird man ihm zugeben müssen, vielleicht nicht eine
so vollkommene, wie er annimmt. Dann entsieht aber die Frage,
ob der scandinavisebe Ursprung so weit reiche als die Aehnlich-
keit. Wer darauf mit Ja antwortet, muss dem scandmavisebeo
Norden in vorgeschichtlicher Zeit eine Thätigkeit im Erzguss zu-
gestehen, die über die gegenwärtige weit hinaus ginge, und mit
dem, was von dem früheren Culturzustande jener Gegenden be-
kannt ist, nicht übereinstimmt. Denn bronzenes Gerälb, dem scan-
dinavischen ähnlich, findet sich hier und da vom atlantischen Meere
Us an den Ural. Oder hätte die Aehnlichkeit weitere Grenzen als
der scandinavische Ursprung, so fragte man, wie Weit denn dieser
reiche. Aus der Uebereinslimmung der Form im Allgemeinen
leuchtet also die Notwendigkeit der Annahme noch nicht ein, die
Heber Kruse' $ Necrolwonica. 175
an der Düoa gefundenen Alterthümer seien über See dorthin ge-
kommen.
Der Verf. geht dann weiter ins Einzelne. Er sucht die Bestim-
mung jedes in den. Ascheradener Gräbern gefundenen Stückes
nachzuweisen. Die hier und da zerstreuten Nachrichten von der
Bewaffnung und Bekleidung der Scandinavier werden, der Hypo-
these gemäss, für den angegebenen Zweck benutzt, nicht selten
auch die Trachten anderer Völker als Ergänzung gebraucht. So
stellt Herr Kruse die vollständige Bekleidung, den Schmuck und die
Waffen eines Waragers, einer Warägerin und eines Kindes be-
schreibend und in einer Zeichnung dar: das nennt er die Anasta-
sis der Waräger-Russen. Die Beneimungjst schon früher von An-
deren in ähnlichem Sinne gebraucht; aber für angemessen kann
sie nicht gellen. Die Auferstehung der Nationaltracht, wenn der
Ausdruck gestattet, ist nicht die Auferstehung der Nation. Die Ar*
beit selbst verdient als ein Werk ernsten, gelehrten Fleisses volle
Anerkennung, ungeachtet des Einspruches, der gegen manches Ein-
zelne zu erheben wäre. Von einer solchen detailltrten Erörterung
muss aber hier abgesehen werden, nur eine principielle Ansicht
sei mit Wenigem berührt. Die Anastasis der Waräger zieht auch
nichts Waragisches in ihren Kreis, weil sie grosse Aehnlicbkeit
zwischen der Landestracht der Esthen, Letten, Griechen, Römer,
Scandinavier und Deutschen bei mannigfacher Verschiedenheit an-
erkennt. Die Aehnlicbkeit aber leitet sie her von einer Urtracht,
die alle mit aus dem Orient brachten. Und woher die Urtracht?
Der Leib des Menschen war ohne Zweifel das Modell, dem sie der
Verstand, dem Bedürfnisse gemäss, nachbildete, während die aller
Vernunft immanente Idee des Schönen zu dem Bedürfnisse den
Schmuck fügte. Nun sind Leib, Verstand und Vernunft überall des
Menschen, nicht blos im Orient; Aehnlichkeiten in der Kleidung
müssen daher überall unter den Nationen statt finden, auch ohne
äussere Ueberlieferung, weil alle Menschen sind. Es sind unleugbar
mancherlei Kenntnisse durch äusserliche Tradition von Volk zu
Volk gegangen, doch wird die Geschichte nicht willkürlich und ohne
bestimmte Zeugnisse eine solche vorauszusetzen haben. Selbst wo
sie eintritt, bleibt sie fruchtlos ohne die Empfänglichkeit derer, die
sie aufnehmen sollen d. h. ohne diejenige Bildung, die wenigstens
dämmernd schon hat, was ihr in Klarheit entgegengebracht wird.
Zwei altertümliche Wagen mit Gewichten, die eine in Asche-
raden unter den präsumtiven scandinavischen Bronzen, die andere
bei Palfer in Esthland gefunden, haben die Aufmerksamkeit des
Prof. Kruse noch besonders in Anspruch genommen. Sie stimmen
ihrer Form nach durchaus mit scandinavischen Geräthen gleicher
Art, welche das Museum nordischer Alterthümer in Copenhagen
176 lieber Kruse9 s NecroUvonica.
aufbewahrt, und die in dem Nordisc Tidsskrift for Oldkyodigked
B. I. S. 398—406 beschrieben und erörtert sind.*) Es kam darauf
an, auch die Gewichte von diesseil und jenseit zu vergleichen, da-
mit klar würde, ob auch in dieser Hinsicht Übereinstimmung statt
finde. Der Zweck führte zu umfassenden metrologischen Forschun-
gen theils der Herren Parrot, Paucker und Mädler, theils des Verf.
selbst. Deren Endergebniss war: die livländischen Gewichte ge-
hören mit den in Norwegen und Dänemark gefundenen zu einem
Systeme, aber eben sowohl mit den römischen, angelsachsischen,
ja den arabischen Münzgewichten. Hat das System diese weite
Verbreitung, so ist nicht abzusehen, wie die Necrolivonica zu dem
Schlüsse kommen, die Pajfersche Wage sei vermutblich eine Wage
der Nor t mannen oder Danen, mit welcher diese sich in ihre Tri-
bute haben zuwägen lassen, vielleicht auch Silberschmucksachen
gewogen haben.
Unter den Ascberadener Alterthümern fanden sich noch Glas«
perlen, muthmaasslich aegyptischen Ursprunges, Muscheln aus dem
indischen Ocean und Münzen, Gegenstände, welche, die letzteren
begreiflich zumeist, von Wichtigkeit sind, um das Aller der Grä-
ber an der Düna und die Gegenden zu bestimmen, mit denen Liv-
land damals in Zusammenbang stand. Prof. Kruse hat die Münzen ein-
zeln verzeichnet Sie sind, seiner Angabe nach, anglodänische,
angelsächsische, arabische, fränkische, deutsche und Byzantiner und
gehören sämmtlich in den Zeitraum von 760 bis etwa 1068. Aus
diesen Zeugnissen folgert der Verf. einen Handelsverkehr LivlancTs
im neunten, zehnten und eilften Jahrhunderte, der sich auf der eh
nen Seite bis nach England und Irland, auf der anderen bis an
die Ufer des Nil und des Ganges ausgedehnt, und der an der Düna
seinen Mittelpunkt in Ascheraden gehabt habe, wo man die mei-
sten Alterthümer gefunden. Nächst diesem Orte, der zu einem
solchen Stapelpiatze vortrefflich gelegen, scheine Creraon und über-
haupt die Ufer der Aa ansehnliche Handelsplätze gewesen zu sein.
Ascheraden, die Seeräuberfeste der Ascomannen, wäre also auch
ein warägischer Handelsort, ja dieses früher als jenes, denn der
Handel soll bereits im neunten Jahrhunderte bestanden haben«
Die letzte Hypothese überzeugt so wenig, als die erste. Zwar ei-
nen mittelbaren merkantilen Zusammenhang der Dünaufer mit
den angeführten aussersten Grenzen mag man auf das Zeugniss
der Münzen und der sonstigen Alterthümer zugeben; aber Asche-
raden's Gründuug durch Waräger ist durch den Namen so wenig
*) Ein Auszug daraus, deutsch, steht in den historisch-antiquarischen
Mltthetlungen, herausgegeben von der Gesellschaft für nordische Alterthnms-
kuode S. 403 — 4 00.
lieber Kruse* $ Necrolivonica. 177
verbürgt, als Aschcraden's Stapelrechl durch die Menge allcrthüm-
licher Gegenstände, die ein zufälliges Naiurereigniss nuf diesem ei-
nen Punkte einmal aufgedeckt bat. Sie reichen noch nicht hin, den
Umfang, die Art und die Träger des Handels erkennen zu lassen,
der in der ersten Hälfte des Mittelalters, vor Anfang des Kirchen We-
sens und der deutschen Niederlassungen in Livland getrieben wurde.
Aber man hat noch andere, altere AUerlhümer in den russi-
schen Ostseepro vinzen gefunden. Herr Kruse verzeichnet 41 rö-
mische Münzen aus der letzten Zeit des Augustus bis in die Re-
gierung Valentinian's I. Sie sind meist auf der Insel Oesel, an der
Küste von Kurland in der Gegend von Kapselten und tiefer land-
ein bei Bornsmünde unweit Mitau zum Vorschein gekommen. Die
Oeseler Münzen sind die ältesten, sie reichen bis auf Hadrian, die
Kapsehtener von da bis auf Philipp, den Araber, der Bornsmünder
Fund gehört in noch spätere Zeit. Die Necrolivonica sehen darin
ein Zeugniss, dass die Römer für ihren Bernsteinhandel, den sie
zur See trieben, zuerst während der Regierung des Tiberius eine
kleine Station auf Oesel hatten, dann, zur Zeit des Hadrian, auch
auf die Küste des Festlandes und endlich in das Innere übergingen,
bis der nach Constantin dem Grossen immer mächtiger werdende
Andrang der nordischen Völker sie zwang, diese entfernten Statio-
nen aufzugeben. Die Combinalion ist sinnreich, aber gewiss nicht ,.
die einzig mögliche: der römisch-livlandische Bernsteinhandel bleibt
eine Vermulhung.
Selbst altgrieebische AUerlhümer haben sich in diesem entle-
genen Ostseelande gezeigt. Bei Peterskapell im Innern des rigi-
schen Meerbusens wurden in einem Grabhügel ausser einer ungla-
sirten, grossen Aschenurne manches bereits eingeschmolzene Ge-
räth, eine unbekleidete Bronzefigur von griechischer Arbeit, zwei
thasische Silbermünzen, eine syrakusische Silbermünze und eine
Kupfermünze des Demetrius Poliorcetes gefunden; bei Arensburg auf
der Insel Oesel fand sich eine Kupfermünze von Panormus, bei Dorpat
angeblich eine griechische Münze von Neapolis. In Betracht kommen
kann von diesen Funden eigentlich nur der ersterwähnte, denn nur
von ihm verbürgt der Fundort, dass er in vorchristlicher Zeit ins
Land kam, aber doch nicht, dass auf dem Seewege, dass zur Zeit
des Demetrius und durch Massilier, Nachahmer der Unternehmung des
Pytheas, wie Herr Kruse annimmt. Die Alterthümer sind merkwür-
dig, doch bisher zu vereinzelt, um Folgerungen aus ihnen abzuleiten.
Alles zusammen genommen ist zur Lösung der von Herrn von
Ouwarow gestellten Aufgabe durch die Necrolivonica wenig erreicht,
das als sicher gelten könnte: die Geschichte des alleren Seehandels
der russischen Ostseeprovinzen steht ziemlich auf demselben Punkte,
wie vorher. Aber im Streben nach jenem Ziele ist mehr gewon-
Z*iUcbrift f. GochichUw. IV. 1845. \0
178 lieber Kruse9 $ NecroHvomca.
nen, als beabsichtigt war. Wichtige archäologische Untersuchun-
gen sind angeregt und eingeleitet, die ihren Abschloss von einer
erfahreneren und glücklicheren Zukunft erwarten. Darin Hegt das
Hauptverdienst des besprochenen Boches: dadurch tritt es aus dem
Gebiete der provinziellen Geschichte in das der allgemeinen, der
die Archäologie derjenigen Völker, welche die classische Welt Bar-
baren nannte, wesentlich angehört, eben so wesentlich, als die Er-
forschung der griechischen und römischen Alterthumer.
Stettin.
Ludwig G lesebrecht.
Allgemeine Idteraturbericlite.
Rom.
Vindictae Itbrorum injuria suspecloruw. Insuni: 4) Epislola critiea de
veiere diurnorum actorura fragmento Dodwelliano data ad virura am-
pliss. Viel. Le Clervium. Parisienseiu ; 2) Derensio Comelii Nepotis contra
Aemil. Probum, librariuro. Scripsit G. B. F. Lieberkuehnius. ups. Vo-
gel. 4844. 336 S. 8.
In unserem Aufsatze über das Staatszeitungswesen der Römer
(Bd. I. dieser-Zeitschr. S. 314) zeigten wir die Absicht des Herrn
Lieberkühn an, die Dodweirschen Fragmente als acht zu verteidi-
gen. Derselbe hat nunmehr in der ersten Abhandlung des vorlie-
genden Buches (die zweite lassen wir unberührt) sein Versprechen
erfüllt, und es ist daher unsere Pflicht, diese Thatsache nicht mit
Stillschweigen zu übergehen. Wir befinden uns aber in einer üblen
Lage; denn da wir uns entschieden gegen die Aechtheit erklärt, so
wird unser Urlheil nothwendig als ein Vorurtheil erscheinen müs-
sen , wenn wir das Resultat des Verf. nicht billigen. Fn der Thal,
wie gross auch der Aufwand von Fleiss und Gelehrsamkeit ist, wie
gern wir die Gewandtheit und Eleganz der Ausführung im Allge-
meinen auch anerkennen: so halten wir es doch für eine vergeb-
liche Mühe, eine Sache noch retten zu wollen, die längst schon
unrettbar verloren ist. Die Argumente welche für die Aechthett
beigebracht werden oder beigebracht werden könnten — denn
aus unserer eigenen Ermittking (a. a. 0. S. 311 ff.) dürfte man neue,
wenn auch mit Ungrund, abzuleiten trachten, — dünken uns bei
weitem schwächer wie die, welche ihr entgegen stehen. Ja es scheint
Allgemeine Literaturberichte. 179
uns zuweilen, als ob dem Verf. selbst die Sache, die er zu retten
bemüht ist, unter den Händen entschlüpfte. Dass das apographum
Vossianum dictatis exceplum sei, non descriptum ex archelypo quo»
dam, behaupteter selbst (S, 11), und überhaupt erhebtauch er den
verfänglichen Umstand über allen Zweifel, dass der erste Besitzer
aller dieser angeblichen Zcitungsfragmenle eben jener Ludov. Vives
war (S. 14 sq.), der eine so zweideutige und zwitterhafte Rolle in
der Wissenschaft spielt und auf den wir, von Le Clerc abweichend,
von vornherein unsern Verdacht hinlenkten (a. a. 0. S. 319). Es
bleibt ein höchst bedeutungsvoller Umstand, dass selbst Vossius nicht
einmal weiss, ob Vives wirklich eine alte Handschrift besessen habe,
sondern diese Frage nur mit einem „ut opinor' beantworten kann.
Dass des Pctavius Fragmente gleich denen des Pighius von Vives
herstammen, ist dagegen aus Vossius (utraque ex eodem L. Vi-
vis . . . exemplari descripla) so klipp und klar (denn jenes ut opi-
nor bezieht sich augenfällig auf „velustissimo(< und nicht auf „eo-
dem" zurück), dass jede weitere Frage über die Art und Weise
wie Petavius dazu gelangt sei (S. 15) uns müssig und gleichgültig
erscheint. Dass die Verschiedenheit der Lesarten in den beidersei-
tigen Handschriften ein argumentum non debile für die Aecbtbeit
sei, kann ich nicht einsehen; mir erscheint es schon deshalb als
null und nichtig, weil man gewiss mindestens mit ebenso vielem
Fug daraus vielmehr die Unächtheit folgern dürfte; denn eine und
dieselbe Quelle kann gewiss weit weniger zu abweichenden Lesar-
ten führen, wenn sie eine alte unantastbare, als wenn sie eine will-
kürlich gemachte und daher auch der ferneren Willkür des Erfin-
ders unterworfene ist. Der Verf. hat nun zwar seine Abhandlung
an Herrn Le Giere gerichtet; wir können indessen hier be Vorwor-
ten, dass auch der letztere, der gegenwärtig eine zweite Ausgabe
seines umfassenden Werkes über die römischen Journale v orberei«
tel, trotz aller gebührenden Anerkennung des Herrn Lieberkühn,
doch ebenfalls' bei seiner Ansicht beharrt. Denn „Je m'applaudis"
sagt derselbe in einem an uns gerichteten Schreiben vom 23. Sept.
v. J. „de voir que le plaidoyer fort gracieux et fort poli du savant
de Weimar en faveur des pretendus fragments anciens qui ont
trompe tanl de critiques, ne vous a point convaineu, et que, dans
cetle discussion qui n'est pas sans importance pour L'histoire, j'au-
rai de — auxiliaires a Berlin." Wir sehen dieser neuen Ausgabe
mit Spannung cutgegen. Möchte sie durch die Herausgabe der hi-
stoire litteraire de la France," deren 21. Theil in diesem Jahre er-
scheinen soll, und die Herrn Le Clerc's Thäligkeit jetzt vorzugs-
weise in Anspruch nimmt, nicht allzulange verzögert werden!
Adolf Schmidt.
12*
180 Allgemeine Lileraturberichie.
Ghristenthum.
Das Leben Jesu. Eine pragmatische Geschichts-Darstellung von Wer-
ner Hahn. Berlin. Alexander Bunker 4844.*)
Die strengen Anforderungen des religiösen Glaubens an den
Verstand haben zu dem Versuche getrieben, an seine' Stelle das
religiöse Wissen zu setzen. Wir dürfen den Versuch nicht gelan-
gen nennen: es ist, um zu dem religiösen Wissen zu gelangen,
weniger der ganze, vollständige Mensch, als der abstracte Verstand
thätig gewesen. Dazu fühlte allerdings der Denker sich hingedrängt:
er wollte den einseitigen Forderungen des Glaubens einseilige Wahr-
heiten des Verstandes entgegensetzen, um nur erst den Grund ond
Boden zu gewinnen, auf welchem das Denken des ganzen Men-
schen, wie er aus Fleisch und Blut und Geist und Herz besteht,
den neuen Tempel der Religiosität errichten könne. Wenn jetzt
so Viele sich mit dem Atheismus befriedigen, so sind nur die Coo-
Sequenzen des Verstandes, nicht zugleich Herz und Gemüth —
es ist nicht der ganze Mensch befriedigt. So tragen wir an dem
Fluche unserer Zeit, wie noch jedes Geschlecht an dem Fluche der
seinigen getragen. — Ludwig Feuerbach, als er zu beweisen suchte,
dass die Menschen bisher nur ihre Ideale der Vollkommenbeil als
Gott verehrten, wusste wohl, dass er dem Herzen ein schönes Gut
nahm, indem er dem Verstände eine Wahrheit geben wollte; und
nur daraus lassen sich seine Sacramente des Weines, Brotes und
Wassers erklären. Aber das Herz hat an diesen Sacramenten eben
so wenig Antheit nehmen, wie sich wieder den Illusionen der Kind-
heit zuwenden können. Da ist man, um dem Herzen ein Genüge
zu schaffen, auf Culte der verschiedensten Art, besonders der Po-
litik , der Kunst und der Persönlichkeiten gerathen. Diese eigen-
thümliche Atmosphäre der Zeit musste auch auf den Charakter des
vorliegenden Werkes influiren, ja dies verdankt derselben vielleicht
allein seinen Ursprung. Der Verf. übt den Cultus der' Persönlich-
keit, und zwar einer Persönlichkeit, die, hier als Gott verehrt, dort
selbst in ihrer historischen Existenz bestritten, als der Anfangspunkt
ein'er ungeheuren Weltbewegung gesetzt ist. Ohne Zweifel ist der
Jesus unsers Autors durch und durch eine poetische Persönlich
*) Wenn wir den Grundsatz des Hrn v. Amnion anerkennen, dass die
heilige Geschiebte keinen anderen Gesetzen unterliege, als alle übrigen
Ansiebten der Vergangenheit (die Geschichte des Lebens Jesu. Bd. II. <$44
S. V.): so dürfen wir uns auch zu einer Benrtheilung des vorliegenden
Buches für berechtigt halten; um so mehr als dasselbe schon auf seinem
Titel Ansprüche geltend macht, die unsere Zeitschrift Überall, gleichviel wo
sie erhoben werden, zu prüfen verpflichtet ist. Wir machen hier übrigens
vorläufig auf den Zusammenhang aufmerksam, in welchen diese Schrift zu
der Eisenhart'schen Theorie des Staates und der Geschichte steht, und den
wir bei späterer Gelegenheit näher zu beleuchten gedenken. Red.
Allgemeine Lileraturberichte. 181
keil. Mit wahrhaft künstlerischem Geiste entwirft der Verf. auf dem
dunklen Grunde des jüdischen Volkslebens sein glänzendes Bild
hoher, heiliger Liebe — ein Bild voll der feinsten psychologischen
Motive, ein Bild, dem nur die poetische Form fehlt, um es als ein
romantisches Epos von hoher Trefflichkeit gelten zu lassen. Auch
sagt der Verf. selbst, das Lebensbild, welches er liefere, solle eine
freie, ideale Anschauung des Lebens Jesu sein, die er nicht
sowohl aus äusseren Quellen, als aus dem Sinne der Verehrung
gegen Jesus geschöpft, und nach seinem Verständniss der Liebe
gebildet habe. Dennoch nennt er sein Leben Jesu eine pragma-
tische Geschichts-Darstellung. Darüber will er sich durch
seine Ansicht von der Geschichlschreibung rechtfertigen. „Es ist
— sagt er — niemals die Sache eines Geschichte Werkes nur die
„nackte Wahrheit zu erzählen. Das ist eine plan- und zwecklose
„Chronik, deren Worte weiter nichts als ein knechtischer Abdruck
„des 'äusseren Verlaufes der Dinge sind. — Dem Geschichtswerke
„soll man Urtheil über die einzelnen Vorfälle und ihre Wichtigkeit
„ansehen. Den Vorfällen muss der Historiker die Stelle geben, die
„ihm nach dem Zwecke seiner Auffassung zusagt. — Auf diese Weise
„wird er nothwendig in seiner Darstellung manches Abweichende
„von dem wirklichen Verlaufe bilden." Wenn der Verf. in diesen
Sätzen den Gedanken ausgesprochen haben will, dass der Geschieht -
sebreiber in das Innere der Erscheinungen hinabsteigen, den bele?
benden Geist und Odem derselben belauschen und ihre genetische
Entwicklung bis zu ihrer idealen, allgemeinen Bedeutung verfolgen
und darstellen müsse: so ist das der Standpunkt, von dem aus wir
jetzt überhaupt die Geschichte geschrieben haben wollen. Wenn aber
in jenen Sätzen dem Geschichtschreiber auch nur die geringste Be-
rechtigung zu einem willkürlichen Hineintragen subjeetiver Vorstel-
lungen in die Ereignisse seldst vindicirt werden soll: so ist in der
neuesten Zeit mit dieser Art Geschichtschreibung hinlänglich Unfug
getrieben, um nicht gegen dieselbe ernstlich zu protestiren. Jedes
historische Ereigniss hat allerdings zu seiner besonderen Form noch
seinen allgemeinen, idealen Inhalt. Diesen letzteren muss der Hi-
storiker aus der ersteren herausfinden, aber nicht hineintragen.
Wo nun die Quellen die besondere Form selbst zweifelhaft machen,
wo es der historischen Kritik nicht gelingt, jene Form nachzuwei-
sen: da ist es nicht nur sehr waglich, den idealen Inhalt darstellen
zu wollen, sondern da hat, wie wir meinen, die Geschichtschrei-
bung sogar ihre Grenzen gefunden, und das Feld der romantischen
Poesie, der willkürlichen, künstlerischen Gestaltung eröffnet sich.
Desshalb zweifeln wir nicht, dass mit demselben Rechte, wie un-
ser Verf. seinen Jesus als Held der Liebe aufgefasst und durchge-
führt hat, ein Anderer den Bekämpfer des Gesetzes als Held der
182 Allgemeine Literaturberickte.
Freiheit oder irgend eines anderen Begriffes auffassen und durch-
führen könnte. Desshaib auch halten wir diesen, wie sehr auch poe-
tischen Jesus nichr für einen historischen, und müssen folgerecht
dem Werke den Charakter einer Geschichts-Darstellung absprechen.
Die Behauptung, dass trotz alier gelehrten Kritik dieser Jesus, der
Jesus voll Liebe, unantastbar sei — hat der Verf. nur dadurch er-
härtet, dass wir gern das ängstliche Fragen nach Zeit und Ort und
allen Aeusserlichkeileu des Handelns Jesu aufgeben, wenn wir voll
der Liebe sind und ganz erfreut darüber, dass Jesus der Fürst and
Herold der Liebe gewesen ist. Diese Ansicht gründet sich doeb
mehr auf ein empfängliches poetisches Gemülh, als auf einen acht
historischen Sinn. Darin aber hat der Verf. gewiss Recht, dass wir
unseren Verstand besser zum Nutzen und Frommen der Menschen
beweisen könnten, als in dem Kritteln an den Evangelien; aber
nöthig war diese Kritik doch. Die zähe Natur der Einseitigkeit bat
vieles an sich Unnölbige nöthig gemacht, und wird das auch noch
fernerhin thun — Ueber die theologische Bedeutung des Werkes
zu sprechen, ist hier nicht der Ort. Wir bemerken nur, dass es,
vom Standpunkte des Rationalismus aus geschrieben, doch ein ei*
genthümliches Gepräge trägt. Der Verf. hat, vermöge seiner ro-
mantisch-poetischen Gemüthsstimmung, eine unverkennbare Hinnei-
gung zum Supernaturalismus. Und wie er die beiden Hanptgegeo-
satze in der Theologie zu vermitteln strebt, hat er sie, soweit das
Unmögliche möglich ist, in sich selbst vermittelt. Die theologische
Genialität, mit welcher das dem Verf. gelungen , ist aber eine rein
subjeetive, welche sich mit Illusionen und einem leisen Hinweg-
schlüpfen über die wahren Schwierigkeiten der Vermittlung hilft-
Die Gegensätze zwischen Rationalismus und Supernaturalismus, Ver-
nunft- und Autoritats-Ueberzeugung sind so alt, wie der Kampf des
Menschen für Licht und Wahrheit; und unsere Zeit scheint hier
vollends jede Vermittlung unmöglich gemacht zu haben: auf beiden
Seiten will man den ganzen Sieg und die vollkommene Niederlage.
Dennoch dürfte der Verf. unseres Lebens Jesu für seinen Standpunkt
nicht wenige Anhänger in den weiten Kreisen der Halbgebildeten
gewinnen, wenn er fortführe, in derselben geistreichen Weise das
Chrislenthum zu der Religion der Liebe auszubauen. £•
Germanen- und Kelteuthura.
Weimar im geogr. lasül. 4843. Germania nach den Ansichten
der Griechen und Römer dargestellt von F. A. Ukert, Dr. d. Philos. u. s. w.
oder: Geographie der Griechen und Römer von den frühesten Zei-
ten bis auf Ptolemäus; dritten Theils erste Abtheilung. Mit zwei Karten.
X. und 464 S. 8.
Wenn irgendwo Geschichte und Geographie Hand in Hand mit
einander gehen, so ist dieses bei dem alten Germanien der Fall,
Allgemeine Literaturberichte. 183
dessen Geschichte ohne eine genauere Kunde des Volkes und Lan-
des so wenig versländlich ist, dass Tacilus eben dadurch veranlasst
zu sein scheint, ein möglichst getreues ßild von Germanien zu ent-
werfen, bevor er auf seine Historien die Annalen folgen liesse. So
eröffnet auch unser Verf. sein Werk nicht blos mit einer geschicht-
lichen Darstellung des Bekanntwerdens der Griechen und Römer
mit Germanien, sondern kann auch nicht umhin, die doppelt gege-
bene Uebersicht der Völkerschaften und ihrer Wohnplätze an ge-
schichtliche Dala zu knüpfen. Darum wäre zu wünschen, er hätte
dem mageren geographischen Gerippe, welches er bei Iberien und
Gallien zum Grunde legte, dadurch mehr Fleisch und Saft gegeben,
dass er alles, was wir vom alten Germanien wissen, in dessen Ge-
schichte verwebte, worauf am Ende bei den geographischen Rubri-
ken nur regislerartig verwiesen zu werden brauchte, und dass er
dabei nicht nur mit seinem rühmlichen Sammlerfleisse alle verschie-
denen Ansichten der Alten und Neueren lieferte, sondern auch mit
deutschem Forschungsgeiste möglichst zu ermitteln suchte, welchen
Glauben sie verdienen. Dann würden auch die beigegebenen Kar-
ten mehr Belehrung bieten, wenn wir in den Zusammenstellungen
der Germania Cäsaris, Strabonis, Plinii, Taciti, nach Gat-
terer's Muster auf der ersten Karte die allmählichen Forlschritte in
Germanien's Kunde mit Einem Blicke überschauten, und dann durch
die zweite Karte lernten, welches Bild sich Plolemäus durch Be-
nutzung der ihm zugänglichen Quellen von Germanien entwarf.
Aber sowie man in der tabellarischen Uebersicht der Völkerschaf-
ten bei einzelnem Ueberflusse noch manches Volk vermisst, wel-
ches dem Verf. selbst bei seiner bewunderungswürdigen Belesen-
heit nicht entging; so sind auch auf den Karten nicht nur viele
Völker weggelassen, welchen der Verf. keinen bestimmten Platz
anzuweisen wusste, sondern auch viele auf Cäsar's Karte verzeich-
nete, welche doch die späteren Schriftsteller auf gleiche Weise an-
erkannten. Wie ganz anders würde manche Bestimmung ausgefal-
len sein, wenn der Verf. mehr gestrebt hätte, die wachsenden Fort-
schritte in Germanien's Kunde anschaulich zu machen, als die wech-
selnden Ansichten über die Wohnsitze der verschiedenen Völker
bei den einzelnen Schriftstellern zu zeigen. Anstatt dass alle ger-
manische Völker Cäsar's, zu welchen die Tulingi und Volcae
Tectosages eben so wenig zu zählen waren als die Latobrigi
und Bauraci, mit Ausnahme der unsicheren Harudes und Se-
dusii auch von den späteren Schriftstellern anerkannt werden, hat
sie der Verf. auf den übrigen Karten meist weggelassen, als wären
sie den Ubiern gleich verpflanzt, oder wie die Sigambern erloschen.
Den Sueven und Gherusken weiset er dagegen eine ganz besondere
Lage an, weil er in der silva Bacenii nicht den Baiken- oder
— c
184 Allgemeine Literaturberichte.
Buchen- Wald erkennt, sondern sie dahin zeichnet, wohin Tacitus
G. I. 30 den saltus Hercynius verlegt. Setzte Cäsar die Sue-
ven den Cherusken, sowie Tacitus A. IL 44, entgegen, so wohnleo
seine Sucven da, wo sie auf Strabo's Karte stehen, und die Che-
rusken den Annalen des Tacitus gemäss zu beiden Seiten der We-
ser nördlich von der Diemel und westlich von der Leine. Strabo's
Kunde von Germanien stützte sich nur auf die Tbaten des Cäsar,
Drusus und Germanicus, aber seine Karte hat bei unserem Verf.
mit Cäsar's ausser den Sueven und Bojohemum nur noch die Me-
napier und Cimbern gemein. Statt aller anderen Völker finden wir
nur im Westen die Cauchen, Bructeren und Chatten, im Osten die
Langobarden und Hermunduren angegeben, obwohl beim Triumphe
des Germanicus im J. 17 n. Chr. G. nach Tac A. IL 41, durch wel-
chen Straho die meisten Namen seiner germanischen Völker ken-
nen lernte, die Cherusken vorzüglich hervorstrahllen. Merkwürdi-
ger Weise Gnden wir auch bei Strabo die Angrivarier nicht genannt,
wesswegen um so mehr zu glauben ist, dass S. 291 rafißqiovvoi für
^AyyQiovuQioi, verschrieben ward, vt'ieXavßot für Xdfxaßo^Kaovl-
xoi xul Kafitfriavol für Ka&vhcot, xal ^Afityiavol oder Upipwvd'
Qtoi. Ob unter den Cathylken die JovXyovfinot des Ptolemäos
und Dulgibini des Tacitus zu verstehen seien, mag dahin gestellt
bleiben; aber so viel ist gewiss, dass bei keinem Schriftsteller die
germanischen Namen mehr verschrieben sind, als bei Strabo, wess-
halb der Verf. die tabellarische Uebersicht der Völkerschaften nicht
mit den unbekannten Namen des Strabo ohne beigefügtes Frage-
zeichen hätte bereichern sollen. Sowie er jedoch hier einen höhe-
ren Werth auf vollständige Aufzählung, als auf kritische Beurtei-
lung legte, so hat er sich dagegen auf der Karte des Plinius damit
begnügt, ausser den allgemeinen Benennungen der fünf Völkerstämme
nur die Bataver, Friesen und Cimbern zu verzeichnen. Auf der
Karte des Tacitus sind unter den vielen Völkern, deren Lage der
Verf. nicht zu bestimmen wagte, auch die Angrivarier weggelassen:
diese werden durch die Chauken, sowie die Chauken durch die
Cherusken vertreten, wahrend die Langobarden an der Semnonen
Stelle sich zwischen der Elbe und Oder, sowie die Gothonen zwi-
schen der Oder und Weichsel, ausbreiten, und längs der Weichsel
von den Peucinen und Bastarnen hinab die Venedi, Fenn i, Aestyi
wohnen. Wie wenig Nutzen hiernach die vier kleinen Kärtchen
gewähren, leuchtet in die Augen; dass aber auch die mit vieler
Sorgfalt gezeichnete Karle des Ptolemäu3 wenig nützt, davon liegt
die Schuld in der Willkür, mit welcher Ptolemäus seine Unkunde
von Germanien bemäntelte. Je mehr diese der Verf. selbst schon
im'rheinischen Museum VI. 3, S. 347 ff, nachwies, und in seinem
Germauicn S. 258 ff. durch andere wahrgenommene Missgriffe er-
Allgemeine Literaturberichte. 185
örlerte; um so weniger hätte er es verkennen sollen, dass Plole-
mäas nicht blos die Völker zu weit von der Donau nach Norden
und vom Rheine zu weit nach Osten schiebt, sondern auch die
Namen der Gebirge so verrückt, dass die Donau den Alpen bei der
Oede der Helvetier, nicht gar weit von den Quellen des Rheines,
die Ems im Norden der abnobischen Berge, und die Weser auf
dem Melibocus entquillt. Kein Wunder demnach, wenn Ptolemäus
auch des Tacitus Mattium am Adrana A. I. 56 mit Mattiacum A. XI.
20 verwechselnd, die ihm längs des Pfahlgrabens bekannt gewor-
deneu Oerter Novasium und Amasia oder Amisia, d. h. Nassau und
Bad-Ems, von Mattium nach den Quellen der Ems zu verlegt. Der-
gleichen Bemerkungen bleiben freilich nur Muthmaassung, aber der
Nachrichten Quelle zu erforschen führt nicht nur überhaupt viel
weiter, als wenn man sie blos getreulich sammelt, und nach den
angeführten Deutungen Anderer hinzufügt, es lasse sich nichts mit
Sicherheit bestimmen, sondern ist auch bei Ptolemäus unerlässlich,
damit mau nicht, durch die Bestimmungen nach Graden der Länge
und Breite verleitet, ihm eine grössere Kenntniss von Germanien
zutraue, als er wirklich besass, und in seinen 94 Städten eine Wi-
derlegung des Tacitus finde, welcher den Germanen die Städte im
römischen Sinne absprach. Da der Verf. ausser einigen Städten
innerhalb des römischen Grenz walles nur wenige zu deuten wagte,
so führte er nur die Meinungen älterer Ausleger an, vorzüglich der
ihm seit dem Beginne seiner Geographie im J. 1816 zuvorgekom-
menen Bearbeiter Germanien's Mannert, Wilhelm und Reichard, von
welchen der erste meist die Längen- und Breitengrade beachtete,
der zweite die Distanzen der Oerter berechnete, der dritte, wie
Kruse, nach ähnlichen Namen haschte. Da er aber deren Bestim-
mungen nicht, wie die Namen der Völkerschaften in eine tabella-
rische Uebersicht ordnete, welcher er' hin und wieder wenigstens
seine eigene Meinung hätte hinzufügen können: so weiss man we-
der, nach welchem Principe, noch mit welcher Wahrscheinlichkeit
die Bestimmungen gegeben seien. Müssen wir daher auch des
Verfs. Enthaltsamkeit von aller Hypothesensucht und seine unbe-
fangene Prüfung unhaltbarer Meinungen in gleichem Grade rühmen,
als wir die Reichhaltigkeit und lichtvolle Anordnung des gesammel-
ten Stoffes bei sichtlichem Streben nach Kürze und Deutlichkeit
anerkennen, so vermissen wir doch den erforderlichen Forschungs-
geist, und müssen um so mehr wünschen, dass des Verfs. Buch
die Grundlage weiterer Forschung werde, je mehr er selbst die
Unzulänglichkeit der Hülfsquelien bis auf Ptolemäus anerkennt Dür-
fen wir von den Verirrungen, welche sich Ptolemäus in der Benut-
zung des Tacitus zu Schulden kommen liess, auf andere schliessen,
deren Quelle für uns verloren ist; so sinkt der scheinbare Vorzug
186 Allgemeine Literaturberickte.
mathematischer Genauigkeit in denjenigen Gegenden, in welchen
der römische Krieger oder Handelsmann nur kurze Zeit verweilte,
fast zu Nichts herab, und wie wenig selbst des Tacitus zu eigener
Belehrung geschriebene Germania befriedige, beweiset dessen Zu-
flucht zu Dichtern in Ermangelung besserer Quellen, und die gänz-
liche Vernachlässigung dessen, was der ältere Plinius, der selbst
im Lande der Chauken verweilte, XVI. 1 ff, an verschiedenen Stel- '
len seiner Naturgeschichte meldet. Denn dass Tacitus römische
Dichtersagen nicht ganz verwarf, lehrt sein drittes Capitel, und dass
er wirklich Einiges aus Dichtern schöpfte, deren willkürliche Schil-
derung des Rheinstromes doch schon Horaüus S. 1,10,37 A. S. 18
rügte, lassen weniger einzelne Hexameter, welche der Zufall gab,
als dichterische Redensarten vermutben, wie G. 39: Auguriis pa-
truni et prisca formidine sacram, und G. 5: nee suus ar-
mentis honor est aut gloria frontis. Von des Tacitus Be-
nutzung der zwanzig Bücher deutscher Kriege, welche Pliuius nach
der Versicherung seines Neffen Ep. III. 5 während seines Feldzu-
ges in Germanien begann, zeugen die Annalen I. 69; aber dass er
selbst die Erwähnung der Ingävonen, Hermionen und Istävonen
G. 2 nicht aus Plinius' Naturgeschichte IV. 28 oder die Beschreibung
des Bernsteins G. 45 nicht aus PI. H. N. XXXVII. 11 schöpfte» er-
hellt aus dem Stillschweigen über anderes daselbst Angeführtes,
während der Völker und Könige, welche erst vor Kurzem (vergl.
A. II. 24) der Krieg eröffnete, sogleich zu Anfange der Germania
ausdrücklich gedacht wird. Freilich hat sich Tacitus auch so sehr
der Kürze beflissen, dass er niebt nur von vielen Flüssen schweigt,
von welchen er in den Annalen erzählt, sondern auch G. 8 von
der im Aufrühre des Civilis bekannt gewordenen Veleda H IV. 61,
65 spricht, ohne ihrer Wohnung am Flusse Luppia H. V. 22 zu ge-
denken. Wenn Tacitus auch in den Annalen XIII. 57 den Salz-
fluss an der Grenze der Hermunduren und Catten nicht mit dem
Namen Sala benannte, so mochte er die davon gegebene Schilde-
rung für bezeichnender halten; dass aber eben daselbst civitas
Ubiorum für Juhonum oder Vibonum zu lesen sei, daran las-
sen die conditae nuper coloniae moenia A. XII« 27 G. 28
nicht zweifeln. Zu verwundern ist es, dass unser Verf.-, der sich sonst
mit Recht wenig um die vielfältig versuchten, aber meistens unbe-
gründeten Etymologien der Namen bekümmert, an welchen Ruperti
mit anderen Herausgebern und Beurtheilern der Germania so reich
ist, gerade die seltsamste Erklärung des Namens Ubier durch lie-
ber anfahrt, welchen Vogt die Trevirer als Drüber entgegensetzte,
da doch Menzel, wenn wir nicht irren, im Morgenblatte durch Ver-
gleichung des Dan-ubius mit dem althochdeutschen Tuon-owa
und dem neuhochdeutschen Don-au nachwies, dass Ubii soviel
Allgemeine Literaturberichte. 187
als Ower oder Auer (Nass-auer,^ deren Namen Hr. v. Gerning
schon durch Nasua bei Cäsar B. 6. I. 37 bezeichnet glaubte) be-
deuten. Wenn Graff dieselbe Bedeutung im Namen der Avionen
sucht, so dürfen wir nicht übersehen, dass diese zu den Sueven
oder Hermionen gehörten, deren Mundart von den Islavonen am
Rheine verschieden war, wenn sie gleich, nach dem Namen des
Visurgis oder Wisaraha, welcher in der Mundart der Ingävo-
nen Wirr aha lautete, zu urtbeilen, der niederdeutschen Mundart
auf gleiche Weise gegenüberstand, wie es sich noch in den Mund-
arten der Schwaben, Hessen und Hermun - duringer kund giebt.
Wenn wir übrigens auch im Althochdeutschen Wetar-eiba für
Welter-au lesen, so ist es nicht zu verwundern, dass die Römer
und Griechen die deutschen Namen verschiedentlich verdrehten,
sowie sie zwar die Ingauer Ingävon'und Eidstaben Istavon, aber
die Thalgauer Dulgibiner oder Dulgumnier nannten. Obgleich
schon Drusus auf die natürliche Feindschaft zwischen Nieder- und
Oberdeutschen, welche später die Sachsen gegen die Franken auf-
regte, seine Eroberungsplane baute., und sich mit den Friesen und
Gauchen befreundete, um mit deren Hülfe die gefürchteten Catten
und Cherusken zu bekämpfen: so hat doch unser Verf., wiewohl
er es nicht verkannte, dass die Germanen durch die Namen der
Ingavon, Hermion und Istavon drei verschiedene Mundarten
bezeichneten, nicht versucht, die Namen der einzelnen Völkerschaf-
ten denselben unterzuordnen, wie es eine systematische Anordnung
verlangt, weil es sich nicht genau bestimmen lasse, welche Völker-
schaft zu dieser oder jener Abtheilung gehöre. Allerdings bleibt
die Entscheidung in einzelnen Fällen zweifelhaft; aber der Versuch
einer systematischen Anordnung muss gemacht werden, wenn man
die Völkerbündnisse der späteren Zeit gehörig begreifen will. Nicht
minder nothwendig ist die Bezeichnung der richtigen Aussprache
mancher Namen, wie Batävi und Chamävi, Caüci und Süevi: denn
wer Ingävönes und Istävftnes, wie Teutones oder Teutöni spricht,
wird weniger versucht werden, bei der blossen Pluralendung des
Wortes Gau und Stab an Wohner zu denken. Wer es weiss,
dass die Römer unsern Diphthong ei durch 5 oder T bezeichneten,
und ein d vor *t abwarfen, wird auch in Istävones leicht die Eid-
staben oder Eidgenossen erkennen. Es konnte aber auch eben so
leicht ein eidstabisches Feld, auf welchem das Bundesgericht der
gegen die Römer verbündeten Völker gehalten ward, in die Benen-
nung Idista visus gemildert werden, in deren Adjectivendung man
irrig ein Substantiv Wiese gesucht hat, um sich, wie Massmann
in seinem Arminius S. 117, damit abzugeben, wie Idista zu deuten
sei. Hätte unser Verf. beachtet, was in der allgemeinen Encyclo-
pädie von Ersch und Gruber unter Idistavisus campus erin-
188 Allgemeine Literaturberichte.
nert ist, so würde er die hohe Bedeutung desselben, wie dessen
Lage in der Ebene zwischen der Weser and dem Süntel oder dem
Sühntbeile des dem Thuisto oder Hercules geweihten Dichterwal-
des, welcher nach Tacitus A. IL 18 eine Ausdehnung von zehn Mil-
lien in der Länge hatte, leichter erkannt haben, wie Ruperti zu
Tacitus A. II. 16. Denn er bewährt überall ein so gesundes ür-
theil, dass er unter verschiedenen Meinungen leicht die wahrschein-
lichste herausfindet. Wenn er daher auch selbst oft seine Unwis-
senheit gesteht, so geschieht dieses doch nicht ohne reife Ueberie-
gung, um nichts Unsicheres für Gewissheit auszugeben.
Hannover. G. J. Grotefend.
Das nordische Griechenlhum und die urgeschichtliche Bedeutung des
nordwestlichen Europa's von Hermann Müller, der Philosophie und
beider Rechte Doctor, öffentlichem ordentlichem Professor des Staatsrechts
an der Hochschule zu Wurzburg. Mainz, 4844.
Die kellischen Studien haben seit einiger Zeit in Deutschland
wenn auch nicht zu blühen angefangen, doch wenigstens zu kei-
men. Um wie wichtiger der Gegenstand ist, um den es sich han-
delt, um so mehr muss man wünschen, dass er mit Ernst und
Gründlichkeit verfolgt, nicht aber dadurch ekelhaft werde, dass
man seltsame Spielereien damit treibe. Weder Leonische Phanta-
sie, noch Dieffenbachische Verworrenheit werden die Sache fördern
können. Aber auch die Art, wie Hermann Müller sie ergriffen hat,
kann zu nichts Gutem führen. Er hat sie von einem eigentümli-
chen religiösen, oder soll man sagen, kirchlichen Standpunkte ans
aufgefasst. Ihm ist das keltische Druidenthum das Vorbild der ge-
heiligten Priesterlichkeit der katholischen Kirche. Hat man bisher
die Mysterienlehren der Urzeit, theils in Chaldäa, theils in Aegypten,
theils bei den Brahmanen in Indien, oder auch theils wohl auf
dem Hochlandevon Ost-Asien, wo während aller historischen Zei-
ten stets nur Tartaren und Mongolen gewohnt haben, vergeblich
gesucht: so verweist jetzt Herr M. auf den Nordwesten der Feste
der alten Welt, auf Britannien und Irland. Im Besitze der Urweis-
heit sind ihm zufolge die Titanen, Teutonen, Atlas und Prome-
theus gewesen und beide haben in Britannien gelebt (S. 66); oder
nach einer anderen Auffassung ist Atlas die Felsküste der britischen
Inseln am Sunde (S. 112) und an diese war Prometheus gefesselt,
dort, wo einst König Lear irrend zwischen Krähen und Dohlen,
kletternd Fenchel sammelte (S. 40, 123). Gegenüber ist Tartaros
und bei Maastricht der Hades.
Dass dies Alles sich so verhalte, wird mit Beihülfe einer feinen
Handhabung der Kunst der Etymologie theils aus den Lehren, die
sich, in den bakchischen uud satnothrakischen Mysterien erhalten
haben sollen, erwiesen, theils aus jener Wissenschaft, in deren Be-
Allgemeine Literaturberichte. 189
silz wir dadurch gesetzt worden sind, dass die walisischen und iri-
schen urgriechischen Druiden, von denen auch der grosse O'Con-
nel abstammt (S. 185), mit dem ganzen Schatze ihres urzeitlichen
Wissens übertraten in den Stand christlicher Mönche. Denn da-
von will Herr M. nichts wissen, dass in der berühmten Gelehrten-
schule der irischen Mönche des Mittelalters ein reges Streben, des-
sen Einflüsse weithin wirkend über die christliche Welt im Westen
sich ausbreiteten, erwacht sei, die Ueberlieferungen der walisischen
und irischen Volkssagen, sowie die, die man bei Virgil und Ovid
fand, mit Herbeiziehung des Julius Africanus, des Eusebius, des
Hieronymus und Anderer mit dem in Uebereinstimmung zu brin-
gen, was ihnen als die hebräische Wahrheit galt (Vergl. Zeitschr.
für Geschichtsw. B. I. S. 251). Dass dabei der Synkretismus, der
schon in der heidnischen Zeit Wurzel geschlagen hatte, und beson-
ders lebendig in Alexandrien aufgeblüht war, nachher aber den Kir-
chenvätern einen Leitfaden bot, den irischen Mönchen die eigent-
liche Stütze ihres gelehrten Treibens dargeboten halte, darf nach
Herrn M. nicht angenommen werden, obgleich für diese Annahme
auch dies ganz besonders sprechen würde, dass nach dem Systeme
jener Mönche historische Wahrheit für "die irische Geschichte nur
erst aufdämmerte seit der Zeit der Gründung Alexandrien's. Da-
von soll die Rede nicht sein, dass die irischen und walisischen Sa-
gen und Lieder später vielfach Umwandlungen erlitten haben, und
Vieles in sie hineingekommen ist, was in seiner Wurzel aus der
christlichen Gelehrsamkeit des Mittelalters stammte. Es sind viel-
mehr nur die von den alten, in der Urzeit in Britannien und Irland
heimischen Nordgriechen herslammenden Sagen missverstanden und
falsch gedeutet worden. Von Urtroja an der Themse, «von London
aus, waren die Urphrygier ausgezogen und hallen sich in Kleinasien
angesiedelt. Die Erinnerung an dies historische Moment aber war
in dem Bewusstsein der anliken Welt verschwunden, und als nun
die in dieser Welt wurzelnde Gelehrsamkeit und die Druidensage
sich begegneten, soll die letztere falsch aufgefasst worden sein.
Anstatt dass man aus dieser hätte entnehmen sollen, dass die von
Homer besungene Troja eine von der britischen Troja herstammende
Ansiedlung sei, kehrte man die Sache um, und machte Urtroja zur
abgeleiteten. Auch ein anderes älteres Troja Ondet sich noch an
der Seine. Zwar ist das parisische Troja jünger als das an der
Themse, und ist von London aus gegründet worden ; aber bei wei-
tem älter ist es doch als das in Kleinasien und verliert sich seinem
Ursprünge nach in die fernsten Urzeiten. Wenn so alle histori-
schen Verhältnisse umgedreht werden, fühlt man sich veranlasst, mit
dem Herrn Professor (S. 213) auszurufen: — „Freilich möchte einem
leicht schwindeln, wenn die Wellpole sich gänzlich verschieben." —
190 Allgemeine LUeraturberichte.
Teuton, oder die gemeinsame Abstammung der germanischen, galli-
schen und gothischen Völker von dem Urstamme Skandinaviens. Aus den
Quellen nachgewiesen von Joh. Nep. Obermayr, K. b. pens. Regiraents-Au-
ditor. Passau, 4843. 96 S. 8.
Wenn man ein beliebiges Zusammenwürfeln von allerlei zu-
sammengesuchten Stellen der verschiedensten Schriftsteller aus den
verschiedensten Zeilen ein Arbeiten aus Quellen nennen will, so
darf man freilich auch der vorliegenden Schrift das Zeugniss, wor-
auf sie Anspruch macht, dass sie nämlich aus Quellen gearbeitet
sei, nicht verweigern. Sie wimmelt nur von Auszügen aus Wer-
ken des Alterlhums mit hinzugefügten Auszügen aus neueren Schrif-
ten. Prüfung der Quellen und Quellenvergleichung jedoch, worin
doch die Hauptsache jeder kritischen quellen massigen Arbeit be-
steht, dies beides wird gänzlich vermisst. Nachrichten über chara-
kteristische Verschiedenheiten verschiedener Volkstümlichkeiten
weiss der Verf. auf leichtem Wege auszugleichen, wie das unter
anderem besonders auch da auffallt, wo er (S. 31) gegen Cäsar's
eigene Ansicht dessen Bericht über den Gegensatz der Volkstüm-
lichkeit der Germanen gegen die der Gallier auf seine Weise zu
erklaren versucht. Der Grund übrigens, warum stets Germanen
geschrieben und selbst auch das doppelte im in dies Wort einge-
schoben wird bei Anführung von Originalstellen aus den Quellen,
leuchtet nicht ein.
Die ethnographische Grundansicht des Verf. ist diese, dass (nach
Plutarch im Kamill) die Kelten ursprünglich aus Asien über die ri-
phäischen Gebirge in Skandinavien eingewandert sind. Theils Nee*
res-Ucberschwemmungen, theils Uebervölkerung haben dann einen
grossen Theil von ihnen gezwungen y weiter zu ziehen, oder sie
sind auch Seefahrer geworden und sollen als solche, wie etymolo-
gisch (S. 7) auseinandergesetzt wird, den Namen Kelten erhalten
haben. „Nachdem auf solche Weise Germanien und Gallien ein-
genommen war, griffen die Kellen von der See-Seite her die Völ-
ker Iberien's an, drängten die alten Bewohner von der Nordwest-
küste zurück, und Hessen sich daselbst nieder. Von dort verbrei-
teten ^ie sich gegen die Mitte der Halh-Insel , und erzeugten das
gemischte Volk der Keltiberer." (S. 11).
Daraus dass Dio Cassius sagt, die Germanen und Gallier wä-
ren früher mit dem gemeinsamen Namen „ Kellen " benannt wor-
den, und dass Tacitus sagt, der Name Germatwiae wäre neu, soll
(S. 13) die gemeinsame Abstammung der Germanaeii und Gallier
von dem Urstamme Skandinaviens bezeugt werden. Strabo und
Diodor werden auch noch herbeigezogen.
Darauf gehl Herr Obermayr über zu dem Versuche, die über-
einstimmenden Zeugnisse glaubwürdiger Geschichlschreiber über
Allgemeine Literaturberichte. 19t
die Bluts* Verwandtschaft der germanischen und gallischen Völker
durch eine -vergleichende Gegenüberstellung der Mythologie, Sitten
urid Gebräuche derselben zu verstärken. Gegen die angewandte
Methode der Vergleichung dürfte indess, wie schon oben angedeu-
tet worden ist, manches einzuwenden sein. Der als c. VC. statt L.
6. c. XVII, angeführten Stelle Cäsar's über die Gallier: Deum ma-
xime Mercurium colunt: huius sunt plurima simulacra, setzt er (S.
33) die Stelle von Tacitus (Gerroan. c. IX.) über die Deutschen in
folgender Weise zur Seite: Ceterum nee cohibere parietibus deos,
neque in ullum humanioris speciem adsimilare, ex magnitu-
dine coelestium arbitrantur. Es mag dahin gestellt bleiben, ob die
gesperrten Worte durch einen Druckfehler in den Text hineinge-
kommen sind. Im Uebrigen aber hätte es heissen müssen: in tillam
humani oris speciem.
Von den Kello - Germanen werden die Brito-lberen streng un-
terschieden und so kommt als Ergebniss der ganzen Untersuchung
folgendes heraus: „1) Der Küstenstrich des allantischen Meeres von
der Seine-Mündung bis zu den Pyrenäen — oftmals Armorica ge-
nannt — war, mit einziger Ausnahme der Bituriges, Ubisci und Sau-
tones, von Völkern nicht-gallischer Abkunft bewohnt, weil die Ve-
neter gleichfalls Stammgenossen der Bewohner der Halbinsel Bri-
lannia minor waren, und die Völker Aquitanien's zu den spanischen
Iberern gehörten. 2) Die Küsten- Bewohner des mittelländischen Mee-
res waren, äussernden griechischen Pflanzstädten gleichfalls Iberer,
Lignrer mit Galliern untermischt. 3) Diese Völker gehörten dem
iberischen Volksstamme an, welcher vor dem Eindringen der Kel-
ten der alleinherrschende auf der pyrenäischen Halbinsel und auf
den britischen Inseln war. 4) Dieser grosse Volksstamm verrath
durch Sprache und Sitte phönicische Abkunft. 5) Diese stammver-
wandten Völker, welche jetzt Kelten und Galen genannt werden,
als ob sie die Nachkommen dieser Völker wären, sind von den Gal-
liern grundverschieden, und bezeichnen den Fremden mit dem Na-
men: Gall" (S. 72, 73).
Vergleicht man die Arbeit des Herrn Obermayr mit der des
Herrn Hermann Müller über das nordische Griechenthum , so sieht
man, wie sich in unserer Zeit Alles verkehrt. Der Letztere hat un-
erwartet auf Urgriechen in Britannien und Irland hingewiesen; der
Erstere aber läugnet die keltische Abstammung der Völker, die
man aus sprachlichen Gründen bisher als die einzigen Ueberreste
der keltischen Völkerstämme angesehen hat. Seine (S. 6*5) aufge-
stellte Behauptung indess, dass die Sprache der Bretagner, Waliser,
Kornwaliser, Iren und Schotten Mundarten wären, die aus Einer
und derselben Quelle mit der baskischen geflossen, wird ihm Nie-
mand zugeben.
192 Allgemeine Literaturberichte.
Ueber die Beigen des Julius Caesar. Ein geographisch-kritischer Ver-
such u.s.w. von Carl Christian Freiherrn von Leulsch, Verfasser
des- Markgrafen Gero. Giessen, 4 844.
Vergleicht man obigen Titel mit dem Inhalte der Schrift, so
fühlt man sich um so mehr versucht die Frage aufzuwerten, ob
ihrer Erscheinung nicht eine Mystifikation zu Grur.de liegen dürfte,
da der Inhalt überhaupt vielfache Veranlassung zu einer solchen
Versuchung darbietet, und das, was milgetheilt wird, sich durchaus
nicht unter jenem Titel zusammenfassen lasst. Dass es indess da-
mit völlig ernstlich gemeint sei und kein Verdacht einer Myslifica-
tion zugelassen werden darf, dafür liegen die bestimmtesten Be-
weise vor, die nötigenfalls, wenn etwa die Sache weiter zur Spra-
che kommen sollte, vorgelegt werden könnten. In sicherer" Ueber-
zeugung also, dass der Herr Baron ganz ernstlich die Ansichlen
hegt, die er der gelehrten Welt hat mittheilen wollen, darf man ihm
die Versicherung geben, dass er im Irrthum lebe, wenn er furch
tet, dass die Mehrzahl seiner Leser daran ein Aergeniiss nehmen
dürfte (S. 71). Die Wirkung dieser Schrift wird vielmehr sich über-
all nur äussern als Erregung zu einer grossen, oder, wie man auch
zu sagen pflegt, Ungeheuern Heiterkeit. Nur zu einer Ergötzlich-
keit und Kurzweil kann die Art und Weise dienen, wie die „fei-
sten Mönche1 am Hofe Carl's des Grossen uns vorgeführt werden,
wie der Herr Baron sie „anzapfen" zu müssen glaubt, wie er sie
uns als „Esel" darstellt, die „sich betrachtet halten als die wahren
Eigenthümer der gesammten europäischen Gelehrsamkeit, die im
Namen des Frankenherrschers über alles und jedes rücksichtslos
zu verfügen berechtigt seien, und von deren Vorschriften und Ora-
keln gar keine Appellation denkbar sei" (S. 71, 73). Nicht indess
blos die Gelehrten des achten und neunten Jahrhunderts, die übri-
gens allerdings in den Irrthümern der Schule der irischen Gelehr-
ten befangen gewesen sind, greift der Freiherr wegen Verfälschun-
gen mancherlei Art an, sondern dem Cäsar selbst giebt er Schuld,
dass er den Volksnamen Sunici erfunden habe, „theils um die deut-
sche Mythologie noch weiter zu verwirren, theils auch um den
Geistreichen zu spielen, indem er im Gegensatz zu den übrigen
Deutschen, die sich Mondskinder nannten, hier den Namen Sonnen-
kinder aufbrachte " (S. 31). Wenn so die Bücher über den galli-
schen Krieg daran leiden, dass ursprünglich schon durch den Ver-
fasser derselben selbst Unwahrheiten in sie hineingekommen sind,
so haben sie jedoch noch weit mehr gelitten durch, spätere Ver-
fälschungen der Handschriften. Der Herr Baron haben sich daher
zum Nutzen und Frommen künftiger Herausgeber dieser Bücher
der Mühe unterzogen, eine vorläufige, jedoch schon ziemlich lange
Liste von, wenn ich richtig gezählt habe, 415 Stellen mitzutheiien,
Ailgemeike Literaturberiehte. 198
die semer Meinung nach einer besonderen Berücksichtigung und
Verbesserung zu empfehlen waren.
Darin liegt jedoch nicht das Hauptgewicht der Schrift; es liegt
vielmehr in dem Zweck«, Urtereeionner su suchen auf defett Ko-
sten die Herausgabe eines, wie behauptet wird, sehr bedeutenden
Werkes veranstaltet werden könnte. „Dies Buch ist mit allen. sei-
nen Beilagen und Nebenarbeiten, nebst den data gehörigen Him-
mels- sowohl, als anderen Karten, Zeichnungen mythologischer AI-
tertbümer und mehr als 1060 erläuternden sonstigen Abbildungen
in der Handschrift gänzlich vollendet, und falls sich ein angemes-
senes Publicum dafür finden seÄte, demselben aoth sugäaglieh"
(S. 8t). Es enthalt die reichen Ergebnisse tie4jaariger, nach den
ins Obigen angedeuteten kritischen Frlnoipien angestellter Forsoben-
gern in dem Oehieie der altdeutschen Geschichte. Eine nähere Gha*
rafeterfstak dieses Werkes enteilt der Titel, unter dem es erephew
nen seil, «ed bei der Merkwürdigkeit seines Inhaltes scheut es
notnweadfe, denselben, wie wettKefig er auch sein mag, dem Le-
ser dieses Berichtes miteutheilen. Er lautet: „Edda (SaenHindrhins
Froda) -id est Edda anüqua sive cannina anUqmsskaa, jussu CSareä
Impemtoris, quem Magnum vocant, colleota atque in coqejris rede*
cla; postea, tempore CaroM Crassi atque Arnulfi, aucta passim et
iarterpeiaia; dein e Fraocico sermone in Daxrioum, tandem vero am
Iskndornm Itagoain conversa atque tani hie quam übe adulterata
qnidem, sed ab interprete Islando in noTum plan« ceosom acta et
miserriaie eorrupta*. nunc Tero exouesa, abjeetiaqne glossis et ad-
ditamentts aJienis, pristino metro, antiquo splendori et genuinae in
quaotum fieri potuit integritati restituta, nee non soltitfs, qua? *
dtsaidio Jäter iJJa atque Tacili utriusque scripta emergere *»4eban~
tnr, dabiis, Germaniae vindicata, Laiina Editorum HafeiensKia) in-
terpretatione, bis aut ter mutala, indke loonpletissimo et sommea-
tario insMrocfta? quo in eommentario non solum critica ratio expen*
dttur, sed et medü, quod vocant aevi historia et geographia quam
aaaxime älustrantur, potissime vero antiquissfma Gern&anorum teli*
gio et fabula — tiova plene disciplina, et a doctissfenis quoqge in-
lacta hucusque eruitur et restituitur, Gcaeeae autem mythologiae*
et insi in tenebris jaoenti ~ deteotis Homeri, flesiodi, Herodoti aUo-
ruroque fraudibus — lux aecenditur, omnaaque tarn mysteriorunj,
quam fabulsrunf, ut et prknordiorum historiae generis nttfcBant a.pe-
riuetnr arcana. Quibus aoeesseront Iota tarn Hefniensium . quam
Bokniensium leotionis varietas, sacra paganae GermaBiae geographia
et Germauorum geenliüra Fasti. Opera et studio C. C. Uberj.Bai-
ronis de Leutsch, auctoris libri, qui est de Gerone, Marobjen* 0«*-
aatalium.
ZeiU*krift f. GtwhichUw. IV. 1S43. |3
194 Allgemeine Literaturberichte.
Was in diesem vielversprechenden Titel ausser anderem auf*
fällt, ist, dass Tür das zehnte, elfte oder zwölfte Jahrhundert ein
Unterschied zwischen der dänischen und isländischen Sprache ge-
macht wird ; indess das muss uns nicht irren, da wo so viele neue
Entdeckungen verheissen werden. Hat der Herr von L. doch schon
in dem Gebiete der altdeutschen Geschichte, deren Literatur er für
erlogen oder wenigstens durch und durch für verfälscht hält, so
bedeutende Ermittlungen gemacht! So z. B. hat er in der Germa-
nia des Tacitus gefunden, „dass die Priester des Semnonenhayos
im Namen ihres Gottes die Herrschaft nicht blos über ganz Deutsch-
land, sondern über die ganze Erde behauptet hätten" (S. 3). Die
ganze Weisheit dieser Priester, mit der sie die deutsche Welt re-
gierten, soll darin bestanden haben, „dass sie erst ein suevisches,
dann ein ingävonisches, dann wieder ein suevisches Volk und im-
mer 40 abwechselnd fort, nach Belgien schickten; hatte sich das
dann dort festgesetzt und alles nach seinem Gutbefinden und Wohl-
behagen geordnet, so kam das feindliche und warf das kaum auf*
gerichtete Gebäude wieder gänzlich über den Haufen. Und damit
das nun auch jedesmal, so wie es vorher abgekartet war, wirklich
vor sich, gehe, waren die untergeordneten, bei den einzelnen Völ-
kerschaften befindlichen Priester geschäftig, indem sie die Partei,
die da unterliegen sollte, durch ihre Taschenspielerkünste irre
machten und entmuthigten , umgekehrt aber der Gegenpartei Vor-
schub leisteten, Mutb einsprachen und die Feinde verriethen, der-
gestalt, dass sich alles grade so fügen musste, wie es eben vorher
ausgerechnet worden war" (a. a. 0.). Diese Semnonenpriester stan-
den auch in einem geheimen Einverstandniss mit Cäsar als römi-
schem Pontifex Maximus, und dasselbe ging darauf hin, „dass man
suevischer Seits den Römern Gallien überlassen, Cäsar dagegen
den Sueven die Herrschaft über die Ingäwonen, die sich ganz los-
reissen zu wollen schienen, wieder in die Hände spielen solle"
(S. 17). — „Das Netz ward glücklich gestellt; denn da diese Sue-
ven — später erscheinen sie unter dem Namen der Kalten — in
den Bund der Ingäwonen traten, die auf der Rheininsel sesshaften
suevisch-katlischen Bataver römische Bundesgenossen und Schutz-
verwandte wurden, so hatte man suevischer und römischer Seits
die Ingäwonen, die nunmehr so gut wie verrathen und verkauft
waren, gänzlich in seiner Gewalt " (warum wird hier nicht lieber
gesagt: in der Tasche?) „und mussten die tanzen, wie ihnen nur
vorgepfiffen wurde " (S. 24). Zu dieser Stelle fügt jedoch Herr von
L. in einer berichtigenden Anmerkung (S. 130) hinzu: „Als wir die-
ses schrieben, hatten wir noch nicht gefunden, dass die Ingäwonen
ebenfalls unter der Leitung einer besonderen Priesterschaft stan-
den, die ihren Sitz in der Gegend von Burgdorf (zwischen Han-
Allgemeine Literaturberichte. 195
nover und Zelle an der Aller) schon seit Jahrtausenden gehabt
hatte, und die also, als sie gestattete, dass ihr Land durch das nur
beschriebene politische Neu umzogen wurde, ebenfalls ihre Ein-
willigung gegeben und ihre bestimmten Absichten dabei haben
musste. Es war deren Meinung aber keine andere, als die Inga*
wonen selbst durch diesen Zaum in der Abhängigkeit von sich,
von den Priestern, zu erhalten."
Solche Ergebnisse historischer Forschung enthält die angezeigte
kleine, nur zwischen 8 und 9 Bogen starke Schrift, die unter ei-
nem so unscheinbaren Titel erschienen ist. Es entsteht die Frage
über die Veranlassung # der Wahl dieses Titels. Dieselbe beruht
aber darin, dass gleich Anfangs (S. 1) in etymologischer Weise der
Beweis auch für die Behauptung versucht wird, dass die Belgier als
Abkömmlinge des ingäwonischen Stammes sich hervorstellten, „der
das nordwestliche Deutschland nicht nur sammt Schweden, son-
dern auch das heutige Polen, bevölkerte." Zur Verstärkung des
Beweises wird noch in einer Anmerkung hinzugefügt: — „Noch
eine Spur, dass auch Deutsche den Namen Belgier geführt haben,
ist folgende: Wenn ein Belgier geboren war, so scheint ihm von
seinen Verwandten und Zugehörigen und allen übrigen y die ihm
wohlwollten, sowohl jetzt als auch noch späterhin der Glückwunsch
zu- und entgegengerufen worden zu sein: Wachse Belgier I wel-
cher Zuruf nicht blos in Belgien, sondern in einem grossen Theil
von Deutschland, vielleicht überall, noch heutiges Tages bekannt
und gebräuchlich ist, indem man zum Beispiel schreienden Kin-
dern, um sie zu beschwichtigen, die Redensart zuruft: Halts Maul
verwünschter Wechselbalg 1"
P. F. Stuhr.
196 MiMCtUtn.
Mlieelle
i.
lo meiner Schrift Über die GeschsetUe des eienenJMuigen Krieget
(Forschungen und Erläuterungen über Hauptpunkte der Geecbtehle des
siebenjährigen Krieges. Nach archivaliscben Quellen. Tbl, I. S. 308 — 314).
ist die Geschichte des Sturzes von Bestuchef nacb urkundlichen Berichten
erzählt. Es helsst auch dort (3. 310): „Dass er (BesfuchSf) wider Wissen
und Wille» der Kaiserin geheime Befehle an Apr/xln habe ergehen lasten,
fttr diese Behauptung hat man tu der damaligen Zeit keine Beweine auf-
finden können, und die Schuld seines Sturzes ist auch gar nicht m die-
sem Verhältnisse zu suchen." Doch ist es noch in den neuesten Zeiten
ganz altgemein behauptet worden, dass Bestuchef wirklieh mit Apraxin Ja
einem geheimen Briefwechsel gestanden habe. Zugleich eralhke nmn sieh,
die Kaiserin Biaabeth wäre Im Herbste des Jahres 4757 gefährlich ksaak
gewesen, und dadurch habe sich Bealucbef bewegen lassen, die Freund-
schaft des jungen grossfürstlichen Hofes zu suchen. Das Eine ist aber so
wenig wahr wie das Andere. Ton einiger Bedeutung jedoch Ist es, tu
wissen, woher diese Gerüchte entstanden seien. Base AufkJlning ibar
aäaae Frage Ist in meinem angerührten Werke, nicht gegeben, ich eegretta
daher die Gelegenheit, das Versäumte hier nachzuholen.
Der Obriat Viellnghof, ein geborner Kurländer, der in französisches
Diensten stand und sich als französischer Militärgesandter im russischen
Hauptquartier befand, hat bald nach der Schiacht von Greee4igerndorf eut-
trnder neben während des Btiekaogea oder gleich nach demselben Beriesle
an Beinen Hof eingesandt, die dem entsprachen, was nachher fiUschUch
allgemein als. wahr angenommen worden ist. Die Originalbecichte, in de-
nen dies enthalten ist, habe ich selbst während meiner Arbeiten in Pari*
im Archive des französischen Kriegs-Ministeriums m Rindeil gebebt. Vle*
tmgfcttt nennte das, woran er zur Zeit, als er jene Berichte schrieb, glaubte,
nur in den Vorzimmern des russischen Hauptquartiers erfahren haben. Es
leuchtet also ein, dass man von Seiten des russischen Hauptquartiers Gründe
gehabt haben rauss, solche falsche Gerüchte aussprengen zu lassen. Dem
russischen Hofe selbst aber umss auch noch später daran gelegen gewo-
gen sein, solchen Gerüchten Glauben zu verschaffen. Denn anders ist es
nicht zu erklären, dass der englische Gesandte Knigth, der erst sn Anfange
des Märzmonats 4758, einige Tage nach dem Sturze Bestuchef s in Peters-
burg eingetroffen war, bald nach seiner Ankunft hierselbst an seinen Hof
berichten konnte, es hätten sich in den Papieren Apraxin's wirklieb Be-
weise darüber gefunden, dass Bestuchef sich in eine Intrigue mit der Gross-
(Urstin eingelassen habe (vergl. a.a.O. S. 340. Raumer, König Friedrich II.
S. 456).
P. F. Stuhr.
Heber den zweiten Kreuzzuff*
Als Urban 11. im Jahre 1094 Europa zur Befreiung des hei-
ligen Grabes aufrief, bewegte sich das Leben der abendlän-
dischen Völker fast ausschliesslich auf geistlichen Gebieten.
Die Bestrebungen, ein Staatswesen im eigentlichen Sinne her-
zasteilen, seift der Völkerwanderung von Merovingern und Ka-
rolingern, von Ottonen und Gapetingern mit immer schwä-
cherem Erfolge wiederholt, waren unter Heinrich IV. und
Philipp I. völlig gescheitert. Durch die Siege, welche das
Papstthum verbündet mit den Dynasten und Landesherren
über die Könige erfochten hatte, stellte es sich mit ausschliess-
licher Kraft an die Spitze der Aristokratie, in welche sich
damals die Reiche Europa's aufzulösen schienen. Nationale
Eigentümlichkeit schien mit den Herrschergewalten an ihrer
Spitze gebrochen; die einheimische Literatur der Germanen,
schon einmal durch den geistlichen Sinn Ludwig des From-
men geknickt, musste auch jetzt wieder das Feld in Deutsch-
land und. Frankreich völlig räumen Ebenso entschieden
wandte die Kirche der Antike den Rücken, der römischen,
welche den Karolingern, der griechischen, welche den Ottonen
Vorbild und Quelle geistigen Lebens gewesen. Die Kirche
selbst, so weit sie auf Kultur Anspruch machte, wurde von
diesem Absterben, das sie veranlasst hatte, getroffen: ihre ei-
genen wissenschaftlichen Bestrebungen, die ersten Berührun-
gen zwischen Theologie und Philosophie, durch welche das
neunte Jahrhundert sich ausgezeichnet, schienen verscheucht,
nachdem die Kirche ihren Sinn auf die Eroberung des Staa-r
tes gerichtet hatte. Neben den hierarchischen Interessen gab
Zeitschrift f. GMcfaicktsw. IV. 1845. 14
198 lieber den zweiten Kreuzzug.
es nur eine geistige Richtung noch von allgemeiner Bedeu-
tung, eine Mystik und Askese, welche in einem ziemlich grob
gefassten Streben nach Beseligung jeder wahren Kultur ver-
nichtend in den Weg zu treten Anstalt machte.
Wenn also der Papst ein Unternehmen anregte von my-
stischem Gehalte, mit der Aussicht auf himmlische Seligkeit,
so war es klar, das Abendland werde sich erheben wie ein
Mann; diese Ausstrahlung der geistlichen Gewalten werde
durch kein fremdes Element gebrochen, durch keine weltliche
Färbung getrübt werden. So geschah es; Ritterthum und Po-
litik, wenn auch nicht ganz abzuweisen, blieben in unterge-
ordneter Stellung,und sobald sie im Oriente selbst sich ein-
mal etwas stärker hervorhoben, erfolgte vor Moara und Tri-
polis ein hediger Ausbruch der asketischen Masse, wodurch
das Ganze durchaus den ursprünglichen Charakter wieder er-
hielt. Das damals gegründete Reich bewahrte dies Gepräge
unter den ersten Balduinen; unter Fulko allerdings trat eine
starke Umwandlung ein, welche aber, wie wir sehen werden,
nicht in dem Beginn neuer Richtungen, sondern nur in dem
Verfalle der früheren Energie bestand.
Im Abendlande schloss unterdess das Kaiserthum mit der
Kirche eine vorläufige Abkunft durch das Wormser Concor-
dat Der Staat der Deutschen, durch Lothar jedenfalls nicht
in geistreicher Weise vertreten, machte während des Friedens
neue Einbussen, jedoch gelang es, die Regierung auf dem
noch erhaltenen Felde zu constituiren , eine leidliche Krall
und ein weit geachtetes Ansehen zu behaupten. Entschiede-
ner dagegen waren die Fortschritte der Staatsgewalt, oder
was damals dasselbe ist des Königthums, in Frankreich unter
dem Nachfolger Philipp'», dem strengherrschenden Ludwig VL,
der mit der Kirche einträchtig wie Lothar, sein weltliches
Gebiet mit ungleich grösserer Folgerichtigkeit und Ordnung
zusammenhielt. Es waren also noch einmal auf dem euro-
päischen Continente politische Mächte gebildet Die Kirche
in ihrer Oberherrlichkeit anerkannt, konnte doch unmöglich
eine grosse kriegerische Thatigkeit wie 1094 ohne Berathang
mit den Staatsgewalten ins Leben rufen. Selbst in nächster
lieber den zweiten Kreunug. 199
Nähe von Rom, welch ganz anderen Anblick geordneter und
befestigter Kraft gewahrte das sicilische Reich König Roger IL,
als 1090 die kaum angesiedelten, unter sich hadernden, wenn
auch stets kriegbereiten Schaaren Boemund's und seiner Ver-
wandten.
Wie die Politik, so hatte auch die Kultur» sobald die
heftigsten Stürme ruhten, neue Schösslinge hervorgetrieben.
Ausschliesslichkeit hat in Europa zu keiner Zeit irgend eine
Kraft zu behaupten gewusst, vielleicht für Augenblicke, für
den Moment des Sieges nach oder in alleserschütternden Käm-
pfen, niemals in dauernden Einrichtungen, in den ruhigen,
schaffenden Anordnungen eines bleibenden Daseins. Einen
solchen Moment des 'Kampfes und Sieges hatte Hierarchie
und Askese um 1094 gehabt, und damals den Kreuzzug ge-
schaffen; kaum hatte man das Schwert aus der Hand gelegt,
so entwickelten sich mitten aus der Bewunderung und dem
Gehorsam heraus eigenartige Kräfte. Welcher Gontrast kann
schärfer sein, als die inbrünstige Hoffnung der ersten Jerusa-
lemfahrer und der kecke Scherz, mit dem Wilhelm IX. von
Aquitanien das Fehlschlagen derselben und seine Mühen und
Nölbe besingt? Diese Keckheit aber, die in aller Weltlichkeit
zu Hause ist, welche dem Ruhme und der Schönheit der ir-
dischen Dinge mit heissem Herzen nachgeht, ist in der gan-
zen Reibe der südfranzösischen Dichter lebendig, welche an
jenen Wilhelm, an die Vantadours und Marcebruns sich an-
schliessen. Es ist, als hatte hier in der Landschaft der Lan-
guedoc der Auszug des frommen Raimund von Toulouse Luft
gemacht; wer nun noch in asketischer Strenge den Freuden
der Liebe, der Waffen, des Gesanges den Rücken kehren will,
wandert gleich in die Ferne des Orientes hinaus; zu Hause
hat die Poesie zu einer geistreichen, aber ganz profanen Ent-
wicklung den Raum gefunden. In Nordfrankreich begegnen
wir in jener Zeit den ersten Dichtungen der Karlssage; der
grosse Kaiser wird von der Begeisterung der Kreuzfahrer für
sich in Beschlag genommen, und als Vorkämpfer der Chri-
stenheit in Spanien gefeiert. Hier ist also noch ein geistli-
cher Grundgedanke, die Verdienstlichkeit des Glaubenskrieges
14*
200 lieber den »weiten Kretizzug.
wird in allen Tönen gepriesen; bezeichnend seheint für un-
seren Gegenstand aber auch, dass die spanischen Kriege Karl's
die früher auftauchende und unter den ersten Kreuzfahrern
verbreitete Sage von seinem Zuge nach Jerusalem ganz in den
Hintergrund drängen. Nicht lange dauert es dann, so bricht
die Fluth der bretanischen Romane über Frankreich und halb
Europa herein, und die gesammte schöne Literatur erfüllt siel
mit deren Abenteuern, mit der inhalt- und planlosen Lust
am Stoffe, ohne dass irgend welche Idee daraus hervor-
schimmerte.
Nun ist es ferner bekannt, in welcher. Weise die Anschau-
ung des Orientes, welche die Kreuzzüge unmittelbar gewähr-
ten, zunächst auf Europa wirkte. Die Erscheinung ist im
Grossen ähnlich dem Eindrucke, welchen die Reisebücher da-
maliger Romfahrer gewähren. Sie sind aus der nordischen
Heimath ausgezogen, schwerlich mit anderen Gedanken, als
der Andacht zum h. Petrus und der Ehrfurcht vor dem Nach-
folger desselben. Sie kommen zurück und kennen nun vor
Allem die mirabilia urbis Romae, die alte heidnische Herr-
lichkeit, welche jetzt auf die unglaublichste Weise in den Dienst
der heiligen Kirche gerathen ist. lieber Palästina erhalten
wir vollständige Auskunft freilich erst durch den viel späte-
ren Jacob von Vitry, man braucht aber nur den Albertus
Aquensis und die orientalischen Geschichten bei Orderich ein-
zusehen, um sich auch für 1130 von dem Wechsel der Auf-
fassungsweise zu überzeugen. Statt der Heiligenmythe er-
scheint die Sage, neben dieser das Mährchen, neben dem Mi-
rakel die wunderlichsten Weltwunder: was man nicht selbst
gesehen hat, lässt man sich erzählen, und wovon die Natur-
geschichte der Morgenländer keinen Rericht erstattet, das
schreibt man nötigenfalls aus dem Plinius und Solinus ab.
Ein syrischer Rischof der das Abendland zum zweiten Kreuz*
zuge aufforderte, erzählte dabei vom Priester Johannes, der mit
grossem Heere den Christen zur Hülfe gewärtig, nicht über
den Tigris gelangt und drei Jahre am Ufer umsonst auf das
Zufrieren des Flusses wartet Da6s er es erzählt, ist nicht
eben auffallend, aber dass der Bischof Otto von Freisingen,
lieber den zweiten Kreuzzug. 201
der Oheim des Barbarossa, es weitläufig wiederholt, und eben-
falls nichts Merkwürdigeres dabei findet als den gewaltigen
Eisgang, dass überhaupt erst dreissig Jahre nachher einem
Menschen es einfiel, den Priester auf irgend eine Weise für
die abendländische Kirche zu gewinnen, das ist bezeichnend
für den Geist dieser Jahrzehnte. Ich brauche nicht näher
auszuführen, wie dieser Sinn für Seltsamkeit, diese Reiselust,
dieser Trieb in die Länder der Fabel hinein in der deutschen
Poesie eine Zeitlang tongebend wurde, wie ein Jahrhundert
später er sich von dem geistlichen Ursprünge ganz ablöste
und sich ausschliesslich der geographischen und commerciel-
len Wissbegierde dahingab. Genug, auch auf dieser Seite gab
es mächtige Reize, welche den Flug, den man seit 1090 ge-
rade zum Himmel empor genommen, unmerklich wieder zur
Erde hinablenkten. Erging es doch den Eifrigsten nicht an-
ders, den Lenkern und Leitern der Askese des 11. Jahrhun-
derts, den Gluniacensern. Ihre Congregation hatten sie ge-
radezu auf der Abtödtung des sinnlichen Menschen auferbaut;
dann brachte die Heiligkeit ihnen Reichthum, der Orden
schmückte seine Kirchen und Klöster mit Allem, was die
Kunst, die eben daran sich herausbildete, ihm zu liefern ver-
mochte; wer hätte es tadeln mögen — im Ganzen war kein
Gedanke an sittliche Verschlechterung, im Gegentheil, das be-
haglichste und würdigste Dasein richtete man sich ein — aber
das Feuer war doch erloschen , welches fünfzig Jahre zuvor
alles Irdische zu verzehren und in reiner Flamme dem Herrn
zu opfern bestimmt war.
Um endlich in zwei Worten zusammenzufassen, wie weite
Strecken damals für die Kirche wenn nicht feindliches aber
doch unabhängiges Gebiet zu werden drohten, braucht man
nur die zwei Namen auszusprechen, Abälard und lrnerius.
Die wissenschaftliche Wiederbelebung des römischen Rech-
tes ist gleich von ihrem ersten Aufdämmern an eine geschicht-
liche Thatsache ersten Ranges und mannigfaltigster Wirksam-
keit Ganz im Allgemeinen ist es schon wichtig, dass durch
sie ein bedeutender Theil der geistigen Kräfte von den kirch-
lichen Dingen ab und, auf die Beobachtung und Bearbeitung
202 Heber den zweiten Kreuzzug.
der menschlichen Zustände, des täglichen Lebens, des privat-
rechtlichen Verkehrs hinübergelenkt wird. Der Abt Wibald
von Corvey, der erste Geistliche des damaligen Deutschlands,
klagt, er wisse die Mönche seines Klosters, ungefähr des be-
rühmtesten in den ostrheinischen Landen, nicht von den ju-
ristischen Studien hinweg, und zu wahrhaft christlicher Be-
schäftigung zurückzubringen. Nun kam hinzu, dass die Ver-
gangenheit, welche sich in diesen Studien eröffnete, in den
wichtigsten Beziehungen zu der damaligen den geradesten Ge-
gensatz bildete, dass sie Staat und Kirche, öffentliches und
Privatrecht genau sonderte, und der Staatsgewalt eine unbe-
dingte Herrschaft über alle übrigen Gebiete beilegte. Es hing
freilich nicht unmittelbar mit den Rechtsschulen zusammen,
es entsprang aber aus demselben Streben, welchem diese ihre
Blüthe verdankten, dass damals die Stadt Rom ihrer geschicht-
lichen Grösse gedachte, sich gegen die päpstliche Herrschaft
auflehnte, und den weltbeherrschenden Senat der alten Re-
publik wieder in das Leben zu rufen strebte. Den Päpsten war
es eine äusserst lästige Diversion, welcher sie sich erst viele
Jahre nachher durch die Hülfe Friedrich's I. ganz entledigten.
Zu derselben Zeit erhob dieser aber kaiserliche Ansprüche weit
über das bisherige Maass seiner Gewalt hinaus, welche er un-
mittelbar auf die Rechte der alten Imperatoren zurückführte.
Trafen sie nicht auf der Stelle den Papst, so bedrohten sie doch
dessen beste Bundesgenossen, die lombardischen Städte die
Verwirklichung derselben hätte das gesammte System erschüt-
tert, zu welchem ebensowohl die Zersplitterung der politi-
schen, wie die Gentralisirung der geistlichen Macht gehörte.
Geradezu auf den Mittelpunkt aber der geistlichen Stel-
lung jener Zeit zielte die Entwicklung der scholastischen Phi-
losophie, wie sie, weniger bedeutender Repräsentanten *u
geschweigen, von Abälard in der ersten Hallte des 12. Jahr-
hunderts ausging. Gebildet durch die Gründer zuerst des
Nominalismus, dann des Realismus, beide übersehend, mitten
in ihrem Gegensatze sich selbst eine geharnischte Stellung
gründend, in Lehre und Leben von den Wegen der kirchli-
chen Philosophen abgewandt, regte er durch ganz Frankreich,
lieber den zweiten Krewzug. 203
vor Allem unter der begabteren Jugend, die umfassendste Be-
wegung an. Das Verhältniss von Glauben und Wissen, die
Erfordernisse der Beseligung, die Begriffe des allgemeinen und
besonderen Seins unterwarf er einer kühnen, rücksichts- und
voraussetzungslosen Durchforschung; er erkannte den Glauben
nicht an, der sich nicht auf den Gedanken gründe, in einem
jenseitigen Leben möge ein reines Anschauen gelingen, hier
auf Erden sei man angewiesen, die Mysterien auf einen In-
halt zu beschranken, der nichts Vernunftwidriges enthalte.
Es war in diesem Maasse die erste Benutzung logischer Tha-
tigkeit zur erschöpfenden Gestaltung der Metaphysik: merk-
würdig genug, wie sein Hauptwerk zu dem Ergebniss kam,
die mera essentia sei nichts als die susceptibilitas contrario-
rum. Was blieb übrig von Papst und Kreuzzügen, wenn die-
sen Grundsätzen der Baum gelassen wurde, ihre Consequen-
zen fortzubilden, sie auf die äusserlich vorhandene Kirche an-
zuwenden, auf Eroberung statt auf Selbsterhaltung auszugehen?
Niemand wird also die weltgeschichtliche Bedeutung des
Mannes in Zweifel ziehen, der diesem Strome sich in den
Weg stellte, und die öffentliche Meinung zu einer entschei-
denden Protestation gegen die neue Philosophie mit sich fort-
riss. Und nicht allein durch diesen Kampf hat der heilige
Bernhard sich den Anspruch erworben, zwischen Gregor VII.
und Innocenz III. als einzig ebenbürtiger Beförderer der ka-
tholischen Kirche genannt zu werden. Man hat wohl von Lu-
ther gesagt, er sei in allen Dingen maassgebend für die Rich-
tungen seiner deutschen Zeitgenossen gewesen; man kann
ahnlich von Bernhard behaupten, dass nichts Wesentliches
für die Haltung der damaligen Kirche existirt habe, wofür
seine Thätigkeit nicht feststellend geworden sei. Die kirch-
liche Philosophie bildete er fort, bis sie den Angriffen der
Scholastik gewachsen war und diese selbst in sich aufnehmen
konnte; dem Verfalle der Askese steuerte er, indem er den
verweichlichten Gluniacensern die Ordnung von Glairvaux und
Cibeaux entgegensetzte; für die Einheit der Hierarchie wurde
er in grossartiger Weise thätig, als gegen Innocenz II. sich
der Gegenpapst Anaklet anfangs mit bedeutenden Aussichten
1
204 Ueber den zweiten Kreuttug.
erhob. Auf das Wort des hinfälligen und zarten Mannes
horchte die Bevölkerung des gesamroten Abendlandes; seine
Briefe, in denen überall der Zierlichkeit des Styls, der Genau-
igkeit und nicht selten der Sentimentalität der Bilder eine
sichtliche Mühe gewidmet ist, gingen durch die Länder, der
Lebensathem eines herrschenden überall unwiderstehlichen
Geistes. Er wehrte jede Beförderung, die ihn den Mauern
von Clairvaux entrissen hätte, hartnäckig von sich ab; aber
auf dem Stuhle zu Rom sass Eugen HL, der eine unbedingte
Ehrfurcht vor dem Abte beinahe für seine grösste Tugend
hielt. Wahrlich nicht zu seinem oder der Kirche Schaden.
Bernhard hat einmal die Kirche gegen äussere Angriffe und
innere Spaltungen siegreich vettheidigt; er hat ferner — und
dies bezeichnet ihn näher — sie in Wahrheit fortgebildet, in-
dem er nicht fanatisch gegen Gultur und Politik, wie Gre-
gor Vll. und etwa Lanfrank , einen Vernichtungskampf ver-
suchte, sondern die Gegner auf ihrem eigenen Boden zu schla-
gen bemüht war, und die fremden Elemente durch Assimi-
lation der Kirche unterwarf. Es ist klar, dass nur auf diesem
Wege die Beherrschung der Welt erreicht werden konnte,
wenn auch Tür den Augenblick die Bewegung langsamer, die
Tendenzen verwickelter wurden.
Auf diesen Augenblick kommt es uns nun aber gerade
an. Möglich war ein neuer Kreuzzug noch immer auf den
alten Grundlagen. Nur darüber kann man sich nicht täuschen,
auf so reinen und geraden Linien wie 1096 war nicht zum
Ziele zu gelangen. Mit einer Menge verschiedener Elemente
musste man sich auseinandersetzen: einem einfachen fana-
tischen Glaubensaufruf hätte der vielfach abgezogene Geist
dieser Zeit schwerlich gehorcht, in dem Verlaufe des Unter-
nehmens war der Berührung mit festen politischen Grössen
nicht auszuweichen.
Ich brauche hier nun nicht zu wiederholen, welche Ver-
flechtung äusserer Ereignisse den Krieg unmittelbar hervor-
rief. Auf der einen Seite der Fall Edessa's, dessen Kunde
in allen . Ländern .eine schmerzliche Aufregung verursachte,
auf der anderen Seite die Zerknirschung König Ludwig's VII.
lieber den zweiten Kreuzzug. 205
der nach einer Zeit entschiedenen Widerstandes gegen die
Kirche endlich durch die Kriegsgräuel in Vitry zur Reue und
Busse geführt wurde. Er veranlasste die erste Kreuzpredigt
auf dem Concile zu Bourges, December 1145, und wirkte dann
bei dem Papste die Vollmacht Tür den St. Bernhard aus,
Ostern 1146 zu Vezelai in gleichem Sinne die Völker aufzu-
rufen. Dem gehorchte dann halb Frankreich, eine Masse deut-
scher Schaaren, zuletzt König Konrad III. selbst, so dass im
Frühling 1147 zwei gewaltige Heere in Metz und Regensburg
zum Aufbruche bereit standen. Fassen wir die Motive, wel-
che einen so mächtigen Aufschwung bedingten, etwas näher
in das Auge.
Zunächst Edessa. Hat dessen Verlust in der Tbat den
syrischen Christen völlige und schleunige Vernichtung gedroht?
haben sie wirklich, durch solche. Furcht bestimmt, Gesandt-
schaften in den Occident geschickt, um eine ausserordentliche
Hülfe aufzubieten? Lieber die Wichtigkeit Edessa's für die
bleibende Behauptung Palästina^ habe ich früher geredet;
nichts wäre begreiflicher und richtiger als eine solche Besorg-
niss und eine ihr entsprechende Maassregel gewesen. Aber
auch hier ist von dem uns Begreiflichen in jenem Jahrhun-
dert selbst nichts zu entdecken. Der letzte Graf von Edessa
selbst, Joscelin II. hatte die Stadt seit Jahren verlassen, ihre
Befestigung vernachlässigt, ihre Besatzung vermindert. Fürst
Raimund von Antiocbien, den nach dem Verluste die nächste
Gefahr treffen musste, wies jede Bitte um Beistand mit Scha-
denfreude zurück. Die Regierung von Jerusalem, anstatt nach
dem Falle alle Kräfte zur Deckung der hart geschädigten Nord-
grenze aufzubieten, verwickelte sich in nutzlose Streitigkeiten
mit Damaskus und Boszra. Endlich der Sieger selbst, durch
uns unbekannte Ursachen gehindert, dachte nicht im Minde-
sten an eine kräftige Benutzung seines Gewinnes. Der Schlag
war gefallen, darnach herrschte im Oriente tiefe Ruhe, fried-
liche Stille, wie sie lange nicht gewesen. Ein syrischer Bi-
schof ging nach Rom, um beim Papste ein Urtheil über Zehnt-
processe zwischen König und Kirche auszubringen; er hatte
die Absicht, nachher auch in Frankreich und Deutschland
206 lieber den weiten Kreuszug,
Werbungen für den Orient zu versuchen. Wir wissen, dass
deren seit den Zeiten Balduin's I. fast ununterbrochen im
Gange waren ; dass der Bischof nichts Weiteres und Umfas-
senderes im Sinne trug, scheint mit Bestimmtheit daraus zu
erhellen, dass er bei den wirklichen Verhandlungen selbst,
die in ausführlicher Genauigkeit uns vorliegen, an keiner Stelle
vorkommt, dass Wilhelm von Tyrus seiner überhaupt gar nicht
gedenkt und als Anlass des Kreuzzuges nur die unbestimmten
höchst übertriebenen Gerüchte bezeichnet, welche sich im
Abendlande nach dem Falle Edessa's verbreitet hätten. Er
weiss das aus den Gestis Ludov. VII., welche er überhaupt
diesem Theile seiner Geschichte zu Grunde legt: wie wäre
es denkbar, dass eine formliche Gesandtschaft von solcher
Wichtigkeit ihm entgangen wäre? Jener Bischof ist zunächst
zu dem Papste gekommen; den Gedanken des Kreuzzuges
fasst aber der Papst erst auf die Anregung Ludwig's VII.
Dass der Gesandte die Absicht hatte, auch diesen König zu
besuchen, wissen wir nur durch Otto von Freisingen: als
Beweggründe, welche den König zur Heerfahrt bestimmten,
nennt derselbe Schriftsteller aber ganz andere Dinge. Es bleibt
nur eine Notiz der Chronik von Morigny, dass Gesandte von
Antiochien und Jerusalem nach Frankreich die Bitte um Hülfe
gebracht hätten. Dass sie zum Könige gekommen, dass sie
von ihrer Regierung geschickt worden, davon wird nichts ge-
sagt: ich kann sie nur zu den Menschen rechnen, welche Wil-
helm von Tyrus bezeichnet: es fanden sich Manche, welche
jene Gerüchte weit und breit in allen Ländern und Provin-
zen verbreiteten. Sie verhalten sich also zu den eigentlichen
Veranlassern des Kreuzzuges, wie ein halbes Jahrhundert frü-
her Peter der Einsiedler und seine Genossen zu Papst Ur-
ban IL und der an diesen abgeordneten griechischen Gesandt-
schaft. Jedenfalls entbehren die Gompositionen, zu welchen
Wilken und Michaud jene Nachricht der Chronik und die
Worte Otto's über den syrischen Bischof benutzen, aller po-
sitiven Begründung.
Doch wozu solche Reihe von Schlüssen, wo ein höchst
positives Zeugniss in ganz entscheidender Bündigkeit redet?
Ueber den »weiten Kreuzzug. 207
Im Anfange des Jahres 1139 hatte Ludwig VII., durch seine
morgenländischen Erfahrungen keinesweges abgekühlt, den
Plan in Spanien zur Ehre des Kreuzes die Ungläubigen zu
bekämpfen. Auf seine Anfrage lobte Papst Hadrian die fromme
Absicht, unterliess aber nicht zu warnen: der König habe sich
ja gar nicht über die Meinung .der spanischen Christen er-
kundigt, ob man seiner gerade jetzt bedürfe, ob er gerade in
diesem Augenblicke auch nifr gelegen komme; Ludwig möge
sich erinnern, wie er einst mit König Konrad, ohne das Volk
des Landes um Rath zu fragen, die Fahrt nach Jerusalem be-
gonnen, und wie daraus für alle Theile nur Unglück entstan-
den sei. — An eine Gesandtschad also der Syrer an die Kö-
nige von Deutschland und Frankreich ist so wenig zu den-
ken, dass man jene vielmehr durch das Unternehmen vollständig
überraschte; es war eine ganz von innen heraus entsprungene
Regung abendländischer Andacht, die auf die Kunde von dem
Unglücke im heiligen Lande zu den Waffen, trieb. Es war
noch immer die Gesinnung von 1100 und 1120, die nichts An-
deres wusste als di« Feinde Christi mit der Schärfe des Schwer-
tes zu treffen: dass jetzt dort am heiligen Grabe ein bedeu-
tender Staat mit allen denkbaren Interessen der Politik, des
Krieges, des irdischen Daseins existire, dass dieser auf die
verschiedenste Weise von dem Unternehmen, je nachdem man
es einleitete, berührt werden könnte, deren dachte man nicht
im Mindesten, oder schlug es neben jenem Hauptzwecke zu
gar nichts an. Schwer hat man es gebüsst; Sieg und Seligkeit,
wie sie der erste Kreuzzug gebracht, waren dem zweiten nicht
bestimmt: in jenem hatten die mystischen Kräfte ganz freie
Bahnen gehabt, in diesem standen unabweisbare weltliche
Momente im Wege, die man weder zu umgehen noch zu
sprengen verstand.
Was nun den eigentlichen Helden der Kreuzpredigt von
11*46 betrifft, den heiligen Bernhard, so ist es oft angeführt
worden, dass ursprünglich seine Begeisterung für diesen Krieg
nicht eben im vollsten Strome daherrauscbte. Früher hatte
er Manchem gesagt, es sei besser in der Heimath ein Leben
des Glaubens und der Heiligkeit zu führen, als in der Fremde
208 lieber den weiten Kreuzzug.
des Orientes umherzuschweifen; ein wohlgehaltenes Kloster
sei ebensowohl eine Pforte des himmlischen Jerusalem, als
die irdische Stadt desselben Namens. Als König Ludwig ihm
seine Pläne eröffnete, wies er ihn an den Papst, und mahnte
ab, ohne dessen Gutachten ein solches Werk zu beginnen.
Erst auf den Befehl dieser, höchsten Behörde übernahm er
die Hission selbst die Völker unter die Waffen zu rufen.
Niemand wird nun bezweifeln, dass er einmal die Sache be-
gonnen mit Kraft sie betrieben habe: wie mächtig seine Rede
und der Ruf seiner Wunder gewirkt, zeigt mehr als jede Quel-
lenaussage der unabsehbare Erfolg. Bei alle dem aber, welch
ein Gegensatz zwischen der Beredtsamkeit seines Rundschrei-
bens, des einzigen uns erhaltenen Denkmales und dem Schwünge
Von 1094, wie er in den verschiedenen Meldungen von der
Rede Urban's II. zu Tage liegt. Hier ist eine mächtige Ein-
fachheit, die mit formloser Begeisterung auf die Sache unauf-
haltsam losschreitet; dort fehlt es nicht an Eifer und Grün-
den, aber niemand wird neben dem Glaubensprediger den in
seiner Weise vollendeten Schriftsteller verkennen. Es bewegt
sich, sagt er, und zittert die Erde, weil der Herr seine Erde
verloren hat, seine Erde sage ich, wo seine Füsse gestanden,
seine Erde, die er mit Wundern gesegnet, mit dem eigenen
Blute geweiht hat, wo die ersten Blüthen der Auferstehung
erschienen sind. Dort brechen jetzt durch unsere Sünden die
Feinde des Kreuzes ein. So geht es weiter durch das ganze
sehr umfangreiche Schreiben. Er wirft sich die Frage auf,
warum Gott nicht gleich die Legionen seiner Engel zum
Kampfe schicke, und antwortet: Gott sage ich versucht Euch
und hat Erbarmen mit Euch, seht da, mit welcher Kunst er
Eure Erlösung bereitet und staunt und schaut die Tiefe sei-
ner Gnade. Denn was ist es als eine ausgesuchte und nur
von Gott zu erfindende Gelegenheit zur Seligkeit, dass er
Mörder und Räuber, Ehebrecher und Meineidige wie die Ge-
rechten zu seinem Dienste beruft? — Er dachte schwerlich,
als er diese ausgesuchten und nur von ihm zu erfindenden
Wendungen niederschrieb, zu wie traurigen Folgen er hier
die Masse der Sünder für den Krieg der Heiligen aufbot, welch
lieber den zweiten Kremzug. 209
ein Gesindel sich zu dieser Gnadenpforte eindrängen, und wel-
chen Gebrauch es von Gottes Erbarmen in Bulgarien und
Constantinopel machen würde. Vielmehr muss die Form die-
ser in zahlreichen Abschriften verbreiteten Epistel ihn selbst
nicht wenig befriedigt haben; denn in einem Privatschreiben
an Kaiser Manuel, worin er einen französischen Adligen em-
pfiehlt, wiederholt er die meisten jener Sätze, und führt den
Schluss noch weiter aus: das Grab, wo die jungfräuliche Blü-
the der Maria mit Leintüchern und Wohlgerüchen niederge-
legt, aus welchem die erste und grösste Biüthe auf unserer
Erde wieder erstanden ist. — Es ist die Manier, die er in
allen seinen schriftstellerischen Leistungen nicht verläugnet
hat, eine ganz sentimentale Gesinnung trifft hier zusammen
mit grosser stylistischer Gewandtheit; daraus folgt eine Su-
perfötation der Formen, ein Ueberfluss der Bilder, eine zu-
weilen witzelnde Masse der Antithesen, welche seinen Zeit-
genossen freilich angemessen war, aber überall das Gegentheil
von unbefangenem Hingeben an den Stoff bezeichnet Welch
ein Herzeleid war es ihm, als ein junger Verwandter, den er
sorglich gepflegt, von ihm zu den Gluniacensern abfiel, und
welche Blüthen der Redekunst treibt dieser Schmerz hervor.
Stehe auf, gürte dich, rüste die Kräfte, ende die Trägheit,
rühre die Arme, löse die Hände. Sei es meine Schuld, wie
du sagst und ich nicht läugne, oder deine, wie Viele glauben,
obgleich ich nicht klage, oder meine und deine, wie ich eher
glaube, jetzt, wenn du nicht zurückkehrst, wirst du allein
nicht schuldlos sein. Oder, wenn er nicht Lust hat, um ir-
gend eines päpstlichen Auftrages willen seine klösterliche Be-
schaulichkeit zu verlassen, wie rund und pracis entgegnet er:
leichte Geschäfte kannst du ohne mich, schwere nicht durch
mich beenden; wäre ich ein bedeutender Mensch, hätte Gott
wohl mein Licht nicht unter den Scheffel eines Klosters gesteift.
In einer seiner grössten Lebensfragen, in dem Streite mit
Abälard, mit welcher behaglichen Sorgfalt putzt er die heftig-
sten Streitschriften heraus. Moses befiehlt, sagt er einmal,
wenn eine Streitfrage entsteht, so tragt sie dem Hur und
Aaron vor. Ich meine den Moses, der im Wasser kommt,
210 lieber den »weiten Krewusug.
nicht blos im Wasser, sondern auch im Blut Ich mein«
den Eifer und das Ansehen der römischen Kirche, das ist
unser Hur und Aaron, dahin bringen wir unsere, nicht Fra-
gen, sondern Schaden des Glaubens. Er beschreibt dann den
Uebermuth und die wissenschaftliche Methode des Abälard,
daher kommt es, fahrt er fort, dass das Osterlamm entweder
gegen Gottes Vorschrift in Wasser gekocht oder roh zerrissen
und gebissen wird. Ich dachte nicht, sagt er in Bezug auf
das eben geendigte Schisma, dass aus den ausgebrochenen
Dornen neue herausbrechen würden, dass wir dem Löwen
(dem Petrus Leonis) entronnen, dem Drachen zur Beute wür-
den. Unsere Thranen fliessen, denn es spriessen mächtig die
Sünden hervor. Er beschreibt dann den Goliath, den Käm-
pfer von Jugend auf, die gallische Biene, welche den Herrn
und seinen Christ umschwirrt, die ihren Bogen spannt und
ihren Pfeil in Bereitschaft hält. In ähnlicher Weise redet er
im reichsten Style über Arnold von Brescia, den Menschen,
den Brescia ausspie, Born verabscheute, Frankreich zurück-
stiess, Italien nicht behalten wollte, der nicht blos ein schlauer
Fuchs im Weinberge, sondern ein grosser Wolf in der Hürde
Christi sei, der zwar im Leben massig und auf Fasten bedacht
sei, der aber mit dem Teufel speise und nach dem Blute der
Seelen durste. Er empfiehlt einen Unterdrückten dem Könige
Roger: gieb Gott deine Ehre, dass du sie nicht verlierest, oder
dich von ihr verlierst; höre den Lieberbringer dieses Briefes
an, den nicht die Begierde zu dir fuhrt, sondern die Noth,
nicht seine, sondern der Seinigen Noth, vieler Diener des
Herrn, die ihn gesandt haben.
Doch ich kürze eine Abschweifung ab, deren Inhalt ohne
irgend eine Mühe ein blosses Blättern in seinen Schriften er*
geben und vervollständigen kann. So häuGg bei seinen Zeit-*
genossen Anklänge dieser Manier erscheinen, so wird man ihn
doch auch hierin seiner ganzen Stellung nach mehr schöpfe-
risch für, als bedingt durch den Zeitgeist nennen, um so mehr
als in Autoren wie Abälard, Wibald und Otto von Freisingen
ganz andere Bichtungen zu Tage treten. Kein Stoff vermag
ihm neben der Begeisterung die Besonnenheit ganz zu ver-
tfeber den zweiten Kreuzzug. QU
drängen. Wie weit ist er von dem stürmenden Drange von
1094 entfernt, wenn er seine Kreuzfahrer zu kriegerischem
Gehorsam und soldatischer Ordnung ermahnt, wenn er erin-
nert, in dem ersten Kreuzzuge sei, wenn er nicht irre, ein
gewisser Peter aufgetreten, und habe das Volk vernichtet,
welches ihm leichtsinnig folgte, wenn er tadelt, ganz wie der
Abt von Glugny, dass man die Juden vor ihrer Bekehrung
tödte, statt sie zum Besten des Kreuzzuges zu besteuern.
Endlich wie charakteristisch ist folgende Aeusserung seines
Begleiters bei den Kreuzpredigten, des Mönches Philipp: in
Chalons kommt Bernhard mit König Ludwig zusammen, dort
sind viele französische und deutsche Fürsten, so wie Gesandte
König Konrad's und Herzog Weif s anwesend, um gemeinsam
den Krieg zu berathen; durch diese Gespräche wird Bern-
hard zwei Tage abgehalten, zum Volke hinauszugehen, zu
seinem Scbmerze, aber das Gemeinwohl ging allerdings vor.
Er war eben thätig als gewissenhafter Beamter der Kirche
mit allen Kräften aber nicht mit eigenem Feuer; er hat, sagt
Geufrid, trotz königlicher Aufforderung, trotz päpstlicher Bit-
ten das Werk erst übernommen, als ein amtlicher, öffentli-
cher Brief des Papstes ihn zum Organe der römischen Kirche
in dieser Sache ernannt hat.
In diesem einen ausserlichen Umstände, in dieser offici-
ellen Wichtigkeit des Papstes ist also noch die Weise des
ersten Kreuzzuges unverändert; der Papst ist der eigentliche
Vorsteher und Feldherr des Krieges. Michaud hat dies in
Bezug auf 1094 in etwas übersehen ; er sagt, damals sei über-
haupt gar keine Organisation vorhanden gewesen, nur die
Einstimmigkeit der Begeisterung habe jene Massen zusam-
mengehalten und geleitet. Das Letzte ist richtig, wenn man
die inneren treibenden Impulse angeben will, das Erste ist
ungenügend, denn der päpstliche Legat Adhemar wird so aus-
drücklieh wie möglich als der Anführer des Heeres bezeich-
net. Es war kein König dabei, heisst es wohl in den Quel-
len, Christus selbst war Feldherr — der Papst, welcher auch
sonst als der Vertreter des Heilandes galt, war nicht minder
an dieser Stelle sein Organ. Das Heer war im eigentlichen
212 lieber den »weiten Kreu%%ug.
Sinne eine römisch-päpstliche Bewaffnung, rührte päpstliche
Fahnen und wurde dem Kaiser Alexius nur durch päpstliche
Schreiben empfohlen. Im Jahre 1146 wurde das Verhältnis*
der Form nach nicht geändert. Ludwig nahm das Kreuz erst
auf päpstliche Erlaubniss; erst durch den Papst wurde das Heer
der französischen Kreuzfahrer, die doch schon vor der Wall-
fahrt dem Könige verpflichtet waren, angewiesen, demselben
zu gehorchen; der Papst erliess ein tadelndes Schreiben an
Konrad III., dass er das Kreuz ohne Anfrage in Born aus
Bernhard's Händen genommen, obgleich sonst Bernhard ja
nur als römischer Bevollmächtigter handelte. So wenig zwei-
felhaft schien dieser Anspruch, dass Konrad nichts antwortete
als dass der beilige Geist wehe, wo er wolle, und keinen
Baum lasse um den Papst oder sonst jemand zu Bathe zu
ziehen. Dennoch hatten die Dinge in ihrem innersten Be-
stände sich auch nach dieser Seite wesentlich geändert. Es
war keine Bede davon, dass ein päpstlicher Legat den Zug
selbst mitgemacht, dass die Curie sich in die einzelnen An-
Ordnungen eingemischt hätte; nachdem sie den Königen die
allgemeine Vollmacht gegeben, fiel die Ausführung der welt-
lichen Macht ausschliesslich anheim. Eine Kreuzzugssteuer,
so weit sie auf die Geistlichen fiel, bewilligte der Papst, der
König aber bestimmte ihren Belauf und Umschlag. Alle Be-
clamationen, die in bedeutender Zahl uns vorliegen, grob, wei-
nerlich oder erhaben wie sie auftreten, geben nur an die
Beichsbejbörden. Wie bei dem dritten Kreuzzuge die Ver-
keilung der Bollen noch entschiedener zu Gunsten der Staats-
gewalten geschah, haben du Yeil und Michaud sehr gut er-
örtert; die Kreuzfahrt ist hier vollständig dem Organismus
des Feudalstaates anheimgefallen.
Das Wichtigste aber, sowohl zur Charakteristik als fär
den Ausgang des Kreuzzuges von 1146 ergab sich aus der
damaligen Beschaffenheit des europäischen Staatensystemes,
aus den politischen Beziehungen zwischen seinen vorwiegen-
den Mächten. Im Jahre 1094 waren diese entweder, wie
Deutschland, Frankreich und die italienischen Normannen pa-
ralysirt, oder standen dem Unternehmen, wie England, Spa-
lieber den »weiten Kreuzzug. 213
nien und der Norden völlig fern ; der Papst hatte höchstens
mit dem griechischen Reiche über die Freiheit des Durchzu-
ges zu unterhandeln. Umgekehrt herrschte 1190 ein grossar-
tiges Einverständnis in ganz Europa in Bezug auf den Kreuz-
zug; die Mächte, durchgängig durch kraftige Herrscher ver-
treten, klar darüber, dass man den Zweck nicht ohne seine
Mittel erreichen könne, ordneten ihre specielle Politik den
allgemeinen Ansprüchen der Christenheit und den vom Papste
angeregten Tendenzen der Kreuzfahrt vollständig und aufrich-
tig unter. Das einzige griechische Reich stand mit Saladin
in offenem Bündnisse; man war ihm indess gewachsen und
zum grössten Theile berührten die fränkischen Bestrebungen
seine Kreise gar nicht Bei dem ersten Kriege also hatten
Hierarchie und Askese das Feld allein, bei dem dritten war
die Politik, wenigstens im Beginn des Kreuzzuges, mit ihnen
verbündet. Wie aber stand dies Verhaltniss bei dem Gegen-
stande unserer Betrachtung, bei der zweiten grossen Schild-
erhebung des Abendlandes?
Wir müssen ausgehen von dem entferntest liegenden,
dafür aber für einen asiatischen Krieg zunächst in Betracht
kommenden Reiche, dem" byzantinischen. Das Haus der Co-
ronenen hatte hier kurz vor dem ersten Kreuzzuge eine not-
dürftige Ordpung gestiftet und mit eben aufkeimenden Kräf-
ten den Heeren Roemund's und Gottfriede gegenüber eine
leidliche Neutralität eingenommen. Die Normannen, unter
Guiskard schon von Apulien her seine gefährlichsten Feinde,
hatten aber diesen Krieg auch in Gilicien erneuert, und seit
dem .Jahre 1137 waren stets verstärkte griechische Demonstra-
tionen in diesen- Gegenden einander gefolgt. Kaiser Johann I.
stellte seinen Einfluss in K)$inasien mit Kraft upd Umsicht
fest, nöthigte Antiochien seine Lehnshoheit anzuerkennen, kam
aber, so lange er lebte, hier nicht aus der Stellung eines miss-
trauischen Beobachters heraus. Sein Sohn Manuel, ebenso krie-
gerisch wie sein Vater, unter einem äusseren Anfluge abend-
ländischer Ritterlichkeit eine rast- und rücksichtslose Politik
versteckend, erweiterte diese Erfolge, führte mehr als einen
glücklichen Krieg mit Sultan Masud von Iconium, und schloss
Zeitschrift f. <;«sebirlitsvr. IV. 1845. j/>
214 lieber den zweiten Kreutxug.
i
\
gerade 1146 mit ihm einen sechsjährigen Frieden, in dem-
selben Augenblicke, in welchem die unpolitische Religiosität
der Franzosen sich in die Bewegung des Kreuzzuges hinein-
warf. Dies Zusammentreffen, unglücklich genug, war aber
bei Weitem nicht das zumeist entscheidende.
Manuel, in. der Herrschaft über einen Staat, der durch
strenge Finanz- und künstliche Heerverwaltung eben neu
gekräftigt, die Grenzlander Asien's und Europa's umfessie,
fühlte sich als den Vertreter eben sowohl einer europäischen
als einer orientalischen Macht. Er hatte sich gegen Ungarn
und Russland durch vielfache Kämpfe in eine geachtete Stel-
lung gesetzt; noch bei Lebzeiten seines Vaters war er mit
der Schwägerin Konig Konrad's von Deutschland vermählt
worden; seit dem Bunde der beiden Kaiserhöfe gegen Gre-
gor VII. und Robert Guiscard war dies Verhaltniss eigent-
lich niemals erschüttert Ein dauernder Gesandschaftsverkebr
fand zwischen beiden Reichen statt, in Speier selbst, als Con-
rad das Kreuz nahm, war ein griechischer Botschafter in sei-
ner Umgebung. Zwei Punkte beschäftigten damals die ge-
meinschaftliche Aufmerksamkeit der beiden Regierungen. Ein-
mal der Tbronstreit in Ungarn, dessen vertriebener Erbe, Boris
der Sohn König Kalmanis', von beiden Regenten die Zusi-
cherung thätiger Hülfe erhielt, worauf der Krieg auf der deut-
schen Seite sogleich begann, Herzog Heinrich von Oestreich
und Baiern aber eine schlimme Niederlage erlitt Dann die
Widersetzlichkeit des Normannenkönigs Roger von Apulien
und Sicilien, der so eben mit dem Papste ausgesöhnt, eine
gegen Deutschland und Byzanz gleich feindselige Geltung be-
hauptete; gegen ihn hatte Conrad schon mit Manuel's Vater
Johann eii\ Bündniss geschlossen; er vergalt es durch enge
Freundschaft mit Herzog Weif, dem eifrigsten deutschen Geg-
ner Conrad's, der seinerseits «ogleich auch mit der feindli-
chen Regierung Ungarn's abschloss und so dem Bunde der
beiden Kaiserbofe eine unscheinbarere aber, darum oicht we-
niger gefährliche Allianz entgegensetzte.
An sich hatte bei einer solchen Lage des Reiches jede
weitaussehende neue Unternehmung bedenklich scheinen müs-
lieber den zweiten Kreuzmg. 215
sen. Hier kam nun hinzu, das* wie Conrad mit Manuel, so
Ludwig VII. mit Boger seit Jahren auf befreundetem Fusse
stand; die Normannen in Italien hatten die französische Hei-
math nicht vergessen ; kaum benachrichtigt von Ludwig' s Pil-
gerfahrt, sandte er Botschafter, welche ihn aufforderten, sei-
nen Weg über Apulien zu nehmen, Boger wolle sich selbst
oder seinen Sohn dem Zuge anschliessen. Indess hatte Lud-
wig auch in Deutschland, Ungarn und Ryzanz um Durchzug
und Verpflegung nachgesucht, aller Orten günstige Auskunft
erhalten, und demnach im Herbste i 146 festgestellt, ein Reichs-
tag solle im nächsten Februar zusammentreten und über die
Wahl des Weges entscheiden. Nun schloss sich, höchst un-
vermuthet, König Conrad selbst dem Unternehmen an, mit.
ihn] das Haupt seiner Gegner, Herzog Weif, und die Ver-
sammlung zu Etampes beschloss den Zug durch Ungarn, Bul-
garien und Bomanien. Auch hier waren normannische Ge-
sandte gegenwärtig; als die Entscheidung gefallen war, bra-
chen sie zornig und klagend auf: man werde die Tücke der
Griechen kennen lernen, ihr König wisse, wie er mit die-
sen stehe.
Hier schon war es klar, dass die Einlassung auf den
Kreuzzug zwar einen inneren Krieg zwischen Conrad und Weif
abwende, dass sie aber die Herstellung der deutschen Waf-r
fenebre gegen Ungarn und die Leistung der dem Boris zu-
gesicherten Hülfe unmöglich mache. Im Gegentheile, da für
das deutsche Kreuzheer der Weg nach Syrien gerade durch
Ungarn ging, so war ein schleuniges Abkommen mit der dort
bestehenden Regierung unumgänglich. Ebenso wenig konnte
bei der neuen Verbindung mit Ludwig VII. und Weif an eine
Bekämpfung Rogers gedacht werden, auch wenn Deutschland
etwa die Kraft für zwei Kriege zugleich besessen hatte. Die
Erfüllung der griechischen Tractate wurde also auf unbestimmte
Zeit hinausgeschoben, und Kaiser Manuel hatte um so mehr
Grund zum Unwillen, als der Anlass des Aufschubes in ei-
nem Unternehmen lag, welches Roger's Rundesgenosse an^
geregt, Roger mit seinem Rathe unterstützt, ja um Geringe»
unmittelbar gegen Constantinopel gelenkt hätte. Denn wer
15*
216 Veber den »weiten Kreuzzug.
möchte in Abrede stellen, dass wenn der Reichstag von Etam-
pes die Strasse von Apulien gewählt hätte, das Kreuzheer
von Boger sogleich in seinen griechischen Krieg verwickelt
worden wäre?
Bleiben wir einen Augenblick bei dieser Möglichkeit ste-
hen- Deutschland, durch Ungarn dann vom Kriegsschauplatze
getrennt, durch die Bekreuzung des Königs von einem An-
griffe auf Frankreich oder Apulien gehindert, hätte seinen
Bundesgenossen wohl im Stiche lassen müssen; schwerlich
wird man an der Eroberung Constantinopel's in diesem Falte
zweifeln können. Vielleicht hätte sich damals, als die christ-
lichen Beiche in Syrien noch bestanden, eine Latinisirung des
Morgenlandes mit besserem Erfolge als 1503 versuchen las-
sen; jedenfalls wäre es eine ganze Maassregel gewesen, ein
Krieg der Entschlossenheit, des Systems, der Gonsequenz.
Nun aber war dies Alles unmöglich; hatte König Conrad dem
Kreuzzuge zu Liebe seinen Angriff auf Boger unterlassen, so
bequemte sich der Kreuzzug dafür, mit Kaiser Manuel ein
friedliches Uebereinkommen zu versuchen. Nicht bios der
Papst, wie im ersten Kreuzzuge, sondern auch die beiden
Könige beschickten den Kaiser; dieser versprach freien Durch-
zug, Verkehr und Verpflegung, wenn, sie dieselben Bedin-
gungen eingehen wollten, welche die ersten Kreuzfahrer dem
Kaiser Alexius bewilligt hatten. Seine Gesandten trafen den
König Ludwig in Begensburg, man einigte sich vorläufig auf
guteis Einverständniss, verschob aber die Entscheidung über
die wesentlichen Punkte auf die persönliche Zusammenkunft
der beiden Souveraine. So viel man aus Odo's Bericht erse-
hen kann, war es nicht bewusste und hinterhaltige Feindse-
ligkeit, aus der man eine bindende Verpflichtung zu über-
nehmen weigerte : wie dem aber auch sei, Manuel war we-
nigstens den Franzosen gegenüber auf keine Weise gesichert
Ebenso hatte Conrad, so viel wir wissen, nur Frieden, nicht
aber Herausgabe der Eroberungen versprochen, indess mochte
Manuel bei ihm weniger dringend als bei Ludwig auf aus-
drückliche Garantien bedacht sein. Auf alle Fälle vereinte
er seine Truppen in den auf dem Wege des Kreuzheeres lie-
lieber den zweiten Kreuzzug. 217
genden Gegenden, eine Maassregel, die ihm Wilken als er-
sten Beweis seiner Feindseligkeit anrechnet, deren Unterlas-
sung aber, wie gar nicht ausgeführt zu werden braucht, hur
bei grenzenlosem Leichtsinne möglich gewesen wäre.
Wie gesagt ich zweifle gar nicht an der aufrichtigen Fried-
lichkeit der beiden Pilgerkönige gegen das griechische Reich.
In diesem Augenblicke aber trat unvermuthet das Schlimmste
dazwischen. König Roger von Sicilien, der noch so eben
nach Jerusalem mitzuziehen versprochen, der fortdauernd mit
Frankreich ein enges Einverständniss zur Schau trug, be-
nutzte die Vereinigung der griechischen Streitkräfte im Inne-
ren des Landes, und Gel mit seiner Flotte über die schwach
besetzten Seeplätze des Peloponneses her, welche dann ohne
grossen Widerstand seinen Waffen erlagen. Hiermit war —
niemand kann es verkennen — die Lage der Dinge auf das We-
sentlichste verändert: bei der griechischen Regierung war von
nun an die argwöhnische Vorsicht gegen die Kreuzfahrer nicht
blos entschuldbar, sondern eine Notwendigkeit. Wenn irgend
ein Mensch das Misslingen des Kreuzzuges verschuldet bat,
so ist es Roger von Sicilien, so ist es weiter der Papst oder
der König von Fratikreich, vorausgesetzt, dass diese im Stande
gewesen wären, jenen einseitigen Angriff zu hindern.
Dies Letzte wird wohl für immer unentscheidbar bleiben,
die blosse Thatsache aber, wie sie uns vorliegt, fuhrt auf die
allgemeinen Remerkungen, mit welchen wir begannen zurück.
Fünfzig Jahre früher oder später wäre jener Krieg Roger's
an sich eine Unmöglichkeit gewesen. Entweder hätte die
ascetische Begeisterung für das Morgenland sich mit verein-
ter Kraft zuerst auf Byzanz geworfen , wie es .Gregor's VII.
Plan gewesen, oder sie hätte, vertreten durch den Papst und'
die öffentliche Meinung, dem Könige das Schwert in demsel-
ben Augenblicke zu Boden geschlagen, in welchem er es er-
hoben. Jetzt aber gab es keine Volksstimme für den .heili-
gen Krieg, welche durch Kraft und Einheit sich für eine Got-
tesstimme hätte ausgeben können; neben den geistlichen Antrie-
ben von allgemeinem Gehalte behaupteten politische, weltliche,
beschränkte Interessen ihre Bedeutung. Der Boden, aus wel-
218 lieber den zweiten Kremzug.
ehern der Kreuzzug erwuchs, gehörte ihm nur halb, zur an-
deren Hälfte einem wesentlich verschiedenen Geiste 'an.
Unter solchen Vorzeichen bewegten sich die Massen des
deutschen Heeres langsam auf Gonstantinopel. In Ungarn, in
Bulgarien, bei dem Zuge über den Balkan war die Ordnung
erträglich, dann aber in den fruchtbaren Ebenen von Nissa
und Philippopel begannen die wildesten Excesse. Zweierlei
macht den Umfang derselben bei fortdauerndem Einverständ-
nisse zwischen Conrad und Manuel begreiflich: die Zusam-
mensetzung des deutschen Heeres, in welchem eine unend-
liche Menge nutzlosen Gesindels sich befand, und die Schwäche
des Königs, der hier die Truppen so wie später in Klein-
asren die Fürsten nicht im Mindesten zu bändigen vermochte.
Ueber Beides sind die Aussagen der griechischen und französi-
schen Quellen einstimmig. Manuel umgab den Heereszug mit
seinen leichten Soldtruppen, welche jede Ausschweifung be-
straften, alle Umherschweifenden niedermachten. Man kam
weiter und weiter, zuletzt bis zu förmlichen Schlachten; Rang-
streitigkeiten gesellten sich hinzu; zuletzt drohte Conrad, er
werde im Lande bleiben und im Frühling Gonstantinopel bela-
gern. Die Antwort war eine neue Niederlage einer deutschen
Abtheilung gleich darauf, als der König nach Asien übergesetzt
war, das Anerbieten eines neuen Schutz- und Trutzbündnisses.
Es kann nur gegen Roger gerichtet gewesen sein; Conrad, der
jetzt zum heiligen Grabe weiter musste und wollte, lehnte
es ab. Der ganze Zustand konnte ihm nicht anders als wi-
derwärtig sein; die Interessen seines Reiches forderten jenes
Bündniss durchaus; statt dessen sah er sich durch den ersten
falschen Schritt, durch die Kreuznahme, in eine ganz entge-
gengesetzte.Bahn geworfen, und musste endlich zufrieden
sein, wenn er nur einen völligen Bruch mit Manuel vermied.
Dieser Hess fär das Erste, tlureh die Ankunft des fran-
zösischen Heeres beschäftigt, das Verbältniss zu Conrad auf
sich beruhen. Das Schicksal des deutschen Heeres ist nun
bekannt, wie es durch eine unvorsichtige Theilung geschwächt,
durch nachlässige Marschordnung seiner Verpflegung beraubt,
zu neun Zehnteln von den Türken in wenig Wochen aufge-
lieber den zweiten Kreuzsug. 219
rieben wurde. Dass Manuel an diesen Unglücksfällen keine
Schuld trug, darüber beziehe ich mich auf Hammer's und
Lücke 's besonnene Darlegung, welche keinem Zweifel über
diesen Punkt mehr Raum lassen. Selbst der scheinbarste
Grund, mit welchem etwa Wilken seine Anklage verstärken
könnte: Manuel's Benehmen gegen Ludwig VII. zeige einen
jeder Treulosigkeit gewachsenen Charakter — selbst dies kann
oichts in Bezug auf die Deutschen erweisen, weil eben das
allgemeine Verhaltniss Manuel's zu den beiden Nationen völ-
lig verschieden war.
Der Schwerpunkt der griechischen Politik lag ein- für
allemal in dem Kriege gegen König Roger. Gegen ihn al-
lein konnte man ausdauern; ebenso hätte man allein mit Lud-
wig von Frankreich nichts zu fürchten gehabt. Alles aber
stand auf dem Spiele, wenn beide sich. gegen Byzanz verei-
nigten, und die nahe Möglichkeit eines solchen Bundes lag
offen zu Tage. Eine starke und keineswegs geheime Partei
vertrat ihn im Kriegsrathe Ludwig's, erinnerte an die eig-
nen Verhältnisse zu Roger, an die steten Händel zwischen
Griechen und Normannen, und forderte mehrmals den König
auf, zum Besten auch des heiligen Grabes sich mit Roger* s
Seemacht zur Bestürmung Constantinopel's zu verbinden. Die
Stimmung der grösseren Volksmasse bewegte sich ganz in
derselben Richtung, nur Ludwig's Sehnsucht nach Palästina
und der Mangel päpstlicher Vollmacht verhinderten einen
Ausbruch. Während also die Deutschen, zuchtlos und un-
bändig im Einzelnen, fast ununterbrochen mit den Griechen
im Hader lagen, fürchtete Manuel doch keine wesentliche
Schädigung von ihnen, weil er über Conrads Verhalten zu
Roger an sich hinlängliche Sicherheit hatte. Ganz umgekehrt
hielt Ludwig möglichst strenge Disciplin, Hess seine Barone
dem Kaiser den Lehnseid für die asiatischen Erwerbungen
leisten und wechselte mit Manuel festes Versprechen auf
Frieden und Freundschaft; trotzdem war Manuel nicht beru-
higt, weil er in Bezug auf Roger nicht die gewünschten Zu-
sicherungen erbalten hatte. Er forderte diese hier um so
unumwundener, je verdächtiger ihm die französisch-norman-
220 Ueber den zweiten Kreuzzug.
nische Freundschaft war ; die Ablehnung einer Allianz gegen
Roger war ihm hier keineswegs so gleichgiltig wie bei Con-
rad. Es war weder ehrlich noch grossherzig, unter diesen
Umstanden den Lehns- und Friedensvertrag zu schliessep; es
war eine Spiegelfechterei mit Eid und Gelübde, welche in
keiner Weise zu rechtfertigen ist. Auch erhellt kein rechter
Grund für ihre Notwendigkeit, denn das französische Heer
hatte damals Europa schon verlassen, und die dringendste
Gefahr für Gonstantinopel war "beseitigt: im Wesentlichen war
die Lage der Dinge beim Abschlüsse des Vertrages dieselbe
wie bei dem endlichen Ausbruche der Feindseligkeiten. Dass
dieser aber trotz der Vertrage erfolgte, dass Manuel noch an
demselben Tage mit den Türken die Verbindung eröffnete,
ihnen alle Schritte der Franzosen anzeigte, seine Streitkräfte
mit den Schaaren von Iconiym vereinigte, von dem Allen ist
der einzige Grund nicht eine längst vorbereitete Feindseligkeit
der Griechen gegen die Kreuzfahrer, sondern die Weigerung
Ludwig' s sich bestimmt über und gegen Roger zu erklären.
Zu dieser Weigerung mag nun der König die besten
und zwingendsten Gründe gehabt haben; ich behaupte auch
nichts weiter, als die trostlose Lage des Kreuzzuges von sei-
nen ersten Augenblicken an, in notwendiger Folge aus den
blos andächtigen und nicht auch politischen Vorbereitungen
desselben. Die Widersprüche entwickelten sich von Tage zu
Tage schneidender. Conrad, der mit dem Beste seines Hee-
res sich .zuerst an die Franzosen angeschlossen hatte, wurde
der Gesellschaft bald müde, und ging, nicht etwa nach Sy-
rien voraus, sondern auf ManuePs Aufforderung nach Con-
stantinopel zurück. Und hier kam dann, während Griechen
und Türken dem französischen Heere in Kleinasien bedeu-
tenden Abbruch tbaten, jenes Bündniss gegen Roger zu
Stande : sobald der Kreuzzug beendigt sei, wolle man gemein-
schaftlich mit den Venetianern die apulischen Normannen an*-
greifen. So, als griechischer Bundesgenosse langte Conrad
im Frühling 1148 in Palästina an, um hier neben Ludwig VII
dem Freunde der sieilischen Regierung, der so eben von Ma-
nuel die ärgsten Angriffe erlitten, den Krieg gegen die Seid-
j
lieber den zweiten Kreuzzug. 221
schlicken zu beginnen. Wie innig unter solchen Umständen
das Verbaltniss beider Könige sein konnte, bedarf keiner wei-
teren Ausführung.
Es ist nun um so weniger meine Absicht, den einzelnen
Verlauf der Kriegsereignisse zu erörtern, als ich Tür diese zu
Wilken's Darstellung wenig hinzuzusetzen hätte. -Nur in kur-
zen .Umrissen rufe ich die wesentlichen Seiten des syrischen
Zustandes in das Gedächtniss. Der grosse Impuls der reli-
giösen Eroberung, welchen das Jahr 1094 gegeben, kam mit
dem Tode Balduin's II. völlig ins Stocken. Die Zeiten Kö-
nig Pulko's und Balduin's III. charakterisiren sich im Ge-
gensatze zu jenen wenn auch nicht geistreichen immer aber
kriegerischen Königen durch eine friedliche, bewahrende, or-
ganisirende Gesinnung. Die städtische Verfassung, das Rechts-
system des Lehnwesens wird ausgebildet, ruhiges Geniessen
des einmal Gewonnenen mit möglichst geringem Aufwände
für die Vertheidigung zeigt sich als herrschende Stimmung,
der religiöse Drang, statt alle Adern des Zustandes zu erfül-
len, ergeht sich in eigenen abgesonderten Kreisen. In der
Wüste leben zahlreiche Einsiedler nach dem Muster Johan-
nes des Täufers, die Hierarchie bewegt sich in den Händeln
zwischen den Patriarchen von Jerusalem und Antiochien, in
der Auflehnung Radulfs von Antiochien gegen die römische
Oberhoheit. Was die politische innere Thätigkeit betrifft, so
ist es eigen, welche Wichtigkeit auf einmal die Frauen, ihre
Reize, ihre Launen und Jntriguen in diesem Reiche der As-
kese erhalten haben. Raimund von Poitou gewinnt Antiochien,
indem er sich mit den beiden berechtigten Erbinnen, mit Mut-
ter und Tochter gleichzeitig verlobt und erst vor dem Altare die
Mutter enttäuscht. Jerusalem kommt in die äusserste Gefahr
durch Hugo von Joppe, welchen der König zum Aufrühre
zwingt, nachdem er ihn fiir den Bevorzugten der Königin ge-
halten. Der jüngere Joscelin verliert Edessa, weil er, sonst
tapfer genug, ein glänzendes und schwelgerisches Leben mit sei-
nen Goncubined diesseit des Euphrat vorziqfct. Als die Kreuz-
fahrer 1147 das gelobte Land erreichen, ist längst keine Rede
mehr von einem systematischen Kriege gegen die eigentlich
222 lieber den »weiten Krewwug.
gefährlichen Gegner. In Jerusalem ist man eifrig bedacht,
die Grenze gegen Askalon durch eine Reihe von Castellen zu
decken, denn von dorther kommen freilich keine mächtigen
Angriffe, aber doch häufig genug störende Plünderungszüge
Indess hatte Zenki die Macht von Mosul, von Mesopotamien
und Aleppo in seiner Hand vereinigt, und dann auf zwei
Söhne vererbt, die mit einander in festem Verständnisse, den
Fanatismus der gesammten muselmännischen Bevölkerung ge-
gen die Christen aufzuregen verstanden. Nach dem Falle
Edessa's hielten sie Antiochien und Tripolis ununterbrochen
in Athem, Jerusalem war ihnen noch unzugänglich, weil Da-
maskus, die einzige selbstständige türkische Herrschaft zwi-
schen ihnen~und den Gegnern lag, und in ihren Vernichtungs-
krieg einzugehen, eben um der eigenen Selbstständigkeit wil-
len, wenig Lust bezeigte. Nichts wäre wichtiger für die Chri-
sten gewesen, als entweder mit dieser Stadt auf das Engste
sich zu verbünden, wozu sich nicht selten ein günstiger An-
lass ergab, oder sie um jeden Preis in ihren eigenen Besitz
zu bringen. Die Regentin aber, Königin Melisende, erkannte
diese Lage der Dinge so wenig, dass sie unmittelbar vor dem
Kreuzzuge einen Krieg gegen Damaskus erhob, nicht auf Ein-
nahme der Hauptstadt, sondern auf Besetzung eines südlicher
gelegenen Bezirkes gerichtet Unglücklich wäre es gewesen,
wenn es gelungen wäre.
Dass bei solchen Gesinnungen der Kreuzzug den Pullaoen
nicht eben erwünscht kam, ist nur das ganz Natürliche. Viel
lieber hätte man das Eintreffen kleiner Verstärkungen gese-
hen, mit denen man kleinen Anfällen der Türken ohne Aen-
derung des Systemes hätte begegnen können. Das Uebelste
war, dass ihrer Unthätigkeit bei den beiden abendländischen
Königen auch nur wieder die Begeisterung der Andacht und
keine vernünftige Auffassung irdischer Verbältnisse entgegen-
trat. Wollte Ludwig- bleibenden Nutzen stiften, so musste
er die Pullanen zu einem mächtigen Angriffe auf Nureddin
fortreissen, und#chon in Antiochien empfing er durch den
Fürsten Baimund die dringende Aufforderung zu einem sol-
chen Kriege, Gelang dieser, so fiel Edessa auf der einen,
lieber den »weiten Kreuzzug. 223
Damaskus auf der anderen Seite ganz von selbst in christli-
che Hände. Aber Ludwig wollte nichts hören und nichts
thun, bis er das heilige Grab gesehen habe. Raimund rächte
sich durch einen Liebeshandel mit der Königin von Frank-
reich, der in dem heftigsten Bruche zwischen beiden Fürsten
endigte. Einseitige Religiosität, fröhliche Genusssucht, Man-
gel an aller geistigen Besonnenheit, richteten hier wie an al-
len anderen Punkten die Entwicklung des heiligen Krieges
zu Grunde.
In Jerusalem wurde dann der Angriff nicht auf das ent-
fernte und gefährliche Aleppo, sondern auf die natürliche
Vormauer gegen Nureddin, auf das schwache Damaskus be-
schlossen. Der Emir wandte sich notbgedrungen um Hülle
nach Mosul; Balduin III. aber zürnte, als er vernahm, ein eu-
ropäischer Fürst solle die Stadt erbalten, wenn man sie ero-
bere. Zwischen beiden erfolgte hieraus ein geheimer Ver-
trag, weder Mosul noch die Franken sollten Meister von Da-
maskus werden, den Status quo, der ihnen sämmtlich an-
genehm sei, wollte man aufrecht erhalten. Damit wurden
die Hülfstruppen von Mosul überflüssig, die Fortschritte der
Franken wurden durch Verrätberei der Jerusalemiten hinter-
trieben. Die kleine Politik dieser Landesherren war der ge-
waltigen religiösen Bewegung des Morgen- und Abendlandes
Tür dieses. Mal noch Meister geworden. -
Darauf wurde christlicher Seits noch ein Angriff auf As-
kalon beliebt, als es aber zur Ausfuhrung kommen sollte,
fand sich Conrad zum zweiten Male von den Pullanen ver-
lassen, und schiffte sich mit erneutem Unwillen nach Con-
stantinopel ein. König Ludwig blieb noch bis Ostern 1149
auf dringendes Bitten wohl zumeist der mit ihm eng befreun-
deten Templer und segelte dann zurück nach Sicilien. Die
politischen Spannungen, an welchen hauptsächlich das Un-
ternehmen gescheitert war, stellten sich gleich nach seinem
Schlüsse in voller und gesteigerter Spannung heraus. Lud-
wig wurde unterwegs von der griechischen Flotte angebalten,
von der normannischen wieder befreit, Conrad schloss' so-
gleich mit Manuel ein neues Bündniss gegen den König Ro-
224 Heber den »weiten Kreu&zuy.
ger. Herzog Weif, unter dem Kreuzesbanner so eben mit
Conrad vereinigt, stellte ebenfalls noch auf dem Rückwege
seine Verbindung mit Roger wieder her, und. hinderte darauf,
wie vor dem Kreuzzuge, jede unmittelbare Einwirkung des
deutschen Königs auf Italien. Die Rückwirkungen dieser
Verwicklung wurden sogleich auch den syrischen Christen in
herbster Weise fühlbar.
Denn wenige Monate nach Ludwig's Abreise hatten sie
bereits die Strafe für ihre beschränkte Politik wahrend des
Kreuzzuges erhalten. Im Juni 1149 war Nureddin in das
Fürstenthum Antiochien eingebrochen, mit überlegener Macht,
hatte Raimund selbst in entscheidendem Siege erlegt, und das
ganze Gebiet überschwemmt. Ralduin HL rettete die Haupt-
stadt, konnte aber nicht hindern, dass Nureddin nach seiner
Willkür in der Landschaft schaltete und waltete. Auf die
Stunde dieser Niederlage zuckte noch einmal eine schwache
Bewegung der Theilnahme durch Frankreich. Mit dem Papst
im Einverstandnisse erhob sich wiederum der heilige Bern-
hard. Er hatte den Vorwürfen, die man an ihn wegen des
schlechten Erfolges „seiner" Kreuzfahrt richtete, nichts ent-
gegenzusetzen gewusst, als die Sünden der Pilger, welche
Gottes Zorn auf sich herabziehen mussteh, die Berufung auf
Moses, welcher trotz der Verheissung eben seiner Sünden
wegen nicht in das gelobte Land gekommen , endlich einige
Träume und Visionen, dass die Gefallenen denn doch "die
himmlische Seligkeit durch ihren Opfertod erlangt hätten.
Jetzt predigte er von neuem das Kreuz, aber die asketische
Begeisterung zeigte sich bedeutend herabgestimmt. Mit Mühe
kam eine schwach besuchte Versammlung in Ghartres zu
Stande, welche ihn zum Heerführer des oeuen Zuges erwählte;
er nahm es an, mit vollem Bewusstsein freilich, wie wenig
er einer solchen Aufgabe gewachsen sei, und bat den Papst,
er möge den Rathschluss des Himmels vorher über die Aus-
führung erforschen. In Wahrheit ruhte das Steuer der Sache
in anderen Händen, und richtete sich nach einem anderen
Ziele. Abt Suger- von St. Denys, der heftigste Gegner des
Krieges vor dem Kreuzzuge, der Reichsverweser Frankreichs
Ueber den zweiten Kreuzzug. 225
während desselben, betriteb jetzt das eigentliche Geschäftliche
der Angelegenheit in Verbindung mit dem Abte Peter dem
Ehrwürdigen von Clairvaux. Sieht man ihre Gorrespondenz
durch» so wird man nicht gerade die Redlichkeit ihres Vor-
gebens, dem heiligen Grabe zu Liebe ihre Rüstung zu be-
treiben, in Abrede stellen, wohl aber das Ergebniss erschei-
nen sehen, dass 1151 fast noch mehr als 1146 der türkische
Krieg auf das Engste mit dem griechisch-sicilischen verfloch-
ten wurde. König Roger erbot sich wieder, das französische
Heer zu empfangen und zu geleiten, König Conrad meldete
nach Byzanz, ganz Frankreich sei auf Betreiben Roger's un-
ter den Waffen gegen Constantinopel, der Papst drang in die
deutsche Regierung, ihr antikirchliches Bündniss mit Manuel
aufzugeben, der heilige Bernhard ermahnte Conrad, den si-
cilischen König durch keinen Angriff zu hindern, der Kirche
fernere grosse Dienste zu leisten. Endlich der Abt Peter
schrieb an Roger: „Wie viele Andere trauere auch ich über
euren Zwist mit Conrad, wir meinen, dieser schade den latei-
nischen Reichen und der Ausbreitung des christlichen Glau-
bens. Man sagt, die christliche Kirche sei vor allen Dingen
gegen die Saracenen zu (ordern, wir denken aber, noch "wich-
tiger wäre Frieden zwischen euch und Conrad. Denn schlim-
mer als die. Saracenen sind die Griechen, durch deren Ver-
rath die Blüthe von Gallien und Germanien umgekommen
ist. Unter dem Himmel «ehe ich keinen Fürsten, der so wie
ihr zur Rache geeignet wäre. Deshalb erhebe dich, ein an-
derer Maccabaus, bald hoffe ich über Conrad's 'Gesinnung
Günstiges mittheilen zu können." Es ist hiernach klar, dass
man den Griechen entscheidende Schläge zugedacht hatte:
dies setzt wieder die Absicht voraus, Roger durch französi-
schen Zuzug zu verstärken, da dieser für sich allein seit 1146
den Krieg nicht abgebrochen, stets glücklich, aber nie mit
grossen Erfolgen geführt hatte. Suger sammelte daneben
freilich auch Geld für syrische Kämpfe und sandte beträcht-
liche Summen kurz vor seinem Tode ab; König Ludwig selbst
trug sich mit ähnlichen Plänen. Aber die allgemeine Stirn-
228 lieber den »weiten Kreuziug.
dem geschichtlichen Gebiete des dritten Kreuzzuges angehört.
Dringende Vorboten des äussersten Ruins, so waren die letz-
ten Ergebnisse eines Unternehmens beschaffen, an welchem
die schwachen Seiten der mittelalterlichen Religiosität eben
so deutlich zu Tage treten, wie die Stärke derselben an den
Erfolgen des ersten Kreuzzug.es. Nur zu raschen, gewalt-
samen, augenblicklichen Leistungen war sie befähigt, nur den
Menschen, der seine niederen Triebe vernichtete und seine
höheren unentwickelt Hess, vermochte sie erfolgreich zu lei-
ten. Enthusiasmus, Abtödtung, Einseitigkeit waren ihre Grund-
bedingungen : darauf ist aber die fruchtbringende Ruhe eines
bleibenden Zustandes oder die systematische Behandlung ei-
nes mehrfach verzweigten Unternehmens nicht zu gründen.
Mit einer selbstständigen geistigen Entwicklung, mit den gros-
sen Factoren des irdischen Lebens, der menschliehen Wis-
senschaft, dem politischen Staate verstand sie es nicht sich
in Einklang zu setzen. Dadurch geschah es mit Notwen-
digkeit, dass ihre Bestrebungen zuletzt an den schlimmsten
Schwächen unserer Natur zu Grunde gingen.
Bonn.
i v. Sybel.
Heber den neuesten Stand der Gtesehlchte
der römischen Republik«
Ine Arbeiten auf dem Gebiete der römischen Geschiebte sind
seit Niebubr's erstem Auftreten zu einer Literatur angewach-
sen, welche die verschiedenartigsten Regungen der seitdem
verflossenen Zeit in einem verkleinerten Bilde umfasst In je-
nen drei Bänden römischer Geschichte liegt eine solche Fülle
allseitigen Lebens vor, dass sie bis jetzt noch nicht bis zum
Grunde ausgebeutet ist, in wie viel und wie verschiedene
Bächlein und Ströme auch sie nach allen Seiten hin abge-
leitet ward. So ist denn allerdings die Betrachtung dieser
Literatur an und für sich schon vom höchsten Interesse, den-
noch aber lässt sich dabei die Frage nicht unterdrücken, wa-
rum doch die meisten Arbeiter sich in den eng abgesteckten
Grenzen halten, auf die Niebuhr's Arbeit durch ein böses
Geschick beschränkt blieb, während er selbst, was ei; darin
geleistet, nur als die mühselige Vorarbeit zu einer viel schö-
neren Aufgabe betrachtete. Denn das lässt sich nicht leug-
nen, dass die meisten und bedeutendsten Erscheinungen auf
diesem Felde uns immer wieder zu Rom's Urgeschichten zu-
rückfuhren, und dass, wo man sich weiter hinausgewagt hat,
den Arbeiten jene belebende Anschauung des Ganzen noch
viel mehr als dort fehlt, wo Niebuhr's Beispiel zunächst lehrt,
dass man Volk und Staat immer sich lebendig vorhalten müsse,
um das Einzelne richtig zu beurtheilen. Diese Anschauung,
sagten wir, fehlt noch mehr für die späteren als die früheren
Zeiten, doch muss man leider auch in diesen den Mangel nur
zu oft empfinden. Man pflegt wohl Niebuhr bei pflichtschul-
ZtiUchrift f. Geschickt«*. IV. 184*. Iß
230 Ueber den neuesten Stand der Geschichte
diger Anerkennung seiner Grösse, den Vorwurf zu machen,
dass er sich. durch Zahlenverhältnisse zu gewagten Hypothe-
sen ohne Grund verlocken lasse und es würde doch nichts
leichter sein als aus den Arbeiten mancher solcher Tadler
Beispiele anzuhäufen, wie sie an ähnlichen Zahlenverhältnis-
sen ihre eigenen Einfälle ausgesponnen, während Niebuhr
mit dem Feuer und Leben seiner Anschauung diese Trüm-
mer alter Verhältnisse zu durchdringen strebte. Unter die
interessantesten Stellen des Niebubr'schen Werkes gehört
zweifelsohne der Abschnitt des dritten Bandes über die Cen-
sur des Fabius Maximus, darin er seine Ansicht von der Ver-
änderung der Genturienverfassung vorträgt. Er hatte Jahre
lang über diese Frage nachgedacht Wer diesen seltenen Mann
nur so weit kennt, als es uns jetzt vergönnt ist, nach seinem
Verdienste und seinen Erfolgen um die Geschichte Rom's,
nach seinem Ernste und seiner Freude bei ihrer Erforschung,
nach seinem tief bewegten Gemütbsleben, mit dem er die
grossen Männer der Vergangenheit liebte wie die Glieder
seines Hauses, und wer in eben diesem Falle es mitfühlt, wie
gerade hier all diese grossen und guten Regungen bei ihm
in Einem gesegneten Augenblicke lebendig wurden, dem muss
die wissenschaftliche Frage nur um so wichtiger und ernster
sich aufdrängen : hatte Niebuhr bei dieser Ansicht Recht? Ja
es giebt vielleicht keine Frage, die für die Verehrer seiner
Person anziehender, für seine Wissenschaft wichtiger, für die
ganze spätere Geschichte Rom's entscheidender wäre.
Sie ist in neuester Zeit zweimal verneint worden. Gott-
ling in seiner „Geschichte der römischen Staatsverfassung" und
Peter in seinen „Epochen der Verfassungsgeschichte der rö-
mischen Republik " haben beide dem Fabius das Verdienst
jener Veränderung der Verfassung nicht zugesprochen, son-
dern der erste diese Reformation hundert Jahre später in die
Censur des Flaminius, Peter sie unter die Oecemvirn gesetzt
Güttling nimmt als die Hauptabsicht bei dieser Verän-
derung an, die beiden getrennten Arten der römischen Volks-
versammlungen , die oligarchisohe der Centuriatcomitien and
die democratische der Tributcomitien auf eine verständige
der römischen Republik. 231
Weise zu verschmelzen, — „solche neue Combination all-
mahlig an die Stelle der beiden anderen treten zu ifessen, da-
mit Rom nicht mehr die einzige Erscheinung darböte, seine
inneren Angelegenheiten durch zwei nach ganz verschiedenen
Grundsätzen berufene Nationalversammlungen zu ordnen (381)."
Dass dieser Plan von Flaminius ausgeführt sei, dafür scheint
ihm der Umstand zu sprechen, dass vor seiner Censur die
Tribus bis zu 35 vermehrt waren, welche Zahl sie nicht wei-
ter überschritten. Denn in der Zahl von 350 Centurien, die
sich ihm, für jede der fünf Glassen in jeder Tribus 2 Centu-
rien seniorum und juniorum, ergeben, scheint ihm von vorn
herein eine bedeutsame Analogie mit den Tagen des Mond-
jahres gelegen zu haben, die früher gefehlt haben würde.
Später konnte die Einrichtung nicht fuglich gesetzt werden,
da sie schon in dem hannibalischen Kriege öfters erwähnt
wird. Flaminius aber wird der Ruhm derselben noch deshalb
besonders zugetheilt, weil Polybius bei Gelegenheit der galli-
schen Aeckervertheilung hinzufugt; „reciov ®Xccfiiriov Tavvqv
Tijv dfiikaycnylav slctj/tj^afi^pov xal noXvtklav" (2, 21) wo aber
offenbar dtifiayayla und noXiveia fast synonym gebraucht sind,
und durchaus kein Grund vorbanden ist, ihn in der ganzen
Stelle an etwas anderes als Aeckervertheilungen denken zu
lassen. Der circus Flaminius, die via Flaminia und die Be-
schränkung der Libertinen auf die tribus urbanae sind aller-
dings bedeutende Züge für die Stellung des Flaminius gegen-
über dem Volke und jener grossen Partei, die ihn im Senate
fortwährend anfeindete, aber dennoch gestehen wir, dass diese
eben so wenig hinreichen können ihm jene Ehre zu vindici-
ren als der Name des Maximus und dieselbe censorische
Maassregel Niebuhr hätte berechtigen können, dem Fabius
Bullianus sie zuzusprechen. Die Beschränkung der Freige-
lassenen auf die vier Tribus wird vor und nach Flaminius
zum öfteren erwähnt. In wie weit sie aber mit der Refor-
•
mation der Tribus selbst möglicher Weise zusammenhän-
gen konnte, um darüber etwas zu vermuthen, möchte es nö-
thig sein, die verschiedenen Nebenumstände zu betrafen,
unter denen sie wiederholt ward. Als Fabius Maximus sie
16*
23*i lieber den neuesten Stand der Geschickte
vornahm, war es offenbar die so oft geschmähte Censur des
Appius Cäecus, die ihn dazu bewog, das gewaltsame Auftre-
ten jenes Mannes, der von neueren und alteren Historikern
als ein Halbverrückter bis zu dem Augenblicke dargestellt
wird, wo er gegen Pyrrhus als der einzige und letzte Pfeiler
des römischen Stolzes dasteht und aushält.
Es sei uns gestattet bei ihm etwas länger zu verweilen;
für die Vergleichung des Fabius und Flaminius, der Niebubr'-
schen und Göttling'schen Ansicht kann es uns nur forderlich
sein. Wie gesagt, die Censur des Appius trieb ohne Zwei-
fel den Fabius zu dem, was er nur in seiner Censur durch-
gesetzt haben mag. Hier fragt es sich aber, was denn war
der Plan des Appius, den sein Nachfolger zu vereiteln trach-
tete. Er Hess die Söhne der Libertinen in den Senat, die
Libertinen durch alle Tribus, er verbot der Pfeiferzunft ih-
ren Festschmaus im Tempel der Ceres und liess die Potitier
ihr Familiensacrum auf dem Palatin abkaufen, endlich baute
er die Strasse und Wasserleitung, die seinen Namen führten.
Niebuhr meint, ausser der löblichen Absicht, die geschwächte
Bürgerschaft zu stärken, müsse bei ihm noch der Plan im
Hintergrunde gelegen haben, die Plebs gegenüber dem wan-
kenden Patriciate herunterzudrücken oder als Demagoge die
Tyrannis zu erringen. Es ist ein gehässiges Geschick, was
die Claudier bis jetzt in den bösen Ruf übelgesinnten Hoch-
muthes gebracht hat, von dem doch des Tiberius Gracchus
Schwiegervater stets namentlich ausgenommen werden sollte;
Wir, zweifeln selbst, ob ihn der Blinde verdiente. Allerdings
er wollte die Plebs umformen, eben diese Plebs, die trotz
der licinischen Gesetze den Schuldgesetzen fast erlag. Für
sie gab es verschiedene Wege zu einer besseren Stellung;
der Grundbesitz und Landbau hatten von jeher im römischen
Verkehr obenan gestanden und jede Eroberung musste ihn
durch neue Erwerbungen beleben. Dass aber das (Jeberge-
wicht der Reichen auf dem ager publicus schon damals den
freien Bauer drückte, und durch die lex Licinia keineswegs
vertat war, ist bekannt. Wie weit der römische Handel da-
mals reichte, davon darf man nach den Verträgen mit Carthago
der römischen Republik. 233
sieb keine zu geringe" Vorstellung machen. Die Freigelasse-
nen haben von je in Rom als Handwerker, Künstler und
Kaufleute den Verkehr des Marktes fast in Händen gehabt.
Damals war die nähere Verbindung mit Gapua noch neu,
nicht zu neu, als dass nicht durch den Verkehr mit dieser
grössten Handelsstadt Westitaliens auch der römische Handel
einen neuen Schwung erhalten. Appius, der seine Strasse
nach Gampanien führte, musste die Bedeutung dieser neuen
Verbindung wohl erkannt haben. Wenn er nun den alten
Zünften, wie der der Tibicines, sich feindselig erzeigte und
sie nicht minder als die Verbindungen der Gentilen von dem
öffentlichen Gultus zu verdrängen trachtete, wenn er Gneius
Flavius seinen Kalender veröffentlichen liess, konnte er dann
nicht in all diesem beabsichtigen, durch Unterdrückung der alten
gewiss unbehülfiiehen Zünfte den Verkehr zu heben und durch
Aufhebung hemmender und verhasster Privilegien den Frei-
gelassenen den vollen Verkehr zu eröffnen, damit sie ihm jene
neue Richtung gäben, die an die Stelle einer gedrückten Bau-
ernplebs eine wohlhabende Handwerkergemeinde setzen sollte?
Ein solcher Plan scheint mir allein des Redners gegen Ci-
nea's Anträge würdig, um so möglicher zu einer Zeit, wo die
städtischen Gemeinden fast überall nur in Handel und Ge-
werbe stark waren, 100 Jahre nachdem Dionys die Bürger-
rollen von Syrakus mit Freigelassenen angefüllt hatte. Dass
sich Fabius und die senatorische Majorität widersetzte war
natürlich, aber ob es ganz richtig war, wagen wir nicht zu
entscheiden. Fast 100 Jahre darnach aber scheint die Stellung
der Parteien umgekehrt zu sein "und wenn man gegen Appius
Lan<ft>au und Grundbesitz unter Fabius Führung vertheidigte,
so wurde von Flaminjus eben die ackerbauende Plebs, das
Uebergewicht des Grundbesitzes gegen die senatorischen Kauf-
herren in Schutz genommen. Wir dürfen uns hier nicht zu
weit verlieren; bemerken wir nur, dass Flaminius es war, der
nach seiner lex agraria die Freigelassenen in die vier Tribus
zurückdrängte und dass derselbe einen Claudier allein im gan-
zen Senate bei einer Rogation unterstützte, welche die Schiffe
der Senatoren auf eine Tonnenlast beschränkte, wie sie nur
234 Ueber den neuesten Stand der Geschichte
zum Hausbedarf hinreichte. Der erste punische Krieg, gegen
den Willen des Senates begonnen, hatte durch die Eroberung
der Provinz Sicilien den römischen Handel unendlich geho-
ben. Die nächstfolgenden Expeditionen geschahen zur Be-
festigung der römischen Seeherrschall; um ihre Vollendung
ward der Krieg gegen Hannibal gewagt, von Anfang fast bis
zu Ende mit entschiedenem Widerwillen des Volkes. Man
sieht leicht, dass Flaminius und Fabius, so ähnlich ihrer bei-
der Pläne sich waren, doch aus ganz verschiedener Stellung
auf ihr Ziel losgingen und dass bei der Frage, wer von ih-
nen die Genturienverfassung reformiren konnte, es sieh zu-
erst darum handle, aus wessen Stellung und bei gleichen
Zwecken, eine solche Veränderung notbwendig erschien. Wir
wollen also hier bei Seite lassen, dass die von Gottling an-
geführte Stelle des Polybius offenbar gegen seine Ansicht strei-
tet», in sofern der Historiker bei seiner ungeheuchelten Be-
wunderung der römischen Verfassung denjenigen ganz unge-
reimt als den ersten Demagogen und Volksverderber genannt
haben würde, der nach Gottling durch seine Anordnung der
Volksversammlung die Gestalt gab, in der sie wenigstens schon
zu Hannibal's Zeit bestand. Es bandelt sich hier darum, aus
welchen Gründen Flaminius oder Fabius sich bewogen (Üb-
len konnte, in dieser Form dem Grundbesitze und dem Bauer
eine Stellung zu sichern, darin er dem wachsenden An-
sehen des Handels und des Handwerkes Stand halten konnte.
Nach dem, was wir bisher vorgebracht, könnte man wirklich
zweifeln, ob überhaupt nach solchen Prämissen die Frage
sich entscheiden lasse. Während wir nun aber weiter ver-
gleichen, durch welche Entwicklung die beiden erwähnten
Verfasser ihre Ansicht zu begründen suchen, so finden wir
Niebuhr's tief durchdachter Darlegung gegenüber bei Gottling
die allgemeine Bemerkung, dass die Demokratisirung der Cen-
turiatcomitien und die Aristokratisirung der Tribuscomitten
die Aufgabe des Flaminius gewesen sei. Weiterhin nimmt
eine dreifache Erklärung über das Fragment der sept* Julia
aus dem capitolinischen Stadtplane den grössteo Theil der
Erörterung ein, merkwürdig genug für ein Werk, das sieb
der römischen Republik. 235
die ganze Verfassungsgeschichte Rom's bis auf Cäsar's Tod
zur Aufgabe stellte I
Das freilich geht aliein aus der Verschiedenheit der Zei-
ten hervor, in die beide Schriftsteller diese Veränderung setz-
ten, dass Göttling sie gleichsam als den todten Endpunkt ei-»
ner lebendigen Entwicklung betrachtet, welche Niebuhr im
Gegentheile eben durch sie gefördert und gestärkt glaubt
Eben dass die Zahl der Tribus damals geschlossen ward, fuhrt
jener als Grund für seine Ansicht an, während dieser die Re-
formation nur in der Aussicht durchgeführt glaubt, dass immer
neue Tribus hinzugefügt werden und wo möglich zuletzt die
ganze Kraft der italischen Stämme umfassen sollte. Wenn
wir es oben wagten, Appius gegen die Darstellung Niebuhr's
in Schutz zu nehmen und ihn gegen Fabius anders zu stel-
len als er bei ihm dasteht, so können wir dennoch uns auf
seine weitere Ansicht berufen. Der Unterschied würde nur
der sein,* dass nach unserer Vermuthung sie beide Lobens-
wertes gewollt und in der Wahl der Mittel allein einander
opponirt hätten. Es war nach Niebuhr die beständige Ver«
grösserung der Gemeinde durch neue Tribus, durch häufige
Verkeilung der Sympolitie, es war die veränderte Stellung
der Patricier, die Veränderung des Grundbesitzes durch die
lex Poetelia, die seit Servius Tullius eingetretene Steigerung
der Durchschnittspreise, es waren diese Gründe hauptsäch-
lich, die eine Veränderung des Wahlgesetzes namentlich zu
Fabius' Zeit wünschenswert machen mussten. Es ist frei-
lich bei dieser Entwicklung manches als entschieden genom-
men, was bis jetzt noch vielfachem Zweifel unterliegt; den-
noch steht es wohl fest, dass die durchaus veränderte Lage
der Patricier und dass die immer zuwachsende Menge der
manieipes, dass endlich des Appius Gensur, des Flavius Wahl
und die früher erwähnten Wahlintriguen adeliger Factionen
eine Reform der Wahlversammlungen wünschenswerte machte.
Wie dagegen war der Stand der Dinge bei Flaminius? Censur
i»d was konnte ihn damals bewegen, eine Reform des Wahl-
gesetzes vorzunehmen, wie Göttling sie ihm zuschreibt? Dass
der Gegensatz zwischen Ackerbau und Handel damals nicht
236 Ueber den neuesten Stand der Geschickte
minder als zu Fabius' Zeiten herrsehte, das haben wir erwähnt;
wenn er indessen von Appius absichtlich hervorgerufen ward,
so war er nach dem ersten puniscben Kriege durch den Drang
der Verhältnisse immer gewaltiger geworden, der Handel und
Verkehr, der nach der Eroberung Sicilien's die Edeln beschäf-
tigte und bereicherte, hatte nach Appius' Plan in den niede-
ren Glasscn erstarken sollen. Es war nicht das Patriciat,
Flaminius bekämpfte, sondern die Nobilität in den ersten, le-
bendigen Anfängen ihrer Geldaristokratie. In dem gallischen
Kriege, darin er sich seinen ersten Triumph erfochten, den
sein Ackergesetz veranlasst hatte, hatten alle Völker Italiens
mit der unwandelbarsten Treue den Krieg für Rom geführt,
den der Senat umsonst zu hintertreiben gesucht hatte. Es
war derselbe Garvilius, der zu seinem Ackergesetee als Con-
sul billigend still geschwiegen und der später die Latinen in
den Senat bringen wollte. Aber nach Götlling sollte gerade
in der Reform des Flaminius die Zahl der tribus geschlossen
sein und somit absichtlich jene Ausschliessung der Rundes-
genossen festgesetzt, die später den marsiscben Krieg her-
beiführte. Nach Göttling sollte er, der im beständigen Kampfe
mit der Geldaristokratie wahrlich zeigte, dass ihn alte For-
men nicht schreckten, die alte Glasseneintheilung festgehalten
haben, indem er zugleich es wagte, die Rildung neuer Tri-
bus für die Zukunft zu untersagen. Ja diese Beibehaltung
der Glassen sollte er in der Weise durchgeführt haben, dass
für die Volksversammlung die Geldaristokratie der ersten
Glasse jetzt in den einzelnen Tribus die unteren Glassen be-
herrschen konnte, deren Gesammtmasse sie sonst bei den
Abstimmungen entweder in den Tribus haltlos unterlag oder
in den Genturiatcomitien geschieden und deshalb weniger
mächtig gegenüber stand. Wir können hier nicht die Frage
entscheiden, ob die neue Form der Tribus und Genturien
von Pantagath oder Faure, von Göttling oder Niebuhr richtig
erkannt ist, nur scheint unleugbar, dass mit jeder weiteren
Zergliederung der Gensusverhältnisse die Macht des Geldes
steigen musste und dass nach dem ganzen Charakter des rö-
mischen Volkes die erste Censusclasse , wenn sie in jeder
der römischen Republik. 237
Tribus die erste Stimme hatte, viel mächtiger sein musste ah
sie es bei dem numerischen Uebergewichte gewesen, das sie
bei dieser Veränderung jedenfalls aufgab. /
Niebuhr selbst hielt es für unleugbar, dass die Glassen
des Servius noch lange nach der Reform des Wahlgesetzes
bestanden, weshalb ihm Böckh mit Unrecht vorwarf, (MetroL
Untersuchungen S. 430) dass er bei Polyb. 6, 23 eine Bezie-
hung auf die Glassen durchaus leugne, nur insofern wollte er
diese Stelle nicht gelten lassen, als man in ihr ein Zeugniss
des Bestehens der alten Glasseneintheilung daraus für die
Comitien entnehmen möchte. - Wie er aber weiter seine An-
sicht vertheidigt, das wäre unnütz hier zu wiederholen, uns
genügt zu zeigen, wie haltlos die Göttling'scbe Ansicht von
dieser wichtigen Reform überhaupt und Niebuhr gegenüber
erscheint. Wenn es dabei auffallen musste, dass Göttling
seine Ansicht nur mit einem zum Thcil sehr allgemeinen Rä-
sonnement begründet, während Niebuhr nach Jahre langer
Ueberlegung in einer trefflich detaillirten Entwicklung zeigt,
wie ihn diese Frage in ihrer ganzen Wichtigkeit ergriffen,
so tritt uns dabei eine zweite Darstellung der Sache nahe,
in der dieselbe nach der ganzen Bedeutung ihrer Wichtigkeit
aufgefasst, aber nicht weniger abweichend von der Niebuhr -
sehen Ansicht beantwortet ist.
Wir erwähnten Peter's „Epochen der Verfassungsge-
schichte" schon oben. Der Verf. hat es sich zur Aufgabe ge-
stellt, eine Entwicklung der römischen Verfassung auf mög-
lichst sicheren Grundlagen zu geben. Seine Schrift soll zu
einem Schulbuche dienen, aber dabei ist es sein höchst lö~
benswerthes Bemühen, nur Data zu geben, die er selbst aus
der Flutb von Hypothesen und verschiedenen Ansichten als
sichere ausgewählt, selbst geprüft, zum Theil selbst gefunden
und hier zusammengestellt hat. Gewiss eine würdige und
schwierige Aufgabe. Der Verf. beschränkt sich auf die re-
publicanischen Zeiten, nur die Verfassung des Servius Tullius
musste er mit in seine Darstellung aufnehmen, um die Ge-
schichte der Republik bis zur Zeit des Decemvirats verstand-
lich zu machen. Den Decemvirn nämlich vindicirt er die
2S8 lieber den neuesten Stand der Geschickte
Wahlreform, die Niebuhr dem Fabius, Göttling dem Flami-
nius zuschrieb, so dass wir von dem letzteren als dem einen
zu dem Verf. als dem anderen Extrem hinübertreteo. Denn
weder später als jener noch früher als dieser wird man das
Factum setzen können. Der Gang der Untersuchung ist aber
bei Peter dieser, dass er zuerst vor allen der Ansicht Nie-
bubr's widerspricht, dass die Glassen des Servius Tullius nur
aus den Plebejern bestanden. Er glaubt in der ganzen Ge-
schichte der Republik bis auf das Decemvirat den entschie-
denen Gegenbeweis zu finden. Die fortwährende Unterdriik-
kung der Plebs scheint ihm bei Niebuhr's Annahme unmög-
lich. Erst nach dem Decemvirate hätten die Plebejer, die
bis dahin in den Classen gegen die Patricier zurückgestan-
den, an einen wirklich nachhaltigen Widerstand denken kön-
nen. Er sei möglich gemacht durch eben jene Reform der
Genturien und Tribus. Es ist hier nicht unsere Absieht, die
ganze Schrift des Verfs. Schritt vor Schritt zu verfolgen, ob-
wohl er sich wiederholt auf das Ganze seiner Entwicklung
als den bündigsten Reweis für seine Ansicht beruft. Es sei
uns erlaubt, bei diesem Anfange stehen zu bleiben und den
Verf. auf die einfache, gewiss unleugbare Thalsache aufmerk-
sam zu machen, dass die Legionen seit dem Anfange der Re*
publik bis zum Decemvirate von der Plebs allein gebildet wer-
den. Der Verf. erinnert $. 3 daran, dass vor Servius ein pa-
tricisches Heer von 1200 Rittern und 12000 Fusssoldalen
bestand und fragt §. 9 verwundert, wo denn bei ganz plebe-
jischen Glassen diese Streitmacht geblieben sei? Wir wissen
nicht, wie er es mit den Zahlenangaben aus dieser ersten
Zeit Rom's hält, aber das. scheint uns sicher, dass die Patri-
cier im Besitze einer solchen ihnen ergebenen Armee bei
allen Dienstweigerungen der Plebejer die Kriege der ersten
Jahrhunderte hätten auf ihre eigene Hand ausfechten können.
V^arum. hätten sie dann sich so oft der Gefahr ausgesetit,
eine Armee aufzubieten, in der aus gehorsamen Bürgern auf-
rührerische Soldaten würden? warum ferner hätten sie ein
solches Aufgebot noch als den Jeiebtesten Weg Ruhe zu er-
zwingen angesehen, wenn sie in einer Volksversammlung selbst
der römischen Republik. ?39
schon das Uebergewicht gehabt hätten, deren Beschlüsse nach
des Verfs. Ansicht einer zweimaligen Bestätigung von ihrer
Seite bedurften $. 12. Es wird nicht nöthig sein, diese Ein-
würfe mit Stellen zu belegen. Des Verfs. Absicht, auf siche-
ren Daten sich selbst einen schmalen aber festen Weg durch
die Irrgänge dieser Forschungen zu bahnen, verdient gewiss
Anerkennung, aber bei näherer Betrachtung drängt sich dann
doch gleich die Frage auf, ist eine lebendige Anschauung des
Gegenstandes möglich, wenn man die einzelnen Daten nach
ihrer streng kritischen Beglaubigung wählt oder noch mehr,
wo liegen die Grenzen dieser Kritik?
Der Verf. lässt bei seiner Entwicklung die agrarischen
Verhältnisse im Anfange wenigstens ganz unberücksichtigt,
obgleich er hier gerade sehr guten Aufscbluss darüber finden
konnte, wo denn die Patricier ihre dienten lassen moch-
ten, wenn der Fussdienst auf den Plebejern lastete. Wäh-
rend er dagegen bis zum Decemvirate die einzelnen Ereig-
nisse durchgeht, um aus ihnen ein patriciccbes (Jebergewicht
nachzuweisen, beabsichtigt er die Gesetzgebung der Decem-
virn als die Vereinigung eines Staates darzustellen, dessen
Theile durch die grössere Selbstständigkeit des Tribunats na-
mentlich aus einander getrieben wurden. Und so wird denn
für diese Vereinigung die Reform der Genturien als ein Haupt-
mittel hervorgehoben, so dass wir hier. zur Aussöhnung der
alten Plebs mit dem alten Patriciate dieselbe Form im An-
lange der Republik angewandt sehen, die bei Göttling am
Ende des lebendig republicanischen Staatslebens die Nobile
tat und eine vielfach schon verderbte Plebs gegen einander
ausgleichen sollte. Peter bemerkt, dass seine Ansicht aller-*
dings nicht neu sei, dass aber ihre Durchführung und Be-r
gründung im ganzen Gange der Verfassung zuerst von ihm
versucht werde. Er scheidet von vorn berein die neue An-*
Ordnung der Genturien von der neuen Art der Abstimmung
mit erlooseter Praerogativa und setzt deren Einführung zwi-
schen 292 und 218 vor* Chr. Und allerdings würde die Beibe-
haltung der alten Abstimmung eine so frühe Reform wenig-
stens erklärlich machen, wenn nicht eine solche Veränderung
240 lieber den neuesten Stand der Geschichte
unter den Decemvirn überhaupt unstatthaft erschiene. Der
Verf. meint, dass diese Veränderung und die ihr vorherge-
henden Kampfe selbst in den Auszügen des Livius nicht hät-
ten unerwähnt bleiben können. Aber die Veränderung blieb
doch unerwähnt, sonst brauchte es all dieser Beweise nicht;
und Spannungen, Streitigkeiten gingen nicht allein des Fa-
bius und Flaminius Gensur eben sowohl vorher als dem De-
cemvirate, sie haben nie fast aufgehört, nur dass die Geschieht-
scbreiber sie zum öfteren als unebrenvoll für einen oder den
anderen Stand übergingen. Gesteht der Verf. % 8 doch selbst
ein, dass auch nach dem Decemvirate Vorfalle sich finden,
wie er sie vor demselben brauchte, um die nachtheilige Stel-
lung der Plebejer daraus zu beweisen. Und zugegeben, dass
diese Stellung früher eine solche war, was war der Plebs
damit geholfen, dass die Genturienzahl der ersten Classe ver-
mindert ward, wenn die plebejische Armuth wirklich so gross
war, dass nicht die Selbstsucht ihrer Reichen, sondern die
fast allgemeine Hülflosigkeit des Standes sie den Patriciern
in den Genturien unterthan machte (?, 3)? dass jetzt wie wir
schon erwähnten die Tribus 'sich gewöhnten auch in diesen
echtplebejischen Gemeinschaften den grossen Besitz mit dem
Vorrechte der ersten Stimme vertreten zu sehen? Ja man
würde den Verf. leicht überfuhren können, dass diese Reform,
wäre sie damals in seinem Sinne vollfuhrt, doch eine Ver-
stärkung der Tributcomitien unnöthig gemacht haben würde,
wie sie gleich nachher in den leges Horatiae Valeriae gege-
ben ward. Das bat der Verf. offenbar selbst gefühlt und
deshalb stellt er die beiden Volksfreunde im grossten Ein-
verständnisse mit der Decemviralgesetzgebung dar, so „dass
die Grundlagen der Reform von den Decemvirn herrühren
und dass die Gonsuln des ersten Jahres nachher nichts tha-
ten, als dass sie die durch jene gemachten wesentlichen Ver-
änderungen der Verfassung den alten Formen derselben an-
passten" (S. 75). Er nennt diese Ansicht nur „sehr wahr-
scheinlich, denn über die Wahrscheinlichkeit hinaus lässt sich
der Beweis bei der Unzulänglichkeit der Quellen nicht stei-
gern." Aber, wie gesagt, ohne diese auf unzulängliche Quel-
der römischen Republik. 241
Jen gestutzte Wahrscheinlichkeit verliert seine Ansicht, von
vorn herein aus einer sehr unwahrscheinlichen Entwicklung
abgeleitet, den letzten Halt und uns wenigstens scheint es
sehr zweifelhaft, ob sie überhaupt irgend mehr Glaub Wür-
digkeit ansprechen könne als Niebuhr's Hypothese über die
eben damals neu eingefürhte Ordnung der Magistrate.
Es sind die beiden neuesten Ansichten über eine für die
ganze Verfassungsgeschichte so wichtige Reform, die wir hier
zu besprechen wagten. So sehr die beiden Verf. wenigstens
darüber differiren, zu welcher Zeit sie vor sich gegangen, so
stimmen sie eben darin wieder überein, dass sie sich nach
verschiedenen Seiten gleich weit von Niebuhr entfernen. Mit
welchem Rechte, das haben wir anzudeuten versucht, ohne
dass wir darauf eingehen wollten, Niebuhr's vortreffliche Dar-
legung seiner Ansicht nochmals zu wiederholen. Ein Ver-
such, wobei sie nur verlieren würde. Wenn es aber bis jetzt
noch möglich ist, dass die neueren Arbeiten auf diesem Feldö
zu so verschiedenen Resultaten führen, wenn die Nachfolger
Niebuhr's uns noch nicht weiter gefördert haben, so musste
man natürlich mit grossen Erwartungen ein Werk begriis-
sen, das besonnener als alle vorhergehenden die Aufgabe von
Neuem und von vorn wieder vorzunehmen versprach. Wir
meinen Rubino „Ueber den Entwicklungsgang der römischen
Verfassung bis zum Höhepunkte der Republik."
Es ist bekannt, wie Niebuhr zuerst von seinen Unter-*
suebungen aber die Agrimensoren zu den weiteren Forschun-
gen in römischer Geschichte überging. Indem ihn die Ver-
bältnisse des ager publicus zu den grossen Entdeckungen
weiter führten, die ihn im Inneren des römischen Staates
Patriciat und Plebs nach ihrer wahren Redeutung scheiden
Hessen, so sab er doch auch in dem Institute jener Aecker-
vertheilungen etwas allgemein Altitalisches und das ganze Le-
ben seiner Anschauungen und Untersuchungen gewann eben
durch die Rücksicht, die er auf die alten vorrömischen Ver-
hältnisse Italien's nahm, wie ihm denn Rom selbst aus einer
wunderbaren Vereinigung solcher Stammverschiedenheiten er-
stand. Vielleicht hat er auf diesem Felde seiner Forschung
1
242 Ueber den neuesten Stand der Geschickte
segensreichere Nachfolge gefunden als auf dem der eigentlich
römischen Verfassungsgeschichte. Indem er in seiner Ge-
schichte beide Richtungen verfolgte, konnte er natürlich schon
in sofern den römischen Geschicbtscbreibern keine unbedingte
Glaubwürdigkeit zugestehen, als sie allein die Thaten der
Sieger beschreiben, während ihn der muthvolle Widerstand
der Unterliegenden aufforderte, ihren Verhaltnissen nachzu-
forschen, auch nachdem Rom's Verfassung, aus ihnen hervor-
gegangen, sie zu beherrschen begann. Und diese römische
Gescbichtscbreibung, welche in Rom gegenüber dem übrigen
Italien, ja der ganzen Erde nur das siegreiche Recht von An-
fang an anerkannte, wurde durch die Literatur des besiegten
Griechenlands aus ihren eigentümlichen Bahnen herausge-
führt, durch die heillosen Zerrüttungen des eigenen Volkes
von der Vorzeit getrennt bis sie in den letzten Zeiten der
Republik, als diese zur Monarchie heranreifte, die alten Völ-
ker, die man nicht mehr bekämpfte, die alte Verfassung,
nach der man nicht mehr lebte, in ihrer stilistischen Ausbil-
dung, bei trockenem Sammlerfleisse nicht mehr verstand. Mit
dieser Anschauung von dem Werthe unserer Quellen war
natürlich eine höbe kritische Aufgabe gestellt, es galt jetzt
zu unterscheiden , was trotz dieser Lage uns an reinem und
sicherem Thatbestande mehr überkommen als überliefert sei
Eine tiefe, lebendige Veranschaulichung des altrömischen Staa-
tes konnte hierbei nur einem wahrhaft politisch gebildeten
Genie gelingen. Durch seine Geschichte bewies Niebuhr sich
als ein so hoch Regabter. Im Allgemeinen wurden seine
Entdeckungen zuerst freudig anerkannt, man hörte nicht auf
den Einwurf, dass doch Livius und Cicero trotz aller Miss-
gunst ihrer Zeiten den Staat ihrer Ahnen wenigstens ebenso
deutlich erkannt haben mussten als wir. War nicht, was
dem widersprach, eben das Gefühl, dass unsere Zeit, ergrif-
fen von dem Gedanken des öffentlichen Rechtes, dadurch ge-
rade dem Zeitalter August's überlegen sei, in dem dieser Ge-
danke furchtbar erblasste? Seit der Herausgabe des Niebuhr'-
schen Werkes ist bei uns Vieles anders geworden, mit dem
Verf. selbst ist mancher andere schon dahin gegangen, den
der römkehm Republik 243
die damalige Begeisterung gebildet und gehoben hatte. Wie
schwankend die Meinungen auf diesem Gebiete der Forschung
sich hin und her bewegen, sahen wir. Ist es im öffentlichen
Leben anders?
In der Rathlosigkeit dieses wissenschaftlichen Zustandet
erscheinen Rubino's Untersuchungen. Wir glauben schon in
diesem ersten Bande, den er bis jetzt veröffentlichte, seine
Meinung erkennen zu können, obgleich sehr bedeutende Er-
örterungen noch zu erwarten stehen. Sehen wir zuerst, was
er über die eigene Stellung in der Vorrede allgemein be-
merkt Er erkennt (V.) an, dass die Kritik nur auf dem Wege
das Zerstörte aufbauen könne, den Niebuhr geöffnet, d. h.
durch das Eindringen in die Natur der vorhandenen Heber-
lieferungen, durch die Sonderung derselben je nach ihrem
Ursprünge und durch die Verknüpfung der so gewonnenen
Resultate.
lieber diese Natur und den Ursprung der Ueberlieferun-
gen spricht er sich nun sogleich hier von vorn herein dahin
aus, dass er sie in zwei Glassen scheidet, deren eine die
auswärtigen, die andere die inneren Verhältnisse umfasst,
oder vielmehr deren eine „die Traditionen über die Verfas-
sung," die andere „mehr eigentlich historischer Natur, Er-
zählungen von Kriegen, von auswärtigen Verhältnissen zu
den benachbarten Völkern, von Schicksalen berühmter Per-
sonen" und überhaupt das interessante Detail der Geschichte
umfasst Den „Traditionen über die Verfassung" wird eine
weit höhere Glaubwürdigkeit zugesprochen als diesen Ein-
zelnheiten. Sie wurden „schon frühe zum Theil schriftlich
aufgezeichnet, knüpften sich auch da, wo sie durch blos münd-
liche Lehre überliefert wurden, an bestehende Institutionen
an," während jene andere Glasse „lange Zeit der Volkssage
überlassen und den Ausschmückungen der Phantasie und der
Entstellung durch nationale wie durch Familieneitelkeit aus-
gesetzt war." Man könnte zweifelhaft sein, wie denn diese
Theilung eigentlich recht zu verstehen sei, denn wir meinen,
dass die Einzelnheiten, dass jene Ueberlieferungen „mehr ei-
gentlich historischer Natur" nicht allein, wie der Verf. meint.
244 lieber den neuesten Stand der Geschichte
der Geschichte „Lebendigkeit und Reiz" sondern dass sie al-
lein ihr Lebendigkeit und Wahrheit verleihen. Aber er hat
von vorn herein Tür eine Darstellung „keine Reihe von ein-
zelnen Tbatsachen" sondern nur eine „Reihe gesicherter
Hauptereignisse und Hauptverhältnisse" möglich gehalten. Ist
diese nur erst gewonnen, so hofft er auch, dass für jene an-
dere Glasse von Ueberlieferungen daraus mehr Sicherheit sich
ergeben werde. Es kommt also Alles darauf an, wie aus je*
nen Traditionen sich die Reihe gesicherter Hauptereignisse
und Hauptverhältnisse herstellen lasse, ja es könnte uns fast
bedünken, als sollte hier einmal das gewöhnliche Verfahren
der historischen Kritik umgekehrt werden: als sollten die Fa-
cta eines Staatslebens aus seinen Zustanden beurtheilt wer-
den, statt dass man sonst aus den einzelnen Tbatsachen die
allgemeinen Zustände abzuleiten pflegt. Doch suchen wir an
einzelnen Beispielen es uns klar zu machen, wie der Verf.
sich jene Traditionen denkt. „Die römischen Aiterthumsfor-
scher" sagt er S. 1 17 „wussten sehr gut, dass von der Vor-
zeit her in den latinischen Städten ein Adel, ein Senat, Prie-
sterschaften und vieles Aehnliche bestanden hatte, was der
frühesten Organisation ihres Staates zu Grunde lag. — Diese
Kenntniss verschwindet aber häufig wieder, wenn sie — blos
der einbeimischen Ueberlieferung folgen. — Was nun auch
die historische Kritik bei einer solchen-Tradition zu bemer-
ken haben kann, man muss ihr — das Recht widerfahren Jas-
Gen, dass sie die nationalen Vorstellungen wiedergiebt, welche
dafür zeugen, dass die Könige und sie allein die'constituirende
Gewalt besessen." Ebenso war nach S. 121 die Ansicht von
dem Königthume als einziger Rechtsquelle „in materieller
Hinsicht durchaus unrichtig. Die ursprünglichen Recbtsbe-
griffe der Römer konnten unmöglich andere sein als diejeni-
gen, welche in dem Gerichtsgebrauche und in den Sitten der
Stämme lagen, aus welchen das Volk hervorging. —
Formeil aber war der Satz eben so wahr, als er eine grosse
practische Bedeutung hatte/4 Sehr merkwürdig ferner ist die
Weise, mit der S. 144 die Abhandlung über Senat und Pa-
tticiat eingeleitet wird. Der Verf. sieht zwei Wege vor sich.
der römischen Republik. 245
„Man kann nämlich entweder von der Aristokratie als einer
Classe von Personen und Familien ausgehen, welche sich bei
der Entstehung Born 's vorfand, deren Gesammtheit durch sich
gewisse Rechte und eine bestimmte Stellung in Anspruch
nehmen konnte." Die Dunkelheit aber der vorrömischen
Stammgeschichten, der fest verschlungene Organismus des
römischen Staates und der Umstand, dass bei der Erörterung
des Patriciates immer auf den Senat verwiesen, dass Genti-
litat und Patronat passender (?) später abgehandelt wird, dies
alles bewegt den Verf., „den von den römischen Quellen
selbst angezeigten Gang einzuschlagen und von dem Senate
— auszugehen." Wir könnten noch mehr Stellen anführen —
namentlich S. 183 ff., — wo der Verf. es entschieden ablehnt
von den vorrömischen Zustünden, soweit noch deren Spur
uns überliefert ist, auszugehen und es dagegen vorzieht, aus
dem römischen Staatsorganismus heraus ihn selbst zu betrach-
ten. Das lebendige Bewusstsein aber dieses Organismus wor-
aus schöpft er es? oder wo findet er nun jene Traditionen,
auf die wir ihn oben sich berufen sahen? Er scheidet be-
stimmt „den Sprachgebrauch des Staatsrechtes der Kenner"
von der populären Rede späterer Schriftsteller {S. 15 ff.), er
setzt S. 30 ff. der gewöhnlichen Volkssage späterer Zeit die
Auctorität der „Annalisten" entgegen. „Bei der Entwicklung
der politischen Begriffe der Römer" bemerkt er S. 112 N. 2
„kommt es blos auf den Charakter ihrer Stiftungssage an,
nicht auf den Grad der Glaubwürdigkeit." Dabei gesteht er
S. 110 N. 1 aber selbst ein, dass er die Darstellung dieser
Sage bei Cassius Hemina verwerfen müsse, um sich in einem
wesentlichen Punkte der Darstellung des Plutarch und Zo*
naras anzuschliessen. Freilich haben ja auch diese ihre alten
Quellen benutzt, aber dessohnerachtet lässt sich hier der Punkt
nicht übersehen, auf den es bei der Methode des Verf. haupt-
sächlich anzukommen scheint. So sehr er von vorn her-
ein von der Stetigkeit und ununterbrochenen Lieberlieferung
der Verfassungsprincipe überzeugt ist, so muss dennoch die
Frage sich vor allen aufdrängen, welcher Glaubwürdigkeit
zeigten sich denn nun jene Kenner des Staatsrechtes, jene
Zeitschrift f. Getrhiektsw. IV. 1843. 17
246 lieber den neuesten Stand der Geschichte
Annalisten, die das Princip festhielten und fortpflanzten, wür-
dig. Die Erörterung über den Werth der Quellen wird um
so dringender, da der Verf. von vorn herein Born aus sieh
selbst erklären will und also wenigstens vorläufig demjenigen
Kriterium entsagt, das aus der Vergleichung mit den Nach-
barvölkern für die Thatsacben der römischen Verfassungsge-
scbicbte entspringt; sie wird um so nöthiger bei der oben
erwähnten Ansicht von den hierher gehörigen Ueberlieferun-
gen, die in so eigenthümlicher Entschiedenheit vor ihm noch
nicht ausgesprochen ward. In der Vorrede (S. XII. ff.) er*
klärt er das Zeitalter Gicero's für dasjenige, „worin sich mit
dem wissenschaftlichen Interesse für die staatsrechtlichen In-
stitute die Triebfeder des practischen vielleicht wirksamer als
jemals verband." Mit dieser Ansicht ist doch der Verf. ge-
wiss nicht gewillt sich der Meinung Cicero's anzuschliessen,
nach der eigentlich erst in seinem Zeitalter eine wahrhaft
würdige Literatur in Rom erstand. Jene älteren, fest ver-
achteten Autoren haben für ihn denselben Werth als die des
Ciceronianiscben Zeitalters, da sie diesem die Anschauungen
altrömischen Staatslebens überliefert haben sollen, die uns
jetzt von Cicero und Livius erhalten sind« Wir erwähnten
aber schon oben , dass gewiss und anerkannter Afaassen die
herrschenden Ideen bei den römischen Alterthumsforschern
nicht immer dieselben waren. ' Der Verf. rechnet S. 320 den
Junius Gracchanus zu einer Schule, „welche geneigt sein
musste, den Grundsatz der Volkssouveränität auch historisch
in jeder nur scheinbaren Spur zu erkennen." Diese Schale
war damals sehr bedeutend und wir können selbst den Po-
lybius dahin zählen. Der Verf. hierüber durchaus anderer
Ansicht bemerkt hierbei, dass des Junius Untersuchung eine
gelehrte war und hierbei „die ersten Versuche der Schrift-
stellerei offenbar im Nachtheile gegen die späteren, welche
immer mehr Quellen an das Licht ziehen/' lins hat immer
geschienen, als habe das Zeitalter der Scipionen und des Po-
lybius an praktischem Sinne und gelehrter Bildung wohl nicht
hinter Cicero und Varro zurückgestanden, nur dass zwischen
beiden die wüsten Zeiten des Bundesgenossen*» und der Bär-
der römischen Republik. 247
gerkriege lagen, die für die Quellenforschung manch kostba-
res Monument zerstört haben mochten. Bei der eben ange-
rührten Bemerkung aber gesteht der Verf. jedenfalls ein, dass
seine „Kenner des Staatsrechtes" dem Zeitgeiste nicht unzu-
gänglich blieben. Sein Bemühen geht in diesem ersten Bande
gerade darauf hinaus, zu beweisen, dass jene Volkssouverä-
nität in den Zeiten der Könige nicht bestand, es sind na-
mentlich Cicero und Livius, aus denen der Verf. im Gegen-
satze gegen die Volkssoge (S. 351) eine Theokratie im älte-
sten Born zu erweisen sucht. Der erste Abschnitt seiner
Untersuchung allein steigt bis in die letzten Zeiten der Re-
publik hinunter, um den Begriff des dem Magistrate von Kö-
nig Romulus her vererbten Imperiums festzustellen. Der Ge-
danke, „dass der Besitz der Staatsgewalt eine Weihe sei,
welche nicht von dem profanen und damit nicht begabten
Volke ertheilt werden könne", soll im Staatsrechte festgehal-
ten seift bis auf die letzte Zeit der Bepublik S. 13.
Die berühmte Stelle des Polybius VI. 14: rifnjg ydq i<rtt
xal rifuoqiag ip vfr nohxetq fiovoc 6 djjfioc xvQiog xql-
vs* p£p ovp 6 dijpog xal diacföqov TtoXXdxig &avdxov
di xqipsi popog. — — xal jmjp zag cr^ga? 6 dijfiog didtotii
wie diioiCj kann doch unmöglich etwa mit der Bemerkung
verworfen werden, dass dieser Achäer die Grundsätze des
Staatsrechtes nicht gekannt, um so weniger, da derselbe eben
die römische derfidaifiopk* ebd. 56 Tür einen Hauptpfeiler des
römischen Staates erklärt und deren Bedeutung für die Ver-
leihung des Magistrates gewiss nicht übergangen hätte, wäre
sie ihm wirklich so schlagend entgegen getreten. Wir geste-
hen, dass die Auffassung des Polybius für uns mehr Gewicht
hat» denn alle altannalistischen Spuren bei Livius oder Cicero x
oder Dionys, deren Ausscheidung immer doch nur auf einer
höchst unsicheren Kritik beruht. Dass aber auch selbst die
von diesen Späteren überlieferten Gesetze meist verstümmelt
und verkümmert auf uns gekommen, ist ebenso anerkannt:
uod, soll denü Polybius nicht voll gelten, so mögen wir wei-
ter nur die wirklich unversehrten Trümmer alter Urkunden
zuerst und als die unumgänglichen Grundlagen betrachten,
248 Ueber den neunten Stand der Geschickte
auf denen die Untersuchung der staatsrechtlieben Grundsitze
höher hinaufsteigt Dahin gehören doch ohne allen Zweifel
jene Verträge, die Polybius abschrieb und übersetzte und jene
Formeln, die uns bei Livius (I. '24, ?6, 32, 38) in der ganzen
poetischen Fülle eines uralten Rechtes enthalten sind. Po-
lybius 3, 22 ff. 1, 62 ff. giebt uns vier Verträge, von Brutus
und Horatius bis auf Lutatius Catulus, nur bei dem letzten
wird die Bestätigung durch die Comitien erwähnt, der nächst
vorhergehende ward bei Mars und Qnirinus, zur Zeit des
Pyrrhus, der älteste beim Jupiter Lapis beschworen. Dass
nur der jüngste von der Volksversammlung bestätigt wurde,
konnte darin liegen, dass der Consul von Rom fern war,
während die früheren wahrscheinlich in der Stadt selbst nach
vorhergegangenen Debatten zu Stande kamen. Vergleichen
wir nun aber, wie dem auch sei, nyt diesen Actenstücken
die alten Formeln des Livius: „Foedera alia aliis legibus, ce-
terum eodem modo omnia fluni. Tum ita factum aeeepimus,
nee ullius vetustior foederis memoria est.*' Mit diesen merk*
würdigen Worten leitet er die Erzählung des foedus zwischen
Rom und Alba ein. Erstens sind ihm die leges nicht etwa
Formeln, die wechseln könnten, sondern er kennt nur eine
Schwurformel für ein foedus, die er 9, 5 wiederholt. Zweitens
aber ist ihm dies foedus hier das älteste, das er kennt, da er
doch 1, 13 das zwischen Romulus und Titus Tatius ausdrück-
lich erwähnte. Jener alte Schwur beim Jupiter Lapis, der bis
in die spätesten Zeiten Rom's bekannt und bei Privatvertra-
gen gebraucht war (Plut. Sulla 10. Cic. ad f. 7, 12. Gel). 1,
21), wurde also schon nicht mehr gebraucht zu jener Zeit,
als die Geschichte des Tullus Hostilius so niedergeschrieben
wurde, wie Livius sie nacherzählt Anderer Seits aber wurde
sie so verfasst, bevor der spätere Schwur bei Mars und Qui-
rihus aufkam, jedenfalls vor Pyrrhus. Darnach also sehen
wir in der ältesten Schwurformel der römischen Staatsver-
trage den Fluch des Bundesbruches allein auf das Haupt des
Fetialen geladen, der da sagte: „dem ehrlichen Schwüre möge
es gut gehen; so ich aber anders dächte oder tbäte, mögen
alle übrigen bleiben in ihrer Heimatb, ihrem Gesetze, bei ih-
der römischen Republik. 249
rem Gut, Heerd und Grabesstätte und ich allein herausge-
worfen werden, wie dieser Stein jetzt." Diese war die staats-
rechtliche unter dem ersten Consulate, die zweite dagegen
(Liv. 1, 24) erwähnt den vorher aufgezeichneten Vertrag und
ruft für den Fall eines Bundesbruches die Strafe Jupiter's
auf den gesammten populus Romanus, den er so treffen möge,
„wie ich" schwört der Fetial „dieses Schwein hier heute
treffe." Die dritte endlich bei Mars und Quirinus können
wir sicher nur bis Pyrrhus citiren, also 15 Jahre vor dem
ersten punischen Kriege, der allein durch Volksbeschluss be-
gonnen, bei dessen Schlüsse ausdrücklich die Genehmigung
der Volksversammlung vorbehalten wurde.
Und was ergiebt sich nun aus dieser Betrachtung der
einzig sicheren Urkunden? Zunächst, dass die Formel der
Verträge sich änderte und daher diese Form nicht ohne Be-
deutung für die Entwicklung der staatsrechtlichen Begriffe
war, dass darnach vor der Zeit des Pyrrhus der populus als
der verpflichtete und abschliessende Theil betrachtet wurde,
nicht etwa der Magistrat. Rubino S. 274 ff. betrachtet da-
gegen den caudinischen Frieden als den Zeitpunkt, von dem
an die Bestätigung der Gomitien bei jedem Vertrage not-
wendig ward. Sehen wir dagegen von diesem einzelnen Fa-
ctum ab, das von den Alten so total verschieden erzählt wird
und kehren nochmals zu den Formeln bei Livius zurück, de-
ren eine wir bis jetzt nur beachteten. Es sind noch zwei
völkerrechtliche, die der Kriegserklärung S. 32, die der De-
dition 38, endlich als dritte die der provocatio 26. In der
Kriegserklärung wird Jupiter, Juno, Quirinus ausdrücklich er-
wähnt, eben jener Quirinus, den erst die späteren foedera
kennen, derselbe, den Livius 8, 9 in der Todesweihe des De-
cius mit verzeichnet fan3, während anderer Seits die Formel
„patriae compotem me nunquam siris esse" 32 lebhaft an
Pol. 3, 25 erinnert. Alle diese Formeln aber zeigen den po-
pulus Romanus oder Collatinus oder die populi priscorum
Latinorum als den, der die Fetialen und Gesandten, ja den
König zu seiner Vertretung ordnet, um Krieg, Uebergabe,
250 leber den neuesten Stand der Geschichte
Oberhoheit auszusprechen, an welchen von den duumviris
des rex die Provocation freisteht.
Wir haben schon vermuthet, dass der erste Verfasser
dieser Erzählung die Geschichte des ftomulus so unvollkom-
men kannte, dass er den Vertrag des Titus Tatius nicht
kannte und Livins ihn also aus einer anderen Quelle nahm.
Aus der Geschichte der Könige nach Numa tritt uns nun
aber die übereinstimmende Fassung jener Staats* und völ-
kerrechtlichen Formeln um so schlagender entgegen, von de*
nen die einen noch den alten Schwur bei Jupiter Lapis, die
anderen schon den Quirinus aufführen, in welchen allen aber
der populus ohne oder über den majores natu, dem senatus
32, der rex nur als Magistrat des Volkes erscheint. Wird
durch jene verschiedenen Gottheiten eine Periode angedeutet,
die zwischen der Zeit des Pyrrhus und der ältesten Repu-
blik lag, so erscheint zugleich in dieser Periode die Bedeu-
tung des populus viel ausgebildeter, als Rubino sie überhaupt
für das frühere römische Staatsrecht anerkennt.
Worauf aber gründet sich diese seifte Ansicht? Er er-
kennt S. 169 an, dass die Befragung des Senates in diesen
Formeln gesetzlich ausgesprochen war, aber S. 170 tritt ihm
in der Formel des Vertrages „der monarchische Grundge-
danke der römischen Verfassung" wieder hervor, und er sucht
die Bedeutung der widersprechenden Formeln S. 234 ff. 2U
s
schwächen durch Anführungen aus den verschiedensten Zei-
ten der Republik, wo denn doch gerade die „aus den demo-
kratischen Zeiten der Republik" S. 235, 4 beweisen, dass
der populus Romanus, selbst bei Senatsbeschlüssen mit auf-
geführt, eben durch diese Formel seine Souveränität anerkannt
sehen wollte, wo es auch zunächst nicht auf seine suffragia
ankam. Was endlich die Provocation betrifft, so geht doch
Livius nicht, wie von den alten Schriftstellern S. 431 behaup-
tet wird, „von der Vorstellung aus, dass unter den beiden
ersten Königen noch kein Fall der Provocation vorgekommen,
dass sie vielmehr eine unter Tullus Hostilius entstandene
Neuerung sei," sondern er erzählt diesen Process so einfach
seinen alten Quellen nach wie das foedus der Albaner und
der römischen Republik. 281
Römer, als das „älteste" von. dem noch eine Erinnerung übrig.
Aber Rubino verirrt sich noch weiter, so offenbar hier bei
der Provocation des Horatius eine alte, gediegene Relation
auch zu Grunde liegt, so offenbar diese den Fall nirgend als
den ersten hervorhebt, er halt sich doch an des Dionys Be-
hauptung, sie sei die erste gewesen ß. 447 und schliesst nun
weiter, war sie die erste, so war das Gerichtsverfahren frü-
her und überhaupt unter den Königen ein anderes, beim rex
und seinem consilium die höchste Justiz. Die Beispiele da-
für sind Liv. 1, 49, Dion 2, 56, wo die Historiker den Sturz
des Tarquinius, die Ermordung des Romulus in spater prag-
matisirender Weise zu erklaren versuchen. Diese Geschichts-
klitterungen und Flickerejgn einer offenbar spaten Zeit stellt
Rubino den alten poetischen Formeln, wie sie Livius im Wi-
derspruche mit sich selbst aber feinen Geistes wiedergab,
nicht allein gleich, sondern er schlägt mit jener Gelehrsam-
keit des Dionys und Livius das Bild von dem alten populus
Romanus, wie es in jenen Formeln sich selbst überlebte, nach
Kräften in Trümrtier.
Stellen wir das Resultat dieser Betrachtung noch einmal
kurz zusammen. Wir hielten uns nur an die Urkunden bei
Polybius, an die wenigen Formeln bei Livius. Daraus ergab
sich 1) die ältesten römischen Staatsverträge wurden bei Ju-
piter Lapis beschworen und die Strafe des Bruches nur auf
das Haupt des Schwörenden herabgerufen, 2) dagegen zur
Zeit des Pyrrhus bei Mars und Quirin und kaum 35 Jahre
darauf nur mit Beistimmung der Comitien, 3) aber liegt zwi-
schen diesen beiden Zeiten natürlich die, wo zum Theil die
Schwurformel des Jupiter Lapis noch vorkommt, Quirinus
schon bekannt, für das foedus aber noch nicht angerufen ist.
Aus dieser Zeit stammen die Formeln, die in der römischen
Königsgeschichte nach Numa bei Livius vorkommen. Die
Urquelle, der Livius oder sein Gewährsmann nacherzählte, ,
kannte das Sabinische Bündniss des Romulus nicht, wie ja
auch Demetrius, der Städtebelagerer, die Römer nicht als
Trojaner, sondern als Griechen ansah. Dieselbe Quelle er-
zählte die Provocation des Horatius nicht als den Anfang,
252 lieber den neuesten Stand der Geschickte
sondern als ein glänzendes Beispiel der Volksjustiz. In dieser
alten Ueberlieferung nun wird der populus überall als der-
jenige gezeigt, der Krieg und Frieden scbliesst und bescbliesst,
für welchen nur der König die Dedition annimmt, wie die
legati sie für ihn aussprechen. Diese selbst in der veränder-
ten Schwurformel ausgesprochene Bedeutung des populus ist
keine etwa dem „Staatsprincipe" widersprechende Anmaas-
sung, sondern ist wirklich gewesen, sonst wäre der Eid nicht
verändert, und ist lebendig gewesen vor den Zeiten des Pyrrhus,
in der Zeit grösster Krall des Staates.
Dies ist für uns das Ergebniss aus den einzigen, unum-
stösslich sicheren Quellen, wogegen die dürren Aufzeichnun-
gen der ältesten Annalisten, die ^ivius ausschrieb und die
breiten pragmatischen Ausfuhrungen aus Cicero's und Livius'
Zeit gleich ohnmächtig erscheinen. Jenes sind die Grundla-
gen, von denen man zu diesen binantreten kann, aber nicht
sollen umgekehrt mit den matten Erklärungen, Umschreibun-
gen, Auslassungen der Späteren diese altehrwürdigen For-
meln, diese Urkunden umgangen oder verschoben werden, in
denen jeder Buchstabe von Fetialen und Pontifices verbärgt
und von dem Geiste der alten Bepublik dictirt ist
Wir sehen sehr wohl, dass mit diesem ersten Anfange
die Untersuchung kaum begonnen. Denn wenn der Cartha-
gische Vertrag aus dem ersten Jahre der Bepublik nur auf
das Haupt des Fetialen beschworen ward, so liegt damit die
ganze Königszeit noch dunkel vor uns. Die livianischen For-
meln können dafür nicht angezogen werden, da wir sie erst
aus den besten Zeiten der Bepublik datiren und so hätte fiu-
bino am Ende in seiner Auffassung des Imperium regium
Becht. Wir haben auch darüber nicht mit ihm rechten, son-
dern nur seine Quellenbehandlung beurtheilen wollen. Je-
denfalls werden wir jetzt noch viel weniger daran glauben*
dass sich aus den staatsrechtlichen Begriffen Cicero 's etwa
die der Königszeit darstellen lassen, nachdem wir gesehen;
dass zwischen diesen beiden Perioden die Macht des populus
in staatsrechtlichen Urkunden so stark hervortritt, wie sie
weder Cicero noch Rubjno anerkennt, dass also jene Souve-
der römischen Republik. 253
ränität des Volkes nicht aus der Zeit der Gracchen, sondern
noch viel früher datirl. Aber einige Bemerkungen dürfen wir
uns noch erlauben, in Bezug auf die Darstellung des Livius,
von der wir wiederholt ausgingen. Er stellt die Auguren
schon als vorhanden dar, ehe Numa nach Rom kommt und
weiss Nichts von ihrer Einsetzung durch diesen oder Romu-
lus, er erzählt nur von einem Pontifex, den Numa einsetzte
1, 20, und auch weiter kennt er wahrend der Königszeit nur
einen i9 32, ja wenn auch die Auguren früh erscheinen, so
wird die grössere Bedeutung der Auspicien erst von Attus
Navius 1, 36 datirt. Erst später, 4, 5 steht in der Rede des
Canulejus, die Auguren und Pontifices seien von König Numa
eingesetzt, ein Ausspruch, der also in zweierlei Punkten der
früheren Darstellung widerspricht, wenn man nicht annimmt,
dass Livius seinem Sprecher eine rednerische Unwahrheit ab-
sichtlich in den Mund legte. Jedenfalls wird es unsere höchste
Beachtung verdienen, dass in dem ersten Buche des Livius
das Augurat nicht von den Königen eingesetzt, sondern als
uraltes Institut erscheint, welches durch das Wunder des At-
tus zu seinem spateren Ansehen 'gelangte. Diese Ansicht
verdiente um so mehr Beachtung, je reiner und sorgfältiger
offenbar namentlich die Geschichte der letzten fünf Könige
von Livius aus alten und guten Quellen bearbeitet ward. Da
es nun Rubino darauf ankommt, das Verhältniss der Magi-
strate zu den Auguren sich klar zu machen und er dies zu-
erst „geschichtlich" versucht S. 48, so kommt es, sollte man
denken, darauf an, die Darstellung der verschiedenen Anna-
listen möglichst zu sondern und zuzusehen, welche die älte-
ste. S. 60 A. 1 stellt er die Relationen des Dionys, Cicero
und Livips über die Gründung des Gollegiums zusammen.
„Wahrscheinlich" heisst es „wurde die Stiftung des Gollegi-
ums schon d m Numa zugeschrieben. Bestimmt giebt dieses
Dionysius an 2, 64, er sagt aber zu viel Falsches über die
römischen Priesterthümer, als dass man ihn für ein treues
Organ ihrer Ueberlieferungen halten könnte. Indessen scheint
doch auch Cicero dasselbe anzudeuten de rep. ?, 14." Spa-
ter aber S. 60 beruht die Befugniss der Magistrate, die Au-
254 lieber den neuesten Stand der Geschichte
spicien auch allein zu beobachten, „schon auf dem histori-
schen Principe, dass die Könige — anfangs selbst das Au-
gurat besassen und daher eine von ihnen ausgegangene Fun-
ction noch immer so bei ihnen zurückgeblieben sein mussle,
dass sie dieselbe in gewissen Fällen allein ausüben konnten."
Die Function war von ihnen aber ausgegangen, nur wenn das
collegium der augures von ihnen gegründet war, nur bei die-
ser Ansicht erschienen die Auspicien durch das erste „augu-
stum augurium" zuerst dem Romulus und von ihm allen fol-
genden Magistraten verliehen S. 82. Darauf aber beruht die
ganz eigenthümliche Stellung, die der Verf. ihnen dem Volke
und Senate gegenüber zuschreibt.
So mögen wir denn zuletzt noch die verschiedenen Re-
lationen der Alten über Numa als den „wahrscheinlichen"
Stifter des Augurats vergleichen. Beim Anlange seiner Dar-
stellung beruft sich Dionys 2, 61 auf die „einheimischen For-
schungen, Cicero I. I. scbliesst seine Darstellung mit einer
Berufung auf Polybius. Beide wie auch Livius und Plutarch
kannten die Sage von seiner Ausbildung durch Pythagoras,
die, wie schon Niebuhr 1, 244 sab, im Samniterkriege schon
bekannt sein musste. Dass er die flamines des Mars und
Quirinus eingerührt, konnte nur erzählt werden, seitdem diese
beiden Götter so vereint im römischen Cultus erschienen wie
sich dies seit dem ersten Gonsulate bis Pyrrhus allmäblig aus-
bildete (s. oben). Dies und ausserdem die Einsetzung der
Salier, Vestalinnen wird ihm von allen vier Schriftstellern
nachgesagt, die Erbauung des Janustempels, die Einfuhrung
(fes Mondjahres nur von Cicero fibergangen. Dagegen stimmen
Cicero, Dionysius und Plutarch dem Livius gegenüber darin
überein, dass sie eine Aeckervertheilung des Numa kennen (de
rep. 1. 1. Dionys. 2, 62. Plut. Numa 16), dass sie ihm nicht die
Ernennung Eines pontifex, sondern des ganzen Collegiums
(Plut 9. Dionys. 73) und endlich entweder die Vergrösserung
oder Stiftung des Augurencollegiums zuschreiben. Und wenn
nun ausserdem die der Fetialen und fast aller Priesterthömer
dem Numa zugeschrieben wird, lässt Livius i, 32 auch an-
dere Könige noch benachbarte Culte aufnehmen. Tritt nun
der römischen Republik. Q55
hier schon sehr klar hervor, wie sich der Begriff des Numa
als Stifters alles römischen Gottesdienstes immer breiter ent-
wickelte, so ist für die Geschichte dieser Ueberlieferungen
höchst interessant, was Dionys 1, 65 über die Einwürfe mel-
det, mit denen man die Gründung des Yestacultes durch Numa
bestritt. Wir sahen, dass diese offenbar mit zuerst und am
ältesten dem Numa zugeschrieben wurde, eben so früh als
Mars und Quirinus. Erst als Quirinus in den vergötterten
Romulus, den Sohn des Mars von einer Vestalin umgedeutet
war, konnte man sich wundern, wie er diesen seinen genti-
licischen Cult nicht schon vor Numa gegründet haben solle.
Und wenigstens ebenso spät mochte die Behauptung aufkom-
men, dass der Gründer der Stadt und Gemeinde auch den
Altar der Vesta gegründet haben müsse. Allerdings sehen wir
aus diesen Widersprüchen, dass wenigstens später auf die
Darstellung solcher Angaben — „welche das Wesen der Ver-
fassungsinstitute bezeichneten, besondere Sorgfalt gewendet
wurde" (Rubino S. 108). Vertraten diese Angaben aber die
Stelle von „Principien und Fundamentalsätzen" so wird man
doch bekennen müssen, dass diese Principien erst sehr spät
zur Cebereinstimmung gebracht wurden. Denn überschauen
wir die Sage von Numa nur kurz von den letzten Zeiten der
Republik aufwärts. Dionys macht darauf aufmerksam, dats
der Vestatempel ausserhalb der Roma quadrata lag, eine Be-
merkung, die man nicht gemacht, als man sich über Numa
den Gründer des Vestacultes zu verwundern und darüber seine
Zweifel zu äussern anfing. Diese Zweifel beruhten eben auf
dem ausgebildeten Begriffe eines conditor urbis, als des Grün-
ders zugleich der Staatsreligion und der Staatsculte. Dieser
Begriff — den Rubino nach allen Seiten hin ausgebeutet hat
— konnte aber damals noch nicht lebendig sein, als die Grün-
dung der römischen Gülte auf Numa, den zweiten König
gehäuft wurde. Dies konnte nur aus zwei Absichten ge-
schehen, um eine thatenlose Periode des ältesten König-
thums auszufüllen, zugleich aber um den verachteten Prie-
sterthümern durch den Namen eines solchen Gründers eine
neue Weihe zu geben. Der keckste Versuch dieser Art war
256 Ueber den neuesten Stand der Geschichte
•
offenbar jene Auffindung der Leiche und Bücher des Kö-
nigs Numa (Liv. 40, 29), wenige Jahre nach Entdeckung der
Bacchanalien, die die heimischen Gülte in ihrem alten An-
sehen so gewaltig bedrohten. Damals wies der Senat diese
ganze Mystification zurück, merkwürdig genug ohne irgend
die priesterlichen Autoritäten zu befragen. Der ganze Vor-
fall aber zeigt einerseits, dass der Glaube an Numa als Grün-
der der römischen Gülte schon lebendig, andererseits, dass
seine Institute noch nicht so bestimmt, in solcher Ausdeh-
nung bezeichnet wurden, als man später annahm. Sonst hätte
es sehr nahe gelegen, aus den Archiven der Priesterschaften
die ganze Sache als Fälschung zu überführen. So mochte
denn in den nächst vorhergehenden Jahrhunderten Numa, der
in den Samniterkriegen vielleicht zum Schüler des Pytbago-
ras ward, in der Gestalt bekannt und gefeiert sein, wie ihn
Livius darstellt, nicht Augur, sondern königlicher Flamen des
Jupiter, der die Vestalinnen, die Salier, die Flamines des Mars
und Quirinus und einen Pontifex einsetzte. Die Vermutbung
liegt nahe, dass diese Priesterschaften, als die Sage in dieser
Form entstand, gerade diejenigen waren, welche noch im Be-
sitze der Patricier geblieben, nachdem die Wahl der Ponli-
fices und Augurn durch die lex Ogulnia auch auf die Plebe-
jer ausgedehnt war. Erst später wurde ja auch die Würde
des pontifex maximus ihnen zugänglich. Dass er den Tem-
pel des Janus gebaut und dieser während seiner Zeit immer
geschlossen, dieser Zug konnte so entschieden nach dem er-
sten punischen Kriege hinzukommen, als wirklich zum Zei-
chen des Friedens er zum ersten Male verschlossen ward.
Und so könnten wir' mit einiger Gewissheit die Periode
bezeichnen, in der die Sage Vftn Numa sich bildete, wie sie
Livius überliefert, nämlich die Zeit vom Schlüsse des ersten
punischen Krieges bis zum Anfange des zweiten etwa, da
schon 540 (Liv. 25, 5) die Wahl des pontifex maximus er-
wähnt Wird.
Weiter hinauf wollen und, können Wir hier die histori-
schen Ueberlieferungen und in ihnen zugleich die der Staats-
prineipien nicht verfolgen. Wir wollten nur nachzuweisen
der römischen Republik 257
versuchen, dass Rubino sich auf jene mythischen Ueberliefe-
rungen nicht in der Weise berufen durfte, wie er es in sei-
nem ganzen Werke thut, da 1) zwischen den Ueberlieferun-
gen des Livius, Dionys, Cicero u. s>w. wesentliche Grundver-
schiedenheiten sieb zeigen, 2) aber diese Grundverschieden-
heiten, soweit wir sehen, nicht aus der Individualitat jener
Späteren herstammen, sondern von der verschiedenen Auf-
fassung, die in den auf einander folgenden Perioden der Ge-
schichtschreibung bei den Annalisten ja selbst in den Urkun-
den, also im Staatsrechte selbst über die höchsten Principien
walteten.
• Also nicht auf der Auflassung des Cassius Hemina oder
Junius Gracchanus oder Livius oder Cicero als einzelner Par-
teimänner beruhen die Widersprüche über jene Staatsrecht-
principien, sondern die Zeit, in der die Sage von Numa die
Geschichte des Tullus Hostilius gefasst wurde, wie sie Livius
und seine Quellen erzählten, war dpreh Jahrzehnte und Jahr-
hunderte, aber auch durch eine andere Grundansicht des
Staatsrechtes durchaus geschieden von der, aus welcher etwa
Dionys seine Darstellung nahm.
Diese Meinung liegt neuerdings in der einleitenden Vor-
lesung Niebuhr's zu seinen römischen Alterthümern (Kleine
Schriften. 2. Sammlung S. 13 ff.) wiederum ausgesprochen
vor. Er ist von dieser Ansicht ausgegangen, weil er von ihr
durchdrungen und von Herzen überzeugt war. Wir gestehen
sehr gern zu, dass die Freiheit, mit der Niebuhr in diesem
Bewusstsein die Quellen behandelte, höchstens nur ihm ver-
ziehen werden konnte, aber dagegen muss auch von jedem
anderen, der nun diese Quellenbehandlung und ihre Resul-
tate anficht, verlangt werden, dass er „das erhöhte Vertrauen
auf die Quellen " gleich von vorn herein etwas vollständiger
begründe, als dies von Rubino von S. XII— XIV geschehen
konnte. Die Resultate seines Buches sind so allgemein an-
erkannt und willkommen geheissen, aber uns scheinen sie
doch des wahren Grundes zu entbehren, so lange der Verf.
nicht den Zeitpunkt angiebt, in welchem jene Urprincipien
entstanden, aus welchen das Zeitalter Cicero's die Geschichte
258 lieber den neuesten Stand der Geschichte
und das Recht des römischen Staates auffasste, über die sie
mit den frühesten Zeiten der Republik einverstanden waren.
Rubino*s Untersuchung wird die Geschichte der ganzen
Verfassung bis zum Höhepunkte der Republik umfassen. Wir
haben zu zeigen versucht, dass und worin das ganze Verfah-
ren des Verfs. uns mangelhaft erscheine, und die ununterbro-
chene Continuität staatsrechtlicher Ueberlieferungen, wie er
sie annimmt, geleugnet Für diese Frage nun ist neuerdings
ein überaus schätzenswerther Beitrag geliefert worden in der
Schrift von Th. Mommsen, die römischen Tribus in admini-
strativer Beziehung, Altona 1844, eine durch und durch scharf-
sinnige Geschichte der Tribus von ihren Anfangen bis zu ih-
ren letzten Spuren unter den Kaisern. Hatte Rubino es mit
Begriffen und Principien zu thun, so gilt es hier zunächst die
gleichsam äusseren Formen der römischen Bürgerschaft zu
verfolgen und in ihrer Entwicklung darzustellen. Die Entste-
hung, Ausbildung der Tribus, ihr Zusammenhang und ihre
Combination mit den Centurien zeigt uns die Grundgliederung
des Staates in ihrer Fortbildung; handelt es sich dfeeh dabei
nicht um die Stimmen der Gomitien allein, sondern auch um
die Eintheilung des Heeres*und um den Zusammenhang zwi-
schen Heer und Bürgerschaft Die Untersuchung unseres
Freundes ist über dies alles so scharf, geht so rasch und ent-
schieden auf die verschiedenen Verhältnisse ein, ist so über-
aus reich an Belehrung, dass es schwer sein würde den In-
halt des dünnen Buches (232 S.) in irgend genügender Weise
kurz darzulegen. Uns scheinen die Hauptsätze der Untersu-
chung folgende zu sein: König Servius. gründete nur 4 Tri-
bus, die urbanae, die auch das erste Stadtgebiet Rom's um-
schlossen. Diese vier Tribus standen mit dem exercitus ci-
vilis und militaris im engsten Verhaltnisse. Dieses Verhältniss
wurde fortwährend fest gehalten, auch bei der Vermehrung
der Tribus bis zur vollen Zahl von 35, die bedeutsam genug
mit der Quirina schloss. Nach dieser Schliessung der Tri-
bus, vom Jahre 513 bis zum Anfange der dritten Decade des
Livius muss die Reform der Tribus erfolgt sein, denn Liviüs
würde sie nicht übergangen haben. Sie trifft darnach zusam-
der römischen Republik. 269
men mit der Reduction der Gensussatze, die Böckh zwischen
510 und 513 nachgewiesen hat. Durch sie wurde die Ein-
teilung in seniores und juniores nicht für die Tribus einge-
führt, sondern beibehalten, aber die Eintheilung in die 5 Gas-
sen der Locupltites und in die 3 der proletarii classiarii und
capite censi auf jede dieser Halbtribus übertragen. Diese Ein-
theilung bestand von da an bis in die späteste Kaiserzeit, wo
die Tribus in Rom herabsanken zu einer Armeneintheilung
für die öffentlichen Getreidespenden. Für die Heerverfassung
aber hatten die Tribus ältester Zeit schon bestanden, insofern
jede Tribus für jede der vier Legionen zu 4200 Mann ein
gleich grosses Gontingent stellte, ja indem jede Centurie aus
jeder Tribus gleich viel Mannszahl enthielt Wie denn auch
das tributum, eine Staatsanleihe bei den Familien zur Unter-
haltung der Feldlegionen, nach den tribus erhoben wurde, so
dass jede tribus Tür ihr Contingent zugleich dem Aerar die
Verpflegungsgelder vorschoss. „Das Princip der servianischen
Verfassung war in dem Stimm- und Kriegsheer jede kleinste
Abtheilung aus allen Tribus zusammenzusetzen, woher denn
auch die Centurie, die Legion und das Heer aus allen Tri-
bus zu gleichen Tribus gebildet waren. Die wichtigste Aen-
derung, welche die reformirte Verfassung hierin hervorrief,
bestand in der Differencirung des Stimm- und des Kriegs-
heeres" S. 143. „Die militärischen Legionen, welche die sechste
Classe ein- und die civilen,' die dieselbe, ausschlössen, kön-
nen sich nicht länger entsprochen haben" S. 144. Da in den
5 Glassen 350 Tribuscenturien enthalten waren, so bestand
das ganze Heer aus 350 x 120 « 42000 Mann oder aus 10
politischen Legionen, wie sie die Römer nicht anders kann-
ten von 4200 Mann. „An der Bildung jeder (Feld) Legion
nahmen alle Classencenturien der Jüngeren = 175 nebst den
Genturien der Jüngeren aus der sechsten Ordnung = 35 Theil,
indem jede dieser 210 Centurien 20 Mann stellte. Wir dür-
fen" schliesst der Verf. S. 146 „dies Resultat als den Prüf-«
und Schlussstein unserer ganzen Untersuchung bezeichnen/4
Und in der That diese Zahlencombinationen sind so schla-
gend, fügen sich so überraschend in einander, dass man das
260 lieber den neuesten Stand der Geschickte
Vorurtheil fallen lassen möchte, was man jetzt endlich auf
diesen Gebieten gerade gegen solche Beweise gefasst haben
könnte. Wenn aber der Verf. fiir dieses beständig fest ge-
haltene Yerhältniss zwischen der Stimm- und Feldlegion die
Hauptkraft seiner Beweise verwendete, so wird auch hier der
Punkt sein, wo die Haltbarkeit seiner Resultate zunächst ge-
prüft werden muss. Sollte hier die Continuität dieser Ver-
hältnisse sich nicht als unumstößlich herausstellen, so litte
die ganze Untersuchung einen Bruch und wir dürften auch
hier bei unserer Behauptung bleiben, dass die Principien rö-
mischer Staatsverfassung keinesweges so zähe fest gehalten
seien, als man neuerdings angenommen bat Sehen wir zu!
„Das römische Heer" heisst es S. 132 „wurde aus den
Tribus durch Aushebung einer gleichen Anzahl Soldaten aus
jeder gebildet" Ob dies wirklieb aus Polyb. 6, 20 hervor«
gehe, ob man dort ersehen könne, dass die tribus wirklich
jede herangezogen wurden, bis zd nqo*$lfievov nXjj&og aus-
gehoben war, darüber wollen wir uns nicht entscheiden. In
der Stelle selbst scheint uns keine Entscheidung enthalten.
„Was hier in voller Anschaulichkeit hervortritt, das bestätigen
andere Stellen." Die Berichte Varro's über die Ronaulische,
des Dionys über die Servianische Legion können doch hier
kaum als Zeugnisse gelten. Aber eine besondere Bestätigung
soll in dem Ausnahmefall bei Livius liegen 4, 26, wo non ex
toto passim populo ausgehoben wird, das war also sonst die
Sitte, sondern man 10 tribus erboste, aus welchen die ju-
niores ausgehoben und in's Feld geführt wurden. Was aus
dieser Ausnahme für die vom Verf. aus Polybius angenonn
mene Begel sich ergebe, ist uns nicht klar. Zudem ist das
ex toto passim populo nach dem Sprachgebrauch des Livius
sehr schlecht gewählt, wenn damit eine geordnet gleichmäs-
sige Aushebung bezeichnet werden sollte (Kreyssig lex Liv.
s. v«), am allerwenigsten geht daraus hervor, dass die Aushe-
bung nach tribus uralt war, wofür noch die Geschichte bei
Val. Max. 6, 3, 4 noch „besonders wichtig" genannt wird.
Der Fall war der, dass als bei einer Aushebung im J. 479
sich Niemand stellte, der Consul Gurius „conjeetis in softem
der römischen Republik. 261
omnibus tribubus Polliae, quae primum exierat, primüm rio-
meh citari jussit" und als der Aufgerufene nicht zugegen war,
also nicht antwortete ihn, und sein Gut öffentlich versteigerte.
Dies nun allerdings ist ja wirklich ein Ausnahmefall und das
Verfahren des Gonsuls wird als ein ausserordentliches be-
zeichnet. Der Epitomator des Livius 14 fand dieselbe Ge-
schichte und notirte „Curius Dentatus — eius, qui citatus
non responderat, bona primus vendidit." Diese Strafe konnte
ja aber nur bei der Voraussetzung statt finden, dass alle Bür-
ger bei der Aushebung zugegen, um auf den Aufruf zu ant-*
Worten. Diese Vorstellung ward ausgesprochen durch die
Ausloosung aus allen Tribus und so scheint uns der natür-
lichste Schluss aus der angeführten Stelle, dass vor Dentatus
gewöhnlich der delectus ex toto passim populo ohne Berück-
sichtigung der einzelnen tribus statt fand, dass dann das Bei-
spiel von der Ausloosung jener 10 tribus, und endlich das
des Dentatus, der alle Tribus von vorn herein zur Loosung
zog, die spätere Sitte verbreitete, nach welcher regelmässig
die tribus durch's Loos zum delectus aufgerufen wurden. Und
dass nun diese Ausloosung aus allen tribus, wo nach der
Entscheidung des Looses jede Weigerung ungesetzlich war/)
dass die förmlich ausgesprochene Anziehung aller tribus frü-
her nicht statt fand, das schliessen wir schon deshalb, weil
bei dieser Art der Aushebung ihre Verhinderung, wie sie in
den ersten Zeiten der Bepublik so oft von den Tribunen ge-
braucht wurde, undenkbar wäre. Warum hören wir in Zei-
ten, wo die Erloosung bestand und das Volk die langen Kriege,
wie den spanischen, verwünschte; wo die Tribunen unauf-
hörlich Senat und Consuln bekämpften, nie von einem de-
lectus impeditus? Weil die Consuln, sagt Polybius 6, 12,
7teql nokifiov xccTccGxevijg Gxsiov ccvtöxqcctoqcc Ttjv i^ovolav
fyovöiv. Aber diese besassen sie früher auch, während da-
*) Liv. epit, 55: tribuni pl. quia non impetrarent, ut sibi denos,
quos vellent milites eximere liceret etc. Eine eigentliche Verwei-
gerung des delectus war bei dieser Form der Aushebung nicht
möglich, daher die lolUten vacationes ausgedacht und vorgebracht
wurden. Pol. 34, 4.
Zeitschrift f. tiescbicLtsvr. jy# 1845, 18
26? Veber den neuesten Stand der Geschichte
mals die iribonicia potestas noch nicht so gewaltig war, wie
später. Seit der Erloosung bei der Aushebung war offenbar
die suffragii latio in den Comitien der nominis datio vor den
Kriegstribunen ganz analog. In den Comitien war eine Wei-
gerung der suffragia unerhört und unmöglich, doch hatten die
Tribunen die intercessio, die Magistrate das jus avocandi, die
aber beide beim delectus wegfielen, sobald hier durch die
Entscheidung des Looses die tribus gleichsam zum Dienst der
Republik aufgerufen waren, wie in den Comitien, aber von
dem höchsten imperium, Tor dem kein anderes Stand hielt
und keine Intercession galt Diese konnte nur gelten, auch
bei dem delectus, wie es der Fall war in früheren Zeiten,
wenn die sortitio nach tribus und dadurch der förmliche Auf-
ruf nicht statt fand, wenn e toto passim populo die Aushe-
bung erfolgte, also kein Tribul als solcher verpflichtet war,
zur Stelle zu sein und jeder einzelne daher das auxiiium des
Tribunen anrufen konnte, wie ja der Schutz des Tribunen
für den Einzelnen das Aeltere und ihre amtliche Stellung ta
den Gesammttribus das Spätere war. Gegen diesen tribuni-
cischen Schutz führte Curius Dentatus die sortitio tribuum
auch für den delectus und die Subhastation für denjenigen ein,
der ohne vacatio non respondit! Wäre die sortitio schon vor
ihm Sitte gewesen, so hätte er nicht, als bei dem gewöhnlichen
Verfahren Niemand sich stellte, darnach erst sie vorzuneh-
men brauchen.
Wir sind über diese Stelle ausführlicher gewesen, weil
wir auf sie um so mehr Gewicht legen mussten, je weniger
neben ihnen Varro und Dionys mit ihren Darstellungen der
ältesten Zeiten Beachtung verdienen. Dass diese unsere Er-
klärung Mommsen's scharfsinniger Zablencombination gegen-
über vielen ohne Gewicht scheinen kann-, wissen wir wohl.
Zeigte er ja doch , dass Livius selbst oder seine Quellen sich
dieses älteren Zusammenbanges bewusst waren. Freilich beisst
es ja i, 43: neque eae tribus ad centuriarum distributionem
oumerumque quicquam pertinuere. Gewiss ein starker Aus-
druck und verwunderlich in dieser Entschiedenheit, wenn der
Historiker dennoch aus der wachsenden Zahl der Tribus im-
der römischen Republik. $63
mcr diejenigen Zahlen bestimmt bezeichnete, die in den al-
ten Centurienbestand aufgingen, so dass nicht allein das Heer,
sondern jede einzelne Legion, ja jede einzelne Centime bus
jeder Tribus gleich viel Stimmen und Soldaten enthielt S.
139 ff. Wenn also wirklich „die Centuriatverfassung dag
Resultat der Tribusverfassung, die Centurien das aus den Tri»
bus gebildete Heer ist," so sind jene einfachen Worte des
Livius uns wenigstens total unerklärlich. Der Verf. interpre-
tirt freilich die Stelle S. 41, indem er Livius' Gedankengang
sich so vorstellt: „Servius machte 193 Centurien, eine Zahl
die zu den 35 Tribus nicht stimmt, wie es die spätere Gen-
turienzahl thut Allein damals gab es einmal keine 35 Tri«
bus, sondern nur vier und auch diese hatten mit den 193
Centurien kein Verhältnis»." Freilich nicht mit den 193, aber
wohl mit den 170 und dies Verhältniss kannte Livius, nach
dem Verf. so gut» dass er eben erzählte, wie Servius nur 4
Tribus machte, diese später auf einmal auf 20 gesetzt wur-
den (Liv. 20, 21 emendirt der Verf. Romae tribus factae S. 8),
wie dann 25» und darnach erst wieder 35 Tribus als tribuum
numerus expletus*) d. h. geschlossene Tribuszahl betrachtet
wurde, weil nur bei diesen Zahlen die Tribuscontingente ganz
gleich in die Legionen aufgingen.
Was zuerst jene 4 Tribus betrifft, so kommt die Stelle
des Dionyft 4, 14 ff. besonders in Betracht, da wir hier die
Darstellung älterer Historiker vorliegen haben und mit den
späteren vergleichen können. Die Behauptungen der ver-
schiedenen Historiker scheinen mir diese zu sein! 1) Fabius
erzählte c* 15 von der Gründung von 26 ländlichen Phyleri
durch Servius und, indem er die 4 schon erwähnten Stadt**
theile hinzuzählt, nannte er diese als die 30 römischen Phy-
len. Dass Fabius die tribus urbanae nicht von Servius bil-
den Hess, geht aus dem Gegensatze hervor, wenn 2) Gato alle
diese Phyton**}, also städtische und ländliche unter Servius
~ ■*-** —- —■ — -
•) Liv. 6, 5 epit. 6 1, 43.
**) Das tovtoüv rag ndaug ist dem TQidxovra tpvXdg äfitpoxi-
Qtop ganz entsprechend, und ich möchte deshalb nicht mit Momm-
sen S. 5 das äfiportQwv nach *ot;zw stellen.
18*
1
2f>4 Veber den neuesten Stand der Geschichte
entstehen Hess, ohne ihre Zahl bestimmt anzugeben, 3} Ven-
nonius folgte der Meinung, dass sie alle unter Servius entstan-
den, dachte aber dabei schon an die 35 späteren. Wir können
wenigstens aus der Stelle wie sie selbst nach den Emendatio-
nen Niebuhr's und Mommscn's vorliegt, keinen anderen Sinn
entnehmen, am allerwenigsten aber das daraus schliessen, dass
die Darstellung der pagi von Gato entlehnt sei, eine ebenso
' kühne Hypothese, als die, dass Fabius unter seinen 26 tribus
doch nur pagi dachte, warum? Weil Varro „der von einer
Eintheilung des Landes in 26 regiones spricht, also obgleich
er dieselbe Notiz, wie Fabius mittbeilt, doch das Wort tri-
bus vermeidet, weil er von den ländlichen Districten allein,
nicht wie Fabius von diesen und den städtischen zusammen
spricht." Aber, wir müssen dies wiederholen, Fabius sagte
nach Dionys, dass Servius das Land in 26 Phylen theilte und
nannte dann, die 4 städtischen hinzufügend, alle die 30 Phy-
len d. h. Tribus. Dass also Servius nur die 4 städtischen
tribus eingerichtet liegt nicht darin, während Gato ausdrück-
lich die Phyleneintheilung von Stadt und Land von ihm da-
tirte ohne bestimmte Zahl. Der Jrrthum des Vennonius konnte
aus der unbestimmten Angabe Cato's entspringen, er verdient
aber in sofern Beachtung, da auch bei ihm vorauszusetzen
ist, dass Servius nicht nur als der Gründer der tribus urba-
nae, sondern auch der rusticae betrachtet ward. So scheint
denn doch aus den Stellen bei Livius, Aurelius Victor, der aus
»
einer Ackervertheilung eine Getreidespende macht, und Dionys
sich eben nicht „die einstimmige Tradition der Alten" con-
statiren zu lassen, „dass Servius nur vier Tribus gemacht
hat." S. 4.
Die weitere Entwicklung der Tribuszahlen wollen wir
hier lieber unerörtert lassen, da es für den Hauptzweck die-
ser ganzen Betrachtung förderlicher sein wird, gerade die
Nachrichten von den Einrichtungen des Königs Servius etwas
weiter zu verfolgen. Dass Tribus bei dem delectus auch
schon während der. Servianischen Verfassung die Grundlage
gebildet, musste uns höchst zweifelhaft erscheinen. Durch
diesen Zweifel wird aber der Zusammenhang der ganzen Un-
der römischen Republik. 265
(ersuchung erschüttert. Die beiden grossen Perioden in der
Geschichte der Tribus vor und nach der Reform würden durch
ihn den vom Verf. gesetzten Schlussstein verlieren. Für die
früheren konnten wir den Widerspruch zwischen Liv. 1, 43
am Ende und der übrigen Darstellung des Historikers, wie
der Verf. sie ihm zuschreibt, nicht recht verstehen, endlich
aber mussten wir uns gegen eine einstimmige Tradition von
4 Tribus des Servius erklären.
Auf diese Verfassung des Servius kommt nun der Verf.
wiederholt zurück, um so mehr, da nach ihm die Classen-
eintheilung auch für die Gomitien immer beibehalten wurde.
ßöckh hat neuerdings die römische Geschichte durch die
Entdeckung vielfach aufgeklärt, dass der Uncialfuss bis in die
letzten Zeiten des ersten punischen Krieges bestand und mit
der damals erfolgten Reduction die Erhöhung der Gensus-
sätze im engsten Zusammenhange stand. Dabei eben hat er
darauf schon aufmerksam gemacht, dass Livius und Dionys
wahrscheinlich dieselbe Quelle benutzten, wie sie denn in
der einleitenden Betrachtung und den Sätzen der ersten Glasse
wesentlich übereinstimmen. Dass sie dennoch in manchem
Detail divergiren, wie in der Vertheilung der centuriae fabrum
et tibicinum, im Gensus der untersten Glasse, ist eben nur
so zu erklären, dass jene gemeinsame Quelle ihnen für die
Darstellung nicht genug Detail bot und sie die Ergänzungen
späteren Darstellungen entnahmen. Ich sage späteren, weil
der Gensus der fünften Glasse bei Dionys 4, 17 offenbar in
einer Periode verzeichnet wurde, in welcher der Gensus ge-
stiegen und auch die prima classis von der ersten Erhöhung
auf 110000 zu 125000 gestiegen war, denen für die fünfte Glasse
12500 des Dionys entsprechen, wie die 11 000 des Livius den
110000 des Plinius.
Fassen wir diese Bemerkungen zusammen, so ergiebt
sich 1) dass die Quellen über die ursprüngliche Servianiscbe
Verfassung, aus der unsere Kunde geschöpft wird, nicht über
die letzten Jahre des zweiten punischen Krieges zurückreich-
ten, 2). dass die älteste, aus der Dionys und Livius den An-
fang ihrer Darstellung nahmen, nur 100000 As als Gensus
866 lieber den neuesten Stand der Getchichte
erster Classe kannte, also Polybius gleichzeitig sein konnte,
3) dass zur Ergänzung dieser Darstellung eine spätere aus-
führlichere von JLivius, eine noch spätere von Dionys benotet
wurde« Jene unsere älteste Quelle theilte höchstens die Glas-
sensätze bis zur vierten Classe mit, sie schwieg über die Ver-
keilung der centuriae fabrum etc, denn über dies und die
fünfte Classe differiren die beiden Späteren. Sie war aber
Fabius und Cato ungefähr gleichzeitig und wie bei jenen die
Nachrichten von der Tribuseintbeilung schwankten und nur
die der ländlichen Tribus entschieden dem König Servius zu-
fiel, so blieb sie ebenso nur bei den grossen Zügen der Gas-
seneintheilung stehen. Die Späteren blieben ebenso beschränkt
in ihrer Kenntniss, indem sie immer des gegenwärtigen Ccn-
sussatz König Servius zuschrieben, anderer Seits aber wurde
Sinn und Bedeutung der Verfassung vielfach gedeutelt Bei
Liviua ist es die Prärogative der ersten Classe» worauf das
Ganze beruht; „war die Entscheidung in der ersten Classe
unentschieden, so brachten die Stimmen der zweiten sie, sel-
ten kam's bis zur letzten." Eben dass nicht viritim promi-
scue sondern nach gradus gestimmt ward, ist ihm das Beden*
tende. Man sieht leicht, dass hier einfach die alte Bedeutung
der praerogativa dem Schriftsteller noch lebendig war. Dio-
nys ist nicht allein breiter, seine Vorstellung ist auch we-
sentlich schon verschieden. „Die Reichen" sagt er 4, i9 ft»
„waren an Zahl geringer als die Aermeren, aber in mehr Cen-
timen vertheilt, wurden sie zum Kriegsdienst häufiger enge**
zogen und deshalb mit der absoluten Majorität der Centurien
begabt" Von diesem Uebergewichte der Minorität übet die
Majorität ist bei LTvius nicht die Rede, während es bei Ci-
cero endlich ekelhaft übertrieben wird, wenn es heisst ^illa-
rum sex et nonaginta centuriarum in una centuria tu» qut-
dem plures censebantur, quam paene in prima classe tota"
de rep. 2, 22. Mit dieser Veränderung der alten Giundan-
sicht, mit der Ausbildung neuer hing aber natürlich auch die
Darstellung der Verfassung zusammen. Livius oder seine
Quelle vielmehr, der das Gewicht der Servianisehen Verfas-
sung in der praesogatnra lag, stellt die grosse Majorität der
der römischen Republik. 267
Kittercf nturien , der ersten Classe und der beiden centuriae
fabrum einfach den übrigen 90 oder mit der letzten 91 Cen-
timen gegenüber. Dionys, der sich die der ersten Classe
schon viel schwächer dachte, verschiebt diese Ordnung und
stellt den 90 der Bitter und ersten Classe 95 der übrigen
entgegen, so dass in nur drei überzähligen das Princip der
absoluten Majorität desto schlagender hervortritt. Bei Cicero
endlich finden wir die Centurien erster Classe so unverhält-
nissmassig klein, dass er selbst oder seine Quelle ihr Ueber-
gewicht schon gross genug glaubte, wenn sie sich nur auf
70 beliefen und sie mit einer der fabri und den Rittercentu-
rien nur noch 8 der zweiten Classe zu absoluter Majorität
brauchten. Bei aller Yerderbtbeit der berühmten Stelle scheint
uns diese Betrachtung der Quellen die nächstliegende Erklä-
rung zu bieten. Man bat so viel über die Widersprüche die-
ser verschiedenen Darstellungen gestritten und vennuthet,
dass schon darin der Beweis liegt, sie seien unvereinbar.
Aber liegen ihre Unterschiede und die Veränderung einer er-
sten Ueberlieferung so klar vor Tür die Classen, so scbliessen
wir daraus, dass 1) die Classensätze für die Abstimmung nicht
mehr bestehen konnten zu einer Zeit, wo das Verhältniss
derselben von den Schriftstellern so übersehen und verkannt
wurde, dass namentlich aber, so lange man in der Serviani-
schen Verlassung das Recht der praerogativa als Schwerpunkt
ansah, wie eben die Quellen des Livius, durch die Uebertra-
gupg der Classeneintheilung auf die Tribus am alten Princip
gar Nichts geändert worden wäre, 2} aber und für die vor-
liegende Untersuchung ist es das Wichtigere, dass bei diesem
Schwanken der Quellen über die Classen, die Nachrichten
über die Servianischen oder späteren Proletarier mit gleicher
Behutsamkeit zu behandeln sind. „Der höchst auflallende
Umstand44 sagt Jtfommsen am Schlüsse einer höchst scharfsin-
nigen Erörterung S. 116 ff. „dass unsere Berichterstatter über
die Servianische Volkseinlheilung die zwischen 11000 und 1500
As Geschätzten ganz vergessen erklärt sich nur sehr einfach
aus der von Böckh unwiderleglich nachgewiesenen Vermi-
schung früherer und späterer Verbältnisse in ihren Angaben.
208 lieber den neuesten Stand der Geschichte
Die fiinfüasscn und die Proletarier sind servianiscb; wie auf
jene Fälschlich die neuen Gensussatze übertrug man auf diese,
die nach Servius gar keinen Gensus hatten, noch verkehrter
theils den damaligen Proletariercensus, theils die neue Nor-
mirung der Immunitat, wobei denn freilich die letzten Legio-
narier und die Flottensoldaten ganz ausfielen."*) Allerdings
jene erste Quelle, die Livius und Dionys gemeinsame, schwieg
gewiss von den Proletariern wie von der fünften Glasse. Li-
vius fand über sie nur, dass aus der Menge unter dem letz-
ten Gensus Eine Genturie gebildet sei, frei vom Kriegsdienst,
Dionys weiss schon, dass diese Eine zahlreicher war als alle
übrigen zusammen 1, 18. Cicero, wie er die erste Glasse auf
70 Genturien beschränkte, drängt die proletarii unter 1500
As hinunter und erhält dadurch zwischen diesen beiden als
den eigentlichen stimmfähigen Mittelstand die -ganze Bürger-
schaft von 1500 As bis zum Gensus erster Glasse, die in 101
Genturien scheinbar die Majorität hatte. Es fragt sich, wo-
her er diesen Satz für die Proletarier hatte? Polybius rechnet
die Dienstpflichtigkeit bis 4000 As, die Aermeren in die Ma-
rinerollen, Gicero rechnet alle Proletarier von 1500 As bis zu
gar keinem Gensus, Gellius die Proletarier unter 1500, die
capite censi unter 375 As. Daraus bildet der Verf. die oben
erwähnten Glassen (s. A.) der letzten Legionarier (11000 bis
4000), Flottensoldaten (4000—1500), Proletarier (1500—375).
Diese Glassen entstanden mit der Genturienreform und fan-
den sich wie die 5 Glassen in jeder Halbtribus. Aus dieser
Eintheilung nahm Polybius seine Bemerkung für die Militär-
verfassung, aber hieraus auch Gicero die Proletarier des Ser-
vius Tullius.
Die Verwirrung einer solchen Quellenbenutsung wie. sie
hier dem Gicero Schuld gegeben wird, ist so heillos, dass
dies gewiss eine ganz andere „ Sudelei " gewesen, als wenn
Livius die Verfassungsreform überging. Aber mit der Qucl-
*) Der Verf. findet unterhalb der fünften Classe nach der spä-
teren Verfassung noch folgende 3 Censussätze: letzte Legionarier
— 4000, Classiarier — 1500, Proletarier, frei vou ordentlichem
Dienst — 375 A$.
der römischen Republik. 269
lenbehandlung, wie sie hier, wie sie bei Rubino sich findet,
stürzt man immer aus einer Verlegenheit in die andere und
beschuldigt Cicero der elendesten Faselei um nicht Livius der
Vergesslichkeit zu zeihen.
Wie aber entstanden denn diese Darstellungen des Ser-
vianischen Gensus? Wir müssen uns zum Schlüsse kurz fassen.
Wie gesagt, die ältesten uns kaum sichtbaren Quellen
waren sehr kurz, sie sprachen von den 5 Classen, doch ohne
deren untere Grenze anzugeben. War die spätere Genturiat-
verfassung, wie Niebuhr sie annimmt, entstand sie zu der
Zeit, wo er sie vermuthete, so war 1) die Classeneintheilung
am Ende des ersten punischen Krieges schon so lange aus
den Comitien verschwunden, dass es trotz ihres Bestehens
in den Censuslisten nicht eben leicht war, sich das Bild der
alten Verfassung zurückzurufen. Die Bürger zerfielen in die
prima et secunda classis, die tribus ruslicae et urbanae und alle
Bürger bis 4000 As waren kriegspflichtig und stimmberech-
tigt 2) aber im letzten Jahrhunderte der Bepublik wurden
die capite censi wie früher zum Seedienst, auch zum Land-
dienst angezogen. Dadurch sank die Kriegspflichtigkeit auf
1500 As, während von den Gensoren die Gensussätze ge-
steigert wurden bis zu 125000 As für die erste Glasse. In
den Volksversammlungen endlich verlor die pracrogativa immer
mehr an Bedeutung und es kam auf die Kopfzahl der Stim-
menden an. Und so kam es denn 3) dass jetzt, wo man sich
in ausführlicher Darstellung der Urzeiten immer mehr gefiel,
diese durchaus sich veränderte. Gicero oder seine Quelle
mochte den besten Willen haben, die Verfassung des Servius
treu darzustellen, aber es fehlte an sicheren Urkunden. So
entstand seine wundersame Darstellung. Das Volk des Ser-
vius zerfiel ihm in eine kleine, gar dünne Schaar'von Rei-
chen, in die grosse Masse des Mittelstandes und die ganz Ar-
men. Dies Verhältniss entsprach wesentlich dem seiner Zeit,
wo die wenigen Optimaten mit Pompejus unterlagen, der
wohlhabende Mittelstand dem Gäsar geduldig entgegen ging
und Rom's arme Bevölkerung nur verächtlich war. Konnte
er sich auf Quellen verlasset), die die Censussätze ihrer Zeit
270 Heber den neuesten Stand der Geschichte
auf Senrius übertrugen? Er entwarf sich folgendes Bild. Wie
jetzt die ganze Bürgerschaft stimmten damals die Optimaten
in 70 Centarien, dazu die 18 der Ritter, die übrigen 102 um-
schlossen die grosse Masse der jetzigen stimmfähigen Bür-
gerschaft.
War aber eine solche Darstellung nicht eben so leicht-
sinnig wie jene, die ihm Mommsen zuschreibt? Der grosse
Unterschied zwischen beiden scheint uns der zu sein, dass
hier nicht eine althergebrachte Darstellung, die schon von
vorn herein liisstrauen verdiente, durch berübergenomraene
Stücke aus der gegenwärtigen Verfassung nachlässig ausge-
bessert ward, sondern dass man aus der sicheren Ueberceu-
gung, die Gründer des Staates seien echte und wahre Opti-
maten gewesen, in ihnen die optimatischen Principien voa
vorn herein vermuthete und sie in ihren Werken nach Heber-
zeugung auffand. Jene Kritik der Quellen, wie die heutige
Geschichtsforschung sie fordert, war den Alten unbekannt
und Cicero, ohne ihre Leitung, stellte hier seine Vorstellung
vom optimatischen Staate des Senrius ebenso bin, wie etwa
bei Mouimsen's Untersuchung der Gedanke zu Grunde liegt,
dass der Servianische Census sich auf Grundbesitz gründete
oder wie Rubino von einem gleich vorausgesetzten Staate-
princip ausgeht
Mit dieser Vergleichung glauben wir den beiden For-
schern nicht zu nahe zu treten. Ihre Untersuchungen sind
überaus reich an Belehrung im Einzelnen, die bei fkubmo's
Werk nicht mehr hervorgehoben zu werden braucht. In
Mommsen's Buch ist namentlich unter vielen anderen die Er-
örterung über Sold und Tributum hervorzuheben. Bei einer
blossen Anzeige und Beurtheitung würde es unsere Pflicht
gewesen sein, auch diese Einzelnbeiten genau zu verzeichnen,
so wie ebenfalls der weiteren Untersuchung zu folgen und
die wichtigen Inschriften vor allen, nach welchen Hommsen
die Geschichte der Tribus bis in die spateste Kaiserzeit ver-
folgt, xu beurtheilen, Da es aber nur darauf abgesehen war,
den allgemeinen Stand römischer Gescbichtschreibung und
der römischen Republik. 271
die jetzige Lage der Qucllenfrage vorzulegen, glauben wir
hier abbrechen zu können.
Unser Resultat ist dies, dass man der Niebuhr'schen
Grundansicbt gegenüber vor allen die Geschichte unserer
Quellen neu und von Grund aus erörtern müsse, und dass
erst nach Vollendung dieser bis jetzt nicht geleisteten Arbeit
die grossen und jetzt noch festen Grundlagen, wie Niebuhr
sie aufgerichtet, umgestossen werden können. Der Anblick
des bisherigen Kampfes zwischen jenen festen Anschauungen
eines philologisch und politisch gleich hoch gebildeten Gei-
stes und den durch und durch gelehrten Erörterungen juri-
stischen und philologischen Scharfsinnes ist erfreulich, denn
er zeugt vom Leben, aber hoffnungslos, so lange man jene
Vermittlung bei Seite lässt Hoffentlich wird dies Gefühl bei
Vielen lebendig sein und der Unterzeichnete, wenn er es un-
umwunden aussprach, von ihnen verstanden werden. Möchte
denn diese Aufgabe, für welche auf dem Gebiete deutscher
Geschichte so Viele wirken, auch auf dem der römischen bald
den Mann finden, der ihr ganz gewachsen wäre. —
KieL
K. W. Nitzsch.
Allgemeine Uteraturbericlitc.
Deutschland und die Schweiz.
Klippel: Historische Forschungen und Darstellungen, Erster Band.
Auch unter dem Titel: Johann Friedrich Falcke und das Chronicon Cor-
bejense. Bremen 4 843.
Nachdem die von Stenzel zuerst angeregte Skepsis gegen das
Wedekindsche Chronicon Corbcjense sich bis zur ganzlichen Ver-
werfung desselben in den Schriften von Hirsch und Waitz,
Schaumann, Wigand*) entwickelt hat, unternimmt Herr Klip-
pel den Nachweis vollkommener Echtheit mit solcher Sicherheit,
dass er sich zur Hoffnung berechtigt glaubt, dem Chronicon einen
Platz in den Monumentis Germaniae historicis vorbereitet zu haben«
Hirsch und Waitz, deren Arbeit unseres Bedünkens unter allen
die Streitfrage verhandelnden überhaupt die tüchtigste und gründ-
lichste ist, haben auch in dem ersten Capitel ihres Buchs den
todllichslen Streich gegen das Chronicon geführt. Ohne diesen
würde fast alles Andere, das man wider dasselbe vorgebracht,
zwar immer im Stande sein, Zweifel und Bedenken zu erregen,
für sich aber keines weges, die Lüge bis zur Evidenz aufzu-
decken. Es kann uns demuach hier nicht an einer Prüfung des
von Klippel gegen die allgemeinern und nur aggravirend hinzu-
kommenden Bemerkungen sehr umständlich geführten Gegenbewei-
ses gelegen sein, sondern vornehmlich daran, ob es ihm, wie
er sich das Ansehn giebt, gelungen sei, jenen Hauptangriff zu
entkräften.
Dieser gestaltet sich in kurzer Andeutung folgender Art: Das
vier Jahrhunderte berührende Chronicon bietet sich überall durch
Berufung auf mündliche und briefliche, den Ereignissen wie dem
Schreiber gleichzeitige, Nachrichten als Originalquelle. Durchweg
ist aber nicht blos an Inhalt, sondern auch an Worten, Redensar-
ten und Wendungen die auffallendste (in der Abhandlung nachge-
wiesene) Uebereinslimmung des Chronicons mit den andern, unbe-
strittenen echten Quellen dieser vier Jahrhunderte zu erkennen:
mit der Translatio S. Viti, der Vita S. Adalhardi, den Annales Ein-
hardi, (den Annales Fuldenses), der Vita S. Anskarit, Vita S. Rim-
berti, dem Adamus Bremensis, Widukind, Thielmar, Lamberlus
*) Die Corveyschen GcSchichtsquellen. Ein Nachtrag zur kritischen
Prüfung des Chron. Corbejeuse. Herausg. von Dr. Paul Wigand. Leipzig,
Brockhaus, 4 841.
Allgemeine Literaturberichte. 273
Aschaffenburgensis, AnnalLsta Saxo, zu denen Referent übrigens noch
Helniold treten hissen kann.1) Jede der genannten Quellen hat
ihre besondern Parallelstellen in dem Chronicon, so dass, wenn
ihnen eine Benutzung des Letztern supponirt wird, eine jede von
ihnen gerade diejenigen Theile desselben aufgenommen haben
müsste, dereu alle übrigen sich enthalten. Dazu kommt, dass diese
gleichlautenden Stellen nicht immer nur hintereinander im Chro-
nicon anzutreffen sind, sondern z. B. unter 622 so durcheinander
gemischt und verflochten, dass die hierbei in Betracht kommen-
de Translalio S. Viti und die Vita S. Adalhardi einen förmlich
chemischen Process mit ihm hatten vornehmen müssen, damit nur
jede einen eigenen, von der andern unberührt gelassenen Stoff
sich zueignen konnte. Das nämliche Verhaltniss zum Chronicon
haben die Annales Fuldenses und die Annales Einhardi, wobei
aber noch der merkwürdige Umstand auflallt, dass, da von den
Ann. Fuid. die Ann. Einh. benutzt sind, auch die Abweichungen
der Ersleren von den Letzteren in ihm sich wiederfinden. Hier-
hin gehört noch die Stellung Widukinds zur Chronik, in welcher
sich unter 932 und 933 eine von Keinem in Abrede gestellte
Nachbildung Julius Caesar 's vorfindet, während bei Widuk. alle
casarianisclicn Reminiscenzen vermieden sind. — Als höchst wich-
tig ist ferner hervorzuheben, dass mehrere der genannten Quel-
len gerade da, wo eine Parallelität mit dem Chron. vorliegt, sich
auf andere Berichte berufen; ausserdem einige von ihnen (wie
die Vit. S. Ansk. u. Widuk.) doch trotz ihrer Uebereinstimmung
derartige Abweichungen enthalten, dass diese, eine Benutzung des
Chron icons vorausgesetzt, als offenbare Entstellungen erschei-
nen müssten; endlich aber, dass alle insgesammt in dem Bestre-
ben hätten Eins gewesen sein müssen, die aus der Chronik em-
pfangenen Stellen mit Beibehaltung einzelner Wörter, und Redens-
arten, auf dieselbe Weise umzugestalten.
Wer fühlt sich nach alle dem nicht gedrungen, statt einer Zu-
lassung dieser ganzen Reihe von ün Wahrscheinlichkeiten , ja Un-
möglichkeiten, dem Chronicon eine absichtliche, von Einem Ver-
fasser nach Einem Plane vollbrachte Fälschung zuzuerkennen?
Man muss vielmehr gestehen, das Chronicon befinde sich der Menge
der übrigen glaubwürdigen Quellen gegenüber in der Lage jenes
Wahnsinnigen, der seine ganze Umgebung derselben Geisteszer-
rüttung beschuldigt, die sie ihm zum Vorwurf macht.
Nichtsdestoweniger wird das Chronicon von Herrn Klippel in
Schutz genommen. Er theilt mit den grössten Geistern das Schick-
') Vergl. meine Geschichte des deutschen Reiches unter
Conrad dem Dritten. S. 2SW. 38.
274 Allgemeine Literaturberickte.
s&l, eingewurzelten und allgemein anerkannten Üeberzeugungen
auf überraschende Weise entgegenzutreten and wirft in einem
entscheidenden Satz ein bis dato für untrüglich gehaltenes Haupt-
kriterium nahen Zusammenhanges scheinbar verschiedener Auf-
zeichnungen total zu Boden. Der fulminante Ausspruch lautet (&.
76): „Es wird nicht leicht jemand zugestehen, dass die Ueberein-
stimmung einzelner Worte, oder selbst ganzer Sätze genüge,
um daraus mit Sicherheit den Schluss zu ziehen, dass Eins aus
dem Andern abgeschrieben sei. Solche Uebereinstimmung ist ent-
weder zufällig, oder rührt von der so zu sagen stehend ge-
wordenen Ausdrucksweise in den Klöstern her."
Zur Begründung seiner neuen Wahrheit bringt Herr Klippel
aus einer langen Reihe von schlagenden Beispielen, „die er an-
führen könnte'4, mit vieler Selbstgenügsamkeit eins der hervor«
ragendsten bei. Auf fast vier Seiten lässt er die von Pertz aus
dem Original roitgetheilte Brille Papst Nicolaus des I. über die
Stiftung des Klosters Rameslo vom 1. Juni 864 neben mehreren
Stücken aus der nach dem 3. Febr. 865 von Rimbert geschrie*
benen Vit S. Anskarii abdrucken. Die Uebereinstimmung ist in
der That handgreiflich, oft zu 6 bis 7 Reiben vollständig Wort
für Wort.
Ein arges Dilemma y in das uns Herr Klippel versetzen will,
entweder der von Pertz als original ausgegebenen Urkunde die
Originalität abzusprechen, oder Rtmberts Selbstständigkeit zu ne-
giren. Schade nur, dass wir uns weder 2U dem einen noch zn
dem andern Schlüsse genötfaigt finden. Da nämlich die Urkunde
auf Betrieb des heiligen Ansgars ausgefertigt ist, so möchte es
doch wohl das Natürlichste sein, dass der darin enthaltenen
Erzählung mehrerer seiner Lebensbegegnisse ein Bericht aus Ans-
gars Umgebung zu Grunde gelegen. Wober sollte man denn
sonst in Rom so specielle Kennlniss davon gehabt nahen? und
wenn nun Rimbert selbst entweder am päpstlichen Hofe gewe-
sen ist, oder auch nur jenen Bericht verfasst hat? — Das scheint
uns die leichte Lösung des gewichtvollen Knotens, bei der die
Urkunde ihre Originalität und Rimbert seine Selbstständigkeit be-
hält ungeachtet des engen Verhältnisses beider» Denn zur ent*
gegengesetzten Folgerung, dass zwei von einander unabhängige
Berichterstatter in langen Perioden *) wörtlich mit einander übet*
einstimmen können, ohne dass Einer den Andern benutzt und ab
') Z. B. in Folgendem (s. p. 78): Sed impellentibns paganis et civl-
tate jam obsessa, cum eis resisti non posse conspexit, quomodo pignora
sanctaram retiqniaram asportarentur praeparavit; sicqae ipseeterids suis
nuc Ulucque fuga dispersis etiara sine cappa^la v« evasit.
Allgemeine Liier&turberichU. 275
geschrieben habe, wird uns Herr Klippel wahrlich nicht einmal
anter der Voraussetzung einer chinesischen Erziehung der Schrei-
ber bewegen können«
Nach Beleuchtung dieses schlagenden Beispiels, aus dem
Herr Klippel das Fundameutalargument seiner Kritik der gegne-
rischen Meinungen fliessen Jässt, wird man es uns hoffentlich gern
erlassen, seinen weiteren Ausführungen zu folgen, und die Be-
hauptung für nicht allzugewagt ausgeben, dass der Pfad, den er
dem Chronicon Corbejense in die Möhumenta Germaniae historica
geebnet haben will, doch immer noch etwas steil und unsicher
geblieben ist, —
In Kürze mag noch erwiiluit werden, dass der Verfasser ge-
mäss der vertbeidigteu Echtheit des Cbronicons naturlich weder
Falcke noch Pauliini, auf welchen Letztem Wigand bekanntlich
einen grossen Verdacht hingelenkt hat, als trügerischen Compilator
gelten lassen kann. Falckes Rechtfertigung findet vielmehr fast auf
jeder Seite des Buches einen Platz. Ist es aber nicht über-
raschend und ergötzlich, wenn gerade der Anwalt die überzeu«
gendsten Beweise gegen seinen Client en sich entschlüpfen lasst?
Und so lesen wir auf Seile 249 des Klippeischen Buches in einem
beigebrachten Briefe Harenbergs folgende Stelle : „Der berühmte
£. L, Storch hatte mit dem sei. Falken im Briefwechsel gestanden
and diesem einen ziemlichen Vorrath abgeschriebener Urkunden
zugesendet, nahm es jedoch nachher diesem sehr übe), dass die-
ser darinnen nach Gutdünken verschiedenes geändert
hatte. Herr Storch beschwerte sieb bei mir in einem Briefe von
1757, 4teo März, dass in dem Falkeschen Werke S. 746 die Origi-
ginalworte in pago Nieherses in die Worte Ithergo und S. 747
die Originalworte in pago Arpesfeld in die Worte in pago
Aike^feld verkehrt würden." Ph, Jaffe.
Kaiser Friedrich II. Ein Beitrag zur Berichtigung der Ansichten Über
den Sturz der Honenstaufen, Mit Benutzung handschriftlicher Quellen der
Bibliotheken zu Rom, Paris, Wien und München, verfasst von Dr. Constan-
tin Höfler, ordentlichem öffentlichen Professor der Geschichte an der Lud-
wig-Maximilians-Universität, ordentlichem Mitglied der Königl. Akademie der
Wissenschaften etc. München, Verl. der literarisch-artistischen Anstalt, 4844.
Das hier zur Besprechung vorliegende Buch *) bietet 2 war eine
Seite dar, die man mit Dank anerkennen muss. Es ist nämlich
dem Verf. durch mühevolle Anstrengungen und in Folge seiner
mannfchfaKigen Verbindungen möglich geworden, mancherlei bis-
her unbeachtet oder ganz unbekannt Gebliebenes aus handschrift-
lichen Nachrichten, wie auch der Titel besagt, beizubringen. Was
jedoch die andere Seite betrifft, die Art und Weise, wie der ge-
*) Wir gedenken auf dasselbe noch einmal zurückzukommen. Red.
276 Allgemeine Literaturberichte
gebene Stoff aufgefasst und behandelt worden, so durfte in die*
ser Beziehung kaum eine Beistimmung, am wenigsten von Seiten
der Gelehrten Norddeutschlands, zu erwarten sein. Mit grosser
Bestimmtheit spricht sich im ganzen Werk die auch schon in der
Vorrede (S. VIII.) angedeutete Ansicht aus, dass wenigstens dem
Begriffe des Mittelalters gemäss alle Gewalt, wenn sie rechtlich sein
sollte, eine gegebene sei. Ohne das hierdurch gesetzte Princtp
anfechten zu wollen, wird man doch bei dem Durchlesen des
vorliegenden Buches unwillkührlich auf die Bemerkung geführt,
dass es wünschenswerth gewesen wäre, Herr Höfler hätte sieh
bestimmter und schärfer in kurzen Worten darüber äussern mö-.
gen, ob es seine Ansicht sei, dass dem allgemein herrschenden
Begriffe der Zeit, dereu Geschichte er behandelt, gemäss alle Ueber-
tragung der von Gott abgeleiteten weltlichen Gewalt rechtlich nur
durch den Papst habe geschehen können, als den Statthalter Got-
tes auf Erden, der im Verhäitniss zu den Fürsten, oder wenig-
stens zu dem Kaiser als Oberlehnsherr geachtet worden wäre.
Gerade diese Frage ist es, die innerlieh dem Principe und ausser-
lieh dem positiven Rechte nach vor Allem zu behandeln ist, ehe
man an die Betrachtung des grossen Kampfes geht, der im Mit-
telalter zwischen geistlicher und weltlicher Macht geführt ward.
Der Kampf selbst ward um die Lösung des Priocips, auf die die
Frage sich bezieht, geführt. Kein deutscher König und römischer
Kaiser hat jemals geleugnet, dass seine Gewalt eine ihm von Gott
verliehene sei und dass er über die Ausübung dieser Gewalt vor
Gott Rechenschaft abzulegen verpflichtet sei. In Rücksicht auf die
Frage bei dem Kampfe der weltlichen mit der geistlichen Macht
im Mittelalter, kam es der Hauptsache nach auf die Entscheidung
darüber an, ob den Päpsten .kraft der ihnen von Gott verliehenen
Machtvollkommenheit das Recht zustehe, das weltliche Schwert
als solches zu übertragen und dem rechtmässig erwählten deut-
schen Könige die Anerkennung zu versagen und die Debergabe
der römischen Kaiserkrone zu verweigern. Die Päpste haben dies
vielfach behaupten wollen; es ist ihnen aber niemals gelungen,
ihr Princip in dieser Rücksicht zu allgemeiner Anerkennung auch
nur in dem Bewusstsein eines einzelnen Zeitalters zu brin-
gen. Von positivem Rechte oder von dem, was in dieser Rück-
sicht dem Rechtsbegriffe der damaligen Zeit gemäss gewesen wäre,
kann daher auch für den Zweck der Rechtfertigung der Päpste die
Rede nicht sein.
Kirchliche und politische Verhältnisse hatten sich zur Zeit der
Herrschaft der Kaiser aus dem Herzoglich Fränkischen Hause ver-
wirrt. Um in diese/ Verwirrung Ordnung herzustellen, war das
Calixlinische Concordat nach Principien abgeschlossen, die den
Allgemeine Literaturberichte. 277
übertriebenen Forderungen der Päpste keinesweges Vorschub lei*
steten, denen zufolge jedoch die Verhältnisse der Kirche zum Reich
in einer dem herrschenden Rechtsbewusstsein der damaligen Zeit
im Allgemeinen wenigstens entsprechenden Weise festgestellt wa-
ren. Hätten die Päpste die Linie, die ihnen durch das Calixtinische
Concordat vorgezeichnet war, verfolgt, so würden sie in ihrem
Rechte geblieben sein. Nach den Principien ober, nach welchen
es abgeschlossen ward, gebührte es ihnen nicht über das welt-
liche Schwert zu verfügen. Sie wollte^ jedoch einmal in den Mit-
telpunkt aller Macht und Gewalt auf Erden treten, und eben die-
sem ihrem übermüthigen Streben entgegenzuwirken, erschien zum
Heil der Menschheit das Geschlecht der Hobenstaufen. Zwar meint
Herr Höfler: „Es kann darüber kein Zweifel mehr obwalten, die
Herrschaft der Hohenstaufen war ursprünglich eine Parteiherrschaft,
selbst mehr durch Hinterlist und die Befriedigung eigennütziger
Interessen, als durch einen glänzenden Sieg begründet, der das
Haupt der Weifen, Heinrich den Stolzen von Bayern, zu Boden
warf (S. 1.). — Unter den Zeitgenossen Friedrichs I. gab es je-
doch, wie Herr H. selbst (S. 3.) zugiebt, mächtige Kirchenfürsten,
die die Rechte des deutschen Königlhums, an welches unwider-
sprechlich damals das römische Kaiserthum geknüpft war, aner-
kannten und zu vertheidigeh wusslen., Mit Bedauern muss Herr
H. (S. 3.) es gestehen, dass der Erzbischof von Mailand auf den
Roncalischen Feldern erklärt habe, dass des Kaisers Wille Gesetz
sei, und es hatten auch schon früher die deutschen Bischöfe bei
der ersten Controverse Friedrichs I. mit Papst Adrian den Aus-
spruch gethan, die Krone ihres Reichs sei nur einer göttlichen
Woblthat zuzuschreiben. Es erhellt doch aus diesem von dem
Verf. selbst Beigebrachten ganz bestimmt, dass nicht alle Zeitge-
nossen der Hohenstaufen und besonders weder alle Geistliche noch
die deutsche Geistlichkeit der Ansicht gewesen wären, dass dem
Papste die Verwaltung der welllichen Angelegenheiten und die Ver-
fügung über den Besitz des weltlichen Schwertes dem in der Zeit
herrschenden Rechtsbewusstsein nach gebührt hätten. Gewiss auch
sind so wenig, wie alle Genossen der heutigen Zeit es sein wer-
den, alle Genossen der damaligen der Meinung gewesen, dass der
Verlust von Jerusalem, der unglückliche Ausgang des von Frie-
drich I. unternommenen Kreuzzuges und der zu früh erfolgte Un-
tergang des Hohenstaußscben Hauses als göttliche Strafe wegen
dessen zu achten sei , dass jener Kaiser seine Hand nach Sicilien
ausgestreckt und die Schuld einer gewaltsamen Verrückung der
dem deutschen Volke gewordenen Aufgabe auf das Kaiserhaus ge-
laden habe (Vergl. S. 6. 7.)-
Die Absichten der Vorsehung mögen hier bei Seite gesetzt,
Zeitschrift f. Geschieht**. IV. 1845. 19
278 Allgemeine Literaturberickte.
dagegen einige Bemerkungen über die Stellang der Hohenstaufischen
Kaiser beigebracht werden. Richtig ist allerdings, dass das rö-
mische Kaiserthum ein bei weitem grösseres Bereich von Völker-
Verhältnissen umfasste, als das deutsche Königthum, und dass in
Folge dessen, inwiefern das römische Kaiserthum mit dein deufr
sehen Königthum unzertrennlich verknüpft war, die Stellung des
deutschen Volks, wie man im gewissen. Sinne sagen kann, eine
Verschiebung erlitten hat. Je mehr im Mittelalter von der occi*
dentalischen Christenheit aijs der BHck auf den Orient sich wandte,
um so weiter auch eröffneten sich die Grenzen, die man wenigstens
dem Gedanken nach dem Reiche steckte, in welchem zu waiiea
die Aufgabe der obersten Fürsten in der Christenheit sei. Als
solche sahen sich nun von Seiten der weltlichen Herrschaft be-
trachtet die Kaiser an, und wenn es überhaupt ein Verbrechen
ist, so beruht das der flohenstaufen darin ganz allein, dass sie die
durch jene Aufgabe (ihnen angewiesene Stellung den Ansprüchen
des päpstlichen Hofes gegenüber aufzugeben nicht gesonnen wa»
ren. In Beziehung auf das Wesen des römischen Kaiserthums iat
Mittelalter kann von deutschem Volksthum kaum die Rede sein,
und ohne Zweifel würde die Aufgabe des deutschen Volks noch
weit mehr, als es durch die Hohenslaufen geschehen sein mag,
verrückt worden sein, wenn sie, wie jener fromme Pfsflenkönig
Heinrich Raspe, der sich nicht langer weigerte, im Geiste des ech-
ten Ritterthums und in Kraft des christlichen Gehorsams (VergL
S. 183.) auf Befehl des Papstes Innocenz IV. die schwere Last der
Krone zu übernehmen, sich demüthig und in frommer Hingebung
au die Kirche gebeugt hatten. Das Wesen and die Machtvollkom-
menheit des römischen Kaiserthums würde alsdann der geistlichen
Macht des Papstes zugefallen sein und der deutsche König wäre
alsdann als THular-Kaiser Vogt der römischen Kirche geworden.
Einem solchen Geschicke entgegenzuarbeiten, und somit die
geschichtliche Entwicklung der Aufgabe des deutschen Volks für
die Zukunft vorzubereiten, darin bestand das, wofür die Hohen*
slaufen kräftigst gekämpft haben. Gegen diese Behauptung mag
nun vielleicht Herr H. die Worte seiner Vorrede (S. Vit) richten,
wonach er einen Principieukampf , wie es scheint, hat vermeiden
wollen. Denn er sagt: „Die Geschichte Friedrichs IL bleibt für
alle Zeiten von dem höchsten Interesse, weil der Wendepunkt des
Mittelalters in sie fallt. So grosse Schwierigkeiten hierbei der Ge»
gensland darbietet, so liegen doch die bedeutenderen in den An«
forderungen der Leser, indem die meisten von dem Verfasser gera*
dezu verlangen, er solle sich entweder lobend oder tadelnd über
das Recht der Päpste, die Könige abzusetzen , und die Pflicht der
letzteren, der Hierarchie zu widerstehen, aussprechen. Je nachdem
Allgemeine Literaturberichle. £79
dies geschehen, wird ihm aucfi Anerkennung oder Verwerfung
zu Theii werden. Mit Absicht hat jedoch der Verfasser darauf gar
keine Rücksicht genommen. In der Geschichte hat man es nun
einmal nicht mit abstracten Sätzen, sondern mit particulären Ver?
haltnissen zu thun."
Will hiernach der Herr Verfasser nicht um abstracte Satze har
dem, so wäre er ohne Zweifel um so mehr verpflichtet gewesen,
die Linie einer strengen und scharfen, einer besonnenen und vor-
urteilsfreien historischen Kritik einzuhalten. Dass er dies getban
habe, darf man aber nicht von ihm rühmen. Fast auf jeder Seite
«eines Buches finden sich die bestimmtesten Beweise darüber vor,
wie er sich gar nicht die Mühe gegeben hat, die verschieden lau-
tenden Berichte der mannigfaltigen Parteischriftsteller der dama*
ligen Zeit mit Besonnenheit und Buhe, ohne Vorurtheil und Hass
mit einander zn vergleichen. Ausgehend von der einmal gefassten
Ansiebt, dass der päpstliche Hof im vollen Rechte, der kaiserliehe
aber im vollen Unrechte gewesen sei, ist nicht nur Alles, was die
Gegner der Hobeqstaufen und besonders Friedrichs II. berichtet
haben, mit ßegier zusammengerafft, und in einer sehr lebhaften
Schreibart vorgelegt, sondern es werden auch weiüauflig* Betrach-
tungen über die von den Päpsten ausgegangenen Erlasse hjnzuge*-
fügt, in welchen ausser von der Richtigkeit dessen, was darin ge«.
sagt wird, auch von der Offenheit und Ehrlichkeit, mit welcher
sie abgefasst seien, geredet wird. In allen öffentlichen Schriften
dagegen, die von den Kaisern ausgegangen sind, findet Herr Höfler
nur Trug, Hinterlist und Lüge. Am unangenehmsten wird man
berührt durtb die Art und Weise der Beurteilung der Verhältnisse
des Concils von Lyon und der Personen, die dabei zunächst her
iheüigt waren* Um indess diesen Gegenstand näher zu beleuch-
ten, dazu würde eine Abhandlung nötbig sein, die hier nicht Raum
finden kann. Pies nur darf hervorgehoben werden, dass in der
Schrift die Verurtheilung Friedrichs II. durch ein ökumenisches
Concil ohne alle Einschränkung aJs eine durchaus rechtmässige
Sache angesehen und dann noch berichtet wird, in seiner Wuth
sei der Kaiser, als er von dem Ujtheile Kenntniss empfangen, frü-
her als es in seiner Absicht gelegen habe, mit dem Geheimnisse
seiner Politik hervorgetreten (S. 173. 174.)
Es ist hier abermals zu bedauern, dass der Herr Verfasser es
flieht för angemessen gehalten bat, bestimmt und mit ausdrück-
lichen Worten seine Meinung auszusprechen. So wenig wie in
solcher Weise er sieh hat äussern wollen über die flechte der
geistliche» und weltlichen Nacht, eben so wenig auch ist dies ge-
schehen in Rücksicht anf die Frage über das eigentliche Geh eiin-
Di ss der Politik Friedrichs iL Andeutungen jedoch über das, was
19*
1
28Q Allgemeine Literaturberickte..
eigeollich gemeint sei, sind gepug gegeben, theils bin und wieder
im ganzen Boche, theils auch an dem schon angeführten Ort.
Diesen Andeutungen nach darf man behaupten, dass Herrn B's.
eigentliche Meinung die sei, es habe in den geheimen Plänen
Friedrichs II. gelegen , das Reich Gottes auf Erden umzustürzen.
Inwieweit übrigens Herr Höfler sich an den Spruch hält, nach
welchem in der Stimme des Volks die Stimme Gottes sich aus-
sprechen solle, ist mir nicht bekannt Dies aber kann ich bezeu-
gen, dass er (S. 113 — 118) eine weitläufige Auseinandersetzung
über die Gründe giebt, die dazu Veranlassung gaben, dass viele
der Zeitgenossen Friedrich II. als den Abscheu des Menschenge-
schlechts, als das apokalyptische Ungeheuer ansahen, als den Vor*
laufer des Antichrists, dessen wüthendes Auftreten den nahen Un-
tergang der Welt verkünde.
Würde Alles, meint der Verf., was der Kaiser verschuldet bat,
„in jener Zeit schon so klar vor Augen gelegen haben, wie jetzt
denjenigen, welche die Geschichte jener Zeit mit der Absieht
schreiben, nichts von Bedeutung zu übergeben, was den grossen
Wendepunkt der Geschichte des Kaisertums im dreizehnten Jahr*
hundert klar zu machen vermag, es hätte bereits Papst Gregor
aus der nur abwehrenden Stellung, die er, noch immer besorgt,
nicht zum Aeussersten zu schreiten, angenommen hatte, heraus-
treten und gleich seinem Nachfolger zu noch stärkern Schritten
seine Zuflucht nehmen müssen*.1 S. 118.
„Selten oder nie/4 wird (S. 280) gesagt, „besass ein Fürst so
ausgezeichnete Fähigkeiten mit einer so glänzenden äussern Macht,
als Friedrich IL; selten oder nie ward ein solcher Verein so ganz*
lieh zu selbstsüchtigen Zwecken missbraucht, als von ihm. Alle
Gaben des Geistes und des Herzens, die einem Manne die Liebe
und Bewunderung der Seinigen verleihen können, waren über
ihn ausgegossen. Er war Dichter und sehrieb über die Vogeljagd;
er war bewandert in den Sprachen des Orients wie des Occi-
dents, wusste die gelehrtesten Männer an sich zu ziehen, liebte
und schätzte Künste und Wissenschaften. Die moslemischen Für-
sten beugten sich willig vor ihm. Italien gab ihm seine Schätze,
Deutschland seine starken Söhne. Alle Kraft seines Geistes und
seines Willens vermochte er auf Ein Ziel zu verwenden, dessen
Erreichung die Aufgabe seines Lebens, das Endziel des Strebens
seines Hausses war, um dessen willen er alle Kräfte ansetzte, über
die er im weiten Umfange seiner Länder mit diesem eigenthüm«
liehen Reichthume von Ideen zu verfügen vermochte. Was er also
schuf, was er als das Vermächtniss seiner Regierung den Völkern
hinterliess, das war seine That, es war sein Werk, sein eigen; ja
man kann nicht einmal sagen, er habe, die letzteren Jahre seines
Allgemeine Lileraturberichte. 281
Lebens ausgenommen, in Ausführung seiner Absiebten Hindernisse
geiunden, die er nicht zu überwältigen vermocht halte. Was das
Haus der Hohenstaufen wollte, was Friedrichs Absicht war, konnte
sieb rücksichtsloser, unumwundener nie zeigen, wie er denn auch
einem halben Jahrhunderte den Stempel seines Wesens aufzu-
drücken vermochte. Und welch hässlicbes Gemälde bietet sich
am Abschluss dieser Periode dar!'* — „Gewiss," heisst es (S. 285)
weiter, „es war nur wenigen Fürsten in dem Maasse gegeben, auf
ihre Zeit heilbringend einzuwirken, wie Friedrich IL Ja, was viel-
leicht nie der Fall war, war ihm anheimgestellt, noch in der Mitte
seiner Laufbahn umzuwenden, und was bereits in der falschen
Richtung geschehen war, durch Einlenkung in die bessere wieder
gut zu machen.'4 — Diese Einlenkung, meint der Verf., hätte da-
durch geschehen können, dass der Kaiser sich enge an die from-
men, religiösen Regungen, die zu jener Zeit die Bettelmönche her-
vorriefen, angeschlossen hätte. Aber statt dessen habe er den
Elias, der nach dem Tode des heiligen Franciscus an dessen Stelle
getreten, das Ansehen, welches ihm seine Stelle verlieh, in Hoch-
muth gemissbraucht und zugleich in seiner Hinneigung zu Auf-
wand und einem bequemen Leben es verschuldet habe, dass die
alle Strenge aus dem Orden gewichen wäre, an sich gezogen. Es
wird die Vermuthung geäussert, dass Friedrich dies bios darum
getban habe, um sich bei seinem unverhohlen ausgesprochenen Plane,
den Clerus zu stürzen, des vom Papste abgesetzten Ordensgene-
rals, zu bedienen, um ein Schisma in die Kirche zu bringen (S. 985 —
290). So soll der Kaiser die dargebotene Gelegenheit zur Einlen-
kung in die von der Kirche vorgeschriebene Bahn verscherzt
haben.
Herr H. weiss in seiner Beurtheilung Alles zum Nachtheile des
Kaisers zu wenden. Er geht in diesem seinem Bestreben auf eine
unbegreifliche Weise selbst so weit, dass er ihm, den er als einen
Todfeind der Kirche und als einen solchen bezeichnet, der offen
mit der Absiebt umgegangen wäre, den Clerus auszurotten, den
Erlass seiner Constitution gegen die Ketzer zum Verbrechen macht,
in Folge dessen in Kraft seiner Blutsentenzen durch eine ironi-
sche Fügung des Geschicks der Sturz seiner Partei nach wenigen
Jahrzehnten vollendet worden wäre. Denn durch die weitere
Ausbildung, die Friedrichs Ketzeredicte durch die Verordnungen
des Papstes Innocenz IV« erhielten, wären nun Tausende von
Scheiterhaufen aufgelodert, in deren Flammen die Gegner der
Kirche, die Ueberbleibsel der hohenstaufiseben Partei, ihr Leben
hätten büssen müssen (S. 297, 298, 306.).
Aber auch in der Rücksicht widerspricht sich der Verf., wenn
er behauptet, dass das, was er die hohenstaufische Partei nennt,
n
282 Allgemeine Literaturberichte.
von den Flammen der von Seiten der päpstlich Gesinnten errich-
teten Scheiterhaufen verzehrt worden ward. Ihm selbst ja er-
scheint nicht ohne Grund der Sturz Friedrichs und seines Ge-
schlechts als ein Hauptwendepunct in der Geschichte, und er sieht
dies geschichtliche Moment nicht anders an, denn als eine grosse
Revolution, die eine grosse weitverzweigte Partei getroffen, und
ihre Folgen noch lange geäussert habe, nachdem angeblich die
eigentliche Ursache längst verschollen gewesen (S> 995.)* Was die
Hohenstaufen nach der Absicht des Verf. vorzubereiten bestrebt
gewesen sind, kann nach eben dieser Ansicht niöht untergegangen
sein; denn den Worten der Vorrede (S. VIII.) zufolge wären ja
die Hohenstaufen, vor allen Friedrich IL, den neueren Zeiten von
angegangen auf deren Bahn, die Freiheit in die Willkür zu legen,
so dass aufs neue herrschen oftmals nichts anderes heisse, als die
Willkür üben. Der Kampf Friedrichs II. mit dem Clerus soll her-
vorragend diesen Charakter getragen haben, da der Grundsatz des
Traditionellen sich nirgends so ausgedehnt kund gegeben hatte,
als in diesem Stande. Hiernach und nach Allem, was die Schrift
enthalt^ muss der Berichterstatter gestehen, dass ihm völlig un-
verständlich im Sinne des überall als streng katholisch auftreten*
den Verf. folgende Worte (a* a. 0.) sind: „Der Kaiser unterlag,
aber man sieht, welch' schwere Wunden der Sieg der Gegenpartei
schlug und wie der unnatürliche Zustand gewaltsamer Aufregung,
selbst von denen, die nolhgedrungen hierzu ihre Zuflucht nahmen,
immer nur als ein solcher angesehen werden durfte, dem schnell
ein besserer, auf die alte wahre Grundlage des Kaiserthnms ge
stellter folgen musste. Dieser Kampf erhielt aber in der vorlie-
genden Schrift eine neue Berücksichtigung, da er nicht nur dem
Papste und Clerus gegenüber, sondern insbesondere in seiner Be-
ziehung zu dem Laienstande verfolgt ward, welcher gleichsam
Erbe des gewaltigen Streites zwischen dem Priester« und König-
thum, von nun an eine Stellung in der christlichen Welt ein-
nimmt, die mit jedem Jahrhundert von grösserer Bedeutung wird/*
Diesen Worten mögen zum Beweise dafür, dass Herr H. bei
aller Subjectivität in Beurtheilung des im Mittelalter waltenden
grossen Kampfes zwischen geistlicher und weltlicher Macht den-
noch im gewissen Sinne historische Objektivität anerkennt, rbi- .
gende Schlussworte der ganzen Schrift hinzugefügt werden: „Di*
ungeheuren Anstrengungen, zu welchen unter Innocehz die Kirche
genöthigt worden war, hatten dieselbe in einen so unnatürlichen
Zustand versetzt, dass Jahrzehnte vergingen, bis sie aus dem
Schwanken wieder zur Ruhe gebracht werden konnte. Innocenz
hatte von Anfang an nach Frieden gestrebt; allein die Unmöglich.
keitv einen solchen ohne die unverantwortlichste Verfettung sej-
Allgemeine Literaturberichte. 283
ner Pflichten zu schliessen, halte ihn zu den äusserten Sehritten
vermocht, welche sein Pontificat mit dem Hasse der Ghibellinea
erfüllten. Als er schnell nach dem Sturze des Kaisers wieder ein-
zulenken versuchte, mussle er die Erfahrung machen, wie die
Aufregung derParteien ein selbständiges Leben zu gewinnen vermöge,
auch wenn die Ursache derselben langst weggefallen war. Dafür,
konnte ihn aber das Bewusstsein trösten, in der äussersten Be-
drängniss nur dasjenige gethan zu haben, was zum Heile der
Kirche menschliche Weisheit für unumgänglich erachtete. Es blieb
einem höheren Ermessen überlassen, im Laufe der Weltgeschichte
die Ursache klar zu machen, warum die alte Verbindung zwischen
Papstlhum und Kaisertbum gelöst, das Abendland der Zerrüttung,
das christliche Morgenland dem Untergange preisgegeben werden
sollte. Die Saat, die seit Heinrich IV. unablässig ausgestreut wor-
den, war endlich aufgegangen; sie hatte ihre Früchte gebracht
und vergeblich mochte jetzt die Welt misskennen, was nur die
natürliche Folge vorausgegangener entsetzlicher Ursachen war.
Entrinuen konnte sie den Uebelständen derselben nicht mehr;
dann erntete sie auch die besseren Früchte."
Schliesslich muss der Berichterstatter gestehen, dass er weder
die römisch-katholische Weihe, noch den römisch-katholischen
Segen im Geiste empfangen habe* Daran mag es liegen, dass ihm
bauCg sehr . Vieles in den Schriften katholischer Geschichtschreiber
völlig unklar bleibt. Seinem unerleuchteten Geiste will es oft be-
danken, dass das, was ihm in Beziehung auf den Geist eines be-
stimmten Zeitalters klar vor Augen steht, ihm wieder verdunkelt
wird dadurch, dass es ihm nach seiner Auffassung dessen, was
ihm der katholische Historiker bringt, scheint, er habe nur als ein
Relatives, nach Zeit und Umstanden Bedingtes verstanden, was
jener als ein Absolutes setzt; So entsteht sehr häufig ein Zweifel
darüber, wie eigentlich das Zeitalter Gregors VII. aufzufassen sei.
Dass in seiner Zeit und unter den Verhältnissen, in denen er
lebte, Gregor VII. eine grosse historische Persönlichkeit darstellte,
wird Niemand leugnen wollen; aber unverständlich bleibt uns
Laien. alles das, was den Schein darbietet, als ob noch irgendwo
im 19ten Jahrhundert ein Streben vorhanden wäre, das Ideal der
Päpste des eilften Jahrhunderts herzustellen, wenn auch immerhin
dabei anerkannt wird, dass die Zeit und die Umstände, in die man
sich zu fügen habe, sowie die geistige Bildung in der Christenheit
nach Gottes Rath auf die mannigfaltigste Weise sich umgestaltet
ballen. Schwer wird es, die Hoffnung auf eine wiedereintretende
Herstellung der römisch-katholischen Kirche in deren allem Glänze
und Blülhe zu theiien. Den Gelehrten aber berührt eben deshalb
auf eine unangenehme Weise jedes Streben, auf wissenschaftli-
284 Allgemeine Literaturberichte.
ehern Wege die entgegengesetztesten Elemente der Entwickelan-
gen im Leben der Menschheit bis auf die heutigen Zeiten, inwie-
fern sie nicht zur Seite geschoben werden dürfen, sondern un-
mittelbar durch die Macht des Lebens eine objeetive Anerkennung
sich erringen, mit den Forderungen der römischen Kirche in eine
gewisse Art von Uebereinstimmung zu bringen. P. F. Stuhr.
R. Freiherr Stillfrled-Battonitz: die Burggrafen von Nürnberg Im
XII. und XIII. Jahrhundert. Mit 2 tob. Ansichten« Görützt G. Heinz© &
Co, 4844. 8vo. S. 404.
Die so lange Zeit vernachlässigte älteste Geschichte des in
Preussen regierenden Hauses verdankt dem Verfasser, welcher
auch ein Urkundenbuch und andere treffliche Werke zur Erläute-
rung derselben herausgegeben hat, vielfache Aufklärung. Wie un-
zuverlässig und unbrauchbar Otters Geschichte der Burggrafen
von Nürnberg sei, ist allgemein bekannt, und. doch ist diese noch
um vieles besser als fast sämmtlicbe neue, die älteste Geschichte
der Zollern behandelnde Schriften, welche auf unhistorischem Bo-
den fussend, mit geringen Ausnahmen nur irrige Nachrichten und
selbst alberne Mährchen miUbeilen.
Mit grosser Freude erkennen wir aus dem vorliegenden Werke,
wie der Verf. durch neue, mit Glück aufgefundene und mit gründ-
licher Kritik benutzte Documente, auf klare und anspruchslose
Weise die ältesten Nachrichten über die Zollersche Familie zu-
sammengestellt hat. Er hat sich in dieser Schrift hauptsächlich
mit den drei Fragen beschäftigt: 1) welchem Stamme gehörten die
älteren Burggrafen von Nürnberg an? 2) wann und wie gelangt
das Burggrafen thum Nürnberg an die ihrem Ursprünge nach
schwäbischen Grafen von Zollern? 3) welches sind die nachweis-
lichen Stammältern der Zollerschen Burggrafen von Nürnberg and
wie ist das Entstehen einer schwäbischen und fränkischen Linie
dieses Hauses im 13ten Jahrh. zu erklären?
Was die erste Frage betrifft, so hat Hr. v. S. nachgewiesen,
dass die Vorgänger der Zollern im Burggrafenthum Nürnberg die
Grafen von Retz in Oesterreich gewesen sind. Dieses mächtige
Grafengeschlecht stammte von den Babenbergern her, und führte
den Löwen im Wappen, welcher durch sie auf das Burggrafen*
thum Nürnberg überging. Graf Gottfried der Aellere von Retz und
sein Sohn Conrad, Vasalien des Markgrafen Leopold von Oester-
reich, erhielten im Jahre 1103 die Burghut von Nürnberg von
Kaiser Heinrich IV., und behaupteten sie gegen den seinen eignen
Vater bekämpfenden Heinrich V.
Der Verf. beweist, wie das Burggrafenthum bei dieser Familie
bis zu ihrem Ausslerben verblieben, und wie eine Urkunde vom
Jähre 1138, welche einem Grafen Gottfried von Hohenlohe das
Allgemeine Literaturberichte. 283
Burggrafenthum zuschreiben will, entweder verfälscht öder ganz
erdichtet ist. Der letzte Graf von Retz und Burggraf von Nürn-
berg aus dieser Familie war Conrad, welcher ohne männliche
Erben nach 1198 starb. Wie wir aus freundschaftlicher Mittbei-
lung des Hrn. Verf. kürzlich erfahren haben, ist es demselben ge*
Jungen 4 durch Auffindung einer höchst wichtigen Urkunde dieses
Conrad vom Jahre 1198 jeden Zweifel an der erwähnten Darstel-
lung zu heben. In dieser Urkunde wird Conrad: Praefectus de
Nurenberch „Rakeze", also Retz genannt, eine Thatsache, durch
welche demnach auch die vor wenigen Monaten von Hrn. Oechsle
in Stuttgart in den Heidelberger Jahrbüchern ausgesprochene
Meinung, dass die alteren Burggrafen vielleicht doch zum Theil
noch dem Hohenlohiscben Geschlecht angehört hätten, vollständig
beseitigt wird«
Die einzige Tochter dieses Conrad, Sophia, war an Graf Frie-
drich von Zollern, den ersten Burggrafen von Nürnberg aus dieser
Familie, vermählt, und hatte ihm, ausser bedeutenden Gütern in
Oesterreich, welche zum Theil noch bis zum Teschener Frieden
im Besitz des Zollerschen Hauses waren, auch das Burggrafenthum
zugebracht. Die Grafschaft Retz verkaufte sie mit Hinzuziehung
ihres Sohnes Friedrich (II.) schon im1 Jahre 1218 an Herzog Leo-
pold VII. von Oesterreicb; das Burggrafenthum blieb aber in der
Zollerschen Familie.
Bei der Behandlung der dritten Frage beschäftigt sich Hr. v.
S. zuerst mit dem Namen Zollern und zeigt, dass derselbe ein
nicht ungewöhnlicher Name für Freie und Unfreie war. Der äl-
teste Sitz der Grafen von Zollern war die Bertholdesbaar in Schwa-
ben, wo auch die um das Jahr 1000 gegründete Stammfeste lag;
der Berg heisst noch jetzt der Zollerberg. Ein stammverwandter
Zweig- der Zollerschen Grafen waren die Hohenberge, was der
Verf. durch alte Zeugnisse nachweist. Aus diesem Geschlechte der
Zollerschen Grafen von Hohenberg-Haigerloch , deren vollständige
Genealogie mitgetheilt wird, stammte auch Anna, die Gemahlin
Kaiser Rudolphs von Habsburg.
Urkundlich kommt der Name Graf von Zolre im Jahre 1031 vor,
wahrscheinlich aber von einer spätem Hand hinzugefügt: dann
werden beim Jahre 1061 die Grafen Burkhard und Wezel genannt,
über welche jedoch keine näheren Nachrichten vorhanden sind.
Sicherere Nachrichten hat Hr. v. S. über die später erscheinenden
Mitglieder dieser Familie gegeben: sie sind mit Fleiss und Kritik
zusammengestellt, und zeigen einerseits die Macht dieses alten
Geschlechts, andrerseits auch, wie dasselbe mit fast allen mächti-
gen süddeutschen Fürstengeschlechtern vielfach verschwägert war.
Ein solches verwandtschaftliches Veihältniss bestand namentlich
286 Allgemeine Literaturberickte.
mit den Grafen von Urach, mit den Hohenstaufen, mit Kaiser Ru-
dolph von Habsburg u. s. w.
Einen bedeutenden Zuwachs erhielt das Zollersche Gebiet
durch die Erwerbung der Grafschaft Abenberg, welche die Erb*
tochter des letzten Grafen ihrem Gemahl, Burggraf. Friedrich IL
zubrachte. Auch über die alten Grafen von Abenberg hat Hr. v.
S. vortreffliche Notizen beigebracht: der erste urkundlich bekannte
Graf dieses Geschlechts ist Rapoto, der im Jahre 1132 das Kloster
Heilsbronn beschenkte. — Während der Kampfe der Hohenstaufen
mit ihren Gegen königen finden wir die Burggrafen auf Seite der
letzteren, da sie den Hohenstaufen, weiche ihnen den Besitz der
Grafschaft ßurgund streitig machten, zürnten. Von dieser Graf-
schaft erhielt das Haus Zollern nach langem Streite, in welchem
es der Uebermacht weichen musste, nur die Schirmvoigtei von
Besangon und eine Geldentschädigung. Dagegen waren die Burg-
grafen in dem Streite, welcher über die literarische Erbschaft in
Franken entstand, glücklicher: sie erhielten Kadoizburz ,- Baireutb,
Creusen und Hof: dazu wurde später noch der Antbeil der Grafin
Beatrix von Orlamünde erworben; namentlich Plassenburg,
Culmbaoh u. s. w., wodurch das burggräfliche Haus zu einer der
bedeutendsten fürstlichen Machte in Deutschland erwuchs.
Herr v. S. hat mit grossem Fleiss und Geschick die vielfach
zerstreuten, und zum Theil noch unbekannten historischen Nach-
richten über die einzelnen Burggrafen der Zollerscben Familie ver-
einigt. Wie er selbst bemerkt, hat er überall ernst und nüchtern
nur das Nöthige gesagt, und stets durch specielle Nachweisungea
beglaubigt. Er schliesst mit der Geschichte Friedrichs HL, wel-
cher am 15. August 1297 starb.
Wir wünschen, dass bald die Forlsetzung dieses höchst wich-
tigen und belehrenden Werkes, welches, wie wir gehört haben
der Verfasser bis auf die Erwerbung der Mark Brandenburg fort«
zuführen gedenkt, erscheinen möge. B. Köhne.
Die freie Reichsstadt Speier vor ihrer Zerstörung, nach urkundlichen
Quellen örtlich geschildert von Prof. Dr. Zeuss. Hit altem Plane und
alten Ansichten der Stadt, Speier, f, C, Neidhard's Buchhandlung 1843.
4. 34 S.
Die alte Kaiserstadt, berühmt durch Treue und wackeren Muth
ihrer Bürger, fiel in den vandalischen llaubzügen Ludwig XIV. mit
all ihren Alterthümern in Trümmer; nur das papierne Document,
dauernder als Erz und Steiu, bewahrte die Erinnerung an ehe-
malige Pracht, aus der morganenhaft der Forscher die alte Stadt
mit ihren Thürmen und Kirchen, Strassen und Plätzen wieder auf-
tauchen lasst.
Es ist das ein nicht minder nützliches als vergnügliches Ge«
Allgemeine Literaturberichte. 287
schüft; man ruht sich aüa von den Bewegungen der That und des
Lebetft, indem man den Raum derselben beschaut; die Stadt selbst
ist uns ein treues Bild des beweglichen Wirkens und Denkens
der Städter.. Urkunden haben die Farben zu dem Gemaide gelie-
fert und die Gelehrsamkeit die Stelle der Phantasie eingenommen,
um den Pinsei mit getreuer Hand zu fübreu. Prof. Zeuss hat sich
durch die kleine Schrift ein grosses Verdienst um die Stadt Speyer
erworben; er erinnert sie selbst an etwas, was sie nicht mehr
Wusste und nicht in ihrem Lehmann las, nicht blos was sie, son-
dern auch wie sie gewesen, und indem er zugleich dem Namen
eines alten Bürgers der Stadt, Wolfg. Baur, Gerechtigkeit gewährt,
erfüllt er das schöne Amt des Geschichtsforschers, das Unrecht
aufzuheben, indem er zwischen Originalen und Nachtretern Recht '
spricht,
Ueber den Namen Nemetes hatte man gern noch etwas von
dem gelehrten und sonst auch hypothesenreichen Forscher ver-
nommen» Da6 Wort ist wahrscheinlich keltisch und zwar nach
Radioff (Neue Unters, des Keltenthums. Bonn 1832. tp. 399.) von
dem griechischen vc{iog Hain gebildet. (Nun die Spire das Flüss
chen bat ja auch den Namen von den umwachsenden Bäumen cf.
Zeuss pag. 4) Eine ältere Hypothese hat es identisch mit dem
slawischen Namen für Deutschland Nemez, Nemcy gemacht. Aven*
tin (Annal. fiojor. Frankf. 1637. p. 6. v. 58.) leitete dieses Wort
von Nomades ab und Lehmann (Chronik der Stadt Speyer p. 1.
Frankf. a. M. 1603 4} nimmt davon Gelegenheit, Nemetes von
vtfta) weiden abzuleiten. Interessanter wird diese Muthmassung
durch ihre Benutzung in der siebenbürgisch-deutschen Geschichte.
Don wird zum Beweis, dass deutsche Colonien schon so zeitig
(unter Carl dem Grossen) nach Ungarn und Siebenbürgen versetzt
seien , der Name Nemet für Deutschland angeführt, den diese Co«
lonisten mitgebracht hätten (cf. Kelp. Natal. Saxon. Transilv. Lips.
1684 4. p. 14 und d'Anville, dessen Aufsatz aus dem 30. Band der
Mem. de l'Acad» des inscript. etc. in der siebenbürgischen Quar-
lalschrift übersetzt ist. (I. 309 ).
Mögen un6 von allen Städten vergangener Herrlichkeit der-
gleichen Bilder entworfen werden!
Die Waldslätte vor dem ewigen Bunde .von 4 294 und ihr Verhätniss
zum Hause Habsburg. Von Reraigius Meyer V. D. M. Hauptlehrer am
Gymnasium. Basel, Schweighäusarsche Buchhandlung 4844. 8. 54 S.
Seit einem Jahrzehent kämpft man in der Schweiz auch um
die Ehre der Vergangenheit. Das, was durch Tschudi und Johan-
nes Müller aller Welt überliefert war, dass freie Männer in den
Waldstatleii gedrangt und bedroht in ihrer Freiheit, für diese mit
Recht das Schwert erhoben und in dem Kampfe für dieses Recht
288 Allgemeine Literaturberichte.
unsterblichen Rohm erworben, war von Lucern aus durch den
Professor Kopp*) bestritten worden; die freien Männer wurden
Rebellen, der Kampf ein strafbares Auflehnen gegen eine gerechte
Oberherrschaft genannt. Und weil diese Ansicht mit Urkunden
bewiesen zu sein schien, traten Hisely**) und de Gingins ia- Sar-
ray»«*), beide in der Schweiz, derselben bei; Lichnowski nahm
das Koppische Resultat gänzlich auf und in seiner Geschiebte des
Hauses Oestreich ist der sogenannte Freiheitskampf als ein unge-
höriger Aufstand von Hörigen gegen die habsburgisebe Herrschaft
dargestellt. Nach Heussler, der Uri's Freiheit zu schützen unter-
nahm, ist Meyer der erste, der diese östreichische Meinung zu
widerlegen versucht, und wie aus der fleissigen, ruhigen. und ge-
rechten Forschung hervorgeht, nicht ohne Erfojg. Wir können frei-
lich, eben weil uns Zeit und Raum mangeln, jedes einzelne von
Herrn Meyer Vorgebrachte im Verbaltniss zu dem von seinen Geg-
nern Gelieferten zu prüfen, kein anderes Urtheil fällen; nur das
können wir gewiss behaupten, dass ^ auf solche Weise für Vater-
land und Vergangenheit zu kämpfen, in der That ein Verdienst
ist, und der Ernst und die Wahrheit, die in dem ganzen Werkeben
herrschen, ein Zeugniss geben von der wahren Freiheit, die er,
„der dankbare Enkel für die Stifter dieser Freiheit im Herzen
trägt." (p, 51.)
Nur eine diplomatische Bemerkung, sei uns erlaubt Herr
Meyer will eine lang bestrittene Urkunde retten (pag. 9. n. 19). Die
Jahreszahl ist unleserlich. Man macht aus 1003 1063. Dielndiction
fehlt;] zuletzt steht anno regni ejusdem imperatoris IX. Also ist,
wenn auch 1063 gelesen wird, auch dies falsch» Und nun soll der
Umstand, dass ßrinkmeier auf Zurlauben gestützt, von Heinrich IV.
sagt, dass er die Jahre seines imperii zuweilen schon von der or-
dinatio an zählt, das alles wieder gut machen, obsebon doch das
auch die Zahl 9 nicht verbesserte. Es ist etwas bekanntes, dass
die Kaiser aus fränkischem Hause sehr genau in ihren Titeln wa-
ren und sehr wohl den rex und imperator unterschieden; es
war eben die Wichtigkeit der Kaiserkrönung in dieser Zeit, die
diese] Genauigkeit hervorbrachte und Urkunde und Chronik wa-
ren die Zeugnisse der Berechtigung zu dem einen oder ande-
*) Urkunden zur Geschichte der eidgenössischen Bünde, Herausge-
geben und erläutert von J. E. Kopp, Prof. Lucern bei Xaver Meyer 4835.
**) Essai sur l'origine et le developpement des libertes des Wald-
»tetten in den memoires et documens publ. par la soc, d'hist. de la Suisse
Romande 4839, t. II.
***) Essai sur l'etat des personnes et la condition des terres dans le
pays d'Uri, Im Archiv für schweizerische Geschichte, Zürich 4843,
Allgemeine Literaturberichte. 289
ren Titel So sagen z. B. cKe Annales Bosovienses (Eccard cor-
pus med: aevi. 1. 1007. zu 1125.) deutlich: Henricus quarlus Im-
perator hujus nominis et quintus rex. cf. Dodechin ad 1125 etc.,
wahrend dies zahlreiche Urkunden eben so gut beweisen; gleich-
wohl haben wir Beispiele genug nicht blos bei Heinrich IV., son-
dern auch bei dem zweiten und dritten und fünften, aber na-
mentlich nur in Urkunden, die die Kaiser nicht selbst ausgestellt,
sondern in denen sie blos als die Regenten erwähnt werden, dass
diese Genauigkeit nicht beobachtet und statt der richtigen Zahl
falsche, oft ganz widersinnige, geschrieben sind. So heisst Hein-
rich IV. tertius rex statt Imperator hei Margarin. Bullar. Cassinense
II. 106. Leukfeld Antiquit. Poeldenses app. 4. p. 279. Lang Regest. 1.
29. und quartus imperator statt quartus rex wieder bei Margarin. 1.
III. In einem Schomburgeschen Diplom bei Menken 1. 394 liest
man von Heinpich IV.: „Henrico V. imperante augusto." Hein«
rieh V. beisst quarlus rex bei Zapf aneed. p. 465. bis. Er nennt
sich den 3. im Diplom. Monaster. Oldesleb. bei Menken 1. 614. cf.
Muratori antiquit. med. aevi (Medio!. 1738.) V. 948. Andere Bei-
spiele siebe Schulles historische Schriften p. 29. Lupus Cod. dipl.
Berg. II. 706. Annales Gernrod. ap. Meibom, ss. rer. Germ. II.
411. Muratori antiqq. med. aev. 3. 225. Savioli Annal. Bologn. 1.
b. 93. etc. etc. Das kommt theils auf Rechnung der unwissenden
und nachlässigen Aussteller oder Herausgeber, wie man das von
Mangarin z, B. mit Recht vermuthen kann. Einen Beweis darauf
zu gründen, wo alles andere widerspricht, ist daher nicht recht;
es ist überhaupt schlimm, wenn man Ausnahmen zu historischen
Beweisen brauchen muss. Und es sind, wenn man falschen Ab-
druck und andere kalligraphische und typographische Schwierig-
keiten abzieht, durchaus nur wenige Ausnahmen, in denen die Ur-
kunden, die die Kaiser selbst ausgestellt, ungenau sind. Sie sind
genauer als wir; obschon wir wissen, dass der Titel immer auch
einen Anspruch verbirgt, wir schreiben immer Heinrich IV. V.,
obschon es falsch ist. Die jüngsten Geschichtschreiber Lothars
Gervais und Jaffa haben sich nicht einmal in den interessanten
Streit eingelassen, welches der rechtmässige Titel dieses Kaisers
sei. So geht es oft. Die Zeit der genauesten Forschung reisst von
der Gewohnheit nicht los.
Die Feldzüge Karls des Kühnen, Herzogs von Burgtmd und seiner Er-
ben. Mit besonderem Bezug auf die Tbeilnahme der Schweizer an den-
selben. Ton Emanuel v. Rodt, vormals des Souveränen Rains und des
Appellationsgerichts der Stadt und Republik Bern, Mitglied der schweizeri-
schen geschichtsforschendeu Gesellschaft. Erster Band. Mit Karten und
Pinnen. SchafThausen , Hurter'sche Buchhandlung 4843. 8. 602 S.
Die letzte Hälfte des 15. Jahrhunderts ist ein gewaltiger Ab-
schnitt der Weltgeschichte, üeberall wogt es in den Ereignissen,
290 Allgemeine Literaturberichte
und die Flulh steigt und fallt. Im Norden und Süden Europas-*
Umgestaltungen der Dinge; Spanien concentrirt sich zur Einheit,
politisch und religiös; Frankreich hat endlich für viele Herren
Einen; die alte Byzanz wird zur Stsmbul, und der Orient im We-
sten mit Feuer und Blut herausgedrängt, setzt sich gewaltiger am
Bosporus fest, und an — der Amstel. Der slawische Iwan wird
der Erste der weithingebietenden Czaren; in dem Hunyaden Ma-
thias spiegelt sich der Glanz des Magyarenthums, wie hell auch —
zum letzten Mal» Deutschlands Genius wohnt zwar nicht in sei*
nem Herrscher, aber in seinen Bürgern; die Buchdruckerkunst hat
weiter als die deutschen Kaiser zu regieren gelernt und vermocht.
— In diesen Tagen scheint der Kampf eines Fürsten mit einem
Volke, der sich um lokale Interessen und subjeetive Schwachen
dreht, beinahe nur ein untergeordnetes Ereigniss. Den Krieg Karig
des Kühnen mit den Schweizern haben nicht die Schlachten, sondern
der Tod des Herzogs erfolgreich gemacht; nicht die Siege der Schwer
zer, das herrenlose Erbe war es, das Frankreich, Deutschland und
Italien noch das künftige Jahrhundert aufregte. Karl der Kühne
war der letzte der grossen Vasallen, die mächtiger als der Lehns-
herr diesen in der Furcht die List lehren 5 wie mit Warwick das
englische, mit Sickingen das deutsche, stürzt mit ihm das franzö-
sisch-mittelalterliche Ritter* und Vasallenthum ; vergeblich hatte er
damit den modernen Glanz und die moderne Sitte zu verschmel-
zen gesucht. Für Friedrich IH. war er im Westen das, was Ma-
thias im Osten war; der einfache, ruheliebende Kaiser stand zwi*
sehen zwei bell lodernden Feuern. Karl ist aber nicht der Genius,
der sich neben der verständigen Prosa eines Louis XI. zu erbat'
ten vermag; das wilde, ungezügelte Element verzehrt sich neben
dem wohlberechneten, kaltblütigen; nicht Gransee und Märten,
der fromme Betrüger in Fontainebleau gruben in Nancy das Grab.
Emanuel v. Rodt, der, wie wir aus p. 23, n. f. ersehen, eine
Geschichte des Berner Kriegswesens geschrieben, erzählt die Kriege
Karls des Kühnen und seiner Erben in drei Theilen, deren erster
mit dem Tode Philipps des Guten beginnt, und mit der Eroberung
von Lothringen 1476 schliesst (ein Zeitraum von 9 Jahren), deren
zweiter den Schweizerkrieg von 1476—77 umfassen, und denen driU
ter das Schicksal des burgundischen Erbes bis zum Friedensschkss
von Senlis 1494 betrachten soll.
Wir haben blos von dem Eindruck Rechenschaft zu geben;
den der erste — auf uns gemacht hat, welcher nahe an 39 Druck-
bogen stark ist; sollen wir dabei aufrichtig sein, so müssen wir
gestehen, dass das allzugrosse Detail nicht selten lästig wird, da
es nieht pikant genug vorgetragen ist, und der Fleiss un4 die Ge-
lehrsamkeit nur für den Geschichtsforscher,, nicht den Geschichte«
Allgemeine Literaturberichte» 201
Schreiber, allein normgebend sind. Mit Recht sagt der Verf. schon in
der Vorrede p. VIII, dass die strategische Natur in der Behandlung
auffallen werde; der alten kriegerischen Neigung ist er wirklich
zu sehr gefolgt. Es sind handschriftliche Nachrichten benutzt, die
Literatur ist ganz gekannt und wohl auch genannt, aber eine Kri-
tik, die etwas tiefer geht, die den Autoren in's Herz und Auge
sieht, die hat man nicht, man kann das schon an dem einen Bei-
spiel von Commines sehen, den -er oft benutzt, ohne sich an
Ranke's jetzt schon 21jahriges Urtheil zu erinnern (Kritik der neue-
ren Geschichtschreiber p. 159 etc.). Auch hat der ungeheure Stoß
specieller Dinge den Verfasser bewältigt, man geht nicht immer
mit klarem Blick ; durch die Erzählung, und slösst auf Dinge, die
man als hierher ungehörig, mit Recht hinweg wünscht. Dem Buch
geht die Form der Geschichtsforschung, aber auch die der Ge-
schichtschreibung ab. Für die erstere fehlt ihm die Kritik der
Quellen, die Genauigkeit der Nachweisungen. Weshalb Autoren
unter ihre Arbeiten Citate stellen, und zwar aus grossen, bande-
reichen Werken, ohne sich zu der genaueren Angabe von Band
und Seite bequemen zu wollen, hat uns immer gewundert. Liegt
Jemanden daran, sich vor Anderen als einen ehrlichen Mann zu
legjtirairen, so muss er die Beweise ihnen in's Haus bringen, nicht
verlangen, dass man ihm nachlaufe; wir vermissen lieber alle Nach-
weisungen, als dass wir die legere Citation, die es sich auf Kosten
der Leser bequem macht, ungerügt lassen; die Genauigkeit ist der
Begriff des Citates. Redt ist bald genau bald bequem, doch letz-
teres haußger. Wenn er Commines, l'art de verifier les dates,
Meyer Annal. FLandr, blos nennt, so weiss ich nicht, wozu er
überhaupt citirl; den Kennern des Gegenstandes sind audh die
Quellen bekannt; kann jeder Andere aber dem Verfasser so genau
nacharbeiten ?
Es fehlt ihm aber auch die edle Form der Geschichtschrei-
bung. Dass diese eine Kunst sei, deren Jünger jeder Geschichts-
freund werden sollte, dass die Form, in die der Geschichtschrei-
ber die Tbatsachen giesst, die Höhe des Idealen erreichen, dass
Inhalt und Gefäss sich congruent sein müssen, ist selten beachtet
worden. Selbst das Aeusserlichste, der Styl ist in diesem Buche
vernachlässigt; die Satzbildung unangenehm und schleppend, Wort-
formationen wie „Begründetheit" (p. 39) unzulässig, und beinahe
komisch macht sich der Ausdruck (p. 175) „selbst den hohen
Augen des stolz einherreitenden Herzogs vermochte sie einen
freundlichen Blick des Wohlgefallens abzulocken (die Gestalt Ma-
ximilians), wozu in der Note 23 bemerkt ist: „ein altteslament-
licher, hier passend scheinender Ausdruck"!! (wahrscheinlich nach
292 Allgemeine Literaturberichte.
Psalm 101, 5, oder Sprüche 21, 4, wo von stoben hochmütbigen
Blicken die Rede ist).
Wenn man vou den Anzeigenden nicht Eobhudelei und Cano-
nisirong erwartet, so wird man es billig finden, dass wir das Man'
gelhafte des Buches hervorgehoben, mag es auch sonst durch
Fleiss und Unparteilichkeit schätzenswerth sein, und der Müsse des
kriegerisch gesinnten Mannes Ehre machen. Selig Cassel.
Zitltse n der Abhudlug über „Maietfco tid die Hndutem-
Periode." (Bd. IL)
I. Zu Abschn. L Cap. 11:
Bei der Erwägung der Zeit, in welcher Manetho lebte,
habe ich die entscheidende Erzählung des Plutarch de Iside
et Osiride Cap. 28 übersehen, aus welcher mit Sicherheit
hervorgeht, dass Manetho schon zur Zeit des Ptolemäos des
Sohnes des Lagos in Ansehen stand. Plutarch erzählt
nämlich daselbst, wie unter den) ersten Ptolemaeos der be-
kannte Koloss aus Sinope nach Alexandrien gekommen, und
fährt dann fort: *Eml ob xopiG&elc coip&ijj tivpßaXovreq ol
iuqI Tiftoteop top i^f/ym^p (über diesen vergl. Tac. Bist. IV,
83. Corp. Inscr. Gr. Bd. I. S. 446 b) xal Mavi&wpa top
JSeßevpihqv IJlovrwvog 6p äyakfia^ r« KsQß^QCp tsxjicuqo-
fi€VO& xal zw dqaxovrtj mi&ovift xov fltofefuxZov. wg St£qov
S-evov ovdevog akka SaQamdog iönv. Es ist daner keinem
Bedenken unterworfen, wenn Manetho unter Philadelphos
gesetzt wird, und sein Zeitalter steht völlig fest
IL Zu Abschn. I. Gap. 15.
Asklepiades, säet Suidas in dem Artikel Vqai^xog, tfvy-
YQCt<fih> eyQcapsp AtyvmiaplQyvylaw 7tQccytuxta it£Qi&%owto&
ovx iXcctrÖPtoP ivßp ij tqhZv (iVQiadtop, äila nksiovmv oXiyto.
Dies stimmt auffallend mit unserer Berechnung der Äfane-
thonischen Zeiten, welche bis zum Ende der 30. Dynastie
30,203 Jahre ergiebt Aber freilich ist dieser Asklepiades sehr
jung: denn er ist der Aegyptische Neuplatoniker, onngeiahrer
Zeitgenosse des Heraiskos und des Proklos des Diadocben.
Man sehe den Auszug des Photios Bibl. 242. aus des Damas-
kios Leben Isidof's; aus dieser Schrift des Damaslcios hat Suidas
den Artikel 'Hocttoxog abgeschrieben, in welchem die eben
angeführten Worte über Asklepiades vorkommen.
Bockh.
Wir glauben hier noch nachträglich bemerken zu müssen, dass der
Torstehende Aufsatz über den zweiten Kreuzzug schon geraume Zelt vor
dem Erscheinen von Jaße's Conrad 111. uns eingeliefert worden ist. Red.
Ueber Pombal,
insbesondere seine Refonnen in der Verwaltung.*)
1 olitische Revolutionen gehören unstreitig zu den anziehend-
sten Gegenständen der Geschichte; sie sind es an sich, selbst
wenn ihrq, Folgen weniger wichtig erscheinen. Das drama-
tische Leben, mit dem sie sich entfalten, die Raschheit, wo-
mit Begebenheiten und Thaten wechseln, der mächtige Puls-
schlag in den Individuen und Massen, die vom Strudel er-
griffen sind, reizen und fesseln den Geist und regen die
Phantasie auf. Die Geschichtsblätter, welche sie füllen, wer-
den ein Lehrbuch der Menschen- und Weltkenntniss, wie
der Politik. Weniger fesselnd sind dagegen langsame Um-
wandlungen in den inneren Zuständen eines Volkes, geistige,
technische und materielle Entfaltungen desselben, auf dem
Wege friedlicher Förderung durch Gesetzgebung und gün-
stige Umstände; aber sie sind in anderer Beziehung lehrrei-
cher, um so mehr, je weniger hier der Zufall und die Macht
der Ereignisse walten und jemehr menschlicher Wille, mensch-
liche Einsichten und Bestrebungen wirken. Kein anziehen-
deres und erhebenderes Schauspiel für den sinnigen und den-
kenden Betrachter als der Anblick eines Volkes, das aus ei-
nem gesunkenen Zustande der Bildung, aus dem Druck der
Armuth und Abhängigkeit auf eine hohe Stufe der Gultur,
*) Mil besonderer Rücksicht auf die „Memoirs of the Marquis
of Pombal; with extracts frora his writings, and from desp&tches
in the State paper office, never before published. By John Smilh,
Esq. private Secretary lo (he Marshai Marquis de Saldanha. In
Iwo volumes. London, 1843. Vol. I. XXVHF. 343. Vol. II. XII. 388."
Zeitschrift f. GetchicfcUw. IV. 194». 20
294 Heber Pombdt,
Wohlfahrt und Selbstständigkeit steigt, hauptsächlich geho-
ben durch die Wirksamkeit zweckmässiger Gesetze und An-
stalten. Ist der Zeitraum, worin diese Umwandlung erfolgt,
ein kürzerer, so steigt das Interesse des Beobachters in dem
Maasse, als sich die Gegenstände in dem Bilde zusammen-
drängen und den Lieberblick erleichtern. Mögen auch solche
Reformen durch mehre Generationen gehen und selbst von
Zeit zu Zeit Störungen erleiden, das Auge des Beobachters
wird ihnen immer mit ungeschwächter Theitnahme folgen.
Leichter freilich und mit grösserer Spannung folgt es, wenn
in der Regierungszeit eines Fürsten mehre treffliche Staats-
männer hintereinander das schöne Werk fortbauen, wie un-
ter Carl HI. in Spanien, Squillace, Aranda mit Campomanes,
und Florida Bianca. Die lebhafteste Theilnahme aber würde
das Schauspiel gewähren, das der Umschwung aller Verhält-
nisse und Zustände eines Volkes darbietet, seine Erhebung
aus einer langen Lethargie, vornehmlich auf den Ruf eines
einzigen Mannes, der mit seltener Geistes« und Willensenergie
sein Volk an allen Seiten, den Staat in allen Fugen erfasst
und beide aus ihrem niederen Stande auf eine hohe Stufe
der Geistesbildung, der inneren Wohlfahrt und des Ansehns
mich aussen emporzurichten strebt, hauptsächlich mit dem
Hebel einer Gesetzgebung, die, aus einem Geist erzeugt,
wie aus einem Goss erscheint Nur die Persönlichkeit eines
solchen Mannes könnte an Interesse dem seiner Schöpfung
gleichkommen. Lassen wir Pombal vorläufig als einen sol-
chen Mann gelten und sehen wir hier von dem Werth oder
Unwerth seiner legislativen Maassregeln und deren Wirkun-
gen, von der Art der von ibrp gebrauchten Mittel und seiner
Verfabrungs weise ab, so bleibt das gewiss, dass weder das
grosse, furchtbare Naturereigniss, das Lissabon in Trümmer
stürzte, noch das weltgeschichtliche Ereignis* der Aufhebung
des Ordens der Jesuiten, Ereignisse, die in seine Verwaltung
fallen, durch ihre imposante Grösse und Bedeutung seine
Person in den Hintergrund zu stellen vermögen, wenn er
unter den Trümmern von Lissabon wehrhaft als ein retten-
der Genius, als ein Tröster der Unglücklichen, ein Beschützer
insbesondere seine Reformen in der Verwaltung. 293
der Half losen gegen Raub and Mord erscheint, die Schrecken
des Naturereignisses mit menschlicher Hand mildernd, wenn
er später, er zuerst, die Axt an den machtigen Baum legt,
der seine Aeste und Zweige über die ganze bewohnte Erde
ausbreitete.
Das vorliegende Werk hat das Leben, Streben und Wir-
ken dieses Mannes zum Gegenstande. Sein Verfasser mochte
fühlen, dass die Biographie ein zu enger Rahmen für das
umfangreiche Gemälde wäre, und des Lesers Auge, das hier
so oft und lange auf den Staat in seinen wichtigsten Bezie*
hangen und in seinem Verhältniss zu andern Staaten gelenkt
und dadurch so sehr erweitert werden musste, bisweilen sich
ungern und schwer zusammenziehen werde, um das Persön-
liche eines Menschen ganz in der Nähe zu betrachten. Er
wählte die bequemere Form von Denkwürdigkeiten, die ihm
eine freiere Bewegung und das kunstlose Nebeneinanderstel-
len des Mannigfaltigsten und Verschiedenartigsten gestattete,
wiewohl auch diese Form, wenn ihre Eigenthümlichkeit ge-
wahrt werden sollte, vielen Gegenständen, die hier zur Sprache
kommen, keineswegs zusagt. Der Verfasser bemerkt dies selbst,
indem er noch auf andere Incoiwenienzen, die ihm entgegen
traten, hinweist Gonsiderable delaj intervened between the
antbor's opportunities of Consulting these distinct and distant
authorities, rendcring it impossible to preserve any consistent
train of tbought upon the majority of the events there re-
corded. If, tberefore, it be found tbat incidents are occasio-
nally introduced with too little preparation, or dismissed more
abruptly tban their importance would seem to demand, it is
hoped the reader will not entirely forget the Jabour and dif-
ficulty of framing and connecting a variety of widely scatter-
ed, and sometimes contradictory materials, into one conti-
nuoos narrative etc. Am fühlbarsten wird dies demjenigen,
der den Ertrag dieses Werkes in übersichtlicher Kürze dem
Leser vorzulegen beabsichtigt Eine gedrängte Angabe seines
Inhalts in der vorliegenden Form und Reihefolge würde mehr
einem Aggregat von disparaten Notizen, als einer zusammen-
hängenden Uebersicht des Wichtigsten aus dem Leben und
20*
296 lieber Pombal,
Wirken PombaPs gleichen. Wir verlassen deshalb hier die
Anordnung des Verfassers, stellen die gleichartigen Einzel-
heiten, die in den Memoire grösstenteils zerstreut sind, in
grössere Gruppen zusammen und fassen sie, so viel als mög-
lich, unter allgemeine Gesichtspunkte.
Von der früheren Lebenszeit Pombal's bis zu seinem Ein-
tritt in das Ministerium müssen wir seinen Aufenthalt in
England und Wien als die cinflussreichsten Momente hervor-
heben. Nachdem sich Pombal schon früher mit dem Studium
der Geschichte, Politik und Gesetzgebung beschäftigt hatte
(vol. I. p. 41) und im Jahre 1733 Mitglied der 1720 gestifteten
König!. Akademie der Geschichte in Lissabon geworden war,
widmete er sich während seines Aufenthalts in London als
Geschäftsbetrauter Portugals ähnlichen Studien« In einer band-
schriftlichen Notiz von ihm (I. 44) bedauert er, dass die grosse
Mannigfaltigkeit von Studien, die er zu machen nöthig finde,
um mit der Geschichte, Verfassung und Gesetzgebung Eng-
lands bekannt zu werden, verbunden mit seiner meist schlech-
ten Gesundheit, ihn hindere die Kenntniss der englischen
Sprache zu erwerben. Er hatte in seiner dortigen Stellung
nicht allein öfteren Anlass die staatsrechtlichen Verhältnisse
«eines Vaterlandes zu Grossbritamen, die politischen Bechte
der Portugiesen in England und der Engländer in Portugal
scharf ins Auge zu fassen ( 1. 43) und zum Gegenstande sei-
nes Nachdenkens zu machen; noch weit mehr Veranlassung
bot sich dar, den Flor der Gewerbe und Manufacturen, des
Handels und der Seemacht in England zu bewundern, den
tiefen Stand dieser Dinge in seinem Vaterlande zu beklagen
und auf Mittel zu sinnen, wie das zu erreichen wäre, was
seine Vaterlandsliebe ihm wünschenswerth machte. Sein Auf-
enthalt in Wien, wohin er gesandt wurde, um einen kirch-
lichen Zwist zwischen den Höfen von Rom und Wien wegen
der Aufhebung des Patriarchats von Aquileja zu vermitteln,
war ihm in einer andern Bücksicht, die ihm einst so bedeu-
tungsvoll werden sollte, wichtig. Kamen hierbei die Princi-
pien über die Grenzen der kirchlichen und weltlichen Gewalt
im Staat und in dessen Beziehung zum Papst vielleicht auch
insbesondere seine Reformen in der Verwaltung. 2ü7
nicht zur Sprache, so kamen sie doch in Erwägung und
mussten Pombal's Nachdenken vielfach beschäftigen. Sein
Auftrag führte ihn in das Intrikate dieser Frage und seine
diplomatischen Verhandlungen mussten ihn über das Beste-
hende, über viele betreffende Dinge und betheiligte Perso-
nen aufklären. Er kannte die Allmacht der Geistlichkeit in
Portugal und ihre Abhängigkeit von Rom. Seine Sendung
in Wien — er legte den Zwist zur Zufriedenheit bei — war
für ihn eine Schule, aus welcher er wohl unterrichtet trat.
Der Orden der Jesuiten und der römische Hof erfuhren dies
bald genug.
Im Jahre 1750 verliess Pombal Wien und kehrte nach
Lissabon zurück. Noch in demselben Jahre starb Johann V. und
König Joseph bestieg den Thron. An der Spitze der Regie-
rungsgesebäfte stand noch Pedro de Motta, allein seine da-
hinschwindende Kraft und Gesundheit Hessen ihn nicht den
thatigen Aniheil an der Verwaltung nehmen, zu dem ihn seine
Stellung verpflichtete. Von dieser Zeit an können alle Ge-
setze und Verfügungen, die von dem Cabinct des Königs aus-
gingen, als von Pombal ausgegangen betrachtet werden; denn
König Joseph ergriff keine Maassregel, ohne Pombal vorher zu
Rathe zu ziehen. Die ersten fünf Jahre der Regierung Joseph's
wurden darauf verwendet, wirksame Mittel zur Verbesserung
der Verwaltung des Landes aufzufinden und in Kraft zu setzen,
und die Finanzplane des Ministers festzustellen (I, 64). Smith
führt eine Reihe Reformen auf und weist mittelbar und un-
mittelbar auf den elenden Zustand hin, in welchem sich bei
Joseph's Regierungsantritt fast alle Zweige der Verwaltung
befanden und welche durchgreifende Verbesserungen dringend
nöthig machten. Wir heben hier namentlich Pombal's Re-
form der Finanzverwaltung hervor (I. 71, 72). Selbst auf die
Einzelheiten des königlichen Hauses in den kleinsten Zwei-
gen richtete er seine Aufmerksamkeit, und die Einschrän-
kungen und Ersparnisse, die er hier eintreten liess, mit Zu-
stimmung des Königs, machen dem guten Willen des letzten
ebenso viel Ehre, als dorn Muthc des Reformators (I. 73).
Nachdem die augenfälligsten Missbräuche im Mutterlande ab-
298 Ueber Pombal,
gestellt waren, wandte Pombal seinen Blick auf die schlech-
ten Zustände der Colonien. Ein allbekannter Missbrauch
war, dass junge Mädchen von Stand und Vermögen aus Bra-
silien nach Portugal, unter dem Vorwande hier erzogen zu
werden, geschickt, nur zu oft aber für ihre übrige Lebens-
zeit in die Mauern eines Klosters eingeschlossen wurden.
Ein Deeret verbot dies ausdrücklich. Pombal's Maassregeln
in Bezug auf den Handel der Colonien wird später gedacht
werden*
Ein grauenvolles Naturereigniss, das Erdbeben am 1. No-
vember 1755 (trefflich geschildert von Smith I. 87—91) un-
terbrach Pombal's Beformen, und führte ihn auf einen Schau-
platz, auf dem, je tiefer und dunkler die Schatten waren,
welche Bestürzung und Verzweiflung, Verbrechen und Elend
auf denselben warfen, Pombal's Charakter und rastlose Tä-
tigkeit um so schöner glänzen.
Als die Katastrophe eintrat, befand sich die königliche
Familie glücklicher Weise in dem kleinen Palast von Belem
in der Vorstadt von Lissabon. Ihre Bestürzung war gross,
der ganze Hof in Thränen. Der König sah schweigend rund
umher auf seine zitternde Umgebung und wandte sich an
Pombal, der (eilepd, um in dem schrecklichen Augenblicke,
so viel er konnte, Beistand und Trost zu bringen) eben in
den Palast getreten war. „Was ist zu thun, rief Joseph, um
dieser Strafe der göttlichen Gerechtigkeit zu begegnen?" „Die
Todten ?u begraben und für die Lebenden zu sorgen" (Sen-
ator, enterrar os mortos, e cuidar nos vivos), war die ruhige
und unmittelbare Antwort Pombal's, dessen edele Gestalt
und besonnenes Benehmen, ipdem er diese concise Erwiede-
rung aussprach, die Bewunderung Aller, die ihn umgaben,
gebot. Von dieser Zeit an, sagt man, sah König Joseph sei-
nen Minister als einen Sterblichen höherer Art an.
In der That erregt Pombal wahre Bewunderung, wenn
man einen unbefangenen Blick auf den Mutb, die Geistesge-
genwart und Umsicht, die Thätigkeit und Energie wirft (mit
lebendigen Zügen, im Einklänge mit den Berichten der Eng-
länder in Lissabon, von Smith geschildert I. 92 — 96 und
insbesondere seine Reformen in der Verwaltung. ?99
App. 101 — 104), die er in diesen schrecklichen Tagen und
Machten entwickelte. In einem unglaublich kurzen Zeitraum
würden zweihundert Verfügungen in Beiug auf Erhaltung der
Ordnung, Unterschaffung des Volkes, Yertheilung von Le-
bensmitteln und Verbrennung der Todten erlassen. In die-
sen Verfügungen ging Potnbal in die kleinsten Einzelheiten
ein, und so gfosd war die Raschheit, womit sie abgefasst und
veröffentlicht wurden, dass er viele auf seinem Knie mit Blei-
stift schrieb, und ohne abgeschrieben zu Sein, eilig an ihre
Bestimmung erliess. „Die Verwundeten wurden entfernt Und
ihre Wunden verbunden, die Obdachlosen versammelt und
in temporaren Hütten untergebracht, Lebensmittel aus allen
Quartieren beigebracht und unter die Armen vertheilt* Mo-
nopole aller Art verboten, Truppen aus^den Provinzen gezo-
gen, um die. Ordnung zu erbalten, die zerstreuten Nonnen
versammelt, die Trümmer weggeräumt, die Todten verbrannt,
der öffentliche Gottesdienst hergestellt/* Smith sagt nicht zu
viel mit den Worten: Like a superior being, he was present
evcry where; encourfiging the timid, comforting the desolate,
awing the wicked, festraining the reckless, soothing the woun-
ded, and pouring the baltn of peace and consolation into the
bosoms of the despairing and the afflicted. He was the all
in all- the üpholder, regenerator and genius of the natiqn,
Unstreitig war Pombal's Benehmen und Wirken bei diesem
grossen Unglücke, das sein Vaterland traf, die glänzendste'
und reinste Seite seiner öffentlichen Thätigkeit, und man
hätte sie bei seinen späteren Handlungen und Maassregeln
der Verwaltung, die — mit Recht oder Unrecht — so schwer
getadelt worden, nie vergessen sollen,
Nächst dieser Seite ist seine Gesetzgebung in fast alles
Zweigen des Staatswesens Gegenstand des Lobes gewesen,
— noch öfter aber des Tadels, des letzteren weit mehr als
des ersteren aus Unkenntnis^ der inneren Zustände von Por«-
tugal in jener Zeit und der einzelnen Verordnungen von Pom-
bal mit ihren Anlässen und Motiven, und ihres Zusammen-
hange» mit anderen bezüglichen Verhältnissen. Da Smitb's
Werk die Gesetzgebung und Verwaltungsöiaa&sregelu Pom-
300 Ueber Pambal,
bal's in einem grösseren Umfange und mit einem genaueren
Eingehen ins Einzelne, als es bisher geschehen, behandelt, so
verweilt auch Becensent bei diesem Gegenstande der Memoirs
länger, wobei ihn die ihm vorliegende Sammlung der portu-
giesischen Gesetze und Verordnungen von den Jahren 1750
bis 1777 in Stand setzt, den Arbeiten des Verfs. auf diesem
Felde Schritt für Schritt zu folgen und sich der Gewissen-
haftigkeit, womit derselbe die Gesetze und öffentliche Urkun-
den benutzt und nicht selten das Wesentliche aus ihnen mit-
theilt, zu versichern.
Zur Erleichterung der (Jebersicht von Pombal's Gesetz-
gebung, soweit sie in den Memoirs behandelt wird, stellt Be-
censent hier zusammen, was vereinzelt durch beide Bände
zerstreut ist, und verknüpft es einigermaassen zu einem Gan-
zen, dem er an geeigneter Stelle seine Bemerkungen einwebt
Becensent sagt, soweit Pombal's Gesetzgebung in den Me-
moirs behandelt wird; denn sie vollständig und genügend
darzustellen, konnte und sollte, bei dem Zwecke seines Wer-
kes, nicht die Aufgabe des Yerfs. sein. Wollte man, bemerkt
Smith, die Schritte aufzählen, welche Pombal gethan hat, um
sein Land zu bereichern und zu civilisiren, so würde man
damit mehre Bände füllen. Jedes einzelne Gesetz würde ei-
nige Seiten fordern, um uns mit den Missbräuchen bekannt
zu machen, welche seine Erlassung hervorriefen, wahrend
noch mehre nöthig wären, um seine wohlthätigen Wirkun-
gen zu erläutern. Solche Einzelheiten gehören mehr einer
Geschichte der portugiesischen Gesetzgebung an. Ich stehe
deshalb von einem solchen Unternehmen ab und begnüge
mich, zur Kenntnissnabme flir Wissbegierige, welche weitere
Forschungen zu machen geneigt sind, mit der Angabe einiger
der merkwürdigsten Edicte und Gesetze, die auf die Regie-
rung Joseph 's und die Verwaltung Pombal's ein Licht werfen.
Indem wir diese Ansicht des Yerfs., womit er die In-
haltsangabe einiger von Pombal gegebenen Gesetze befür-
wortet (IL 250), vollkommen theilen, nehmen wir sie für uns
ganz besonders in Anspruch. Von einer Aufzählung einzel-
ner Gesetze und Verordnungen Pombal's kapn hier noch we<-
insbesondere sehte Reformen in der Verwaltung. 301
niger die Bede sein; unser Augenmerk rouss zunächst auf
die leitenden Ansichten und Grundsatze seiner Gesetzgebung
gerichtet werden, die wir daher vor Allem hervorheben.
Wir finden jedoch nöthig, noch vorher zu bemerken,
dass wir die Reformen, nur wie sie in den Gesetzen und
Verordnungen erziel t worden, im Auge haben, von der Weise
aber, wie sie ins Leben eingeführt wurden, hier überall ab-
sehen. Der gegen PombaPs Gesetzgebung vielfach ausgespro-
chene Tadel trifft ihn vornehmlich in letzter Hinsicht. Man
hat aber seine Verdienste in erster Hinsicht gemeinlich über-
sehen und verkannt, die Gründe und Umstände, die in letz-
ter Hinsicht zu seinen Gunsten sprachen, nicht gekannt oder
beachtet, die Härte, die er sich bei der Vollziehung einzel-
ner Reformen zu Schulden kommen Hess, als sein regel-
mässiges Verfahren betrachtet und getadelt Wir sind weit
davon entfernt, die Bewunderung, welche der Verf. der Me-
moire an vielen Stellen Pombal als Gesetzgeber zollt, zu thei-
len; aber wir bewundern nicht selten sein legislatives Genie
während wir seinen legislativen Charakter tadeln, seine le-
gislative Praxis wohl selbst verabscheuen. Wir vergessen
nie, dass Pombal, als er die Verwaltung übernahm, sein fünf-
zigstes Lebensjahr überschritten hatte, und dieser Umstand
allein uns im Urtheil über die Rascbheit oder Uebereilung
in seinem Verfahren vorsichtig machen sollte; vergessen nie,
dass seine Verwaltung sieben und zwanzig Jahre, über ein
Viertel -Jahrhundert, ununterbrochen und uneingeschränkt
dauerte, ein Zeitraum, worin ein Mann von Pombal's unge-
wöhnlicher Thätigkeit und Energie unendlich viel zu unter-
nehmen und zu leisten vermag; vergessen nie den kläglichen
Zustand des Landes und Volkes, die in vielen Dingen hinter
anderen Ländern und Völkern zurückgeblieben waren und
eine gewaltige, aus ihrer Lethargie sie herausreissende An-
strengung nöthig machten; vergessen nicht die besondere
Lage Pombal's, in welcher er bei den löblichsten Absichten
und zweckmässigsten Reformen überall auf den heftigsten
Widerstand des Adels und der Geistlichkeit stiess, zu gewalt-
samen Maassregcln hingedrängt wurde, und, im Kampfe mit
302 lieber Pombal,
diesen hochprivilegirten und allvermögenden Ständen, in der
Entfaltung eines energischen Willens und einer gewaltigen
Tbatkraft die Humanität des Menschen nicht selten hintan-
setzte. Spittler's richtiger Blick zeigt sich auch hier bewährt,
gleichsam an beiden Endpunkten der Beurtheilung: „Ein
strenger durchgreifender Reformator war für Portugal not-
wendig; aber selbst die grösste Strenge hat doch Vorschrif-
ten des Rechtes und Gesetze der Menschlichkeit zu ehren."
(Entwurf der Geschichte der europäischen Staaten I. 127.)
Treten wir nun Pombal's legislativen Grundsätzen näher,
so dürfte Lesern, welche ihm gerade Neuerungssucbt, scho-
nungsloses Verletzen herrschender Ansichten, Vorurtheile und
Lieblingsneigungen, allzu raschen Umsturz .des Bestehenden
und tief Eingewurzelten zum Vorwurf machen, Smith's An-
sicht irrig scheinen. Während Pombal, bemerkt derselbe,
keine Reformen als solche machte, die er für das Wohl des
Landes nöthig erachtete, hob er keinen Gebrauch auf, der
sich wohlthätig in seinen Wirkungen zeigte, wenn gleich der-
selbe nach Pombal's Theorie wenig vernünftig war. Pombal
war in dieser Hinsicht der grosse Gesetzgeber — der grosse
conservative Gesetzgeber — der wusste, dass die Schwierig-
keit einer Verbesserung nicht im Beschliessen von dem was
eingeführt, sondern im Auswählen von dem was aufgehoben
werden soll, liegt. Die Verbältnisse einer jeden Institution
müssen durch eine Menge Umstände modificirt werden, die
so sehr von der Natur des Landes, den Anlagen und Voror-
theilen des Volkes abhängen, dass es kaum möglich ist, eine
Reform einzuführen oder einen Missbrauch einer bestehen-
den Verwaltung abzustellen, ohne dem ganzen Gebäude einen
Nachtheil zuzufügen. (IL 124.)
. Ob sich Pombal von diesen Grundsätzen bei seiner Ge-
setzgebung überall leiten liess, wollen wir dahin gestellt sein
lassen. Allein sicherlich wusste er, wie bei dem Ausrotten
des Veralteten oder Missbräuchlicben , leicht auch das Gute,
das in ihm verhüllt schlummert oder keimt, ausgerissen wird;
wie die reinste, beste legislative Idee bei ihrer Einfügung in
die Wirklichkeit viel eiobüsst, dass sie dem mangelhaft Gu-
insbesondere seine Reformeti in der Verwaltung. 303
ten in dem Bestehenden weit nachsteht — „Mögen sie flie-
hen/' schliesst Pombal seine trefflichen Bemerkungen, die
er bei Gelegenheit der Inauguration der Reiterstatue des Kö-
nigs Ioseph am 6. Juni 1776 schrieb, indem er seine Nach-
folger im Ministerium im Auge hat, „mögen sie fliehen jene
Neuerungen, mit welchen unpraktische Männer dasjenige zu
verbessern suchen, was gut ist, in der Hoffnung es besser zu
machen, da die Erfahrung gezeigt hat, dass sie durch solche
Neuerungen, statt die Zwecke zu erreichen, die sie Tür die
wünschenswertesten halten, in der That das Gute verlieren,
das sie einst besassen, zum unersetzlichen Schaden der Krone,,
der sie dienen, und der Unterthanen, die sie regieren." (IL 212.)
Seine volkswirtschaftlichen Ansichten und Grundsätze
hat Pombal, ausser in den bezüglichen Gesetzen, aus denen
sie gefolgert werden können, ausdrücklich ausgesprochen.
„Wenn der Ackerbau blüht, so sind die wirksamsten Mittel,
ein Reich zum Wohlstand zu bringen, die Einführung von
Manufacturen und die Beförderung des Handels, indem sie
das Volk bereichern und civilisiren und folglich den Staat
mächtig machen. Der Handel besteht seinem Wesen nach im
Kauf oder Tausch von Producten und in der wechselseitigen
Communication der Nationen; aus dem ersten erwächst Nut-
zen und Reichthum, aus dem letzten gewinnen wir Humani-
tät und Civilisation." — „Die Seele des Handels" fügt Pom-
bal hinzu „ist die Freiheit des Volkes." (I. 304.)
Wir können Smith nicht ganz beistimmen, wenn er bei
dieser Veranlassung darauf hinweist, wie genau Pombal hierin
den Fusstapfen Sully's folgte. Diesem waren le labour et le
paturage les deux mamelles de l'ätat; den Manufacturen da*
gegen war Sully bekanntlich keinesweges hold. Die damalige
Lage Frankreichs und die Ansichten jener Zeit empfahlen
vorzugsweise die Landwirtbschaft, und erklären und recht-
fertigen diese Vorliebe Sully's. Pombal sah in der Blüthe
•des Ackerbaues die Vorbedingung des Wohlstandes einer Na-
tion, den er dann durch Manufacturen und Handel gefördert
wissen wollte. Auf der anderen Seite wich er darin von
Colbert ab, der im Geiste seiner Zeit und die eigenthümii-
304 Ueber Pombal,
eben Neigungen und Fähigkeiten seines Volkes beachtend,
jenem weniger Bedeutung beimäass und weniger Sorgfalt
schenkte, als den Gewerben und dem Handel, welche ihm
die mamelles de F6tat waren. Pombal steht in der Mitte
zwischen beiden, insofern über beiden, als er die Einsei-
tigkeit des einen und des anderen zu vermeiden suchte. Er
konnte ihre Erfahrungen und die Aufklarung seines Jahr-
hunderts nützen, und theilte in jener Hinsicht die Grundan-
sichten Filangieri's: „l'agricoltura, le arti, il commercio, que-
ste sono le tre sorgenti universale delle ricchezze," wahrschein-
lich ohne den edlen Neapolitaner zu kennen. Er hatte in
Engfand, wo er die staatswirthsebaftlichen Schriften der Fran-
zosen studirte, sicherlich einen tiefen Blick getban in die
englische Volksthätigkeit, die landwirtschaftliche wie die ge-
werbliche, ihr gegenseitiges Yerhältniss, ihre Licht- und Kehr-
seiten. Pombal stieg noch eine Stufe, eine bedeutende Stufe
höher; ihm war der Handel nicht blos eine Quelle des Reich-
thums und des äusseren Wohlstandes des Volkes; er sah im
Handelsverkehr der Nationen ein Mittel, sie zur Humanität
und Civil isation zu leiten. Er stand hoch genug, um die
geistigen Bedürfnisse und Interessen eines Volkes wahrzu-
nehmen, und indem er in der Freiheit desselben die Seele
des Handels sah, konnten dessen geistige und höhere Wir-
kungen seinem Scharfblick nicht entgehen.
Pombal fand die Landwirtschaft in Portugal in ei-
nem traurigen Zustande, als er diesem Zweige der National-
thätigkeit seine Aufmerksamkeit mit Nachdruck zuwandte.
Jener Zustand mochte ihm wohl schon länger bekannt sein,
allein erst spät, nach einer vieljährigen Verwaltung und in
vorgerücktem Lebensalter schritt er zu einer durchgreifenden
Maassregel , die wie ein Act jugendlicher Hast und ein ge-
waltsamer Eingriff in den Kreis persönlicher Freiheit und
selbstgewählter Thätigkeit getadelt worden ist. Während
Pombal zur Gultur der Weinrebe auf einem ihrem Wachs-«
thume günstigen Boden ermunterte, war er zugleich bemüht,
Portugal von dem Bedürfnisse ausländischen Getreides zu be-
freien. Einige der besten Ländereien, die für den Weinbau
imbesondere Meine Reformen in der Verwaltung. 30$
ganz angeeignet waren, fand er mit Reben bepflanzt, die nur
einen sehr schlechten Wein lieferten. Um dieser Übeln An-
wendung eines vortrefflichen Ackerlandes entgegenzuwirken
und dasselbe seiner ursprünglichen Benützung zurückzuge-
ben, suchte er ein altes Gesetz vom Jahre 1691 hervor, das
alles Land am Ufer des Tajo und den auf beiden Seiten sich
ausbreitenden Landstrich zu besäen und zu bepflanzen em-
pfahl. Die Landbauer aber hatten das Gesetz umgangen, und
das sonst so ergiebige Land war durch eine verkehrte Be-
wirthung fast unfruchtbar geworden. Nun erliess Pombal
sein vielbesprochenes Decrct vom 26. October 1765, demge-
mäss viele Weinberge in Zeit von drei Monaten ausgerottet
und der Boden mit Korn besäet werden sollten. Es ist na-
türlich, sagt Smith II. 36, dass ein scheinbar so willkürli-
cher und zwingender Act, wenn man PombaFs Beweggründe
nicht naher untersuchte, nicht ohne scharfe Bemerkungen
und ohne Tadel bleiben konnte. Und in der That erfolgten
zahlreiche Angriffe und häufige Beschwerden gegen den Mi-
nister. Smith vertheidigt Pombal in dieser Beziehung mit
Sachkennlniss und nicht ohne Erfolg II. 37, 38, und hebt zu-
gleich hervor, was er für den Landbau in Alemtejo that
Jedenfalls wird der unbefangene Leser dem Verf. beipflich-
ten, wenn er bei einem anderen Anlasse, I. 68, darauf auf-
merksam macht, wie gut Pombal die natürlichen Hülfsquel-
len und Erzeugnisse des Landes kannte, und wie er bei der
Ermunterung der Industrie und der Anwendung der Capita-
lien desselben sichtlich von einer vollkommenen Kenntniss
des Glimas, der Hülfsmittel und Lage Portugal's in Bezug auf
das übrige Europa geleitet wurde.
Um die inländische Industrie anzuregen und aus den
Fortschritten anderer Nationen Vortheil zu ziehen, wurde
Ausländern die Erlaubniss gegeben, neue Erfindungen und
Arbeiten von anerkanntem Nutzen in Portugal einzuführen,
und zugleich versucht, fremde Gewerbsleute und Künstler in
den Dienst von Portugal zu ziehen (IL 99). Daneben ermun-
terte nicht allein, sondern unterstützte Pombal inländische
Manufactur-Unternehmungen, nicht dadurch, dass er fremde
306 Veber Pombal,
Concurrenz ausschloss und die ganze Nation nöthigte, um
einen theuern Preis die im Lande verfertigten Waaren zu
kaufen, welche wohlfeiler vom Auslande bezogen werden,
sondern indem er unternehmenden Speculanten, die, auf ihre
eigene Industrie und Geschicklichkeit bauend, mit auswärti-
gen Manufacturen in Güte und Wohlfeilheit der Waaren
wetteiferten, angemessene Darlehen bewilligte (II. 255). Ihm
war es wohl bekannt, dass der Vorschuss von 2000 Livres,
den Colbert jedem Erbauer eines Seidenstuhles bewilligte,
erwünschte Früchte getragen hatte. Smith giebt eine (Jeber-
sicht der Vorschüsse, welche die portugiesische Regierung
von Zeit zu Zeit zu diesem Behufe machte (II. 256). Pom-
bal's Sorge für Emporbringung von Manufacturen und Fabri-
ken tritt häufig genug hervor. Schon im Jahre 1751 errich-
tete er eine Zucker-Raffinerie, welcher er verschiedene Pri-
vilegien bewilligte (I. 67), stellte 1757 die königliche Seiden-
manufactur her (I. 300, vergl. die Estatutos da Real Fabrica
das sedas vom 6. Aug. 1757 in der Gesetzsammlung), hob
1759 wieder die fast eingegangenen Wollenmanufacturen in
Beira (I. 306). Besonders war es der Seidenbau, auf den
Pombal sein Augenmerk richtete. Im Jahre 1771 wurden
19,996 Maulbeerbäume aus Frankreich in der Nachbarschaft
von Lissabon gepflanzt (sie kosteten der Regierung 5} Con~
tos); weitere 19,361 Stück im folgenden Jahre, mit 5000 für
Pombal's Privatanlagen in Oeyras, wo er zum Aufziehen von
Seidenraupen ein geräumiges Gebäude auffuhren liess. So
stieg der Ertrag der rohen Seide lur die königliche Manufa-
ctur, der vor dem Jahre 1770 nicht über 16,000 Pfd. betra-
gen hatte, in einem Jahre auf 40,000 Pfd. und im folgenden
auf 44,000 Pfd. Smith theilt II. 255 einen officiellen Reriebt
über die Seidenwaaren mit, die von 1769 — 1774 geliefert
wurden und von 1482 auf 2485 stiegen.
Nicht minder thätig zeigte sieh Pombal für Belebung dea
Handels. Während der langen und ruhmlosen Regierung
Johann's V< kümmerten alle Handelsunternebmungen oder
waren gänzlich unterblieben« Es war, wie Pombal einsah,
nicht leicht jene zu wecken und im Schoosse des Kaufmanns*
imbesondere seine Reformen tri der Vertealiung. 307
Standes, der so lange in UnthStigkeit versunken war, heilsame
Specolationen hervorzurufen. Um zur Tbätigkeit anzuregen
und die Capitalien des Landes in productive Bahnen zu lei-
ten, fasste Pombal den Gedanken, grosse Handelscompagnien
zu gründen, — ein Mittel, sagt Smith, neue Zweige des Handels
zu schaffen, oder Unternehmungen, welche grosse Gapitalien
heischen, zu fördern, das nicht allein damals ergriffen, son-
dern auch in folgenden Zeiten mit Erfolg nachgeahmt wurde.
Denn wir sehen, dass alle grosse und hervorragend glückli-
che Unternehmungen sowohl in Portugal, Frankreich und
England, als in anderen europäischen Staaten durch Compa-
gnien angefangen und mit Erfolg fortgeführt worden sind.
Es kann hier nicht die Aufgabe sein, die Zweckmässig-
keit oder Unzweckmässigkeit der Handelscompagnien nach-
zuweisen; aber es darf auch nicht unerwähnt bleiben, wenn
über Pombai's Wirksamkeit in dieser Hinsicht ein Urtheil ge-
lallt werden soll, dass die Allgemeinheit, in welcher in obi-
ger Stelle die Handelscompagnien genommen werden, z. B.
ohne Rücksicht darauf, ob sie mit Monopolen oder ohne Mo-
nopole ausgestattet waren u. s. w., leicht zu einem ganz un-
richtigen Urtheile fahren möchte. Der Verf. seihst lässt eine
Beschränkung eintreten, indem er gleich darauf von dem Ver-
eine von Kauf leuten spricht, der unter dem Namen „Olden-
burg-Compagnie" in jener Zeit wohl bekannt war, und des
Monopols wegen seinem Urheber vielen Tadel und manche
Feinde zuzog. Er fügt sehr verstandig hinzu: Doubtless there
is a term at which the monopolies which compagnies enjoy
beeome a bürden on, and a partial injustice to, the nation at
large; and probably at this moment tbey ought to give up
their privileges, and cease to exist, and the trade should be
thrown open to the competition of the whole nation, I. 71k
Ungleich wichtiger war die Gründung der berühmten Porto-
wein~Compagnie (wir erwähnen sie hier, weil sie für den
Handel noch wichtiger war als für die Landwirthscbaft), die,
ein Hauptgegenstand des Tadels, den Pombal von seinen Geg-
nern erfuhr, von Smith mit der Ausführlichkeit behandelt
worden ist, welche ihre Wichtigkeit in Pombai's Verwaltung
308 Heber Pombal,
erfordert. Die vornehmsten Weinbauer am unteren Douro
stellten im Aug. 1756 der Regierung (unter Anderem) vor,
wie dieser Zweig der Landwirtschaft in den drei Provinzen
ßeira, Minho und Traz-os-Montes so herabgekommen sei,
dass der Ertrag nicht mehr die Kosten der Cultur decke, der
Nutzen allein in den Händen der zahllosen Weinschenker in
Porto sei, die den Wein in einem unglaublichen Grade, der
ihn der Gesundheit gefährlich mache und in allgemeinen Miss-
credit bringe, verfälschten, und dass die Errichtung einer Com-
pagnie das einzige Mittel sei, den mannigfaltigen Hebeln die-
ses Zustandes zu begegnen. Pombal überzeugte sich von der
Notwendigkeit des Einschreitens der Regierung und vermit-
telte ein Decret vom 10. Sept. 1756, wodurch die „Gom-
panbia geral da Agricultura das vinhas do Alto Douro" ge-
bildet wurde. Die uns vorliegenden Statuten derselben ent-
halten 53 Paragraphen. Die Hauptaufgabe der Gesellschaft
war, die gute Qualität und den Ruf des Weines zu erhalten,
den Weinbau durch einen geregelten Preis und durch Be-
freiung von den Intriguen der Monopolisten zu fördern (Nä-
heres s. in $. 10 der Statuten). Die Gompagnie fand heftige
Gegner, zunächst unter den kleinen Weinschenkern, die sich
durch die Schranken, die ihren bisherigen Unterschleifen und
Kunstgriffen entgegengestellt wurden, belästigt fanden. Ver-
einigt mit der niederen Volksciasse, die ihre Schenken be-
suchte, erregten sie häufige Aufstände in Porto. Bei dieser
Gelegenheit wurde das Haus des Directors der Gompagnie
erbrochen und ausgeplündert, er selbst gemisshandelt. Damit
nicht zufrieden griff der Pöbel das Militär an; der Aufruhr
wurde sehr ernstlich und kostete mehren Menschen das Le-
ben. Auf die Nachricht davon sandte Pombal frische Trup-
pen nach Porto; die Rädelsführer wurden mit Strenge be-
straft (über die Hingerichteten s. bei Smith die Note I. 155).
Es fand sich, dass hauptsächlich die Jesuiten in Porto, die
bittersten Feinde Pombal's, das Volk anreizten und dessen
Leidenschaften entzündeten. Von allen diesen Vorgängen giebt
uns Pombal selbst einen Rericht, den er nach seiner Zurück*
Ziehung aus dem Ministerium im Jahre 1777 niederschrieb
insbesondere seine Reformen in der Verwaltung. 309
(von Smith mitgetheilt 1. 142—154), aus dem wir sehen, mit
welcher Umsicht und Berücksichtigung aller Umstände Pom-
bal zur Bildung der Compagnie geschritten war, wie die Je-
suiten in ihren religiösen Versammlungen und selbst im Beicht-
stuhle dem Volke einbliesen, „dass der Wein der neuen Com-»
pagnie sich nicht zur Feier der Messe (zum Nachtmahlweine)
eigene"; wie die englischen Kaufleute in Porto mit den Wein-
schenkern im Einverständnisse standen und sich zum Schaden
der Compagnie alle Betrügereien erlaubten (S. 148). Die Eng-
länder, sagt Pombal, als sie diesen wichtigen Handelszweig
aus ihren Händen gerissen und in Alto Douro jetzt sich selbst
abhangig sahen von jenen Weinbauern, die von ihnen bisher
wie Sklaven behandelt worden und deren Besitzungen ganz
in ihren Händen gewesen waren, Hessen keinen Vorwand
oder Grund, den sie auffinden konnten, unbenutzt, um die
Compagnie unmittelbar oder mittelbar zu Grunde zu richten,
und wurden in diesen Bemühungen durch die verfänglichen
und dringlichen Noten der britischen Gesandten in Lissabon,
Edward Hay, Lord Kinnoul, W. H. Lyttelton und Robert
Walpole, unterstützt. Stellen aus den Berichten der engli-
schen Gesandten, welche Smith I. 156, 157 mittheilt, zeigen
uns, wie sehr Pombal's durchgreifende Maassregeln in dieser
Hinsicht die englische Diplomatie in Bewegung setzten und
in die Interessen Grossbritaniens eingriffen; sie zeigen uns
zugleich Pombal als den einsichtsvollen und muthigen, ebenso
entschiedenen als hartnäckigen Verfechter der Unabhängigkeit
seines Vaterlandes und des königlichen Thrones, einer Macht
gegenüber, mit welcher er vor allen anderen Mächten Euro-
pa^ in gutem Vernehmen zu stehen bemüht war. Wir wer-
den später das letztere Verhältnis* näher ins Auge fassen.
Kurz nach der Veröffentlichung der Statuten der Porto wein-
Compagnie wurde die Meza dos homens de negocio, die sich
Missbräuche hatte zu Schulden kommen lassen, durch ein De-
cret vom 30. September 1756 aufgehoben, und Pombal mit
dem Desembagador Ignacio Ferreira Souto beauftragt, eine
neue Behörde für die Förderung des Handels zu gründen.
So entstand die Junta do Commercio, durch welche „combi-
ZeiUehrift f. GeschicbUw. IT. 1845. 21
310 lieber Pombal,
riando ö systema das Leis destes Reinos, com as maiimas
commuas a todas as Na^oGs da Europa " die nöthigen Tor-
träge über die Mittel, den Handel zu bewahren und zu ver-
mehren, gemacht werden sollten. Die Statuten, die in der
uns vorliegenden Gesetzsammlung 24 Seiten lullen und aus
denen Smith I. 298 einige wesentliche Punkte hervorhebt,
wurden durch ein königliches Decret vom 16. December 1756
bestätigt
Im Anfange des folgenden Jahres, 5. Januar 1757, wurde
den Adeligen erlaubt, an der Companhia Gera! do Grao
Part, e Maranhäo Tbeil zu nehmen. „Da sie zur Aufgabe
habe, im Reiche den Handel blühend zu machen, von dem
nicht nur der Nutzen jedes Einzelnen im Besonderen, son-
dern der des Gemeinwohls des Staates abhänge, so sei es
nicht allein gleichgültig, sondern geziemend (decoroso) fiir alle
Personen, selbst solche von höherem Range, sich bei ihm zu
betheiligen u. s. w." Die Bemerkungen, welche Smith an die-
ses Gesetz mit Rücksicht auf den heutigen Adel Portugals,
dem der Stolz die Benutzung dieser Erwerbsquelle verbietet,
knüpft, zeigen, wie wohl er die Ursachen der Verarmung die-
ses Standes in Portugal kennt und geben demselben eine gute
Lehre (I. 299).
Von ausgebreitetem und tiefeingreifendem Einflüsse war
die Errichtung einer Handelsschule, Aula do Commercio, die
der Aufsicht der Junta do Commercio untergeben wurde,
durch ein Decret vom 19. Mai 1759 (s. die Statuten dersel-
ben vom 19. April 1759 in der Gesetzsammlung). Die Früchte
dieser Unterrichtsanstalt fiir junge Kaufleüte zeigten sich na-
mentlich im Jahre (775, wo zweihundert Zöglinge in Gegen-
wart der Minister und anderer höherer Beamten öffentlich
geprüft wurden und ihre Fortschritte in allen Zweigen des
Rechnungs- und Handelswesens, in 3er ScbiffTahrtskunde und
in verwandten Kenntnissen ihnen selbst, der Anstalt und dem
Gründer derselben Ehre brachten (I. 305).
Erfreulicher noch und lohnender musste dem Schöpfer
dieses Institutes und aller der Einrichtungen und Verordnun-
gen, die er zur Förderung des Handels ins Leben gerufen
insbesondere seine Reformen in der Verwaltung. 311
hatte, der Blick auf das Gedeihen und die Blüthe des See-
handeis seines Vaterlandes sein, wenn er aus den Registern
in Lissabon entnahm, dass im Jahre 1774 im Tajo 104 por-
tugiesische, 348 englische und 193 andere fremde Schiffe, im
Jahre 1775 121 portugiesische» 371 englische und 168 aus-
wärtige Schiffe eingelaufen waren. Diese Periode, fugt Smith
hinzu, kann als das goldene Zeitalter der portugiesischen In-
dustrie in jedem Zweige des Handels und Verkehrs betrach-
tet werden (II. 254).
Die königliche Flotte war, nachdem ein Decret vom
10. September 1765 einen neuen Anstoss zu Seeunterneh-
mungen gegeben hatte, später in einen blühenden Zustand,
und, mit anderen Seemächten verglichen, auf einen respecta-
blen Fuss gebracht worden. Portugal gebot in jener Zeit
über dreizehn Linienschiffe und sechs Fregatten (II. 105).
Sie lenken unseren Blick, wie von selbst, auf Portugal'*
Colonien, nachdem Pombal den seinigen sehr früh auf sie
gerichtet hatte. Es wurden eingerissene Missbräuche abge-
stellt (L 73), den übelen Zustand der Colonien verbessernde
Anordnungen getroffen, die Indianer in den Provinzen Ma-
ranh&o und Grand Parä in Amerika für frei erklärt (schon
durch ein Decret vom 8. Juni 1755), auf alle mögliche Mittel
gedacht, um die Indianer aufzumuntern und zu civilisiren,
den Portugiesen, die in ihre Familien heiratheten, gewisse
Vorrechte ertheilt, der Handel und Verkehr zwischen ihnen
und dem Mutterlande von belästigenden Beschränkungen be-
freit (1. 76, 77). Die vortrefflichen, humanen Gesetze, welche
Pombal zur Civilisation der Indianer in den Jahren 1757 und
1758 erliess, gereichen ihm, sagt mit Recht der Verf., zum
grössten Lobe und werfen einen ehrenden Glanz auf Pom-
bal's Humanität und Weisheit Sie sind fortwährend ein Mu-
ster für alle künftigen Versuche der Civilisation wilder Völ-
kerschaften. Die vorzüglichsten Anordnungen zum Wohle
der Colonien enthält das Decret vom 3. Mai 1757. Seine erste
Bestimmung ist, dass der Gebrauch der portugiesischen Spra-
che unter den Eingeborenen das erste und sicherste von allen
Mitteln sei, sie zu civilisiren, ihre Neigung zu gewinnen und
21*
3t2 lieber Pombal,
ihren Gehorsam zu sichern. Zu diesem Zwecke sollten in
jedem Dorfe zwei. Schulen errichtet werden, eine für Kna-
ben, um sie in den Hauptlehren der christlichen Religion, im
Lesen, Schreiben und Rechnen zu unterrichten; eine andere
für Mädchen, worin diese, ausser jenem, noch im Nähen, Spin-
nen und in anderen weiblichen Arbeiten unterwiesen wür-
den. Weitere Anordnungen der zweckmäßigsten Art s. I.
302. Rrasilien wurde ein Hauptgegenstand der Aufmerksam-
keit und Sorge Pombal's. Auch ohne seinen tiefen Blick sah
jeder ein, dass der Besitz dieses Landes, statt der grossen
Vortheile, die er Portugal bringen könnte, durch verkehrte
Ansicht und Benutzung vielmehr eine Hauptursache des Ver-
falles von Portugal geworden war, weil man in seinen Gold-
minen eine unerschöpfliche Quelle des Reichthums sah, statt
darin nur ein Zeichen desselben zu sehen, und darüber in
Brasilien wie in Portugal jedes Mittel, den Wohlstand auf
bessere Grundlagen als auf Erz zu bauen, versäumte. Nach-
dem Smith Brasiliens Einiluss auf das Mutterland in dieser
Beziehung bereits (I. 8) berührt hat, bespricht er ihn weiter
(1. 109) und theilt Pombal's Ansicht davon mit seinen eigenen
Worten mit. Der Anbau des Landes und die Betreibung der
Mahufacturen wurde über die täuschende Ausbeute der Berg-
werke vernachlässigt. Pombal war überzeugt, das« dieser ver-
derbliche Irrthum, in den seine Vorgänger in der Verwaltung
gefallen waren, und dass die Manie nach Erz zu graben, eine
der Hauptursachen der Verarmung des Landes und der Zer-
rüttung der Finanzen geworden war. „Die Felder, sagt Pom-
bal, wurden unergiebig und werthlos. Die Zahl der Arbei-
ter, eine Volksciässe, in welcher die Stärke der Regierung
besteht, verminderte sich täglich. Landbauer gaben die Be-
bauung ihrer Grundstücke auf; die Ernte fiel mager und un-
zureichend aus, und der Wohlstand wich aus ihren Staa-
ten" (I. 110).
So geriethen die Portugiesen in Abhängigkeit von der
Industrie anderer Nationen in Absicht auf Lebensmittel und
Manufacturwaaren, die sie früher selbst erzeugt hatten, und
man schldss den bekannten Methueh- Vertrag zwischen Por-
insbesondere seine Reformen in der Verwaltung. 313
tugal und England ab (27. Dcc. 1703). Er war indess, sagt
Smith, eine Folge, nicht die Ursache des fast gänzlichen Ver-
Schwindens der landwirtschaftlichen Thätigkeit und Manu-
facturunternehmungen. Hiervon ausgehend nimmt der Ver-
fasser Anlass, den Met huen -Vertrag zu vcrtbeidigen und zu
rechtfertigen. Wir können und wollen ihm hier nicht ins
Einzelne folgen, um seine Ansichten einer Prüfung zu unter-
ziehen, die mit strenger Unparteilichkeit und umsichtiger Er-
wägung aller Verhältnisse angestellt, leicht manche Modifi-
cation der vom Verfasser aufgestellten Sätze nöthig machen
dürfte. Näher liegt unserer Aufgabe und von besonderer
Wichtigkeit ist uns PombaPs eigene Ansicht von PortugaPs
Verhältniss zu England, so wie die Stellung, die er
selbst diesem gegenüber nahm. Er kannte vollkommen die
schmähliche Abhängigkeit seines Vaterlandes von England
und zeichnet sie uns selbst mit der ihm eigentümlichen
Schärfe und Entschiedenheit. „Im Jahre 1754, sagt er, er-
zeugte Portugal kaum Etwas zu seinem eigenen Unterhalt.
Zwei Drittel seiner physischen Bedürfnisse wurden durch
England befriedigt. Ein Land, das hinsichtlieh seines Unter-
halts von einem andern abhängt, wird bald dessen- Sklave
und ohne Schwertstreich leicht erobert. Zur vollkommenen
Abhängigkeit fehlt nichts als der wirkliche Besitz (I. 114).
Jedes Kleidungsstück, sagt er weiter unten (I. 1 17), das diese
Nation brauehte, wurde aus England gebracht, und diese
Einfuhr stieg auf 20 Millionen Cruzados jährlich. Eine Na-
tion, die durch eine andere gekleidet wird, ist nicht weniger
abhängig als jene, welche die ersten Artikel des physischen
Bedarfs von aussen empfängt, da Eins so wesentlich ist für
die Existenz der Europäer als das Andere. England versi-
cherte sich dieses Königreichs durch diese beiden Mittel, die
wie zwei Anker erscheinen, welche diese Republikaner in
das Land geworfen haben." Wie P. hier in Ansehung der
Landwirtschaft und Manufacturen die Abhängigkeit des Lan-
des nachweist, so im Folgenden in Ansehung des portugie-
sischen Handels in jener Zeit. „England ist Herr des gan-
zen Handels ton Portugal geworden und aller Verkehr des
314 lieber Pombal,
Landes wird durch seine Agenten betrieben. Die Engländer
waren zu gleicher Zeit die Versorger und Kleinhändler mit
allen Bedürfnissen des Lebens, welche dieses Land verlangt.
Da es ein Monopol in allen Gegenständen besitzt, so wird
jedes Geschäft nur durch seine Hände geführt. Nachdem der
Hof von St. James das Uebergewicht über den von Lissabon
erlangt, und Grossbritanien sich, so zu sagen, in dieses Kö-
nigreich ausgedehnt hatte, so waren die Portugiesen nicht
länger etwas anderes als die müssigen Zeugen des ausge-
breiteten Handels, der unter ihnen getrieben wurde. Portu-
gal war ihnen ein weites Amphitheater, in das die Portugie-
sen als ruhige Zuschauer gestellt waren, ohne jedoch an den
Unternehmungen Theil nehmen zu dürfen." — „Der Englän-
der kam nach Lissabon, um selbst den Handel Brasilien^ als
Monopol zu haben. Die ganze Ladung der Schiffe, die dahin
geschickt wurden, und folglich die Reichthümer, die dafür
zurückkamen, gehörten ihnen. Nur der Name war portugie-
sisch; während inmitten dieses scheinbar Ungeheuern Han-
dels, der das Land zu bereichern schien, Portugals Kraft hin-
wegschwand, weil die Engländer allein des Yortheils sich
erfreuten. Diese Fremdlinge, nachdem sie unennessltehe
Reichthümer erworben, verschwanden plötzlich, die Sehätze
des Landes mit sich führend." Wir überlassen dem Leser
die weiteren eben so richtigen als geistreichen Betrachtungen
PombaPs über diesen Gegenstand und dessen vielfache Be-
ziehungen in dem Werke selbst (I. 115—126) .zu lesen«
Sein Vaterland vom Joch der Abhängigkeit, so weit dies
möglich, frei zu machen, hatte sich Pombal zu einer seiner
Hauptaufgaben gesetzt (Beweise dafür finden sich in den von
Smith mitgetheilten Depeschen der englischen Gesandten in
Lissabon an den Staatssecretär IL 46 — 48, 50), und die un-
erschütterliche Festigkeit, mit der er die Gegenvorstellungen
der englischen Gesandten zurückwies und dief so lange er
das Staatsrüder führte, keine Nachgiebigkeit hoffen Hess, die
stolze Haltung, die er den Repräsentanten dieser imposanten
Macht gegenüber nahm, und die wahre Hochachtung, die er
der englischen Regierung abnöthigte, sind die Lichtseiten sei*
insbesondere seine Reformen in der Verwaltung. 3 15
nes Charakters als Staatsmannes und Patrioten. Gleichwohl
hielt er Grossbritanien für denjenigen Staat, an welchen sich
Portugal am natürlichsten anlehne und mit dem in innigeren
Beziehungen zu stehen Portugal am vorteilhaftesten sei.
„Many of these establishments , schreibt der britische Ge-
sandte Hay, are hurtful even to the subjeets, but he is so
steady to his point, that he will persist in them to the last.
He is equally firm in bis political System. He has often told
nie that he is sensible Portugal cannot supply the Brazils;
tberefore they must have recourse to some foreign nation, and
no nation more proper than Great Britain, which has always
been the natural ally of Portugal, and has an interest in sup-
porting tbat alliance, which other nations have not" (11,50).
„P. endete, führt Hay weiter an, mit der Bemerkung, dass
England und Portugal wie Mann und Weib seien, welche
kleine häusliche Streitigkeiten mit einander haben mögen,
aber wenn irgend ein Anderer den Familienfrieden zu stören
kommt, so mögen sie sich vereinigen, um ihn zu vertheidi-
gen" (IL 51). Die Achtung, welche Hay in einer Depesche
an seine Regierung dem portugiesischen Minister mit den
Worten bezeigt: „er bewahrt das vollkommene Zutrauen sei-
nes königlichen Herrn, und, die Wahrheit zu sagen, mit all
seinen Fehlern ist er der einzige Mann in diesem Königreich,
der fähig ist an der Spitze der Geschäfte zu stehen" (II. 52).
— Diese Achtung bewies ihm durch die That der grosse
Chatbam, als er auf eine energische Remonstration Pombal's
den Lord Kinnoul, um sich zu rechtfertigen, nach Lissabon
sandte (I. 310. Vergl. die Adresse, die im Namen seines Kö-
nigs.der englische Gesandte dem König von Portugal über-
reichte I. 313—315).
Schwieriger noch war Portugal's Stellung gegen-
über Spanien; aber auch nach dieser Seite wusste Pom-
bal seinem Vaterlande eine ehrenhafte und geschätzte Hal-
tung zu geben. Er betrachtete, sagt Smith II, 239, Spanien
stets als den natürlichen Feind Portugal's und war daher ei-
ner engen Verbindung mit diesem Lande abgeneigt, über-
zeugt; dass die spanische Politik immer darauf ausging, Por-
316 Ueber Pombal,
tugal zum zweitenmal zu erobern. Dies offenbarte sein 1762
erlassenes Manifest, das Portugals König so energisch er-
w iederte. So sehr Pombal den Frieden mit Spanien zu er-
halten wünschen mochte, der ihm zur Ausführung seiner
Reformen nöthig war, so wenig konnte doch Portugal den
Anforderungen der Mächte, die den Familienpact geschlossen
hatten, Folge geben, und im Weigerungsfall den Drohungen
gleichgültige Ruhe, den Gefahren das Bewusstsein nachhal-
tiger Widerstandsmittel entgegenstellen. Als Pombal die Ver-
waltung übernahm, forderte sicherlich kein Zweig des Staats-
wesens durchgreifendere Reformen als das Heer. Acht oder
höchstens zehntausend Mann schlecht disciplinirte Truppen
waren die ganze Mannschaft, welche das Land zusammen-
bringen konnte, um einen feindlichen Einfall abzuwehren oder
einen Feind zu züchtigen, während die Fortificationen in ei-
nem Zustande waren, der sie ganz nutzlos machte (I. 319).
Die letzteren hatte Pombal nach einiger Zeit in einem ge-
wissen Umfang herstellen lassen (s. den ersten von ihm un-
terzeichneten Alvara vom 7. Febr. 1752 in der Gesetzsamm-
lung), allein die unglücklichen Ereignisse in den ersten Jah-
ren der Regierung Joseph's hinderten Pombal seine Thätig-
keit und die Hülfsmittel des Landes auf die Organisation des
Heerwesens zu richten. Aber schon während der ersten Ver-
handlungen mit Spanien (von Smith gut erörtert I. 323—328),
deren Ausgang ungewiss war, zeigte sich P. thaiig, die nö-
thigsten Vertheidigungsmittel vorzubereiten (sie finden sich
I. 328). Bei dieser Gelegenheit sagte P.: „wenn die Spanier
bei diesen Vorbereitungen Argwohn hegen, so wird dies nur
ein stärkerer Beweis ihrer schlimmen Absichten sein; denn
einen Nachbar, der sich beleidigt fühlt, weil ich meine Thür
verschliesse, mag mit Recht der Verdacht treffen, dass er die
Absicht habe, mich zu berauben." Der Krieg brach indess
schneller aus, als man portugiesischer Seits besorgt hatte,
und Portugal war noch keineswegs in der Lage den Angriff
mit Nachdruck zurückzuweisen; nur die ungemeine Regsam-
keit und Thatkraft Pombal's vermochten so grosse Schwie-
rigkeiten zu überwinden. Mit unglaublicher Schnelligkeit wur-
insbesondere seine Reformen in der Vericaltung. 317
den 36000 Mann Fussvolk und 6000 Pferde, ausser der Miliz
ausgehoben und gut ausgerüstet, 5000 Mann zur Bildung der
Artillerie hinzugefügt Der Graf von Schaumburg-Lippe schrieb
eine Woche nach seiner Ankunft in Lissabon, 3. Juli 176?,
an die englische Regierung: I found most things surpass, by
much, my expectations, and particularly the manufacture of
muskets. There is powder, cannon, bullets, and founderies.
These things only want order. Er fand vornehmlich „in Lis-
sabon die militärischen Rüstungen lebhafter, wo sie unter
den Augen des Grafen Oeyras mit mehr Kraft, Eifer und Thä-
tigkeit betrieben würden" (I. 341]. Der Graf von Schaumburg-
Lippe blieb nach dem Frieden von Fontainebleau (1763) noch
einige Zeit in Portugal, um P. in seinem Bemühen, die Trup-
pen zu discipliniren und die Festungen des Königreichs in
Vertheidigungsstand zu setzen, beizustehen (I. 333, 341).
Zugleich richtete P. sein Augenmerk auf Portugals See-
macht, die vor ihrer Reorganisation in einem noch bekla-
genswerteren Zustande war als das Heer; denn, auf zwei
Schiffe herabgesunken, war sie so verachtet, dass algierische
Corsaren an den portugiesischen Küsten zu landen und die
Einwohner zu plündern pflegten, die Handelsschiffe aber den
Hafen nicht zu verlassen wagten. Unter diesen Umstanden
stellte P. mehr als dreihundert englische Schiffszimmerleute
an, um auf den Werften und im Arsenal in Lisboa zu ar-
beiten. Die Raschheit und Stetigkeit, womit dies geschab,
war so gross, dass in wenigen Jahren die Seemacht auf zehn
Linienschiffe und eine verhältnissmässige Zahl Fregatten ver-
mehrt wurde. Und damit die Colonien gleich dem Mutter-
lande Schutzmittel erhielten, schickte P. Schiffe mit Werkmei-
stern, Handwerkern und Materialien nach Mozambique und
Brasilien, um in diesen Besitzungen die nöthigen Forts an-
zulegen (L 334).
Nach dem Friedensschluss mit Spanien im J. 1763 wurde
das Heer reducirt und auf 30000 Mann wirkliche Truppen
festgesetzt, manche im Heer eingeschlichene Missbräuche
wurden abgestellt. Der englische Gesandte Hay bemerkt in
einer um jene Zeit geschriebenen Depesche, „dass die mei-
318 üeber Pombal,
sten Regimenter iu Fuss gut disciplinirt seien und einen
schönen Anblick gewährten. Alle Anordnungen in Betreff der
Armee rühren vom Grafen von Oeyras her, und die Generale
und Olficiere in ihren verschiedenen dienstlichen Kreisen
wenden sich hauptsächlich an ihn" (IL 101. Ueber den fol-
genden Krieg mit Spanien s. IL 217 ff.).
So war Pombal eifrigst thätig, Landwirtschaft, Gewerbe,
Handel und Verkehr iu fördern, die verfallene Seemacht her-
zustellen, das Heerwesen und die Landesverteidigung, die
gänzlich im Argen lagen, in einen respectablen Stand zu set-
zen, und erfreute sich eines guten Erfolges in den meisten
dieser Verwaltungszweige. Wohl würde Pombal, hätte er
seine Thätigkeit blos auf diese Gegenstände beschränkt, den
Vorwurf einer blos materiellen Ansicht vom Staate und des-
sen Zwecken, welcher ihm von deutschen Schriftstellern ge-
macht worden ist, verdienen; allein dem widerspricht seine
unläugbare, nicht minder thätige Sorge für die geistigen In-
teressen des Volkes, für Bildungs-Anstalten und -Mittel.
Was er, wie bereits oben angeführt worden, für den Unter-
richt und die Civilisation der gebornen Indianer in den Colonien
Portugals that, reicht hin, ihn in dieser Beziehung über man-
chen gepriesenen Fürsten des achtzehnten Jahrhunderts zu
setzen. (Dass diese und ähnliche Anordnungen in den Co-
lonien und im Mutterlande nach seinem Tode zerfielen oder
unausgeführt blieben, wird man doch Pombal nicht zur Last
legen wollen?) „Zu Hause (d.i. im Mutterlande), sagtSmitb,
verdienen seine Bemühungen eine ausgedehntere Kenntniss-
nahme; denn vielleicht bat kein Minister irgend einer Zeit
oder eines Landes energischere Maassregeh zur Verbreitung
einer liberalen Erziehung aller Glassen seiner Landsleute er-
griffen/4 Die nähere Darlegung dieser Maassregeln, die zur
richtigen Würdigung dieses Urtheils nöthig ist, würde den
hier gestatteten Raum weit überschreiten, und wir beschrän-
ken uns zur Bezeichnung der Leistungen PombaPs in dieser
Beziehung auf wenige Andeutungen. Die Grundansicht Pom-
baPs mögen seine eigenen Worte bezeichnen: „das Studium
der humanen Wissenschaften (Letras Humanas) ist die Grund-
insbesondere seine Reformen in der Verwaltung. 319
läge aller Wissenschaften und yon der Venrollkomnung die-
ser bangt der Ruf und das Gedeihen der Staaten ab" (De-
cret vom 28. Juni 1759» bei Smith I. 306 nicht richtig aus«
gedrückt). In diesem Beeret beklagt er den traurigen Zustand
der Wissenschaften in Portugal und schreibt ihn dem fehler-
haften und verderblichen Unterrichtssysteme zu, das von den
Jesuiten angenommen worden, während sie den Unterricht
leiteten. Das Decret bestimmt dann die Lehrer für die ver-
schiedenen Unterrichtsgegenstände, die Lehrbücher, die Me-
thode iL s.w. Smith theilt das Wichtigste mit (I. 308) und
fügt hinzu: „In einer Depesche des portugiesischen Gesandten
am Wiener Hofe, die im Gesandtschaftsarchive aufbewahrt
wird und vom 3. November 1759 datirt ist, finden wir fol-
gendes schmeichelhaftes Zeugniss des weit verbreiteten Rufes
Pombal's und seiner Reformen im Unterrichtswesen: die neue
Methode, die man in den lateinischen und griechischen Gas-
sen in Portugal eingeführt hat, ist hier gebilligt worden und
der Präsident des Hofrathes hat den Wunsch ausgedrückt,
dieselbe Methode in dem Reiche angewendet zu sehen.4'
(Weiteres darüber s. I. 309). Wichtiger und besonderer Be-
achtung werth ist, was Pombal für den Unterricht in der
Landessprache that, unseres Wissens, ohne ein Vorbild
in einem anderen neueren Staate zu haben , ja vielmehr als
nachahmungswerthes, leider aber nicht nachgeahmtes Vorbild
für andere sonst vorgeschrittene Staaten seiner Zeit, in denen
der Öffentliche Unterricht in der Muttersprache noch nicht
Gegenstand der Gesetzgebung war, über die Pflege der tod-
ten Sprachen diese vergessen wurde, und man, die vaterlän-
dische Sprache verschmähend und damit nicht selten den va-
terländischen Geist verläugnend, in welscher Zunge seine in-
dividuellsten Gefühle und Gedanken auszusprechen vergebens
sich abmühte. Wir bedauern, das merkwürdige Gesetz, das
mit den Worten beginnt: „Da die Verbesserung der Natio-
nalsprache eins der beachtenswerthesten Mittel der Gultur der
civilisirten Völker ist, weil von ihr die Klarheit, Kraft und
Majestät abhängt, womit die Gesetze geschrieben, die Wahr-
heit der Religion überzeugend gelehrt und die Schriften nütz-
320 Veber Pombal,
lieb und angenehm gemacht werden sollen" u. s. w., nicht in
seinem ganzen Umfange hier mittbeilen zu können, und ver-
weisen den Leser auf Smith II. 131, der das Wichtigste aus
dem Gesetze vom 30. September 1770 anfährt.
Im Jahre 1772, 6. November, wurden nicht weniger als
887 Professoren und Lehrer für den unentgeltichen öffentli-
chen Unterricht angestellt, von denen 94 für die Inseln und
Colonien bestimmt wurden. Jeder Professor war angewie-
sen, einen jährlichen Bericht über die Fortschritte seiner Schü-
ler einzusenden. 479 Lehrer sollten den Unterricht im Lesen
und Schreiben ertheilen; 236 waren für die lateinischen und
88 für die griechischen Classen bestimmt Dazu kamen 49
Schulen für Rhetorik, und 30 für Philosophie. . Eine geringe
Abgabe, unter dem Namen „literarisches Subsidium" erhoben,
wurde auf verschiedene Artikel der allgemeinen Gonsumtion
gelegt, um die Besoldungen dieser Lehrer zu bezahlen (IL
174). Endlich richtete Pombal in demselben Jahre sein Au-
genmerk auf den Mittelpunkt der wissenschaftlichen Thätig-
keit und des höheren Unterrichtes, auf die alte Hochschule
in Coimbra. Die in diesem Institute eingerissenen Miss-
bräuche waren so offenkundig, dass der König im August
1772 Pombal zu „seinem Plenipotenciario und Lugar-Tenente
der Universität" ernannte, und ihm befahl, sich nach Goimbra
zu begeben, um die Reformen, die er Air nöthig erachten
werde, vorzunehmen (II. 165, s. die Carta Regia dirigida ao . . .
Senhor Marquez de Pombal vom 28. August 1772 in der Ge-
setzsammlung). Seine erste Handlung war, dass er einen Be-
richt über die Universität in jenem Zeiträume, in welchem
sich die Jesuiten in sie eindrängten und alle Macht an sich
zogen, veröffentlichte, und klar und bestimmt nachwies, dass
von diesem Zeitpunkte an der schnelle Verfall der Literatur,
Wissenschaft und Philosophie in Portugal begann. Wir kön-
nen den einzelnen Mängeln der Universität und ihren Refor-
men durch Pombal in der Darstellung nicht folgen, aber wir
dürfen auch hier den gesunden und hellen Blick nicht uner-
wähnt lassen, den Pombal in diesen, seiner Stellung und
Kenntniss keinesweges nahe liegenden Regionen bewies. Eid
insbesondere seine Reformen in der Verwaltung. 321
Schreiben desselben an den Rector der Universität Goimbra
über die Anlegung des botanischen Gartens, das Smith IL
168—171 mittheilt, zeigt, wie dieser richtig bemerkt, wie ge-
nau Pombal zu unterscheiden wusste, was nöthig und nütz-
lich und was nutzlos und blos prunkend sei. Nachdem Pom-
bal seine wichtige Aufgabe gelöst hatte, nahm er in einer
öffentlichen Bede (Smith IL 171—174) am 22. October Ab-
schied von der Universität Bevor dasselbe der Verf. that,
wäre wünschenswerth gewesen, dass er die neuen Statuten
der Hochschule näher ins Auge gefasst, ihren Geist und ihre
Richtung, ihr Verhältniss zur Aufklärung, Bildung und Wis-
senschaft des Zeitalters überhaupt wenigstens angedeutet hätte.
Die von ihm gewählte Form der Memoiren überhob ihn die-
ser Aufgabe; aber es zeigt sich auch hier, dass sie nicht ge-
eignet ist, Pombal's gesammte Wirksamkeit ins volle Licht zu
setzen und eine gründliche und allseitige Beurtheilung der-
selben möglich zu machen.
Vier Jahre früher (1768) war eins der Haupthindernisse
einer freien wissenschaftlichen Thäligkeit beseitigt worden,
durch die Abschaffung des Index Expurgatorius (Oecret vom
2. April 1768 in der Gesetzsammlung) — one of the last re-
mains of ecclesiastical bigotry, fugt Smith hinzu (IL 115). Ein
neues Tribunal zurCensur aller Bücher, welche die Förde-
rung der Wissenschaften und nützlicher Belehrung bezweck-
ten, die Real Mesa Gensoria, aus einem Präsidenten, sieben
ordentlichen und zehn ausserordentlichen Depulirten zusam-
mengesetzt, ward errichtet (Gesetz vom 5. April 1768).
Es war dies eine der Maassnahmen, welche Pombal er-
griff, um die überwiegende Gewalt der Geistlichkeit zu
brechen. Unter der elenden Regierung Johann's V. war das
Land in solche Abhängigkeit von der Kirche gesunken , dass
man für unerläßlich nöthig erachtete, ein Decret zu erlassen,
durch welches des Königs Prärogativ, ohne geistliche Erlaub-
niss Kirchen in seinen eigenen Ländern zu errichten, be-
hauptet und vertheidigt wurde! (I. 300.) Bald nach Pombal's
Beförderung zum Minister war bereits die Macht der Inqui-
sition beschränkt, der Gebrauch der Auto -da- fe's abgeschafft '
322 lieber Pombal,
worden (I. 65; II. 123). Ein im Jahre 1768 publicirtes Ge-
setz beschränkte die Fähigkeit der portugiesischen Untertha-
nen, all ihr Vermögen, zum Nachtheile ihrer Familien und
Verwandten, an Klöster und Ordenshäuser zu vermachen (IL
1 15 vergl. auch IL 252). Zur Verminderung der Klöster gaben
die in der vorigen Regierung eingerissenen oder ruchbar ge-
wordenen Missbräuche Grund und Aufforderung genug; Pom-
bal hob die Hälfte der Frauenklöster auf, und verbot allen
religiösen Orden, männlichen wie weiblichen, Novizen vor ih-
rem fünf und zwanzigsten Lebensjahre und ohne ausdrück-
liche Erlaubniss des Königs in Zukunft aufzunehmen (L 311).
Er erwirkte im Jahre 1771 vom Papste ein Breve, durch das
neun Klöster regulärer Augustiner aufgehoben wurden und
ihre Einkünfte an das Kloster von Mafra, das zur Bildnngs- und
Unterrichtsftnstalt dieses Ordens bestimmt wurde, übergingen
(IL 245). Für solche und ähnliche Beschränkungen rächte
sich ein Tbeil der Geistlichen, der Bischof von Coimbra an
der Spitze, indem sie in Schriften und Reden Pombal einen
Engländer, nicht allein in der Politik, sondern auch in der
Religion nannten und sein Herz von Ketzerei angesteckt er-
klärten (IL 139); selbst die Recbtgläubigkeit des Königs wurde
verdächtigt. Pombal, auf seinen guten Ruf in dieser Hinsicht
eifersüchtig, rechtfertigte sich (IL 140, 141); den Bischof fahr-
ten seine aufrührerischen Schritte ins Gefängniss. In jener
Zeit liess Pombal den Tartufe von Moliire ins Portugiesische
übersetzen und auf dem Nationaltbeater vor dem Könige und
der ganzen königlichen Familie aufführen. Der Tartufe er-
schien im Jesuitenrocke und das Stück wurde in verschiede-
nen Zeiten wiederholt unter grossem Beifalle der vollgedräng-
ten Zuschauermenge gegeben (IL 145).
Dies führt uns zu PombaFs Verfahren gegen die Je-
suiten und ihrer Vertreibung aus Portugal und seinen Co-
lonien. Wie es die Wichtigkeit des Gegenstandes erheischt,
widmet Smith der Geschichte des Ordens der Jesuiten in Por-
tugal einen grösseren Raum und besondere Sorgfalt Er schil-
dert zunächst ihr erstes Auftreten im Lande unter Johann HL,
"ihren Einfluss am Hofe Johann'* V., ihr Treiben und Herr- .
insbesondere seine Reformen in der Verwaltung. 323
sehen in Paraguay, ihr erstes Zusammentreffen mit Pombal's
Verwaltung, die ersten Maassregeln desselben, seine Schritte
am papstlichen Hofe, und schildert dies alles mit Sachkennt-
niss in anziehender Weise (I. 161 — 179). Darauf folgt die
Erzählung des Mordversuches gegen den König Joseph am
3. September 1758 (1. cap. VIII. 185 — 214). Wir können
nicht sagen, dass uns der Verf. neuen Aufschluss über die-
ses verhangnissvolle Ereigniss gegeben, oder auch nur eine
dunkle Seite desselben durch neue Thatsachen aufgeheilt, oder
die bekannten durch neue Belege bestätigt habe. Selbst die
mitgetheilten Berichte des englischen Gesandten am Lissabo-
ner Hofe, Hay's (I. 209 und ff.), bieten weder wesentlich
Nenes dar, noch gewähren sie in der Aeusserlichkeit, womit
sie das Ereigniss beschreiben, den gewünschten Aufschluss
über den inneren Zusammenhang des Attentats; sie sind viel-
mehr ein Beweis, dass der englische Gesandte über mehre
wichtige Punkte nicht besser unterrichtet war, als alle die-
jenigen, die vor dem Vorhange standen. Neben dem Herzoge
von Aveiro, dem erwiesenen Urheber des Mordversuches, wer-
den von Smith der Marquis und besonders die Marquise von
Tavöra, ihre Söhne und Schwiegersohn u. s.w. als Mitver-
schworene mit einer Bestimmtheit angeführt, welche die bis
jetat bekannten und erwiesenen Umstände noch keinesweges
zulassen. Selbst dass die Jesuiten unmittelbar in die Ver-
schwörung verwickelt waren, wie der Verf. unbedenklich an-
nimmt (amongst the many Jesuits implicated in the conspi-
raey were Malagrida etc. I. 206), ermangelt bekanntlich noch
des historischen Beweises. Und so ist diese Darstellung des
wichtigen Ereignisses, weit entfernt, der Bearbeitung dessel-
ben Gegenstandes von einem Deutschen, von Olfers in den
Abhandlungen der königlichen Akademie der Wissenschaften
in Berlin vom Jahre 1838 S. 273 und ff., an gründlicher For-
schung und Gediegenheit gleich zu kommen, hinter der tüch-.
tigen deutschen Bearbeitung beträchtlich zurückgeblieben.
Das folgende Capitel, IX., enthält die Geschichte der Ver-
treibung des Ordens aus Portugal und den Colonien, und die
Einziehung ihrer Güter, die Verhandlungen und Streitigkeiten
324 lieber Pombal,
des lissaboner Hofes mit dem römischen, worauf dann im
zehnten Capitel das Manifest, in welchem der König von Por-
tugal seine Beschwerden über den römischen Hof einzeln und
umständlich darlegt, der Länge nach im Texte mitgetheilt
wird (I. 229 — 283). Vorgänge der neuesten Zeit, welche ein
näheres Interesse für den Inhalt des Manifestes erregen dürf-
ten (at a moment like the present, when we see the courts
of Rome and Madrid are at variance, in a manner that pro-
mises utile hope for the integrity of the Roman Catholic
Church in Spain), rechtfertigen in den Augen des Verfs. die
vollständige Mittheilung desselben; indessen möchten auch
dazu die wesentlichsten Punkte in gedrängter Kürze Einrei-
chend gewesen sein. Der völlige Bruch des Gabinets von
Lissabon mit dem päpstlichen Hofe, und ein merkwürdiger
Privatbrief über die Aeusserungen des Cardinais Acciajuoli in
Betreff des Königs Joseph und seines Ministers, wie derTheil-
nahme der Jesuiten an dem Mordversuche gegen den ersten,
schliesst diesen Abschnitt. Im zweiten Bande widmet der
Verf. dem Jesuiten Malagrida ein ganzes Capitel (XIV. 13 bis
23) voll interessanter Einzelheiten, ohne uns mit dem Urhe-
ber des schauderhaften Todes dieses Schwärmers versöhnen
zu können, nimmt im siebenzehnten Capitel die Streitigkeiten
zwischen dem portugiesischen Hofe und der römischen Curie
von neuem auf, schildert die Ränke der Jesuiten nach ihrem
Falle in Portugal, bei welcher Gelegenheit Smith Auszüge
aus den Berichten des portugiesischen Gesandten in Wien
über die Jesuiten mittheilt (these extracts — serve to show
how general was the opinion of the Society's misconduct,
and how indispensable the reform or the suppression of
the Order had become), verfolgt die neue Wendung, welche
die kirchlichen Angelegenheiten Portugal's mit der Stuhl-
besteigung Clemens' XIV. nahmen, bis zur Aussöhnung bei-
der Höfe d. h. des heiligen Vaters mit dem Grafen von
Oeyras. „Dies gebührt, sagte Seine Heiligkeit, unserem theu-»
ren Sohne, dem edlen Grafen von Oeyras, Staatssecretar
Seiner allergetreuesten Majestät, der unter anderen Tugen-
den bei dieser Gelegenheit so ausgezeichnet seine Anhäng-
insbesondere seine Reformen in der Verwaltung. 325
lichkeit an den heiligen Stuhl, und seinen Eifer und seine
Treue gegen seinfen Sou verain, bewiesen hat u. s. w." Wir
übergehen die weiteren Zeichen der Versöhnung II. 89. Die
Darstellung der Verhältnisse Lissabons zu Rom bietet bei
Smith manches Neue dar und gehört zu den gelungensten
Abschnitten des Werkes. Dabei tritt überall, auch bei den
wichtigsten Ereignissen, die erzählt werden, Pombal's Bezie-
hung zu denselben klar hervor, und sein Antheil erweist sich
grösser, als man gemeinlich angenommen hat. We bave al-
reardy seen the successfull result of Pombal's negotiations with
the Court of Borne for the abolition of the J^suits. The Court
of Portugal was the first tbat discovered the mischievous and
wicked intrigues of these men; and from the beginning to
the end acted wholly and solely by itself. Pombal was
justiy proud of the work he had accomplished, seeing as he
did, his measures finally sanctioned by the papal authority.
The English Minister was not wanting in bis tribute of praise
oq this great and important occasion „especially, sagt
Walpole, as he must be allowed the merit of being the first
in this Century who has ventured openly to attack this
Society, which has had so much influence in many courts,
and particularly in this, tili the acccssion of his present Most
Faitbful Majesty."
Papst Clemens XIV. überlebte nicht lange dieses Ereig-
niss. Die folgenden Auszüge aus Walpole 's Depeschen (II.
155—175) zeigen Pombal's Theilnahme an der Wahl eines
neuen Kirchenoberhauptes, und die Energie, womit er die
bezüglichen Plane verfolgte. Als bald darauf die Nachricht
von der Wahl des neuen Papstes ankam, bemerkte Pombal
scherzend dem päpstlichen Nuntius: wäre die Wahl auf eine
der Jesuitenpartei als günstig bekannte Person gefallen, so
Würde er gesehen haben, wie er (Pombal) Lutheraner ge-
worden wäre.
Wir brechen hier ab, nachdem wir vielleicht schon die
Grenzen des Baumes, den uns der Zweck dieser Zeitschrift
und unsere besondere Aufgabe vorzeichnen, überschritten ha-
ben. Mit des Königs Tode sank auch des Ministers Macht und
Zeitschrift f. Geschichten-, IT. 1843. 22
326 lieber Pombal,
Einfluss dahin. Vergebens bat er in einem Schreiben an die
Königin Maria (II. 378—383 in portugiesischer Sprache) aufs
dringendste, einen Nachfolger in seinem Amte zu ernennen,
dem er, ohne selbst fernerhin eine Stelle bekleiden zu wol-
len, mit seinen „praktischen Kenntnissen und alten Erfah-
rungen" zum Wohl des Landes sich nützlich machten köune
und wolle, „principalmente quando se trata de humas funda-
$oens täo novas, que estio em pouco mais do quc nos seus
principios." Die Königin, von Pombal's Feinden umgeben,
folgte den Eingebungen und Einflüsterungen der Adligen und
Geistlichen, die wieder ihre vorige Gewalt gewannen. Was
von Pombal herrührte, war ihnen verhasst, wie er selbst
Eben dieser Hass seiner einflussreichen Gegner, der sich in
Portugal in Handlungen, im Ausland in Schriften gegen ihn
kundgab und verbreitete, hat das Urtheil über ihn vielfach
irregeleitet. Mit Recht sagt Smith (Pref. VII) : History scarcely
furnishes the parallel of another genius, whose tarne has been
so foully tarnished by the prejudice and malignity of his en-
emies. Dass nach seinem Sturze sein Werk grossentheils zer-
stört, von denselben zerstört wurde, die seinen Beformen
grade den heftigsten Widerstand entgegengesetzt hatten, scha-
dete Pombal's Namen vielleicht noch mehr, als die gegen ihn
gerichteten Schriften. Wie ganz anders würde über seine
Verwaltung geurtheilt werden, wenn ein tüchtiger Fürst oder
Minister sein begonnenes Werk fortgebaut hätte, mit leichter
Mühe, nachdem der erste gewaltige Widerstand von ihm über-
wunden worden war? Von diesen Einflüssen hat sich die
Geschichte nicht frei machen können. Mehr als alle bishe-
rigen Bearbeiter hat nun Smith zur Aufhellung und richti-
geren Beurtbeilung der Verwaltung Pombal's, dieser wich-
tigsten Periode der neueren Geschichte Portugals und einer
der merkwürdigsten Erscheinungen der neueren Geschichte
überhaupt, beigetragen. Ihm boten das Archiv der portugie-
sischen Gesandtschaft in Wien und die Depeschen im briti-
schen State Paper Office manche noch unbenutzte schätzbare
Hülfsmittel dar, und selbst seine persönlichen Verhältnisse
(II. 373) scheinen ihm einzelne Aufschlüsse gewahrt zu haben.
insbesondere seine Reformen in der Verwaltung. 327
Ob aber eben diese persönlichen Verhältnisse des Verfassers
auf das zu günstige Licht, in welchem er hier und dort Pom-
bal und seine Maassregeln darstellt, eingewirkt haben, ver-
mögen wir nicht zu beurtheilen, dürfen diesen Umstand aber
auch nicht unbeachtet lassen. Des Verfassers individuelle An-
sicht ist indessen leicht zu erkennen und ihre Richtigkeit zu
prüfen; da die in den Memoirs mitgetheilten zahlreichen Stel-
len aus Urkunden, Briefen, Erlassen, Gesetzen u. s. w., so*
wie viele constatirte Thatsachen hinreichende Mittel dazu und
zur Bildung eines eigenen selbstständigen Urtheils gewähren.
Das Werk behält dadurch einen bleibenden Werth, wie auch
die Urtheile über Pombal und seine Verwaltung ausfallen
mögen.
Dr. Schäfer, in Giessen.
Die Fürstin MargaretJhe von Anhalt,
geborne Harkgräfln von Brandenburg.
Aus archivali sehen Quellen.
Wohl nie hat eine Fürstin einem so schweren Missgeschick
unterliegen müssen, wie Margarethe von Anhalt, obgleich sie
einem Fürstenhause entsprossen war, welches zu den ersten
und hervorragendsten in Deutschland gezählt wurde. Eine
Tochter des Kurfürsten Joachim I. von Brandenburg, gebo-
ren im Jahre 1511, war sie in ihrer schönsten jungfräulichen
Blüthe, in ihrem neunzehnten Jahre (1530) mit Herzog Georg
von Pommern vermählt, jedoch nach Verlauf eines Jahres
schon Wittwe geworden. Erst nach ihres Gemahls Tode (er
starb am 9. Mai 1531) gebar sie eine Tochter, Georgia, die
Nacbgeborene genannt. Kaum aber hatte sie ein Jahr im
Wittwenstande hingebracht, als der Fürst Johann von Anhalt,
mit dem Kurfürsten von Brandenburg längst befreundet, um
ihre Hand warb. Sie wurde im Jahre 1532 seine Gemahlin.*)
*) Die Vermählungsfeier setzen einige erst ins Jahr 1533.
22*
328 Die Fürstin Margarethe von Anhalt,
Um dieselbe Zeit geschah es auch, dass die Fürsten von An-
halt, Wolfgang zu Köthen, Georg III. von Plötzkau, Joachim
yon Dessau und ebenso Margarethe's Gemahl Johann von
Zerbst, trotz der Abmahnungen und Warnungen der befreun-
deten Fürsten von Brandenburg und Sachsen, besonders des
Herzogs Georg von Sachsen, sich entschieden und öffentlich der
Lehre Luthers zuwandten und ihr in ihren Landen freie Bahn
eröffneten. Am längsten halte Fürst Johann, ohne Zweifel ans
Rücksicht auf seinen Schwiegervater, den Kurfürsten, Beden-
ken getragen, öffentlich als Bekenner und Beschützer der neuen
Lehre aufzutreten. Luther indess wusste so kräftig und ein-
dringlich auf ihn einzuwirken, dass endlich auch er, Yon der Kraft
der Wahrheit besiegt, alle äusseren Rücksichten hintanstellte.
Wohl mochten diese Verhältnisse die freundschaftlichen
Banden, welche früher zwischen den Anhaltischen Fürsten
und den benachbarten katholischen Fürstenhäusern von Bran-
denburg und Sachsen geknüpft worden waren, einigermaassen
gelöst haben. Auf die verwandtschaftliche Stellung zwischen
dem Kurfürsten Joachim und dem Fürsten Johann hatten sie
jedoch, wie es scheint, keinen merklichen Einfluss. Wir fin-
den beide in dem Jahre 1534 mit vielfachen Verhandlungen
beschäftigt, um die Fürstin Margarethe in Rücksicht ihres
künftigen Unterhalts und der ihr gebührenden Leibzucht auf
jede Weise sicher zu stellen. Da der Kurfürst seiner Toch-
ter bei ihrer Verheirathung mit dem Herzog Georg von Pom-
mern ein Heiratbsgeld von 20000 Gulden mitgegeben hatte
und damals in der Heirathsverschreibung bestimmt worden
war, dass diese Summe, wenn Herzog Georg früher sterben
und seine Gemahlin sich wieder verehelichen würde, nacb
Rückgabe ihres verschriebenen Leibgedings mit einem Wi-
derlegungsgeld von 20000 Gulden an den Kurfürsten zurück-
gezahlt werden sollte, so glich sich dieser zunächst über diese
Bestimmung mit dem Herzog Philipp, dem Sohne Georgs aus
erster Ehe, dahin aus, dass das erwähnte Heirathsgeld an
den Kurfürsten zurückgezahlt werden, das Widerlegungsgeld
aber vorerst noch dem Herzog verbleiben sollte, indem die-
ser es jährlich mit 1200 Gulden zu verzinsen versprach. Die-
geborne Markgräfin von Brandenburg. 329
ses Zinsgeld sollte der Fürstin Margarethe für ihre ganze
Lebenszeit zufallen. Diese Bestimmung genehmigte auch der
Fürst Johann von Anhalt in einem mit dem Kurfürsten in
Betreff der einstigen Erbschaft seiner Gemahlin getroffenen
Vergleich, worin sie sich verständigten, wie es mit der Ver-
keilung des Widerlegungsgeldes zwischen Margarethe's Toch-
ter Georgia und ihren Kindern aus zweiter Ehe mit dem
Fürsten Johann gehalten werden solle/)
Was den künftigen Unterhalt Margarethe's und im Falle
sie Wittwe werde, ihre gebührende Leibzucht anlangte, so
war. ihr in dem zwischen ihrem Vater und dem Fürsten Jo-
hann geschlossenen Heirathsvertrage „zur Widerlegung ihres
eingebrachten Heirathsguts von 20000 Gulden ein jährliches
Zins- und Renten-Einkommen von 4000 Gulden nebst einer
fürstlichen Wohnung als künftiger Wittwensitz zugesichert
worden. Der Kurfürst hatte jedoch späterhin nachgegeben,
dass diese Summe auf vierthalbtausend Gulden ermässigt sein
sollte. Zu fester Versicherung dieses Leibgedings verschrieb
der Fürst Johann im September des Jahres 1534 die sämmt-
lichen Einkünfte von zwölf Dörfern nebst dem Städtchen und
Amt Rosslau und wies ihr zugleich das dortige Schioss zu
ihrem einstigen Wittwensitz an. Dieses Vermächtniss an
Schioss, Amt und Dörfern sollte der Fürstin ohne alle Ver-
hinderung und Gefährdung auf Lebenszeit verbleiben. „Wir,
unsere Erben, Erbnehmer und Nachkommen, hiess es aus-
drücklich, sollen und wollen unserer Gemahlin das alles und
jedes, wie wir es angeschlagen, gewähren, dass es anderswo
unversetzt, unverkümmert und vor aller Ansprache sicher sey,
sie auch dagegen in allen Rechten vertreten, wie Landesrecht
und Gewohnheit ist." Der Fürst erklärte zugleich: er habe
sich mit dem Kurfürsten Joachim auch darüber vereinigt, dass,
wenn seine Gemahlin nach seinem Tode sich wieder ver-
eheliche, es in seiner Erben Macht und Gefallen stehen solle,
sie von ihrem Vermächtniss, ihrer Leibzucht und Morgengabe
*) Dus darüber vom Fürsten Johann ausgestellte Document ist
datirt: Am Mittwoch in der Osterwoche 1534.
330 Die Füritin Margarethe ton Anhalt,
mit der in der Heirathsverschreibung bestimmten Geldsumme
abzulösen, doch sollten ihr dann ihr Silbergerätb, Kleinode,
Schmuck und Kastengeräthe und alles, was zu ihrem fürst-
lichen Stande gehöre, frei und ungehindert verbleiben/)
Auf diese Weise schien der Fürstin für die Zukunft ein
völlig sorgenfreies Leben gesichert, denn auch Johann's beide
Brüder Georg, Dompropst zu Magdeburg, und Joachim von
Dessau erklärten nicht nur ihre Einwilligung in die getrof-?
fenen Bestimmungen, sondern verbürgten sich auch dafür,
dass sie stets und unverbrüchlich aufrecht erhalten werden
sollten. Und doch gestaltete sich nachmals alles ganz anders,
als man es damals erwartete. Margarethe lebte mit ihrem
Gemahl in keiner glücklichen Ehe. Sie hatte ihm zwar noch
vor dem Tode ihres Vaters einen Sohn gebracht; allein zwi-
schen den Anhaltischen Fürsten und dem Bruder der Für-
stin Joachim IL, der seinem Vater im J. 1535 gefolgt war,
herrschte keineswegs freundschaftliche Gesinnung. Sie Hes-
sen diese Missstimmung auch selbst den Vetter des Kurfür-
sten, den Herzog Albrecht von Preussen entgelten, indem sie
diesem bei einer Reise, die er im Frühling des J. 1537 nach
Deutschland unternehmen wollte, das von ihm erbetene Ge-
leit versagten oder doch wegen der gegen ihn verfugten Acht
deshalb allerlei Schwierigkeiten in den Weg legten. Dar-
über kam auch die Fürstin Margarethe mit dem Herzog zu-
erst in Briefwechsel, indem sie ihn dringend einlud, auch
ohne Geleit zu ihr nach Dessau in ihre „arme Behausung"
zu kommen. In einer Antwort auf ein Schreiben des Her-
zogs, worin er sie zu Gevatter gebeten hatte, sprach sie sich
auch über ihre unglücklichen Verhältnisse aus. Die Einla-
dung des Herzogs, schrieb sie diesem, werde ihr die höchste
Freude sein, wenn sie solche nur annehmen könne; allein ihr
Gemahl werde ihr, das wisse sie gewiss, die Erlaubniss da-
zu nicht ertheilen; er lasse sie ja nicht einmal zu ihrem Bru-
der ziehen. „Gott weiss meine Freude, fügte sie hinzu, die
*) Diese Leibzuchtsverschreibung des Fürsten Johann ist da-
tirt: Dessau Donnerstag nach Nativitat. Maria 1534.
geborne Markgräfin von Brandenburg. 331
ich hier seit drei Jahren gehabt habe und noch habe; ich
kann Grosses 'davon sagen; aber es ist das Kreuz, das mir
Gott auferlegt hat." Sie bittet zugleich den Herzog um et-
was Bernstein, Einhorn, Elendsklauen und um „eine rechte
Otterzunge", „denn ich fürchte, sagt sie, ich habe von bö-
sen Leuten einen bösen Trank bekommen." Diesem Umstand
schrieb sie auch eine Krankheit zu, an der sie vor der Ge-
burt ihres zweiten Sohnes Joachim Ernst (der, wie sie selbst
sagt, bei der Geburt so schwach war, dass er sogleich ge-
tauft werden musste)*) zwanzig Wochen lang schwer dar-
nieder gelegen hatte.**)
Das Gerächt, dass Margarethe mit ihrem Gemahl nicht
im Frieden und von ihm getrennt lebe, gelangte auch bald
bis nach Preussen. Auf die Bitte des Herzogs, ihm über die-
ses Verhaltniss näheren Aufschluss zu geben, erwiederte ihm
die Fürstin: es sei an dem Gerücht nur so viel wahr, dass
ihr Gemahl mit Einwilligung seiner Brüder ihr das Schloss
Rosslau, welches ihr zum Leibgut vermacht sei, „aus son-
derlicher freundlicher Liebe" zugestellt habe; getrennt aber
habe sie sich von ihm dadurch keineswegs. Dass indess al-
lerlei üble Nachrichten über sie umherliefen, giebt sie selbst
in den eigenhändig von ihr hinzugefügten Worten zu erken-
nen: „Ew. Liebden wollen nicht allen unnützen Leuten Glau-
ben geben; ein armes Weib leidet oft mit Unschuld. Böse
Leute findet man in der Welt leider genug; man spricht: in
Nöthen soll man erkennen, wer Freund und Feind ist; ich
bin's wohl inne geworden, aber Gott wird mir noch weiter
helfen, ich bin Gottlob des ehrlichen Herkommens, dass ich
niemals etwas anderes in meinen Sinn nehmen und anders
handeln werde, als ich vor Gott und aller Welt zu Ehren
will bekannt seyn. Darum bedarf's des harten Ermahnens
nicht, denn ob Gott will, soll mir mit Wahrheit niemand et-
*) Er ist bekanntlich der Stammvater aller heutigen Fürsten
von Anhalt.
**} Schreiben der Fürstin Margarethe, datirt: Dessau Sonntag
fo den Ostern 1537.
332 Die Fürstin Margaretke von Anhalt,
was anders nachzusagen wissen, als was meiner fürstlichen
Ehre wohl ansteht"*)
Auf diese Missstimmung der Fürstin mögen anch ihre
ökonomischen Verhältnisse nicht ohne Einfluss geblieben sein.
Dass diese nicht die günstigsten waren, dürfen wir schon
daraus entnehmen, dass es ihr Jahrelang nicht möglich war,
die kleine Summe von 600 Gulden, die ihr früher die Kor-
fiirstin Hedwig vorgestreckt hatte, zurückzuzahlen, da sie, wie
sie selbst sagt, bisher „nichts Eigenes gehabt" Sie hoffie
jetzt, diese Summe von ihren Einkünften aus dem ihr zuge-
wiesenen Theil ihres Leibgedings zu ersparen.
Seit dem Jahre 1547 aber wirkten die Kriegsstürme auf
die Verhältnisse des Anhaltiscben Fürstenhauses höchst un-
glücklich ein. Fürst Wolfgang, der auf der Seite der Schmal-
kaldischen Bundesverwandten stand, wurde in die Acht er-
klärt, und musste, nachdem er noch in der unheilvollen Schlacht
bei Mühlberg mitgefochten, die Flucht ergreifen, da kaiser-
liches Kriegsvolk in Folge des Sieges sein Land überzog.
Während er verkleidet im Harzgebirge umherirrte, schenkte
der Kaiser sein Land dem Grafen Sigismund von Ladron.
Fürst Johann konnte an den Kriegsereignissen, zwar keinen
thätigen Antheil nehmen, denn schon im J. 1544 hatte ihn
auf der rechten Seite der Schlag gerührt und er konnte, ob-
gleich ihm der Kurfürst von Brandenburg seinen geschickten
Leibarzt Christoph Pfundstein auf einige Zeit zusandte, nie wie-
der recht genesen ; allein sein Land unterlag dennoch der Plün-
derung und Verwüstung durch die kaiserlichen Kriegsvölker.
Um jedoch dem Hause Anhalt Wolfgang's Landgebiete
wo möglich noch zu erhalten, gewannen die Fürsten Wolf-
gang's Neffen, den Burggrafen Heinrich von Meissen Beuss
von Plauen, der durch Gönner am Kaiserhofe viel Einfluss
hatte, zu dem Plane, Wolfgang's Lande dem Grafen Ladron
für eine Summe von 32000 Thaler wieder abzukaufen; dies
Geld wollten ihm die drei Brüder zurückzahlen und dafür
*) Das Schreiben der Fürstin, dalirt: Rosslau Sonnabend nach
Aller Heiliß, 1537.
gehörnt Markgräfin von Brandenburg. 333
das Land wieder an das Anhaltische Haus nehmen. Dies
ward auch wirklich so weit durchgeführt, dass Graf Ladron
dem Burggrafen Heinrich das Land für die erwähnte Summe
überliess, denn auch der Kaiser gab zu dieser Uebertragung
der Wolfgangischen Besitzungen seine Zustimmung und wil-
ligte endlich, wiewohl nur mündlich auch ein, dass sie mit
dem Hause Anhalt wieder vereinigt werden könnten. Allein
der Burggraf besann sich, nachdem die Fürsten die Kauf-
summe entrichtet, bald eines andern. Die Gelegenheit zur
Vergrösserung seiner Herrschaft schien ihm zu günstig, als
dass er sich hatte überwinden können, den Anhaltinern sein
gegebenes Wort zu halten. Er Hess sich im Jähe 1548 vom
Kaiser mit Wolfgang's Besitzungen belehnen.*)
So irrte Wolfgang, ohne Aussicht je wieder als Landes-
fiirst über sein Gebiet herrschen zu können, mehre Jahre
uns tat umher, denn vom Kaiser, der den Anhaltinern zürnte,
weil sie seine Interimsformel nicht angenommen, war für
ihn keine Gnade zu erwarten; ebenso wenig vom Böm. Kö-
nig Ferdinand, der ihm persönlich entgegen war. Noch im
Frühling des J. 1550 war sein Schicksal so traurig, dass Graf
Georg Ernst von Henneberg dem Herzog Albrecht von Preus-
sen meldete: Fürst Wolfgang sei in der trostlosesten Lage;
wenn es mit ihm zum Aeussersten komme und er alle Hoff-
nung aufgeben müsse, je wieder zum Besitz seines Landes
zu gelangen, so sei er entschlossen, sich zu ihm nach Preus-
sen zu flüchten. Herzog Albrecht, der nie einem Verfolgten
seine Hülfe versagte, schrieb alsbald dem Fürsten Wolfgang
selbst und lud ihn, wenn er nirgendwo mehr Friede und Ruhe
finden könne, freundlich zu sich ein, indem er ihm versicherte:
„er werde zwar an ihm einen armen Freund, aber doch so viel
als möglich einen guten, freundlichen Willen bei ihm finden."
So war um diese Zeit die Lage der Verhältnisse in den
Anhaltischen Landern, als im Hause des Fürsten Johann das
traurigste Ungemach seine Seele mit Kummer erfüllte. Das
Gerücht, dass seine Gemahlin Margarethe mit seinem Leib-
*) Stenzel Anhalt. Geschichte S. 181.
334 Die Fürstin Margarethe von Anhalt,
arzt D. Christoph Böhmer in vertrautem Umgänge lebe, Dun
einen Theil ihres Silbergeräthes zum Einschmelzen überlie-
fert und auch ihre Kleinodien, um sie in Sicherheit zu brin-
gen, übergeben habe, war endlich auchjhm zugekommen und
nach allem, was er über die Sache vernahm, schien sie ihm
sd glaubhaft, dass er nicht nur den Leibarzt festnehmen und
in ein tiefes, finsteres Gefiftngniss setzen, sondern auch seine
Gemahlin in einen Thurm einsperren liess. Wie weit diese
zu so strengem Verfahren ihres Gemahls Anlass gegeben ha-
ben mag und was an dem Gerüchte wahr sein mochte, kön-
nen wir aus Mangel näherer Berichte darüber nicht entschei-
den; wir hören nur, dass man sie auch sonst noch mehrer
Unredlichkeiten beschuldigte, indem man sie unter andern
auch anklagte, dass sie Kleinodien ihres Gemahls sich ange-
maasst und solche verpfändet habe. Auch das wiederholte pein-
liche Verhör des Leibarztes brachte keine Gewissheit; er laug-
nete jeden sträflichen Umgang mit der Fürstin und man konnte
ihn mit nichts überführen. Dennoch war es doch auch weder
ihm noch der Fürstin möglich, ihre Unschuld so klar an den
Tag zu legen, dass sie Befreiung hätten erlangen können. Erst
nach zwei Jahren erhielt der Leibarzt durch Verwendung des
Burggrafen von Dohna, Landvogts in der Oberlausitz, bei dem
Kurfürsten von Sachsen und den Fürsten von Anhalt seine
Freiheit wieder. Die Fürstin Margarethe hatte fast drei Mo-
nate im Gefängniss zugebracht, als es ihr durch Mithülfe ih-
res ältesten Sohnes Carl gelang, aus ihrem Kerker zu ent-
fliehen. Mit Lebensgefahr sprang sie vier Klafter hoch aus
dem Thurm in den Graben und musste sich durch einen
tiefen Morast hindurcharbeiten. Da sie durch den Fall am
Kopfe beschädigt und in Ohnmacht gefallen war, so konnte
sie, zumal da sie nur spärlich bekleidet war, in der frosti-
gen Jahreszeit nur mit unsäglicher Anstrengung und Mühe
ihre Flucht fortsetzen. Ein Bettler, der sie nicht kannte, soll
sie aus Mitleid eine Zeitlang begleitet haben.4) In dieser
*) Möbsen, Geschichte der Wissenschaften in der Mark Bran-
denburg S. 528.
geborne Markgräfin von Brandenburg. 335
höchst traurigen Lage nahm sie ihre Zuflucht im Januar des
J. 1551 zu dem ihr naheverwandten König Christian HI. von
Dänemark, ihres Vaters Schwestersohn; ihre Mutter Elisa-
beth, die damals noch lebte, war eine dänische Prinzessin,
eine Tochter des frühern Königs Johann von Dänemark. Der
König nahm sich ihrer freundlich an, stattete sie mit neuer
Kleidung aus und wies ihr das Kloster Margebo zu ihrem
Aufenthalt an. Hier lebte sie in stiller Zurückgezogenheit
sechsundzwanzig Wochen lang.
Die Zukunft und die Welt um sie her lagen ihr traurig
und in düsterem Bilde vor Augen. Ihr Gemahl, der Fürst
Johann, war unterdess in tiefem Kummer am 4. Februar
1551 gestorben. An ihren Kindern konnte sie keine Stütze
finden. Von ihren drei Töchtern war die eine, Margarethe,
in früher Kindheit gestorben, die beiden andern, Marie und
Elisabeth, noch zarte Kinder. Von drei Söhnen zählte der
älteste Carl erst siebzehn, der zweite Joachim Ernst erst fünf-
zehn und der dritte Bernhard elf Jahre. Sie wurden der Vor-
mundschaft der Kurfürsten von Brandenburg und Sachsen
und der Fürsten von Anhalt untergeben, von denen Joachim
von Dessau das ihnen zugefallene Erbland regierte. Aber
auch an diesen Fürsten konnte die verwittwete Fürstin keine
Hülfe und keinen Halt finden zu können hoffen. Selbst zu
ihren Brüdern, dem Kurfürsten Joachim IL von Branden-
burg und dem Markgrafen Johann von Küstrin durfte sie un-
ter den obwaltenden Umständen kein Vertrauen fassen, zu-
mal da das Verhältniss zwischen diesen Fürsten und ihrem
Gemahl nie besonders freundlich gewesen war. Ausser dem
Könige von Dänemark war nur ein Fürst ihres angestamm-
ten Fürstenhauses, auf den sie, wenn zuweilen in ihr noch
eine Hofihung der Errettung aus ihrer traurigen Lage er-
wachte, mit Zuversicht hinsah; es war der Herzog Albrecht
von Preussen, der sie schon mehrmals theilnehmend über
das, was sie ihm als Kreuz und Leid geklagt, zu trösten ge-
sucht hatte. Sie sandte noch im Verlauf des J. 1551 einen
Diener Paul Goltz an ihn, um ihn von ihrer unglücklichen
Lage zu unterrichten. Zugleich liess sie ihm folgendes Schrei-
336 Die Fürstin Margarethe von Anhalt >
ben von ihr überbringen, um ihm darin die ganze Schwere
ihres Schicksals vorzustellen.
Freundlicher, herzliebster Herr und Vetter. Ich arme,
betrübte Fürstin kann Ew. Liebden nicht bergen, wie man
tyrannisch und mörderisch mit mir armen, betrübten Fürstin
umgegangen ist, dass es sein Lebtage nicht erhört worden
ist, dass man mit einer Fürstin, die so hohes Stammes ge-
wesen, umgegangen wäre, als mit mir armen Frau. Ich bitte
Ew. Liebden um Gottes willen, weil Ew. Liebden auch mei-
nes Fleisches und Geblüt« sind, auch ein geborener Markgraf
von Brandenburg, und ich so gar verlassen bin von aller mei-
ner angeborenen Freundschaft, Ew. Liebden wollen sich doch
über mich erbarmen, denn Gott weiss, dass ich nicht mehr
habe, als was mir fromme Leute zuwerfen und bin auch so
gar elendiglich in unsers lieben Herrn und Vetters, den Kö-
niges zu Danemark Land angekommen, dass ich Ew. Liebden
nicht davon schreiben darL So hat sich seine königl. Maje-
stät über mich arme, betrübte Fürstin erbarmt und mich in
ein Kloster gethan, darin ich nun verharrt habe bis in die
26 Wochen. Auch kann ich Ew. Liebden nicht verhalten,
dass seine königl. Majestät mir armen, betrübten Fürstin zwei
Böcke hat machen lassen und ein Stück Kammertuch ge-
schenkt, dass ich wieder bekleidet worden bin, dafür ich sei-
ner königl. Majestät nimmer genugsam danken kann. Ich
bitte Ew. Liebden um Gottes willen, Ew. Liebden wollen
mich arme, betrübte Fürstin jetzt in meiner höchsten Be-
trübniss und Elend auch nicht verlassen; das bin ich arme
und elende Fürstin gegen Ew. Liebden erbötig zu verdienen,
denn Gott weiss, dass ich so gar verlassen bin, dass, die sich
meiner sollten annehmen, ich für meine grössten Feinde muss
achten, und will Ew. Liebden und deren Gemahlin und Toch-
ter hiemit dem allmächtigen Gott befehlen. Dat. in königl*
Majestät in Dänemark Kloster Margebo Sonnlag nach Jo-
hannis 1551.*)
*) Das Schreiben im Original liegt im geheim. Archiv zu Kö-
nigsberg.
geborne Markgräfin von Brandenburg. 337
Herzog Albrecht nahm an dem traurigen Schicksal der
Fürstin um so mehr innigen Antheil, da nach des erwähn-
ten Dieners mündlicher Mittheilung sie ihm ihr unglückliches
Loos nicht verschuldet zu haben schien. Er bezeugte ihr in
einem Antwortschreiben sein aufrichtiges Mitleid über die
ihr angetbanen Widerwärtigkeiten, sprach ihr Trost und Muth
zu, das was ihr Gott in Kreuz und Leid zugesandt, als Chri-
stin mit Geduld zu ertragen und sich mit der Hoffnung zu
stärken, dass Gott sie zu rechter Zeit auch erhören und er-
lösen werde. Ueberdies gab er ihr die Zusicherung, er werde
sich bei ihren Brüdern mit einer Fürbitte für sie verwenden
und diese ersuchen, sich gegen sie als Christen und Brüder
zu beweisen und auf Mittel und Wege zu denken, um sie
aus ihrer unglücklichen Lage zu retten.
Albrecht versäumte keinen Tag, was er der Fürstin ver-
sprochen, sofort auszuführen. In zwei Schreiben am 13. Au-
gust (1551) stellte er dem Kurfürsten Joachim und dessen
Bruder dem Markgrafen Johann das traurige Schicksal ihrer
Schwester vor, wie sie von aller Hülfe entblösst, jetzt in klö-
sterlicher Einsamkeit in der Welt dastehe. Durch nähere Er-
kundigung über Anlass und Ursache ihrer Entfernung aus
den Anbaltischen Landen habe er von dem ihm zugesandten
Diener nur so viel erfahren, dass man sie mehrer Vergehun-
gen bezüchtigt habe, an denen sie aber ganz unschuldig sei,
namentlich in Betreif der gefänglichen Einziehung und un-
freundlichen Behandlung durch ihren verstorbenen Gemahl,
ans welchem Gcfängniss sie sich mit Ratb, Wissen und Hülfe
ihres Sohnes geholfen, woraus gleichfalls ihre Unschuld her-
vorgehe. Auch von Wegsendung verschiedener Kleinodien sei
gesprochen worden; allein auch diese Sache erscheine in ei-
nem andern Licht, als man sie in böser Gesinnung gegen die
Fürstin darstelle, denn dazu sei sie dadurch gedrungen wor-
den, dass man ihr nicht einmal Geld zu ihrem täglichen und
notdürftigen Unterhalt gegeben, so dass sie aus Hunger und
Noth die Kleinodien habe versetzen müssen, worüber auch
ausdrückliche schriftliche Beweise vorhanden sein sollten.
Der Herzog schlägt den beiden Fürsten vor, zunächst mit
338 Die Fürstin Margarethe von Anhalt,
dem ältesten Sohne der Fürstin in Verhandlung zn treten
da zu hoffen sei, dass dieser sich gegen die Mutter, wie ei
auch schon in der- höchsten Noth gethan,*viel freundlichei
und kindlicher auf der Fürsten Verwenden erzeigen werde;
aber wenn er sich auch weigere, etwas zu thun, so müsse
doch in aller Weise auf eine billige Ausgleichung gedacht
werden, „damit, wie er sagt, Ihre Liebden nicht genöthigt
sey, sich uns allen Markgrafen zu Spott und Schimpf an frem-
den Orten aufzuhalten." Endlich bittet Albrecht die beiden
Fürsten, sie möchten, wenn von der Schwester wirklich et-
was verbrochen sein sollte, ihr als Christen und treue Brü-
der verzeihen, die jetzigen Umstände derselben erwägen und
auf Mittel denken, sie aus ihrem drückenden Elend zu retten.
Der Herzog aber Hess es nicht bei blossen Trostworten
an die Fürstin und bei diesen Aufforderungen an ihre Brü-
der bewenden. Um wenigstens die augenblickliche Noth Mar-
garethe's einigermaassen xu lindern, wies er ihr durch Kauf-
leute eine Summe von hundert Gulden an. Er erhielt jedoch
von diesen im Frühling des J. 1552 die Nachricht: das Geld
habe an die Fürstin nicht entrichtet werden können, weil
sie an dem vom Herzog bezeichneten Orte nicht mehr an-
zutreffen gewesen sei. Albrecht sandte daher die erwähnte
Summe ihrer Schwester der Herzogin Elisabeth von Münden,
Gemahlin des Grafen Poppo von Henneberg, mit der Bitte,
sie ihr bei erster Gelegenheit zukommen zu lassen und ihm
möglichst bald zu melden, wo sich die unglückliche Fürstin
jetzt aufhalte.
Mittlerweile entwarfen auch die beiden Brüder einen
Plan, um ihre Schwester aus ihrer trostlosen Lage zu ret-
ten. Sie machten zuerst ihrer ältesten Schwester Anna, die
mit dem Herzog Albrecbt VI. von Mecklenburg vermählt war
und zu der sich Margarethe von ihrem Kloster aus geflüch-
tet hatte, den Vorschlag: sie möge die Schwester bei sieb
behalten und ihr eins der zwei Schlösser, die sie in Meck-
lenburg habe, einräumen. Was sie dadurch vielleicht einbüsse
und der Unterhalt der Schwester koste, solle von deren Leib-
gut im Fürstenthum Anhalt und von dem, was ihr überdies
geborne Markgräfin von Brandenburg. 339
von ihrem ersten Gemahl in Pommern vermacht sei und ihr
jährlich zukomme, bestritten und gedeckt werden. Die Her*
zogin Anna erklärte sich zwar bereit, die Schwester bis ge-
gen Ostern noch bei sich behalten zu wollen; da sie sich
aber, vielleicht weil sie sich scheute, mit ihrer Schwester in
das erwähnte Verhältniss zu treten, auf Weiteres nicht ein-
lassen wollte und an eine Rückkehr Margarethe's auf ihr
Leibgeding im Fürstenthum Anhalt aus gegründeten Ursachen
gar nicht zu denken war, so beschlossen die beiden Brüder
in Berathung mit ihrer Mutter, der alten Kurfürstin Elisa-
beth, mit den Söhnen Margarethe's ein Uebereinkommen zu
treffen, wonach sie ihrer Mutter alles, was ihr im Fürsten-
thum Anhalt an Einkommen jährlich zufalle, von dorther in
Geld erlegen sollten und diese dann ihren Aufenthalt irgend-
wo, wo sie wolle, nehmen könne. Die alte Kurfürstin sollte
ihr vorschlagen, ob sie auf einem Schlosse, welches ihr der
Kurfürst einräumen werde, oder lieber in der Stadt Bran-
denburg in einer Wohnung ihres Vaters von ihren jährlichen
Einkünften aus Pommern und Anhalt leben wolle/) Die Kur-
fürstin forderte sofort ihre Tochter auch auf, sich hierüber
zu erklären, indem sie ihr versicherte, ihre Brüder würden
alles aufbieten, um ihr in ihren Bedrängnissen mit Rath und
Hülfe beizustehen.
Margarethe aber ging auf diesen Vorschlag nicht ein; sie
begab sich im September zu ihrer Schwester, der Herzogin
Elisabeth, nach Münden. In welchem Zustand sie bei dieser
ankam, erfahren wir durch die Herzogin selbst, denn sie
schrieb darüber dem Herzog Albrecht von Preussen am 10.
October 1552: „Ew. Liebden sollen wissen, dass meine Schwe-
ster von Anhalt vor fünf Wochen allhier angekommen ist auf
einem Bauerwagen, vor dem Ihre Liebden nur zwei Pferde
hatte. Der Wagen war unverdeckt. Sie hatte nur eine Magd
bei sich, die mochte zwölf Jahre alt sein, und einen Bereiter.
Wiewohl ich Ihre Liebden gern sah und froh war, so ward
*) Schreiben des Markgrafen Johann von Brandenburg an die
Gräfin Elisabeth von Henneberg, dat. Küstrin Mont. nach Lätare 1552.
340 Die Fürstin Margarethe von Anhalt,
ich doch so erschreckt, als sie so höhnlich allhier durch die
Stadt ungewamt gefahren kam, dass ich glaube, ich sei krank
davon geworden, denn sie hatte zu Lüneburg unter Weges
zwei Nächte gelegen, und wenn der Rath nicht gethan, so
wäre sie zu Fuss hergekommen. Was uns allen das für ein
Geschrei ist, haben Ew. Liebden leicht zu erachten/4 Die
Herzogin meldet dann: sie habe einige Bevollmächtigte an
ihren Bruder, den Kurfürsten, abgesandt, um durch diesen
die Sache ihrer Schwester mit Ernst und Eifer zu fördern;
sie habe jedoch nicht grosse Hoffnung, „denn, sagt sie, der
Herzog von Pommern hält sich gar unfreundlich und giebt
immer nur vcrzögliche Antwort Darauf stehen auch die von
Anhalt und behelfen sich damit, was jener thut, wollet) sie
auch thun. In Summa sie sind dess eins, dass sie Beide mit
Willen nicht viel geben wollen." Sie bittet daher den Her-
zog, er möge sich doch ebenfalls bei den genannten Fürsten
mit einer "Fürbitte für ihre Schwester verwenden, denn je
mehr solche Fürbitten an jene gelangten, um so eher wür-
den „sie sich zulefot aus Scham noch bewegen lassen und
mit Billigkeit gegen die Schwester verfahren." Elisabeth zeigt
dann dem Herzog auch an, dass sie der Schwester die über-
sandten hundert Gulden eingehändigt habe, fügt aber hinzu:
„Ew. Liebden haben damit ein ganz gutes Werk gethan, denn
Ihre Liebden gingen so zerrissen, dass ich mich davor schämte.
Sie ist sehr jämmerlich, hat sich so sefcr verweint, dass sie
ganz alt und ungestaltet worden ist. Ich hätte sie kaum ge-
kannt; sie ist so zugerichtet, dass mich wundert, dass sie
noch bei Vernunft und am Leben ist Ich kann nichts anders
von ihr erfahren, als dass sie mit hober Betheuerung ihre
Unschuld anzeugt. Es ist ihr Unrecht geschehen; wie ich
hoffe, so rächet es Gott, wie er denn auch bereits an ihren
Feinden angehoben und derselben neun mit der Pestilenz und
geschwindem Tod weggerafft hat"
Elisabeth hatte dem Herzog früher den Vorschlag ge-
macht, er möge Margarethen entweder an seinen Hof neh-
men oder ihr ein Eigenthum an Landbesitz in seinem Für-
stentum anweisen. Diesen Rath aber nahm sie jetzt, nach-
geborne Markgräfin von Brandenburg. 341
dem sie ihre Schwester fünf Wochen lang beobachtet und
näher kennen gelernt, wie sie sagt, aus Liebe zum Herzog
und dessen Gemahlin (die Elisabeths Tochter war) wieder
zurück, „denn, schreibt sie, es ist erstlich noch ungewiss, ob
Ihre Liebden einen Pfennig kriegen wird und es würde nur
mit grosser Mühe etwas zu erlangen seyn; zum andern ist
sie nicht alle Zeit bei sich selbst, nimmt viel vor, was Ew.
Liebden nicht gefallen würde und in Summa sie dient nicht
bei Ew. Liebden und würden Ew. Liebden wohl nur mit ihr
geplagt seyn und sich mit ihrem guten Willen selbst Undank
und mehr Kreuz machen, als Ew. Liebden schon haben, denn
meine Schwester ist ganz unbeständig, kann sich mit nie-
mand vertragen, und ob Ew. Liebden auch wohl zufrieden
seyn und es christlich dulden wollten, so wissen doch E. L.,
wie die junge Welt gesinnt ist. Zudem bat mir auch Her-
zog Hans Albrecht (von Mecklenburg) geschrieben mit diesen
Worten: „Ich sehe für gut an und bitte, Ew. Liebden wol-
len nicht eilen,, die von Anhalt nach Preussen zu schicken,
denn es möchte uns allen etwas schimpflich seyn, sondern
Ew. Liebden fördere die Sachen bei ihren Brüdern, desglei-
chen will ich auch thun, damit Ihre Liebden zu dem Ihrigen
kommen möchte." Elisabeth ersucht daher den Herzog, für
Margarethe's Sache sich bei ihren Brüdern, dem Herzog von
Pommern und den Fürsten von Anhalt mit möglichstem Ei-
fer zu verwenden. Am Schlüsse ihres Briefes bemerkt sie
noch, dass die Schwester sich gern wieder verheirathen
möchte. „Sie giebt auch immer Freien vor. Aber wenn ich
Ihrer Liebden recht und wohl rathen soll, so wollte ich ra-
then, sie bliebe, wie sie wäre, denn sie ist also wunderlich
geworden, dass ich besorge, sie würde sich mit einem Herrn
nicht vertragen oder sich unter seinen Gehorsam begeben
können, daraus nur mehr Unruhe ihr und uns allen entste-
hen möchte. Ihre Liebden haben mich gebeten, Ew. Liebden
wollten das Beste thun mit dem alten Herzog in Schlesien}
soll ein Herzog von der Liegnitz seyn, da er Haus hält Ich
besorge aber, Ew. Liebden und ich werden mit unserem
Freien nicht grossen Dank verdienen, denn Ihre Liebden ist
Zeitschrift f. Geschichte*. IT. 1845. 23
342 Die Fürstin Margarethe von Anhalt,
gar zu wunderlich. So vermerke ich nicht, dass sie einen
Grafen nehmen wolle. Sie hatte mich selbst auf den Weg
gebracht, dass ich ihr einen Grafen von Waldeck freien sollte.
Da ich nun meinte, es wäre was, da liefen Ihre Liebden
wieder ganz zurück und solches will sich in solchen Sachen
nicht wohl reimen, wie Ew. Liebden als ein verständiger
Fürst wohl zu ermessen haben."
Es war für den Herzog Albrecht gewiss von grosser
Wichtigkeit, auf diese Weise über Margarethe's Charakter
und Lebensweise näheren Aufschluss erhalten zu haben, denn
was er erfahren, diente ihm nun zur Richtschnur seines künf-
tigen Verhaltens gegen die Fürstin. Wir wissen zwar nicht,
was für Unterbandlungen nunmehr zwischen den Fürsten von
Brandenburg und denen von Anhalt und Pommern stattge-
funden haben mögen; sie hatten aber wenigstens nieht den
erwünschten Erfolg gehabt, denn am 20. December (1552)
wandte sich auch Herzog Albrecht von Preussen mit einer
Vorstellung an die Fürsten von Anhalt „Wir sind anlangst
in Erfahrung gekommen, achrieb er ihnen, in welchem Elend
und Trübsal die verwittwete Fürstin Margarethe zu Anhalt
jetzund seyn soll, und dabei berichtet worden, dass Ihrer
Liebden laut der besiegelten Leibzucht und Vermächtnisse
die Nutzung derselben aammt ihren Kleidern und Kleinodien
nicht verabfolgt worden, wodurch Ihre Liebden uns allen,
den Markgrafen von Brandenburg, ja auch Ihrer Liebden et-
genen Kindern zu nicht geringer Nachrede, Schimpf und Hohn
jämmerlich verlassen ist, welches alles wir als Blutsfreoad
ganz ungern und beschwerlich vernommen haben und billig
mit Ihrer Liebden ein herzliches Mitleid tragen. Nun ist kein
Zweifel, Ew. Liebden werden bei sieh erachten, mit welche«
Fug Ew. Liebden das vorenthalten, was denselben in der
Ehestiftuog nach Abslerben ihres Herrn zu verfolgen und zu
reichen versprochen und zugesagt ist, auch so es (da Gott
vor sey) zu rechtlicher Erörterung kommen sollte» wie die
Rechtssprüche nach Ordnung der Rechte gehen und wem sie
am beschwerlichsten fallen möchten. Da es aber löbKober
ist, durch billige, freundUehe Revicfctuug das auf im* zu a«k»
gebarne Markgräfin von Brandenburg. 343
men, dessen man sich mit Recht und Billigkeit nicht weigern
kann, so gelangt an Ew. Liebclen unsere freundliche Bitte,
Ew. Liebden wollen sich gegen unsere Muhme laut den voll-
zogenen Briefen, Siegeln, Vermächtnissen, Leibzuchten und
anderem also schicken, dass Ihrer Liebden nicht allein hin-
fort die geordnete Leibzucht eingeräumt und verabfolgt, son-
dern auch das Versessene erstattet, desgleichen ihr auch alle
ihre Kleider, Kleinodien, Silbergeschirre und was dessen mehr
seyn möchte, was Ihrer Liebden zuständig, wie billig zuge-
stellt und überantwortet werde, damit Ihre Liebden nicht
allein ihren Kindern, sondern auch uns allen Markgrafen nicht
zu Schimpf und Spott ins Elend Verstössen würde. Wo aber
nicht und wofern es ja zu Weiterungen gelangen sollte, wie
wir nicht hoffen, so müssten wir nebst andern unsern Her-
ren und Vettern Ihre Liebden mit Bath, Hülfe und Trost
nicht verlassen und die Wege suchen helfen, wodurch Ihre
Liebden bei dem Ihrigen erhalten würden, versehentlich Ew.
Liebden werden es uns alsdann nicht verdenken, haben aber
zu Ew. Liebden noch die tröstliche Hoffnung, sie werden es
dazu nicht kommen lassen , sondern Brief und Siegel erwä-
gen, auch darauf gebührliches Einsehen haben und die Bil-
ligkeit verfugen."
So löblich nahm sich Herzog Albrecht der verlassenen
Fürstin an und so viel war durch ihn geschehen, um ihr
wenigstens einen ihrem Stande angemessenen Unterhalt zu ver-
schaffen, als sie ihn unerwartet mit einem Plane überraschte,
der ihm eine Zeitlang viele Sorgen machte. Gutmüthig, wie
er immer war, hatte er ihr früher, ehe er sie näher kannte,
die Zusicherung gegeben, sie solle jeder Zeit zu ihm ihre
Zuflucht haben und er wolle mit ihr gern seine Behausung
nebst Küche und Keller, so viel er vermöge, tbeilen, auch sie
mit der nöthigen Bedienung versehen. Um ihr seine freund-
liche Gesinnung zu bethätigen, hatte er ihr einiges zu ihrer
Bekleidung, ein Marderfutter und einen damastenen Ueberzug
zu einem Pelze als Geschenke übersandt. In einem Schrei-*
ben, worin sie ihren Dank bezeugte, griff sie jenes Anerbie-
ten des Herzogs auf, rühmte es als eine überaus grosse und
23*
344 Die Fürstin Margarethe von Anhalt,
fürstliche Tugend, dass er sich „so gar freundlich und wohl-
thätig, mitleidig und tröstlich" gegen sie als eine „arme, be-
trübte, elende, trostlose, verlassene und verachtete Wittwe"
in ihrem schweren Kummer und ihrer Verfolgung erzeige.
„Es sey ihr ein grosser Trost, schrieb sie ihm» dass sie an
ihm doch noch Einen Freund finde, der sich ihrer annehmen
wolle." Allein sie fasste des Herzogs Anerbieten von einer
Seite auf, wie es dieser nicht erwartet hatte. Sie schlug ihm
unter dem Vorgeben, dass sie durch ihre schweren Trübsale
körperlich sehr schwach geworden sei, kein grosses Gepränge
um sich her ertragen könne und nur Ruhe und Stille wün-
sche, den Plan vor: er solle ihr ein eigenes Haus kaufen, in
welchem sie bequem leben könne. Sie bestimmte zugleich
auch den Hofstaat, mit welchem sie sich versehen wollte;
sie wollte mit sich bringen einen eigenen Prädicanten, drei
adelige Jungfern, einen Hofmeister, eine Hofmeisterin, zwei
Mägde, eine Köchin, drei Edelknaben, zwei andere Knaben,
einen Thürknecht, einen Jungfernknecht, zwei Laufboten, aus-
serdem acht Wagenpferde, drei Zelter -u. s. w. So ungefähr,
sagte sie, habe sie ihren Hofstaat angeschlagen. Allein mit
diesen Anforderungen stimmten die Klagen, mit denen sie ihr
Schreiben anfüllte, wenig überein. „Wo soll ich hin, schrieb
sie dabei, ich habe leider den Schimpf zu erfahren, wo ich
hin komme, wird der Wirth des Gastes müde und da thut
man mir den Stuhl vor die Thüre setzen. Ich muss in Wahr-
heit* schreiben, dass ich so geängstigt, beschwert und höch-
lich betrübt werde, dass wenn Gott mich nicht sonderlich
erhalten thät, ich wohl verzagen und vor Leid sterben möchte."
Auch mit ihren Kindern gehe es ihr nicht gut; ihre Tochter
in Pommern, jetzt ein Fräulein von zwanzig Jahren, sei ihr
„gar absinnig" geworden und ihr mittlerer Sohn Joachim
Ernst habe ein Unglück gehabt, welches ihm schier das Le-
ben gekostet. Am bittersten beklagt sie sich über ihre Brü-
der, indem sie dieselben beschuldigt, sie beim Könige von
Dänemark verleumdet zu haben. „Sie, mein eigenes Fleisch
und Blut, speisen und tränken meine ärgsten Feinde und
thun ihnen das Liebste und Beste an; aber mich arme, elende
geborne Markgräfin von Brandenburg. 345
Fürstin lässt man in grossem Elend, Betrübniss und Armuth
so dahinten stehen. Man hetzet mich wie ein Stück Wild,
das man gar zerreissen will. So haben mich meine eigenen
Brüder beim Könige von Dänemark so hoch beschwert und
angegeben, dass ich bald wieder in Haft gekommen wäre,
hätte mir nicht ein ehrlicher, aufrichtiger Geselle geholfen,
dass ich weggekommen wäre, denn hätte ich noch einen Tag
länger mich verzogen, so wäre ich wieder ins Gefängniss ge-
nommen worden. Man geht mit mir um, dass es Gott er-
barmen mag; ich bitte, Ew. Liebden wolle mich nicht ver-
lassen und auf Wege denken, denn man lässt mich wohl
ewig so sitzen, während andere meine Güter brauchen und
im Bosengarten sitzen. Erbarme sich doch Gott über mich
arme, betrübte Wittwe. Meine Brüder sind zu lässig in al-
len Sachen, haben auch mit sich selbst genugsam zu schaf-
fen, so dass meiner ganz vergessen wird. Aus meinen beiden
Leibzuchten habe ich nicht einen Pfennig überkommen; so
haben die Anhaltischen alle meine Kleinodien verkauft und
unter einander vertheilt, dass ich fürchte, ich werde gar nichts
wieder bekommen. Gott weiss, ich bin betrübt bis in den
Tod und so Ew. Liebden mich nun verlassen, so weiss ich
dann weiter nirgends wohin, denn meine Schwester von Hen-
neberg kann mich nicht länger erhalten; die Schulden liegen
ihr zu schwer auf dem Halse."*)
Bei diesen das ganze Mitleid des Herzogs aufregenden
Klagen kostete es ihn gewiss einen schweren Kampf, der
trostlosen Fürstin ihre Bitte zu versagen; allein unter den
obwaltenden Umständen konnte er nicht umhin, ihr den ge-
fassten Plan aufs entschiedenste zu widerrathen. In einem
sehr ausfuhrlichen Schreiben vom 2. Januar 1553 setzte er
ihr die Gründe auseinander, die ihrer Aufnahme bei ihm in
der Art, wie sie wünsche, entgegenständen. Sein früheres
Anerbieten habe er ihr, wie sie wohl wissen werde, nur in
der Voraussetzung gemacht, dass sie zu ihrem Leibgedinge
*) Schreiben der Fürstin Margarethe, dat. Münden Sonnt nach
Martini 1552.
346 Die Fürstin Margarethe ton Anhalt,
und was ihr sonst gehöre, kommen werde. Damals habe er
ihr auch vorgeschlagen, dass sie bei ihm am Hofe sein und
mit seinem Tische vorlieb nehmen werde; nach ihrem jetzi-
gen Plane aber solle alles ganz anders sein. Ein Haus für sie
zu kaufen, habe er viele Bedenklichkeiten; der Hofstaat, den
sie mit sich bringen wolle, werde viele Kosten verursachen;
solle er ihn unterhalten, so werde ihm seine Ausspeisung
gewiss so hoch kommen, als der vierte Theil seines eigenen
Hofes; wolle sie ihn aber selbst erhalten, so möge sie doch
bedenken, dass sie bei jetziger Theuerung die Unterhaltung
von so viel Menschen und Pferden nicht unter tausend Gul-
den werde bestreiten können, denn eine Person ein Jahr lang
in der Kost mit Mittags- und Schlaftrunk zu unterhalten,
könne nicht unter 30 Gulden geschehen. Wo aber wolle sie
dies alles, nebst Kleidung und anderen Bedürfnissen herneh-
men? Er müsse ihr also rathen, ihren Plan nicht eher aus-
zuführen, als bis sie das Ihrige erbalten habe, wovon sie sich
unterhalten könne. Da er überdies vernommen habe, dass
sie wohl Willens sei, sich wieder zu verheirathen, so könne
er auch aus diesem Grunde ihr nicht rathen, sich zu ihm zu
begeben. Bei ihm werde sie dazu keine Gelegenheit 6nden.
In Polen gebe es auch keine Fürsten, sondern nur Herren
und Edelleute, die ihre Weiber mit Schlafen und anderm ganz
anders hielten als die Deutschen. In Deutschland werde für
sie bei Grafen und Fürsten mehr Gelegenheit sein und dort
werde sie als eine junge Fürstin wohl eher der Lehre Pauli
folgen können, „der den geilen Wittwen rathen thut, dass
sie bald heirathen sollen und es besser sey in Ehren als in
Schanden zu leben." Finde sich kein Fürst, so sei ja auch
bei ehrlichen Fürstengrafen und andern gut beizuwohnen.
Bei diesen Worten ahnete der Herzog freilich nicht, was
in dieser Hinsicht nach wenigen Monaten erfolgen werde.
Margarethe hatte ihre Schwester in Münden bereits wieder
verlassen. Seit Ostern des Jahres 1553 wusste Niemand, wo
sie sich hingewendet; selbst ihren nächsten Verwandten war
ihr Aufenthalt völlig unbekannt. Erst im September klärte
sich ihr Verschwinden mit einem Male auf. Graf Poppo von
geborne Markgräfin von Brandenburg. 347
Henneberg nämlich, der Gemahl Elisabeth's von Münden,
hatte beim Herzoge von Preussen einen Besuch gemacht
Auf der Heimreise kehrte er an einem Vormittage in Pom-
mern in einem Wirthshause ein, um einen ermüdeten Klep-
per, den er nicht weiter mit sich führen konnte, bei dem
Wirthe gegen einen anderen zu vertauschen. Da fand er im
Wirthshause ganz unerwartet und nicht ohne grösstes Be-
fremden die Fürstin von Anhalt, wie er selbst sagt, „unge-
schickter und ungebührlicher Weise in Begleitung eines Ge-
sellen," der sich Hans Jonas von Goltz nannte. Auf des
Grafen Befragen: wie sie hieher gekommen sei? erwiederte
sie: sie wolle sich zum Herzoge Albrecht nach Preussen be-
geben. Der Graf indess erklärte ihr: er könne und werde
es nicht dulden, dass sie mit einem solchen losen Buben ih-
ren Herren Brüdern und Freunden zu Schimpf und Schande
in fremden Landen umherziehe. Er zwang sie daher, mit
ihm bis an die Grenze der Neumark zurückzukehren, wo er
sie nebst dem Gesellen an einem Orte in festen Verwahrsam
nehmen liess. Er stattete alsbald ihren Brüdern von allem,
was mit ihr geschehen war, Bericht ab, um sie über ihr fer-
neres Schicksal und geeignete Maassregeln entscheiden zu
lassen. Höchst erzürnt über den schimpflichen Wandel ihrer
Schwester entgegneten sie dem Grafen auf seine Erzählung:
„Ihr hättet gatfz anders mit ihr verfahren sollen."
Ehe indess die Brüder zu einem Beschlüsse kommen
konnten, was jetzt zu thun sei, war es der Fürstin durch ei-
nen listigen Anschlag gelungen, aus ihrem Verwahrsam zu
entkommen und in Mannskleidern mit ihrem Gesellen zu ent-
fliehen. Sie hatten, wie man auskundschaftete, wieder den
Weg nach Preussen eingeschlagen. Als dies Graf Poppo er-
fuhr, gab er sofort dem Herzoge Albrecht von dem Vothaben
der Flüchtlinge Nachricht. „Wenn sie, fugte er hinzu, bei
Ew. Liebden ankommen und uns oder unsere geliebte Ge-
mahlin bei Ew. Liebden angeben oder verunglimpfen wür-
den, so bitten wir ganz freundlich, Ew. Liebden wollen ihr
keinen Glauben oder Beifall geben, denn sie treibt viel selt-
same Worte, da nichts hinter ist, sondern sie vielmehr von
348 Die Fürstin Margarethe von Anhalt,
ihrem bösen Leben abweisen. Es wäre besser, sie wäre an
dem Orte, da sie es nimmer thäte und der Bube, der mit
ihr umherzieht, seine Strafe empfangen hätte."*) Auch Poppo's
Gemahlin war über den Lebenswandel der Schwester aufs
heftigste erzürnt. „Meine Schwester, schrieb sie dem Her-
zoge Yon Preussen, hat abermals eine grosse Thorheit be-
gangen und mich damit aufs neue bis auf den Tod verwun-
det. Gott vergebe es ihr. Ich wollte, sie wäre dafür todt"
Auf Herzog Albrecbt, der sich bisher unter allen ihren
Verwandten der Fürstin immer am eifrigsten angenommen,
machten diese Nachrichten den tiefschmerzlichsten Eindruck,
denn je theilnehmender er sich bis jetzt in der Ueberzeugung
von ihrer Schuldlosigkeit für sie bei den Fürsten von Anhalt
und bei ihren Brüdern verwandt hatte, um so bitterer fand
er sich jetzt getäuscht und um so mehr bereute er nun, was
er für sie gethan, zumal da er die Ehre seines Hauses durch
Margarethe's Lebenswandel so schwer verletzt sah. „Es geht
uns, — so sprach er sich darüber in einem Antwortschreiben
an den Grafen Poppo aus — wie billig sehr zu Herzen, dass
der von Anhalt Herren und Brüder, ja alle ihre Verwandten
ihres bösen Wandels Schande und Spott haben müssen. Wir
wollen aber Ew. Liebden nicht bergen, dass sie bei uns noch
nicht gewesen, sind auch nicht bedacht, etwas mit ihr oder
ihren Händeln, nachdem wir eines solchen von Ew. Liebden
berichtet sind, zu schaffen zu haben, denn wenn auch Ew.
Liebden uns darum nicht gebeten hätten, so wissen wir doch
zuvor, wie treulich Ew. Liebden und ihre Gemahlin e$ mit
ihr gemeint, sie nicht allein aufs treulichste selbst gefördert,
sondern auch uns, wie denn vielleicht auch andere dahin ver-
mocht haben, dass wir für unsere Person' mit Vorschriften
und in anderer Weise das gethan, was wir, hätten wir so
viel wie jetzt gewusst, wohl unterlassen haben möchten. Weil
es also aber geschehen ist und sie für sich selbst das lose,
böse Leben statt der hohen Ehre, darein sie der liebe Gott
#) Schreiben des Grafen Poppo von Henneberg, dat. Spandau
15. Sept. 1553«
geborne Markgräfin ton Brandenburg, 349
als eine fürstliche Person verordnet, auserwählt hat, wird sie
solches und daneben die Strafe Gottes vermutblich am här-
testen und schwersten selbst fühlen müssen. Der Allerhöch-
ste verleihe ihr nur ein bussfertiges Herz, damit sie neben
der zeitlichen Ehre nicht auch die ewige Seligkeit verliere."
So schrieb der Herzog dem Grafen am 15. October 1553.
Margarethe war also um diese Zeit, wie aus des Her-
zogs Schreiben hervorgeht, noch nicht bei ihm angelangt.
Wo sie sich im Winter darauf aufgehalten haben mag, ist
unbekannt. Im Anfange des März 1554 befand sie sich mit
dem sie begleitenden Gesellen im Dorfe Krassen in Samai-
ten, wo sie ein elendes Bauernhaus bewohnten. Der Herzog
Albrecbt hatte damals schon Nachricht von ihrem dortigen
Aufenthalte. Er war zwar bemüht gewesen, die eben nicht
ehrenhaften Verhältnisse der ihm verwandten Fürstin nicht
weiter bekannt werden zu lassen. Allein in Königsberg war
die ganze Sache um diese Zeit schon kein Geheimniss mehr.
In einer Gesellschaft des herzoglichen Secretars Gans erzählte
ein Gast die ganze Geschichte, wie es der Anhalterin in der
Gegend von Stolpe ergangen sei.
Der Herzog hatte bereits von dem allen auch der Mutter
Margarethe's, der alten Kurfürstin Elisabeth, die sich damals
in Spandau aufhielt, Nachricht gegeben. Sie war aufs schmerz-
lichste darüber betrübt. Hören wir, wie die tiefgebeugte
Mutter ihren Kummer über die Verirrung ihrer Tochter aus-
spricht. „Was mir, schrieb sie dem Herzoge von Preussen,
der Allmächtige alles Elend, Schmerz und Herzleid durch
meine ganz übelgerathene Tochter, die von Anhalt, zugefügt,
ist Ew. Liebden, Gott sey es geklagt, genugsam wohl bekannt,
und hätte ich mir zu derselben solches ganz vergessliches
Vornehmen, wodurch sie nicht allein dem Hause Branden-
burgisches Stammes und Herkommens nicht geringe Verleu-
mung, Schimpf und Unglimpf gestiftet, sondern vielmehr auch
mir Hochbetrübten als der Mutter tödtlichen Schmerz und
neugehabtes Herzleid zugerichtet, nimmermehr versehen. Was
aber dasselbe mir in meinem abgelebten Alter, ja in meiner
Grube für ein durchschneidendes Herzleid wirket, (das stelle
350 Die Fürstin Margaretke von Anhalt,
ich in Ew. Liebden Selbstbedenken. Gott sey es geklagt, dass
ich das soll und muss eriebt haben. Ich and meine beiden
Söhne haben, wie wir zuerst ihr Vornehmen gehört, ganz
mütterlich und bruderlich sie vielmals ermahnt umf ihr ge-
sagt, von diesem ihrem unfuglichen Vornehmen abzustehen;
so hat es doch nichts helfen wollen.- Hatten wir uns aber
solcher Weiterung bei ihr versehen, so sollte es ihr verboten
und nicht dazu gekommen seyn." Die Kurfurstin bittet hier-
auf den Herzog in dieser betrübten Angelegenheit um seinen
Rath und Beistand, um „dem ungeschickten Vornehmen des
Laufens ihrer elenden, Gott sey es geklagt, ganz übelgerathe-
nen Tochter" ein Ziel zu setzen; sie stellt deshalb anheim,
ob es nicht gerathen sein möchte, sie am ersten Orte, wo
man sie antreffe, aufzugreifen, zu versperren und wohl zu
verwahren , sie dann durch einen frommen Prediger ermah-
nen und „zu der Beichte der Absolution und zum Testamente
Christi, als solle sie ihren Abschied von dieser Welt nehmen,
auf das härteste erschüttern zu lassen, in der Gestalt und
also hart, dass sie sich nur stracks zum Tode anschicken
sollte, bis sie alsdann bitten werde: man wolle sie in dem
verschonen, sie wolle ablassen und sich bessern." Die Für-
stin meint, wenn man damit sogleich sehr hart in sie dringe
und ihr mit solcher Drohung zusetze, so werde es wohl
möglich sein, sie auf diese Weise von ihrem bösen Vorneh-
men abzubringen. Endlich fugt sie hinzu: „Damit wir aber
des elenden Handels für weitern Schimpf und Unglimpf möch-
ten befreit werden, so flehen und bitten wir Ew. Liebden
zum freundlichsten und höchsten um Gottes willen, Ew.
Liebden wollen sich doch meiner von wegen des zugefügten
grossen Kreuzes und Herzleids erbarmen und in dieser hoch-
betrübten Sache uns mit Trost, Hülfe und Rath, mit söhnli-
chem und freundlichem Mitleid ja nicht verlassen, und damit
sie Beide zu Scheu und Abschrecken ihres bösen Lebens mögen
gebracht werden, ja keinen Fleiss sparen, wie wir uns denn
dessen zu Ew. Liebden mütterlich und freundlich versehen."*)
*) Das Schreiben der Kurfurstin ist datirt: am Sonnabend nach
geborne Markgräfin von Brandenburg, 351
Die Kurfurstin hatte dieses ibr eigenhändiges Schreiben,
bevor sie es dem Herzoge von Preussen übersandte, auch ih-
rem ältesten Sohne, dem Kurfürsten Joachim zugeschickt und
es alsdann, da auch dieser mit seinem Inhalte übereinstimmte
und die Angelegenheit dem Herzoge auch in einem besonde-
ren Schreiben sehr dringend ans Herz legte/) mit drei Sie-
geln befestigt, diesem überbringen lassen. Allein es erfreute
sie keine tröstende Nachricht mehr. Schmerz und tiefer Kum-
mer beugten sie so schwer darnieder, dass sie bald darauf in
eine zehrende Krankheit fiel, die ihre letzten kummervollen
Tage verkürzte. Sie starb schon am 9. Juni des Jahres 1555.
Ueber Margarethe's weitere Schicksale blieb lange Zeit
Alles dunkel. Weder der Herzog von Preussen noch ihre
Brüder kümmerten sich weiter um sie. Nach Yerlauf von
mehr als zehn Jahren finden wir sie noch in dem erwähnten
Dorfe in Samaiten, wo sie mit dem Manne, mit dem sie frü-
her umhergezogen war, in ehelicher Verbindung, als Mutter
einer Tochter, in einer elenden Hütte wohnend, ibr Brod
kümmerlich mit ihren eigenen Händen verdienen musste. Sie
war seitdem durch schwere Leiden hindurch gegangen. Durch
ihre höchst traurige Lage tief niedergedrückt, wendet sie sich
von dort an den damaligen Kammersecretär und nachmaligen
Hath des Herzogs von Preussen Matthäus Horst, den sie wahr-
scheinlich bei irgend einer Veranlassung persönlich kennen
gelernt hatte, schildert ihm ihr schweres Schicksal und ihre
qualvolle Armuth, die sie bis zum tiefsten Kummer nieder-
beuge und in der sie völlig von allen Menschen verlassen und
verachtet dastehe. Sie bittet ihn daher aufs flehentlichste,
beim Herzoge Albrecht bei nächster Gelegenheit ein gutes
Wort für sie einzulegen, dass dieser als ein christlich den-
kender Fürst sie „eine arme, elende, verlassene und tiefbe-
trübte Frau" nicht ganz verlassen und bei ihren Söhnen, den
Fürsten von Anhalt auswirken möge, ihr doch jährlich, so
— »«^ — ' ■ ■
dem heiligen Cbristtage 1555, nach unserer Zeitrechnung noch im
Jahre 1554.
*) Schreiben des Kurfürsten Joachim, dat. Cöln an der Spree
Dienstag am heil. Christtage 1555.
352 Die Fürstin Margarethe von Anhalt,
lange sie noch lebe, eine Hülfss teuer zu ihrem Unterhalte zu-
kommen zu lassen. „Es zwingt mich die grosse Armuth,
schreibt sie, sonst wollte ich Euch gerne mit dieser Mühe
verschonen, denn ich darf Euch in Wahrheit schreiben, dass
meine Armuth so gross ist dass ich nicht ein Becherlein oder
Löffel auf meinem Tische zum Brauch habe, wie der Haupt-
mann zu Rastenburg und Balthasar Gans (Secretär des Her-
zogs), die einigemal zu Krassen in Samaiten in meinem ar-
men Häuslein gewesen , meine Armuth wohl gesehen haben.
Ich zweifele nicht, mein Herr der Herzog wird sich mit Gna-
den über mich hochbetrübte, trostlose Person thun erbarmen,
die rechtschaffen betrübt ist." Sie bittet demüthig, der Her-
zog möge sich doch auch ihrer armen Tochter annehmen, da-
mit diese nach ihrem, der Mutter Tode nicht in der Irre um-
hergehen dürfe. „Gott hat, fügt sie endlich hinzu, seine vä-
terliche Hand auf mich gelegt, damit muss ich zufrieden seyn.
Gott weiss ich habe keinen treuen Freund auf Erden mehr
denn Gott allein und bitte ich durch Gott, ihr wollet mich
nicht verlassen und das Beste bei mir thun, denn mein Herz
ist so voll Jammer, Angst und Noth, dass ich es euch nicht
anzeigen kann"*).
Wahrscheinlich geschah es auf Horst's Ratb, dass Mar-
garethe es bald darauf wagte , sich an den Herzog selbst zu
wenden und ihn um Hülfe anzusprechen. Sie schildert ihm
ihren Kummer und ihre drückende Lage mit folgenden Wor-
ten: „Ew. fürstlichen Gnade ist unverborgen mein grosses,
schmerzliches Elend, das ich viele Jahre gehabt und auch nocb
habe, so dass ich arme, elende Person Armuths halber gar
kümmerlich zu Zeiten nur das liebe trockene Brot zu essen
und Wasser zu trinken gehabt habe und mich mit Armuth
und anderer Arbeit behelfen müssen, wie ein anderes armes
Weib, damit ich mich habe elendiglich ernähren mögen und
oft und viel auf dem Felde thun arbeiten, damit ich mich
des Hungers erwehre. Da ist nichts gewesen, wovon ich's
hätte nehmen können. Ich habe keinen Trost in der ganzen
«pMa
*) Dieses Schreiben Margarethe's ist ohne Datum.
geborne Markgräfin von Brandenburg. 353
Welt als meinen treuen Gott. Weil denn mein himmlischer
Vater seine väterliche Hand auf mich gelegt und mir das
Kreuz zuertheilt hat, muss ich in dem zufrieden seyn und
denken, dass ich's wohl verdient habe aus der Ursache, dass
ich mich mehr auf meine fürstliche Pracht und Gewalt ver-
lassen habe als auf Gott, deshalb ich mit dieser Buthe zu-
frieden seyn muss und denken, dassmir's zu meiner Seelen
Seligkeit zum Besten geschiebt, habe aber mein Vertrauen
auf meinen lieben Gott gestellt. Lieber, gnädiger Fürst und
Herr, weil Ew. fürstliche Gnaden meinem Beichthume wohl
nachdenken können, so bitte ich arme, betrübte Person, Ew.
fürstliche Gnaden wollen als ein christlicher Fürst Erbarmung
an mir erzeigen. Was aber das Land Samaiten anlangt, so
ist mir zum ersten am höchsten beschwerlich, dass man das
Wort Gottes nicht bat, zum andern das Sacrament nach Ein-
setzung Christi nicht und gar keinen Trost weiter. So kenne
ich auch die Sprache nicht und habe nicht einen Menschen,
an dem ich mich einiges Bathes erholen möchte. Man achtet
einen Menschen viel geringer als eines Hundes."
Margarethe bittet sodann den Herzog aufs dringendste,
sich ihrer anzunehmen und für sie das Beste zu rathen, da-
mit sie ihren Feinden nicht in die Hände falle; sie bittet fer-
ner um einen Unterhalt in des Herzogs Land so lange sie
lebe, damit sie ihr armes Kind, welches jetzt zwölf Jahre alt
sei, nothdürftig ernähren und zu Gottes Ehre und Zucht er-
ziehen könne. Da sie schon alt sei und sich als Weibsbild
allein nicht erhalten könne, so möge ihr der Herzog in sei-
•i
nem Lande irgend ein Oertchen anweisen ; sie wolle sich dann
daselbst schon einrichten und weil ihr Ehemann noch jung
und stark sei, so werde er es an Fleiss nicht fehlen lassen,
damit er sie ernähre; sie würden sich da ganz heimlich hal-
ten. Sie stelle jedoch Alles dem Bathe des Herzogs anheim;
er möge für sie armes, elendes und verlassenes Weib thun,
was er wolle; sie wolle ihm in Allem gehorchen. Den Schluss
des Briefes füllten die inständigsten und flehentlichsten Bitten
an den Herzog, er möge sie nicht verlassen, sich ihrer an-
nehmen und für sie sorgen. „Lieber, gnädiger Fürst, waren
354 Die Fürstin Margarethe von Anhalt,
ihre letzten Worte, wenn Ew. fürstliche Gnaden mich ver-
lassen, so weiss ich armes, betrübtes Mensch nirgend bin, bin
von meinen Kindern und allen verlassen, habe mich ihres Le-
bens so viel als ihres Todes zu trösten"*).
Margarethe begab sich nach einiger Zeit selbst nach Kö-
nigsberg, wo sie mit Horst viel verhandelt zu haben scheint
Wahrscheinlich hatte sie dazu der Umstand veranlasst, dass
sie völlig abgebrannt war und alle ihre wenige Habe dabei
verloren hatte. Durch Horst's Vermittlung stattete der Her-
zog sie wieder mit dem nöthigen Hausgeräthe und mit eini-
ger Kleidung aus. Sie hatte damals auch dem beim Herzoge
sehr hoch angeschriebenen fürstlichen Rath Magister Johann
Funk, der, wie es scheint, mit ihrem Manne in Verwandt-
schaft stand (sie nannten sich gegenseitig Schwager) ihre trau-
rigen Verhältnisse geschildert und ihn um Fürsprache beim
Herzoge gebeten. Sic wandte sich dann an diesen nochmals
selbst Sie schrieb ihm unter andern: „Ich habe mit eigener
Hand an den Magister Funk geschrieben, der Ew. fürstliche
Gnaden alle meine Umstände berichten wird; es ist durch
Gott meine ganz demütbige, unterthänige Bitte, Ew. fürstli-
che Gnaden wollen sich als ein christlicher Fürst über uns
arme, elende Personen erbarmen und unsern grossen Jammer,
Armuth, Elend, Verlassenheit und Trübsal in Gnaden beden-
ken und uns, weil wir nirgends Rath noch Trost wissen, in
dieser unserer äussersten Noth mit gutem Rath und Hülfe
nicht verlassen. Die grosse Angst ist bei mir so heilig ge-
wesen, dass ich nicht gewusst habe, wo hinaus. Weil ich
denn aber von fremden Leuten Ew. fürstlicher Gnaden Tu-
jgend, Gütigkeit und Barmherzigkeit, die Ew. fürstliche Gna-
den ihnen erzeigt, habe rühmen hören, so bin ich arme, be-
trübte Frau auch Zweifels frei, Ew. fürstliche Gnaden wer-
den mich meinen Feinden nicht in den Tod übergeben, son-
dern ja bedenken, dass ich armes Weibsbild ja Ew. fürstliche
Gnaden Fleisch und Blut bin, auch dass Ew. fürstliche Gna-
den nachtlich meines Geblüts an ihrer Seite liegen haben und
*) Dieses Schreiben Margarethe's ist gleichfalls ohne Data».
gehörnt Markgräfin von Brandenburg. 355
mich und meinen armen Mann sammt meiner kleinen Doro-
thea, die uns der alimächtige Gott ehelich mit einander ge-
geben hat, in diesen unsern betrübten Tagen in gnädigem
Befehle halten und in dieser unserer grossen Leibesgefahr
unser aller Vater und Vormünder seyn. Gott weiss, ich bin
übel hierzu gekommen und weiss es niemandem zu danken,
denn meinen lieben getreuen Brüdern, die ihre Treue gar an
mir vergessen haben; sie haben wider mich als ihr eigenes*
Fleisch und Blut helfen Rath und That geben, mir nicht ein
Sandkorn gross geholfen, noch gerettet noch geratben, wie
man's ihnen wohl nachreden wird, wenn's an Tag kommen
sollte, so dass billig alle christliche Herzen ein Mitleid und
Erbarmen mit mir armen Frau haben werden, die wissen
möchten, wie mit mir ist gebandelt worden."
Margaretbe's Schicksal schien bald darauf wirklich eine
etwas günstigere Wendung zu nehmen. Matthäus Horst hatte
es beim Herzoge dahin gebracht, dass mit herzoglichem Gelde
ein kleines Landgut Scbelwa in Litthauen für Margarethe und
ihren Man» angekauft werden sollte. Auch der fürstliche
Rath Johann Funk suchte die Sache zu fördern; er schlug
vor, dieselbe beim Herzoge in der Art einzuleiten, dass Mar-
garethe und ihr Gemahl den Niessbrauch des Gutes auf Le-
benszeit haben und nach ihrem Tode ihre Tochter Erbin des-
selben sein solle. Da jedoch, meinte Funk, zu besorgen sei,
dass die Litthauer es ungern sehen würden, wenn der Her-
zog ein Gut innerhalb ihrer Grenzen erwerbe, so werde es
nöthig sein, dass ein anderer das Gut auf seinen Namen kaufe
oder dass Margarethe und ihr Mann in ihrem Namen als Käu-
fer aufträten ; dann müsse aber letzterer eine Obligation aus-
stellen, worin der Tochter die Erbschaft fest zugesichert und
zugleich auch bestimmt werde, dass wenn sie ohne Nachkom-
men sterbe, der Herzog alsdann als Erbe eintrete*). Mit die-
sen Verhandlungen war man gegen Pfingsten des Jahres
1566 beschäftigt
*) Schreiben des Johann Funk an Matthäus Horst, dat. tertia
peoteQostes 1,566
356 Die Fürstin Margarethe von Anhalt,
Es bat sich der Entwurf oder die Abschrift einer solchen
Obligation des Gemahls Margarelhe's wirklich vorgefunden,
wiewohl sie, wie sie vorliegt, noch nicht als vollzogen be-
trachtet werden kann. Der Aussteller erklärt darin: Er habe
schon oft an den Herzog von Preussen seine Bitte gerichtet
und ihm seine und seiner Gemahlin grosse Armuth vorge-
stellt; er sei mit letzterer, „der hochgeborenen Fürstin und
Frau Margarethe, geborenen MarkgräGn zu Brandenburg und
Fürstin zu Anhalt in göttlicher und christlicher Ehe verbun-
den" und habe mit ihr nun schon vierzehn Jahre in grosser
und schwerer Armuth gelebt. Wohl habe er mehrmals des
Herzogs ungnadiges Gemüth darüber, dass er seine Gemah-
lin, eine so hohe Person, nicht so, wie es sich gebühre, halte,
aus den Mittheilungen der herzoglichen Kammerrathe erfah-
ren; er habe sich aber für unwürdig erachtet, sich deshalb
als ein Schuldiger selbst zu verantworten, bitte jedoch, der
Herzog möge sich darüber bei seiner Gemahlin Margarethe
selbst und anderen seinen Unterthanen , auch bei seinen ei-
genen herzoglichen Käthen, die er bei sich in seiner Behau-
sung beherbergt und seine Armuth selbst gesehen hätten,
weiter erkundigen; werde er dann wirklich schuldig befun-
den, so möge der Herzog nach seinem Gefallen Strafe ver-
hängen. „Ich gelobe aber, beisst es dann, bei .meinem höch-
sten Eide, den ich Gott und meiner Ehegemahlin geschwo-
ren, auch zu leisten schuldig bin, im Falle, wenn gleich et-
was geschehen wäre, welches mir doch unbewusst, dass ich
dasselbige alles, was seiner fürstlichen Durchlaucht und der-
selben Zugethanen und Verwandten zuwider wäre, da mir
es von seiner fürstlichen Durchlaucht oder derselben verwand-
ten Käthen angezeigt wird, in aller Demuth willig und gerne
unterlassen und abstehen will, auch ihre Gnaden als meine
Ehegemahlin nach meinem armen Vermögen fernerhin also
unterhalten, als ich es gegen Gott und seine fürstliche Durch-
laucht verantworten will, und wenn seine fürstliche Durch-
laucht auf den Antrag, welchen ihre Gnaden durch den Herrn
Horst von wegen des Landguts Schelwa in Litthauen seiner
fürstlichen Durchlaucht vorgeschlagen hat, gnädigst willigen
geborne Markgräfin von Brandenburg. 357
würden, meine Ehegemahlin zu besserer Unterhaltung damit
zu begnadigen, so sollte dasselbe nicht zu meiner Person Le-
ben oder Sterben, sondern ihrer Gnaden und derselben Toch-
ter, die uns Gott zu beiden Theilen in christlicher Eft ge-
geben, so lange sie Gott in diesem Leben erhält, zu ihrem
Aufenthalte nach seiner fürstlichen Durchlaucht von mir ge-
macht, gebessert und verwaltet werden." Endlich fügt er noch
hinzu: da er seiner Gemahlin durch einen Eid angelobt habe,
nach ihrem Tode sich nicht wieder zu verehelichen, so könne
der Herzog nach Absterben der Mutter und Tochter sich als
Erbherr des Gutes wieder bemächtigen, es verkaufen oder
verschenken. Auf dies alles wolle er den Herzog mit genü-
gender Versicherung und Bürgschaft glaubwürdig verwahren.*)
So weit finden wir die Verhandlungen über Margarethe's
Versorgung durch einen ländlichen Besitz bis in den Som-
mer des Jahres 1566 fortgeführt. Seitdem aber entgehen uns
alle weitere Nachrichten und es bleibt sonach ungewiss, ob
die Sache unter den unruhigen Bewegungen, die in dieser
Zeit in Preussen ausbrachen, zu einem erwünschten Schlüsse
gediehen sein mag. Margarethe selbst scheint an einem gün-
stigen Erfolge gezweifelt zu haben.
Seit dem Februar nämlich stand sie im Briefwechsel mit
ihrer ältesten Tochter Georgia, die bereits an einen polni-
schen Grafen Stanislaus zu Labesens auf Schlochau vermählt
war. Margarethe hatte sich, obgleich sie früher über ihre
Undankbarkeit geklagt, jetzt in ihrer Noth auch an sie um
Hülfe gewandt. Die Tochter, gerührt durch die Bedräng-
nisse der Mutter, lud diese in einem Schreiben vom 7. Fe-
bruar 1566 zu sich nach Schlochau ein, mit der Bitte, ihr
bei ihrer bevorstehenden Entbindung mit Bath und That bei-
zustehen. Sie solle, schreibt sie ihr, gewiss eine treue und
gehorsame Tochter an ihr finden; sie wolle Alles mit ihr
theilen, was in ihrem Vermögen stehe. Sie bittet die Mutter
zugleich, auch ihre Tochter Dorothea mitzubringen ; sie wolle
sich dieser selbst wie eine Mutter annehmen und dafür sor-
*) Die Abschrift der Obligation ist ohne Datum.
Zeitschrift f. Geschieht«*. IT. 1845. 24
358 Die Fürstin Margarethe von Anhalt,
gen, dass sie auch in feinen weiblichen Arbeiten geübt werde,
„denn es stehe einer Jungfer immer wohl an, wenn sie wohl nä-
hen und subtile Arbeiten machen könne." Georgia aber wollte,
wie#vir aus dem Briefe ersehen, ihren Gemahl nicht gern
wissen lassen, dass Margarethe ihre Mutter sei. Sie ersucht
sie daher, wenn sie zu ihr käme, „sich nicht namenkundig
zu geben"; sie solle sich nur für eine Edelfrau ausgeben;
dies werde gar nicht auffallen, denn solcher Frauen kämen
oft viele zu ihr. Sie giebt ihr auch den Rath, sich zuerst zur
Herzogin von Preussen zu begeben, die sie gewiss gern mit
Wagen und Pferden weiter befördern werde. Gefahr habe
sie bei ihr weiter nicht zu fürchten; sie könne ja wohl auch
ein Schreiben von der Herzogin von Preussen mitbringen,
worin es heisse, dass diese Fürstin aus Blutsverwandtschaft
ihr wegen ihrer Schwangerschaft eine Edelfrau zum Beistand
zusende; diesen Brief der Herzogin werde sie alsdann ihrem
Gemahl vorzeigen.
Margarethe nahm diese Einladung an und wandte sich
sofort an den Herzog Albrecbt und dessen Gemahlin mit der
Bitte, ihr zur Reise nach Schlochau mit Wagen und Pferden
behülflich zu sein; die Herzogin sagte ihr dies auch zu, „ob-
gleich sie, wie sie hinzufugte, in dieser Zeit gerade mit vie-
len Ausgaben sehr beladen sey."
Die spätem Lebensschicksale Margarethe's liegen noch
sehr im Dunkeln. Der Herzog Albrecht soll ihr in seinem
Testament ein Legat von 3000 Gulden vermacht haben, die-
ses aber nach seinem Tode nicht ausgezahlt worden sein.*)
„Es ist, sagt Möhsen,**) noch ein rührendes Schreiben vor-
handen, welches Margarethe im sechsundsechszigsten Jahre
ihres Alters zu Königsberg Dienstags nach Andreas 1577 an
Markgraf Georg Friedrich, Administrator in Preussen, abge-
ben liess, worin sie ihr Elend vorstellt und bittet, sich ihrer
anzunehmen, und dass sie gern bei ihrer Tochter, der Gräfin
jpiisabetb, Graf Wolfgang's zu Rarby Gemahlin sich begeben
*) So Möhsen a. a. 0. S. 529. In dem noch vorhandenen Ori-
ginal des Testaments ist dieses Legats nicht erwähnt.
*•) Am a. 0. S. 529.
geborne Markgräfin vqn Brandenburg. 359
wollte, wenn sie nur von ihrem Sohne, dem regierenden Für-
sten von Anhalt, den höchst nöthigsten Unterhalt bekommen
könnte. Es war dieses der fromme und gottselige Fürst Joa-
chim Ernst, der wegen seiner Frömmigkeit und Gottesfurcht
von seinen Theologen mit vielem Weibrauch des Lobes be-
räuchert worden, weil er ihnen in allen Stücken sehr erge-
ben war, ihren Kathscblägen blindlings folgte und sie mit
reichlichem Auskommen versah, zu einer Zeit, da er seine
leibliche Mutter in Elend und Kummer umkommen Hess, ohn-
eracbtet das Glück ihm das ganze Fürstenthum Anhalt durch
Erbschaft beschert hatte."
Bis zum Jahre 1577 also hatten ; sich die Lebensumstände
Margarethe's noch nicht günstiger gestaltet. Es ist der Nach-
forschung, so weit sie bis jetzt möglich war, noch nicht ge-
langen, auszurnitteln, wo die unglückliche Fürstin ihre letz-
ten Tage und unter welchen Verhältnissen sie dieselben ver-
lebt hat, noch wann und wo sie gestorben sein mag.
Königsberg i. Pr. Johannes Voigt.
Hordamerica und Europa.
Eine Bemerkung.
üaumers höchst lehrreiches und gewichtiges Werk über
Nordamerica wird ohne Zweifel Anlass zu neuen Betrach-
tungen und Untersuchungen über das Verhältniss unseres
Vaterlandes und ganzen Erdtheils zu jenem überaus merk-
würdigen Freistaate geben. Es kann nicht anders, als die
Frage anregen, ob wir etwas, und was wir gebrauchen
könnten von den Zuständen und Formen desselben, was
uns besonders aneignen von der nordamericanischen, wenn
ich so sagen darf, politischen und socialen Methode, von
der dortigen Art, dem Notwendigen klar, ruhig, fest
und sicher ins Gesicht zu sehen und ihm entgegen-
zutreten, und das Stockende flüssig zu machen. Raumer
selbst bat, ohne es an Seitenblicken fehlen zu lassen,
24*
360 Nordamerica und Europa.
eine eigentliche Parallele zwischen d$m gesunden America
und dem kränkelnden Europa nicht sowohl vermieden, als
ihr entsagt. Er hat ohne Zweifel geglaubt, der Klarheit und
Schärfe der in der Schlussbetrachtung hingestellten Ergeb-
nisse dadurch mehr zu schaden, als förderlich zu sein.
Dass Europa an vielen Hebeln leidet, welche America
zu seinem Glücke nicht kennt, gegen diese Wahrheit wird
wohl nicht leicht Jemand die Augen verschliessen. Aber eben
so gewiss ist, dass Europa, wenn Gott ihm gönnt, die Krank-
heitsstoffe, die es bedrängen, zu überwinden und auszustossen,
wieder da stehen kann mit einer Durchbildung, einem har-
monischen Ineinandergreifen aller dem Menschengeschlechte
verliehenen Kräfte und Gaben, zu welchen America nicht
gelangen kann, wenn nicht zu den gegenwärtig vorhandenen
Erscheinungen und Elementen neue treten , deren Ursprung
ausserhalb des Kreises der menschlichen Voraussicht liegt
Neue Elemente nämlich, welche die Grundlage bilden könn-
ten zu einer eigenthümlichen, sich aus sich selbst entwik-
kelnden, gestaltenden, verwandelnden Lebensthätigkeit auf
dem Gesammtgebiete des höhern Geisteslebens. Denn ohne
bezweifeln zu wollen, dass die Angloamericaner für europäische
Gultur ein mannigfaltiges, bedeutendes, zu eigener reger Thä-
tigkeit spornendes Interesse haben, dass sie den ganzen Werth
ihrer Fliege erkennen und sie mit dem löblichsten Eifer
betreiben, ohne auch über den Werth ihrer eigenen wissen-
schaftlichen und künstlerischen Leistungen im Einzelnen nur
irgend zu streiten: bleibt doch ausgemacht, dass die letzte-
ren Blüthen und Früchte sind, auf Pfropfreisern gewachsen,
die, von ihren natürlichen Wurzeln getrennt, aus diesen un-
mittelbar ihre Lebensnahrung nicht saugen können. Im
Alterthume hat das Mutterland den Golonien sein ganzes
Leben mitgegeben, in den griechischen wurden mit den übri-
gen Göttern, welche die Auswanderer begleiteten, die Mu-
sen heimisch, wie sie es in Hellas selbst waren. Vom mo-
dernen Europa dagegen, und namentlich von England, sind
die Grundlagen zu Entfaltungen dieser Art nach America
nicht mit herüber gebracht worden. Und dieses unterblieb
Nordamerica und Europa. 361
nicht etwa zufällig, sondern vermöge der Richtung und Ent-
wickelungsstufe der Zeit. Von dieser Erscheinung muss
der Historiker ausgehen, wenn er den Unterschied zwischen
Europa und Nordamerica nach seiner geschichtlichen Not-
wendigkeit begreifen und klar machen will. Hier allein
lässt sich auch der Streit über die Befähigung der Nord-
americaner für eine eigentümlich schöpferische Thätigkeit
auf den Gebieten der Wissenschaft und Kunst schlichten.
So lange man nur behauptet oder bestreitet, dass die vor-
herrschend materielle Richtung ihren Sinn dafür abstumpft,
bleibt man mit der Frage auf einem niedern, zu ihrer Lösung
unzureichenden Standpunkt.
Das siebzehnte Jahrhundert, in welchem die Hauptbasis
zu den englischen Golonien in Nordamerica gelegt wurde,
ist nicht nur das Jahrhundert Ludwigs XIV. , sondern auch
das Gromwells. Ist jener der Repräsentant des monarchi-
schen Absolutismus, der, aufgebläht und verblendet durch
seine damals nicht mehr bestrittenen Erfolge, ein Gebäude
für die Ewigkeit aufgeführt zu haben wähnt; so concentrirt
sich in diesem, in dem siegreich zerstörenden, noch nicht
wieder aufzubauen versuchenden Theile seiner Laufbahn, die
ganze Gewalt der scharfen, zersetzenden Reflexion, welche
zur Grundlage des Staatslebens und zum Richter über seine
Einrichtungen den berechnenden , in der blos logischen
Sphäre waltenden Verstand macht. Aber den Gewalten,
die es untergraben und vernichten will, gegenüber, be-
darf dieses Streben einer Begeisterung, welche aus jener
kalt zerlegenden, nüchternen Geistesthätigkeit nicht stammen
kann. Diese Begeisterung erwächst ihm auf einem anderen
Gebiete. Sie erwächst ihm aus den Kräften, welche die Re-
formation entwickelt und den Völkern eingeflösst hat. Die-
sen gewaltigen Schwung weiss es sich dienstbar zu machen,
mit seiner Hülfe stürzt es den Thron und bringt in der
Kirche eine revolutionäre Form zur Herrschaft.
Es ist dies die eine der Richtungen, welche die Refor-
mation genommen hatte; denn sie war von Anfang an nicht
blos in der Kirche, sondern in allen grossen Lebensgebilden
362 Nordamerica und Europa.
in einer doppelten Gestalt aufgetreten, und merkwürdiger
Weise bauen sich diese beiden Formen auf den verschie-
denen Geistesgebieten nirgends bestimmter entwickelt, als
innerhalb des einen grossbritannischen Landes ; nirgends
waren sie daher auch in einen nähern und schärfern Con-
flict getreten. Die eine derselben begnügte sich aus der
alte» Kirche das schlechthin unleidlich Gewordene, das
Geistesknechtende , das die christlichen Lebenselemente
Hemmende und Verdunkelnde zu entfernen. Am Staatsge-
bäude rüttelte sie nicht, den ganzen geheimnissreichen Ur-
grund des menschlichen Daseins, in welchem die Kunst im
weitesten Sinne wurzelt, tastete sie nicht an. Dies ist das
England der Elisabeth. Es ruht auf einer Vergangenheit,
die in ununterbrochenem Zusammenbange steht mit der
Welt der Sage, der Lieder, der Poesie überhaupt. Diese
hilft der nationalen Eigentümlichkeit ihr Gepräge geben,
aber sie mildert zugleich ihre Schärfe, und verleiht ihr einen
heitern Glanz. Auf einem solchen Boden des ächtesten
Volksgefühls, das noch ganz erfüllt ist mit Erinnerungen an
eine ahnungsreiche poetische Jugendzeit, steht Shakespeare;
indem er diese Elemente durch die Frische und den kühnen
Gedankenschwung, zu welchem der freie Geist der Reforma-
tion führte, neu belebte, erschuf er jene Werke, welche als
eine einzige Durchdringung des Geahneten und des Erkann-
ten die höchste Bewunderung aller Zeiten bleiben werden.
Bis zu ungleich schärfern Gonsequenzen und Spitzen
verfolgte die andere Richtung das Reformationsprincip. Das
SchHftwort liess sie als unüberschreitbare, den Untersuchun-
gen des Verstandes gesetzte Grenze stehen, und scheute die
grösste Härte bei der buchstäblichen Auslegung desselben
nicht; was aber diesseits dieser Grenze lag, zog sie vor den
alleinigen Richterstuhl des reflectirenden Verstandes, mit
dessen Prihcip sie alle ihre Ordnungen und Einrichtungen
erfüllte. Dem Köhigthurii dienten das Ansehn der Jahrtau-
sende, seine bis in die unerforschlicbe Urzeit zurückgehende
Wurzeln nicht mehi* zur Stütze; es fiel um so mehr, weil
die socialen Einrichtungen der Küche auf einen ganz demo-
Nordamerica und Europa. 363
kra tischen Boden gestellt wurden. Die Kunst, die Poesie,
die sich aus sich selbst und für sich selbst frei entfalten
muss, wichen aus einer Welt, in der kein Raum mehr für
sie vorhanden war, welche die Wurzeln, aus der sie ihre
Nahrung saugen, mit grosser Energie und Gonsequenz ver-
nichtet hatte.
Diese Grundsätze und Ueberzeugungen , diese Geistes-
und Gefiihlsrichtung waren bei dem bedeutendsten Theile
der englischen Auswanderer nach Nordamerica im siebzehn-
ten Jahrhundert die herrschenden. Sie gingen über das
Meer, um in der neuen Heimath sich die politische und re-
ligiöse Freiheit, die ihnen das Mutterland nicht gewährte,
zu gründen, und die Art der Freiheit, die sie suchten, war
eben jene, dem consequenten, scharfen, herben, trocknen
Verstandesprincip huldigende. Dieses wurde das die socia-
len Einrichtungen constituirende; indem es sich aber auf
das engste anschloss an die religiösen Ueberzeugungen der
Presbyterianer, stand auch den Forderungen des zerlegenden
und berechnenden Verstandes das Wort Gottes in der Bibel
gegenüber als ein Positives, an dessen Anwendung, Erklä-
rung ünid Deutung jener seine Kräfte üben mag, welches er
aber nie wegzuläugnen und wegzuspotten vermag. Die bis
auf den heutigen Tag in America mächtige, tiefe und starke
Religiosität zeigt, wie falsch der Glaube an ein Zusammen-
fallen politischer und religiöser Unterwürfigkeit ist; dass
vielmehr der Mensch, je freier und mündiger er sich im
Staate fühlt, desto entschiedener geführt wird zum Bewusst-
seiti seiner Abhängigkeit vom höchsten Wesen. Allerdings
haben die Geistesrichtung und Lebenszwecke, welche das
achtzehnte Jahrhundert zur Vorherrschaft brachte, auf die
americanische Entwickelung einen grossen Einfluss geübt,
es wäre aber kurzsichtig und oberflächlich, sie für ihre tie-
fere Grundlage . zu halten. Die eigentlich americanischen
rationalistischesten Secten haben noch immer einen suprana-
turalistischeren Kern als der gemässigte deutsche Rationa-
lismus;*) und wenn die Demokratie lange vor der Lostren-
') M. s, die Darstellung des Glaubens der Universalisten, die
364 Nordatnerica und Europa.
nung von England ihrem Wesen und ihrem das Leben ge-
staltenden Princip nach vorhanden war, so war sie es nicht
nach Begriffen, welche in der Lehre vom L'rvertrage wur-
zeln, sondern weil sie betrachtet wurde als ein durch die
Natur gegebener Zustand, der gegen die göttliche Ordnung
eben so wenig verstösst, wie Monarchie oder Aristokratie.
Mit allem diesem soll auf keine Weise gesagt sein, dass
eigentlich puritanische Principien und Ansichten auf allen
Gebieten die Oberhand behalten haben. Vielmehr haben die
den anderen kirchlichen Bekenntnissen, namentlich dem ang-
licanischen zu Grunde liegenden Richtungen eine grosse
Rolle gespielt. Ja sie sind es gewesen, die, durch die Ent-
wicklung, die sie in America erhielten, eigenthümlich mo
dificirt und gestaltet, der puritanischen Schärfe und Einsei-
tigkeit die Spitze abgebrochen haben; ja im Staatsleben ist
Neuengland zurückgedrängt worden durch den Einfluss und
das Gewicht des Südens; von diesem sind die Staatsmänner
ausgegangen, welche America in die Bahnen gelenkt haben,
die es jetzt verfolgt. Was aber die grosse Erbschaft be-
trifft, die Europa aus der Periode des Instincts und der
Gontemplation , wo die Kunst geboren wird, herübergerettet
hat in die der Reflexion , so war sie auch auf diese Coloni-
sten nicht übergegangen, jene verbindenden Fäden waren
auch für sie gelös't, der Sinn für das zwischen der Offen-
barung und der Verstandesreflexion in der Mitte liegende
Element auch für sie verdunkelt. Darum blieb dem ganzen
Nordamerika das Kunstgebiet, insofern es von Wurzeln aus-
geht, die sich bis in das innere Volksbewusstsein hinein
erstrecken, ein eigentlich fremdes Element, welches es sich
wohl von aussen aneignen, in das es sich aber nicht eigent-
lich hineinleben konnte.
Dagegen hat America aber auch Auflehnungen gegen
sieb von der orthodoxen Dogmatik am weitesten entfernen, in
Rupp, An original history of the religious denominations in tbe
united s tat es, Philad. 1844. p. 719 sqq. Dort ist z. B. von der
Rettung der Menschen durch Christus von dem Tode, der durch
Adams Schuld in die Welt gekommen ist, die Rede.
Nordamerica und Europa. 365
das, was es als natürliche und göttliche Ordnung festhält,
von der Art, wie Europa sie taglich erleben muss, nicht
zu erfahren. Auch das gehört zum Glücke jenes Staates,
dass dort kein Louis Blanc, kein Ledru-Rollin und wie sie
sonst noch heissen mögen, unter allerlei Schminken und
Bemäntelungen die Heiligkeit des Eigenthums, als der uner-
lasslich nothwendigen Grundlage alles Menschenthums und
aller Bildung angreift und zu vernichten unternimmt. Und
wenn ein europäischer Zoilo-Thersites wagen sollte, das
Lied, welches er in seiner Heimath täglich ertönen lässt:
Das Tiefe hoch, das Hohe tief,
Das Schiefe grad, das Grade schief;
Das ganz allein macht mich gesund,
So will ich's auf dem Erdenrund.
dem nordamericanischen Volke vorzusingen, würde es ihm
schnell die gebührende Gerechtigkeit widerfahren lassen.
J. W. Loebell.
Heinrich Pfeifer und Thomas Mttnzer In
Mtthlhausen«
Eine urkundliche Mittheilung aus der Mühlhäuser Chronik
von
Dr. F. A. Holzhausen.
Das Interesse, welches der Bauernkrieg gegenwärtig findet, hat
darin seinen Grund, dass derselbe, der Form nach zwar verwerf-
lich, doch wesentlich in der geschichtlichen Entwicklung des deut-
schen Volkslebens begründet war. Wir glauben daher durch nach-
folgende Mittheilung aus einer noch unbenutzten Quelle eine Lücke
der deutschen Geschichte zu ergänzen. Die Darstellung trägt einen
so speciellen Charakter an sich, dass sie nur von einem Zeitgenos-
sen und Augenzeugen herrühren kann. Die Chronik, welche sich
auf der Universitätsbibliothek zu Göttingen befindet, reicht von
1030—1610, und ist nach der Schrift und andereii Umständen zu
schliessen um dieselbe Zeit geschrieben.
1523. In diesem Jahre wurde einem Ehrb. Rathe ein kaiserliches
Mandat informirt, dass sie alle lutherischen Prediger sollten abschaffen,
r
366 Heinrich Pfeifer und Thomas Münzer
In diesem Jahre nach Christi Geburl ist einer, Heinrich Pfeifer,
ein ausgelaufener Mönch, sonst Schwertfeger genannt, aus dem Klo-
ster Rifenslein nach Mühlhausen gekommen, daselbst sich einen
grossen Anhang allerlei Volks gemacht, und hin und wieder von
Mönchen und Pfaffen in der .Stadt geredet und gepredigt, sonder-
lich zu S. Nicolaus die Kirche innegehabt. Sonntag post septuage-
simae desselben Jahres, als man das Kreuz um die Kirchen getra-
gen, wie damals der Gebrauch gewesen ist, ist der Bierrufer auf
einen hohen Stein gegen der Pfarre zu unserer lieben Frauen auf
dem Kirchhofe getreten, und hat Wein und Bier ausgerufen. Dar-
auf ist dieser Mönch in weltlichen Kleidern auf denselben Stein ge-
treten und hat gesagt: Höret zu, ich will euch ein ander Bier ver-
kündigen, hat angefangen von dem Evangelio desselben Sonntags
zu reden, und Pfaffen und Mönche und Nonnen zu schellen. Da
hat jedermann zugehört, und ist ein grosser Zulauf worden, denn
er albereits viel Volks, Fremde und Heimische gehabt, so seiner
Lehre anhangig gewesen. Hat auch letztlich gesagt, wer ihn weiter
hören wollte, der sollte des andern Tages wiederkommen; könnte
er nicht in die Kirche kommen, so wollte er daselbst wieder pre-
digen. Als solches ein Ehrb. Ralh erfahren hat, haben sie ihn auf
folgenden Montag aufs Rathhaus fordern lassen. Darauf er gesagt,
ja er wollte erst predigen, darnach wollte er aufs Rathhaus kom-
men« Da er nun zu Mittag gepredigt hatte, ist er aufs Rathhaus
kommen mit vielen Bürgern und Bauern von Eichsfelde und an-
dern Oertern mit solcher Ungestümigkeit, dass der Rath froh war,
dass sie ihn mit dem Volke mit guten Worten abweisen konnten.
Haben nichts wider ihn vorgenommen, denn die Gemeine hing an
ihm, und hiess ihn predigen. Und dieses war der erste Auflauf in
der Stadt Mühlhausen. Als er aber immerfort predigte und einen
grossen Anhang kriegte, liess ihn ein Ehrb. Rath auf den Mittwochen
nach Palmarum wiederum aufs Rathhaus fordern. Da begehrte
er ein sicher Geleit; als ihm das ein Ehrb. Rath weigerte, da trat
er auf den Predigtstuhl und sprach, wer bei dem Evangelio sieben
will, der recke zwei Pinger auf. Da richteten sie die Finger auf
alle zugleich, Mann und Weib, jung und alt, und holten ihre besten
Wehre, kamen auf den Kirchhof Mariae zusammen, wähleten acht
Manu, die schickten sie zu dem Rathsmeister Johann Gödickeh,
Heinrich Pfeifern ein Geleite Zu erwerben; aber der Gödicke wollte
sich nicht finden lassen. Da gingen sie in die Germargasse zum
Rathsmeister Fross, der wies sie auch ab. Da blieb es also.
Misericordias domini desselben Jahres kam ein Magister, Hilde-
brandt genannt , gen Mühlhausen , eben die Zeit als Gnade zu S.
Johannis war, und begehrte da zu predigen, und hatte einen gros-
sen Haufen an sich gehängt. Da fragten ihn die Galanotes-Herren,
in Mühlhausen. 367
was er mit einem solchen Haufen begehrte. Als er sagte, er be-
gehrte zu predigen, befragten sie sich bei dem Rathsmeister Gö-
dicken, der sagte, man solle ihn nicht predigen lassen. Da predigte
einer in der Kirche, der war ein Pfarrer in Flercheim gewesen«
Als der aufhörte zu predigen, sprach Magister Hildebrandt, wer ihn
hören wollte, der sollte folgen, er wallte auf dem Blobech predigen.
Da stieg er in Caspar Ferbers Haus, und predigte zum Giebel her-
aus, verlachte die Gnade, verglich sie einer grindigen Sau, und viel
Leute hörten ihm gern zu. Pfeifer aber der predigte immerfort in
seiner Kirche zu S. Nicolaus, und auch ein Mönch von Aldisleben,
Matthäus genannt, schalten die Bischoffe, Pfaffen, Mönche und Non-
nen. Das hörte die Gemeine gern, und obwohl etliche im Rathe
dawider waren, so sprachen doch die anderen, es ginge den Rath
nichts an. Nur allein die Pfaffen und Mönche waren in Angst,
welche mit ihrem Bann und Gnade sich das Volk sehr gehässig ge-
macht hatten. Und es war der Missbrauch sehr am Tage. Vier-
zehn Tage vor Maria Heimsuchung mitten in der Nacht war ein
Auflauf auf dem Obermarkte. Da schrien etliche Bürger, sie woll-
ten etliche richten, und ihnen durch die Häuser laufen und sie
stürmen. Dessen erschracken viele Bürger und Pfaffen, und wichen
des Morgens aus der Stadt, und hielten sich draussen, bis sie mit
den Fürsten einzogen; deren Namen hier unten verzeichnet wer-
den sollen. Es hatte der Haufe bereits also zugenommen, dass ihm
der Rath die Lange nicht mehr wehren konnte.
Dienstag's nach Visitalio Mariae desselben 1523. Jahres haben
etliche Bürger die Sturmglocke zu S. Jacobi am Mittag, als ein Ehrb.
Rath auf dem Ralhhause bei einander war, gelautet oder gestürmet
aus Angaben des Mönchs Matthäus von Aldisleben. Da sind die
Bürger und viele Fremde, Eichsfelder, so dem Pfeifer angehangen,
mit ihrer besten Wehr vor das Rathhaus gelaufen, haben die Her-
ren erschlagen wollen, und sind etliche Schüsse auf und ab ge-
schossen worden, haben wohl vier Stunden davor gelegen. Aber
man hat so viel mit ihnen geredet und gehandelt und ein Ehrb.
Rath gebeten, und ihnen zugesagt, dass ihrer etliche abgezogen.
Aber etliche sind geblieben. Die haben die acht Mann heissen in das
Barfüsserkloster gehen, bis so lange sie mit einem Ehrb. Rathe eins
würden. Da sind sie in alle Klöster gelaufen und in beide Pfarr-
häuser, haben dieselben geplündert, Fenster und Oefen eingeschla-
gen. Desgleichen haben sie gethan auf dem Brückenhofe. Darauf
hat die Gemeine einem Ehrb. Rathe etliche Artikel vorgetragen, auf
welche er sich um Friedens willen mit ihnen auf den Freitag nach
Visitationis Mariae vergleichen und dieselben versiegeln müssen..
um das Fest Philippi Jacobi ungefähr ist die Gemeine zu Mühl-
hausen in der Stadt, in den vier Kirspeln oder Vorstädten, iti Un-
368 Heinrich Pfeifer und Thomas Münzer
ser lieben Frauenkirche zusammengefordert worden, und hat etli-
che Artikel beralhschlagt, und sich des vereinigt, dass sie aus jeg-
lichem Viertel dieser Stadt Mühlhausen 12 Personen, und aus jeg-
lichem Kirspel 12 Personen nehmen wollten, um neue Ordnung
Rath und Rathen vorzutragen , dergestalt und Meinung solches zu
bewilligen und zuzusagen, hinfort so zu halten. Darauf sind diese
56 Personen den 13. Maji, war auf Himmel fahrte -Abend, vor Ratb
und Rathen erschienen und haben dieselben bedachten Artikel,
angelangen lassen. Darauf hat Rath und Rätbe etliche Artikel als-
bald bewilligt und zugesagt zu halten, und auf die andern Artikel,
die mit diesen Puncten unten verzeichnet sind, eine Bedenkzeit ge-
beten, dass solch neues Fürnehmeu und Ordnung vom Regiment
der gemeinen Stadt nicht Anfechtung oder Schaden verursachen
möchten, und gegen unsere Obrigkeit und einen Jeden zu verant-
worten waren.
Darauf die Gemeldeten geantwortet, eine Gemeine habe die Ar-
tikel so beschlossen zu hallen, und wolle das also nicht anders ge-
halten haben. Dies hat also geschwebt bis auf den dritten Tag des
Heumonats, das war Freitag's nach Visitationis Mariae, alsdann ist
es von den 56 Mann wieder vor dem Rathe angeregt worden.
Darauf sich Rath und Rathe haben hören lassen und abermals
gebeten, dass diese Sache einen Anstand haben möchte bis dass
man die Erforschung haben könnte, ob zu Nürnberg auf dem
Reichstage von solchen Sachen zum Theil auch gebandelt und be-
rathschlagt würde; wessen sich dann die andern Städte und Herr-
schaften und Reichsstädte, um diese Stadt liegend, gehielten; das
wollten sie sich auch wissen zu halten. Dieses gute Bedenken des
Regiments wollten die von der Gemeine nicht bewilligen, und auf ein
Gespräch aus der Rathsstube dem ehesten entweichen. Da ward
zu S. Jacob an die Glocke geschlagen und gestürmet, und von et-
lichen auf der Strasse gerufen, wer bei der Gemeine stehen wolle,
der solle mit seiner besten Wehr kommen vor das Rathhaus ; dass
also des Tages ein grosser Aufruhr vor dem Ratbhause worden
von Bürgern und Bauern dieses Gerüchts, Rath und Rathe sollten
ihre angegebenen Artikel 'alle bewilligen und ballen , und um der
Sache einen Schein zu geben mit der Stadt Siegel bekräftigen. Also
wurden bemeldete Artikel von Rath und Rathen mit sammt den
Gemeinen zum Besten bedacht und für gut angesehen, und ein-
trächtig beschlossen hinfort so zu halten, und obs von jemand an-
gefochten würde, dass Ratb und Räthe dasselbe mit verantworten
wollten, nach weiter vermeldeten nachfolgenden Artikeln. Dieses
haben die Räthe so bewilligen und zulassen müssen , und hat also
vermittelst göttlicher Gnade diese Zwietracht ohne Blulvergiessen
sich wieder geschieden, und haben das Rathhaus wieder verlassen.
in Mühlhausen. 369
In dem Auflauf sind sie gelaufen in die zwei Pfarren und in die
drei Klöster dieser Sladt, und darinnen geöffnet Speisekammer und
Keller, und an denselbigen Ueberflüssigkeit von Gewalt begangen,
und mit vieler Ueberflüssigkeit gegen die Kloslerjungfrauen sich er-
zeiget und sich hören lassen beide Manns- und Weibspersonen,
und darüber etliche zu mehrem Ueberfluss Speise und Trank mit
aus dem Kloster getragen, und durch solche freventliche Thaten
die Klosterjungfrauen Furcht halber bewegt und verursacht worden,
dass ihrer bei 14 oder 15 aus den Klöstern wichen und zu ihren
Freunden gingen, und darum etliche haussen blieben und sich in
die Weltlichkeit begaben. Desgleichen aus den beiden Mönchsklöstern
viele Priester und andere Brüder gegangen und Weiber genommen.
Dies sind die acht Männer von der Gemeine gewesen: Michael
Koch, Dietrich Weissmaler, Hans Schmidt, Claus Kreuter, Karsten
Vill, Claus Fullstich, Selant Agny, Hans Töpfer.
Die Artikel, die eine Gemeine den Räthen hat vorgetragen:
1. Dass alle Retardat an Geschoss, Zinsen und an denn Unge-
nannten zu gemeiner Stadt Nutzen gewandt, und die Kämmerer,
ehe dieses geschehen, ihres Amtes nicht entlassen werden sollen.
2. So jemand seinen Geschoss oder andere Pflicht in vier
Wochen nicht geben würde, nach Unserer Lieben Frauen Tag
Purificationis und S. Johannistag, derselbe solle in den Gehorsam
gelegt werden, und nicht daraus kommen, er habe denn seiner Pflicht
darum er verhaftet, Bezahlung gethan. Und wo einer aus dem
Gehorsam ginge, der solle für einen Ungehorsamen gehalten wer-
den. Und sollte der vierte Pfennig und Geldzoll abgethan seyn.
3. So jemand der Stadt hinfort einen einigen Schaden zufü-
gen oder dazu Ursache seyn und geben würde, der solle auch nach
Gestalt der Sache und Rechtes seinen verdienten Lohn bekommen.
4. Die Personen der vier Rälhe sollen an Anzahl mit demsel-
ben Rathe gemindert werden. Wenn einer von Handwerks wegen
fehlt oder mangelt, soll die Stätte nicht mit einem gemeinen Manne
ersetzt werden, wie bisher geschehen der Willkühr zuwider, dass
die Gleichheit in der Wahl eines von der Gemeine und eines von
den Handwerkern gehalten werde.
5. Dass acht Mann aus den Räthen aus jedem zwei sollen ge-
wählt werden, welche in schweren Sachen bei dem Rathe sitzen,
upd dieselben an die Gemeine bringen können allerlei Nachtheil
zu vermeiden.
6. Dass alle privilegia der Gemeine geöffnet und gemeine Stadt
dabei erhalten werden solle.
7. Man soll nach laut der Willkühr und bürgerlicher Freiheit
keinem Bürger zu Leib und Gut greifen, er sey denn laut der Will-
kühr 2—3 mal verklagt.
370 Heinrich Pfeifer und Thomas Münzer
8. Ob ein Bürger eine Busse verwirkte mit Worten oder Wer-
ken, die er geben könnte, den soll man nicht ins Gefängniss, son-
dern in den Gehorsam legen.
9. Das Gericht in der Stadt Nühlhausen in gute rechtmässige
Ordnung zu bringen, und mit tauglichen Rednern zu versehen und
bestellen, damit einem jeglichen in seinem Rechte nicht zu kurz
geschehe.
10. Ob ein Bürger ohngefähr am Gerichte sich vergesse, dass
dann nicht sobald ein Pfund gelheilt, doch dass er es auf einen
Eid erhalte, dass er solches nicht gefährlich gethan habe.
11. Helfgeld soll man nicht eher nehmen, es scy denn wirk-
lich geholfen oder gütlich vorgetragen.
12. Dass man hinfort niemand gestehen soll um Erbzins ohne
Gericht und Rälhe zu pfänden.
13. Wer peinlich klagen will soll sich bei den Beklagten setzen.
14. Dass man niemand so leichtlich in die Acht thue, wie bis-
her geschehen ist, wiewohl die Willkühr fast scharf darauf dringet,
denn viel Cnratlis und Schadens daraus erwachsen. Es soll aber
der, der einen Andern geschlagen oder verwundet, und sich eine
Busse damit verwirkt, dem Verwundeten auch gebührlichen Ab-
trag thun nach Erkenntniss. Hiermit soll es nicht erledigt werden,
sondern die Wunde soll durch eines Ehrb. Raths Verordnete zu-
sammt der Stadlärzle besichtigt werden, ob die ächtig oder ü ber-
echtig seyj auch soll man den Thäter zur Antwort kommen lassen.
15. Dass niemand, er sey geistlich oder weltlich, eigeue Vieh-
triften, Schäferei oder Uuth in dem Gebiete der Stadt Mühlhausen
haben solle, er sey denn damit befreiet und mit Briefen dasselbe
zu beweisen genugsam im Stande.
16. Dass niemand gestattet werde eigene Weide, Fischerei
oder Wildbahn zu machen, die zuvor gemein gewesen sind.
17. Dass die freien Höfe und Geistlichen sowohl als andere
der Stadt Bürden tragen helfen, dieweil sie Wasser und Wind ge-
brauchen.
18. Alle Zünfte sollen bei ihren Freiheiten, Briefen und Siegeln
gelassen werden.
19. Dass die Bürger sicher zulaufen mögen, wenn in der Stadt
Aufruhr oder Schaden entsteht.
20. Dass ein jeder vor Puriflcalionis seine Länderei schossbar
machen lasse, und eine Landsuchung geschehe, das Uebrige an
gemeine Stadt genommen werde.
21. Verfallne Güter sollen die bauen, so Zinsen daran haben,
oder der Rath soll sie bauen.
22. Nach der Mark soll einer schössen, und soll jedem sein
Erbe und fahrende Habe gerechtfertigt werden. Und was einer
in Mühlhausen. 371
nicht hat, dess soll er sich mit einem Eide entledigen, und es soll
keine Geld -Zahl oder 4 Pf. gegeben werden.
23. Dass man keinen Auslandischen oder die da arbeiten kön-
nen die Pfründen in Spitalen verkaufen soll, welche allein für
Arme und Einlandische gestiftet sind.
24. Die Männer im Gerichte sollen des Weggeldes verscho-
net seyn.
25. Die Geistlichen und Weltlichen, so in diesem Gebiete sind,
sollen Mahlzeichen geben.
26. Alle die Garten oder Häuser in den Kirspeln haben, sol-
len ihr Wachgeld geben, auch die abgebrochene;) Häuser wie-
der bauen.
27. Alle Fehdebriefe, sobald sie dem Ralhe zukommen, sollen
der Gemeine geöffnet werden.
28. So man jaget soll ein Bürger nach dem andern nach der
Reigirung gefordert werden.
29. Hinfort sollen auf das Pfund Geld und Schillinge nicht
mehr denn 8 Pfennige für einen Schilling gegeben werden.
30. Wiederkäufliche Zinsen mit Stadtbriefen befestigt soll man
25 sh. mit einem verzinsen, und mit 25 sh. einen ablösen.
31. Jeglichen Schilling, item eine Gans, 2 Hühner soll man
mit £ sh. ablösen.
32. Die Zinsen von wüsten Kirchen sollen zu gemeinem
Nutzen verwendet werden.
33. Der Lindenwall soll wiederum geöffnet werden, alle Stadt-
graben sollen zu gemeinem Nutzen gebraucht werden, es sey
denn einer derselben mit Brief und Siegel befreiet.
34. Es soll kein Kämmerer einen sonderlichen Acker Holz
nehmen, sondern so gross und klein, als andere auch abgemessen
werden, auch kein Förster Staltesotteln haben, denn allein ihr
Anweisegeld.
35. Ein jeder des Rathes soll sein Amt selber verrichten,
und keinen andern für sich haben oder darstellen, doch da er
es vermag.
36. Es soll hinfort kein Priester zum Sladlschreiber angenom-
men werden, sondern man soll einen Weltlichen annehmen.
37. Es soll auch der Stadtschreiber der Stadt Secrct ferner
mehr nicht bei ihm haben, sondern dasselbe soll dem Ralhsmei-
ster befohlen seyn.
38. Ob jemand einig Getreide auf Wiederkauf kaufen würde,
und ein Bürger dess bedürftig wäre, so soll er das von Stunde
an um gleich erkauft Geld demselben Bürger wieder lassen.
39. Die so Ackerwerk gebrauchen und nicht rechte Acker-
leute sind, sollen gleich sehr nach eines Ehrb. Rathes Ordnung dienen.
372 Heinrich Pfeifer und Thomas Münzer
40. Und ob sich Bürger zweieteo und es Ratb und Rätben
nicht wissen lassen wollten, die sollen in Gehorsam gehen, bis sie
die Sache vertragen.
41. Dass die Ehebrecher nicht gelitten werden sollen, son-
dern verweiset werden, wie denn ein Ehrb. Rath hat angefangen.
42. Mit den teutschen Herrn soll geredet werden, dass die
Pfarrkirchen und Kapellen mit evangelischen Predigern bestellt wer-
den; geschieht es nicht, so soll es die Gemeine mit einem Ehrb.
Rathe bestellen.
43. Es soll auch sonst das Evangelium zu predigen nicht ge-
wehret werden.
44. Der Acker zu Widensee und das Rind zum Eichen soll
wieder an gemeinen Nutz gewandt werden.
45. Abzug und Miststätte sollen gereiniget werden, dass der
Unflath nicht ins Wasser laufe.
46. Dass man keinen Bürger oder Einwohner in keinem Kir-
spel aufnehme, er habe denn erstlich Brief und Siegel bracht, wie
und welchermassen er von seiner Obrigkeit abgeschieden wäre.
Das sollen die $ Mann oder Kirspelsvormünder jedes Vierteljahr
dem Rathe bewähren oder einbringen.
47. Mönchen und Nonnen soll freistehen aus dem Kloster zu
gehen mit ihren eingebrachten Gütern.
48. Ob sich jemand beklaget, dass ihm Recht geweigert, und
sich auf die Viertelsmänner berufet, sollen dieselben die Sache
neben dem Rathe verhören.
49. Der acht Mann sollen zwei in der Kämmerei und einer
in der Zinsmeisterei sitzen.
50. Der Rath soll einen Schlüssel zu dem grossen Siegel ha-
ben und damit siegeln.
51. Die acht Mann sollen zur Gemeine beeydet werden.
52. Den Armen und zur Erhaltung des Wortes Gottes soll
ein Kasten in die Kirche gesetzt werden.
53. Rath und Rälhe sollen vermöge der Privilegien zu ent-
setzen und zu setzen haben nach der Stadt Nutzen.
Und also liaben Rath und Rathe, Vierieismänner und die ganze
Gemeine einträchtig bewilliget und beschlossen, dass in dieser
Sache aller Unwille zwischen Rath und Räthen und ganzer Ge-
meine, so daraus erwachsen wäre, gar todt seyn solle, dass nie-
mand, er sey Rath oder Rathe oder ganze Gemeine, sich beklagen
soll bei Kaiser, Königen, Fürsten oder anderswo, sondern sie hier-
mit gänzlich in Einigkeit und Gehorsam solle vertragen seyn. Wo
aber darüber einer zum andern etwas zu besprechen hätte, so
solle es geschehen alhier zu Mühlhausen, und wolle man hinfort
in Einigkeit und Gehorsam gegen einander solches stät und fest
in Mühlhausen. 373
halten. So haben das zu mehrerer Sicherheit Ralh und Räthe den
Gemeine gelobt, und wiederum die Gemeine gleichmässig Rath
und Ralhen. Und hat ganze Gemeine ihrerseits ihr grosses Insie*
gel wissentlich an diesen Brief thun hängen, der gegeben ist nach
Christi Geburt im 1523 Jahre auf den Freitag nach Unserer lieben
Frauen Tag. Visitationis Mariae genannt.
Nachdem von dem allen zum Besten ist bedacht worden, als
die Willkühr anzeigt und vermeldet, dass 30 Mann in einem Rath
seyn sollen, und also bisher gewesen, das ist Martini 1523 auf
Vorbringen der Gemeine geändert worden, und ist gesetzt auf
24 Personen, und haben in die Kämmerei und Zinsmeisterei von
der Gemeine auch etliche Personen oder Beisitzer wollen haben,
als in beschriebenen Artikeln ist berührt, und von den Rathen hat
müssen zugelassen werden.
Montags nach Jacobi 1523 wurden etliche Briefe am Markte
und an der Pfarrkirche angeschlagen, darin stand: der Pfarrer hat
einen Stall voll Esel, die können nicht predigen das Wort Gottes
rein und lauter. Er lasse sie es predigen, oder wir wollen ihm
einen rothen Hahn auf das Haus setzen. Der Pfarrer klagte es
dem Rathe, aber niemand konnte wissen, wer der Thäler wäre.
Diese Zeit wurden die Pfarrhäuser alle geplündert. Ein Ehrb. Rath
lasst gebieten, es solle ein jeder wiedergeben, was er bekommen
hätte in den Pfarrhäusern.
1524 Bartholomaei bittet der Ralh die Gemeine, dass sie wil-
lige, nicht dass man dem Worte Gottes und der Predigt entgegen
sey, sondern zu vermeiden gross Unglück und Gefahr, dass sie
Heinrich Pfeifer und Matthäus den Mönch aus der Stadt wiesen;
das geschah also.
In diesem Jahr als er anfängt zu predigen, am Tage Johannis
Evangelistä, haben die Weiber den Pfarrer zu S. Kilian stürmen
wollen, und ihn von S. Kilian gejagt bis zur S. Blasiuskirche. Da
hat er sich verkriechen müssen. Da sind sie in die Pfarr gelau-
fen, beide, Frauen Jungfrauen und Männer. Was darin zu essen
gewesen ist haben sie mitgenommen. Pfeifer ist wieder in die
Stadt eingeschlichen ohne des Rathes Vorwissen, und hat darin
wie zuvor gepredigt, und einen grossen Anhang gehabt. Auf den
Sonntag Judica war ein Auflauf wegen eines Augustinermönchs
von Salza. Der predigt zu Unserer lieben Frauen, und sagt unter
anderm, die Bürger wären gute Mörder, diebisch. Den hätten die
Bürger erschlagen , aber ein Ehrb. Rath geleitet ihn aus der Sa-
cristei, darein er gewichen war, und geleitet ihn in seine Herberge,
dass er also davon kam.
Bald hernach unterstanden sich etliche Bürger, als Hans Kula,
Volkmar Müller, Erhart Köler und Barthel Götze, und brachen die
Zeitschrift f. Geschichte. IV. 1845. 05
374 Heinrich Pfeifer und Thomas Munter
Predigerkirche bei der Nacbt auf, warfen den Hobulfen bei der
Orgel hernieder, und zerschlugen etliche Bilder. Des Morgens
wichen sie und schrieben an den Rath und an die S Mann , dass
sie solches aus christlichem Eifer gethan hätten, und nicht Auf-
ruhr zu erregen, denn es wäre em Abgott gewesen.
In diesem Jahre wich der Rathsmeister Probst. Da ward Mat-
tbaus Wolfbeim an seine Statt gesetzt. Der starb bald desselbigen
Jahres 1524. Da erwählet man an seiner Statt Bastian Rodemann
und Wettich zum Kumppan.
Diese Zeit hat Doclor Marlinus Lutherus an einen Ehrb. Rath
geschrieben und ihn vor Münzern gewarnt, aber er war schon in
der Stadt.
Sonnabends nach Bartholomaei schreibt der Rath an M. Wolf-
gang, wie dass sich Thomas Müuzer, der vor Zeiten zu Allstedt
predigte, in kurzen Tagen in die Stadt Mühlhausen begeben hätte
und zu predigen unterstünde, und hange das Volk sehr an ihm.
Bitten derohalben berichtet zu werden, ob er auch von den Herrn
und Herzögen zu Sachsen mit Güte abgeschieden wäre.
Allstedter oder Münzer gesellet sich sobald zu Pfeifern und
kriegen beide einen grossen Anhang von allerlei Volk, also dass
ihnen ein Ehrb. Rath auch nicht mehr wehren konnte.
Montags nach Lamberti war eine Hochzeit zum Sterne gegen
den Obermarkt in Valentin Oehmens Hause. Da hatte sein Sohn
Wirthschaft. Da war einer, Caspar der Kirchner zu S. Jacob und
Gericbtsschreiber. Als nun das Geschenk geschehen war, über-
gab er den Rathsmeister Rodemann, schalt ihn an seiner Ehre.
Da sprach der Rathsmeister Rodemann zu den Stadtknechten, füh-
ret ihn hin, da er hingehört. Da fübreten sie ihn in den grossen
Keller. Da kamen die Achtmänner mit ihrem Anhange vor das
Rathhaus, und langeten ihn wieder aus dem Keller, und führten
ihn wieder zur Hochzeit. Und sobald sie da des Rathsmeisters
Rodemanns ansichtig wurden, zwangen sie ihn, dass er vor ihnen
hingehen rousste aufs Rathhaus die Rathsgasse hinunter. Desglei-
chen liefen sie dem Rathsmeister Wittich mit gewappneter Hand
vor sein Haus, forderten, sagten sie hätten etwas mit ihm zu re-
den; wolle er in Güte zu ihnen kommen, so hätte es seinen Weg,
wolle er aber nicht , so solle er es in Ungute thun , denn es be-
langte die Gemeine an. Da kam er, und sie zwangen ihn auch
mit aufs Rathhaus zu gehen. Da mussten die beiden den AcM-
männern versprechen, dass sie sich den andern Tag wieder ein-
stelle» wollten. Und Hessen den Rath fordern. Da mussten sie
zum andermale den Viertelsherrn, Michel Koch und andern, an-
geloben, ihre Sache hinauszuführen. Aber des Morgens früh zo-
dte beide, Rodemann und Wittich, zum Thor hinaus gen Salsa.
in Mühlhausen. 375
Die beiden Burgermeister, Rodemann und Witlich, hatten bei sich
das- schwarze Fähnlein der Stadt, darin der Stadt Wappen stehet,
und das silberne Stadtsecret an dem Kettlein, und etliche Schlüs-
sel. Die brachten sie ungefähr um Michaelis des 1524 Jahres gen
Erfurt in eines Bürgers Haus, Caspar Retzel genannt, der die Zeit
ein Domherr Mariae war, aber hernach im Stift Waltsachsen ein
Diener. Bei demselben deponirten sie solche Stücke in einem
kleinen Schreinlein , und musste er, der Retzel , und Jacob Wach-
tebrücke, Hans Storck, und Hans Funke von Wiehe dasselbe ver-
petschiren. Das blieb bei ihnen bis auf folgende Pfingsten. Da
haben sie es wieder gefordert und bekommen.
Darnach aber war ein Auflauf; da liefen etliche vor das Rath-
baus, und etliche vor das Felchtathor mit gewappneter Hand, und
wehrte bis an den dritten Tag, aber es ward nichts ausgerichtet.
Auf dem Mittwoch nach Lamperti in der Fasten waren die
Bürger in ihrem Viertel beisammen, und beratschlagten sich wie
sie es mit einem Ehrb. Rathe machen wollten, aber sie wurden in
nichts einig.
Auf dem Montage hernach zu 6 Uhr brannte es zu Bolstedt.
Da wollten die Herrn zum Feuer schicken. Da kam ihnen eine
Botschaft, dass sie alle Thore zuschlössen. Und Hessen ausrufen,
wer bei den Herrn stehen wolle, der solle auf das Rathhaus kom-
men. Da richteten die zu S Nicolaus ein Crucifix auf, das man
pfleget bei dem Begräbniss zu haben, und trugen es in der Stadt
herum, und Hessen ausrufen, wer bei dem Leiden und Sterben
und Worte Gottes stehen wolle, der solle nach S. Nicolaus kom-
men. Da legten sich die von S. Nicolaus und die es mit ihnen
hielten, in das Felchtathor mit gewappneter Hand, und "vermeinten
das Thor mit aller Macht offen zu halten, denn die andern waren
alle verschlossen. Dieweil nun ein Ehrb. Rath hierbevor allen
Bürgern in der Stadt und den Männern auf den Dörfern verboten
hatte, Heinrich Pfeifern einzunehmen oder zu hausen, und der
aufrührerische Haufe zu S. Nicolaus sich so heftig mit dem Hein-
rich Pfeifer wider einen Ehrb. Rath legte, gedachte er dieselben
mit seinen Bürgern und Unterthanen hinwegzulreiben. Darauf be-
fahl ein Ehrb. Rath seinem Ausreuter, Kersten Babst, der hatte an
die 200 Mann von den Dörfern gebracht. Aber ein Ehrb. Rath be-
sorgte, wenn die Männer von den Dörfern in der Stadt seyen,
dass die Dörfer möchten Schaden nehmen. Und haben bei 60 Mann
in der Stadt behalten, und die andern wieder heimziehen lassen.
Und sie haben das Felchtathor auch zugeschlossen, und einen Tag
zugelassen. Und haben die Herrn zwei neue Rathsmeister erwählt
an Rodemanns und Wittichs Statt, als Hans Linssen und Claus
Beissele. Den andern Tag haben sie das Thor wieder geöffnet.
25*
376 Heinrich Pfeifer und Thomas Münzer
Da ist Pfeifer wieder in die Stadt kommen, und haben die Bor-
ger, auch etliche von S. Nicolans Gehorsam gelhan. Des Abends
aber wollten sie das Thor nicht schliessen lassen. Da wollte ein
Ehrb. Rath mit Karnbüchsen davor rücken. Da sagten sie, es
sollte in Friede stehen, sie wollten den Morgen alle Gehorsam tbun.
Dienstags frühe sind die Bürger mit der besten Wehre
aufs Rathhaus gefordert worden. Da hat ein Ehrb. Rath auf dem
Barfüsser Kirchhofe den Gehorsam von denen genommen, die ihn
zuvor nicht gelobt hatten. Und sobald hat man in den Kirspeln
und Vierteln umgefragt und ist beschlossen, dass Pfeifer und All-
stedter die Stadt räumen sollten. Und sobald es angekündigt wor-
den, da gingen viel Bürger mit ihnen, und es ward ein Friede
ausgerufen, dass niemand den andern mit Worten oder Werken
beleidigen solle bei Leibesstrafe. Unterdess predigten in der Stadt
etliche Mönche, welche aus den Klöstern gelaufen waren und die
Kappe hingelegt hatten, als Rothmeier, Köler und er Johann Lauwe,
der zuvor ein Teutschpriester gewesen war. Die waren aber
nicht so böse als Allstedter und Pfeifer. Es war auch Johann
Lauwe nicht mit in ihrem Bündniss. Sie wurden auch alle drei
ehlichen Standes, und das Volk hörte sie gern.
In diesem 1524 Jahre am Tage Luciae sind die beide, Allsted-
ter und Pfeifer, wiederum in die Stadt kommen ohne der from-
men Bürger Wissen und Willen. Und ist ihr Anbang noch grösser
worden von Bürgern und Bauern, Heimischen und Fremden, also
dass ein Ehrb. Rath nicht mehr steuern konnte und die Thore
verschliessen. Und gingen die Herrn mit gewappneter Hand aufs
Rathhaus und Hessen die Bürger fragen, wer bei einem Ehrb. Rath
stehen wollte oder nicht. Da sprachen sie des mehren Theils, sie
wollten bei einem Ehrb. Rath Leib und Gut lassen, bis etliche,
etwa bei 110 Mann, die wollten bei Pfeifern stehen. Da biess sie
ein Ehrb. Rath auf den Barfüsser Kirchhof gehen. Da liefen sie
vor das Felcbtathor zu Pfeifern. Da rausste ein Ehrb. Rath mit
ihnen in Güte handeln , auf dass kein Todscblag in der Stadt ge-
schähe. Und stunden die Thore drei Tage zu. Da liess man die
Viertelsherrn oder Achtmänner vor jedes Thor ein eigenes Schloss
legen, auf dass ein Ehrb. Rath die Thore nicht allein schliessen
könnte. Allstedter der war in der Stadt und predigte und hatte
einen grossen Anhang oder Zulauf. Wo er auch auf der Strasse
von jemand gefragt ward, so hatte er auch sein Buch bei sieb,
setzte sich nieder und lehrte öffentlich, also dass sehr viel Volkes
ihm allenthalben nachlief. Seine Lehre war von der ausser liehen
Freiheit wider die Obrigkeit und den Adel. Verteutschte die la-
teinischen Responsorien , Messe und andere Gesänge, liess auch
in Mühlhausen. 377
teutsche Messbücher schreiben und drucken, wie ihrer alhier noch
etliche vorhanden gewesen sind vor wenig Jahren.
Donnerstag nach Luciae früh predigte Pfeifer zu S. Nicolaus.
Da liefen viele Bürger hinaus. Da Hess ein Ehrb. Rath ausrufen,
es sollte ein jeder Bürger in die Meissnergasse kommen bei Ge-
horsam und darin bleiben bis ein Ehrb. Rath komme. Da ist ein
Ehrb. Rath umgegangen und Befehl gethan, dass die Bürger aufs
Rathhaus gingen, und hat die Thore zuschliessen lassen, also dass
viel Bürger und Bürgerinnen, so zur Predigt gegangen waren, die
mussten den Tag vor dem Thore bleiben. Und die andern Bür-
ger waren auf dem Ralhhause bis auf den Freitag zu Abend. Da
zogen sie mit 3 Karren Büchsen zum Frauenthore hinaus, machten
Ordnung auf den ßlobach, aber sie wurden unter einander uneins,
und kehreten wieder um in die Stadt, und richteten nichts aus.
Dieselbige Nacht um 1 Uhr forderte man die Bürger wieder
mit der besten Wehre aufs Ralhhaus. Da berathschlagte ein Ehrb.
Rath die Sache, und ward ein Rath gefunden, dass man dGn Sonn-
abend früh den Hauptmann Eberhart von Bodungen zu dem Hau-
fen in die Vorstadt zu S. Nicolaus reiten liesse. Der brachte ein
Geleit aus, und ward die Sache in Handlung genommen.
Als r.un ein Ehrb. Rath in solcher Gefahr stand, und der
Haufe so gross und gewaltig worden war, der dem Pfeifer und
Allstedter anhing, dass sie nichts wider sie vornehmen durften,
besorgte sich derselbe, es würde zuletzt übel abgehen. Denn
die Viertelsmänner waren mächtig, und die ganze Gemeine hing
ihnen an wider den Rath. Darum auch nicht allein die beiden
Rathsmeister, Rodemann und Wittich, sondern viel mehr Raths-
herrn und Bürger von Tag zu Tag aus der Stadt wichen, welchen
zum Theil die aufrührerischen Räthe vor die Häuser gelaufen, und
die Kinder und Weiber nachgejagt. Haben derohalben für not-
wendig bei sich erachtet um Rath und Hülfe anzusuchen. Haben
derowegen den Rathsmeister Barbet Probst an den Römischen
Kaiserlichen Statthalter im Reiche, Ferdinandum, hernachraals an
den Römischen Kaiser und König abgefertigt, solcher gemeiner
Stadt Beschwerung wegen, welche sie wegen der Prediger hatten
müssen leiden, welche sie hier bevor Anno 1522 auf Kaiserlicher
Majestät Befehl aus der Stadt geschafft, und sich dieselben ohne
ihr Wissen und Willen nun zum andernmale mit einem grossen
Anhange wieder eingeschlichen. Können Ihrer Kaiserlichen Maje-
stät zu klagen, Hülfe und Schutz zu bitten keinen Umgang haben.
Welcher Rathsmeister Probst auch etliche Wochen aussen gewe-
sen. Als er aber an den Ort kommen ist, dahin er Befehl gehabt,
und der Herr Statthalter aufgebrochen und ausser dem Lande
verreiset war, ist er wieder umgekehrt und unverrichteter Sache
378 Heinrick Pfeifer und Thomas
wieder zu Hause gekommen, da es ihm auch an Gelde gemangelt
halle, und hat nichts ausgerichtet. Dass die Herrn des Rathes,
dieweil die Sacheu immer arger geworden waren, gar sehr er-
schrocken, und des äuserslen Verderben gewarten müssen.
1525- In den Weibnachtsfeiertagen im Anfange des 1535 Jah-
res hat der aufrührerische Haufe die Mönchs- und Nonnenklöster
gestürmt, die Personen herausgejagt, zerschlagen und zerschmis-
sen was darinn geweseu ist, und daraus genommen, was sie darin
funden. Doch hat ein Ehrb. Rath erwehret mit einem Viertel, dass
das Nonnenkloster nicht geplündert worden ist. Und hat ein Ehrb.
Rath viel Geschmeide daraus aufs Rathhaus genommen, und welche
Jungfrauen gewollt, die bat mau bleiben lassen, und im Rebenthur
versorget mit Essen und Trinken, dass sie daselbst beten sollten,
in der Kirche aber sollten sie gar nichts zu thun haben.
Circumcisionis haben sie die Altäre in der Kirche Blasii und
in den Klöstern eingerissen, und zu S. Blasii einen Altar vor das
Chor gesetzt, welches als es ein Teutschherr Caspar Rudolf ge-
stritten und einen Tisch haben wollte, nach den Worten des Tex-
tes, darauf man das Abendmal solle halten, bat er weichen müs-
sen und nicht mehr predigen dürfen.
Im Predigerkloster haben sie auch die Stühle des Hauptmanns
Wenzel Wolf und anderer mehr sammt dem Gewölbe Böber und
dem Chor eingerissen und zerschlagen.
Am Tage tri um Regum rissen sie die Rüder und den Altar
Unserer lieben Frauen nieder und zerschlugen sie. Und Herr Jo-
bann Lauwe, der ein Teutschherr gewesen war, der nahm etliche
Rüder und verbrannte sie, und das schöne Vesperbild. Da ward
in der Kirche ein Altar, gleichwie zu S. Blasii, vor das Chor
gesetzt.
Sonnabends nach trium Regum warfen sie die Schilde und
Helme zum Barfüsser alle nieder.
Sonntags nach trium Regum predigte einer zu S. Blasii. Da
kamen bei 60 Mann von S. Nicolaus, und warfen das Marien-
bild mit dem Engel nieder. Der Prediger musste von der Kan-
zel gehen.
Dienstags hernach führte man die Stühlchen aus dem ßarfüs-
serkloster in Unserer lieben Frauen Kirche, und- setzte sie darein,
wie sie jetzund darin stehen. Aber sie wurden nach Eroberung
der Stadt wieder ins Kloster geschafft, und hernach bei Justo
Menio anno 1542 wiederum in Unserer lieben Frauen Kirche
gesetzt.
Vor Fastnacht ohngefähr warfen sie Thomas Münzer zum Pre-
diger auf zu Unserer lieben Frauen. Da zog er auf die Pfarre.
Da mussten die Teulschherrn weichen, denn es hatte ein Ehrb.
in Mühlkauten. 379
Rath zuvor neben den Achtmännern viel an den Landcommentur
geschrieben und begehrt, die Kirche mit tauglichen, christlichen
Prädicanten zu versehen, aber der Landcommentur that nichts da«
bei. Der Rath und die Gemeine wussten hiervon nichts, denn
die von S. Nicolaus, Peter und S. Jörgen, die machten den Mün-
zer zum Pfarrer.
Bald in der Fasten zogen die Bürger, auch der Hauptmann
mit den Reisigen auf das Wendewerk. Da musterte man die Bür-
ger, und Münzer predigte daselbst. Darnach liefen sie in das
Nonnenkloster, zerschlugen die Zellen, frassen und söffen, und
führten ein Fass Bier nach dem andern zu S. Nicolaus.
Diese Zeit waren Ralhsmeister er Heinrich Baumgarle und Jo-
hann Heyge. Da begehrten die bei Münzer und Pfeifer waren,
dass sie mit zu Regiment sitzen wollten, und suchten sonst viele
andere ungereimte Dinge mehr. Darum ein Ehrb. Rath fast drei
ganze Tage mit ihnen in der Aller Heiligen Kirche handelte. Als
ihnen aber ein Ehrb. Rath solches nicht willigen wollte oder konnte,
haben sie begehrt ein ander Regiment zu wählen. Darauf sind
alle Bürger neben dem Rathe auf Donnerstag nach Reminiscere in
Unserer lieben Frauen Kirche gefordert worden. Da ist Pfeifer
auf den Predigtsluhl getreten und hat gesagt:, Es hat der alte Rath
bewilligt, man solle einen neuen Rath wählen. Darauf ein Bürger,
Conrad Peter, den Ralhsmeister Heinrich Baumgarten auf die Ach-
sel geschlagen und gesagt, was sagt ihr dazu. Als hat der Bür-
germeister wider Pfeifern gesagt, Herr, der Rath hats nicht ge-
willigt, sondern wir haben gesagt, da es eine Gemeine ja so haben
wolle, müssen wir es geschehen lassen. Darauf hat man einen
jeden insonderheit gefragt, ob er es mit dem alten Rathe und sei-
nen Sachen halten wolle, oder ob er es mit einem neuen halten
wolle. Als haben viele Bürger und der grösste Theit aus Unwis-
senheit und Bedrohung den neuen Rath bewilligt. Etliche aber
haben bei dem alten Rathe bleiben wollen. Da nun durch 4 Schrei-
ber eines jeden Stimme angezeigt, ist Pfeifer auf die Kanzel wie-
der getreten, und hat die Namen gelesen und gesagt, man befin-
det, dass wohl dreimal so viel sind, die zum neuen Rathe willigen,
als die zum alten. Und sind also wieder von einander gegangen.
Man sagt, dass der, so den neuen Rath gewilligt, sollen elf Schock
seyn, und derer, so den alten Rath bewilligt, 3 Schock und 24 Per-
sonen gewesen seyen.
Vom ewigen Rathe. 1525.
Freitags nach Reminiscere früh sind sie aufs Rathhaus gegan-
gen. Daselbst haben sie den alten Rath seiner Aemter entsetzt,
die ein jeder hat müssen den zweien, Münzern und Pfeifern und
380 Heinrich Pfeifer und Thomas Münzer
den Achtmännern übergeben. Und haben einen neuen Rath der»
massen erwählet, dass der ewig seyn und heissen sollte, und stets
für und für regieren sollte, und keiner daraus erlassen werden,
er sterbe denn, der doch nicht ein Vierteljahr regiert bat und sehr
übel. Denn Null um violentum perpetuum esse potest. Und sind
folgende die Personen desselben gewesen, welche einestheils Un-
danks gewollet, und dazu gedrungen worden sind.
Montags nach Laetare und dieselbe ganze Woche haben sie
in dem Barfüsserkloster die Messge wände, Sammet, Seide, Perlen
und anderes verkauft.
Dieses sind die Herrn des ewigen Raths gewesen: Sebastian
Künemundt, Heinrich Baumgart der jüngere, beide Ratbsmeister,
Reinhard Lamhart, Johann Belstedt, Hans Helmbold, Claus Tuch-
scheerer, Daniel Beyer, Härtung Werten, Heinrich Ludewig, Hein-
rich Bernhard, Simeon Volckenandt, Lips Götzigerodt, Curt Griss-
bach, Ludewig Sänne, Cyliax Wida, Hans Ruppel.
Sobald nun der neue ewige Rath gewählet worden ist, hat
man ausgerufen, dass jederman, auch Aller Gesinde demselben
Gehorsam thun müsse, und hat darauf angefangen und teutscbe
Messe in beiden Kirchen gebalten.
Da hat Doctor Johann de Otlera öffentlich gesagt, er hätte die
Gewaltigen vom Stuhle gestossen und die Niedrigen erhöhet. Welch
ein wunderbarlicher Gott ist das! Und dieser war der Schreiber
einer, der die Namen verzeichnet, welchen Rath ein jeder wäh-
le te, denn es waren vier. Und viele Namen wurden verzeichnet,
als hätten sie den neuen Rath gewählt, die es nicht gethan hatten.
Und der Doctor war die Zeit und zuvor der Stadt Syndicus.
Montags nach Quasimodogeniti ist ein Bauer von Nordhausen
in Unserer lieben Frauen Kirche vor allem Volke mit Münzern
und Pfeifern zum Disputiren kommen über die Frage von dem
Coinelio in Actis, ob ein jeglicher Mensch damals den heiligen
Geist empfangen, und ob auch jetzo ein jeder den heiligen Geist
habe oder nicht. Und diese Disputation hat gedauert von 11 Uhr
bis zu 3 Uhr. Etliche haben des Bauern gelacht, etliche haben es
mit ihm gehalten. Aber endlich haben sie ihn müssen zur Kirche
hinausbringen, sonst wäre er mit dem Leben von dem Haufen
nicht kommen. Er ist den Steinweg hinabgegangen nach dem Thore.
Mittwoch nach Quasimodogeniti zogen Münzer und Pfeifer aus
der Stadt Mühlhausen mit 400 Mann allerlei Volks ohngefähr, mit
einem weissen Fähnlein, darin stand ein Regenbogen. Sagten, sie
wollten mustern. Als ihnen aber angezeigt wird, dass zu Salza ein
Auflauf seyn sollte, zogen sie nach Salza, und erboten sich den
christlichen Brüdern zu Hülfe zu kommen. Aber die von Salza
dankten ihnen, und verehrten sie mit zwei Fass Bier; die tranken
in Mühlhausen. 381
sie auf dem Ritte nach Gottern, und blieben die Nacht zu Gon-
ge da. Donnerstag nach Quasimodogeniti sind sie nach Germar ge-
zogen, haben daselbst ein Lager auf dem Kirchhofe gemacht, und
blieben die Nacht alda.
Freitags früh nach Quasimodogeniti zogen sie gen Schlotheim.
Da liefen viel Buben zu. Da stürmten sie das Jungfraukloster, dar-
nach das Junkernhaus. Da war die Edelfrau im Kindbette. Die
schütten sie aus den Tüchern, nahmen alle Kleinodien, und was
ihnen diente, und zogen fort gen Volckeroda, thaten auch also, und
führten den Raub gen Germar. Da hatten sie eine Küche aufge-
schlagen und zwei Zelte. Als sie daselbst die Beute auslheilen
wollten, sind die Eichsfelder sehr stark auch mit acht oder neun
Wagen kommen, darauf gewesen Speck, Glocken, Hausrath und
Geschmeide, und haben angezeigt, dass sie solches auf dem Eichs-
felde aus den Klöstern genommen. Da hat sie der Münzer empfan-
gen und als christliche Brüder gelobt, und zu seinen Brüdern an-
genommen. Und ist er der Münzer sobald auf ein Pferd gesessen,
und hat im Felde eine Predigt gethan, und nach der Predigt den
Raub gleich unter die Buben von Mühlhausen und dem Eichsfelde
ausgetheiit.
Bei diesem Haufen und Zuge sind wenige Bürger, kein Raths-
herr von Mühlhausen gewesen, allein einer, Jost Henneberg genannt,
der zuvor des Rathes Ausreuler gewesen ist. Der halte auf einem
Morgen vor dem Hauptmanne hergeritten, und Hess sich einen
Hauptmann schelten. Die andern sind allerlei zusammengelaufenes
Volk gewesen, welches dem Pfeifer und Münzer gefolgt, und auch
zum Theil in der Stadt bei ihnen gewesen.
Er Johann Lauwe ist nicht mit diesen Zweien einig gewesen,
darum ist er in der Stadt blieben und hat gepredigt, aber doch
letztlich aus Furcht aus der Stadt kommen. Aber er ist wieder
nach der Empörung gefangen.
Sonnabends früh sind Pfeifer und Münzer mit ihrem Volke,
auch der Eichsfeldische Haufe, der mit einer gelben und grünen
Fahne zu ihnen aufm Ritte zu Germar kommen war, nach Ebe-
leben gezogen, haben daselbst das Schloss geplündert, zerrissen
und zerschlagen was sie konnten, den Wein ausgesoffen, das Korn
auf dem Felde aus den Gruben gelangt, die Teiche gefischet, auch
zu Sussra die Nonnen gestürmet, geplündert, item das Schloss zu
Almenhausen und andere mehr. Schickten den Raub gen Mühlhau-
sen in die niedere Pfarre, viel Wagen voll und grosse Haufen. Da
bat der neue Rath die Bürger gezwungen, dem Haufen Bier und
Proviant nachzufahren, wohin sie zogen.
Als nun der Haufe von Ebeleben wieder auf seyn wollte, haben
sie die Gemeine gehalten, und der hat Münzer im Ringe angezeigt,
382 Heinrich Pfeifer und Themas Münzer
dass sie nach Heiderungen ins Mansfeldische Land ziehen wollten.
Da sind etliche Eichsfelder, als Hans M eh aussen, Hans Stein, Hans
Kirchworbis und andere mehr hervorgetreten, und haben um Got-
tes willen gebeten, man wolle mit ihnen auf das Eichsfeld ziehen,
und sie zuvor von der bösen Obrigkeit erretten. Denn die Edel-
leute waren schon in Dingelstedt gefallen , und wollten alle armen
Leute ermorden, wie sie ihnen al bereit viel zu Leide gelhan hat*
ten. Darum wolle man ihnen zu Hülfe kommen und sie rächen.
Denn ehe man wieder von Heiderungen käme, waren sie alle ver-
loren. Damit sie Münzern und Pfeifern bewegten, dass sie die
Spitzen gewandt nach dem Eichsfelde. Dabei haben auch etliche
Grafen und Edelleute gehalten, welche sie auch zu Brüdern ange-
nommen haben.
Dess sind sie auf Kula und folgends auf Orsel gezogen. Da
sind die ältesten Bauern aus Orsel kommen und haben sie zu Ga-
ste gebeten ; denn sie hatten den Edetleuten und den Klöstern alle
Teiche abgestochen, und die firaupfanne genommen, und dieselbe
voll Fische gesotten, dass jederman Fische genug hatte.
Von Orsel nun schrieben Münzer und Pfeifer nach Heiligen-
stadt, man solle ihnen alle Pfaffen und Edelleute, die sie SiboUs-
und Nimrods Geschlecht nannten, aus der Stadt geben. Da schickte
der Rath vier Personen zu ihnen, die um Bedenkzeit baten, aber
sie konnten keine erlangen, sondern zogen mit dem Haufen vor
die Stadt. Da wurden die Prädicanten vor den Rath gelassen.
Und begehrten Münzer und Pfeifer eine'Öration zu thun. Die ist
ihm gestaltet worden, in der Kirche Mariae zu predigen. Und bat
der Rath sie mil Bitten und Flehen auch erbeten, dass sie die ver-
wirkte Strafe sollten erlassen bekommen.
Vor diesem Zuge gen Heiligenstadt waren die Klöster und
Schlösser als Zella, Beuern, Anroda, Teustenburg, Worbis, Scbar-
fenstein, Horburg, Rifenstein albereits geplündert und verwüstet
von den Eichsfeldern und ihren Bauern. Wie auch einer das Klo-
ster Rifenstein, Michael Zimmermann genannt, angesteckt, und
das Feuer zu Bortlof dazu geholt hatte. Als aber dieser Haufe
nichts darin fand, steckten sie die Gebäude vollends an, hier zehn
dort zehn, allerlei Volk, wie sie unter den Haufen waren.
Darnach zogen sie nach Duderstadt. Die machten auch einen
Bund mit ihnen, dass sie wieder abzogen.
Dienstags nach Misericordias sprach Münzer zu dem Haufen,
ihm wäre im Traume angezeigt er sollte nach Aufgang der Sonne
ziehen. Da verliefen etliche Hessen und Eichsfelder. Er aber mit
den Andern zog wieder nach Mühlhausen, und ruhte alda einen Tag.
Auf den Donnerstag früh Hess Münzer die Trommein in der
Stadt schlagen und ausrufen, wer mit wollte ziehen, der sollte sich
in Mühlhausen. 383
rüsten. Aber die Bürger wollten nicht mit ihm, ausser etlicher), die
zogen mit ihm mit dem Haufen vor Frankenhausen. Da lagerten sie sich
in das Feld, und beratschlagten sich wie sie es anfangen wollten.
Unter der Weile dass diese vor Frankenhausen lagen, zogen
Hans von Berlepsch von Sebach und er Apels von Ebeleben Sohn
vor die Stadt Mühlhausen, nahmen ihnen das Vieh in dem Felde.
Da folgten die Bürger mit Geschütz nach Sebach, und nah mens
ihnen wieder, und wurden zwei von Mühlhausen und drei von Se-
bach erschlagen. Beide Junker sammt ihren Dienern und Mannen
ungefähr in die dreissig Person wurden gefänglich in die Stadt ge-
führt und darin behalten, bis die Fürsten hineinzogen. Hans Koch,
Hans Axt und zwei edle Spiessbuben wurden auch mit gefangen.
Als nun eben die Zeit der aufrührerischen Buben halben der
Landgraf zu Hessen, auch die beiden Chur- und Fürsten zu Sach-
sen Gevattern ihr Kriegsvolk zusammengehabt, sind sie damit auch
nach Frankenhausen gezogen. Alda ist der Herzog von Braunschweig
auch zu ihnen gekommen, haben daselbst auf den Montag nach
Cantaie den Münzerischen Haufen angegriffen, unter sie geschossen
und denselben Haufen geschlagen, also dass bei 700 auf der Wahl-
statt blieben. Und haben die Stadt Frankenhausen eingenommen,
und haben den Münzer darin gefunden und gefangen genommen,
und mit sich gen Schlolheim ins Lager geführt.
Diese und die folgenden Tage stürmte man heftig in der Stadt
Mühlhausen, hütete an den Thoren und wachte auf den Thürmen.
Denn der Fürsten Reuter ritten im Felde, steckten das Dorf Am-
mera an, verbrannten alle Hauser unter der Brücke, nahmen den
von Rissern ihr Vieh, führte ns ins Lager bei Schlotheim. Da ge-
schahen viele Schüsse von den Thürmen und Mauern.
Die ausgewichenen beiden Bürgermeister Rodermann und Wit-
tich waren im Lager bei den Chur- und Fürsten, alles, wie es in
der Stadt ergangen, berichtend. Darum zogen sie mit alle ihrem
Volke von Schlotheim weg, und zogen bei Germar, und forderten
von der Stadt Mühlhausen die Aufrührer, die noch darin wären,
auch alles derselben Habe und Gut zu ihren Händen, doch mit Er-
bietung dass sie der Unschuldigen Gut und Blut nicht begehrten,
sondern allein die Aufrührerischen, derer sie in der Stadt mächtig,
strafen, und ein Ehrb. Regiment wiederum bestätigen wollten.
Darauf wurden Viele in der Stadt gewarnet, und ward des
Nachts ein Thor geöffnet. Da machten sich viele Bürger mit dem
Pfeifer und andern Pradicanten in der Nacht hinweg. Meinelen
sie wollten davon kommen, aber sie liefen den Feinden mehren*
theils in die Hände. Ihrer waren 300. Wurden viele zu Eisenach
mit Pfeifern gefangen und ins Lager bei Germar geführt. Und ih-
rer wenige kamen davon.
384 Heinrich Pfeifer und Thomas Münzer
Des Morgens in vigilia ascensionis hiess man alle Bürger auf
den Barfüsser Kirchhof kommen. Da Hess man ausrufen durch
Doclor Johann de Ottera, wer mit vor Ebeleben oder anderswo
unbezwungen gewesen wäre, oder anderswo was gethan, das er
nicht verantworten könnte, der möchte seines Besten gedenken, da
er das Leben behalten wolle. Denn es wären die Fürsten da, die
begehrten dass man ihnen die Stadt wollte aussgeben. Darum
könnte ein Ehrb. Rath nicht gut seyn vor Schaden. Wie aber der
Doctor solches redete, fing einer an, Thilla Gotter genannt, wie aber
die, so bei Gehorsam sind geheissen worden etwas zu thun, miU
zuführen und anderes. Als der Thilla Gotter diese Worte redete,
sprach einer darauf, da kommt er. Da meinten sie der Haufe käme,
und ward ein solch Laufen, dass viele die Schuhe und Hüthe da-
liessen. Da ward ein grosser Auflauf in der Stadt, aber die Ur-
heber waren des mehren Theils die Nacht zuvor gewichen.
Darnach beschlossen die Herrn in grosser Noth und Angst, und
Iie3sen allen Weibern und Jungfrauen anzeigen, dass sie sich schick-
ten, die Jungfrauen mit Wermuthen- Kränzlein und die Frauen in
dem iith igen Kleidern, als wenn man um jemand bitten wollte. Und
sie kamen alle zusammen an die 1200 Frauen und bei 300 Jung-
frauen. Den zeigte man an, dass sie mit einem Bolen in der Für-
sten Lager gehen, und mit gefalteten Händen um Gnade bitten
sollten. Wie dann eine, die Urbachen genannt, der ist Befehl ge-
schehen das Wort zu thun. Nach derselben sollten sie sich alle
richten und halten. Da sind sie also mit grossem erbärmlichem
Zittern des Tages Ascensionis domini in das Lager kommen, haben
einen Fussfall gethan und um Gnade gebeten.
Gleichergestalt sind auch alle Mannspersonen jung und alt, die
nur haben gehen können, mit blossen Häuptern und barfuss und
mit gefalteten Händen den Fürsten entgegen gegangen in das Feld,
und haben um Gnade gebeten, welche alle die Reisigen um sie ge-
stellt und alles Geschütz aufgerichtet, aber ihnen doch bald mit
glimpflicher Antwort begeguet, und sie etwas getröstet haben. Und
als der Herzog von Braunschweig bei sie reitet und sagt, gebet
doch Platz, da fielen sie alle auf die Knie und platzten alle mit
den Händen.
Und also haben sie aus Vertröstung ihrer Unschuld sich, ihre
Weiber und Kinder, Stadt und Habe und Gut ihnen den Chur- und
Fürstlichen Gnaden und Ungnaden ergeben, auch das man von ih-
nen begehrt nochmals gewilligt, allein des heiligen Reiches Gerech-
tigkeit an der Stadt vorbehalten. Da ward der Sühnebrief gewilligt
Darauf sind die Chur- und Fürsten am Tage Ascensionis son-
derlich auf die Zusage, dass sie nur die Schuldigen strafen wollten,
in die Stadt Mühlhausen hineingezogen. Und ein grosser Haufe
in Mühlhausen. 385
Kriegesvolk, sonderlich die Reisigen, die folgten den Fürsten nach,
und lagerten sich in die besten Bürgerhäuser. Da sind die Burger,
die znvor entwichen waren, mit den Fürsten eingezogen.
Diese sind wieder von Chur- und Fürsten in ihre Güter ge-
setzt, und ist jeder man geboten sich freundlich gegen sie zu hal-
ten : Christian Rodemann, Johann Wiltich, beide Rathsmeister, Curt
Fleischhauwer, Sebastian Reis, Heinrich Helmsdorf, Herrmann Reiss,
Hans Hemsdorf, Hans Rukerodt, Beriet Probst, Heinrich Mohr, Franz
Spon, Cyliax Hunger, Lorenz Helmsdorf, Curt Sammann, Assmus
Ziegeler, Johann Rodemann, Heinrich Probst, Herrmann Hasse, Mel-
chior Ziegeler, Hans Dangsdorf, Magister Bartholomäus Woltheim,
Priester, er Johann Fleischhauwer. er Bernhard Rodemann, er Mi-
chel Müller.
Auf den Freitag nach Ascensionis Hessen die Chur- und Für-
sten ausrufen in der Stadt und gebieten, dass ein jeder seine
Wehre auf das Ralhhaus bringen sollte, wie denn Abends zuvor
auch geboten bei Leibesstrafe. Denn wer es nicht tbäte, der
sollte Leib und Gut verloren haben. Da trug ein jeder seinen
Harnisch und Wehre hinauf. Das Beste nahm der Fürsten Ge-
sinde, das Andere blieb zum Tlieil auf dem Ralhhause, zum Theil
ward es den Bürgern wiedergegeben. Desselbigen Tages um
4 Uhr gegen Abend Hessen die Fürsten den Schuster, Jacob
Schütze genannt, mit dem Schwerte richten auf dem Obermarkte.
Auf den Sonnabend Hessen sie alle Bürger auf den Obermarkt
fordern und zeigeten ihnen an der Fürsten Befehl.
Sonntags Exaudi hielt man wieder lateinische Messe in der
Stadt, da war kein Rath in der Stadt.
Montags nach Exaudi gingen die Fürsten alle in Unserer lie-
ben Frauen Kirche. Und alle Bürger, so in der Stadt waren,
und die Bauern, so auch noch in der Stadt waren, mussten alle in
die Kirche gehen. Da Hessen die Fürsten den Vertrag laut des
Sühnebriefes ausrufen. Darauf mussten sie den Fürsten alle
schwören. Und man rief bald darauf aus, wer etwas zur Beute
von Ebeleben oder anderswo, auch aus den Klöstern bekommen
hätte, oder gekauft, der solle es wiedergeben bei seinem Eide.
Es folget der Eid des neuen Ralhes. ,
Den durchlauchtigsten , hochgebornen Fürsten und Herrn,
Herrn N. N., unsern gnädigsten Herrn, als unsern rechten Schutz-
herrn, geloben und schwören wir in Römischer Kaiserlicher Ma-
jestät und Ihren Churfürstlichen Gnaden, alle und jede Sache der
Stadt Mühlhausen, die einem Rathe daselbst auszurichten gebührt,
zufördersl Kaiserlicher Majestät, dem heiligen Reiche und Ihren
Fürstlichen Gnaden, als unsern Erbschutzherrn, und der Stadt
Mühlhausen zu ihrem Nutzen und Guten, treulich und fleissig nach
386 Heinrich Pfeifer und Thomas Münzer
unserm besten Verstandniss verwahren, förseyn und ausrichten
zu wollen. Darin keine Gabe, Freundschaft, Liebe, Gunst, Vor-
wandniss oder einiger ungewöhnlicher Vorlheil , noch nichts an-
sehen) suchen, ganz in keinem Wege. Dass wir auch wollen allem
und jedem Kaiserlicher Majestät, Chur- und Fürsten Gnaden Ge-
bot und Verbot gehorsam und gewärtig seyn, und uns daran
nichts hindern lassen, so uns auch in rechtlichen Sachen zu han-
deln gebührt, dass wir alsdann darin nach unserm höchsten Ver-
standniss und Gewissen nach beschriebenen kaiserlichen Rechten
und dieser Stadt löblichen Statuten und Gewohnheiten recht ur-
theilen dem Reichen als dem Armen. Und ob jemand wäre, der
in dieser Stadt einige Empörung fürnehme oder suchte, oder för-
derte , dass wir denselben oder dieselben von Stunde an gefan-
gen nehmen und solche Empörung nach unserm höchsten Ver-
mögen zerstören und trennen wollen. Und ob uns solches zn
schwer wäre, an die Kaiserliche Majestät oder an unsern Erb-
schutzherrn dasselbe gelangen zu lassen, und uns alsdann nach der-
selben Bescheid halten wollen, treulich und ohne alle Gefährde,
als uns Gott helfe und sein heiliges Evangelium.
Darauf ist auch sobald der Gemeine geboten, dem Rathe von
wegen der Chur- und Fürsten bürgerliche Pflichten zu thun und
Gehorsam zu leisten, und alles zu geben, was sie von Alters vor
dieser Empörung gegeben haben. Dafür sie sich in diesem Auf-
rühre gefreiet und mit dem vermeinten ewigen Rathe vereiniget,
ist gänzlich für nichtig und aufgehoben erklärt worden.
Auch setzen die Chur- und Fürsten sobald einen neuen Schult-
heissen, Doctor Johann de Ottera, auf den Montag nach Trinitatis.
Der musste ihnen auch sobald schwören, von wegen der Chur-
und Fürsten jederman ewiglich Recht widerfahren zu lassen.
Demnach liessen sie 4 Mann mit dem Schwerte auf dem
Obermarkte richten, mit Namen Herrmann Holzapfel, einen Feld-
hauplmann von Eisenach und einen alten Mann, war von Allstedt,
und Kurt Knieriem, war von S. Nicolaus. Auch liessen sie des
Tages die beiden Bürgermeister des ewigen Rathes greifen, Ba-
stian Künemund und Heinrich Baumgarte den jüngeren. Da ward
Künemund um Vesperzeit auf dem Obermarkte mit dem Schwerte
gerichtet, und neben den andern 4 Mann auf dem Kirchhofe Un-
serer lieben Frauen begraben. Heinrich Baumgarte junior ward
gefänglich gen Rochlitz geführt, aber doch wieder gen Mühlhausen
geschickt. Da musste er in seinem Hause bis an seinen Tod ein
Lager halten.
Im Lager bei dem Dorfe Germar sind von den Gefangenen
261 Personen mit dem Schwerte gerichtet worden. Dessgleichen
süid! aäch Mlrazer und Pfeifer dieselbe Zeit mü dem Schwerte
in Mühlhausen. 387
gerichtet worden , und hernachends gespiesset. Und ist Münzer
auf den Schadeberg auf die Höhe zur linken Hand, wenn man
hinaufgehen will, und Pfeifer an den hohlen Weg, wenn man
hinunter nach Bolstadt gehen will, gesetzt worden.
Dieselbe Zeit haben die Chuf- und Fürsten auch aller gemei-
ner Stadt Silbergeschirr, Vorralh von Getreide zu sich genommen.
Und haben ihnen den Chur und Fürsten die von iMühlhausen die
aufgewandten Kriegeskosten und den Klöstern und denen vom
Adel ihren erlittenen Schaden erlegen und bezahlen müssen. Hier-
über haben auch die Chur- und Fürsten die Gerichte der Dörfer,
die zur Stadt gehörig, mit allem ihrem Einkommen und die Be-
stätigung des Regiments Alles an sich genommen, welches auch im
selben 1525. Jahre Mittwochen am Abend Ascensionis domini und
die folgenden Tage geschehen ist.
Da nun solches Alles geschehen, liessen die Chur- und Für-
sten durch einen von Schönburg in der ganzen Stadt ausrufen
einen öffentlichen Frieden und Sicherheit allen Bürgern und Un-
terthanen.
Darauf dann viele Unterthanen von den Dörfern mit demjeni-
gen, was sie in die Stadt geflüchtet, wiederum zu Hause gezogen.
Denselben wurden auch Friedebriefe gegeben, darin der Fürsten
Wappen gemalet. Die schlugen sie öffentlich an ihre Thore an
den Vorhöfen. Sie wollten also ferner unbeschädigt bleiben.
Aber diesem allen ungeachtet haben die Eichsfetdischen Edelleute
und andere, so auf dem Schlosse Rüste gelegen, derer Hauptmann
Hans von Nungeroda gewesen, und mit ihm der Vogt Matthäus
Huneborn und der Probst zu Amroda, Arnold. Luckant, auch der
geistliche Mönch und Daniel der schwarze Mönch, Matthias zu
Rifenstein den armen Leuten ihren Jammer gemehrt, und grossen
Muthwülen mit ihnen gelrieben. Denn erstlich haben sie einem
Ehrb. Rathe zu Mühlhausen zwei Warten, als den Ziegenrain und
den Eichel ausgebrannt und zerstört.
Darnach haben sie das Vieh zu Dörna, Holmbach und Leng
feld alle genommen und hinweggetrieben, die Kirchen beraubt
und die Häuser geplündert. Letztlich haben sie das Dorf ange-
zündet und dergestalt erbärmlich verbrannt, dass zuletzt zu Dörna
nicht mehr als zwei Häuser blieben Zu Holmbach brannten sie
die Kirche hinweg, blieben auch gar wenige Häuser daselbst.
Der Vogt Matthäus Huneborn auf dem Scharfenstein sagte zu
Lengefeld zu den armen Leuten, als sie auf dem Kirchhofe sassen,
seid ihr noch Martinisch? Wir wollen euch lutherischen Buben
jetzt lehren. Darauf ist er in die Kirche gefallen, hat dieselbe be-
raubt und das Dorf angesteckt.
Dieser Schade, welcher von den Eichsfeldern geschehen ist,
388 Heinrich Pfeifer und Thomas Münzer
ist an 21000 R. allein geachtet worden. So bat zuvor Karsten von
Schmalslieg und der von Bauerbing mit dem einen Auge und die
Hessischen das Dorf Eurcden geplündert, und gar in Grund hin-
weggebrannt, dass nicht ein Haus daselbst geblieben ist.
Als nun die letzten Feuer zu «Dörna, Lengefeld und Holmbach
von den Thürmen in der Stadt gemeldet worden, und es die im
Lager gesehen, haben sie etliche Reuter zu den Eichsfeldern ab-
gefertigt, die ihnen angezeigt, es wäre im Frieden bedinget, sie
sollten nicht brennen. Darauf sie mit einander ins Lager geritten.
Da nun die armen Leute solchen grossen Schaden, der ihnen im
Friedstande zugefüget, beweinten und dem Herzoge von Braun-
schweig klagten, thal dieser eine gnädige Fürbitte für sie gegen
die Einspänniger , dass sie ihnen einen Theil ihres Viehes sollten
wiedergeben.
Unterdessen haben die Chur- und Fürsten in der Stadt mit
den betrübten Leuten die Dinge, im Sühnebriefe bewilligt, vor die
Hand genommen, und versprochen, demselben Folge zu thuo.
Und ist die Summe und der Inhalt desselbeu Sühnebriefes, dar-
über der Ralh einen Revers hat geben müssen, ohngefähr dieser
folgenden Gestalt gewesen.
Es waren darin die von Mühlhausen beschuldigt, dass sie
aller Empörung und Aufwiegelung im Lande zu Thüringen Ursache
gegeben, dass sie andere an sich gehangen, Kirchen, Klöster,
Dörfer, Städte, Edelleute beraubt, geplündert, verbrannt hätten,
mit 800 Mann zu Felde gezogen seyen, alle Obrigkeit hätten ver-
treiben wollen, alles in vermeintem, bösem, evangelischem Schein,
wider die Kaiserliche Majestät und des heiligen Reiches Landfrie-
den, alles Recht und Billigkeit, dadurch sie sich aus dem Frieden
in Unfrieden gesetzt, Leib und Gut verwirkt hätten. Dadurch sie
die Chur- und Fürsten bewegt, mit Heereskraft sie zu überziehen
und zu strafen. Jedoch hätten sie dieselben durch ihr Bekennt-
niss und Bitten sje, ihren Leib, Habe und Gut zu Gnaden und
Ungnaden aufzunehmen bewegt, und ferner ihrem Verdienst
nach zu strafen.
Erstlich soll der Kaiserlichen Majestät und dem heiligen Reiche
an ihrer Hoheit und Obrigkeit nichts entzogen, noch sie aus den
Reichspflichten gedrungen sein.
2. Es sollen von denen von Mühlhausen alle Klöster und
Pfarrkirchen Ziemlichermassen auf Herzog Georgs, dem das erste
Jahr die Verwaltung gewilligt, Befehl wiederum angerichtet werden.
3. Es sollen auch alle Güter, so aus fremden Dörfern, Klöstern und
Häusern in die Stadt gebracht worden sind , deu Chur- und Fürsten zu-
gestellt werden, um dieselben ihren Eigenthümern zurück zu geben.
4. Sie sollen auch, um Gottes Zorn zu versöhnen, ein Hospi-
in Mühlhausen. 389
tal für 12 arme alte Leute aufrichten, und dasselbe für ewige
Zeiten unterhalten. Die Fürsten wollen einen Hospitalsmeisler dar-
über setzen.
5. Ein jeder vom Adel soll was er verloren verzeichnet über-
geben. Dasselbe soll in der Stadt gesucht werden, und wenn es
gefunden wird, einem jeden zugestellt werden, dem es gebührt.
Wenn es aber nicht gefunden wird, soll es auf Weisung der
Chur- und Fürstenräthe von denen von Mühlhausen bezahlt wer-
den. Jedoch weil die von Mühlhausen nicht alles bezahlen kön-
nen, so soll der Adel von seinen eigenen Dörfern, die ihn haben
beschädigen helfen, für seinen Schaden Abtrag nehmen. Was
ihnen alsdann mangelt, sollen die zu Mühlhausen bezahlen, jedoch
dass die vom Adel wegen ihres Schadens den Richtern Macht
geben.
6. Es sollen die Gewichenen und welche bei den aufrühreri-
schen Haufen nicht haben seyn wollen, wieder fn die Stadt auf-
genommen, und ihnen das Ihre wiedererstattet werden, und sie
sollen unbelastigt geduldet werden.
7. Es sollen die Dörfer derer von Mühlhausen den Chur - und
Fürsten für die Kriegeskosten wiederkaufsweise eingeräumt wer-
den, dass sie dieselben für 8000 fl. wieder lösen mögen, jedoch
sollen ihnen die Stadt und die Dörfer nichts weniger mit Schutz-
geld folgen, zur Oeffnung und Hülfe ewiglich verpflichtet seyn.
8. Es sollen auch den Weibern der Männer, welche in diesem
Heerzuge entlaufen, gewichen oder losgegeben sind, aus Gnade
die Güter, welche sie von ihren Männern oder ihren Aeltern ha-
ben, sammt ihren Kindern zur Hälfte bleiben. Die andere Hälfte
soll den Fürsten und den vom Adel, sofern sie hinreichen, zur
Befriedigung ihres Schadens, zugestellt werden. Die Weiber aber
der Männer, welche entwichen, aber nicht gefangen und gerichtet
worden sind, sollen, um künftigem Unrath zuvorzukommen, aus
der Stadt gewiesen, und ohne der Fürsten Wissen nicht darin
gelassen werden.
9. Es sollen auch die Festungen an der Stadt, damit sich die
Fürsten nicht Uebels davon ferner zu versehen haben, zerbrochen
werden, und ohne ihre Bewilligung nicht wieder aufgebauet
werden.
10. Es soll der ewige Rath entsetzt werden, und ein anderer
Rath aus den Personen, welche der Aufrührerischen halber gewi-
chen sind, erwählt. Auch soll ein neuer Schullheiss geordnet
werden, welcher in der Römischen Kaiserlichen Majestät und der
Fürsten Namen alle Gerichte und Rechte verwahren soll nach
ewigem Stadtrechte.
11. Es soll alle Jahre der Rath durch der Fürsten einen be-
26
390 Heinrich Pfeifer und Thomas Münzer
slätigt werden, auch gute Ordnung nach allem Herkommen and
der Fürsten Gefallen gemacht werden.
12. Es sollen in beschwerlichen vorfallenden Sachen die Rä-
the aller drei Fürsten zusammen sich berathen und dieselben ent-
scheiden.
13. Es soll auch der Rath alle Gefalle in der Stadt und in dem
Weichbilde ausser dem Gebiete der Stadt, in den Dörfern hl Zeit
des Wiederkaufes einnehmen und die Stadt davon erhalten.
14. Es soll ein Ehtb. Rath alle Jahre ewiglich jedem der drei
Fürsten 300 fl. Schutzgeld geben auf Weihnachten.
15. Es soll ein Ehrb. Rath die Rathschläge des Reichs, wo sie
nicht erbeten sind, für sich allein geben.
16. Es sollen die von Mühlhausen den Fürsten mit höchster
Macht auf ihr Erfordern dienen, Hülfe, Rath und Beistand auf ihre
Kosten thun, auch soll die Oeffnung der Fürsten in allen Nöthen
wider jedermann, die Kaiserliche Majestät ausgenommen, freistehen.
Hierauf haben die Chur- und Fürsten die von Mühlhausen in
ihren Schulz und ihre Verlheidigung genommen, ewiglich darin
zu bleiben, sich davon keinerlei Weise absolviren zu lassen, und
diesen Sühnebrief, so oft ein Fürst an das Regiment treten würde,
zu beschwören. Gegeben den Montag nach Exaudi 1525 im Felde.
Ueber diess hat ein Ehrb. Rath die Plünderung, damit die
Bürger davon verschonet blieben, mit 40000 fl. abgekauft, und
sich gegen die Chur- und Fürsten verschrieben, denselben zehn
Tausend auf Trinitatis, zehn Tausend auf Weihnachten und die
folgenden vier Jahre jedes zu Weihnachten vier Tausend zu be-
zahlen. Dazu sollten auch die Dörfer, die mit der Stadt gewesen,
nach der Leute Vermögen, beitragen. Zugleich sollten sie, bis im
Jahre 1531 die 40000 fl. bezahlt seyen, auch die 900 fl. Schutzgeld
geben. Und diese Verschreibung bat der Rath Montags nach Ex-
audi auch geben müssen.
Ueber diess Alles haben die Chur- und Fürsten folgenden Ta-
ges alle das Geschütz der Stadt mit und ohne Radern, welches
von einem grossen Werthe war, mit aller Zugehörung und Muni-
tion (die eine Büchse war so gross, dass ein Kind von 12 Jahren
darin sitzen konnte) aus der Sladt hin wegfahren lassen sammt der
Bürger Büchsen.
Auch Hessen sie der Stadt heimliches verborgenes Gemach
öffnen, nahmen alle verborgenen Schätze von Kleinod, Silber, Gold
und baarem Gelde, item allen Vorrath an Getraide, Wein und
Bier, und die Wildgarne, und alle die Pferde aus dem Marslalle,
und allen Vorrath. Darnach haben sie dem Rathe den Wall und
die Festung eingerissen mit der Bauern Hülfe, und befohlen, dass
es noch vor Trinitatis geschehen sollte.
in Mühlhausen. 391
Aber diesem allem ungeachtet haben die vom Adel, welche
mit den Fürsten in die Stadt gekommen waren, viele der statt-
lichsten und reichsten Bürger, derselben Kinder als unschuldige
Leute, über alles Bedrangniss, so sie ihnen in der Stadt in ihren
Häusern zugefügt, noch gefänglich angenommen, mit sich aus der
Stadt geführt und zum höchsten geschätzt, auch etliche im Ge-
fängnisse sterben lassen.
Als nun solches Alles also in der Stadt verrichtet ward, zo-
gen die Fürsten wieder, ab. Bald hernach schickten die Fürsten
40 Landsknechte in die Stadt zurück, und Hessen demBathe, den
sie bestätigt hatten, anzeigen, dass sie Donnerstags nach Pfingsten
etliche Bürger gefänglich annehmen würden. Die sassen bis auf
den Freitag nach corporis Christi. Da führte man ihrer zwanzig
auf zwei Wagen hinter Höngeda. Daselbst liess sie der Haupt-
mann von Salza, Hans von ßerlepscb alle enthaupten, und liess
sie in Höngeda begraben. Es waren aber diese armen Menschen
zum Theil gar einfältige Leute. Die Namen der Enthaupteten sind:
Lips Görzingerodt, Barlhel Olleutter, Daniel Beyer, Ludwig Kule,
Karsten Schickel, Claus Fulstich, Hans Widemiiller, Heinz Schu-
chart, Claus Heyger, Curt Schmid , Herrmann Gera, Curt Kiste-
macher, Hans Spon, Ernst Stutzer, Claus Ackermann, Barlhel Detzel,
Vitt Becke, Hans Heimknecht, ein Bauer von Heilingen und noch
einer. Golt sey ihnen allen gnädig 1
Es hatten auch die Fürsten dem Bathe die Gnade gelhan,
laut des Sühnebriefes, dass ihnen die Dörfer und auch dieVogtei,
dieweil die Männer in der Vogtei ja so aufrührerisch gewesen als
andere, zur Erlegung der 40000 fl. beisteuern sollten. Es haben
sich aber dabei nicht allein die Vogteier, sondern auch die Män-
ner im Gerichte, welche den wenigsten Schaden erlitten hatten,
etwas dazu zu geben einem Ehrb Bathe, weil sie nun unter die
Fürsten gekommen, ganz widersetzig erzeigt, bis sie durch der
Fürsten ernsten Befehl dazu gezwungen wurden.
Nachdem etliche vom Adel, so hier unten benannt, auf Scha-
denersatz bestanden haben, ohne dass ihr Habe und Gut in der
nächsten Empörung von denen zu Mühlhausen und ihren. Helfern
beschädigt worden wäre, haben doch die von Mühlhausen den-
selben zu leisten bewilligt auf Weisung der durchlauchtigen und
hochgebornen Fürsten und Herrn, Herrn Johann Friedrich Chur-
fürsten und Herrn Jörge, Gevatter, Herzog zu Sachsen und des
Landgrafen in Hessen und Markgrafen zu Katzenellenbogen, Ditz,
Ziegenhain, Nidda, oder allerseits ihrer churfürstlichen Gnaden
Rathe in Salza und in Gestalt des aufgerichteten Sühnebriefes.
Hierauf dieselbigen von Adel den empfangenen Schaden vermit-
telst ihres Eides sämmtlich auf 63444 fl. angegeben haben, und
26*
392 Heinrich Pfeifer und Thomas Münzer
zu Unterhändlern die gnädigen Herrn Friedrich von Tonna, Ritter
Johann von der Sachsen, Doctor Christofel von Taubenheim, Amt-
mann zu Freiburg, Doctor Jörge von Breitenbach, und Ordinarius
Jacob von Taubenheim, und Jacob von Grünberg, Landvoigt an
der Warra, bestellt. Nach raanchfaltiger Unterhandlung mit ge-
dachten vom Adel haben die von Mühlhausen erbalten, dass feie
für allen zugefügten Schaden, für ihre Kinder und Gesinde, über
das sie von ihren Leuten bekommen möchten, sämmtlich 24458 0.
zu nehmen bewilligt. Demnach haben Bürgermeister, Rath und
Käthe und die ganze Gemeinde der Stadt Mühlhausen für sich und
ihre Nachkommen zugesagt und versprochen, den vom Adel solche
24458 fl. zu entrichten wie folgt: Apeln und Jörgen von E beleben
5416 fl., Rudolf von Hopfgarten 2300 fl., Hans von Berlepscb 2108 0.,
Melchior von Schlotheim 3077 fl., Johann von Kotzleben 186% fl.»
Erhart von Kotzleben 6414 fl. , Jörge von Kotzleben 517 fl., Jost's
von Kotzleben Wittwe 293% fl, Eichsfeldern -Siefert von Bulsings-
leben 500 fl., der Frau von Winzigerode 150 fl., Rudolf von Bol-
singsieben der allere 500 fl., Heinrich von Bulsingsleben dem altera
200 fl., Heinrich und Rudolf von Bulsingsleben den jungem 1000 fl.,
Friedrich und Jörge von Winzigerode und Heinrichs gelassenen
Erben 2039 fl., Jobsts von Böneburg Weibe 50 fl., Ernst und Hans
Wiudolt 1002 fl, Nickelheisen 30 fl., Hans von Gutzenborg 360 fl.,
Hans von Haine 1518 fl., Thilla von Westerhagen 105 fl., Arnold
von Westerhagen 56% fl., der Knorn 250 fl., Bernhard von We-
sterhagen 70 fl., Allen vom Hause Westerhagen 1200 fl., Ernst von
Westerhagen 1030 fl., Heinrich Meisse 200 fl., item 330 fl., Otto
von Westerhagen 15 fl. Weiches alles thut in Summa 24458 fl.
Solche Summe Geldes sollen und wollen die von Mühlhausen
Obgedachten von Adel oder ihren Erben auf vier Tageszeiten er-
legen, nämlich allewege den vierten Theil jeglichem nach seiner
Vorschreibung der Summe, und auf nächstes Martini damit anhe-
ben , und die folgenden Jahre zu Martini fortfahren bis gemeldete
Summe ohne Verzug, Eintrag, Schaden, Verhinderniss alhier zu
Mühlhausen in guter Fürstenmünze, 21 Gr. für den Gulden, be-
zahlt und entrichtet ist. Begäbe sichs aber, dass die von Mühl-
hausen an solcher Summe oder Bezahlung säumig würden, so
sie bewilligt die Busse vor hochgedachten unsern gnädigsten und
ungnädigsten Herrn, welcher unter ihren churfürstlicben Gnaden
auf die Zeit das Regiment haben würde, über die vorige und un-
bezahlte Summe zu gedulden, inmassen sie ohnediess solches zu
thun schuldig. Welches von allen Theilen also bewilligt und an-
genommen, auch stets und fest zu halten zugesagt. Dessen zu
Urkunde haben wir obgenannte Rath und Räthe die Schuldbriefe
mit unserm angebornen Pitscbaft besiegelt, und wir Bürgermeister
in Mühlhausen. 393
und Rath und Käthe und ganze Gemeine zu Mühlhausen haben
mit Wissen und Willen gemeines Stadtsiegel hier an diesen Brief
hangen lassen. Geschehen zu Mühlhausen Freitags nach Oculi,
nach Christi unseres lieben Herrn Geburt im Jahre 1526.
Der Prediger Johann Lauwe und die Vornehmsten der acht
Mann, Dietrich Weissmaler und Michel Koch und viele der Haupt,
urheber waren davon gekommen, und hielten sich hin und wieder
heimlich. Darum schrieb ein Ehrb. Rath an viele Oerler, ob man
sie zu Gefängniss bringen könnte, wie dann auch an vielen Or-
ten geschah.
Auf Catharinae 1526 ist der aufrührerische Prediger Johann
Lauwe und des Pfeifers Bruder zu Erfurt gefänglich eingezogen
worden. Aber der Rath zu Erfurt hat sich gar unfreundlich gegen
den Rath zu Mühlhausen erzeigt, bis die Fürsten geschrieben und
die Tortur erlangt haben, darin sie folgendes Bekenntniss gelhan
im Beiseyn Sittich von Berlepsch, Amtmanns zu Salza und Fabian
Löwen, Schöffers zu Gotha, neben eines Ehrb. Raths alliier gege-
benen Commissarien Donnerstags vor Trium regum.
Bekenntniss des Johann Lauwe. Johann Lauwe sagte, er habe
gepredigt, die Fürsten und Herrn seyen G'änselöffel, Thilltappen,
Schindhunde; darum solle man ihnen nicht gehorsam seyn. Und
das habe er darum gethan, weil er gesehen dass das Volk einen
Gefalleu daran hatte. — Die Bilder habe er heissen zerschlagen,
dieweil die heilige Schrift verbiete die Bilder anzurufen. — Er habe
gepredigt, dass alle Güter gemein wären, denn er hoffte auch et-
was davon zu bekommen, jedoch habe er solches nicht vom Be-
sitz verstanden, denn Gott habe Abraham ein Land, Jacob das an-
dere zu besitzen gegeben. — Er habe gepredigt, dass er drei gute
Werke zu Mühlhausen ausgerichtet habe, dass er die teufelische
Messe abgeschafft, die Bilder zerschlagen heissen, und das Frauen-
haus zugethan habe. — Er habe gesagt, man solle den Reichen die
Heiligen aus den Kasten langen, weil er hoffte auch etwas davon
zu bekommen. — Er sagte, er sey in Münzers Verbindnisse nicht
mit gewesen. — Er sey darum gewichen, weil er besorgt habe,
man würde sein Antworten nicht hören.
Bekenntniss Jörge Pfeifers.
Jörge Pfeifer bat bekannt, dass er auf das Fest der Wurzel-
weibe einen Busch von Disteln und Dornen in der Kirche gelragen
habe, als das Volk sey zum Nachtmale gegangen. — Er habe das
alte Regiment helfen absetzen. —Er habe zu Ebeleben und in der
Umgegend wider die Messbilder und die heimliche Ohrenbeichle ge-
predigt; das sey ihm von Apeln zu Ebeleben verboten worden. —
Er habe gelehrt, man solle weder Zins noch Rente der Obrigkeit
394 Allgemeine Literaturberichte.
geben, denn sein Bruder, Heinrich Pfeifer, habe es ihm geheissen.
Er wisse wohl, ob es gut oder böse sey.
Dieweil aber zu Erfurt viele Bürger waren, die ihm anhingen,
kam es dahin, dass der Lauwe von Herzog Jörgen gen Eckarts-
bergen geschickt ward, wo er aus dem Gefängniss brach; aber der
andere Jörge Pfeifer ward wieder losgegeben.
Allgemeine Literaturberichte.
Deutschland.
Denkmale des Landes Paderborn (Monumenta Paderbomensia) an Per.
dinand Freiherrn von Fürstenberg, Fürstbischof von Paderborn und Mün-
ster. Aus dem Lateinischen übersetzt und mit einer Biographie des Ver-
fassers, mit Erläuterungen, Zusätzen, Berichtigungen und biographischen
Skizzen versehen von Franz Joseph Micus, Gymnasial- Oberlehrer, Mit-
glied des Vereins für Geschichte und Alterthumskunde Westphalens. Mit
sechs Stahlstichen und einer Karte, Paderborn. Junf erman'sche Bach-
handlung und Buchdruckerei 4844. 8, 594. S.
Auch in der Wissenschaft herrscht leider das aristokratische
Luxuselement; die Verschwendung wohnt neben der Entbehrung;
während hier die edelsten Kräfte zu Flitter und unnützem Glänze
vergeudet werden, fehlen dort, wo sie nötbig sind, nicht nur
Kräfte, sondern auch Aufmunterungen. Die Bemerkung Jacob
Grimms, dass wir im grössten Ueberfluss oft Mangel leiden, be-
währt uns die Bibliographie jedes Jahres; tausende von Büchern
erscheinen, elegant, prachtvoll, bebildert, alle wollen nothwendig
sein und demjenigen, der etwas tiefer in das Wesen der Wissen-
schaft sieht, fehlt überall das Rechte, und nur der Laie sieht 'in
den gewaltigen Schichten der Bibliotheken die Lücken nicht, die
so wenige Auserwählte zu verstopfen streben.
Obiges Buch gehört gewiss nicht zu den auserwählten; bei
aller Eleganz, die es schmückt, trägt es das Gepräge der Unnöthig-
keit, und eben die Eleganz, die Voluminösität lässt uns diese Un-
nöthigkeit bedauern. Ferdinand Fürstbischof von Paderborn und
Münster (geboren 1626. Bischof von Paderborn 1661. von Mün-
ster 1678. f 1683.) ein gelehrter, friedensliebender Mann, dessen
Friedensliebe freilich während der Kriege Ludwig XIV. nicht vie-
len Segen über Deutschland gebracht, hat ein Werk, die monu-
menta Paderbomensia ausgearbeitet, das verschiedene archäolo-
gische Punkte der ältesten Geschichte Deutschlands behandelt und
natürlich jetzt veraltet ist. Dieses Werk hat mehrere Auflagen er-
lebt, zwei beim Leben des Verfassers, zwei nach seinem Tode
Allgemeine Literaturberichte. 395
(cf. p. 153—155) und Herr Micus unternahm es, das Werk jetzt
zum fünften Mal, und zwar deutsch herauszugeben. Zu welchem
Zwecke das? Zugegeben, der Fürstbischof war ein gelehrter edler
Mann und Herr Micus ist von Verehrung für ihn durchdrungen:
reichen denn die Ausgaben, die wir haben, nicht mehr hin, dem-
jenigen Aufschluss zu geben, der sich für die Geschichte der ar-
chäologischen Studien in Deutschland interessirt? was würden wir
mit dem Bücherschwall anfangen, wenn wir alle gelehrten Werke
des 16. und 17. Jahrhunderts noch einmal herausgeben und sie am
Ende noch ins Deutsche übersetzen wollten? Und am Ende, sollten
nicht andere seltenere werthvollere Werke ebenso gut und noch
eher eine so elegante Verjüngung verdienen?
Eingeleitet wird diese Uebersetzung durch eine Biographie des
Fürsten, die 144 Seiten lang ist, und ebensowenig befriedigt als
es alle Panegyriken thun, die nach dem Tode der Fürsten erschei-
nen und mit einer beinahe lächerlichen Emsigkeit jeden einzelnen
Charakterzug, jede einzelne Anekdote mit einer ungen>essbaren
Breite erzählen. Was soll man sagen, wenn man p. 37 die Anek-
dote von dem Stieglitz liest „dass er den hohen Besitzer mit
seinem Gesänge erfreute" oder wenn man pag. 92 etc. das Capilel
„Ferdinands Humor1, ansieht: da halte ein Jesuit dem Fürsten einen
Panegyrikus zum Neujahr geschenkt und zwar in Versen; Ferdi-
nand schreibt ihm eine freundliche Antwort und schenkt ihm ein
Fass Moselwein, weil seine Ader durch ein so grosses Gedicht
ausgetrocknet sein könnte, und auf diese Erzählung lässt Herr
Micus die Worte folgen: „Eines solchen wohlthuenden (das war
der Moselwein allerdings) Humors ist nur ein erhabener Geist
fähig; stolzen und engherzigen Menschen ist er ein Geheimnisse
Eine einfache Biographie, das Leben und die Wirksamkeil des
Fürsten schildernd, seine Verbindungen mit Fürsten und Gelehr-
ten ohne jedesmaligen Wort- und Zeitungsenthusiasmus auseinan-
dersetzend, hätte, wenn auch 50 statt 150 Seiten stark, dem wis-
senschaftlichen Zwecke besser gedient.
Herr Micus erinnert im Nachwort p. 539, dass er eigentlich
mehr geleistet als versprochen habe, unler Andern namentlich das
Werk mit vielen biographischen Noten über Theodor v. Niens,
Gobelin, Persona, Conring, Bälde, Nihus, Senaten elc. vermehrt
habe; allein abgesehen davon dass er es doch eigentlich auf dem
Titelblatt versprochen, ist das bibliographisch -literarische Verhält-
niss wenig berücksichtigt und auch sonst nichts gegeben, was man
niebt schon aus andern Büchern halte wissen können.
Wenn es schon Schade ist, dass die Briefe, welche Ferdinand
mit den Fürsten wechselte, nicht lateinisch, sondern deutsch ein-
geschaltet worden sind, so ist die deutsche Uebersetzung der Ge-
396 Allgemeine Literaturberichte.
dichte, an die ein grosser Fleiss gewandt ist (p. 150), beinahe ein
Unglück; da wären die Originalien gewiss besser gewesen, gewiss
hallen sie ein klareres Bild von dem Dichtertalent des Fürsten ge-
geben. Zum Uebersetzen gehört ein besonderes Talent, das leider
jeder zu besitzen glaubt; in Herrn Micus aber steckt ein Dichter-
dämon, den er mit allzugrossem Eifer auszutreiben sich bemüht
und man muss ihm beinahe denselben Vers vorhalten, von dem
Herr Micus sagt p. 14, er sei dem Fürsten vorgeworfen worden:
„Beider Sprachen mächtig; aber einen Fehler
Einen grossen Fehler hat er; er ist — Dichter."
Selig Cassel.
M 1 s c e 1 1 e n.
2. Das Mainzer Archiv (s. Bd. in. S. 547 f.).
Ueber das Mainzer Archiv sind mir durch die Güte des Herrn Biblio-
thekars Dr. Böhmer in Frankfurt folgende Notizen zugekommen :
Nicht das Archiv, sondern der Archivar Fischer ist nach Moskau ge-
kommen. Derselbe hat schon zur französischen Zeit einen grossen Tbeü
cassirt, namentlich Sachen auf Ochsenkopf Papier, also aus dem 44. und
4 5. Jahrhundert. Von den Mainzischen Archiven sind jetzt Trümmer 4)
auf der Stadtbibliothek zu Mainz, namentlich stadtische Privilegien, einige
Copialbücher, varia aus Bodmann's Nachlass; 2) in Sachsenhausen in Ki-
sten verpackt das von Oesterreich an sich genommene Reichsarchiv, mit
den Mainzischen erststiftischen Reichssachen vei mischt. Friedrich Schlegel
hat ein schlechtes Repertorium darüber gemacht, welches übrigens Dr.
Böhmer nicht selbst gesehen hat. Es soll mit dem 4 4. Jahrhundert be-
ginnen, und dürfte Mehres enthalten, was Sachverständigen von Wichtig-
keit ist; 3) in Darmstadt sind einige Urkunden aus Bodmann's Nachlass,
auch sonstige Urkunden und mehre Copialbücher einzelner Stifter; 4) in
München sind die an Baiern gekommenen Original-Urkunden bis 4 400, die
auch in den regestis boicis aufgeführt sind; 5) in Würzburg ist das grosse
erststiftische Copialbuch auf Pergament in 7 Foliobanden höchst schätzbar,
ausserdem eine grosse Menge anderer Copialbücher, Acten und die Urkun-
den seit 4 404; 6) in Aschaffenburg, wo einst das Ganze war, sind aucn
noch Beste. Mehre hundert Centner hat die bairische Regierung verkaufen
lassen, um aus dem Erlös den Druck der regesta boica zu bestreiten. Ei*
ntge scheinen auch in Aschaffenburg gestohlen worden zu sein. Verbrannt
ist in Mainz Nichts vom Archiv, wohl aber ist die Dombibliolhek verbrannt,
als die Preussen im Jahre 4 793 Mainz beschossen.
Klüpfel.
Leben und Verdienste des Lau-
rentius Valla.
Laurentius Valla wird allgemein als einer der vorzüglich-
sten unter den sogenannten Wiederherstellern der Wissen-
schaften im 15. Jahrhundert genannt.
Wenn man jene Epoche, jenen Umschwung des euro-
päischen Geistes, Wiederherstellung der Wissenschaften
nennt, so drückt man das eigentliche Wesen der Sache nicht
aus und verkennt, dass die Wissenschaden einerseits niemals
ganz untergegangen waren, anderseits sich nur durch vielfa-
che Versuche wiedergewinnen lassen. Der Ausdruck selbst
ist auch nur die herkömmliche aber schiefe Uebersetzung des
lateinischen literae. Nicht den Wissenschaften galt es, son-
dern einer freien Literatur. Was als Ziel erstrebt wurde,
aber doch nur wenigen universellen Geistern deutlich vor-
schwebte, war die Befreiung des menschlichen Geistes von
den Fesseln des Kirchenglaubens; die Neigung und die Thä-
tigkeit der hülfreichen Menge richtete sich zunächst auf die
Schönheit der Rede, den richtigen und schönen Stil. Des-
halb gelten mit Recht Dante als der Vorläufer, und Petrar-
cha und Boccaccio als die eigentlichen Wiederhersteller
nicht sowohl der Wissenschaften, als vielmehr einer freien
literarischen Thätigkeit. Sie entzündeten in Italien den leb-
haftesten Eifer für geschmackvolle Darstellung in Versen wie
in Prosa. Der Sache nach war es gleichgültig, ob es in la-
teinischer od^r gemeiner Sprache geschah: Petrarcha und
Boccaccio waren in beiden zu ihrer Zeit ausgezeichuete Ken-
ner und Künstler. In der Schrift und zu gelehrten Zwecken
Z<h*c'..rift f. <3«*rhichteir. IV. 1845. 27
398 Leben und I erdienste
halte man sich bisher nur der lateinischen bedient, und man
blieb noch lange Zeit dem Herkommen treu, zumal da die
lateinische Sprache Tür den Italiener keine fremde war. Also
war es natürlich, dass sich der lebhafteste Eifer auf die la-
teinische Wohlredcnheit warf. Die fehlerhafte und rohe la-
teinische Ausdrucksweise, die auf Kanzel und Katheder, im
Bureau und Gericht herrschte, sollte verbessert werden. Des-
halb suchte man die Muster antiker lateinischer Rede aus den
Klosterbibliotheken hervor, wo sie in den letzten Jahrhunder-
ten ganz unbenutzt gelegen hatten/) Petrarcha und Boccaccio
schrieben mit eigener Hand die unbekannten Werke römi-
scher Classiker ab; ihr Studium ging gleich in stilistische
Nachahmung über; sie verkündigten ihre Freude in Circular-
briefen, die zugleich durch ihren eigenen Stil den Beweis ga-
ben, was man aus der Lesung der entdeckten Autoren ler-
nen könne.
Stil kann nicht ohne Inhalt sein. Dieser Inhalt war aber
zunächst entweder der blos gesellige, wie ihn Cicero's Briefe,
Petrarcha' s Fund, auszudrücken lehrten, oder moral-philoso-
phische Betrachtung, wie sie Petrarcha aus dem doppelten
Quell, seinem eigenen erfahrungsreichen Machdenken und
dann ebenfalls Lesung des Cicero und Seneca, entwickelte,
oder endlich Zusammenstellung des bei verschiedenen alten
Autoren Gelesenen, in welcher Art Boccaccio seine Gesealo-
gia deorum schrieb.
Dies ist der Anfang der Wiederbelebung des elassiscben
Studiums! er ist entschieden aus dem eigentümlichen Drange
der Völker des neueren Europa's, namentlich der Italiener,
*} Es ist unglaublich, wie eng und dürftig der Kreis lateinischer
Autoren war, die im 12. und 13. Jahrhundert gelesen wurden. Nie-
buh r spricht darüber in der Vorrede zu dem Fragment von Cice-
ro's Rede pro Fontejo, welches er in der Vaticana entdeckt hatte,
p. 36. Selbst von Cicero, dessen Name doch immer noch spruch-
wörtlich als der des grössten Redners gebraucht wurde, las man
nur die Bücher de offieiis, de senectute und de amicitia, die klei-
neren Reden, die Philippicae und einen Theil der Verrinen. Alles
andere, die Briefe und die übrigen philosophischen Schriften, ext*
stirte nur in einzelnen Exemplaren.
des Laurentxus Valla. 399
nach Wohlredenbeit hervorgegangen. Jedes Blatt in den
Schriften der hervorgezogenen römischen Classiker wies auf
die griechischen Quellen der Erkenntniss und der Wohlreden-
bett bin. Man suchte also auch aus diesen zu schöpfen. Petrar-
cha hatte eine unendliche "Sehnsucht Homer und Plato ken-
nen zu lernen. Die Mönche der griechischen Klöster in Ca-
labrien boten eine Vermittlung dar. Petrarcha nahm noch
rm Alter Unterricht bei einem dieser Mönche, Barlam, und
Hess sieb von ihm einen Theil des Homer übersetzen. Aber
er lernte wenig und konnte den griechischen Homer, den er
sich aus Constantmopel verschafft hatte, nur als Augenweide
benutzen. Boccaccio kam weiter: er hatte drei Jahr Unter-
richt bei Leontius Pilatus, ebenfalls einem Galabresen: er
nahm ihn in sein Haus auf, ertrug die Widerwärtigkeit des
mürrischen und eigensinnigen Mannes und brachte mit sei-
ner Hülfe die Utas und Odyssee lateinisch zu Papier und
schrieb seine Uebersetzung für Petrarcha ab.
Petrarcha und Boccaccio stehen im 14. Jahrhundert noch
ganz allein, in Italien nicht nur, sondern in Europa. Ihr
Ruhm war unermesslich. Petrarcha war der Liebling aller
fürstlichen Häuser in Italien, Boccaccio in Florenz sehr an-
gesehen. Ihre ästhetischen Bestrebungen ergriffen die Gebil-
deten ihrer Nation. Römische Glassiker zu studiren und un-
mittelbar in Sprache und Schrift nachzuahmen war das Zei-
chen und die Probe feinerer Bildung: ein Schritt weiter, auch
Griechisch zu verstehen und mit der Kenntniss dieser Lite-
ratur seinen lateinischen Stil zu befruchten, wurde schon im
nächsten Jahrhundert von dem wissenschaftlichen Manne ge-
fordert.
Die Kenntniss der griechischen Sprache verbreitete sich
in Italien sehr schnell. Johannes von Bavenna, Petrarcha's
Zögling, lernte Griechisch in Galabrien und erklärte in Pa-
dua und Florenz gegen das Jahr 1400 als angestellter Lehrer
der Grammatik niebt nur römische Autoren, sondern auch
Homer. Leonardus Aretinus, Guarinus von Verona, Pog-
gius sind seine Schüler. Wer weiter im Griechischen kom-
men wollte, reiste nach Constantinopel, wie es von namhaf-
27*
400 Leben und Verdienste
ten Gelehrten Aurispa, Guarinus, Philelphus thaten. Zurück-
gekehrt lehrten sie dann wieder und verbanden die Erklärung
römischer und griechischer Glassiker. Der Unterschied zeigte
sich aber sogleich, dass die römischen Studien unmittelbar
ins Leben übergingen, die Kenntniss. der griechischen Kunst
und Wissenschaft ihre Vermittlung mit dem Leben erst durch
Uebertragung ins Lateinische erhielt. Daher war die Aul^
gabe aller Griechisch-Gelehrten im 15. und noch in der er-
sten Hälfte des 16. Jahrhunderts die, treue und dabei echt
lateinische Lebersetzungen der griechischen Autoren anzu-
fertigen.
Es ist eine verbreitete Unwahrheit, dass die Unterwer-
fung Griechenlands durch die Osmanen und insbesondere die
Eroberung Constantinopel's die Versetzung der griechischen
Literatur nach Italien bewirkt habe. Die ersten Lehrer des
Griechischen in Italien waren entweder Galabresen, in wel-
cher Provinz sich bekanntlich der Ritus der griechischen
Kirche noch lange nachher behauptet hat, oder Italiener, die
aus Wissensdrang selbst nach Griechenland gereist waren.
Als die griechischen Gesandten und Gelehrten Hülfe suchend
nach Italien kamen, Manuel Chrysoloras 1393 und 1396, und
dann nach langem Zwischenräume Georgios Trapezuntios und
Theodoros Gaza nach dem Jahre 1430, war in Italien schon
alles bereit sie aufzunehmen. Die beiden letztgenanpten muss-
ten selbst erst in der Schule des Vittorino in Mantua Latei-
nisch lernen, um mit Erfolg Griechisch zu lehren. Ganz ge-
wiss beförderten sie die gründlichere und genauere Kenntniss
des Griechischen, namentlich Manuel Chrysoloras; aber Ita-
lien hatte nicht auf die Auswanderung der Griechen gewar-
tet um sich den neuen Quell classischer Literatur anzueig-
nen, und auch nachher waren nicht die geborenen Griechen,
sondern die griechisch gelehrten Italiener die eigentlichen Be-
gründer dieses Studiums. Die Geldnoth der Griechen er-
leichterte den Ankauf der griechischen Handschriften, die in
solchen Massen von gelehrten Aufkäufern aus Griechenland
nach Italien ausgeführt wurden, dass in dein Mutterlande der
Literatur bald eip gänzlicher Büchermangel entstand.
des Laurenlius Valla. 401
Der allgemeine Einfluss der classischen Studien in Ita-
lien war Anfangs und blieb die längste Zeit ein blos ästhe-
tischer. Nachher, als die italienische Literatur ihre eignen
anerkannten Muster gewonnen hatte, war es d&s antiquari-
sche Interesse, was die Meisten zu den Glassikern, d. h. doch
nur zu den Römern zog. Ganz anders in Deutschland, wo
der Betrieb der classischen Studien sehr bald seine Richtung
auf die Theologie nahm und erst nach langer Zeit auf die
Aestbetik zurückkam. Aber den italienischen Philologen möge
daraus kein Vorwurf erwachsen. Sie erkannten ebenfalls, dass
die classischen Studien einen Einfluss auf die Gestaltung des
Öffentlichen Lebens erhalten müssten Es giebt eine Menge
Erscheinungen, welche die Absicht der italienischen Philo-
logen des 15. und 16. Jahrhunderts bethätigen, zuerst auf
die Theologie, dann auf das Staatsleben, zuletzt auf die Phi-
losophie der gegenwärtigen Zeit durch die Ergebnisse ihrer
Forschungen einzuwirken. Aber die Hierarchie trat diesen
Bestrebungen hemmend, strafend, verfolgend entgegen; seit
der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts bemächtigte sich der
Jesuitenorden aller höheren Lehranstalten in Italien, und fort-
an bedurfte es nicht einmal der Verfolgung: die classische
Philologie diente nur dem speciellen historisch-antiquarischen
Interesse.
Laurentius Valla lebte in jener Zeit, wo die wieder-
erweckten classischen Studien in Italien mit dem grössten
Eifer betrieben wurden, in der ersten Hälfte des fünfzehnten
Jahrhunderts; und sein Leben giebt das beste Zeugniss für
die mannigfaltigen Richtungen dieser Studien. Es muss be-
merkt werden, dass die Buchdruckerkunst noch nicht erfun-
den war: erst mehre Jahre nach Valla's Tode wurde das
erste Buch in Rom gedruckt. Valla's Schrillten wurden also
vollkommen wie im Alterthum ausgearbeitet und durch Ab-
schrillen verbreitet: aber man sieht hiebet recht deutlich, wie
die Buchdruckerkunst zwar ein vortreffliches Hülfsmittel, aber
keine wesentliche Bedingung menschlicher Cultur ist. Valla's
Schriften wurden begierig gelesen und rasch verbreitet.
Aber es ist recht schwer, seine Lebensumstände und die
402 Leben und Verdienste
Folge seiner Schriften genau nach Jahren tu bestimmen. Man
muss dabei wie bei den alten Autoren verfahren und die
einzelnen Aeusserungen des Schriftstellers selbst und seiner
Zeitgenossen vergleichen. Dies ist auch wohl der Grund, wes-
halb wir noch keine vollständige Lebensbeschreibung Valla's
haben, wie sie doch von so vielen viel weniger bedeutenden
Gelehrten existiren. Die besten Nachrichten über ihn haben
Drakenborch in seiner Vorrede zum Livius (im siebenten
Bande seiner Ausgabe) und Tiraboschi in der Geschichte
der italienischen Literatur gegeben. Verdienstlich durch ei«
nige aus Archiven gezogene Nachrichten und durch die Zu-
sammenstellung der Ausgaben von den Schriften Valla's sind
die „Memorie inlorno alla vita e agli scritti di Lorenzo Valla"
von Gristoforo Poggiali, Propst und Bibliothekar zu Pia-
cenza, welche als eine Fortsetzung der beiden ersten Bände
der „Mernorie per la storia letteraria Piacentina " von dem-
selben Gelehrten im Jahre 1790 (176 Seiten 8.) erschienen
sind. In Bezug auf die Prüfung der einzelnen Umstände und
auf den Zusammenhang der literarischen Thätigkeit Valla's
bleibt aber noch genug zu thun übrig.
Der Vater des Laurentius Valla war Luca della Valle,
aus Piacenza gebürtig, Doctor der Bechte, und in Born alf
päpstlicher Consistorial-Advocat angestellt.
Lorenzo war im Jahre 1406 oder 1407 in Born geboren*
Gewöhnlich wird 1415 als sein Geburtsjahr angegeben, und
diese Zahl gründe! sich auf einen Beweis, den man für un-
umstösslich halten sollte, auf seine Grabesinschrift in der
Kirche San Giovanni im Lateran, wo es heisst, er habe 50
Jahre gelebt und sei am ersten August 1465 gestorben. Aber
Drakenborch beweist gründlich aus Valla selbst und aus
den Erwähnungen seiner Zeitgenossen, dass das Jahr seines
Todes unrichtig angegeben ist. Valla sagt, er sei über 24 Jabr
alt gewesen, als der Papst Martin V. gestorben: dies geschah
zu Anfang des Jahres 1431: der 15 Jahr ältere Antonius Pa-
normita habe seine Vorlesungen besucht; und dieser war 1393
geboren. Ferner erfahren wir, dass der König Alfons voa
des Laurentius Valla. 403
Aragonien und Sicilien Valla'? Uebersetzung des Herodot,
wie er sie bei seinem Tode unvollendet hinterlassen, in seine
Privatbibliothek bringen liess. Und Alfons starb am 28. Juni
1458, Valla also vor ihm in dem Jahre, welches der Geschieht-
Schreiber Paulus Jovius angiebt, 1457. Alles dies führt auf
Valla' s Geburtsjahr 1406 oder spätestens 1407. Ob die falsche
Angabe auf einem Fehler des Steinmetz oder der Abschrei-
ber*) beruht, ist jetzt nicht mehr zu ermitteln, da nach Bun-
sen Beschreib. Roms Hl. 1. S. 536 der Grabstein schon bei
der Ausbesserung der Kirche zu Anfang des 17. Jahrhunderts
unter Clemens VIII. weggenommen wurde, wobei die um
das Bild umherlaufende Inschrift verloren ging. Den Stein
mit dem Bilde sah der gelehrte Beschreiber der Stadt im J.
1821 im Klosterhofe unter andern Trümmern liegen, er lugt
aber im J. 1836 hinzu, dass der Leichenstein des grossen
Philologen seitdem durch private Veranstaltung einen neuen
Ehrenplatz in der Kapelle des Kreuzschiffes der Orgel er«
halten habe.
Lorenzo hatte noch einen Bruder Michael, der früh in
den geistlichen Stand trat, und als Prior eines Klosters in
Salerno noch vor Lorenzo starb,**) und eine Schwester Mar-
garetha, die an den apostolischen Schreiber und Abbreviatore
Ambrogio Dardanoni verheirathet wurde. Der Vater starb
früh, hinterliess aber die erst 25jährige Wittwe mit den drei
Kindern,***) wie es scheint, in vermöglichen Umständen.
*) In der ältesten mir bekannten gedruckten Nachricht, in
Georg Fabricius' aus Chemnitz descriptio urbis (die im Jahre 1540
verfasst ist) lautet die Inschrift so: Laurentio Vallae harum aedium
sacra rum canonico Alfonsi regis et Pontificis maximi secretario
apostolicoque scriplori qui sua aetate oraneis eloquenlia superavit
Catharina mater filio pienliss. posuit. Vixit ann. L. obiit anno do-
mini MCCCCLXV. Calendis Aug. Und so auch mit unerheblichen
Abweichungen bei mehren andern Schriftstellern, welche Poggiali
p. 88 nennt.
') Schon um das Jahr 1435, s. Opera edit. Basil. 1540. p. 273.
') Valla schreibt an den Papst Eugen IV. Episl. mundi pro-
cerum p. 398: sein Bruder Michael sei ihm allein von 0 Brüdern
übrig geblieben (solum mihi ex novem fratribus superslitem). Wahr-
scheinlich war Valla's Vater schon einmal verheirathet gewesen.
404 Leben und
Lorenzo machte seine jugendlichen Studien in Rom. Im
lateinischen Stil, sagt er selbst, verdankte er am meisten dem
päpstlichen Secretär Leonardus Aretinus, der seine Aufsätze
corrigirte. Einigen Unterricht im Griechischen erhielt er von
Rinucius, der Griechisch und Lateinisch mit gleicher Fertig-
keit sprach and auch den (nachherigen) Papst Eugen IV. im
Griechischen unterrichtet hatte. Leonardus Rruni aus Arezzo,
der späterhin seine Anstellung in Rom mit der Stelle eines
Kanzlers von Florenz vertauschte, ist als lateinischer Stilist
des 1.?. Jahrhunderts anerkannt, von Rinucius existirt im
Druck eine Uebersetzung von 100 Fabeln des Aesop, Hailand
1491/) Anderwärts, besonders in der Vorrede zum zweiten
Buch der Elegantiae, nennt Valla den Aurispa als seinen
Lehrer im Griechischen, dem er sehr viel verdanke: und in
der That ist Johannes Aurispa einer der ersten Hellenisten
Italiens. Uni mihi legebat, sagt Valla: also hatte er ein Pri-
vatissimum bei Aurispa. Wo und wann, ist zweifelhaft, wenn
Tiraboschi's Behauptung begründet ist, Aurispa sei erst 1440
nach Rom gekommen, zu einer Zeit, als Valla noch nicht
wieder seinen Wohnsitz in Rom genommen hatte und selbst
schon ein berühmter Autor war. Wahrscheinlich hatte sich
aber Aurispa schon viel früher eine Zeitlang in Rom aufge-
halten, wo Valla sein Schüler war, wie denn die Philologen
des 15. Jahrhunderts sehr unstätt waren und sich fast im-
mer auf der Wanderung befanden.
Valla übte sich mit allem Eifer im lateinischen Stil; er
schrieb schon als Jüngling in Rom ein Buch „de compa-
ratione Ciceronis et Quintiliani" und sandte es an Ca-
rolins Aretinus in Florenz/*) Quintilian war damals ein neuer
Autor, man hatte kein vollständiges Exemplar der Institutio-
nes oratoriac ehe Poggius 1413 ein solches in St. Gallen ent-
deckte und nach Italien brachte. Valla bewunderte dies Werk0*)
und betrachtete es als das beste Handbuch lateinischer Be-
redsamkeit, indem er es selbst den rhetorischen Schriften des
°) Poggiaii Memor. p. 157. Rinucius wird in Valla's Werk de
voluplale, wo er einer der Mitsprecher ist, immer Rinukius ge-
schrieben. ••) S. Opera p. 719. ***) Opera p. 621.
des Laurentius Valla. 405
Aristoteles und Cicero vorzog. Diese Jugendarbeit Valla's ist
verloren gegangen; auch von seinen späteren kritischen und
exegetischen Arbeiten über Quintilian sind nur Trümmer er-
halten. Dabei aber geht im nächsten Zeitalter der Ruf der-
selben durch die Literatur, so dass, wenn jemand etwas Aus-
gezeichnetes für den Quintilian leistete, die Yermutbung aus-
gesprochen wird, er habe Valla's Arbeiten benutzt, wie dies
Badius Ascensius dem Raphael Regius, dem besten der äl-
teren Gommentatoren des Quintüian, vorwirft. In dem Ka-
talog der Bibliothek des Thuanus Tom. II. p. 465 wird ein
Codex der Institutiones oratoriae von der Hand des Lauren-
tius Valla und mit seinen Verbesserungen angeführt; eine
Ausgabe des Quintilian Venedig 1494 verspricht Valla's Com-
mentar, aber es ist nur eine triviale Schulerklärung zu den
beiden ersten Büchern.
Mehre Verwandte Valla's standen im Dienste der päpst-
lichen Curie. Ein mütterlicher Oheim Melchior Scribano war
apostolischer Secretär. Er starb, und Laurentius Valla hielt
im Bewusstsein seiner Tüchtigkeit bei dem Papst Martin V.
um die erledigte Stelle an. Er war damals 24 Jahre alt.*)
Der Papst schlug sein Gesuch ab, weil er zu jung sei, im
üebrigen freundlich und vertröstend. Poggius war einer der
apostolischen Secretäre. Seinen Einflüsterungen über die Ar-
roganz des jungen Menschen maass Valla späterbin einigen
Einfluss auf, den ungünstigen Bescheid bei.
Valla verliess Rom. Er ging mit Aufträgen seiner Fa-
milie über Venedig nach Piacenza, woher sein Vater und
seine Mutter stammten, und nahm Theil an der Auseinan-
dersetzung der Erbschaft des mütterlichen Oheims und des
väterlichen Grossvaters, der in demselben Jahre gestorben
war. Während dieser Zeit starb Papst Martin V. (am 20.
Februar) und geschah es, dass Eugen IV. (am 13. März 1431)
als sein Nachfolger erwählt ward. In Rom waren Zerwürf-
nisse zwischen Papst und Bürgerschaft. Valla begab sieb auf
die Mailändische Universität Pavia, und trat dort als Lehrer
>) Oper. p. 358.
406 Leben und Verdienste
der Rhetorik auf, wofür er auch einen Gehalt von 50 Ffo~
renen bezog/)
Näheres über den Inhalt der Vorträge Valla's wissen wir
nicht. Aber wahrscheinlich trug er als Theorie der Bered-
samkeit dasjenige vor, was er später in seinen drei Büchern
„dialecticarum disputationum" ausarbeitete. Antonius Panor-
mita hörte über ein Jahr bei ihm, allerdings mehr aus Freund-
schaft, wie Valla sagt,"*) als des Unterrichts halber, aber es
mussten doch neue und eigentümliche Sachen sein, die den
15 Jahr älteren Mann, der denselben Studien obgelegen, fes-
seln konnten. Im Einzelnen trug Valla die Sprachbemerkun-
gen, vor, die er gleichfalls später in den „Elegantiae" pubü-
cirte: Neigung und Beruf trieben ihn an, die Fehlerhaftigkeit
der lateinischen Sprache seiner Zeitgenossen zu verfolgen und
zu verbessern.
Dabei schrieb oder vollendete er in Pavia sein Werk
„de voluptate" in drei Büchern. Denn es scheint, als habe
er es schon früher, in Born oder in Piacenza, angelegt.***) Es
ist dialogisch nach der Art von Cicero's Büchern „de finibus."
Die Scene bildet sich so, dass die vier päpstlichen Secretäre,
unter ihnen Poggius und Melchior Scribanus, der Oheim Valla's,
der bei der Abfassung der Schrift doch schon verstorben war,
in ihrem Lokal versammelt sind. Es kommen zu ihnen Leo-
nardus Aretinus, der Historiker, der als Gesandter von Flo-
renz an den Papst geschickt ist, Antonius Panormita, der
Dichter; ferner Binukius, des Griechischen kundig, und An-
tonius Harena, ein gründlicher Lehrer der Rhetorik; zuletzt
noch der Florentiner Nicolo, der gepriesene Beförderer der
classischen Literatur. Sie bereden sich am folgenden freien
Tage Nachmittags auf dem monte Giordano zu einer wissen-
*) Poggiali p. 24 aus dem Stadtarchiv von Pavia. Val. Oper,
p. 362. ••) Oper. p. 624 In Facium libr. IV. ***) Ich vermutbe
dies, weil es mit den Studien, die Valla in Pavia trieb, wenig ge-
mein hatte, weil die scenische Grundlage römisch ist, und weil
Valla zur Zeit, als er die Schrift vollendet von Pavia nach Rom
schickte, noch mit Antonius Panormita vertraut war (Oper. p. 621),
welches Verhältniss sich noch in Pavia änderte.
des Laurentiu* Valla. 407
schädlichen Unterhaltung zusammenzukommen, zu der auch
unser Lorenzo von seinem Oheim Scribano mitgebracht wird.
Leonardus beginnt die Disputation mit einer Klage über die
Verkehrtheit der Menschen, die weniger nach geistigen und
ewigen Gütern, als nach Befriedigung der Natur in sinnli-
chen Genüssen trachten. Antonius vertheidigt die Natürlich-
keit Der Streit, ob die Tugend oder der Genuss das Ziel
des Lebens sei, erhebt sich. Antonius führt die epikurische
Ansieht geschickt durch; er tadelt dabei mit erstaunlicher
Freimütigkeit das Mönchswesen , und stellt die blaspheme
Behauptung auf, die öffentlichen Dirnen bandelten naturge-
mässer und thaten für das Gemeinwohl mehr, als die Non-
nen, die sich und andere durch das Gelübde der Jungfrau«*
iichkeit marterten. Zuletzt spricht der ehrenwerthe Nicelo;
wenn man den Streit vom irdischen Standpunkte betrachte,.
so habe Antonius Recht, aber beide Ansichten, die stoische
mit ihrer abstracten Tugend, und die epikurische von dem
irdischen Vergnügen, seien mangelhaft; man vergesse dabei
das Leben nach dem Tode; die christliche Ansicht sei die
allein richtige, das Ziel des irdischen Lebens sei die ewige
Seligkeit zu gewinnen. Diese wird mit solchem christlich poe-
tischen Entzücken beschrieben, dass die Gesellschaft in Be-
wunderung Nicolo's ausbricht. Das Werk ist mit grosser Le-
bendigkeit, gefälliger Scenerie und passender Anwendung von
Dichterstellen und historischen Belegen geschrieben in rich-
tigem und unverkünsleltem Latein.
Wir besitzen es nach der ersten Bearbeitung gedruckt, denn
Valla sagt selbst, er habe nach dem Treubruche des Anto-
nius die Sprecher der Schrift geändert und die Rolle des
Antonius dem Maphaus Vegius gegeben, bei dieser zweiten
Bearbeitung die Schrift um die Hälfte vergrössert und de
vero bono statt des früheren Titels de voluptate benannt.*)
*) In Facium Hb. IV.; in Poggium antidot. 4 (Oper. p. 0*21.
342 und 351). An der letzten Stelle sagt Valla, die beiden andern
Hauptsprecher (ich denke statt Leonardus und Nicolo) seien in -der
zweiten Bearbeitung Joseph Brippius papalis regesti praeses, und
Candidus, collega Poggii. Ich kann über diese keine Auskunft gc-
408 Lebern und VerüauU
Valla sandte sein Werk an Gnarinus in Ferrara, Carolas
und Leonardas Aretinus in Florenz, und an Ambrosios, den
Camaldulenser, und alle lobten es, besonders in Bezug auf
die Darlegung der christlichen Ansicht
Zunächst scheint auf die Schrill de voluptate oder, wie
sie spater hiess, de ?ero bono, die Ausarbeitung des Buches
de libero arbitrio gefolgt zu sein. Valla selbst giebt die
Verbindung beider Schriften an, indem er sagt, durch die
Schrift de voluptate habe er die vier ersten Bücher des Boethius
de consolatione philosopbiae widerlegen wollen, durch die kleine
Schrift de libero arbitrio bestreite er das fünfte Bach dessel-
ben Autors. Er erklärt sich überhaupt gegen die Anmaassung
der Philosophie von ihrem Standpunkte aus die schwierigsten
Fragen des religiösen Bewusstseins entscheiden zu wollen.
Antonios Harena legt dem Valla die Frage vor, wie die Frei-
heit des menschlichen Willens mit der Allwissenheit Gottes
bestehen könne. Valla beantwortet sie dahin, dass er de-
monstrirt die Allwissenheit Gottes habe mit der Handlungs-
weise des Menschen nichts zu thun, dies seien verschiedene
Gebiete. Aber wohl könne man fragen, warum Gott den
Menschen so und nicht anders geschaffen habe, oder warum
er sich des einen erbarme» den andern verhärte. Darauf aber
sei die biblische Antwort, Gott wolle nicht den Tod des
Sünders, sondern seine Bekehrung und sein Leben. Gott
wolle nur das Gute, aber die Wege seiner Führung seien
das Geheimniss seiner Weisheit: der Mensch müsse ver-
trauen; in einem künftigen Leben werde alles offenbar wer-
den. Der Dialog ist mit Kunst geführt, die Sprache gedrängt
und treffend.
ben, weiss auch nicht, ob die Amisgenossenschaft mit Poggius auf
die Stelle geht, welche Poggius in Rom oder später zur Zeit als
Valla seine antidota gegen ihn schrieb, in Florenz bekleidete. Ma-
phaus Vegius war ein angesehener Dichter und Stilist jener Zeit,
gleichen Alters mit Valla, Datarius der römischen Curie, ein Mann
von ernstem Character und Geistlicher, für den die Rolle des epi-
kurischen Sprechers in der That weniger geeignet war als für An-
tonius Panormita. Aber man sieht, wie wenig die historische Wahr-
heit der Scenerie bezweckt wurde.
des Laurentim Valla. % 409
Die Anmaassung der Juristen auf der Universität, die
Einbildung dass sie allein praktische Einsicht lehrten und da-
bei die unphilologische Art, wie sie die Quellen des römi-
schen Rechts erklärten und ihr barbarisches Latein reizten
den Aerger Valla's. Er kritisirte die Schrift des gepriesenen
aber längst verstorbenen Monarchen des Rechts, des Barto-
lus, de insigniis et armis, von dem Titel anfangend mit
bitterm Spott Horum quos dico Jurisperitorum, sagt er Op.
p. 633 nemo fere est qui non contemnendus plane ac ridi-
culus videatur. Ea est ineruditio in illis omnium doctrina-
rum, quae sunt libero homine dighae, et praesertim eloquen-
tiae, cui antiqui omnes Jurisconsulti diligentissime studue->
runt et sine qua ipsorum libri intelligi non possunt; ea he-
betudo ingenii, ea mentis levitas atque stultitia, ut ipsius juris
civilis doleam vicem, quod paene interpretibus caret, aut quod
bis, quos nunc habet, potius non caret. Satius est non scribere
quam bestias habere lectores, qui quod tu sapienter exeogitasti,
aut non intelligant aut insipienter aliis exponant. Valla's Un-
willen geht im Wesentlichen von derselben Ansicht aus, wo-
durch 100 Jahre später in Italien von Alciatus, in Frank-
reich von Budäus, Duarenus und Gujacius eine gründliche
Verbesserung des Rechtsstudiums herbeigeführt wurde, von
der Notwendigkeit die Rechtsquellen philologisch zu er-
klären. Er kleidete seine scharfe Kritik der Schrift des Bar-
tolus in einen Brief an den ihm befreundeten und sprach-
gewandten Juristen Cato Sancius, wie er selbst Oper. p. 629
sagt, ein; in den gedruckten Ausgaben ist diesem Freunde
der Mailänder Candidus Decembrius substituirt, wahrschein-
lich weil wir die Schrift Vqlla's in einer zweiten Ausgabe
besitzen.
Es erhob sich Valla's halber ein Streit der Juristen und
Philosophen auf der Universität Pavia unter Anführung ihrer
Rectoren. Wovon er ausging und was die Streitenden be-
zweckten, ist aus der Erwähnung der Sache bei Valla Oper,
p. 630 nicht klar. Nämlich späterhin wurde Valla'n von seinem
Gegner Facius vorgehalten, dass die Juristen in Pavia ihn zerris-
sen haben würden, wenn ihn nicht Antonius Panormita's Vor-
410 Leben und Verdiensle
mittelang gerettet bitte. Valla antwortet hierauf, eine Ver-
mittelung durch Antonius habe weder stattgefunden, weil
ihm Antonius damals schon feind gewesen, noch stattfinden
können, weil Antonios ohne alle Bedeutung gewesen wäre.
Der Streit habe zwischen dem Rector der Juristen und dem
Rector der Philosophie Studirenden Statt gefunden, weil die
Philosophen Valla in Schutz nahmen und wegen seines An«
griffe auf die Juristen zu den Ihrigen rechneten, obgleich er
sich doch vorher auch als ein Gegner der Philosophen ge-
zeigt habe. Dies kann nur auf die Aeusserungen Valla's in
der Schrift de libero arbitrio über das Unvermögen der Phi-
losophie Freiheit und Notwendigkeit zu vereinigen, und auf
seine Verwerfung des Boöthius gehen. Das Ende des Strei-
tes war, sagt Valla, dass die Juristen ihren Aerger still er-
trugen und die Philosophen, selbst ohne Genugthuung von
Seiten Valla's, laut triumphirten, d. h. ohne dass Valla etwas
von dem zurücknahm, was er gegen die Philosophie geäus-
sert hatte *).
Ob Valla in Paria, oder später in Neapel oder in Rom
Sallust's Gatilina erklärt und zu diesem Behuf ein Commen-
tarium niedergeschrieben hat, welches sich in mehreren al-
ten Ausgaben des Sallust unter dem Namen Laurentius Valla
abgedruckt findet **), ist nicht zu bestimmen, da diese Arbeit
weder Vorrede noch Dedication hat. Ja es scheint mir über-
haupt zweifelhaft, ob diese Noten von unserm Laurentius
Valla sind. Sie sind so trivial, so sehr blosse Wortumschrei-
bung ohne alle feineren Unterscheidungen, ohne gramma-
*) Das Verständniss der Stelle im 4len Buch in Facium p.630
ist schwierig, theils weil der Grund, weshalb er hostis philosopho-
rum genannt worden, nicht angegeben wird, theils weil Druckfeh-
ler vorkommen. Für q u am diversam factionem scripsissem lese ich
quoniam — scripsissem, indem Valla auch sonst scribere für de-
scribere, persifliren, gebraucht; für quod a se transissem muss es
heissen ad se.
**) Poggiali citirt als die älteste Ausgabe, worin sich diese No*
ten mit- dem Namen Laur. Vallae finden, die Venelianische 1491.
Mir liegt dte Ausgabe Venet. 1506 zugleich mit den ähnlichen Wort-
umschreibenden Noten des Omnibonus Leonicenus vor.
des Laurentim Valla. 411
tische Bemerkungen, dass man auf keine Weise den Verfas-
ser der Elegantiae darin erkennt.
Valla trat mit dem Scbluss des Studienjahrs 1432 von
seinem Lehramt in Pavia ab, und dies ward von dem Her-
zog von Mailand zweien Bewerbern, dem Magister Antonius
aus Palermo und dem Magister Antonius aus Asti gemein-
schaftlich und dergestalt übertragen, dass von dem Gebalte
von 50 Florenen, welches Valla bezogen hatte, 30 Florenen
dem ersteren und 20 dem andern angewiesen wurden *). Ein
gerichtliches Instrument vom 4tenMarz 1433, wodurch Valla
seinen Antheil an dem väterlichen Hause in Rom seiner
Schwester Margaretha, der Verlobten des apostolischen Schrei-
bers und Abbrewators Ambrogio Dardanoni aus Mailand, ab-
trat, ist die letzte Spur von Vaila's Aufenthalt in Pavia. Er
begab sieh nach Mailand legendi gratia, wie er selbst
sagt; aber was er in Mailand vorgetragen und ob er ein«
öffentliche Anstellung daselbst gehabt bat, ist aus Mangel an
Nachrichten nicht zu bestimmen.
Valla trat darauf in die Dienste des Königs Alfons von
Aragonten und Sicilien zur Zeit als dieser Fürst noch um
den Thron von Neapel kämpfte. Nämlich am 2. Februar
1434 war die Königin Johanna von Neapel gestorben. Sie
hatte Alfons adoptirt und ihn in einem Testamente zum Er-
ben ihres Reiches eingesetzt. Die wankelmütbige Frau wi-
derrief jedoch diese Bestimmung, und erkannte Ludwig von
Anjou als rechtmässigen Erben an. Dieser vererbte, da er
kurze Zeit vor Johanna starb, sein Recht auf seinen Bruder
Rena, Herzog von Provence, und so entbrannte im Jahre
1435 der Krieg zwischen dea Kronprätendenten, Alfons von
Aragonien und Ren6 aus dem Hause Anjou; er nahm erst
1442 mit der Eroberung Neapels durch Alfons und der Flucht
des unglückliehen Königs Ren6 ein Ende.
Valla muss die persönliche Bekanntschaft des Königs
Alfons in Mailand gemacht haben, denn Alfons war im Som-
mer 1435 bei der Belagerung Gaetas von den Genuesen
*) Poggiali aus dem Archiv von Pavia, p. 25«
412 Leben und Verdienste
zur See geschlagen und zum Gefangeneligemacht worden, wor-
auf ihn die Genuesen ihrem damaligen Schulzherrn, dem
Herzog von Mailand Philipp Maria Visconti, überliefert hat-
ten. Was ein unermessliches Unglück für Alfons schien,
schlug zu seinem Glücke aus: er wurde in Mailand ehren-
voll behandelt und erhielt seine Freiheit zurück, eine Folge
seiner persönlichen Liebenswürdigkeit und geheimer Vertrage.
Es könnte scheinen, als sei Valla zu Mailand selbst 1435 in
Alfons Dienste getreten, doch ergiebt sich aus dem Briefe
Valla's an den Cardinal-Kammerer Eugen's IV., von welchem
Briefe später die Rede sein wird, dass dies erst Ausgangs
des Jahres 1436 oder zu Anfang 1437 stattfand.
Noch vor seiner Reise ins Neapolitanische machte Valla dem
Papst Eugen IV. seine Aufwartung: er erinnert den Papst daran
in einem Briefe *), ja er sagt, er würde sich nicht von seiner
Person entfernt haben, wenn er nicht seinen Bruder, den er in
9 Jahren nicht gesehen, im Neapolitanischen (Salerno) hätte
besuchen wollen. Er verschweigt dabei seine Anstellung im
Dienste Alfons, mit dem der Papst meist in Streit war.
Valla wurde des Königs Secretär. So heisst er auf seinem
Grabsteine und so sagt er selbst in seinem Briefe **) an den
Cardinal-Kammerer. Auch Antonius Panormita war mit dem
Titel eines königlichen Rathes, wahrscheinlich schon einige
Zeit vor Valla, in Alfons Dienste getreten, und in etwas un-
tergeordneter Stellung, wie es scheint, leistete Bartholomäus
Facius ähnliche Dienste. Ganz unrichtig "*) sagt Draken-
boreb, der König Alfons habe Valla als öffentlichen Lehrer
der Rhetorik angestellt. Wo sollte Valla auch gelehrt haben,
da Neapel erst 144? in Alfons Besitz kam? Valla begleitete
*) Epislolae regum, prineipum, rerumpublicarum ac sapientum
virorum etc, oder zufoige der inneren Ueberschrifl Epislolae man-
di procerum, Venedig 1574 durch Hieron. Donzellinus herausgege-
ben, dann Argentioae 1593 abgedruckt, welche Ausgabe ich vor
mir habe, pag. 336.
**) Ebendas. p. 398.
***) Die Stelle, die er zur Beglaubigung citirt, aus Valla's Hb. IV.
in Faciura p. 6*24 bezieht sich auf Valla's früheres Lehramt in Pavia.
des Laurentius Valla. 413
den König mehrere Jahre hindurch auf seinen Kriegszügen
in Unteritalien. Alfons war ein Freund eleganter Gelehr-
samkeit: die lateinische Sprache war die höhere Geschäfts»
spräche, und Alfons wünschte sie richtiger und eleganter zu
sprechen, als er sie ohne Zweifel schon sprach. Er war so
eifrig, dass er sich alle Sprachbemerkungen, die Vaila machte,
selbst aufzeichnete. Fast täglich nach Tische, wenn keine
wichtigeren Geschäfte drängten, liess der König lateinisch
vorlesen, in der Regel von Antonius Panormita. Der ganze
Livius ward auf diese Weise durchgelesen. Der König, aber
auch andere Anwesende, fragten, wenn sie etwas nicht ver-
standen, und ergingen sich auch sonst in Gesprächen über
das Gelesene. Aus diesen Unterhaltungen sind dann haupt-
sächlich die 4 Bücher de dictis et factis Allonsi regis hervor-
gegangen, welche Antonius Panormita verfasste und noch bei
Lebzeiten des Königs herausgab. Er erklärt in der Vorrede,
er wolle, wie Xenophon die Reden des Sokrates sammelte,
so die klugen und geistreichen Thaten und Worte des Kö-
nigs auf die Nachwelt bringen. Und zu dieser Schrift des
Antonius schrieb Aeneas Silvius Piccolomini, damals Bischof,
später Papst unter dem Namen Pius IL, Randglossen und
Betrachtungen, die ebenfalls gedruckt sind *). Valla hatte bei
seinem Geschäft doch noch Zeit genug zu literarischen Com-
positionen übrig. Die Geisteskraft ist zu bewundern, mit
der er seine Mussestunden so anzuwenden verstand, wie er
sie anwandte. Zuerst vollendete er auf Kriegszügen in der
Begleitung des Königs, unter andern Besorgungen (wie er
selbst in der Vorrede zum 5ten Buch sagt), seine 6 Bücher
Elegantiarum. Er musste eilen sie zu publiciren, weil
schon vieles davon durch seine Schüler verbreitet war, und
Andere sich seine Entdeckungen aneigneten. Dies Werk
enthält feine, damals durchaus neue Bemerkungen über la-
teinische Grammatik, Formenlehre sowohl als Syntax, über
den richtigen Gebrauch einzelner Wörter und die Synony-
mik, im 6ten Buch Berichtigungen sprachlicher Bemerkungen
*) Unter dem Titel Commentarium.
Zeitschrift f. Geschichte*. IV. 1845. 28
414 Leben tauf Verdienste
alter Grammatiker und Commentatoren, wie Servhis, Dona-
tas, Asconius und die juristischen Worterklärer. Man muss
die Belesenheit Valla's , seine scharfe Beobachtung und die
bündige treffende Art des Vortrags bewundern. Es sind
Sprachbemerkungen, wie sie auch heut zu Tage noch der
sprachliche Erklärer eines alten Autors in Gollegien vorträgt:
trivial ist gar nichts, vielmehr das Meiste von der Art, dass
es gar sehr den beutigen Latinisten wieder in Erinnerung
gebracht zu werden verdient Man muss wünschen, dass es
für alle Sprachen ein Handbuch gebe, welches so kurz und
treffend auf den Sprachgebrauch erlesener Autoren aufmerk-
sam macht Bei den Zeitgenossen fanden Valla's Elegan-
tiae einen solchen Beifall, dass allein in der zweiten Hälfte
des 15ten Jahrhunderts 12 Ausgaben derselben im Druck er-
schienen.
Nach diesem Werke gab Valla seine 3 Bücher Diale-
cticae disputationes heraus, eine Logik der Rhetorik. Er
habe sie schon längst herausgeben wollen, sagt er in der
Vorrede des 3ten Buchs der Elegantiae, um zu zeigen, dass
die Philosophen deshalb am meisten irren, weil es ihnen an
Sprachfertigkeit fehle: nur seine Freunde hätten ihn genö-
thigt zuvörderst die Elegantiae herauszugeben. Er geht auch
in diesem Werke seinen eigenen Weg, indem er sich von
vorn berein gegen Aristoteles erklärt und dessen 10 Kate-
gorien auf 3, substantia, qualitas und actio, zurückfuhrt Er
sucht die ganze Disciplin zu vereinfachen. Im ersten Buch
bandelt er von ihren Grundlagen, im zweiten von der ver-
borum interpretatio, im dritten von der argumentandi ratio,
alles wo möglich mit Beispielen aus der klassischen Literatur.
Aus einem griechischen Manuscript, welches ihm ex
praeda navali zugekommen, übersetzte Valla 33 Aesopische
Fabeln und dedicirte diese schlichte aber gut lateinische Ue-
bersetzung, das Werk dreier Tage, unter dem Isten Mai 1438
aus Cajeta dem Renaldus Fonaledae. *)
*) Ich habe vor mir Diversorum authorum et interpretum fa*
bulae excusae Argentor. 1520. 4.
des Laurentius Valla. 415
Die Livianiscben Vorlesungen am Hofe des Königs ga-
ben dem Valla die Veranlassung, eine Abhandlung über die
Frage zu schreiben, ob Tarquinius Superbus der Sohn oder
Enkel des Tarquinius Priseus gewesen. Er behauptet» der
Enkel: siegreich, wenn diese sagenhafte Erzählung auf Fac-
ticität zurückzufuhren ist Er vollendete diese Schrift zu
Neapel am 6. December 1442. Am 6. Juli dieses Jahres war
nämlich Alfons in seine endlich unterworfene Hauptstadt
und nunmehrige Residenz eingezogen.
Aber bei weitem die merkwürdigste Schrift, mit deren
Ausarbeitung Valla in der Zeit seines Aufenthaltes am Hofe
Alfons, beschäftigt war, ist die declamatio de falso credita et
ementita Gonstantini donatione, womit er einen der heftig-
sten Angriffe auf die Hierarchie machte. Er muss sie im
Jahre 1439 geschrieben haben zufolge der Stelle p. 793 Oper.,
wo er sagt: „Romam sexto abhinc anno rebellasse, cum pa-
cem ab Eugenio obtinere non posset, nee pax esset ab ho-
stibus, qui eam obsiderent." Dieser Aufstand in Rom gegen
Engen IV. geschah nämlich im Jahre 1434. Der Papst wurde
von den Bürgern gefangen gehalten: man verlangte von ihm,
er solle seiner weltlichen Herrschaft entsagen; er entfloh (am
8. Juli) mit Lebensgefahr und bekriegte dann seine Haupt-
stadt.
Es ist eine merkwürdige Schrift wegen der kecken An-
sicht, die darin ausgesprochen und begründet wird, dass alle
weltliche Herrschaft des Papstes und der Kirche eine Usur-
pation über den Aberglauben sei. Valla greift ein Palladium
der römischen Kirche, die Schenkungsurkunde Gonstantins
an, die wirklich in der Decretalensammlung Isidors steht und
in das kanonische Recht übergegangen war, wonach Con-
stantin zum Dank für die empfangene Taufe dem Papst Sil-
vester nicht nur die Stadt Rom geschenkt, sondern auch sein
ganzes Reich verschrieben haben soll, dergestalt dass er selbst
es nur als Verwalter des Papstes wieder nahm. Valla zeigt mit
Kenntniss der römischen Geschichte und Antiquitäten, dass die
Sache rein unmöglich, die Urkunde erlogen und erst im
9tcn Jahrhundert geschmiedet sei. Er gebt aber noch viel
28*
416 Leben und Verdienste
weiter: er preist die Reinheit der alten Kirche und leitet
alle Verderbniss der jetzigen, allen Krieg and alles Unglück
Italiens, von der usurpirten weltlichen Herrschaft des Pap-
stes ab. Man sage schmählicher Weise: „die Kirche strei-
tet gegen Perugia, gegen Bologna. Nein, nicht die Kirche,
sondern der Papst in seinem weltlichen Gelüste bekriegt die
trefflichen Städte.'4 Er verlangt am Schluss, der Papst solle
seine Unterthanen frei lassen, ihnen die Wahl einer weltli-
chen Regierung anheim geben. „Ich hoffe, er giebt der
Wahrheit die Ehre und wandert von selbst aus dem frem-
den Hause in das eigene, er zieht sich aus den empörten
Fluthen in den sicheren Hafen «seines eigentlichen Berufes
zurück. Thut er es aber nicht, so werde ich mich zu einer
zweiten Rede anschicken, die noch viel gewaltiger als diese
sein soll."
Valla's Gründe gegen die Schenkung Gonstantin's sind
so einleuchtend, dass kein noch so päpstlich gesinnter Ka-
tholik in neuerer Zeit an der Falschheit der Urkunde zwei-
felt; die eifrigsten behaupten nur, es sei eine arglose Erdich-
tung, insofern das wirklich Bestehende auf einen Urheber,
der es angeordnet haben sollte, zurückgeführt sei. Auch Ti-
raboschi, der in kirchlichen Dingen überaus vorsichtig und
conservativ gesinnt ist, tadelt an Valla's Schrill nur die Hef-
tigkeit und die bemerkbare Absicht der römischen Gurie wehe
zu thun. Ganz gewiss, wer heutiges Tages so etwas druk-
ken Hesse, hätte, wo die römische Kirche Macht hat, am läng-
sten das Licht der Sonne gesehen.
Eine äussere Veranlassung und Aufforderung hatte Val-
la's Angriff durch den Streit des Baseler Goncils mit Eugen IV.
Dieser Papst hatte das Goncil im Jahre 1438 aufgehoben und
nach Ferrara verlegt. Das Goncilium gehorchte nicht, hielt
sich für mehr als der Papst, setzte Eugen IV. 1439 ab und
wählte den ehemaligen Herzog von Savoyen, Felix V. Kö-
nig Alfons lebte in Unfrieden mit dem römischen Papste, weil
dieser alles anwandte, dass Neapel nicht mit Sicilien vereinigt
würde: er erkannte den Gegenpapst an. Auch der Herzog
von Mailand hatte Streit mit Eugen IV. Es könnte demnach
des Laurentiu* Valla. 417
wohl scheinen, als habe Valla für eine politische Partei und
im Auftrage Alfons' geschrieben. Aber hiervon findet sich
keine Spur, und man kann nicht zweifeln, dass Valla seine
eigene Gesinnung ausdrückt, womit seine späteren reforma-
torischen Versuche in Bezug auf den Text der Vulgata in Ver-
bindung stehen.
Valla schreibt an Guarinus und Aurispa ohne Hehl und
sich rühmend von seiner Schrift, indem er sie ihnen zuzusen-
den verspricht, falls sie sie noch nicht hätten/) und noch spä-
ter (1444) erklärt er dem Cardinal Kämmerer in dem oben
angeführten Briefe/*) er könne weder noch wolle er sie än-
dern oder unterdrücken, sondern müsse mit Gamaliel sagen:
„Ist dies Menschenwerk, so wird es untergeben, ist es aber
von Gott, so könnt ihr es nicht zerstören." Anderwärts je-
doch spricht er von der Schrift so, dass er ihre Verbreitung
nicht sich, sondern der Dummheit seiner Gegner zuschreibt,
wodurch es bewirkt worden sei, dass sie nun nicht wieder
zurückgenommen werden könne.***) Sie lief im Verborgenen
um: Anton Gortese, päpstlicher Secretar, schrieb ein Buch
dagegen, „Antivalla" betitelt, doch wie es scheint,!) erst nach
Valla's Tode. Es gelang der römischen Curie sie zu unter-
drücken, bis sie zur Zeit der Beformation in Basel gedruckt
erschien und durch alle Welt flog.
Dieselbe philologisch -historische Gründlichkeit oder im
Allgemeinen diese Freisinnigkeit verwickelte Valla in Neapel
in eigentlich theologische Händel. Er behauptete gegen ei-
nige vornehme Geistliche, der Brief Christi an Abgarus von
Edcssa, der sich zuerst bei Eusebius Kirchengesch. 1, 13 fin-
det, sei unächt, woran jetzt niemand mehr- zweifelt. Ein
*) Epist. raundi procer. p. 346 und 350.
') Epistolae eaed. p. 337.
') Antidot, in Poggium lib. IV. p. 356.
f) Er wirft nämlich dem Valla vor, seine Stellung als päpst-
licher Secretar gemissbraucht zu haben. Valla erhielt diese Stel-
lung aber erst am Ende seines Lebens: es ist auch nur Unkunde,
wahre oder erheuchelte, des Cortese, wenn er annimmt, dass Valla
seine Schrift in Rom, ein undankbarer Diener des Papstes, abge-
fasst habe. S. die Stelle bei Tiraboschi.
418 Leben und Verdienste
Mönch Fra Antonio da Bitonto predigte in der Fastenzeit
über das apostolische Symbolum und lehrte es sei von den
zwölf Aposteln gemeinschaftlich und dergestalt abgefasst wor-
den, dass jeder Apostel einen Artikel desselben lieferte. Valla
ging mit einem Freunde zu ihm in das Kloster und setzte
ihn zur Rede, wie er dies beweisen könne. Der Mönch konnte
keinen alten Kirchenvater dafür anführen, wies aber den Ein-
spruch eines Laien geringschätzig ab und predigte von neuem,
Valla als einen Ungläubigen und Zweifelsüchtigen bezeich-
nend. Valla dagegen kündigte eine öffentliche Disputation in
Neapel an, worin er die Unrichtigkeit jener Entstehung des
sogenannten apostolischen Symbolums gegen jedermann be-
haupten wolle. Er würde auch wohl noch weiter gegangen
sein und überhaupt die Existenz eines Symbolums vor dem
Nicänischen geläugnet haben, wie sich dies aus pag. 360 sei-
nes vierten Antidoton's gegen Poggius zu ergeben scheint
Der König Alfons hinderte die Disputation auf eine für Valla
ehrenvolle Weise. Aber die Gegner verklagten den kecken
Philologen bei dem erzbischöflichen Amte, und obgleich Valla
immer die Erklärung wiederholte, er nähme alles an was die
Mutter Kirche annehme, so stand er doch in Gefahr als Ket-
zer verurtheilt zu werden, bis ihn der König unmittelbar in
Schutz nahm und ernstlich befahl, die geistlichen Richter soll-
ten sich an jener Erklärung genügen lassen.
Schon damals beschäftigte sich Valla eifrigst mit der
Durchmusterung der lateinischen Vulgata des neuen Testa-
ments. Er hatte schon in den Elegantiae viele sprachliche
Unrichtigkeiten in derselben getadelt*): dies anfänglich nar
*) Die Elegantiae sind wirklich in den Index der vom Triden-
ter Conciliuai verbotenen Bücher gesetzt worden, jedoch nur
bis die Stelle VI. 34 corrigirt würde, s. Poggiali p. 131. In dieser
Stelle erklärt sich Valla polemisch gegen die Definition des Boe-
ihius von persona und spricht sich über den unrömischen Ge-
brauch dieses Wortes zur Bezeichnung einer Substanz, nicht einer
Qualität, tadelnd aus. Valla hatte damit nichts Theologisches oder
Dogmatisches gemeint, aber ein eifriger Latinist konnte allerdings
daraus eine Argumentation gegen die kirchliche Bestimmung von
den drei Personen Gottes ziehen.
de* Laurentius Valla. 419
*
stilistische Interesse führte ihn weiter. Daneben arbeitete
er an einer Uebersetzung der llias in lateinische Prosa: er
schreibt ungefähr um diese Zeit an Joh. Aurispa/) er habe
16 Bücher fertig, wolle sie aber nicht zuvor publiciren, ehe
er sie nicht Aurispa'n vorgelegt und dessen beifälliges Lrtheil
erhalten habe. Es muss ihm nicht versagt worden sein, denn
Valla's Uebersetzung der llias ist vollständig im Druck er-
schienen Brixiae 1474.
Trotz des Schutzes, den ihm der König Alfons ge-
währte, wünschte Valla nach Rom zurückzukehren. Was ihm
in Neapel missiiel, ist schwer zu sagen. Man kann vermu-
then, der Neid seiner gelehrten Collegen am Hofe des Kö-
nigs, was von einer späteren Zeit gewiss ist. Ob aber diese
Misshelligkeit schon damals statt fand, ist nicht deutlich. Er
selbst fuhrt nur den Wunsch an, seine Vaterstadt, seine
Verwandten und namentlich seine Mutter wiederzusehen,
König Alfons hatte sich mit Eugen IV. ausgesöhnt; er hatte
ihn in dem am 14. Juli 1443 geschlossenen Frieden als Papst
anerkannt, wogegen der Papst ihn, den bisherigen Gegner, mit
dem Königreiche Neapel belehnte. Drei Briefe Valla's aus
Neapel in der schon früher genannten Sammlung Epistolae
mundi procerum beziehen sich auf diese gewünschte Rück-
kehr nach Rom, aber alle drei sind ohne Jahreszahl. In dem
ersten**) vom 13. Gal. Dec. an den Cardinal Ludwig, Käm-
merer des apostolischen Stuhls, wünscht er dringend zu wis-
sen, ob er nach Rom kommen dürfe oder nicht Er schreibt:
„es sei ihm gerathen worden mit Empfehlungsbriefen vom
Könige Alfons an den Papst und mehrere Gardinäie in Rom
zu erscheinen; er zöge es aber vor selber an den Cardinal
Kämmerer, das sei so gut als an den Papst, zu schreiben.
Er behauptet den Papst Eugen immer geliebt und sich nie-
mals zu seinen Feinden geschlagen zu haben, in der Schrift
von der Schenkung Constantin's habe er nur die Wahrheit
vor Augen gehabt und keine persönliche Kränkung dieses
*) Epist. mundi procerum p. 347 sqq.
**) Epist. mundi proc. p. 336 sqq.
120 Leben und Verdunste
Papstes bezweckt" Zur Bestimmung des fehlenden Jahres ge-
reicht die Bezeichnung zu Anfang des Briefes, er sei vierzehn
Jahre von Rom abwesend und acht Jahre als Secretar im
Dienste des Königs Alfons. Danach ist, wenn 1431 als das
erste Jahr der Abwesenheit gerechnet wird, der Brief im
Jahre 1444 geschrieben. In einem anderen Briefe vom 12.
Gal. Febr. bittet er den Cardinal Gerardus fiir ihn den so-
genannten salvi conductus zu erwirken. *) Endlich in einem
Schreiben an den Papst (welches in der Ausgabe fälschlich
Vallae Oratio ad summum pontificem überschrieben ist)**)
vom Tage prid. id. Mart (1445) bittet Valla förmlich um Auf-
nahme in den päpstlichen Dienst; er betheuert seine bestän-
dige Verehrung fiir den Papst, bittet um Verzeihung dessen,
was er theils auf fremde Eingebung, theils aus Ruhm- und
Streitsucht gethan habe, und verspricht für's Künftige ein
treuer und tapferer Streiter für das päpstliche Interesse zu sein.
So reiste er dann nach Rom, wahrscheinlich ohne irgend
eine feste Zusicherung erhalten zu haben. Er wohnte bei
seiner Schwester Margareta, die mit dem päpstlichen Secre-
tar Ambrosius Dardanus verheirathet war. Aber sein Auf-
enthalt in Rom war nicht von Dauer. Man fing an gegen
ihn zu inquiriren. Dieselben Personen, die ihn in Neapel
verfolgt hatten, schadeten ihm auch in Rom.***) Er musste
furchten vom Pöbel, den man gegen ihn aufwiegelte, umge-
bracht zu werden. Schon im zweiten Monat nach seiner
Ankunft floh er wieder aus Rom über Ostia nach Neapel.
Poggius schrieb: bis Barcellona. Aber dies ist nicht zu er-
klären, wenn es nicht deshalb geschah, weil König Alfons
sich etwa damals in Barcellona aufhielt; und dann ist es
*) S. Op. p. 341. Um den Cardinal zu gewinnen, verheisst er
seine neuen philologischen Arbeiten. Si istuc veniam, feram XVI.
libros Homeri prosa translatos, itemque octo libros super novutn
testamentum, praeterea Elegantias meas cum compendiariis glossis
ipso opere paene ulilioribus.
**) S. Op. p. 397—405. Poggiali pag. 67 hält deshalb den Brief
irriger Weise für den zweiten Theil der nachher zu erwähnenden
Apologia.
***) S. Opera p. 362.
des Laurentius Valla. 42 i
wiederum gleichgültig, da das Ziel der Flucht der Hof des
Königs war. Alfons gewährte ihm seinen Schutz, und Nea-
pel wurde abermals Valla's Aufenthalt. *)
Von dort aus sandte er an den Papst Eugen IV. eine
Apologia adversus calumniatores suos, die in den Werken
gedruckt ist - Er vertheidigt sich darin gegen Anklagen, die
man aus seiner Schrift de vero bono abgeleitet habe, was
ihm nicht schwer fallen konnte, ferner gegen Verleumdungen
in Betreff seiner Zweifel an dem Symbolum apostolicum, in-
dem er behauptet, er habe nur einen gerechten Zweifel an
der vorgegebenen rohen Entstehungsart des apostolischen
Symbolums ausgedrückt. Von seiner Schrift de donatione
Gonstantini schweigt er ganz, obgleich doch ohne Zweifel
hierüber vorzüglich inquirirt worden war. Entweder sah er
ein, dass eine Verteidigung derselben Eugen IV. gegenüber
überhaupt nicht möglich war, oder er behielt sich noch eine
Art der Rechtfertigung vor, indem er seine Apologia als
erstes Stück bezeichnete. Aber Eugen IV. bewahrte seine
Abneigung gegen Valla, und so lange er lebte, durfte Valla
nicht mehr daran denken nach Rom zurückzukehren.
Es ist möglich, dass Valla fortan in Neapel wirklich Vor-
lesungen hielt, denn Joh. Ant. Campanus wird sein Schüler
genannt") Aber was Poggiali anfuhrt,***) dass Valla sich
auch einen Grundbesitz bei Neapel, eine Villa bei der Mergel-
Jina, erwarb, ist nicht bewiesen. Er gründet diese Notiz auf
einen Brief des philologischen Arztes Antonius Galateus an
Sannazar, worin eine scherzhafte Beschreibung von der Klein-
heit der Villa des Laurentius Valla gegeben wird. Der Brief
*) Drakenborch übergeht diesen ersten Versuch Valla's seinen
Aufenthalt wieder in Rom zu nehmen ganz und gar, und spricht
nur von derjenigen Verlegung seines Wohnsitzes von Neapel nach
Rom, die nach dem Tode Eugens IV. statt fand.
**) S. Poggiali p. 44 aus Apostolo Zeno disserl. Vossian. Tom. I.
p. 197. Aber wenn Poggiali auch 3en Pomponius Laetus als Schü-
ler des Valla anführt, so bemerkt er nicht, dass Pomp, den Valla
in Rom, nicht in Neapel, hörte.
***) Poggiali p. 73.
492 Leben und Verdienste
findet sich abgedruckt am Schluss des interessanten Buches
de situ Iapygiae von demselben Verfasser. *) Jedoch der dort
genannte Laurentius Valla kann nicht unser römischer Valla
sein : die Zeitbestimmungen widersprechen. Gaiateus spricht
von dem Besitzer der Villa als von einem noch lebenden
Zeitgenossen; er selbst lebte von 1444 bis 1517 und schrieb
jenen Brief etwa im Jahre 1500, d. h. beinah ein halbes Jahr-
hundert nach unsers Valla Tode. Dem Besitzer der Villa hatte
tuus (Sannazarii) meusque beros Fridericus einen Zugang
zur Villa per mediam Mergellinam gegeben, und dieser Fri-
dericus ist der Enkel Alphons 1. Also bezieht sich diese
ganze Notiz auf einen andern zwar gleichnamigen aber viel
späteren und sonst unbekannten Valla in Neapel.**)
Diese Zeit des Aufenthalts in Neapel wurde Valla'n durch
gelehrte Rivalitäten und empGndliche Streitigkeiten mit ehe*
maligen Freunden verbittert Die lateinischen Vorlesungen
bei Hofe waren wieder aufgenommen worden. Dabei be-
währte Valla Scharfsinn und Gelehrsamkeit in weit höherem
Grade als Antonius Panormita. Wenn in der Handschrift,
aus welcher vorgelesen wurde, eine sinn- oder sprachwidrige
Stelle war, so gab Valla eine leichte und sichere Emendation
an, worüber der König laut seine Freude äusserte. Ans
diesen Beratbungen sind Valla's Emendationes Livianae über
die dritte Decade der Geschichtsbücher hervorgegangen, die
einen Theil seiner Streitschrift gegen Facius ausmachen und
die in hohem Grade der vorteilhaften Vorstellung, die man
schon sonst von Valla's philologischer Schärfe haben muss,
*) Basel 155S. 8. Auch Niceron im Leben des Gaiateus (Theil 9.
S. 254 der deutschen Uebersetzung) gründet auf diesen Brief die
Angabe, dass Gaiateus sich bei Laur. Valla aufgehalten.
**) Der gelehrte Akademiker zu Neapel, Hr. Agostino Gervasio,
den ich brieflich um Aufklärung über die Person des von Galateo
genannten Valla befragte, ist mit mir der Ueberzeugung , dass es
nicht Laurentius Valla aus Rom sei. Er halt sogar den Vornamen
Laurentius für einen falschen Zusatz des Herausgebers der Schrif-
ten Galateo's, und glaubt, dass der im Brief Genannte Pietro Sal-
vator Valla ist, an welchen Ponlanus einen vom 1. Januar 1460
datirten Brief Opera edtL Basil. 1556 Tom. 3 p« 2597 gerichtet bat.
des Laurenüus Valla. 423
entsprechen. Durch diese (Jeberlegenheit Valla's fühlte sich
Antonius gekränkt, er stand sonst in hoher Gunst bei Alfons
und wurde in wichtigen Staatsgeschäften gebraucht, er wollte
aber auch als Gelehrter und als lateinischer Stilist der erste
sein und Valla's Ruf herabdrücken. Jedoch als ein feiner
JMann hielt er sich hinter den Goulissen. Er sandte seinen
dienten Facius, einen lateinischen Stilisten, der uns sonst
nicht unvortheilbaft als Historiograph des Königs Alfons be-
kannt ist, zum Angriff auf Valla vor. Valla erzählt die In-
trigue folgendermaassen: *) Der König hatte Valla den Auf-
trag gegeben, das Leben seines Vaters, Ferdinand L von
Aragonien, zu schreiben. Valla vollzog den Auftrag und
überreichte das Buch in der Handschrift, aber noch unaus-
gefeilt, dem Könige, damit er seine sachlichen Ausstellungen
und Zusätze machen möchte. Alfons war dermalen durch
Geschäfte behindert und gab das Buch seinem Bibliothekar.
Von diesem erhielten es die Gegner, die es für ihren Zweck
ausbeuteten. Sie fanden einige sachliche Anslössigkeiten,
wie z. B. was Valla von der Corpulenz des Königs Martin
erzahlte, wodurch es diesem Vorgänger Ferdinands I. **) trotz
aller Veranstaltungen unmöglich war ein Kind zu erzielen.
Die Stelle findet sich wirklich im zweiten Buch von Valla's
drei Büchern historiarum Ferdinandi Aragonum et Siculorum
regis.***) Ausserdem spürten Antonius und Facius 500 Sprach-
fehler in Valla's Arbeit auf. Sie stellten ein Buch darüber
zusammen und versandten es überall hin um Valla's Buf zu
schaden, gerade zur Zeit als Valla von Neapel nach Born
gereist war. f) Valla erhielt bei seiner Bückkehr Kunde von
*) Lib. 1 in Facium p. 464 sq. der Opera.
**) Martin, welcher 1410 starb, war der Bruder der Königin
von Castilien Eleonora und diese die Mutter Ferdinands.
***) Diese Schrift Valla's ist nicht in die Opera Basil. 1540 auf-
genommen, obgleich *sie schon Paris 1521 zweimal bei Rob. Stepba-
nus und bei Simon Colinäus erschienen war. In Deutschland be-
förderte sie Johann Lang, damals Pastor zu Neisse, aus einer
Handschrift zum Druck, Vratislav. 1546, in Octav ohne Seitenzahlen.
f ) Vall. in Facium lib. I. Oper. p. 465 cum ipsi me propediem
424 Leben und Verdienste
dem Angriff; lange konnte er sieb das Bach nicht verschaffen,
endlich erhielt er eine Abschrift des an Poggias nach Rom
gesandten Exemplars, und nun schrieb er 4 starke Bücher
Recriminationes in Facium, worin er nicht nur sich selbst
gegen alle Ausstellungen vertheidigte, sondern auch seine
beiden Gegner durch die Darlegung ihrer Intrigue an den
Pranger stellte. Den Facius, den er meist Fatuus nennt,
vernichtete er ausserdem durch die Aufzählung viel ärgerer
und gar nicht zu entschuldigender Fehler, die derselbe in
seiner Schrift de vitae felicitate begangen hatte. Valla's Wahl-
spruch war: Turpe quidem contendere erit, sed cedere visum
turpius. Nichts auf sich sitzen zu lassen verlangte damals
und noch späterhin die Ehre eines Gelehrten, während es
doch bei der unendlichen Masse literarischer Productionen
sicherer ist, das Falsche seiner Vergänglichkeit zu überlassen.
Nur durch Valla's Verteidigung sind die Angriffe der Gegner
im Gedächtniss geblieben, ihre Schrift ist nie gedruckt wor-
den. Valla's Recriminationes enthalten aber sehr viele schätz-
bare Sprachbemerkungen, und im vierten Buche die oben
erwähnten Emendationes Livianae. Wir entschuldigen auch
seine Heftigkeit, wenn wir die hämische und ungerechte An-
klage bedenken, denn in der That zerfallen alle stilistischen
Ausstellungen, die an seinerSchrift gemacht wurden, in Nichts.
Die beiden Gelehrten hätten sich in Acht nehmen sollen
Valla's grammatische Kritik zu reizen. Denn er hatte eine
Zeitlang vorher (ehe er die Reise nach Rom unternahm) einen
andern Beweis heftiger Empfindlichkeit und unerbittlicher
Strenge gegeben. Der Mönch Fra Antonio da Rö (lateinisch
Antonius Raudensis) hatte in Mailand ein Buch de imitatione
betitelt, ähnlichen Inhalts wie Valla's Elegantiae, nur in al-
phabetischer Ordnung, geschrieben und es an den König Al-
fons nach Neapel gesandt. Er hatte darin Valla unverschämt
geplündert, ihn aber noch dadurch besonders beleidigt, dass
er unter dem Worte omnis eine Bemerkung Valla's über
ire Romain cum summo pontifice collocuturum conslitaisse scirent
et non reversurum sperarent.
des Laurentius Valla. 4'25
den Gebrauch von quisque bei Adjectivis mit dem Ausdruck
getadelt hatte: „Wer dies sagt, der soll in der Schule zu
Unterst sitzen, " recumbet in ludi novissimo loco.*)
Hierüber gerieth Valla in Harnisch; er setzte seine Anmer-
kungen über Antonius' Schrillt auf und wies ihm seine Un-
kenntniss der feineren Latinitat in einer grossen Reibe von
Verstössen nach. Valla's annotationes in Antonium Räuden-
sem sind gewöhnlich als Anhang zu den Elegantiae gedruckt;
sie sind sehr lehrreich und als grammatische Streitschrift
musterhaft, indem zuerst des Gegners Behauptung mit den
eignen Worten desselben aufgestellt und dann haarscharf
widerlegt wird; nur das kann bezweifelt werden, ob Valla
gegen einen alien Bekannten, den er einmal geehrt und
Freund genannt, nicht mehr Schonung hatte beweisen müs-
sen. Man erkennt aus diesen Streitigkeiten, mit welchem
Interesse damals die Fragen nach Richtigkeit und Feinheit
des lateinischen Ausdrucks behandelt wurden, zugleich aber
auch wie vieles beachtet und gewusst wurde, was jetzt ent-
weder nicht beachtet oder nicht gewusst wird.
Obgleich Valla in seinem Streit mit den beiden andern
Hofphilologen gesiegt hatte und König Alfons sein Gönner
blieb, so hegte er doch das Verlangen nach Rom zurückzu-
kehren. Seine Stellung bei Hofe war eine unstäte, unruhige.
Er begleitete 1446 und 1447 den König als Vorleser und
Lehrer auf seinem Zuge durch den Kirchenstaat (über Tibur)
nach Toscana. Dort verliess er den König im Lager vor
Monte (ad montem Gastellum) im Herbst 1447 um mit seiner
Erlaubniss nach Neapel zurückzukehren. Und von Neapel
zog er mit seiner Habe nach Rom. Nämlich der Papst
Eugen IV. war im Februar dieses Jahres 1447 zur Zeit als
sich Valla mit dem König bei Tibur befand, gestorben. Sein
Nachfolger wurde Nicolaus V., selbst ein eifriger Philologe
und freigebiger Gönner der Philologen. „Sogleich als er er-
wählt war, bewilligte er Valla'n Verzeihung und berief ihn
•#
) Vall. Oper. p. 412.
) S. Opera p. 355.
426 Leben und
nach Rom/4 so sagt Antonio Cortese in seinem Antivalla,*)
„was jenen aber doch," setzt er hinzu, „nicht abhielt im
Geheimen sein Buch gegen die Schenkung Constantins aus-
zuarbeiten und gegen Nicolaus zu richten, was gegen Eugen
bestimmt war." Dies ist eine boshafte Unwahrheit Die
Schrift de donatione Constantini war längst verfertigt und so
verbreitet, dass Valla selbst eine Aenderung derselben für
unmöglich hielt Valla verehrt den Papst Nicolaus, der nichts
weniger als ein geistlicher Zelot war und der während seiner
kurzen Regierung einen unerhörten Eifer auf die Beförderung
der Gelehrsamkeit, vornehmlich der klassischen Literatur,
wandte.
Valla hatte Anfangs keine Anstellung in Rom: erst ein
Jahr nach seiner Uebersiedelung von Neapel erhielt er die
Stelle eines Scriptor apostolicus, von der er am 10. Novem-
ber 1448 Besitz nahm.**) Zunächst hatte er vom Papst nur
den Auftrag erbalten den Thucydides ins Lateinische zu
übersetzen. Es war der erste Versuch diesen schwierigen
noch nicht durchweg zu periodischer Klarheit entwickelten
Autor zu übersetzen. Ihn kunstgetreu mit Beibehaltung sei-
ner stilistischen Eigentümlichkeit ins Lateinische zu über«
tragen, ist eine sich kaum verlohnende Arbeit, wenigstens
war dazu eine Hingebung erforderlich, die von demjenigen
am wenigsten erwartet werden konnte, der seinen eignen
Stil schon ausgebildet hatte. Valla schwankt zwischen Treue
und Latinität, daher ist seine [Übersetzung sehr ungleich:
ferner übersetzte er aus der Handschrift, und viele Fehler
mögen dieser und dem noch nicht angebahnten Verständnis*
zur Last fallen. Seine Arbeit scheint ihm sauer geworden
zu sein, sie war im Jahre 1452 vollendet; er überreichte sie
dem Papst, der ihn dafür mit 500 Scudi d'oto beschenkte. "*)
Valla machte sich nachher daran den Herodot zu über-
setzen. Der König Alfons soll ihm diesen Auftrag gegeben
*) Bei Tiraboschi storia della letler. ItaL Tom. 6 p. 2. pag. 310.
**) Nachweisung aus Marini Rcgistr. Vatican. bei Poggiali p. 76.
••*) Vall. Oper. p. 335 quingentos aureos papales. Drafcen-
borch schreibt unrichtig quinquaginta.
des Laurentim Valla. 427
haben, als Valla von Rom ans einen Besuch in Neapel machte;
ja er soll ihm schon eine ansehnliche Summe auf Abschlag
des zu erwartenden Ehrensoldes gegeben haben.*) Diese
Uebersetzung gelang Vaila'n sehr viel besser, als die Latini-
sirung des Thucydides, so dass sie nicht nur in der nächsten
Zeit ungetheilten Beifall erhielt, sondern auch jetzt noch mit
einigen Gorrecturen den griechischen Text begleitet. Reiz
wenigstens gesteht, dass er bei dem Versuch einer neuen
Uebersetzung vieles unverändert von Valla herüber nehmen
müsse, da es nicht besser übersetzt werden könne. Mit dieser
Arbeit war Valla noch am Ende seines Lebens beschäftigt.
Inzwischen wünschte Valla noch eine andere praktische
Beschäftigung, wie sie seinem bisherigen Hauptfache, der
lateinischen Stilistik, angemessen war. Professor der Rhe-
torik in Rom war der Grieche Georgius Trapezuntius, zu-
gleich apostolischer Secretar. Er hatte zwar ganz gut La-
teinisch gelernt, aber es fehlte ihm Talent und Neigung für
die lateinische Beredsamkeit. Er verachtete den Quintilian,
den Valla überaus hoch schätzte. Der Papst Nicolaus wollte
den Georgius nicht kranken, aber Valla setzte es doch mit
Beihülfe einiger Gardinäle durch, dass ihm neben Georgius
die Professur der Rhetorik mit einem gleichen Gehalte über-
tragen wurde. **) Dies geschah drei Jahr nach seiner An-
kunft in Rom; also nehmen wir an, dass er seine lange ge-
wünschte Lehrtätigkeit mit dem Wintercursus 1450 eröffnete.
Ein halbes Jahr las er neben Georgius, bis dieser von dem
Wetteifer abstand.***) Es lässt sich erwarten, dass Valla
in diesem seinem eigentümlichen Berufe durch mündlichen
Vortrag viel leistete. Es scheint, dass er den Quintilian zur
Grundlage seines systematischen Vortrags nahm und daneben
schriftliche Ausarbeitungen seiner Schüler leitete und be-
richtigte. Er gab zu diesem Behuf eine neue Bearbeitung
seiner Elegantiae heraus und widmete sie dem Kämmerer
*) Ersleres meldet Jovian. Pontanus Oper. edit. Venet. 1508
pag. 298; das Zweite Facius, s. Poggiali pag. 87.
•*) S. Anlid. in Pogg. IV. Oper. p. 348.
•»*) Vall. Antidot, in Pogg. Üb. 4. p. 335.
428 Leben und Verdienste
und Studiengenossen des Papstes Nicolaus Job. Tortellius
„als Vergeltung für das viele, was er ihm verdanke.44 Das
nützliche und den Stilisten dieser Zeit (Valla selbst mit ein-
geschlossen) höchst nothwendige Büchlein über den richtigen
Gebrauch des Beciprocums se und suus ist ebenfalls mit
einer neuen Yorrede an denselben Gönner versehen. <> Wenn
aber Valla in dieser neuen Bearbeitung eine Vermehrung
der Elegantiae um das Doppelte, von 6 Büchern auf 12, ver-
heisst, so weiss ich nicht was darüber zu urtheilen. Ge-
druckt sind nur sechs. Liegen also die andern sechs noch
handschriftlich in der päpstlichen Bibliothek, der das ganze
Werk nach Valla's Wunsch einverleibt werden sollte, oder
hat Valla versprochen, was er nicht gehalten?
Durch seine grammatisch -rhetorische Thätigkeit wurde
Valla wiederum in eine Streitigkeit verwickelt, die heftiger
als alle früheren geführt wurde. Poggius der Florentiner,
wie er sich nannte, (eigentlich Podius Bracciolini aus Terra-
nova bei Arezzo,) konnte damals für den ersten lateinischen
Stilisten gelten, und er verdient seinen Buf durch den Fluss
und die Lebendigkeit seines Ausdrucks, obgleich er durch
viele Verstösse im Einzelnen beweisst, dass er die Sprache
nicht philologisch gründlich studirt hatte. Er war lange apo-
stolischer Secretar gewesen, bis er im Jahre 1452 (schon 72
Jahr alt) einem sehr vorteilhaften Bufe als Kanzler der Re-
publik nach Florenz folgte. Er hatte bisher Beden und mo-
ral-philosophische Aufsatze und eine Sammlung seiner Briefe
in 10 Büchern herausgegeben. Ein junger Mann, Valla's
Schüler, strich in diesen eine Menge Fehler an und bezeich-
nete sie auf dem Bande mit soloecismus, barbarismus
und dergleichen Warnungszeichen. Die Handschrift gehörte
ihm: warum sollte er es nicht thun? Das so misshandelte
Buch kam vor Poggius Augen; er schrieb die Ausstellungen
dem Valla selber zu und publicirte von Florenz aus (wie ich
glaube, denn eine ganz genaue Zeitbestimmung .findet sich
nicht,) eine wahre Catilinari'sche Invectiva gegen Valla,*)
*) In Poggii Florentini Opera fiasil. 1538. fo). p. 138 sqq.
des Laurentius Valla. 4?9
worin er zuerst die als unrichtig angestrichenen Stellen sei-
ner Briefe zu rechtfertigen suchte, dann aber den Valla nach
Aeusserungen in den Elegantiae und in anderen Schrillen als
einen dummdreisten Tadler alter und ehrwürdiger Autoren,
als einen Ketzer, Zänker und Bösewicht darstellte.
Valla durfte nicht schweigen: er setzte der Invectiva des
Poggius ein Antidoton in drei Büchern entgegen *). Im
ersten rechtfertigt er sich vollkommen gegen die Vorwürfe,
die ihm aus seinen eigenen Schrillen gemacht waren: er zeigt,
dass der von ihm in den Elegantiae ausgesprochene Tadel
theils nicht die Autoren selbst, sondern nur ihre Redeweise
treffe, oder dass er sehr vorsichtig ausgedrückt ist, oder dass
die wohlbegründeten Bemerkungen von Poggius ganz miss-
verstanden sind. Im zweiten Buche beweist er zur Genüge,
dass Poggius toll und blind ihm zur Last lege, was er gar
nicht gethan haben könne, da der junge Mensch, den es
angeht, in mehreren Stellen aus Missverständniss von Valla's
Elegantiae abweiche, ferner dass dies zugleich diejenigen
Stellen sind, wo Poggius in seiner Verteidigung Recht habe,
dass aber die Mehrzahl der angestrichenen Stellen ganz rich-
tig getadelt sei und von Poggius vergeblich vertheidigt werde.
Im dritten Buche endlich tritt nun Valla selbst gegen Pog-
gius auf und feiert, wie er sagt, seinen Triumph, indem er
Poggius' 10 Bücher Briefe durchgeht und ihm seine Fehler
gegen Sprache und richtigen Ausdruck nachweist. Er fugte
dem Antidoton noch zwei dialogisch abgefasste Schriften
hinzu **), in denen Poggius und Valla vor Guarinus von Ve-
rona, als ihrem grammatischen Meister und Schiedsrichter,
erscheinen. Im ersten Dialoge werden die Briefe des Pog-
gius an den Florentiner Nicolo gleichsam in einem Schulex-
amen durchgenommen, indem Guarinus seine Schüler und
Aufwärter über die von Valla angestrichenen Stellen exami-
nirt und sie anhält die Fehler nachzuweisen und zu berich-
tigen. Im zweiten Dialog greift Valla die Gomposition und
*) Vallae Opera p. 253. sqq.
•*) Opera pag. 368. sqq.
Zeitschrift f. Geschieht* w. IV. 1845. 09
430 Leben und Verdienste
den Inhalt von Poggius' letzter Schrift disceplationes
convivales an: Poggius sucht sich zu vertbeidigen, wird
aber überfuhrt Das Bittere bei dieser Darstellung ist, dass
Guarinus, der berühmteste allgemein anerkannte Lehrer des
lateinischen Stils, der damals noch einige achtzig Jahre alt
lebte, mit welchem Poggius selbst Briefe gewechselt hatte,
in die Sache hineingezogen wird und den Poggius verurtheilt,
worüber sich wohl Guarinus nicht weniger gewundert ha-
ben wird, als einst Sokrates nach der bekannten Erzählung,
da er sich in Plato's Dialogen las.
Valla hatte mit seinem Antidoton und den beiden An-
hängen des alten Poggius Invective scharf und bitter gerächt,
sich dabei aber immer noch auf dem wissenschaftlichen Felde
gehalten. Der rüstige Siebziger wurde durch die Vernich-
tung seines stilistischen Rufs zur Wuth entflammt; er sprühte
eine zweite, dritte, vierte und fünfte Invective hinter einan-
der gegen Valla aus, worin er nun nicht mehr eine philolo-
gische Anklage oder Vertbeidigung bezweckte, sondern Val-
la's Leben und sittlichen Charakter wütbend und unbändig
angriff, ihn als Betrüger, Dieb, Fälscher, Säufer, Päderast,
Verführer einer Dienstmagd im Hause seiner Schwester, end-
lich auch als gefährlichen Ketzer mit den härtesten Schimpf-
reden anklagte. (Die vierte Invective ist verloren gegangen
oder wenigstens nicht gedruckt) Heut zu Tage würde die
Censur solche Ausbrüche unterdrücken oder unzweifelhaft
eine Injurienklage angestellt werden. Aber ich lese nicht,
dass sich etwa der Papst Nicolaus in 's Mittel gelegt hätte.
Nur Philelpbus, der selbst arge Streitschriften mit Poggius
gewechselt hatte, richtete ein abmahnendes Schreiben an
beide Kämpfer *). Aber Valla musste durchaus antworten.
Er tbat dies gegen die zweite Invective durch sein viertes
Antidoton mit siegreicher Vertbeidigung und scharfer Ver-
geltung, indem er ebenfalls in das häusliche Leben des Pog-
gius hinabstieg, aber sich keineswegs so roh, wie sein un-
♦) S. Phileiphi Episl. lib. X. Nr. 52 aus Mailand dalirl vom 2.
März 1453.
des Laurentiu* Valla. 431
bandiger Gegner äusserte. Valla schreibt in keinem Buche
so schön, klar und überzeugend, auch witzig, als in diesem
vierten Antidoten. In der That scheint der Streit sein na-
türlicher Beruf zu sein, der ihn stachelt, aber nicht aus sei-
ner selbstbewussten Sicherheit bringt. Er hatte viel aufge-
regter gegen Facius geschrieben, gegen den Klopffechter
Poggius ist er ein geschickter sich vollkommen seiner Ueber-
legeoheit bewusster Fechter. Selbst was er einräumt, dass
er mit einem Mädchen aus dem Hause seiner Schwester zu
vertraulichen Umgang gepflogen, erklärt er unbefangen als
eine ganz rechtmässige Sache. Er verwahrt sich zumeist
nur gegen die Aufstellung des Poggius, dass es eine Dienst-
magd gewesen. Dann weist er die Entschuldigung, die ihm
dein Gegner selbst darbietet, „nox, vinum, consuetudo, fre-
quens visus," von sich; weder Leidenschaft, noch Verführung
habe statt gefunden; er habe sein Geschlecht erhalten müs-
sen, da seine Schwester kinderlos sei; zu heirathen sei nie
seine Absicht gewesen, weil er in den geistlichen Stand habe
treten wollen: aber er habe für Mutter und Kinder bestens
gesorgt und werde ferner für sie sorgen. Man wird bei
dieser Rechtfertigung freilich die Sitte der Zeit und die Nach-
sicht berücksichtigen müssen, welche selbst gegen Geistliche
wegen solcher Verbindungen vor ihrem Eintritt in den geist-
lichen Stand geübt wurde. Valla richtet seine Schriften ge-
gen Poggius mit merkwürdiger Unbefangenheit an den Papst
selbst, und ganz gewiss hatte Poggius kein Recht seinem
Gegner solche Versündigungen vorzuwerfen, da er selbst erst
im 54. Lebensjahre heirathete, nachdem er mit einer anderen
Person 3 Kinder ausser der Ehe erzeugt hatte.
Einen letzten Streit hatte Valla zu führen gegen den
Bologneser Notar Benedict Morandus, der ihn wegen sei-
ner Behauptung, der letzte Tarquinius sei der Enkel, nicht
der Sohn des Priscus Tarquinius gewesen, heftig angriff und
sogar die päpstliche Macht zur Unterdrückung solcher Blas-
phemie gegen Livius anrief. Valla setzte ihm eine sehr ge-
messene Gonfutatio entgegen, und da der Bologneser den
Angriff erneuerte, eine altera confutatio, worin er den Arzt
29*
432 Leben und Verdiensie
Bauerius anredet und seinen Gegner nach kurzer sachlicher
Widerlegung als einen Kranken gebührender Weise ärztlicher
Kur empfiehlt. Papst Nicolaus V. wird als kürzlich verstor-
ben erwähnt *), sein Nachfolger Callistus III. hatte seine Re-
gierung angetreten, also fallt dieser Schriftwechsel in das
Jahr 1455.
Wichtiger als diese Streitschriften sind Valla's Arbeiten
über das neueTestament, womit er, wie es scheint, auch
noch zuletzt beschäftigt war, nachdem er sie schon in Neapel
begonnen hatte. Poggius wirft dem Valla öfters vor, dass er
ein Buch über die lrrthümer des Hieronymus bei der Ueber-
setzungder heiligenSchrift aufgesetzt habe und es vielen
Leuten zeige. Er fordert ihn auf es herauszugeben und fragt
ihn, ob er etwa den Scheiterhaufen furchte. Valla antwor-
tet auf diesen Punkt nicht; die Sache betreffend hatte er
schon im ersten Antidoten erklärt, die heilige Schrift sei der
Urtext der Bibel und eine richtige Uebersetzung dessel-
ben; wenn er die Vulgata berichtige, so sei er deshalb nicht
ein Verächter des heiligen Hieronymus, der ja nur vorhan-
dene Uebersetzungen zusammengestellt habe. Dass er sich
mit einer durchgreifenden Kritik und Berichtigung der Vul-
gata des neuen Testaments beschäftigte, darauf geht er wei-
ter nicht ein. Er hielt seine Arbeit geheim oder theilte sie
nur Männern von zuverlässiger Gesinnung mit Doch ist
diese Arbeit die erste Frucht der philologischen Studien für
die exegetische Theologie. Valla ging dabei dem Anscheine
nach blos von grammatischen und stilistischen Bücksichten
aus; er notirte die Fehler, die sich ihm aus der Vergleichung
mit dem griechischen Text ergaben und begründete kurz
aber lehrreich, warum es ein Fehler sei und wie er verbes-
sert werden müsse. Traurig genug, dass er diese Arbeit
geheim halten musstel Sie blieb noch 50 Jahre verborgen.
Erst im Jahre 1504 fiel sie dem Erasmus von Rotterdam
zufällig, wie er sagt, beim Durchsuchen einer alten Biblio-
thek in Belgien in die Hände; er war überrascht und hoch
*) Vall. Op. p. 455.
des Laurentius Valla. 433
erfreut über seinen Fund. Die deutsche Nation genoss da-
mals unbezweifelt eines höheren Grades von bürgerlicher und
religiöser Freiheit als andere Nationen. Erasmus wagte es
Valla's Annotationes in novum testamentum Basel 1505 in
den Druck zu geben, und diese Publication wirkte eben so
viel als die in demselben Jahre erschienene erste hebräische
Grammatik von Beuchlin für die Anregung und Begründung
theologisch-exegetischer Studien in Deutschland. Man kann
es als ein Zeichen vermehrter Geistesfreiheit ansehen, dass
Erasmus' schützende Vorrede sich weniger damit beschäftigt
die Sache, d. h. die Prüfung einer hergebrachten Autorität
zu entschuldigen, als Valla's unruhigen Charakter in Schutz
zu nehmen und ihn gegen den Vorwurf bissiger Zanksucht
zu rechtfertigen. „Wer die Wissenschaften liebt, sagt Eras-
mus, dem wird Valla's Name lieb und verehrungswürdig
sein; denn aus Eifer den Wissenschaften zu nützen nahm
er absichtlich und wissentlich den Hass der Menge auf sich*
Seine Bissigkeit, wenn man sie so nennen will, hat der Li-
teratur mehr genützt als die einfältige Gutherzigkeit so Vie-
ler, die alles ohne Unterschied bewundern und sich gegen-
seitig Lob spenden."
Um Reformator zu werden, besass Valla nicht genug
praktisch -theologisches Interesse. Weltklugheit lehrte ihn
Frieden mit der römischen Curie zu halten. Er hatte mehr
verbrochen als hundert Andere, die auf dem Scheiterhaufen
endeten, aber er ward zu den ansehnlichsten Stellen in Rom
befördert. Er wurde vom Papst Callistus III. zum Secreta-
rius apostolicus ernannt: am dritten Juli 1455 nahm er nach
Ausweis der vaticanischen Register von dieser Stelle Besitz.
Wenige Monate darauf erhielt er Canon icate an mehreren
Kirchen, endlich am 21. Sept. desselben Jahres ein Canoni-
cat an der Kirche San Giovanni im Lateran *). Der Papst
Callistus (ein geborner Borgia) war in früherer Zeit Secretär
Alfons V. gewesen: daher wohl seine besondere Zuneigung
gegen Valla. Doch genoss dieser sein Glück nicht lange: er
*} Poggiali pag. 87. aus Marini Registr. Vatican.
434 Deutschland und Gustav Adolf.
starb am 1. August 1457, erst 50 Jahre alt Nähere Nach-
richten, wodurch er sich ein so frühes Ende zugezogen hatte,
fehlen. Aber Valla hatte bei der erstaunlichen Lebendigkeit
seines Geistes sehr viel gearbeitet Sein Nachfolger im Lehr-
amt war sein Schüler Pomponius Laetus. Gegen diesen und
die Academia Romana, seine Stiftung, entlud sich unter
Papst Paul II. im Jahre 1468 eine Verfolgung, die ihren
Grund in der vorausgesetzten alt -römischen Gesinnung der
Schule hatte. Aber es konnte den Männern nichts Sträfliches
bewiesen werden, und der Geburtstag der heidnischen Stadt
Rom wird noch jetzt im christlichen Rom gefeiert
G. G. Zumpt
Deutschland und Gustav Adolf«
Eine Kritik der neusten Auffassungsweisen des
dreissigjährigen Krieges.
I. Vorwort Drei Richtungen der heutigen Geschichtschreibung.
Der Vorwurf welcher in unsern Tagen von den verschieden-
sten Seiten gegen die deutsche Wissenschaft erhoben und
fast bis zum Ueberdrusse wiederholt worden ist, sie ziehe
sich selbstgenügsam auf ihren abgeschlossenen Kreis zurück,
und habe für die Gegenwart weder Gefühl noch Urtheil
übrig, scheint keine Seite empfindlicher zu treffen als die
Geschichte. Kein Vorwurf kann bitterer, demüthigender
sein, wenn er wahr, keiner ungerechter, kränkender, wenn
er unwahr ist. Denn keine Wissenschaft hat dringendere
Veranlassung ihn abzuweisen, als die welche sich ihrer Na-
tur nach nicht systematisch abschliessen kann, vielmehr .die
Seite nach der Gegenwart hin immer offen erhalten, und
diese als einen wesentlichen Theil ihrer selbst anerkennen
muss. Ihre Vertreter haben das wohl gefühlt , und
schwerlich möchte sich Jemand finden, der die Richtigkeit
der Anklage im Allgemeinen abzuleugnen wagte. Aber zwi-
Deutschland und Gustat Adolf. 435
sehen Wort und Tbat ist eine grosse Kluft: nur mit Mühe
setzt man das in Thaten um was mit dem Munde zu beken -
nen so leicht ist Auch sind die Schwierigkeiten nicht ge-
ring, die es hier zu überwinden gilt; weniger von Aussen
stellen sie sich entgegen, die bedeutendsten erheben sich
vielmehr vom Grunde der Wissenschaft selbst. Nie ist es
schwerer sich von Einseitigkeiten los zu reissen, als wenn
man sich ihres Prineips deutlich genug bewusst ist, um es
in allen Entstellungen wieder zu erkennen. Und so könnte
es scheinen, jener Vorwurf selbst spreche gerade die Auf-
gabe der Geschichte aus; mit der Vergangenheit hat sie
es zu thun, diese zu ergründen ist die erste Pflicht; der
richtigen Erkenntniss der Vergangenheit wird die der Gegen-
wart von selbst folgen. Gewiss, es wäre thöricht das leug-
nen zu wollen. Aber von diesem Grundsatze aus gehen wir
immer tiefer hinab in die labyrinthischen Gänge des Gesche-
henen, um desto sicherer den Punkt zu finden, wo wir den
Faden anknüpfen können, der uns in die Gegenwart zurück-
leiten Soll. Und wie selten gelingt es ihn vollständig wie-
der aufzuwickeln, wie häufig verlieren wir ihn nicht ganz
und gar auf den verschlungenen Wegen der Gelehrsamkeit
Es ist hinreichend bekannt wie viel Ehrenwerthes, ja Gross-
artiges deutsche Gründlichkeit in der Forschung zu leisten
im Stande ist, aber dennoch wird man auch zugestehen, dies
ist nicht Alles, es ist noch nicht das Letzte. Die Geschichte
steht nicht blos in Büchern, sie ist auch etwas Lebendiges,
in ihr athmen wir; so wenig als gegen die Lebensluft ist es
möglich sich gegen sie abzuschliessen. Denn nicht allein
in der Erinnerung an Gewesenes, nicht in diesem oder je-
nem Institute lebt sie unter uns fort, das wäre zuletzt nur
etwas sehr Dürftiges, auch nicht in der Nationalität allein,
die ganze Summe unseres geistigen Besitzes ist es, was Ge-
genwart und Vergangenheit zusammenhält. Was im Ge-
fühle Aller lebt, das soll die Wissenschaft zum Bewusstseia
bringen, sie soll die Idee in ihren Abwandlungen auffassen,
ihre Erscheinungen in der Zeit verfolgen, und auf das hin-
weisen was dahinter liegt, was zu allen Zeiten das wahrhaft
436 Deutschland und Gustav Adolf.
•
Gegenwärtige war. So schliessen beide Tbeile einander
nicht aus; wissen soll man in der Geschichte, dass man mit
der Vergangenheit unmittelbar eins sei, und sich dennoch
von ihr unterscheide; denn nicht das Besondere in ihr, das
Allgemeine ist es, was uns mit ihr verbindet
Also kann ebenso wenig jene andere Auffassung die
ausschliesslich von der Seite der Gegenwart die Geschichte
verstehen will, für die berechtigte gelten. Während sich die
historische Forschung in die Masse des Stoffs zu versenken
sucht, wahrend sie selbst niemals, immer nur der Gegen-
stand sprechen soll, wird hier vorzugsweise die Ansicht, die
subjeetive Gesinnung in die Wagscbale geworfen; aus dem
Systeme das man sich über die Gegenwart gemacht hat, will
man die Vergangenheit erkennen. Nur die Gegenwart ist
das Selbstständige; das Geschehene ist nichts als die Einlei-
tung dazu: man ist mit dem Producte zufrieden, welches
man vor sich hat, was kommt auf seine Factoren an? Es
ist bekannt zu welchen Verkehrtheiten dieser Weg hinfuhrt,
man weiss welche Zerrbilder der Geschichte auf diese
Weise entstanden sind , wie die Gegenwart eitel genug ist
sich überall zu bespiegeln und ihre Schlagwörter einer Zeit
aufzudrängen, die keine Ahnung davon hatte.
Wir haben kurz die beiden Extreme anzudeuten gesucht
um auf eine dritte Richtung zu kommen, die nicht sowohl
über, als zwischen ihnen zu stehen scheint Es ist jene
Art die sich ihres Stoffs mit den Hülfsmitteln der Gelehr-
samkeit und des Scharfsinns zu bemächtigen weiss, die sehr
wohl das gleiche Recht der Vergangenheit wie der Gegen-
wart erkennt: aber sie überträgt aus der einen in die andere,
sie gefällt sich im Aufsuchen und Anhäufen einzelner Ana-
logien, und so erhalten ihre Resultate dennoch eine falsche
Färbung. Englische Historiker haben bekanntlich die römi-
sche Geschichte und ihre Parteikämpfe vom Standpunkte
des Torysmus oder Whigismus betrachtet und dargestellt;
die Analogie der Verhältnisse wird Niemand verkennen, aber
immer noch grösser bleibt die Verschiedenheit, und von rö-
mischen Torys und Whigs sollte Niemand im Ernste sprechen.
Deutschland und Gustav Adolf. 437
Oder umgekehrt, es werden auch wohl die Pärteinarnen der
Vorzeit in die Gegenwart hineingezogen, um ein Fach werk
aus ihnen zu machen, das freilich auf allen Seiten zu eng ist;
-wie man es z. B. liebt neue kirchliche oder auch wissen-
schaftliche Richtungen der Kürze halber mit Ketzernamen
zu bezeichnen, die aus der ältesten Kirchengeschichte her-
geholt sind. So werden Namen und Bezeichnungen, die aus
ganz eigentümlichen Verhaltnissen und Persönlichkeiten ent-
standen sind zu Gattungsbegriffen erhoben, und ihnen eine
Allgemeinheit gegeben, die ihnen in keiner Weise zukommt.
Man meint die idealen Gegensätze, die hinter der Erschei-
nung liegen, zu fassen , und hängt sich statt dessen an die
Person, an den Buchstaben in dem sie auftrat; das macht
man zum Entscheidenden. Also gerade diese Analogien,
welche auf den ersten Blick die Auffassung zu erleichtern
scheinen, sie sind es, die zuletzt nur Missverstand und Ver-
wirrung bringen; man identiGcirt Erscheinungen, die durch-
aus nicht dieselben sind, mögen sie auch noch so viel Gleich-
artiges bieten, die schon dadurch unendlich von einander
verschieden sind, dass sie in ganz verschiedenen welthistori-
schen Stadien auftreten.
Es liegt in der Natur der Sache, dergleichen Ansichten
müssen sich mehr noch als auf dem Gebiete der Politik, in
der religiösen und wissenschaftlichen Entwicklung, auf dem
confessionellen Boden geltend machen. Denn nirgend kom-
men Gesinnung und Ueberzeugung des Einzelnen mehr ins
Spiel, und eine ruhige Auffassung historischer Verhältnisse
hat auf keiner Seite mit grösseren Schwierigkeiten zu käm-
pfen als hier. Wir ßnden es natürlich, dass jene Männer,
welche die Geschichte der Reformation und der folgenden
Kämpfe im Strome der Ereignisse, unter dem Einflüsse des
Augenblicks niederschrieben, die Thatsachen auch nur unter
dem Gesichtspunkte des Augenblicks ansahen: wir hoffen
Genauigkeit und Schärfe im Einzelnen werde ersetzen, was
ihnen an Weite des Blicks und Uebersicht abging. Es war
ihre Aufgabe, den Gegensatz fortzupflanzen, wie er auf sie
wirkte. Aber weniger ruhig dürfen wir es hinnehmen, wenn
438 Deutschland und Gustav Adolf.
auch neuere Geschichlschreiber ausgehend von jener analo-
gisirenden Richtung, diesen Gegensatz in eben der Form
mit herübernehmen, um ihre eigene Leberzeugung darin zu
geben, wenn sie sich mit aller Kraft der Gesinnung in Par-
teien» die wenigstens in dieser Weise nicht mehr eiistiren,
hineinwerfen, um danach Verhältnisse, und was bedenklicher
scheint, auch Personen zu beurtheilen. Doch treten wir der
Sache selbst einen Schritt näher.
Es gab eine Zeit, wo eine# beschränkte Weisheit das
Ende des Kirchenthums überhaupt wähnte vorhersagen zu
können: die letzten Jahrzehende, die Gegenwart selbst haben
uns eines Anderen belehrt; viel mehr als wir glaubten, stehen
wir auch jetzt noch unter dem Einflüsse der Reformation.
Die kirchlichen Gegensätze haben sich in ihrer schroffsten
Form wieder geltend gemacht, aber sie beherrschen in die-
ser Gestalt die Welt nicht mehr ausschliesslich, und das ist
der grosse Unterschied gegen frühere Zeiten; sie müssen
neben sich eine Reihe anderer geistiger Elemente dulden,
die sich mitunter jenen Einwirkungen zu entziehen und
selbstständig aufzutreten suchen. Im Zusammenhange mit
jener neugekräftigten, confessionellen Richtung bat man auch
auf historischem Gebiete gegen ältere Ansichten von der Re-
formation ihre Redeutung rein als Verbesserung der Kirche
mit Entschiedenheit hervorgehoben, und vor Allem nur als
Herstellung des Dogmas in seiner Schriftgemässheit und ur-
sprünglichen Reinheit, wie es die ersten Jahrhunderte be-
sassen. Gewiss, es wäre eine grosse Unwissenheit und
Seichtheit, diesen Punkt verkennen oder ihm seine tiefe Be-
deutung absprechen zu wollen, aber man muss sich dagegen
verwahren, in dieser Ansicht die einzig mögliche, die voll-
kommen erschöpfende Auffassung der Reformation zu finden.
So angesehen, wird diese zum ausschliesslichen Eigenthum
der Kirche, d. b. jener Kirche, die in bestimmten Formen
und Persönlichkeiten zur Erscheinung kommt Man isolirt
die Reformation und drängt sie auf die engeren dogmati-
schen Grenzen zurück, man giebt sie also in letzter Instanz
den Theologen anheim, während sie doch neben dem theo*
Deutschland und Gustav Adolf. 439
logischen, einen Allgemein christlichen, einen welthistorischen
Inhalt hat, der sie nicht zur Sache einer bestimmten Zeit,
sondern aller Zeiten macht, zum Eigenthum jener unsicht-
baren Kirche, die auf den innersten Principien des Cbristen-
thums ruht, die mit der Menschheit eins werden soll. Es
kann nicht oft genug wiederholt werden, der Gegensatz des
Katholicismus und Protestantismus ist kein nur theologi-
scher, kein rein confessioneller, er ist ein welthistorischer,
und gerade auf dieser Seite^iegt die Stärke des Protestan-
tismus.
Man kann es, glaube ich, nicht übersehen, dass die pro-
testantischen Historiker, die den Gegensatz nur confessionell
auflassen, um des wahren Inhalts der Reformation desto ge-
wisser zu sein, keinem einen grösseren Dienst erwiesen ha-
ben, als der katholischen Anschauungsweise. Sie soll zwar
nicht anerkannt werden, dennoch aber wird ihr ein bedeu-
tendes Zugeständniss gemacht. Oder läge darin keine still-
schweigende Uebereinstimmung mit dem Katholicismus, wenn
man zwar seine eigentümlichen Lehren und seine Verfas-
sung abweist, dennoch aber jenen Glauben, der die Welt
überwinden soll, nicht frei in die Welt hinauslassen will?
wenn man zwar die Lehre nicht für das ausschliessliche
Eigenthum eines Standes erklärt, diesem aber dennoch ein
Vorrecht einräumt, entschieden genug um die welche ihm
nicht angehören, als Unwissende hinaus zu weisen? Gerade
jener Unterschied von Priestern und Laien, den der Katholi-
cismus dem Christenthume aufdrängen wollte, auf dem seine
Macht ruht, dieser Unterschied, den die Reformation aufhob,
er kehrt hier auf ihrem eigenen Grund und Boden wieder
Wer diese Ansicht festhält, bedarf nur weniger Schritte, um
auf den Punkt zu gelangen, wo er in das Urtheil der katho-
lischen Kirche einstimmen, und die Reformation als einen
Abfall verdammen muss. Denn eben jeneis halbe, nicht ent-
schiedene Lossagen ist der Abfall, er kann sich nicht völlig
vom alten Boden trennen, und erkennt sich selber zum Trotze
die alte Macht und das alte Gesetz noch innerlich an; wo
aber eine neue Idee zur Erscheinung kommt, und mit ihr
440 Deutschland und Gustav Adolf.
neue Lebensgesetze, wie es im Christenthum selbst geschab,
da ist volle Berechtigung, und von einem Abfalle kann nicht
die Rede sein.
IL Die neuten Gtschiehttcfereifcer des drdsstgflhrigei Krieges.
Jene Ansicht von der Reformation musste aber auch
nothwcndig auf die Betrachtang der spätem Religionswirren
übergehen. In der Geschichte des dreissigjährigen Krieges
betrat sie den gunstigsten Bodeqp hier beröhrte sie eine Zeit,
wo der Protestantismus sich entschieden als kirchlich-politi-
sche Partei festgesetzt hatte, um sich behaupten zu können;
damit hatte er freilich selbst die Gehässigkeiten des Partei-
wesens angenommen. Die Erbitterung, mit der beide Theile
im letzten entscheidenden Kampfe zusammentrafen, hatte sich
traditionell auch in der Geschichte dieser Bewegungen er-
halten. Der kirchliche wie der politische Zustand des Reichs
bis in seine letzten Tage war ein Ergebniss des dreissig-
jährigen Kriegs: der Kaiser mit dem Katholicismus auf der
einen, eine grosse Zahl der Fürsten mit dem Protestantismus
und ihren Territorialinteressen auf der anderen Seite, Alles
erinnerte noch an jene blutigen Kämpfe; es war natürlich,
dass man vom nur katholischen und nur protestantischen
Standpunkte Begebenheiten und Personen darstellte, dass
man in den Himmel erhob oder in den Abgrund verdammte.
Doch den spätem politischen Umwälzungen, dem Einflüsse der
zur selbstbewussten Macht erwachsenen Literatur konnten sich
auch diese Ansichten nicht entziehen. Schillers Geschiebte
des dreissigjährigen Kriegs, freilich kein quellenmässiges Bach,
wirkte hier mit dem entschiedensten Erfolge; seine rbetori-
sirende Darstellung, vom humanen, literarisch -protestanti-
schen Gesichtspunkte ausgehend, hat im Allgemeinen die
Auffassung dieser Verhältnisse in den ersten Jahrzehenden
unseres Jahrhunderts bestimmt. Auch dieser Seite, wo er
nur Hülfsmittel suchte, nur gelegentlich, mit halber Kraft
arbeitete, hat Schiller seinen Stempel aufgedrückt, und sein
Buch kann für den Typus jener populären Erzählungen gelten,
die sich in den Geschichten des deutschen Volkes, wie des
Deutschland und Gustav Adolf. 441
dreißigjährigen Kriegs bis auf den heutigen Tag fortge-
pflanzt haben, aber freilich zum Theil zur Fabrik waare
herabgesunken sind. In den beiden letzten Jahrzehenden
endlich sind die oben bezeichneten Richtungen, dem einge-
rosteten Schematismus, der sich hier festgesetzt hatte, mit
grossem Erfolge entgegen getreten, gewiss zum Heile der
Sache selbst, denn es giebt kaum einen grössern Feind der
wahren historischen Auffassung als jenen.
Verschiedenes hatte bei diesem Resultate zusammenge-
wirkt; das neu erwachte Studium der vaterländischen Ge-
schichte, das sich mit aller Kraft eines jungen Enthusiasmus
auf die Zeiten des kaiserlichen Glanzes warf, konnte nicht
ohne Rückwirkung auf die Darstellung anderer Perioden
bleiben. Je mehr sich das Nationalgefühl an der Geschichte
der früheren Kaiser kräftigte, desto widerlicher erschien der
spätere Jammer, die kirchliche und nationale Zerrissenheit
Gleichzeitig begannen die Grundsätze der Restaurationsperiode
durchzudringen, überall suchte man die wogenden Bewegun-
gen in das Enge zusammen zu ziehen: auch die Vergangen-
heit musste sich diesem Gesichtspunkte fügen. So miss-
trauiscb sich auch diese Richtung zuerst gegen die national-
historische zeigte, dennoch gingen sie an manchen Stellen
in einander über. War der Kaiser nicht der legitime Ver-
treter des Reichs, der deutschen Einheit? die Fürsten ihm
gegenüber, die ungehorsamen, widersetzlichen Stände? End-
lich erwachten auch die confessionellen Gegensätze in ihrer
ganzen Kraft; es war keine Frage, alle diese gährenden Ele-
mente mussten, wenn sie sich auf die Geschichte des Re-
ligionskrieges warfen, eine ganz andere Auffassung des Stoffs,
zu dem sie durch manche Analogien hingezogen wurden,
hervorbringen. So brach denn der dreissigjährige Krieg, ver-
setzt mit allen Elementen der Gegenwart, auf dem Gebiete
der Gescbichtscbreibung von Neuem wieder hervor; zwie-
fache und dreifache Spaltungen traten ein, und irre ich nicht,
so sind wir in diesem Stadium noch heutiges Tages.
Da waren zuerst die dynastischen Historiker; sie traten
an die Stelle der altern Territorialisten; in der Regel mit
442 Deutschland und Gustav Adelf.
einer bedeutenden Gelehrsamkeit in der Landesgeschichte,
wie mit archivalischen Hülfsmitteln ausgerüstet Mit diesen
gewichtigen Waffen vertbeidigen sie die Interessen und An-
sprüche des landesfürstlichen Hauses, dessen gegenwärtiger
Standpunkt nicht selten ohne Weiteres mit jenem zur Zeit
des dreissigjabrigen Krieges identificirt wird. Hier ist das
eigentliche Feld für Localstudien und Localpatriotismus. Wie
die Dynastien nach den Confessionen, so spalten sich die
Historiker, und die verschiedenen Vorkämpfer und Partei-
führer finden ihre Geschichtschreiber. Es forschten und
schrieben auf protestantischer Seite für Sachsen -Weimar
Rose in seinem Herzog Bernhard, ') für das hessische Haas
früher Justi,*) jetzt Rommel in Monographien und Landes-
geschichten, für Braunschweig von der Decken in seinem
Herzog Georg, *) für Ghursachsen K. A. Müller in seinem
Johann Georg und sein Hof; 4) und auf katholischer Seite
Aretin für Baiern,8) Mailath 6) für Oestreich, wo die Ge-
schichte vom Standpunkte des östreichischen Territorial-
und Gonfessionsinteresses betrachtet wird. Diesen dynasti-
schen Historikern kann man auch die schwedischen zuzählen,
die auf der entgegengesetzten Seite geschrieben haben, und
noch schreiben, so Lundblad,7) Fryxell,*) und namentlich
Geijer, 9) dessen treffliches Buch hinreichend bekannt ist.
') Herzog Bernhard der Grosse von Sachsen- Weimar. 3 Bde.
Weimar 18*28.
') Amalie Elisabeth, Landgräfin von Hessen. Giessen 1811.
*j Herzog Georg von Lüneburg. Hannover 1833. 4 Bde.
4) Kurfürst Johann Georg I. seine Familie und sein Hof. Dres-
den 1838.
•) Chur fürst Maximilian. München 1844.
6) Geschichte des östreichischen Kaiserstaats 3ter Band. Ham-
burg 1842.
7) Schwedischer Plutarch: übers, von Schubert Stralsund
1826. 2 Bde.
8) Leben Gustav II. Adolfs, Königs von Schweden; übers, von
Homberg. Leipzig 1842.
") Geschichte Schwedens, übers, von Leffler. 3ter Band. Ham-
burg 1830.
Deutschland und Gustav Adolf. 443
Wir sehen, wie eigentümlich sich hier die Gegensätze ge-
stalten, aber dennoch kann man die Einseitigkeit der An-
sicht bei allen sonstigen Vorzügen der Bücher nicht ab-
leugnen. Sie liegt entweder in der Gesinnung von vorne
herein, oder in dem gewählten Standpunkte der Monographie,
der Landesgeschichte. Es ist eine atomistische Richtung, die
nicht aus dem Mittelpunkte herauskommt, umgekehrt wird
Einzelnes als Ganzes gefasst, und so sucht man zur Mitte
durchzudringen. Dazu nehme man noch die lebhaften Streitig-
keiten, die durch Wallensteins Episode veranlasst worden
sind, und weniger das protestantische als das ständische
Interesse im Allgemeinen berühren, man bedenke, wie man
sich auch hier bald auf die eine , bald auf die andere Seite
gestellt bat, und das Bild einer allgemeinen Zerrissenheit ist
vollständig.
Dieser Richtung gegenüber haben sich nun auch jene
anderen Auflassungen festgestellt. Im Gegensatz zu dieser
Beschränkung auf einzelne Theile gehen sie vom Ganzen
aus, daher wird namentlich die Zerfallenheit Deutschlands
während des Kriegs mit Bitterkeit hervorgehoben. Sie selbst
sind unter sich verschieden, je nachdem sie den Begriff der
nationalen Einheit, wie er sich im Reiche zeigt, oder den
der Kirche an die Spitze stellen, oder beides mit einander
verbinden. Es wurde wieder auf allgemeine Principien hin-
gewiesen, es war eine Rückwirkung gegen jene Geschicht-
schreiber, die welthistorische Probleme in dynastische Fragen
aufzulösen drohten. Als einer der ersten und bedeutendsten
Vertreter muss K. A. Menzel genannt werden. Er begann
die Herausgabe seiner neuern Geschichte der Deutschen im
Jahre 1826, und mit der grössten Beharrlichkeit hat er sein
umfassendes Werk, das auf den ausgedehntesten Studien
ruht, bis in das 18te Jahrhundert berabgefübrt. Es ist den
Meisten noch wohl erinnerlich, welches Aufsehen, welchen
Widerspruch Menzel's Grundansicbt damals hervorrief. Von
der nationalen und kirchlichen Einheit Deutschlands ausge«
hend, machte er diese als das natürliche und geistige Band
des deutschen Volkes mit Nachdruck geltend. Kaiserthum
1
444 Deutschland und Gustav Adolf.
und Hierarchie traten als die geheiligten Formen des Lebens
mit überwiegender Schwere in den Vordergrund; damit war
eigentlich dem Protestantismus das Urtheil schon gesprochen,
er erscheint als der vom uralt begründeten Rechte abfallende.
Die Katholiken konnten nur Beifall jauchzen, wenn sie jene
Worte hörten: „Die Hierarchie beharrt auf ihrem Stand-
punkte Ausdruck der ewigen Ideen des Cbristenthums zu
sein, unerschüttert durch den Gedankenwechsel der Zeiten."
Oder wenn von den Protestanten gesagt wird, sie hatten
das Reichsband als etwas Feindliches betrachtet. *) Mit
Staunen vernahmen die deutschen Protestanten zum ersten
Male von einem ihrer bedeutendsten und gelehrtesten Ge-
schieh tschreiber, wenn auch nicht das Wort, doch die An-
deutung, dass sie im Grunde Revolutionäre seien; und
man weiss, welchen Klang dieses Wort hat. In der Ge-
schichte des dreissigjährigen Kriegs, der den sechsten bis
achten Band umfasst (erschienen 1835 — 39), ist jedoch diese
Ansicht nicht ganz mit der Schärfe durchgeführt, die man
erwarten sollte. Sie mochte sich wirklich gemildert haben,
oder sie erschien doch milder, seit sie durch leidenschaft-
lichere Ausbrüche von anderer Seite her überboten wurde.
Menzel fasst Ferdinand II. entschieden in seiner Stellung
als Kaiser, er findet ihn bei der Erlassung des Restitutions-
edicts streng im Rechte, wenn auch practisch Vieles dagegen
zu erinnern sei; der Kaiser ist der Vertreter der Einheit,
das Reich wird mit neueren Repräsentantenkammern fast in
eine Reihe gesetzt.**) Menzel kann es nur bedauern, dass
Ferdinand den grossen Schicksalsmoment nach dem Lübecker
Frieden und vor dem Regensburger Reichstage nicht zu einer
Herstellung des Reichs im monarchischen Sinne benutzte;
dass dies unterblieb, ist ihm kein geringes Zeichen der
Schwäche des Kaisers. ***)
Mit doppelter Stärke brachen bald darauf diese Ansich-
ten im dritten Bande von Leo's Universalgeschichte 1838
hervor, in einem Lehrbuch, das für die weitesten Kreise,
*) I, 484. II, 18. «) VII, 172, 255. ***) VII, 228.
Deutschland und Gustav Adolf. 445
für den Unterricht berechnet war. Getragen durch die nach-
haltigste Ueberzeugung hatten sie hier, wie ein weiteres
Feld, so auch an innerer Kraft gewonnen. Auch hier die-
selbe Verbindung von kirchlich-politischen Richtungen, aus-
gehend von der nationalen wie religiösen Einheit, mit dem
entschiedensten Bewusstsein eines polemischen Nebenzwecks
gegen den heillosen »Liberalismus und die Zuchtlosigkeit der
Geister. Hier wurde offen ausgesprochen, was vorher nur
angedeutet worden war; Luther, der Reformator, ist ein
Demagoge, der mit gewaltiger Faust ein Kunstwerk zer-
trümmert, von dessen Herrlichkeit und Tiefe er keine Ah-
nung hat *) Und weiter, der dreissigjahrige Krieg ist durch
die Böhmen und die pfälzisch -ausländerische Partei muth-
willig herbeigeführt; für die, welche sich den Schweden an-
schlössen, hat er nur die eine Bezeichnung des Reichs- und
Volksverrathes; sie haben, wie Magdeburg, „im Grunde ihr
Schicksal verdient;" dagegen ist Ferdinand II. der milde, der
rechtsachtende Kaiser, der seine Pflicht gegen Raubhelden,
wie Mansfeld und andere, beinahe ganz vergisst. **)
Endlich im Jahre 1842 erschien Bartholds Geschichte
des grossen deutschen Krieges, ein Buch, das man als die
letzte Stufe, als den Schlussstein in dieser Richtung bezeich-
nen möchte, wenn sich anders dergleichen mit Sicherheit
vorhersagen liesse; wenigstens sollte man meinen, die leiden-
schaftliche Heftigkeit müsste dadurch erschöpft sein. Dabei
aber unterscheidet es sich wesentlich von jenen frühern
Werken. Schon die Aufgabe, und die Grenzen, die es sich
demnach gesteckt hat, sind ganz andere. Es will nicht den
ganzen Krieg, nur einen Theil will es darstellen, seinen
Verlauf seit Gustav Adolfs Tode, und hier vorzugsweise die
Heimtücke der französischen Politik aufdecken. Aber eine
ausschliessliche Beschränkung war nicht durchzuführen, auf
die frühere Entwicklung musste man immer wieder zurück-
kommen. Das kirchliche Element, das bei seinen Vorgängern
so entschieden hervortrat, hat der Verfasser beseitigt: er
*) HI, 96. ••) III, 350. 375. 383. 396.
Zeitschrift f. Geschicbtstr. IV. 1815. 3Q
446 Deutschland und Gustav Adolf.
sagt es selbst, nicht auf den Boden der bestimmten Cou-
fession, auf den des Christentums im Allgemeinen will er
sich stellen. Mit desto rücksichtsloserer Härte bebt er da-
gegen das nationale Element hervor. Was der Kaiser tbat,
geschah aus der Machtbefugnis, die Friedrich I. und Karl V.
ausübten; einseitig wird es gerechtfertigt, wenn er sich
über die hergebrachte Verfassung hinwegsetzt*) Die Für-
sten sind die unersättlichen, die ländergierigen, die Söldner
der Fremden, die blinden Gegner ihres eigenen Landes/*)
Aber der vollste Zorn trifft Gustav Adolf, wenigstens bei
Leo und Barthold. Denn Menzels Charakteristik unterscheidet
sich hier wesentlich, des Königs edler Persönlichkeit Jässt
er volle Gerechtigkeit widerfahren, er findet sein Einschrei-
ten im Ganzen in den Verhältnissen begründet; ja er be-
freundet sich sogar, „ganz unerwartet" kann man auch vod
ihm sagen, wie er in ähnlicher Beziehung von Schiller, mit
dem nur gedachten Plane Gustav Adolfs ein deutsch -prote-
stantisches Kaiserthum zu errichten. ***) Ganz anders Leo;
hören wir statt vieler Stellen nur diese: „Gustav Adolf,
heisst es III. 410, hatte sich allerdings in einer Weise, die,
wenn sie in Privatverhältnissen geübt würde, man unver-
schämt nennen könnte, in deutsche Verhältnisse eingedrängt,
und er hatte diese ohne Achtung vor der historisch ent-
wickelten Verfassung des Reichs behandelt" Ferner III, 401:
„Dann kann man es als ganz klug gelten lassen, dass Gustav
das religiöse Interesse, was er ohne Zweifel hatte, zugleich
zu politischen Zwecken benutzte, die Religion, auch wo es
eben nicht nothwendig war, sie einzumischen, als Mantel
trug." Und endlich zur Beherzigung für die, welche anderer
Meinung sind 111, 395: „In der That aber gehört eine gänz-
liche Verkehrung der Begriffe, ein gänzlicher Mangel an Sinn
für Recht und vaterländische Ehre dazu, wenn man diesen
Angriff auf und die Wegnahme von Frankfurt, nicht als eine
schmähliche Action, als eine empörende Rechtsverletzung
eines unberufenen Fremdlings, die nur in dessen einseitigem
*) 1,115. 258. 399. II, 13. **) 1,115. II, 87, 254. ***) VII, 242. 330. 342.
Deutschland und Gustav Adolf. 447
Interesse begründet war, zu erkennen die Fähigkeit hat."
Noch heftiger endlich Barthold, bei dem Gustav Adolfs per-
sönliche Würde ganz und gar fällt: er ist der gemeine Er*
oberer, der das Evangelium im Munde, das Schwert in der
Faust führt, der unter dem Deckmantel der Religion einher-
zieht, um desto ungestörter rauben zu können.*)
Soweit die Anklagen gegen Gustav Adolf und die in-
nern und äussern Gegner der nationalen Einheit Deutsch-
lands. Ich weiss nicht ob es erlaubt ist, noch eine Vermu-
thung auszusprechen, die sich für nichts mehr als eine
Vermuthung ausgeben darf. Menzels Buch ist in seiner er-
sten Hälfte unter den Einflüssen der reactionären Bewegun-
gen in den zwanziger Jahren geschrieben; als die Aufregun-
gen, welche die Julirevolution hervorgerufen hatte, sich in
Deutschland mit wissenschaftlichen und religiösen Parteiun-
gen verbanden, schrieb Leo im Kampfe gegen sie einen gros-
se« Theil seiner Universalgeschichte; sollte nicht auch Bart-
holds Buch Elemente der Gegenwart in sich tragen? Im
September 1841 schrieb der Verfasser die Vorrede, in den
vorhergehenden Jahren wird er sein Buch vornehmlich aus-
gearbeitet haben, zu einer Zeit als Frankreich abermals seine
Hand nach der Rheingrenze ausstrecken wollte, und der Ge-
danke eines nationalen Krieges ganz Deutschland stärker als
jemals seit dem pariser Frieden durchzuckte. Ist diese Ver-
muthung begründet, wer fühlt es nicht dem Verfasser nach,
dass während der Beschäftigung mit einem solchen Stoff,
unter solchen Umständen sich seine Seele mit nationalem
Zorne erfüllen musste?
Wir haben bis jetzt Menzel, Leo und Barthold genannt,
deren Bücher in natürlicher Steigerung auf einander folgten;
wir deuten hier doch auf das historische Votum eines wür-
digen Veteranen der Wissenschaft hin, das bei Gelegenheit
der Gustav- Adolf- Vereine in diesen Blättern niedergelegt
worden ist; es ist Hü II mann, der sich in den mildesten
Formen für eine ähnliche Auffassung ausspricht. Es sind
•) f, 29. 40. 223.
30*
448 Deutschland und Gustav Adolf.
die Namen von Männern die durchaus in der ersten Reihe
der deutschen Geschichtsforscher stehen; wo sie in die Wag-
schale geworfen werden, scheint das Uebergewicht notwen-
dig nach ihrer Seite hin ausschlagen zu müssen. Wenigstens
ist in der nachwachsenden Literatur dieser Epoche der Ein-
fluss jener Vorbilder unverkennbar. Es kann hier nicht die
Absicht sein auf die spater erschienenen Werke einzugehen;
nicht eine Kritik der Bücher sollte gegeben, nur eine Kri-
tik der Gesichtspunkte im Allgemeinen sollte versucht
werden, die seit einer Reihe von Jahren die Geschicht-
schreibung des dreissigjährigen Krieges beherrscht haben;
von der beutigen Auffassung der Hauptfacta, nicht von ihrer
Durchführung im Einzelnen soll die Rede sein. Daher wird
es hinreichen, ehe wir jene naher betrachten, auf einige
später erschienene Bücher hinzuweisen.
Hier begegnen uns in erster Linie K. A. Müllers fünf
Bücher vom böhmischen Kriege *) die auf dem Titel als er-
ster Theil einer Geschichte des ganzen Krieges angekündigt,
mit Bartbolds Buch fast gleichzeitig erschienen sind. Die
gründlichsten archivalischen Studien verleihen dieser Dar-
stellung einen hohen Werth; sie ruht fast ausschliesslich
auf den Berichten der sächsischen Gesandten in Prag und
Wien. Ursprünglich vom dynastischen Standpunkte ausge-
hend, hat sich der Verfasser hier zu einer allgemeinen histo-
rischen Ansicht erhoben: es ist die nationale die er jetzt
entschieden festhält. Deutschlands Wohl und Wehe ist der
Maasstab für die Erscheinungen in Gut und Böse; nach sei-
ner eigenen Angabe ist es Menzels Buch dem der Verfasser
vor Allen viel verdankt. Der zersetzende Einfluss der Re-
formation wird hervorgehoben: Verblendung war es den
dreissigjährigen Krieg zwei Jahrhunderte hindurch für einen
Religionskrieg zu halten; nicht Tür die Religion, nur unter
ihrer Maske haben fast alle Tbeilnehmer gehandelt "). Zu
Deutschlands Verderben wurden die religiösen Ideen von
*) Dresden 1841.
) p. VII. VIII. XXX. 263.
••
Deutschland und Gustav Adolf. 449
Fremden ausgebeutet; das deutsche Volk trug nichts aus
diesem langen Kampfe davon, es wurde schmählich betro-
gen. Freiheit und Glaube, damit schliesst das Buch, sind
„in Wirklichkeit nichts Anderes als die äusserlichen , zufäl-
ligen Gestaltungen" der Ideen der Selbstständigkeit und Na-
tionalitat. Der Ton des Verfassers ist besonnen und ge-
messen, aber ich glaube keiner seiner leidenschaftlichen Vor-
gänger hat die einseitigen Gonsequenzen einer nur natio-
nalen Betrachtungsweise mit grösserer Schärfe ausge-
sprochen; wir hören es, die Freiheit, der Glaube, was sind
sie? zufällige Aeusserungen der Nationalität! Für dieselbe
Sache kämpft, mitunter im heftigsten Tone, auch einer der
namhaftesten Historiker, Gfrörer in seiner Geschichte Gu-
stav Adolfs. Die erste Auflage erschien 1836, die zweite in
diesem Jahre, in den Anfängen besonders unter dem Ein-
flüsse des Möllerschen Buches umgearbeitet. Nächst den all-
gemein bekannten und zugänglichen Quellen, sowie einigen
gleichzeitigen Flugschriften*), sind Rühs, Geijer, Wolf und
andere Neuere die Hauptführer. Der nationale Gesichtspunkt
ist es, gegen den hier der kirchliche auf das Entschiedenste
in den Hintergrund tritt; nur in sofern sie fördernd oder
hemmend auf die Nationalität einwirkt kommt dem Verfas-
ser die confessionelle Frage in Betracht; und wo er sie ei-
ner weitern Rücksicht werth hält, geschieht es meistens
um sie mit einem gewissen Rationalismus abzufertigen: so
kann man nach Luthers Reformationsprincip rechtgläubig wie,
ein Stock und doch grundschlecht sein. **) Die unersättliche
Ländergier der Fürsten begleitet unfl lähmt die Reformation
von Anfang an; dafür setzen sich Ohnmacht und Spaltung
desto fester. Volle Anerkennung findet Gustav Adolfs Ge-
nie, aber dem Reiche gegenüber ist er der königliche Aben-
theurer, der Räuber, ***) der unter der Maske der Religion
*) p. 954. Auf eine im Auszuge mitgetheilte höchst merkwür-
dige Flugschrift werden wir an einer anderen Stelle zurückkommen.
. •*) p. 848.
***) p. 1016.
450 Deutschland und Gustav Adolf.
den Eroberer verbirgt Dagegen kann man dem Verfasser
nur beistimmen, wenn er die auch in nenester Zeit beliebte
Analogie zwischen Gustav Adolf und Napoleon mehr als
einmal abweist Um so auffallender ist es dass er selbst
steh im Herbeiziehen von Analogien mit der neuesten Zeit
hin und wieder gefallt, in denen sich der entschiedenste Wi-
derwille, fast möchte man sagen Erbitterung, gegen Bran-
denburg (d. h. Preussen, wie hinreichend angedeutet wird)
kund giebt. Aus der Verbindung dieser Antipathie mit der
ausschliesslich nationalen Richtung gehen die sonderbarsten
Behauptungen hervor, z. B. das eigentliche Deutschland be-
ginne erst auf dem linken Eibufer, mehr noch mit dem Thü-
ringer Walde; und an einer anderen Stelle werden die Ber-
liner für Deutsch-Slawen erklärt; der Verfasser will in ihnen
die Züge des halb -slawischen Charakters erkennen *). Na-
tionalität ist es für die er bald mit Ruhe, öfter mit Leiden-
schaft spricht, aber dennoch kann er sich nicht versagen
Seitenblicke zu werfen, die klar zeigen, dass sein nationaler
deutscher Sinn noch innerhalb Deutschlands selbst bald ge-
nug seine Grenze findet Der Einheit will der Verfasser
das Wort reden, aber schwerlich wird er durch Anspielun-
gen, wie er sie hier ausgestreut bat, seinen Zweck fördern.
Durch den zuversichtlichen oft journalistisch kecken Ton
ist Hebolds Buch jenem nahe verwandt**). Es ist ebenfalls
für die weitesten Kreise berechnet, auch hier herrscht die
nationale Tendenz im Sinne der neuesten Zeit, aber sie ist
nicht ohne ein entschieden protestantisches Element, daher
grössere Gerechtigkeit fn der Beurtbeilung der Reformation
und ihres Verhältnisses zum Reich. Vor den Einseitigkeiten
der nationalen Richtung weiss sieb der Verfasser zu wah-
ren; er behandelt seinen Gegenstand leicht aber mit Ge-
schick.
*) p. 741. 1018
+*) Der dreissigjährige Krieg und die Helden desselben Gustav
Adolf und Wallenstein, für Leser aller Stande. Stattgart 1838.
2 Bände.
Deutschland und Guttat Adolf. 451
Wie jene neue Ansicht auf die katholische Seite zurück-
gewirkt habe, zeigt sich besonders in Mailaths Geschichte
Oestreichs, deren dritter Band sich auf die Zeiten des dreis-
sigjährigen Krieges beschränkt. Mailath hat sein Buch vom
kaiserlichen Standpunkte aus geschrieben; es war nicht an-
ders zu erwarten; doch hütet er sich wohl Yor der eigent-
lichen Parteispracbe, die man jetzt auf protestantischer Seite
so gern für den Thermometer der Gesinnungswärme ausge-
ben möchte. Er vermeidet es nicht selten ein Urtbeil au»»
susprechen; vielmehr nimmt er, um seine Unparteilichkeit
zu zeigen, lange Stellen aus protestantischen Schriftstellern,
nämlich aus Menzel und Barthold, wortlich auf. Nicht min-
der häufig sind wichtige Actenstücke des kaiserlichen Ar-
chivs theils im Auszuge, theils vollständig eingeschaltet: das
erhöht den Werth des Buches bedeutend, aber durch die
unmittelbare Verknüpfung des rohen Materials mit fremder
Arbeit erhält es ein buntscheckiges, excerptenhaftes Ansehen;
es ist unfertig, oft glaubt man mehr Collectaneen zu einem
Buche als das Buch selbst vor sich zu haben. In dieser
Formlosigkeit findet es auf protestantischer Seite ein eigen-
tümliches Gegenstück in Pe Schecks Geschichte der böh-
mischen Gegenreformation, *) zugleich eine höchst schätzens-
werthe Ergänzung zu Müllers und Mailaths Büchern. Pe-
scheck schreibt weder unter dem Einflüsse der neuern kirch-
lichen Richtung, und noch viel weniger der nationalen, sein
Standpunkt ist der alte protestantisch- theologische; seine
Auffassung ist jener geradezu entgegengesetzt, die bisher mit
so viel Vorliebe verfolgt worden ist. Entsetzliche Bilder der
Unterdrückung, der Verfolgung und Grausamkeit ergeben sich
aus seinen Materialien; hier erblicken wir die Kehrseite je-
ner gepriesenen kirchlichen und nationalen Einheitspolitik,
die man uns mit so glänzenden Farben zu schildern wusste.
Wie auf Menzels Geschichte des Krieges besonders die streng
katholischen Religionsacten von Bukisch gewirkt haben, so
wird hier die Grundlage durch die Trümmer jener fast ver-
*) Dresden und Leipzig 1844. 2 Bde.
452 Deutschland und Gustae Adolf.
Schollene!) Literatur der unterdrückten böhmischen Prote-
stanten gebildet Der Verfasser selbst ist einer ihrer Nach-
kommen; den blutigen Leiden seiner Vorältern die um des
Glaubens willen verfolgt wurden, will er diesen einfachen
Denkstein setzen. Einige ihrer Denkwürdigkeiten *) beson-
ders aber Edicte, Predigten, fliegende Blätter und was etwa
sonst aus dem allgemeinen Untergange gerettet ist, hat er
sorgfältig benutzt; es sind keine archiyalischen Hülfsmittel,
aber seltener, unbekannter noch als diese. Man könnte von
diesem Buche eine heilsame Bückwirkung erwarten, wenn der
verdienstvolle und fast zu bescheidene Verfasser den Versuch
gemacht hätte, auch schriftstellerisch seines Stoffes Herr zu
werden. Er knüpft seine Actenstücke durchaus kunstlos an
einander, und daneben schaltet er wie Mailath ganze Seiten
aus katholischen Schriftstellern ein, um wie dieser seine ab-
stracte Unparteilichkeit zu bewähren.
Noch zweier Bücher wäre endlich mit wenigen Wor-
ten zu gedenken, von denen das eine sich geradezu die Auf-
gabe gestellt hat, die neuere Ansicht zu bekämpfen; eS ist
Bango's Geschichte Gustav Adolfs**), voll guten Willens,
aber ein höchst schwaches Buch, in jeder Beziehung dilet-
tantisch; Schiller ist mit und ohne Nennung des Namens
seitenlang wörtlich abgeschrieben. Wahrlich, die Dienste
der Bundesgenossen sind auch hier schlimmer als die An-
griffe der Gegner. SölM***) hält sich populär im Ton und
in der Ansicht Schillers; ein Band Actenstücke, meistenteils
Auszüge aus den Papieren des Gamerarius, ist eine sehr
dankenswerthe Zugabe. Doch genug von den Büchern, kom-
men wir zu den Sachen, die sie behandeln.
*) Vor allen die historia persecutionum ecclesiae Bohemicae,
seit 1632 von verschiedenen Augenzeugen niedergeschrieben; sie
ist fast ganz in Peschecks Buch übergegangen; Jacobaei idea mu*
tationuoi Bohemico-evangelicarum ecclesiarum Amstelod. 1624, Re-
gen volscii syslema historico-chronologicum ecclesiarum Slavonica-
rum. Utrecht 1652.
**) Erste Auflage 1824; 3te 1835.
***) Der Religionskrieg in Deutschland. Hamburg 1840. 3 Bde.
Deutschland und Gustat Adolf. 453
Bei der überwältigenden Masse des Stoffs wäre es eine
reine Unmöglichkeit, auch nur die wichtigsten Verhältnisse
und Charaktere mit wenigen Worten zu berühren. Wir
wollen nur die beiden hauptsächlichsten Punkte herausheben,
bei denen die verschiedenen Ansichten am deutlichsten her-«
vortreten, das ist die politische wie kirchliche Stellung des
Kaisers zu den Reichsständen, und das Eingreifen Gustav
Adolfs. Dr. Rudolf Köpke.
( Fortsetzung und Schluss im nächsten Hefte. ) - •
Erinnerungen an Francis de la HToue
und dessen Vorschläge inr besseren Bildung des jüngeren
französischen Adels.
Wenn wir in einem civilisirten und wohleingerichteten Staate,
zur Zeit des tiefsten Friedens nach innen und aussen, wo
der wissenschaftlich gebildete Tbeil des Volkes, unterstützt
und geleitet von einer weisen und kräftig handelnden Regie*
rung, auf Erhöhung und Verbreitung intellectueller und mo-
ralischer Volksbildung als eines gemeinsamen Zieles des
Strebens durch Wort und That hinwirkt, mannigfaltige Stim-
men übet Einrichtung des Unterrichts und der Erziehung
der Jugend, so wie über den wichtigen Einfluss beider auf
das Staatsleben laut* werden hören, so finden wir dieses so
natürlich und der Geistesthatigkeit eines solchen Volkes so
angemessen, dass es uns fast unmöglich wird, das Gegen*
tbeil zu denken, zumal in einem Zeitalter, wo die überall
thätige Presse und die nach allen Seiten hin -erhöhte litera-
rische Verbindung der einzelnen Länder unter sich den Aus-
tausch der Ideen im Allgemeinen, und daher auch das Laut-
werden und die Verbreitung solcher Stimmen in einem wesent-
lichen Grade fordert und selbst anregt. Ganz anders aber
wird sich unser Urtheil gestalten , wenn dieselben uns aus
454 Erinnerungen am Franfois de la JVotie.
einer Zeitperiode and einem Lande htirubertöneo, in wel-
chem fast ein halbes Jahrhundert hindurch innere/ mit der
grössten Heftigkeit und Leidenschaftlichkeit geführte Reli-
gion»» und Bürgerkriege das Volk in schroff einander gegen-
überstehende Parteien getheilt, wo Aberglaube und Unglaube
sich aller Stände derselben bemächtigt, und eine bis in die
innersten Verhältnisse des Gesammtlebens eindringende mo-
ralische Zerrüttung hervorgebracht haben, wo der Regent und
sein Hof in alle Arten von Lasterhaftigkeit und Schwelgerei
versunken, die administrativen Behörden ohne Kraft und
Energie, die Richter ohne Gewissenhaftigkeit, die Geistlich-
keit voller Habsucht und nur auf Erreichung irdischer Zwecke
bedacht, der Soldatenstand voller Uebermuth und Rohheit,
der Bürger* und Bauemstaud eines arbeitsamen, häuslichen
Lebens entwöhnt, und ohne auf höhere Lebenszwecke hin-
gewiesen zu werden, nur die Last seines Daseins sich zu
erleichtern bedacht ist Unter solchen Verhältnissen wird
uns eine berathende Stimme über Bildung und Erziehung
der Jugend gewiss höchst unerwartet kommen, und der
Mann, von dem sie ausging, wird in unseren Augen um so
grösserer Achtung werth erscheinen; denn er erhob sich über
den grössten Theil seiner Landsleute, wies sie auf etwas
Höheres hin, dem sie gänzlich entfremdet waren und strebte
so auf eine zwar allmäblige, aber sichere Weise sie dem mo-
ralischen Verderben zu entreissen, und ihrer wahren Bestim-
mung näher zu führen.
Ich fürchte nicht der Uebertreibung beschuldigt zu wer-
den, wenn ich durch obige Andeutungen den Zustand Frank-
reichs während der zweiten Hätfte des sechszehnten Jahrhun-
derts im Allgemeinen zu bezeichnen gesucht habe. Die Ge-
schichte beurkundet die Richtigkeit derselben nur zu sehr, und
die Folgen dieses Zustandes haben Jahrhunderte hindurch das
Land hart genug gedrückt Jemebr man sich bemüht, ein
treues Bild von dem damaligen Zustande des französischen
Volkes sich zu entwerfen, desto mehr wird man von Schmerz
und Abscheu erfüllt.
Aber auch in diesem Lande, in dieser unheilvollen Pe-
Erinnerungen an Franzi* de la Nmte. ASS
riode fehlte es nicht an Männern, welche beseelt von Wahr-
heitsliebe und Mntb, das, was sie als Gebrechen ihres Staats
erkannt hatten , in ihrer ganzen Bedeutung darzustellen und
durch Wort und That auf eine bessere Ordnung der Dinge
hinzuwirken bemüht waren. Freilich werden sie in der po-
litischen Geschichte ihres Vaterlandes nicht so oft genannt ab
diejenigen, welche durch ihr Beispiel einen grossen Theil
der Schuld an der Demoralisation ihrer Mitbürger trugen ) aber
durch ihre Schriften und die darin ausgesprochenen Grund-
sätze und Rathschläge haben sie sich weit schönere Denk-
mäler in den Herzen der unbefangener urtheilenden Nach-
welt gesetzt An die Namen eines Jean Bodin, de la
Boelie u. A. knüpfen sich Erinnerungen, welche von un-
gleich höherer Bedeutung sind, als die, welche damalige
Geschichtschreiber den Macbthabern jener Zeit mit beredter
Feder spendeten. Zu jenen Namen gesellen wir auch den
des Mannes, welcher Gegenstand dieser Blatter ist — Fran-
cis de la Noue, und zwar mit um so grösserem Rechte,
wenn wir bedenken, dass er keineswegs dem geistlichen
oder Schulstande, überhaupt nicht dem gelehrten Stande an-
gehörte, sondern vielmehr sein ganzes Leben der militäri-
schen Laufbahn gewidmet hatte, und dasselbe mitten unter
dem rohen Haufen seiner Kriegscameraden, fortwährend im
Getümmel des Krieges, zubrachte; wenn wir hören, dass er
eben jene heilsamen Rathschläge in den dunklen Räumen ei-
nes grauenvollen Gefängnisses niederschrieb, umgeben von
allen Schrecknissen und Plagen desselben, gequält von kör-
perlichen Schmerzen, getrennt von den Seinigen, und ohne
Hoffnung, je seine Freiheit wieder zu erlangen. Fürwahr,
wer unter solchen Verhältnissen sich hingezogen fühlen
konnte, seinen Geist mit der Theorie der Jugendbildung zu
beschäftigen, verdient wohl, dass sein Andenken erneuert
werde, das zumal diesseits des Rheins bei unseren Zeitge-
nossen mehr oder weniger verloren gegangen sein dürfte.
456 Erinnerungen an Frangoi» de la Noue.
L Uebersicht der LebeBsrerhiltalife ?oa Francis *e U loie.*)
Francis de la Noue, geboren im Jahre 1531 stammte
aus einem alten und angesehenen Hause der Bretagne ab,
wo sein Vater, ebenfalls Francis de la Noue genannt, mehre
schöne Besitzungen hatte. Zufolge des bei einem nicht
geringen Theile des französischen Adels jener Zeit geltenden
Grundsatzes, dass ein Adliger blos persönlicher Tapferkeit
bedürfe, war seine frühere Bildung höchst mangelhaft; Lesen
und Schreiben waren die einzigen Gegenstände des Unter-
richts, auf welche später praktische Anweisung im Gebrauch
der Waffen und in Behandlung der Pferde folgte. So blieb
die wahre geistige und wissenschaftliche Ausbildung theils
eigenem Naturtriebe und der Kraft seines Geistes, theils der
Vereinigung günstiger Umstände überlassen, und wir müssen
uns daher um so mehr sowohl über die Belesenheit, von
welcher seine Schriften zeugen, als auch über die wieder-
holt von ihm ausgesprochene Ueberzeugung von der Wich-
tigkeit einer guten Schulbildung wundern. Italiens damals
*) Quellen: Moyse Amyrault, Vie de Fr. de la Noue. AmsL
1661. 4. Wiewohl man dem Verfasser hauptsächlich in Betreff
seiner Darstellung mancherlei nicht unverdiente Aussteilungen ge-
macht hat, so bleibt sein Werk doch immer eine Hauptquelle,
schon wegen der zahlreichen darin abgedruckten Briefe de la
Noue's und anderer Actenstücke. •— Est. Cauchoy, LeTombeau de
la Noue. Melun. 1594. 8. Ist mir nur dem Titel nach bekannt. —
Sammarthani Elogia Gallorum libri IV. N. VIL p. 205—208 ed. Heu-
' mann. Brantome, Eloge de la Noue — v. Ejusd. Oeuvres T. IX. p.
320—406 (ä la Haye 1740. 12.) ins Deutsche übersetzt in: Samm-
lung historischer Memoires, übersetzt von Fr. Schiller, Th. XII. S.
141 — 155. — Moreri, Dictionnaire bist. s. v. Noue, Fr. de la. —
Biographie universelle s. b. v. T. XXXI. p. 409—412. — - Diction-
naire universel hist. crit. et bibliograph. (Par. 1810. 8.) T. XU. p-
554—556 — Arcere, Histoire de la Ville de la Rochelle et du pays
d'AuInis. T. I. p. 426—568. Verbreitet sich hauptsächlich über
seine Verhandlungen mit der Stadt Rochelle, und über sein Beneh-
men während der Jahre 1572 — 74 als Gouverneur dieser Stadt
Erinnerungen an Frangois de la Noue. 457
noch fortdauernder Ruf, die Pflanzstatte der Humanität und
feiner Bildung zu sein, so wie der Umstand, dass die daselbst
stehenden französischen Truppen sich vor allen übrigen in
Hinsicht auf Disciplin auszeichneten, veranlassten ihn in die-
sem Lande seine ersten Kriegsdienste zu thun, wo er sich
auch in einem Gefecht bei Ponte Stura gegen die Spanier
auszeichnete. Bei seiner Rückkehr in das Vaterland fand er
die religiösen Ansichten eines nicht geringen Theils seiner
Landsleute in dem Zustande einer bedeutenden Umwandlung
begriffen, indem die akatholische Partei trotz der strengen
Verordnungen der Regierung mehr oder weniger über das
ganze Land sich verbreitet, und selbst in der Bretagne, welche
am längsten den alten Glauben bewahrte, Anhänger gefun-
den hatte. Diese Erscheinung war sowohl an sich, als auch
in ihren Folgen zu wichtig, und sein Gemüth unstreitig zu
empfänglich, als dass sie ihn hätte gänzlich unberührt lassen
und nicht vielmehr einen unverkennbaren Einfluss auf die
Gestaltung seiner eigenen Ueberzeugungen hätte ausüben sollen.
Je mehr die Wahrnehmung der vielfachen Mängel und Gebre-
hen, welche sich in dem Glauben und Leben der herrschen-
den Kirche kund gaben, und die Kenntniss der Tendenz,
welche die akatholische Partei befolgte, in ihm die Ueber-
zeugung von der Notwendigkeit einer durchgreifenden Glau-
bens- und Kirchenreform festgestellt hatte, desto enger
schloss er sich jetzt an die Anhänger der letzteren an; je
mehr er die Anwendung gewaltsamer Mittel zur Wiederher-
stellung des alten Glaubens als einen Act unchristlicher Un-
duldsamkeit missbilligte, desto mehr mochte er sich aufge-
fordert fühlen, Gewalt mit Gewalt zu vertreiben, und zur
Verteidigung des neuen Glaubens und der strengeren Be-
folgung der Religionsedicte selbst das Schwert zu ziehen.
Solche Gesinnungen konnten unter seinen Glaubensverwand-
te» nicht lange verborgen bleiben; vielmehr waren sie ge-
eignet, ihn einer schnellen und keineswegs unrühmlichen
Laufbahn zuzuführen, wie der Erfolg zeigte. Der Admiral
Coligny, damals nächst dem Prinzen von Cond6 das Haupt
der neuen Partei, zog ihn aus der Dunkelheit hervor und
458 Erinnerungen an Franpris de la Nout.
begünstigte ihn; und die nähere Verbindung in die er mit Herrn
von Andelot, dem Bruder des letzteren, trat, gab ihm Gele-
genheit seine Talente zu entwickeln. Zufolge eines Beschlus-
ses der Hugenottenhäupter, die Einnahme der Stadt Orleans
nicht durch offenen Angriff, was bei der geringen Stärke ih-
rer Streitkräfte unmöglich gewesen wäre, sondern durch
List und kluge Benutzung der günstigen Stimmung eines
Theils der Bewohner zu versuchen, ward ihm kn Anfange
des zweiten Bürgerkrieges der Auftrag ertheilt, diesen Plan
auszufahren, und die Umsicht, mit welcher er dabei verfahr,
machte, dass er mit einer Abtheilung von nur 300 Mann un-
geachtet der Hindernisse, welche ihm die katholische Partei
entgegensetzte, und trotz des Kanonenfeuers der Besatzung,
den Gommandanten mit Hilfe der hugenottisch gesinnten
Bürger zur Capitulatiou zwang, ohne dabei besonders viel
Blut zu vergiessen. Die Geschichte dieses und des folgen-
den Bürgerkriegs berichtet noch mehre andere Beweise seiner
militärischen Einsicht und seines Muthes, deren ausluhrlkshe
Darstellung hier jedoch zu weit führen würde. Ueberhaupt
ist sein Leben vom Jahre 1562—1580 als Ein Feldzug zu
betrachten, welcher nur durch Friedensschlüsse auf kurze
Zeit unterbrochen wurde. In der Schiacht von Jarnae (am
13ten März 1569), welche dem Prinzen von Cond6 das Le-
ben kostete, ward La Noue gefangen, blieb aber nicht lange
in feindlichen Händen. Ein gleiches Schicksal hatte er in
dem noch unglücklicheren Treffen bei Montoncour (3. Octo-
ber 1569), wo er obgleich von einem Quartanfieber befallen,
bis vor die feindliche Artillerie drang; ja er wäre ohne Zwei«
fei, wie mehre andere Gefangene damals getödtet worden,
hätte nicht der Prinz und nachmalige König Heinrich ihn
in Schutz genommen. Bei der Belagerung von Fontaine-la-
Comte im folgenden Jahre ward ihm der linke Arm zer-
schmettert, weshalb man ihm "einen eisernen ansetzte, welcher
Veranlassung zu seinem Beinamen Bras de fer gah. Im Jahr
1571 Hess ihn der Graf Ludwig von Nassau nach Flandern
kommen, um mit seiner Beihilfe gegen die Spanier seine
Operationen zu beginnen, welche jedoch theils wegen des
Erinnerungen an Francis de la Noue. 459
bedeutenden Gegengewichts des Herzogs von Alba, theils we-
gen der Krankheit und des bald darauf erfolgten Todes des
Grafen nicht den erwünschten Erfolg hatte. Nach der pa-
riser Bluthochzeit (1572) berief ihn der König aus Pfändern
zurück, um seinen Einfluss bei der akatholiscben Partei zur
Unterwerfung der Einwohner von Rochelle, dem Hauptorte
der Hugenotten, zu benutzen. Nur mit Widerwillen nahm
er diesen Auftrag an, von welchem er sich im Voraus einen
schlechten Erfolg versprach, und der ihm in der That auch
nur Sorge und Verdruss bereitete. Denn die Masse des
Volkes erschreckt durch die Bartholomäusnacht, und ange-
regt durch die Agenten der Hugenotten, wollte von keinen
Vorschlägen hören. Nachdem er seit Coligny's Tode als
Begleiter und Rathgeber des jungen Königs von Navarra
thatig gewesen war, wurde ihm von der Bürgerschaft der
Stadt Rochelle die Stelle eines Gommandanten angetragen.
Noch immer unschlüssig, welche Partei er im Gonflicte sei-
ner Pflicht mit seiner religiösen Ueberzeugung nehmen
sollte oder vielmehr geneigt, durch gütliche Vermittelung die
Aufregung der Gemüther zu beruhigen, nahm er diesen Pos-
ten an, der ihm, wie er hoffte, Mittel gewähren würde, diese
Absiebt zu erreichen. Doch soviel Tfaätigkeit er auch in der
Verteidigung der Stadt, welche der Herzog von Anjou be-
lagerte, entwickeln mochte, so erfolgreich auch seine Be-
mühungen hierin waren, so blieb er dennoch der herrschen-
den Partei verdächtig, wegen seiner gemässigten Ge-
sinnungen und friedlichen Rathschläge. Endlich verliess er,
getäuscht in der Hoffnung den Frieden wieder herzustellen,
die Stadt gänzlich, und begab sich in das Lager des Herzogs
von Anjou, dem er durch seine Dienste sehr nützlich wurde.
Gerade dieser Aufenthalt gab ihm Veranlassung zu einer
gänzlichen Veränderung seines bisherigen Systems. Indem
er nur zu oft die Erfahrung machte, zu welcher unredlichen
Politik der Hof seine Zuflucht nahm, und immer mehr zu
der Ueberzeugung gelangte, dass dieselbe ihm keine andere
Sicherheit Hesse, als im offenen Kriege, wendete er sich im
Jahre 1574 offen von der Partei des Königs ab, und war der
460 Erinnerungen an Francis de la Naue.
Erste, welcher den Bewohnern von Rochelle zuredete» ge-
meinschaftliche Sache mit den übrigen Reformirten zu ma-
chen. Er setzte nun aufs Neue die Stadt in Vertheidigungp-
zustand, nahm einige nahe gelegene Inseln weg, und ver-
schaffte derselben Mittel selbst einen langwierigen Krieg
auszubauen. Nach geschlossenem Frieden (1578) ward er
von den vereinigten Staaten Belgiens eingeladen, in der
Würde eines Generalfeldmarschalls in ihre Dienste zu treten.
Gerade jetzt aber, im Beginn der Glanzperiode seines Le-
bens, schien ein Unglücksstern über ihn aufzugehen. Nach
Verlauf eines Jahres fiel er in einem Gefecht bei Engel-
münster in Flandern in die Hände der Spanier. In stolzer
Freude über die Gefangennehmung eines Mannes, der jen-
seits der Pyrenäen ebenso verhasst wegen seiner religiösen
Ansichten, als wegen seines Muthes gefürchtet war, führte
ihn der Marquis von Richebourg nachMons, von wo aus er
später nach Limburg versetzt wurde. Während der ersten
Zeit seiner Gefangenschaft ward ihm durch die Humanität
des Herzogs von Parma, der ihm die grösste Achtung
erwies, sein Schicksal sehr erträglich gemacht, und noch in
Limburg verstattete ihm der Gommandant manche Freiheit
Allein bald hatten seine Feinde strengere Befehle hinsicht-
lich seiner Haft ausgewirkt, und so musste er die letzten
Jahre in einem alten Thurme, ausgesetzt den Einflüssen der
Witterung und belästigt durch allerlei Ungeziefer, sein Leben
fern von der Welt und unter steten Schmerzen eines siechen
Körpers zubringen. Zwar hatte er selbst und seine Freunde
nicht verabsäumt, Unterhandlungen wegen seiner Auslösung
anzuknüpfen; allein seine Feinde stellten die bärtesten Be-
dingungen, ja sie errötheten nicht ihm als Bedingung vorzu-
schreiben, dass er sich an beiden Augen blenden Hesse.
Endlich, nach fünfjähriger Gefangenschaft, ward er gegen
eine Gaution von 100000 Kronen und unter dem Verspre-
chen, nie wieder gegen Spanien und das Haus Guise zu
kämpfen, in Freiheit gesetzt. Als er einige Zeit darauf ge-
hört hatte, dass Heinrich UI. und IV. sich mit einander ge-
gen die Ligue vereinigt hätten, bot er ihnen seine Dienste
Erinnerungen an Fran^ois de la Noue. 461
an, und ward von dem Herzoge von Longueville, der die kö-
nigliche Armee commandirte, zu sich berufen und mit der
grössten Auszeichnung behandelt Damals war es, wo er
durch einen Act edler Aufopferung die Liebe zu der Sache
bewies, für welche er focht Als die Liguisten im Jahre
1589 die Stadt Senlis belagerten, die Royalisten aber, zu
schwach die Belagerer anzugreifen, sich darauf beschränken
mussten, Munition und Lebensmittel in die Stadt zu brin-
gen, verpfändete La Noue sein Gut Tournelles an die Kauf-
leute, welche die Zufuhr übernommen hatten, aber wegen
der Bezahlung Schwierigkeiten machten, indem er ausrief:
„Nun gut, so mag es meine Sache sein, die Kosten zu tra-
gen. Ein Jeder «bebalte sein Geld, wer es höher schätzt,
als seine Ehre. So lange ich einen Tropfen Blutes und ei-
nen Fussbreit Landes 'haben werde, will ich sie anwenden
zur Vertheidigung des Landes, welches mir Gott zum Va-
terlande gegeben hat!" Heinrich IV. schickte ihn bald dar-
auf in die Bretagne mit dem Charakter eines Lieutenantge-
neral, um gegen den Herzog von Mercoeur zu dienen. Doch
anders wollte es das Schicksal; bei der Belagerung der Stadt
Lambelle endigte er am 4ten August 1591 in Folge einer am
Kopfe erhaltenen Schusswunde sein thatenreiches Leben.
Bei einem so bewegten, dem Drange der Ereignisse
gänzlich preisgegebenen Leben konnte die Productivität von
La Noue's Feder unmöglich gross sein; ja die Literaturge-
schichte Frankreichs würde seinen Namen wahrscheinlich
gar nicht nennen, hätte er nicht während seiner fünfjährigen
Gefangenschaft durch Aufsetzen seiner eigenen Ideen seinem
Geiste Nahrung und Zerstreuung zu verschaffen gesucht,
hätte nicht sein Zeitgenosse Desfresnes diese Aufsätze für
würdig gehalten, sie aus einem Haufen alter in einem Win-
kel des Gefängnisses liegender Papiere zu sammeln, und un-
geachtet alles Widerstrebens von Seiten des Verfassers der
Oeffentlichkeit übergeben. Ein kleines Bändchen ist die fast
einzige Frucht jener schriftstellerischen, theuer genug erkauf-
ten Müsse; allein sein Inhalt ausgezeichnet durch Erhabenheit
der Ideen, wie durch einen überall sichtbaren Geist der Un-
Zeitachrift f. Geschieht**. IV. 1845. 3£
1
462 Erinnerungen an Franqoi* de la Noue.
Parteilichkeit und Freimüthigkeit, durch eine ruhige, ernste
Sprache, so wie durch Klarheit und Bestimmtheit des Aus-
drucks, durchdrungen endlich von wahrer Religiosität und
#
inniger Liebe zum Vaterlande. Je s$ay bien , schreibt er,
que c'cst un mal plaisant discours a celui, qui aime et bo-
nore son pays et sa nation, d'en vouloir preannoncer les
cheutes, ce qui ne se peut faire sans aussi en decouvrir les
turpitudes. Mais puisque tels perils estonnent desia tant de
coeurs, et que les causes, qui nous y Jetten t s'appercoyvent
des yeux de tous, ne serott ce pas foiblesse d'esprit de se
taire en ce grand besoin? II est certain, qu'il y a grand
nombre d'hommes, lesquels par Taute de bonne connoissance,
demeurent demi esperdus au milieu de tant de misferes. Et
tout ainsi que les eaux vont coulant insensibles contre bas
d'une riviere jusques a ce qu'elles soyent parvenucs dans
TOcean, oü elies s'ensevelissent; aussi eux roulans peu k
peu dans les confusions presentes qui les emportent, estans
destituez de droites apprehensions, vont, suyvant les uns les
autres, se preeipiter en des abysmes de ruynes. C'est uo
oeuvre profitable de monstrer le feu estre en la maison a ceux
qui ne l'apper^oyvent, et aux autres, qui le voyent et le
craignent, et les piquer pour Paller esteindre, et ä quelques
uns qui l'entretiennent par aventure sans beaueoup y penser,
et les admonester qu'ils ne fönt pas bien: bref, preparer
tous a (in d'aider au Maistre pour la salvation d'icelle, et
pour la conservation de sa famillö«
2< Zur Charakteristik der Krziehungsweise des französischen Adels
während der zweiten Hälfte des sechszehnten Jahrhunderts.
Bevor ich in einem dritten Abschnitte zur Darlegung
der Vorschlage La Noue's zu einer besseren Erziehung des
jüngeren französischen Adels übergehe, scheint es notb wendig,
Einiges über die damals gebrauchliche Erziehungsweise des-
selben vorauszuschicken, indem dadurch allein jene Vorschlage
in ihr wahres Licht gesetzt und gehörig gewürdigt werden
können. La Noue bietet dazu selbst die Hand. Indem er
in seinen politischen und militärischen Abhandlungen (Dis-
Erinnerungen an Franko** de in Neue. 463
cours politiques et mtlitaires) den traurigen politischen und
moralischen Zustand seiner Landstalte überhaupt und insbe-
sondere des Adels mit Wahrtieit schildert, unterlässt er nicht
hier und da zugleich auf die Art und Weise, wie dieser
Stand bei der Erziehung der jungem Generation männlichen
Geschlechts zu verfahren pflegte, und auf die Grundsätze,
welche ihn dabei leiteten; aufmerksam zu machen, da, wie
er ausdrücklich bemerkt, in beidein eine Hauptursache jenes
Zustandes liege. Freilich sind seine Andeutungen zu man*
gelbaft, als dass nach ihnen ein vollkommenes Bild dieser
Erziehungsweise entworfen werden könnte; jedoch werden
sie hinreichen, dasselbe wenigstens in den allgemeinsten
Umrissen darzustellen.
Unter den mancherlei Vorurtheilen und falschen Ansich-
ten, welche La Noue an dem Adel seiner Zeit rügt, war un-
streitig keine von verderblicherem Einfluss auf die Erziehung
und Bildung der Jugend, als die bei Vielen herrschende, dass
Tapferkeit das Hauptziel sei, wonach dieselbe zu streben habe.
Er bemerkt selbst (p. 280 sq.), dass die Quelle dieser An-
sicht keineswegs tadelnswerth sei, und in der allgemeinen
Stellung des Adels liege, der durch alle Jahrhunderte hin-
durch den Waffen seinen Glanz verdankt, oder vielmehr
(möchte man hinzusetzen) die Führung derselben als ein
Privilegium in Anspruch genommen hatte. Ihn insbesondere
begleitete ja die Hoffnung ins Feld, entweder mit Ruhm und
Ehre zu sterben, oder besondere Beweise seiner Tapferkeit
durch Belobnungen und Auszeichnungen vergolten zu sehen.
Indem man aber in späterer Zeit dieser Maxime eine fast
unbegrenzte Ausdehnung gab, suchten Viele dieses Standes
allein auf diesem Wege, mit Hintansetzung aller andern, ihr
Ziel zu erreichen. Daher wurde der bei weitem grössere
Theil des Jüngern Adejs zum Kriegsdienste bestimmt, einer
Laufbahn,- zu welcher, nach dem damaligen Standpunkte der
Kriegswissenschaften, weit weniger wissenschaftliche Kennt-
nisse, die Frucht mehrjähriger geistiger Anstrengungen, als
vielmehr Eigenschaften erforderlich waren, welche die Natur
selbst in den Menschen legt, und Uebung und Erfahrung
31*
464 Erinnerungen an Francis de la Noue.
Ausbilden , abgesehen davon, dass auch ein pecuniärer Vor-
theil hinzutrat, indem die Ordonnanzcompagnien, deren Stärke
seit dem Jahre ihrer Errichtung 1444 immer mehr gesteigert,
und deren Mannschaft ausschliesslich aus dem Adelstande ge-
nommen wurde, so wie die übrigen Truppen besoldet waren.
Jener verderbliche Einfluss zeigte sich schon in den
früheren Jugendjahren, welche der Knabe entweder im vä-
terlichen Hause, oder, wiewohl seltener, in Privatpensionen
zubrachte. Am ersteren Orte pflegte der Unterricht äusserst
mangelhaft zu sein, indem er sich auf Lesen und Schreiben,
abwechselnd mit körperlichen (Jebungen und der Anweisung
im Gebrauch der Waffen und Behandlung der Pferde, be-
schränkte. War der Zeitpunkt gekommen, wo der Jüngling
das väterliche Haus verlassen sollte, um sich zu seinem
künftigen Berufe weiter vorzubereiten, so standen ihm haupt-
sächlich drei Wege dazu offen. Entweder begab er sich als
Page an diesen oder jenen Hof irgend eines Grossen des
Reichs, um diesem zu dienen, oder er trat sogleich in Mi-
litärdienste, oder er begab sich auf eine Universität, um zu
studiren. Die erstehe Laufbahn bot neben vielen Annehm-
lichkeiten und Vortheilen mannigfaltige Gefahren dar. La Noue
bemerkt (p. 167), dass der junge Mann auf ihr zwar Ge-
legenheit bekam, Vieles zu sehen, was seine Einbildungskraft
ergötzen und seine Kenntnisse bereichern konnte, und dass
er in Kleidung, körperlicher Haltung, Gespräch, kurz in
seinem ganzen Thun und Wesen Anstand und Politur be-
kam, welche ihm das Leben auf dem väterlichen Landgute
nicht gewähren konnte. Nichtsdestoweniger aber umschweb-
ten tausend Versuchungen zum Bösen sein jugendliches Herz,
und je tiefer dieselben unter dem Scheine des Angenehmen,
des Reizenden verborgen zu sein pflegten,' desto leichter gab
sich ihnen der Unerfahrne hin. Die Höfe der Fürsten, ehe-
mals Schulen der Feinheit und der guten Sitten, waren jetzt
meistens Schulen des Lasters geworden ; Schwelgerei, Liebes-
bändel, Spiel und andere Vergnügungen gaben täglich neue
Gelegenheit zu Verleumdungen, Zänkereien, Betrügereien, zu
Intriguen und Kabalen, ja selbst zu Gewalttätigkeiten und
Erinnerungen an Francis de la Neue. 405
Excessen. Heimtücke und Hinterlist, Spottsucht und Egois-
mus, Frivolität und leichtsinniges Herabziehen alles Heiligen
und Grossen ins Gemeine und Lächerliche — dieses waren
die Folgen eines Lebens, wo unter der Aegide der Hoheit
und Macht alle Leidenschaften ihr völlig freies Spiel trieben,
und die schlechtesten Triebfedern menschlicher Handlungen,
wenigstens stillschweigend, als zulässig anerkannt wurden.
Zwar wurde der junge Mann der Aufsicht eines Stallmeisters
oder eines andern Höhergestellten übergeben, der über sein
Thun und Treiben wachen sollte; allein abgesehn davon, dass
diese Aufsicht selten mit Strenge gehandhabt werden mochte,
pflegte sie meistens die entgegengesetzte Wirkung hervorzu-
bringen, indem sie ihn veranlasste, seine Handlungen mög-
lichst zu verbergen oder zu beschönigen, durch Lug und Trug
zu täuschen und in seinem engern Wirkungskreise nach eben
dem Grade der Verstellungskunst zu streben, in welchem
seine Obern in einem weiteren Kreise durch lange Uebung
mehr oder weniger die Meisterschaft erlangt hatten. Rech-
net man endlich hierzu die Wirksamkeit des Beispiels und
die Verführung von Seiten seiner Gameraden, deren an jedem
Hofe, um den Glanz desselben zu vermehren, eine nicht ge-
ringe Anzahl sich zu befinden pflegte, so wird man leicht
ermessen können, wie wenige unter ihnen mit geradem
Sinne und unbescholtenem Lebenswandel den Hof verlassen
mochten.
Ein zweiter Weg war, wie oben bemerkt wurde, der
unmittelbare Eintritt in den Militärdienst. Schon in einem
Alter von 15 — 17 Jahren pflegte ein grosser Theil der jungen
Leute zu den Regimentern der Infanterie zu treten, worauf
sie nach Verlauf einiger Zeit zu den Ordonnanzcompagnien
versetzt werden konnten. Hiermit traten sie aber zugleich
in eine Corporation, welcher dasjenige am meisten fehlte,
was als die Seele des Ganzen ihr am meisten Noth that —
Disciplin. Schon die Standeversammlung zu Tours im Jahre
1482 führte die bittersten Beschwerden über die Bedrückun-
gen und Gewaltthätigkeiten , welche der Soldat an seinen
eigenen Landsleuteö, im Frieden wie im Kriege, verübte,
466 Erinnerungen m Frm&i* de fe Nouc.
und entwarf ein Abscheu erregendes BiW von seiner Barbarei
Ebenso bezeugen die verschiedenen, grosstentbeils im Laufe
der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts von den Königen
gegebenen Reglements für die einsehen Waffengattungen
diesen fortdauernden Mangel an DisctpUn, und die kiufige
Wiederholung derselben, trotz der Strenge der darin he*
stimmten Strafen, beurkundet die überaus lässige Befolgung
derselben. Nor einige wenige Regimenter und Garnisonen
hatten, wie La Noue berichtet, einen höheren Grad von
Diseiplin unter sieh erhalten, und den hugenottischen Trap-
pen , unter der Anführung des Prinzen Conde , giebt er das
Zeugniss, sich wenigstens bis zur Einnahme von Boisgency
(1562) von den herrschenden Lastern und Unordnungen frei
erhalten zu haben. Das Hauptübel war unstreitig das Rauben
und Plündern auf dem Lande, welches besonders bei der
Infanterie so überhand genommen hatte, dass La Noue an
einer Stelle (p. 822) äussert, seit der Einnahme jener Stadt
sei die Demoiselle Picoräe geboren worden, jetzt (gegen
20 Jahre später) nenne man sie Madame, und ohne Zweifel
werde sie, wenn die Bürgerkriege fortdauern sollten, Prio-
eessin werden. Nicht genug, dass Einzelne dieses Gewerbe
trieben, oft durchzogen sogar angebliche Haoptleate an der
Spitze ganzer Compagnien plündernd und verheerend die
Provinzen, so dass, wenn die Behörden sich ihrer nicht he-*
mächtigen konnten, die Gemeinden der ganzen Umgegend
durch die Sturmglocke aufgeboten werden mussten, diese
Yertheidiger des Vaterlandes zu verfolgen und zu zerstreuen.
Hierzu kam ein hoher Grad von Insubordination der Unter-
gebenen gegen ihre Vorgesetzten, hervorgegangen aus einer
falschen Ansicht von Ehre, oder aus andern Motiven; dem
leisen Tadel eines Fehlers stellte man Widersetzlichkeit ent-
gegen, gleich als könne man sich nicht mehr irren, und die
Spötterelen der Gameraden reizten selbst den noch weniger
Böswilligen zu laufen Aeusserungen seines Unwillens. Eine
unausbleibliche Folge hiervon waren die häufigen Duelle,
deren eines gewöhnlich mehre andere nach sieh zog, so
dass bisweilen wegen der Beleidigung eines Einzigen gegen
J
Erinnerungen an Francis de la Neue. 467
zwanzig Gameraden Leben oder Gesundheit einbüssten. Ja,
auch hiermit begnügte man sich nicht, sondern tödtete nicht
selten seinen Gegner meuchelmörderisch durch Pistolenschuss.
Uebrigcns war ein wüstes, ausschweifendes Leben auch hier
fast allgemein herrschend, und zeigte sich in mannigfacher
Gestalt eben so auf Märschen, wie im Lager und in Garni-
sonen. Irreligiosität und Gotteslästerung riefen im Laufe der
Zeit mehre Verordnungen hervor, konnten aber selbst durch
Anstellung eines Feldgeistlichen und Einführung des täglichen
Gottesdienstes bei den Ordonnanzcompagnien zufolge eines
Gesetzes vom Jahre 1584 keineswegs verbannt werden; Spiel-
und Vergnügungssucht brachten es dahin, dass der Soldat
oft Pferd und Waffen verkaufte, verspielte oder verpfändete;
und kein Bedenken trug, in erborgter Armatur bei der Mu-
sterung zu erscheinen, oder sich derselben ganz zu entziehen;
und eine Schaar feiler Dirnen, welche fortwährend ihn um-
schwärmten, trug getreulich das Ihrige dazu bei, sein körper-
liches und geistiges Heil zu untergraben. So war also auch
diese Laufbahn für den jungen Mann vom Tage des Eintritts
an mit einer Menge Gefahren verbunden. *)
Der dritte Weg endlich, weichen der Jüngling einschla-
gen konnte, war die wissenschaftliche Laufbahn. Unleugbar
gab es einen Theil des Adels, welcher in der Lieberzeugung»
dass eine wissenschaftliche Bildung seinem Stande nur zuf
Ehre gereichen könne, bei der Erziehung der Söhne dahin
strebte, ihnen schon frühzeitig Geschmack an den Wissen-
schaften beibringen zu lassen, um sie einst als würdigö
Staatsmänner dem Vaterlande dienen zu sehen. Auch fehlte
es nicht an Gelegenheit hierzu. Zahlreiche Colleges und
Universitäten, in allen Theilen des Landes gestiftet,, und zum
Theil von Mitgliedern des königlichen Hauses und Privat-
*) Man glaube nicht, das die in diesem Abschnitte entworfene
Schilderung einer gehörigen Begründung entbehre. Ausser den
obeu erwähnten Abhandlungen La Noue's ist sie hauptsächlich dem
Code d'Heury III. entnommen, einer Gesetzsammlung, welche hes-
ser als alle Geschichtschreiber dieser Zeit den damaligen socialen
Zustand Frankreichs erkennen lässt.
468 Erinnerungen an Fran$oi$ de la Noue.
personen reich dotirt, hatten die Bestimmung, zur Erlernung
der Facultätswissenschaften theils vorzubereiten, theils selbst
zu dienen, und mehre darunter behaupteten noch damals
einen Ruf, welchen selbst das Ausland anerkannte. Auch
unterliessen die Reichsstände nicht, bei ihren Versammlungen
diese Anstalten jedesmal zu einem Gegenstand ihrer Ver-
handlungen zu machen, und die königlichen Edicte von Or-
leans 1666 und von Blois 1579, welche als Früchte zweier
solcher; Versammlungen zu betrachten sind, enthalten über
Verbesserungen dieser Anstalten mehre besondere Titel.
Nichtsdestoweniger aber bewirkten doch ungünstige, in
den Zeitverhältnissen liegende Umstände, dass die Zahl sol-
cher adligen Familienväter, welche ihre Söhne zu einer sol-
chen Laufbahn bestimmten, ziemlich gering blieb. Eines
Iheils nämlich belehrte sie die Erfahrung nur zu häuGg,
dass, wie auch La Noue versichert (p. 173), nicht diejenigen,
welche nach wohlerworbener academischer Bildung gerechte
Ansprüche hätten machen können, sondern Günstlinge vom
König und dessen nächster Umgebung, oder von Cardinälen
und Bischöfen geistliche Stellen und Würden bekamen, und
dass bei der trotz aller Verbote fortdauernden Verkäuflich-
keit der Gericbtsämter nur derjenige, welcher das meiste
Geld besass, gegründete Hoffnung zu einer soJchen Stelle
haben konnte. Anderen Theils nahmen sie an der sittlichen
Haltung der studirenden Jugend, ihrem pedantischen, un-
geschliffenen Wesen nicht ohne Grund Anstoss, und der
Contrast, welchen ihnen die Vergleichung desselben mit der
Politur des Hoflebens zeigte, war oft hinreichend bei der
Wahl eines Berufs für ihre Söhne dem letzteren den Vorzug
zu geben.
So war also die Heranbildung des Jüngern französischen
Adels zu La Noue's Zeit von einer Menge Hindernissen und
Gefahren umstrickt, welche theils in der Lauheit und Igno-
ranz oder dem Vorurtheil der Väter, theils aber auch in den
überaus ungünstigen Zeitverbältnissen , und dem zerrütteten
politischen Zustande Frankreichs lagen.
Erinnerungen an Fran$ois de la Noue. 469
3. La Hone's Vorschläge zu einer bessern Erziehungsweise des
jftngern französischen Adels.
Mit Recht geht La Noue davon aus, dass der Fürst,
welcher gemeinschaftlicher Vater seiner Unterthanen ist, die
Bildung der Jugend nicht allein der Einsicht und Sorgfalt
der Eltern überlassen, sondern durch öffentliche Anstalten
unterstützen müsse, damit durch das vereinte Zusammen-
wirken beider Theile ein glücklicher Erfolg erstrebt werden
könne. Deshalb solle er in jeder Hauptstadt der einzelnen
Provinzen (vor der Hand schlägt La Noue blos vier vor,
Paris, Lyon, Bordeaux und Angers) und zwar in den könig-
lichen unbewohnt stehenden Schlössern Fontainebleau, Cha-
teau de Moulins, Plessis de Tours und Ghateau de Gognac
Academien errichten, welche die körperliche und geistige
Bildung des jungen Adels zur ausschliesslichen Tendenz ha-
ben. Die grössere Zahl solcher Etablissements, sagt er, ge-
währe den Yortheil, dass die Väter nicht nothig haben
würden, ihre Söhne mit grossen Kosten und ungewissem
Erfolge in entfernte Länder zu schicken, wodurch dem Va-
terlande noch überdiess bedeutende Summen Geldes entzo-
gen würden, abgesehn davon, dass ein grosser Theil entwe-
der an Krankheiten oder auf andere Weise sein Leben dort
einbüsste. Das Alter der Aufzunehmenden setzt er auf das
fünfzehnte Lebensjahr, lieber die Gegenstände des Unter-
richts macht er folgende Bestimmungen. In körperlicher
Hinsicht möge man ihnen im Ringelrennen, Voltigiren, Sprin-
gen, im Gebrauch der Waffen und der Behandlung der
Pferde Anweisung geben. Für einige dieser Uebungen werde,
man freilich anfangs Lehrer aus Italien verschreiben müssen;
doch fänden sich vielleicht auch in den einzelnen Provinzen
Frankreichs Männer aus dem Adelstande, welche sich hierzu
eigneten. Wenigstens wäre bei der Leichtigkeit mit welcher
der Franzose sich Künste und Wissenschaften anzueignen
pflege, wenn er sie geehrt, und ihre Lehrer gut bezahlt sieht,
mit Gewissheit zu erwarten, dass binnen drei Jahren sich
mehr Lehrer gebildet haben würden, als man nöthig habe.
Zu den genannten Lehrgegenständen könne man auch
470 Erinnerungen an Fran^oi* die la Noue.
das Schwimmen uod Ringen hinzufügen , weil beides
dem Körper Stärke und Gewandtheit gebe. Das Tanzen
scheint er an und für sich als Act der Eitelkeit auszuschlies-
sen; doch pflichtet er der Ansicht Einiger bei, welche we-
nigstens die Gaillarde, unter den jungen Leuten selbst auf-
geführt, lehren lassen wollten, indem sie geeignet sei, dem
Körper Haltung und Grazie zu verleihen. Gleiche Wichtig«*
keit als die bisher genannten Gegenstände haben ferner die
rein geistigen Lehrgegenstände. Hier empfiehlt er vor Allem
die Leetüre solcher Schriftsteller des Alterthums, welche
Gegenstände aus der Moral, Staatswissenschaft und Kriegs-
kunst bebandeln, so wie der Geschichtschreiber aller Zei-
ten, jedoch die ersteren nur in französischer Sprache; ferner
Geographie, Befestigungskunst und einige neuere Sprachen,
so weit sie für das praktische Leben nothwendig seien.
Da aber das Leben des Menschen sich in Bube und An-
strengung tbeile, so hält er für nothwendig, dass zur Zeit
geistiger Abspannung einige anständige Beschäftigungen ein-
träten, welche den Geist von bösen Gedanken abzögen.
Sehon Aristoteles habe in dieser Absicht jungen Leuten em-
pfohlen Musik zu treiben; daher sollen auch in diesen An-
stalten Lehrer der Musik und Malerei angestellt und gut
besoldet werden. Die Zahl der Lehrer bestimmt er auf acht
bis zehn; diesen aber will er,« um die Aufsicht zu fuhren
und die äussere Ordnung zu erhalten, noch vier Männer
gleichen Standes vorgesetzt wissen, welche durch unbeschol»
tenen Lebenswandel und äussere Würde die Achtung der
Lehrer und Schüler sich zu erwerben verständen, und deren
jedem er einen Jahrgehalt von 2000 Livres bestimmt. Den
Aufwand zur Unterhaltung eines solchen Instituts beredinet
er auf jährlich drei tausend Ecus, und also für alle vier
zwölftausend. Freilich, sagt er, werde ein guter Finanzmann
hier einwenden, dass man eher darauf denken müsse, die
Schuldenlast des Königs zu bezahlen, als zu vermehren.
Aber gerade auf diese Weise, lasse sich hierauf erwiedern,
befreie man ihn von einer der stärksten St&huld, zu deren
Bezahlung er verbunden ist — von der Schuld seinen Adel
Erinnerungen an Francis de la Noue. 471
V
auf eine höhere Stufe zu erheben. Und wolle sich jemand
die Mühe nehmen, seine Augen zu öffnen, so werde er die
Unzahl jährlicher Ausgaben sehen, die noch weit schlechter
angewendet würden. Um aber das Land wirklich nicht zu
belasten, brauche man ja nur die ersten besten der erledig-
ten Pfründen, deren Gollatur dem Könige gehöre, zur Be-
streitung der Kosten zu verwenden, statt dass sie oft; Leu-
ten zufallen, welche die Revenuen zu ganz gemeinen und
schmutzigen Zwecken missbrauchten. Uebrigens solle es den
Lehrern gestattet sein, von den Schülern Geschenke anzu-
nehmen, welche sie zu eifriger Erfüllung ihres Amts nur
noch mehr anspornen könnten, so wie den Vorstehern, um
ihre Einnahmen noch zu verbessern.
So vorbereitet würden die jungen Leute nach Vollen-
dung eines vier- bis fünfjährigen Gursus in den Stand ge-
setzt werden, in ihren künftigen Beruf zu treten, und ent-
weder mit Ehren an dem Hofe irgend eines Grössen zu die-
nen, oder als künftige Militärs die Waffen zu rühren, und,
was noch wichtiger sei, man würde der allgemeinen Sitten-*
verderhniss, welche wie ein Strom das Land überflutbe,
und auch den Adelstand ergriffen habe, einen Damm entge-
gensetzen. Ja man könne sogar hoffen, dass im Laufe der
Zeit durch solche Maassregeln ein höherer Grad von Sitt-
lichkeit auch bei der älteren Generation könne hergestellt
werden, indem diese sieh schämen würde, an Intelligenz und
sittlicher Haltung der Jüngern nachzustehen.
Dieses also sind im Allgemeinen die Wünsche und Vor-
schläge, wozu La Noue aus reiner Liebe zum Vaterlande
und zu dem Stande, welchem erangehörte, sich gedrungen fühlte.
Leider verhallten seine Worte damals wie eine Stimme in
der Wüste; auch er stand, wie jeder Mann höheren Geistes,
unter dem Einflüsse der Bedingungen, welche die Zeit, in
der er lebte, gebieterisch ihm auflegte. Erst einer der spä-
teren Generationen des französischen Volks blieb die Aus-»
führung der Ideen, die er gefasst hatte, aufbehalten, und so-
mit der Ruhm, den übrigen Staaten Europas ein Muster zuf
Nachahmung aufzustellen.
Dresden. / ,, E. G. Vogel.
Allgemeine Literatnrberichte«
Deutschland und die Schweiz.
Geographie und Geschichte der Herzogtümer Schleswig und Holstein
von J. Greve. Mit einem Vorwort von Dr. N. Falck, fitatsrath, ordentlichem
Professor der Rechte an der Universität zu Kiel, Ordinarius im SpruchcoU
legium, Commandeur des Danebrogordens und Danebrogsmann, der köuigl.
Gesellschaft der Wissenschaften zu Kopenhagen und anderer gelehrten
Gesellschaften Mitglied«. Kiel. Scbwers'sche Buchhandlung 4844.
In dem Vorworte giebl Falck eine kurze Geschichte der Ent-
stehung dieser Schrift. Es halte eine in Schleswig zusammenge-
tretene Gesellschaft vor einigen Jahren eine Preisaufgabe gestellt
für die Abfassung einer Beschreibung und Geschichte der Her-
zogthümer für den Bürger und Landmann und zum Gebrauche
in Schulen. Den Preis trug eine Schrift davon, die, wie nachher
bekannt wurde, den Herrn Ober- und Landgerichtsadvocaten Bre-
mer in Flensburg zum Verfasser hatte. Man halte bei der Bear-
theilung gefunden, dass unter den eingereichten Schriften diese
der gestellten Aufgabe für den Schulgebrauch durch ihre Kurze
am meisten entspreche» Herr Etatsrath Falck fand indess, dass die
Arbeit des Herrn Greve sehr wohl neben der des Herrn Bremer
geben und gebraucht werden könne, indem beide ganz verschie-
denen Bedürfnissen entsprechen würden. Denn das Buch des
Herrn Bremer wäre mehr zum Gebrauch der Schüler und zum
Lehrbuche für den Schulunterricht geeignet. Das Buch des Herrn
Greve soll aber in Beziehung auf die Landeskunde und Geschichte
der Herzogtbümer, zunächst den Bedürfnissen der Lehrer, und
dann auch den Wünschen aller derer entsprechen, welche von
beiden mehr wissen wollen als ein Lehrbuch für Schulen füglich
enthalten darf.
Mit voller Ueberzeugung darf man nun in dieser «letzteren Be-
ziehung das Buch des Herrn Greve empfehlen. Bei der erhöhten
Aufmerksamkeit, die von Seiten der übrigen Deutschen ihren hol-
steinischen und schleswigschen Landsleuten seit den neuesten Zei-
ten zugewandt wird und sich noch steigern muss, kann es nicht
fehlen, dass in ganz Deutschland ein regerer Trieb erwacht, über
die Geschichte beider Herzogtbümer und über deren Verhältnisse
sich näher zu unterrichten. Zur Befriedigung für die Bedürfnisse
eines solchen Triebes genügt die vorliegende Arbeit vollkommen
Allgemeine Literaturberichte. 473
Zwar macht der Verf. keinen Ansprach darauf, durch neue Er«
forschungen die Literatur bereichert zu haben; er hat nur das
Wichtigste aus grösseren Werken und Specialgeschichten zusam-
mengetragen, um es zum Gemeingut zu machen. Die Art der Zu-
sammentragung entspricht jedoch eben so sehr wie überhaupt die
ganze Darstellung dem Zwecke.
Furchtbar tragische Momente, bezeichnet durch Bruderzwist
und Brudermord, ziehen sich durch die Geschichte der beiden
Herzogtümer im Mittelalter. Noch im vierzehnten Jahrhundert
hört das Morden nicht auf, und auf dem mit Blut gedüngten Bo-
den erhebt sich die Macht des kriegerischen Grafen Gerhard von
Holstein und Stormarn. Ihm, der sich zum Reichsverweser in
Dänemark emporgeschwungen halte, ward am 15. August 1326
das ganze Herzogthum Jütland (Südjütland) als erbliches Fahnen-
leben mit allen Regalien nebst den dem Könige bisher zustehen*
den Rechten über alle Vasallen im Stifte Schleswig, vom Könige
von Dänemark übertragen. Darnach aber entstanden verworrene
Kämpfe zwischen Deutschen und Dänen, in denen Gerhard selbst
meuchelmörderischen Dolchen erlag. Doch es gelang seinen Söh-
nen, sich später wieder in den Besitz von Schleswig zu setzen
und sie betrachteten sich als die rechtmässigen Erben. Ihre An-
sprüche wurden demnächst däoischerseits anerkannt und im Au-
gust 1386 erhielt Gerhard IV. Enkel des eben genannten von dem
dänischen Könige Oluf und der Königin Mutter Margaretba die erb-
liche Belebnung mit dem Herzogthume Schleswig. Allein es ent-
standen schwere Kämpfe zwischen Schleswig -Holstein und Dith-
marschen, und auch dänischerseits wurden wieder feindselige Pläne*
entworfen, die nicht blos auf Schleswig sich erstreckten) sondern
auch auf Holstein und auf die Hansestädte Lübeck und Hamburg ge-
richtet waren. Es entbrannte ein 26jähriger Krieg Cl 409 — 1435)
zwischen Schleswig -Holstein und Dänemark, in welchen auch die
Hansestädte mit hineingezogen wurden, das Herzogthum Schleswig
aber ganz besonders viel leiden musste. Das Verhällniss von
Schleswig zu Holstein blieb indess, auch noch nachdem ein Friede
abgeschlossen war, in Frage gestellt, bis erst König Christoph von
Dänemark im Jahre 1440 dem Herzoge Adolf die ßelehnung mit
dem Herzogthum zu Schleswig als einem rechten Erblehn ertheilte.
Schleswiger und Holsteiner hatten sich aneinander gewöhnt,
ungeachtet des Gegensalzes, der in früheren Zeiten zwischen ih-
nen gewaltet hatte. Schleswig war ein dänisches Lehn, Holstein
dagegen ein deutsches. Die Idee aber, dass sie zu einem in sich
abgeschlossenen Kreise eines untrennbaren Ganzen gehörten, er-
füllte den Geist der Bewohner beider Länder. Diese Idee hatte
«
sich noch mehr in sich gekräftigt und gestärkt in Folge des lang
474 Allgemeine Literaturbenchte*
andanernden Krieges, in welchem besonders über Schleswig so
viel Leid gekommen war. Sie war es auch, die sidh gellend machte bei
den bald eintretenden verworrenen Verhältnissen. Als Adolf von Hol*
stein aus dem Hause Schaum bürg ohne Söhne und nahe mann*
liehe Verwandte gestorben war, entstand die Frage, ob sein Schwe-
stersohn Christian aus dem Hause Oldenburg, durch Wahl auf den
danischen Königsthron gelangt, oder ob Otto Graf von Schaumburg,
dem auf Holstein allerdings das Erbrecht zustand, künftiger Lan-
desherr von Schleswig-Holstein sein sollte. Dass diese Frage nach
strengrechtlichen Grundsätzen entschieden worden sei, steht nicht
zu behaupten. Die Sache wurde im Jahre 1460 abgemacht durch eine
Erklärung der Landräthe Schleswig -Holsteins, dass sie, um des
Besten ihrer Lande willen, den König Christian zu einem Herzoge von
Schleswig und Grafen von Holstein erwählt hatten. Dagegen be-
kannte der König, dass Prälaten, Adel, Städte und Einwohner
Schleswig -Holsteins ihn zu einem Herzoge von Schleswig und
Grafen von Holstein und Stormarn erwählt, und ihm gehuldigt bat*
ten, nicht als einem Könige zu Dänemark, sondern als einem Herrn
der genannten Lande. Die Lande Schleswig und Hotstein sollen
zu ewigen Zeiten ungetheilt zusammenbleiben; and so oft die
Lande offen werden, soll eins von den Kindern des letzten Regen-
ten, und wenn keine da sind, ein anderes Mitglied des oldenburgi-
schen Fürstenhauses, einer der nächsten Verwandten des Stamm*
vaters zum Herrn gewählt werden.
Hiernach war allerdings Schleswig-Holstein als ein eigener, in
sich zusammenhängender und untrennbarer Staatskörper aner-
kannt und als solcher gesondert dem danischen Reiche gegen-
übergestellt. Allein, wenn auch in diesem Verhältnisse der Haupt-
sache nach nichts verändert ward, so ward es doch bald schon
dadurch ins Unklare gestellt, dass die Königin dahin zu wirken
trachtete, ihrem zweiten Sohne Friedrich, ihrem Lieblinge, den
Besitz von Schleswig-Holstein zu verschaffen, der dänische Reicbs-
rath aber fürchtete, es könne in Folge einer solchen Verleihung
dieser Staatskörper gänzlich von Dänemark sich trennen. Es
ward nach dem Tode Christian's I. eine Zweifürstenherrschaft und
Theilung der Herzogthümer unter Johann, König von Dänemark, und
dessen jüngeren Bruder Friedrich beliebt. Man war jedoch da-
bei bedacht, Sorge zu tragen, dass aus dieser Theilung keine Tren-
nung entstehe. Auch kamen nach der Absetzung des Königs
Christian IL die Herzogthümer wieder zusammen unter dem Her-
zoge Friedrich, der zugleich König von Dänemark ward. Spater
aber nach dem Tode Friedrichs kam die Befestigung einer enge-
ren Verbindung zwischen Dänemafk und Schleswig -Holstein zu
Altgemeine Literäturberichte. 475
Stande, indem auf den Vorschlag des Königs Christian HI. auf
einem Landlage zu Rendsburg im December 1533 unter dem Na-
men der Union ein Bündniss bestätigt ward, worüber der schles-
wig-holsteinische Landrath mit dem dänischen Reichsrath schon im
Jabr 1466 übereingekommen war (Vergl. Dahlmaiins Geschichte von
Dänemark Bd. 3. S. 221). Durch diesen Bund verpflichteten beide
Lande sich , ihre Streitigkeiten unter einander durch schieds-
richterliche Entscheidung abzuthun und in ihren Kriegen einander
wechselseilig Hülfe zu leisten. Untrennbar wurden dadurch zwar
die beiden Staatskörper nicht vereinigt; aber es folgte bald darauf
eine für das staatsrechtliche Verhältniss Schleswig «Holsteins und
dessen Stellung zum dänischen Reich nicht vorteilhafte Theilung
der schleswig-holsteinischen Länder. Nach den mit Christian I.
abgeschlossenen Verträgen hatte eigentlich einer der Söhne Fried-
richs L, der Bruder Christians III., die Herrschaft über die Herzog-
tümer erhalten müssen. Statt dessen wurde aber eine Dreifür-
stenschaft beliebt. Die Länder wurden im Jahre 1544 in drei
Tbeile getheill, von denen der König von Dänemark einen und
somit auch die Mitregentschaft über Schleswig-Holstein als Herzog
erhielt. Den Uebelstanden fernerer Theilung jedoch abzuhelfen, errich-
tete im Jahre 1608, nachdem unter der vormundschafllichen Regie-
rung Königs Christian IV. von Dänemark mancherlei Streitigkeiten dar-
über, ob Wahl- oder Erbrecht in Rücksicht auf die Nachfolge in
der Regierung der Herzogtümer gelte, obgewaltet hatten, der Her-
zog Johann Adolf aus dem Gottorfischen Hause für sein Haus ein
Erbgesetz, in welchem er für dasselbe das Recht der Erstgeburt
festsetzte. In Folge dessen bildete sich denn im Herzogthume
Schleswig eine Macht, die später dem dänischen Reiche feindlich
sich gegenüberstellte. Als der kühne Schwedenkönig Karl Gustav
Dänemark zum Frieden von Roschild genöthigt hatte, nahm er auch
seines Schwiegervaters des Herzogs Friedrich Gottorfiscber Linie
sich an; er machte deti König von Dänemark verbindlich, dem
Herzoge Friedrich hinreichenden Ersatz für den im Laufe des
Krieges ihm zugefügten Schaden zuzugestehen, und zu dem Ende
einen besonderen Tractat mit demselben abzuschliessen. In Er-
füllung dieser Bestimmung wurden denn durch einen am 2ten
Mai 1658 zu Kopenhagen abgeschlossenen Vergleich dem Herzoge
Friedrich nicht nur einige Landeslheile in Schleswig abgetreten,
sondern sogar auch demselben die Freiheit von der Lehnsempfäng-
niss über seinen Antheil von Schleswig eingeräumt. Darnach tra?
ten in einer wahrhaft tragisch zu nennenden Weise die Übeln
Folgen des früher beliebt gewesenen Theilungsprincips hervor.
Denn durch eine an demselben Tage noch ausgefertigte Urkunde
ward auch der König für seinen Antheil von der Lehnsverbindung
476
befreit So waren beide Fürstenhäuser fortan rucJncbÜieh Schles-
wigs lehnsfrei oder sonverain. Für die Erbrechte des herzoglich-
holsteinisehen Hauses konnte freilich dadorch keine wesentliche
Veränderung von Bedeutung sich ergeben. Aber Schleswig war
doch non schon getrennt in sich; es zerfiel in zwei Theüe, von
denen der eine ein unabhängiges Herzogthum für sich bildete, der
andere den Königen von Dänemark ans dem oldenburgischeu
Hause anheimgefallen war. Die Verhältnisse Holsteins zum deut-
schen Reiche waren dabei ungetrübt geblieben.
In Folge des Gegensatzes, der nun einmal in Schleswig zwi-
schen dem herzoglich gottorfischen und dem königlich -dänischen
Hause bestand, suchte sich das erstere an Schweden anzuschlies-
sen. Doch konnte ihm diese Macht weder helfen, noch war es
für sich selbst mächtig genug, dem Andränge der dänischen Macht
Widerstand zu leisten. Ein schweres Geschick brach über Schles-
wig ein. Jahrelange Verwirrung herrschte in den Verhältnissen
des Herzogthums. Der Herzog Christian Albrecht ward uicht nur
genöthigt, im Rendsburger Recess vom lOten Juli 1675 der Sou-
verainität über Schleswig sich zu begeben, sondern fand auch
bald Veranlassung dazu seine Residenz nach Hamburg zu verle-
gen, woselbst er von nun an dreizehn Jahre verblieb. Während
dessen waltete der König Christian V. von Dänemark willkürlich im
Schleswigschen, ordnete sogar im Februar 1685 ein eignes Ober-
gericht für Schleswig an und nöthigte «die schleswigsche Ritter-
schaft eine Urkunde zu unterschreiben, worin sie sich als ein
Glied des dänischen Reiches vom holsteinischen Adel trennte und
den König für ihren einzigen souveraioen Herrn anerkannte. Doch
mit dem Kaiser, Kursachsen und Kur-Brandenburg vereinigten sieb
Holland und England zur kräftigen Verwendung für den Herzog,
und so kam denn am 20stenJuni 1689 zu Altona ein Vergleich zu
Stande, durch welchen der Herzog nicht nur in alle seine Lande
und in die Souverainität wieder eingesetzt, sondern ihm auch das
Recht, die Steuern und Contributionen aus seinem Antheile zu erbe-
ben, Truppen zu unterhalten, Festungen zu bauen und Bündnisse
einzugehen — eingeräumt wurde.
Waren auch für den Augenblick in Folge dieses Vergleichs,
die Verhältnisse geordnet, so konnte doch die einmal aufgeregte
Spannung nicht zugleich auch beschwichtigt werden. Der Sobn
und Nachfolger Christian Albrechts, Herzog Friedrich, scbloss sich
enge an Karl XII. an. In Folge des Ausbruches des nordischen
Krieges ward Schleswig von dänischen Truppen überschwemmt,
doch bald wiederum von dem schwer drückenden Joche durch
den Frieden von Traventhal befreit Aber im ferneren Verlaufe
des Krieges gerieth es ganz in die Gewalt Dänemarks, und da das
Allgemeine Literaturberichte. 477
herzogliche Haus nach dem Tode Karls XII. von den Schweden
preis gegeben ward, verblieb in Folge des am 3« Juli 1720 zu
Friedrichsburg abgeschlossenen Friedens auch das herzogliche
Schleswig in dem Besitze des Königs von Dänemark. Dieser ver-
einigte den gottorfischen Antheil von Schleswig mit dem seinigen
und liess sich am 4. September 1721 von Prälaten und Ritterschaft,
so wie von den Einwohnern in den Städten, Aemtern und Land-
schaften des Herzogthums huldigen. Allein der junge Herzog Karl
Friedrich gab seine Ansprüche auf Schleswig nicht auf. Er suohte
zu seiner Unterstützung Verbindungen in Russland und es ward
ihm auch die Hand der Gross fürst in Anna zu Tbeil; weitere Vor*
theile konnte er jedoch aus dieser Verbindung nicht ziehen, da
seit dem Tode Peters des Grossen die Verhältnisse am russischen
Hofe sich immer mehr und mehr verwirrten. Die späteren Plane
Peters III., Kaisers von Russland, die Reohte seines Hauses gegen
Dänemark geltend zu machen, sind eben so bekannt, wie die Um«
stände, durch die deren Ausführung gehindert wurde. Es folgte
darauf 1773 der Tausch vertrag mit dem Grossfürsten Paul, Herzog
von Holstein, durch den die Kaiserin Katharina von Russland, als
Vormünderin ihres Sohnes, des Grossfürsten Paul Petrowitsch,
allen Ansprüchen auf den 1713 vom Könige in Besitz genommenen
herzoglichen Antheil an Schleswig entsagte und den grossfürst-
liehen Antheil an dem Heriogthum Holstein gegen die Grafschaften
Oldenburg und Delmenhorst vertauschte.
Heutiges Tages handelt es sich nun in Rücksicht auf Schleswig,
da in Rücksicht auf Holstein keine Frage, kein Rechtsstreit erhoben
werden kann, eigentlich darum, ob alle jene lm*Vorhergehenden
erwähnten Veränderungen im Besitzstande von Schleswig inner-
halb des Kreises der Erbbereohtigungen des Mannsstammes des
oldenburgischen Hauses geschehen sind oder nicht Die Bejahung
dieser Frage scheint unbedenklich zu sein. Denn seit Christians I.
Zeiten .aus dem Hause Oldenburg war Schleswig- Holstein als ein
eigener, in sich zusammenhängender und untrennbarer Staats-
körper anerkannt und als solcher gesondert dem dänischen Reiche
gegenübergestellt.' Die Frage über Wahl- oder Erbrecht war frei-
lich noch nicht bestimmt entschieden, ward aber im Laufe der
Zeiten von selbst zur Seite geschoben, während in der bei vor-
gekommenen Theilungen eintretenden Gesammtherrschaft der Für-
sten die Idee der Untrennbarkeit Schleswig -Holsteins festgehalten
blieb. Die hierdurch erwachsende Erbberechtigung für den Manns*
stamm des oldenburgischen Hauses konnte durch den Vergleich
vom 2. Mai 1658 nicht beeinträchtigt werden1. Dass aber auch
Friedrich IV. von Dänemark, als er durch den 1720 zu Fried«
ricbsburg abgeschlossenen Frieden zu dem Besitze des herzog*
Zeitschrift f. Geschichte*. IV. 1845. 32
478 Allgemeine Literaturberichie.
liehen Schleswigs gelangte, die Sache nicht so angesehen habe, als
sei dies in Folge einer Eroberung für das dänische Reich gesche-
hen , folgt ganz klar daraus , dass er den gotlorfischen Anlheil mit
dem königlichen vereinigte. Auf dem königlichen Schleswig ruhte
überdies ganz unbezwetfelt die Erbherechtigung im Mannsstamme
des oldenburgiseben Hauses, da, seitdem Schleswig-Holstein diesem
Hause erblich zugefallen, eine einseitige Aenderung in dem in die-
sem Hause einmal festgestellten Erbrechte nicht zulässig war. In-
dem nun Friedrich IV. das herzogliche mit dem königlichen Schles-
wig vereinigte, gestand er selbst zu, dass jenes unter ein gleiches
Erbrecht mit diesem gestellt wäre. Durch den Tauschvertrag mit
Russland konnte das Princip der Erbfolge in keinem Falle berührt
werden.
Ein zweideutiges Verhältniss von Schleswig zu Holstein liegt
indess darin, dass dieses ein deutsches Reichslehen war und blieb,
jenes aber ausser Verbindung mit dem deutschen Reiche stand«
Die Zweideutigkeit dieses Verhältnisses ist allerdings in dem spate-
ren Verlaufe der geschichtlichen Verhältnisse schroffer hervorge-
treten. Während Schleswig und Holstein unter einer gemeinsamen
Verwaltung standen, war der Beherrscher dieser Herzogtümer nur
für das eine souverän, für das andere aber Vasall des deutschen
Reichs. Zwar fühlte der königliche Herzog nach der Auflösung
dieses Reichs sich bewogen, am 9. September 1806 eine Erklärung
zu erlassen, nach welcher das Herzogthum Holstein, die Herrschaft
Pinneberg, Grafschaft Ranzau und Stadt Allona fortan unter der
gemeinsamen Benennung des Herzogthums Holstein mit dem ge-
sammten StaatsUjrper der dem königlichen Scepter untergebenen
Monarchie als ein in jeder Beziehung völlig ungetrennter Tbeil der-
selben und der alleinigen unumschränkten Botmässigkeit des Königs
unterworfen sein sollte. Der Stein über dem Süderthor der Alt-
stadt Rendsburg mit der Inschrift: Eidora Romani lerminus imperii
wurde dort weggenommen und als Alterthumsstück aufs Zeughans
gebracht.
Es hat sich jedoch der König von Danemark Friedrich VI als
Herzog von Holstein dem deutschen Bunde angeschlossen und so
durch die That erklärt, dass er Holstein als ein deutsches, von
Dänemark geschiedenes Land anerkenne. Für Schleswig ist frei-
lich ein Gleiches nicht geschehen und in Rücksicht auf das Ver-
haltniss zu diesem Lande steht dem königlichen Herzoge ohne
Zweifel die Souveränität zu. Daraus folgt jedoch noch nicht, dass
in dieser Souveränität auch das Recht unbeschränkter Verfügung
über die Verhältnisse des Landes liege. Näher betrachtet stellt sich
bei der geschehenen Umwandlung des ursprünglichen Lehnsver-
hältnisses, in welchem Schleswig früher zur dänischen Krone stand,
Allgemeine Literaturberichte. 479
in ein Souveranitatsverhältniss die Frage so: ob in Folge von neue*
reo Entwicklungen in staatsrechtlichen Begriffen, die auf Umwand-
lungen geschichtlicher Verhältnisse eine bedeutende Einwirkung
gehabt haben, dritte Personen in ihren unzweifelhaft feststehenden
Rechten gekränkt werden dürfen. Nach den Grundsätzen, die in
den Bewegungen der französichen Revolution herrschten, würde
diese Frage offenbar zu bejahen sein. Später jedoch ist man von
diesen Grundsätzen zurückgekommen und fühlt sich nur da, wie
etwa in Rücksicht auf die Juli-Revolution, geneigt, solchen einigen
Spielraum zu gewähreu, wo eine gewjsse Macht der Verhältnisse
unmittelbar hervorbricht. Dass aber dies Letztere in Rücksicht auf
die scbleswigsche Frage der Fall sei, ist um so weniger zu be-
haupten, um wie mehr, nach dem schon in dem Jahre 1689 von
Seiten des Kaisers, Kursachsens und Kurbrandenburgs gegebenen
Beispiele der Unterstützung der holsteinischen Rechte auf Schles-
wig das herzogliche Haus, als die dritte Person, auf die oben hin-
gedeutet ward, dem deutschen Bunde verwandt, von demselben
vertreten zu werden, hoffen darf. P. F. Stuhr.
Die Schlacht bei St. Jacob in den Berichten der Zeitgenossen. Sa-
cularschrift der historischen Gesellschaft zu Basel. Basel, Schweighanser-
sche Buchhandlung. 4844. 4. 420 S.
Das vierte Säcularfest der Schlacht bei St. Jacob an der Birs. Im
Auftrage des Comitäs mit Beifügung der Festreden und der Festgedichte
beschrieben von Wilhelm Wackernagel. Basel, Schweighäuser 4 844. 74 S.
Glück und Unglück feiern die Nationen durch Erinnerung.
Siege und Niederlagen werden zu Fest- und Trauertagen für die
Völker. Griechen, Römer, vor allen die Juden übten das nationale
Gedäcbtniss mit Eifer. Letzteren gab der Maccabacrkampf eine
Reihe von Erinnerungstagen von denen freilich nur noch Einer
übrig ist.
Die neueste Zeit regt diese Erinnerungsfeste stärker als je an.
Sie ist gerechter als alle Zeiten, gedächtnissreicher, dankbarer, sie
wird die Zeit des goldenen Weltalters herbeiführen, die an allen
Tagen Feste feiert. Ob nicht in diesen Tugenden der Gerechtig-
keit etc. auch Affeetation, Lust an Festen und Festreden, in diesem
Nationaleifer einige Freude an Ostentation und Zweckessen ver-
steckt liegen mag, wollen wir hier nicht zu entscheiden wagen.
Die Schweiz ist reich an politischer Erinnerung aus den
Kämpfen, die sie für ihre Unabhängigkeit focht; sie feiert mit Recht
die Tage von Morgarten, Sempach etc., und auch die Stadt Basel
suchte in ihrer Geschichte einen Festtag und hat ihn in der Schlacht
bei St. Jacob an der Birs gefunden. Am 26., August 1444 fielen
in dem Bürgerkriege zwischen den Eidgenossen und Zürich im
Kampfe gegen ein gewaltiges Armagnakenheer , das der Dauphin
32*
480 Allgemeine IAUrahtrberickte.
zur Hälfe Zürichs and zur Belagerung von Basel herbeiführte, an
1300 Schweizer nach einem beldenmü&bigen verzweifelten Kampfe
and schreckten durch ihren Tod den Daaphia von weiteren Unter-
nehmungen zurück.
Es trägt dieser Tag nicht jene naive Heiligkeit an sich, die in
dem Tage von Morgarten liegt; erst die historische Reflection un-
serer Zeit bat aus seinen Folgen seine höhere Wichtigkeit hervor-
ziehen müssen, um ihm mehr als grade die Erinnerung an den
Verlust tapferer Männer zu geben; er erinnert vielmehr eben so
gut an den unseligen Zwist der jSchweizerstädte, an die geringe
Liebe zu nationalen Interessen, indem diese Franzosen doch durch
verbündete NichtSchweizer herbeigerufen waren, an den Mangel
von Ueberiegung in dem Kampfe selbst, den keine „leonina fero-
citasu wieder ausgleichen konnte; es möge die Schweiz die Ge-
fallenen auf St. Jacob mehr als die Märtyrer ihrer damaligen Zer-
rissenheit (und in Bezug darauf verdient er heute eine besondere
Erinnerung) denn als siegreiche Helden preisen, und es kommt
mehr darauf an, dass man ihn als einen Warnungstag für alle
Tage feiert, denn als Erinnerungstag an tapfere Männer, woran die
Schweiz zu allen Zeiten keinen Mangel gehabt hat.
Im vergangenen Jahre wurde das 400jährige Fest dieser Schlacht
gefeiert Dieses Fest, wie es entstanden, angeregt, gefeiert durch
Kanonenschüsse und Reden, beschreibt die zweite obengenannte
Schrift ausführlich, indem sie zugleich die Reden und Predigten
in extenso mittheilt. Ausser dieser Schrift sind noch 15 andere
Schriften zur Feier und Geschichte dieses Tages erschienen, von
denen Eine die erste obengenannte ist Schön, einfach und ge-
recht ist die Inschrift, die die Marmortafel an der Vorderseite der
Kanzel in der Kirche von St. Jacob enthält (pag. 18.) und die so
lautet:
Unsre Seelen Gott
Unsre Leiber den Feinden«
Hier starben
am 26. August 1444
gegen Frankreich und Oesterreich
unbesiegt, vom Siegen ermüdet
Dreizehnhundert
Eidgenossen und Verbündete.
fierner
Luzerner
Urner
Schwizer
UnlerwaWner
Glaraer
Zuger
Sololhumer
Neuenburger
Basler
Das ganze Heer.
Gestiftet von den Bürgern Basei's
. am 30. Juni 1844.
Allgemeine Literaturberichte. 481
Mit Recht hat man die Zahl der überwundneii Feinde wegge-
lassen, weil man sie nicht genau weiss, schon tu den damaligen
Zeilen nicht genau wussle; Aeneas SylviUs bringt verschiedene
Angaben, von denen die grösste 60000; die andere 30000. die be.
scbeidenste 20000 zählt. (Sacularschrift p. 49.)
Es enthält die erste Schrift Auszüge aus schweizerischen, öster-
reichischen und französischen Schriftstellern über diese Schlacht;
die lateinischen sind von der Uebersetzung begleitet. Redigirt ist
die Sammlung von Wackernagel, der in der Einleitung noch zwei
übersehene Stücke einstreut, gesammelt von den Herren August,
Eraanuel, Jacob Burckhardt und Balthasar Reber. Auf die Veröf-
fentlichung der französischen Berichte, die man für noch unbe-
nutzt hält, wird ein Werth gelegt; doch sind sie schon früher be-
nutzt worden, wie sogar in der allgemeinen Geschichte Deutschlands
T. 5. p. 297. von Arkstee und Merkus, (Monstrelet u. Matthieu de
Coucy) etc. Was die Ausgabe des Aeneas Sylvius betrifft, die benutzt
worden und über deren Druckjahr man zweifelte, weil blos auf
dem Umschlage 1551. stand, so kann man sich aus Hamberger (Zu-
veri. Nachrichten 4. 774.) vergewissern, dass sie Basileae per Hen-
ricum Petri mense Augusto« Anno 1551 gedruckt worden ist.
Kunde des Samlandes oder Geschichte und topographisch - statisti-
sches Bild der ostpreussischen Landschaft Samland von Carl Emil Gebauer
Pfarrer in St. Lorenz. Königsberg, im Verlag der Uuiversitätsbuchhandlung.
4844, 8. 356 Seiten.
Vqlks- und Schulbücher bedürfen einer strengen Ueberwa-
chung durch Kritik. Sie allein sind die Bindemittel zwischen der
Wissenschaft und der allgemeinen Keontniss, und ihren Mängeln
hat man es allein zuzuschreiben, wenn veraltetes Wissen und Ober
flächtichkeft noch lange unter dem gewöhnlichen Publikum da exi-
6tirt, wo die Wissenschaft schon langst Neueres und Tieferes ge-
geben hat. Namentlich in unserer Zeit, wo das Volk so viel ler-
nen soll und will, werfen sich eine Menge unberufener unwissen-
der Leute zu seinen Lehrern auf, die weder den Umkreis der Wis-
senschaft mit ihrem kurzsichtigen Auge zu messen, noch die Würde
der Wissenschaft zu. erhalten verstehen.
In der Geschichtschreibung ist dies ein altes Uebel, das nur
heule grösser und schwerer heilbar geworden ist Es ist ja uichts
leichter als aus sechs Lehrbüchern, von denen die Wenigsten die
Quellen gesehen, das siebente zu machen und so seine modernen
Ansichten der Welt aufzudrängen.
Auch der Ton, der in zu Belehrung bestimmten Büchern herrscht,
ist allzuoft ein falscher; bald rationalistisch — hyperliberal; bald
pedantisch trocken und farblos; bald aber allzumonarchisch-servil.
In Büchern für die Jugend und das Volk erzählet Herodotsmässig
482 Allgemeine LUeraturberichU.
einfach die Geschichte! der natürliche Verstand findet daraus bes-
ser sein Urtheil als aus Phrasen entweder für oder wider Tugend
und Recht der historischen Personen.
Obiges Buch könnte vielleicht eine strenge Receusion aushal-
ten, es giebt erst eine topographische Beschreibung des Samlaodes
und dann seine Geschichte nach den Arbeiten von Voigt, Schu-
bert etc. Der Styl ist leider zuweilen zu poetisch, und immer
zu pragmatisch und psychologisch. Das Archiv zu Königsberg ist
vom Verf. benutzt worden (cf. p. 226 not.); sonst umgeht er die
Quellenangaben, denn wie er in der Vorrede p. IL sagt „er wollte
den widerwärtigen Anblick überhäufter Gitate vermeiden." (?)
Ebenso würden wir gern seinem Patriotismus Glauben schen-
ken, wenn auch nicht vom „korsischeu Gewalthaber" (p. 333) etc.
deklamirt und von dem Aufenthalt des Königspaares in Königsberg
1807 emphatisch gesagt wurde: „So empfand es das Glück in be-
drängter Zeit seinem allverehrten Herrscherpaar eine Zufluchtstatte
zu gewahren und die erhabenen Tugenden desselben aus eigener
Anschauung und Erfahrung bewundern zu können.*'
Wahrheit braucht keine Schmeichelei und die Geschichte soll
nur die Wahrheit sagen. Ob der Verfasser sein Buch blos als
Volksbuch betrachtet haben will, ist aus der Vorrede nicht klar,
doch ist es ein solches und kann als solches gelesen werden.
Quellen der badischen Geschichte. Herausgegeben von Dr. Eugen
Huhn. 1. Ghronicon Meissenheimense von M. Johannes Georg Scbilher.
Heidelberg. Als Manuscript gedruckt. 4 844. 4 8. 60. S.
Dr. Eugen Huhn bat es unternommen auf seine eigenen Da*
kosten die Quellen der badischen Geschichte herauszugeben und
macht den Anfang mit dem Chronicon Meissenheimense. Freilich
giebt er uns das, ohne alle nähere Beschreibung der Handschrift,
ohne Notiz über den Ort, wo er sie gefunden und ohne literari-
sche und historische Bemerkung überhaupt., Er wird wie diesmal,
auch ferner, was er herausgiebt Bibliotheken und Gelehrten uu-
entgeldlich mittheilen, etwas sehr- edles und preisenswerthes, wenn
wir auch die ostentirende Manier, mit der „er von seinen dem
Vaterlande schon gebrachten Opfern dem Staate gegenüber spricht
weniger passend finden als eine bescheidene Darlegung der Ver-
hältnisse. Das Chronicon hat folgende Ueberschrift: „Chron. Meis-
senheimense, dass ist denkwürdiger Sachen auüzeichnung so sich al-
hier und in diesem Territorio der Breusch herum verlofien uudt
zugetragen haben von Anno 73 bis auff gegenwärtige: zum Theil
aus dem alten Tauffbuch geschriben: zum Tbeil aber täglichen
vermärket. Durch M. Johanneni Georgium Schub erum der Zeit
Pfarrherrn alhie zu Meissenbeim. Anno 1610."
Allgemeine Literaturberichte. 483
Es ist nun dabei mehres sehr auffallend. Das erste Datum
ist 1573, das letzte 1656. Das ist ein Zeitraum von 83 Jahren, den
Einer also nicht beschrieben haben kann. Wenn im Titel auch
das Jahr 1610 vermerkt ist, so gehl doch die Erzählung in ahnli-
cher Weise über das Jahr 1610 heraus, wo gar nichts erwähnt
ist, bis zum Jahre 1621; bei 1622 lautet der Titel der einzelnen
Jahre schon etwas anders; während bisher blos „Anno 1620, 21
etc.," gestanden, heisst es jetzt „Anno Domini 1622 sindt nach-
folgende fürneme Sachen allhie undt in unserem territorio herumb
verloffen" und dieser lange Titel bleibt mit mancherlei Variationen
bis auf das Jahr 1656 wo er wieder blos „Anno 1656" heisst.
Vom Jahre 1573—1621 incl. sind zu den folgenden Jahren
Nachrichten enthalten 1573. 74. 75. 81. 82. 83. 89. 86. 90. 91. 93.
1600. 1. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21; von
1622—1656 haben nur die Jahre 1622. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29.
30. 31. Nachrichten, dann folgt gleich 1656.
Vor Schilher ist der Pfarrer von Meisenheim Johann Stork ge-
wesen, welcher 1605 starb und bei den Jahren 1573* 74. u. 81 sich
als den Notizenmacher bezeichnet. Ihm folgte Schilher wie er
selbst p, 19 erzählt, der sich auch zum Jahr 1611 nennt (p. 32);
wenn daher 1656 steht „dto. 24. Febr. bin ich ordentlicher und
rechtmässigerWeise allhie zu einem Pfarrer auf und angenommen
worden, wie vornen zu sehen. " so kann sich das nicht auf SchiU
her beziehen und man weiss nicht, was man „vornen zu sehen''
hat —
Es scheint also die Chronik zuerst aus Notizen zu bestehen,
die Johann Stork der Pfarrherr gemacht, die dann sein Nachfolger
Schilher von 1605 an regelmässig fortgesetzt hat und wie es
scheint nur in der Art bis 1622, dann mit verändertem Titel (wenn
überhaupt ein getreuer Abdruck vorausgesetzt werden kann) bis
1631 (sein Tod wäre wohl angegeben, wenn diese Nachrichten
schon vom Nachfolger wären). Das Jahr 1656 aber ist, wenn die
Zahl anders richtig, ein späterer Zusatz. Aus dem Allen geht her-
vor, dass eine genaue Beschreibung der Handschrift, des Ortes
wo sie gefunden, selbst der Gelegenheit bei der sie gefunden und
kritische Noten unumgängliche Pflichten eines Herausgebers unge-
druckter Handschriften seien, dass der Titel weder ganz genau,
noch die Angabe von 64 Jahren, die die Chronik umfasse (cf. Vor-
rede p. 1) richtig sei, da sie zu klein ist, wenn man 1656 hinzu-
zählt und zu gross, wenn man sie weglässt.
Die Chronik selbst ist, wenn sie echt und ohne Inter-
polationen ist, nicht ohne Interesse; sie spiegelt damalige An-
schauungen und Lebensverhältnisse nicht übel wieder. Ausser
einer grossen Menge Witterungsnachrichlen sind die Notizen über
484 Allgemein* LiieraiurbendUe.
die Gründung der Universität Sirassborg im Jahre 1091 (p .27)
wo das Decret eines „ersamen Rats" mitgetheilt wird and über
den Münzfuss vom Jahr 1623 (p. 40) nicht ohne Wichtigkeit Aach
die Nachrichten über den 30jährigen Krieg sind lesenswertb; als
etwas sehr drolliges muss man das erwähnen, was in Lahr lo
dessen Amtsbesirk Meissebheim liegt passirt ist und zwar auf der
Rathsstube; es ist nSmlicb „unversehens dem zu verbieten, einea
Burgemeister B. Heinrich Biieren ein Mause die Kleider hiuauff bis
in den Bart geloffen, daz er sie kaum darauss bringen undt in die
Stob hinauswerfen können." Auch unseren Consuln mösste das
Ereigniss die Worte zurufen: Videant Gonsules ne barba dein*
menti capiat.
Selig Gassei.
Abbandlungen und Programme.
A. Hansen, Dr. (Oberlehrer der historischen Wissenschaften):
Wer veranlasste die Berufung der Vandaien nach Africa? Eine
historische Untersuchung gegen Procop. Vandal I. 3. Dorpat, ge-
druckt in der Universitätsbuchdruokerei bei J. C Sobunmaops
Witlwe. 1849. 13 S. 4.
Julius Friedlander, Dr. Der Fund von Obrzycko, Silbermün-
zen aus dem zehnten christlichen Jahrhundert. Mit drei Kupfer«
tafeln. Berlin, 1844. Verlag von Trautwein u. Comp. 30 S. &
(Die Tür Deutschland interessanten Münzen sind: Kajeer Otto I.
und Erzbischof Bruno, Köln; Kaiser Otto 1. und Bischof Adal*
bero, Metz; König Heinrieb I, Verdun; Bisehof Ulrich der Heilige,
Augsburg; Kaiser Otto II. und Bischof Erkambold, Strasburg;
Herzog Eberhard von Baiern, Regensburg; Herzog Berthold von
Baiern, Regensburg; König Konrad von Burguud, Basel; König
Lothar von Frankreich, Rheims; König Bdgar von England,
Winchester; Berengar II. und Adalbert, Könige von Italien, Pavia;
Papst Johann XIII. und Kaiser Otto I., Rom. — Dazu kommen
Byzantinische Münzen, Persische der Sasaniden und bpebbeds
von Taberistan, Hindostanische und Muhammedaniscbe).
Eduard Reimann: de Rieben vita et scriptis. 1845. Olsnae, typis
Adolphi Ludwig. 48 S. 8. (eine in Breslau verteidigte Promotions-
schrift).
Deutschland and Gustav Adolf.
Eine Kritik der neusten Auffassungsweisen des
dreissigjährigen Krieges.
3. Kaiser and Reich vor dem Kriege.
Wir haben gesehen, im Grunde wiederholen sich in der
neuen Auffassung des dreissigjährigen Krieges nur die Beschul-
digungen, welche seit der Reformation von der katholischen
Seite und den Eiferern für die Einheit des Reichs erhoben
worden sind. Vornehmlich die protestantischen Stände sind
das auflösende Princip im Reiche gewesen, sie haben eigen-
mächtig nach Losreissung vom Mittelpunkte getrachtet, die
fremden Machthaber hereingerufen, und somit die schmach-
vollste Zersplitterung der Nationalität, und die Durchbrechung
der politischen Einheit herbeigeführt. Bei dieser Betrachtungs-
weise stellt man sich ohne Weiteres auf die Seite des Kaisers,
den man im modernen Sinne als den ausschliesslichen Ver-
treter des Staates, als den höchsten Ausdruck des souveränen
Willens auffasst, dem die ständischen Körperschaften nicht
beigeordnet, sondern untergeordnet sind, der die auseinander-
gehenden Richtungen in sich und seinem Willen wieder zur
Einheit bringt. Aber der Kaiser kann keineswegs für das
gelten, was wir heutiges Tages einen constitutionellen Herr-
scher nennen. Eher möchten noch die früheren Perioden,
wo freilich die Verfassung noch gar «nicht so systematisch
ausgebildet war, eine Analogie darbieten. Im spätem Mittel-
alter stand der Kaiser, so erhaben auch in der Idee als
Quelle alles weltlichen Rechtes, in der Wirklichkeit und
überall, wo es auf Reichshandlungen ankam, neben
den Reichsständen. Nicht jener, nicht diese allein,
Zeitschrift f. CetrbiehUir. IT. 1845. 33
486 Deutschland und Gustav Adolf.
Kaiser und Reich sind der Souverän. Darum kann nicht
blos stets davon die Rede sein, dass die Stände sich vom
Reiche, d. h. von der hergebrachten Verfassung entfernt
haben, sondern nicht minder zulässig wird auch die andere
Frage sein, ob denn die Kaiser sich immer zum Reiche ge-
halten, ob sie denn ihrerseits immer beflissen gewesen seien,
die Einheit zu wahren. Vielmehr zeigt sich hier sogleich,
dass sie in den späteren Zeiten sich allerdings in derselben
Richtung bewegen wie die Reichsstände. Deswegen fanden
sie ihre Stellung nicht über, sondern neben den Standen.
Es ist eine allbekannte Sache, dass die Politik der Kai-
ser nach dem Falle der Hohenstaufen sehr selten die des
Reichs im Allgemeinen war; ihre Hauspolitik zielte eben so
sehr wie die der Reichsfürsten auf Begründung einer Ter-
ritorial-Herrschaft, nur mit dem Unterschiede, dass sie zu
diesem Zwecke das verwandten, was ihnen etwa an Mittete
aus kaiserlicher Macht übrig geblieben war. Und so konnte
es geschehen, dass wo Kaiser und Reich in Conflikt kamen,
sehr oft auf beiden Seiten nur die auflösende Territorial-
politik kämpfte, die sich geschickt hinter den altherge-
brachten Gewändern des Kaisers und des Reichs zu ver-
bergen wusste. Sobald den Reichsständen dies zum Be-
wusstsein gekommen war, und diese Erkenntniss entwickelte
sich seit dem Falle der Hohenstaufen mit einer reissenden
Schnelligkeit, konnten die Fürsten den Kaiser nicht mehr
in jener Machtfülle eines weltlichen Statthalters -Gottes anf
Erden , in der die drei grossen Herrscherhäuser trotz alles
Kampfes gestanden hatten, über sich sehen. Immer hatte
sieh noch der ideale Anspruch durch Macht zu erhalten ge*
wusst; aber nach der Niederlage durch die Kirche, seit auch
jene Verbindung des Wahlreichs und der Erblichkeit aufge-
hört hatte, trat die Spaltung zwischen dem idealen Kaiser-
thuta und der Wirklichkeit auf das Schneidendste ein; es
war herabgedrückt auf gleichen Boden mit den Ständen, die
es aus ihrer Mitte zu besetzen hatten, und mit denen es
fortan nur rivalisiren konnte. Als endlich dieser Zustand
durth die goldene Bulle einen gesetzlichen Ausdruck bekam»
Deutschland und Gutta® Adolf. 487
als die ChurAirsten die volle Landeshoheit erhielten, und auch
die Fürsten als Stellvertreter des Kaisers in ihrem Lande
dessen Rechte in Anspruch nabinen, war die Bewegung,
welche die deutsche Geschichte im folgenden Jahrhundert
beherrscht, entschieden, die Zersplitterung des Reichs war
damit gesetzlich sanktionirt. Ehe man also in den allge-
meinen Klageruf über die Zerfallenheit Deutschlands zur Zeit
der Reformation einstimmt, sollte man doch bedenken, dass
man nur gegen die Folge, nicht gegen die Ursache Anklagen
erhebt Will man anklagen, nun wohlan, so klage man jene
Zustände an, die eine Verfassung wie die goldene Bulle nöthig
machten. Aber consequenter Weise kann man auch dabei
nicht stehen bleiben, man klage die Hierarchie an, die das
Ihre zur Zersplitterung der deutschen Kräfte redlich beige-
tragen hat; man klage jene Aristokratie an, die es sich zur
Aufgabe machte, die Kraft der Kaiser zu lähmen, so lange
diese noch in der That Macht genug bqsassen, eine nationale
Einheit zu erhalten, jene Aristokratie, welche, um die eine
krallige Monarchie zu brechen, zahllose kleine an ihre Stelle
setzte. Und sonderbarerweise, gerade die, welche über die
Zersplitterung im 16ten Jahrhundert anfr lautesten jammern,
sind die wärmsten und rücksichtslosesten Yertheidiger der
auflösenden, kirchlichen Tendenzen des Uten und 12ten Jahr-
hunderts. Aber auch bei diesen Anklagen dürfte man nicht
stehen bleiben; man müsste zuletzt die ganze deutsche Ent-
wickelung verdammen, wenn es überhaupt die Aufgabe des
Geschichtschreibers wäre, in Jeremiaden über diese oder jene
Zeit auszubrechen und nicht vielmehr jede zu nehmen, wie
sie ist, und sie aus sich zu verstehen.
Bei dieser Stellung des Kaisertbums gegen die Reichs-
stände blieben ihm, so viel ich sehe, nur zwei Wege übrig,
die Hoheit, wie sie sich bei den Nachbarvölkern zu ent-
wickeln anfing, wieder zu erlangen. Entweder man suchte
die kaiserliche Territorialmacht so auszubreiten, dass man
die ständischen Gebiete nach und nach in sie hineinzog, das
heisst, dass der Kaiser auf gesetzlichem Wege die ständi-
schen Ländereien durch {(auf, Einlösung und andere friede
33*
48H Deutschland und Gustav Adolf.
liehe Mittel an sich brachte. Freilich nur allmählich war es zu
erreichen, aber bei consequentem Fortschreiten auf diesem
.Wege konnte es wenigstens als Ziel gedacht werden, dass die
ständischen Territorien immer mehr zusammenschmelzen und
endlich die Hauslande des Kaisers ganz mit den Reichslanden zu-
sammenfallen, unmittelbar eins sein würden. Oder es musste
der Weg der Gewalt eingeschlagen werden; der Kaiser musste
einen Eroberungszug gegen das Reich unternehmen, um
es auf eine ständische Stellung wiederum hinabzudracken.
Noch könnte man an eine Vereinigung beider Theile denken»
aber würden die Ghurfürsten und Fürsten von ihren Beeil-
ten zu Gunsten des Kaiserthums nur einen Titel aufgegeben
haben? Anmuthungen dieser Art mussten entschieden zur
Gewalt fuhren; eher noch hätten die Stände aus eigner
Machtvollkommenheit sich zur Herstellung einer Einheit
verbinden können; ihnen hätte es von unten herauf-
bauend gelingen können, wenn nicht der Kaiser seinerseits
entgegengetreten wäre. Alle diese Wege sind versucht wor-
den. Der Vertreter der ersten Ansicht ist der staatskluge
Carl IV. Keiner der Kaiser ist mit mehr Vorsicht, Glück
und Erfolg an das' Werk gegangen; wären die Nachfolger
fähig gewesen, seine Gedanken aufzunehmen, hier hätte sich
ein neues Fundament bilden können. Auch das habsburgische
Haus verfolgte dieselbe Richtung, aber doch ist hier ein sehr
wesentlicher Unterschied. Carl zog nur Territorien an sieb,
die im Reiche lagen und nur zu diesem gehörten. Die Habs-
burger brachten ausserdeutsche Länder an sich, solche, die
in zweifelhaftem Verhältnisse zum Reiche standen. Auf jenen
hätte sich eine neue kaiserliche Reichsmacht gründen lassen,
diese erhoben das Haus Habsburg zur europäischen Macht
und rissen damit das Kaiserthum vollends von seinem alten
Boden los. Auch die Reichsstände haben es aufs Ernstlichste
versucht, die Einheit wieder herzustellen unter dem Vortritte
ßertholds von Mainz, dessen Andenken Ranke zu Ehren ge-
bracht hat. Aber wer war es, der diese Bemühungen lähmte
und vereitelte? Jener, in dem man den Ausdruck deutscher
Einheit feiert; der Kaiser, der gepriesene Kaiser Max war
Deutschland und Gustav Adolf. 489
hier das widerstrebende Element Wahrlich nicht die Stände
allein, auch die Kaiser waren es, die sich auf Kosten des
Reichs vom Reiche zu emancipiren suchten. Nicht die Stände
allein haben es zersplittert, und deutsche Lande an Fremde
gebracht. Durch den Vertrag von 1547, der den burgundischen
Kreis und einen Theil des westphälischen dem Reichskam-
mergerichte entzog, waren diese Gebiete schon so gut als
losgerissen; sie wurden es vollständig durch die Ucbertragung
an Philipp II. Auf Mailand hatte Karl Y. gar keine Erb-
ansprüche, nur vom B eiche besass er seine Hoheit, dennoch
vererbte er das alte deutsche Lehen auf Spanien; er that es
aus kaiserlicher Machtvollkommenheit, vom Reiche war bei
dieser Theilung keine Rede.
Wer war es endlich, der den Weg der Gewalt einschlug?
Man pflegt auch hier Karl V. zu nennen, aber es scheint mir
weniger zweifelhaft, was auch dagegen gesagt worden ist,
dass Ferdinand II. ihn gegangen sei, und dass dieser miss-
glückte Versuch, das Seine zur schliesslicben Theilung Deutsch-
lands im westphälischen Frieden beigetragen habe. Und wie
unendlich viel verwickelter waren nicht diese ohnehin kaum
entwirrbaren Verhältnisse durch das Eintreten der Refor-
mation geworden, die der Kaiser als Schirmherr der Kirche
und ihrer Einheit nicht anerkennen konnte, ohne sich von
seiner Grundlage zu trennen; und dazu noch die Gonflikte
mit den Reichsständen, welche nicht nur Glieder des Reichs,
sondern auch Glieder der Hierarchie waren. Als man end-
lich so weit gekommen war, sich neben einander zu dulden,
sprach man noch im kirchlichen Reservat die Trennung ent-
schieden aus. Man verglich sich gegenseitig, aber man ver-
hehlte sich nicht, dass man Feind sei. Den Forderungen
des Reservats lag zum Grunde, dass dieser politische Reichs-
körper wesentlich auf dem Rekenntniss der altern Lehrform
beruhe; und. dies war auch seine Grundlage. Als rein prote-
stantischer Staat konnte das heilige römische Reich in seiner
alten Weise nicht ferner existiren. Aber so lange es noch
eine Seite des ständischen Lebens gab, die den Protestanten
verschlossen bleiben sollte, konnten sich diese nicht als eben-
490 Deutschland und Gustav Adolf.
bürtige Glieder des Reichs ansehen, hatten sie nicht das Ziel
erfasst, dem alle Kämpfe gegolten, nicht vom Reiche aus-
geschlossen , sondern gerade von ihm anerkannt zu werden»
wie Ranke dies unabweislich gezeigt hat Mochten sie sich
augenblicklich mit den Gegnern vertragen, wie es möglich
war, auf diesen Punkt musstcn sie immer wieder zurückkom-
men; die Natur der Dinge brachte es mit sich, sie konnten
das Reservat in dieser Weise und die Auslegungen, die man
ihm gab, nicht anerkennen.
Es scheint nicht unpassend, hier noch eine Bemerkung
einzuschalten. Schon ein Mal, vier Jahrhunderte früher, war
eine ähnliche Stellung kirchlicher und politischer Verhältnisse
im Reiche eingetreten, aber freilich unter ganz andern Be-
dingungen. Im Kampfe um die Investitur gab es einen
Augenblick, wo beide Theile ihre Kräfte wieder ins Gleich-
gewicht gesetzt, hatten, wo sie auf "den Gedanken kamen,
die kirchliche und die politische Seite des Reichs ganz ron
einander zu trennen, wo Papst Paschalis II. die geistlichen
Fürsten aufforderte, Alles herauszugeben, was sie vom Reiche
besässen, und sich ganz auf ihre geistliche Würde zu be-
schränken. Wäre dies damals möglich gewesen, es würde
allem weitern Hader ein Ziel gesetzt haben, das Reid
wäre nur auf die Macht weltlicher Fürsten begründet wor-
den, und vielleicht hätte die Einheit erreicht werden mögen,
wenn jene Zugänge zur hierarchisch-ständischen Gewalt ver-
schlossen wurden. Aber Niemand widersetzte sich diesem
Vorschlage entschiedner als die Bischöfe und Aebte; es dünkte
ihnen sehr wohl möglich, mit der hierarchischen Würde die
reichsständische zu verbinden, obwohl der Papst selbst anderer
Meinung zu sein schien.
Jetzt in Folge der Reformation geschah es, dass ein
Theil der Reichsstände eine Trennung der Reichsstand-
schaft und der hierarchischen Würde forderte, Kaiser und
Papst waren es, die jetzt im gemeinsamen Interesse da*
gegen ankämpften. Natürlich damals, als Kaiserthum und
Papstthum sich gegenüberstehend eine solche Lösung zu be-
günstigen schienen, musste es misslingen, weil beide auf
Deutschland und Gustav Adolf. 491
demselben Boden erwachsen sich trotz aller Feindseligkeit
nicht von einander losmachen konnten. Ein neues Princip
brach in der Reformation durch, sogleich mussten beide
ihres gemeinschaftlichen Ursprungs eingedenk, sich nun aufs
Engste gegen den gemeinsamen Feind zusammenschlössen,
der die ideale Würde beider angriff. Was sie im I2ten Jahr-
hundert gewünscht hatten, mussten sie in der Form des 16ten
nothwendig bekämpfen. Es musste noch ein Mal zum. Kriege
kommen, wenn jede Partei einseitig auf ihrem Princip be-
stand» und wie wäre es anders möglich gewesen? Dazu kam
der mächtige Aufschwung des Katholicismus in den letzten
Jahren des 16ten Jahrhunderts, der mit neuen Kräften sei-
nen Anspruch auf die äusserliche Darstellung der christlichen
Kirche geltend machte. Ihm gegenüber der Protestantismus,
schon seinen Principien nach nicht so festgeschlossen, selbst
in eifersüchtige und feindselige Parteiungen getheilt, im Be*>
griffe seinen ursprünglichen Gedanken unter theologischem
und confessiouellem Partei- und Formwesen zu vergessen,
und daher matt und kraftlos. Schon begann sich auf allen
Seiten das unheilvolle Netz um Deutschland, die Wiege der
»Reformation, zusammenzuziehen.
Doch werfen wir noch einen Blick auf die kirchlich-
politische Lage des übrigen Europa. Die letzten zwanzig Jahre
waren für den neu andringenden Katholicismus von unge*~
meinem Erfolge gewesen; auf Punkten, die längst verloren
schienen, fasste er wieder Fuss. Mit der Eroberung von
Antwerpen, mit der Unterwerfung von Brabant und Flandern
hatte sich der Katholicismus, den Spanien in seiner streng-
sten, ungemildertsten Form vertrat, im Herzen Europa's wie-
der festgesetzt. Es war eine neue Metropole damit gewon-
nen, und die erste Macht Europa's hatte sich wieder als ihr
Schirmvogt zwischen das ketzerische Deutschland, England,
Miederland und das zweifelhafte Frankreich in die Mitte ge-
stellt. Die unmittelbare Verbindung, die hier die Bekenner
der neuen Lehre gehabt hatten, war abgeschnitten; als ein
gewaltiger Damm erhob sich Spanien zwischen ihnen. Fast
gleichzeitig begann Herzog Wilhelm V. in Baiern die Her-
492 Deutschland und Gustav Adolf.
Stellung des strengen Katholieismus; Erzherzog Karl in
Steiermark folgte; schon früher war Johann von Schweden
zur alten Kirche zurückgekehrt, und in dem eben be-
zeichneten Zeitpunkte gelingt es seinem streng katholischen
Sohne Siegmund die Krone Polens zu erwerben. Dieser
bifdete hier ein bedeutendes Mittelglied nach beiden Seiten
hin; nach Norden wie nach Süden hielt er die Hand offen.
Noch bei den letzten Königswahlen hatte man es gesehen,
wie katholische und protestantische, schwedische und russi-
sche, wie deutsche und französische Einflüsse sich gekreuzt
hatten. Unbedenklich war Polens Stellung von der höchsten
Wichtigkeit im europäischen Staatensysteme. Nun vereinte
gar Siegmund die Kronen Polens und Schwedens, den
Katholieismus war der Weg hierher nur sicherer gemacht
Gleichzeitig trat Heinrich IV. zur alten Lehre zurück, and
in den ersten Jahren des 17ten Jahrhunderts griff der Ka-
tholieismus durch den falschen Demetrius sogar nach Auss-
tand hinüber. Schlag auf Schlag, in einem Zeiträume von
ungefähr dreissig Jahren waren diese Ereignisse auf einander
gefolgt, eine Umgestaltung Europa's war eingetreten, wie sie
zur Zeit des Augsburger Friedens kaum geahnt werden
konnte. Von allen Seiten drängte es auf die deutschen
Protestanten ein; es bereitete Sich Alles zu einem Schlage
auf den Mittelpunkt vor. Die katholischen Mächte mussten
das Bestreben haben, auf dem feindlichen Boden einander
zu treffen. Die Schlinge war gelegt, es fragte sich nur, ob
sich eine feste Hand finden werde, die bereit sei, sie zu-
sammenzuziehen. Diesen Versuch machte Ferdinand IL, wi
die Kurzsichtigkeit und eitle Politik eines protestantischen
Fürsten musste ihm Veranlassung dazu geben.
4. Das Kaiserthum wahrend des Krieges. Seine Erhebung und Politik.
Allerdings war der Kaiser durch die unbefugte Ein-
mischung Friedrichs von der Pfalz in den böhmischen Auf*
stand in seinen Rechten als Landesherr empfindlich gekränkt
Er war der Beleidigte, und wie wusste er, nachdem der
erste Sturm abgeschlagen war, diese Stellung zu benutzen.
J
Deutschland und Gustav Adolf. 493
Ohne irgend eine Einmischung von Seiten des Reichs war
zehn Jahre früher eine ähnliche Revolution in Böhmen vor
sich gegangen. Kaiser Rudolph war abgesetzt worden, Mat-
thias an seine Stelle getreten; es galt für eine Landes-Revo-
lution, die das Reich nichts angehe. Anders sah man jetzt
die Sache an, der böhmische Handel wurde in das Reich
hineingezogen. Gewiss hatte Friedrich V. als Landfrieden-
brecher den rächenden Arm gegen sich aufgerufen, und als
Reichsstand befand er sich in Empörung. Mindestens war
die Unterscheidung, die man zu seinen Gunsten machte, in
der Wirklichkeit schwer oder vielmehr gar nicht festzuhalten,
nicht gegen den Kaiser, nur gegen ihn, als abgesetzten König
von Böhmen, habe er die Hand erhoben. Aber darin be-
stand gerade die eigenthümliche Stellung des spätem Kaiser-
tums, dass wer die Hausmacht verletzte, dieses bis in seine
Grundlage gefährdete. Hätte sich Friedrich nur an den *
idealen Rechten des Kaisers vergriffen, wie Jobann Friedrich
sich gegen Karl V. setzte, eine Ausgleichung wäre leichter
gewesen als jetzt; den Angriff auf die Hausmacht konnte der
Kaiser nicht verzeihen. Dass dieser keinen Anstand nahm,
den Pfalzgrafen mit Reichsmitteln weiter zu verfolgen, kann
ihm also kaum zum Vorwurfe gereichen; aber wenn er sie
nur nach den Gesetzen des Reichs angewendet lyitte. Als
er bei dem Müblhauser Fürstentage auf Bestätigung der Acht
gegen Friedrich antrug, wollten die katholischgesinnten,
ihm befreundeten Fürsten sich ohne das Gutachten aller
Ghurfursten auf nichts einlassen, dennoch erfolgte die
Aechtung. Der Präsident des Reichshofrathes selbst trug
Bedenken, dennoch erfolgte sie in den Formen, als sei sie
gesetzliche Reichsacht. Und wie verfolgte der Kaiser seinen
Gegner? Er that" gerade das, was den Protestanten mit der
grössten Bitterkeit vorgeworfen wird; fremde Truppen zog
er auf den Boden des Reichs. Die Spanier verfuhren mit
der Oberpfalz wie es später Schweden und Franzosen nur
immer gethan. Ein Kosakenheer wurde von Polen in das
Land herbeigezogen und für die Herstellung des Katholicis-
mus durchstreiften diese Horden sengend und brennend Mähren
494 Deutschland und Gustav Adolf.
und Schlesien. Das that der Kaiser, obwohl ihm die Wahl-
kapitulation seit Karl V. zur Pflicht machte, kein fremdes
Kriegsvolk ins Reich iu fuhren. Das war bereits im Herbste
des Jahres 1620 geschehen, vor der Schlacht bei Prag. Den-
noch konnte der Kaiser an den niedersächsischen Kreis und
den König von Dänemark schreiben, er erinnere sicji nicht,
fremdes Volk zu seinen kaiserlichen Zwecken verwendet zu
haben, und auf die Gegner schelten, die Fremde herbeige-
rufen hätten. ") Zwar hatte auch Karl V. über Johann Fried-
rich das Todesurtheit aus kaiserlicher Machtvollkommenheit
gesprochen, doch auf einem Reichstage wurde seine Chur-
würde auf die jüngere Linie übertragen, man suchte die
Rechte der Nachkommen bis auf einen gewissen Grad iu
wahren. Hier wurde ein Churfürst geächtet, seine Chur ging
auf eine andere Linie über, nicht auf einem Reichstage,
unter dem entschiedendsten Widerspruche zweier Churfiir-
sten. An die Rechte der Kinder und Agnaten des Geächte-
ten dachte Niemand. Ohne Zuziehung des Reichs, aus eigner
Machtvollkommenheit hatte der Kaiser ein ganzes eburfärst-
liches Haus aus der Reihe der Reichsstände gelöscht
Konnte man der Gegenpartei zumuthen, in dieser ein-
seitigen Handhabung den Ausdruck des höchsten Gesetzes
unmittellyr zu verehren, durch das der Kaiser selbst sich
doch gar nicht gebunden erachtete? Und die ungesetzliche
Belastung der Reichskreise mit ligistischen Truppen! Führte
denn das Reich den Krieg gegen Friedrich und seine An-
hänger? War dasselbe um seine Meinung und Rath befragt
worden? Gezwungner Weise, um Aergerem zu entgehen,
schickten sich die Kreise in das Ansinnen, das man ihnen
stellte. Gewiss ist es richtig, Mansfeld, Christian von Braun-
schweig u. s. w. haben wesentlich zur Ausbildung jenes rohen
Söldner- und Soldaten Wesens beigetragen, in welches sich
zuletzt zum furchtbaren Jammer Deutschlands der ganze Krieg
auflöste; auch thut man ihnen sicher Unrecht, wenn man ihr
Interesse für den Protestantismus hoch anschlägt; allerdings
•) Mailath. IU. 100.
Deutschland und Gustat» Adolf. 495
waren sie Abenteurer, wie jeder Krieg sie gebiert, aber man
sollte doch bedenken, dass schon damals über die Zucht*
losigkeit der Tilly'schen Schaaren eben so sehr geklagt wurde.*)
Nicht minder auffallend erscheint es, wenn der niedersächsi-
sche Kreis, dessen Neutralität der Kaiser anerkannt hatte,
entschieden feindselig behandelt wurde, auch nachdem Chri-
stian seines Amtes als Kreisoberster entlassen und in Zwie-
spalt mit dem Kreise aus dessen Gebiete gewichen war.
Oder war es in der Ordnung, wenn Tilly,, ohne in offener
Fehde zu stehen, auf Waffengewalt gestützt, ohne Weiteres
die Stifter undCapitel für denKatholicismus zu restauriren be-
gann, nachdem man sechszig Jahre hindurch diese Frage nicht
als Kriegspunkt, sondern als Rechtshandel angesehen hatte?
Und als nun die Schlacht bei Lutter a. B. das Schwert des
Richters in die Hand des Kaisers gebracht hatte, war man
da so beflissen, es nach den Gesetzen des Reichs zu hand-
haben? Behandelte man nicht vielmehr den Kreis fast als
erobertes Land, ignorirte, /dass er ein Theil des gesetzlich
constituirten Reichs war, dass man die übrigen Reichsglieder
kränke, wenn man hier die gesetzliche Linie nicht beachte?
Oder ist es etwa eine durch Staats- und Völkerrecht gebil-
ligte Ansicht, dass die Staatsgewalt gegen Verbrecher an
der öffentlichen Ordnung, gegen entwaffnete Ruhestörer nicht
das Recht, nein, die Pflicht habe, ungesetzlich zu verfahren,
weil jene sich nicht gesetzlich gehalten? Damit würde der
Staat nur bekennen, dass nicht die Sittlichkeit, sondern die
Unsittlichkeit sein Princip sei, wahrlich es hiesse den Teufel
durch Beelzebub austreiben. Da sollen, wie es in einem
Briefe des kaiserlichen Beichtvaters von 1628 heisst, **) die
niedersächsischen Stände unter allerlei Prätext gezwungen
werden, Garnisonen einzunehmen. Hildesheim soll zuerst
ein blutig Exempel geben, Sachsen solle man Alles concedi-
ren, da man es ihm hernach eben so leichtiglich wiederum
nehmen kann: der Kaiser habe geschworen, eher nicht zu
*) K. A. Müller, üeber das Söldnerwesen p. 48. 49.
**) Sölti HL 254. 262.
4% Deutschland und Gustav Adolf.
ruhen, bis das« wiederum alle ketzerischen Königreiche und
Lande zu der alten allein seligmachenden römischen Kirche,
und unter der päpstlichen Heiligkeit absoluten Gehorsam
gebracht seien; auch wolle er, wie es an einer andern Stelle
heisst, an so beschaffener, beiliger und seligmachender fie-
trüglichkeit nichts ermangeln lassen. Das ist die gepriesene
kaiserliche Politik!
Es ist überflüssig hier an das Schicksal der Herzoge
von Mecklenburg; zu erinnern; nicht minder ein altes Fürsten-
haus als das pfälzische wurden sie ohne Rechtsgang, ja ohne
hinreichende Schuld, geachtet, von Land und Leuten gejagt
aus der Reihe der Reichsfürsten ausgestossen. Was half es
dem Herzoge Friedrich Ulrich von Wolfenbüttel, dass er sich
vor der Niederlage bei Lutter von Dänemark getrennt und
unmittelbar darauf mit Tilly einen Vergleich geschlossen hatte?
Wie viel fehlte daran, und er musste das Schicksal der Meck-
lenburger theilen? Und was soll man zu den bitteren Vor-
würfen über die heillose Ländergier» die Habsucht der prote-
stantischen Fürsten sagen, von denen namentlich ßarthold's
Buch wiederhallt? Wer hatte denn im Anfange des Krieges
als die Verwilderung und Zügeilosigkeit, die zehn Jahre
später herrschte, noch nicht geahnt werden konnte, wer
hatte da (fes Beispiel gegeben, wie bequem es sich in frem-
dem Eigenthum sitzen lasse? wie angenehm es sei, sich auf
den Stühlen der Reichsfürsten breit zu machen? Die kaiser-
lichen Feldherrn haben das gethan, der Kaiser, der geprie-
sene Repräsentant der Einheit, hat das gethan, als er Meck-
lenburg an Wallenstein als Reicbslehen übergab. Die nrait
heiligen Ordnungen des Reichs, welche von katholischen und
protestantischen Schriftstellern um die Wette als Schreck-
gespenst gegen die Protestanten gebraucht worden sind, was
galten sie dem Kaiser, als sie ihm gesetzliche Schranken hät-
ten sein sollen ? Nichts ! Zu Boden hat er sie getreten 1 Nicht
etwa blos jener dämonische Wallenstein war es, der solches
zu beginnen wagte, der Tilly und Pappenheim gern zu Her-
zogen von Galenberg und Wolfenbüttel gemacht hätte! Tilly s
eigene Gedanken standen nicht viel niedriger, man lese ioch
Deutschland und Gustav Adolf. 497
was Mailath aus einem Schreiben desselben an den Kaiser mit-
theilt. *) Nicht umsonst hoffte er, dass ihm ein Stück der so
•
theuer eroberten Lande als Pfandschaft oder in anderer Weise
zu Tbeil werden möchte; die drei schönsten Aemter der Graf-
schaft Hoya wurden ihm darauf zuerkannt. Und man durch-
schaute damals bereits diese Politik vortrefflich. War es
plumpe Absichtlichkeit oder hämische Satyre, die schon 1629
in einer Flugschrift dem Kaiser öffentlich den Bath geben
konnte/*) dass er die kurfürstlichen und fürstlichen Familien
vorerst allmahlig aussaugen, hernach von der Verwaltung des
Reichs verdrängen, und an deren Statt neue und fremde Edel-
leute einsetzen möge, doch müssten deren recht viele sein?
Gleichzeitig setzte sich der Sohn des Kaisers, Leopold, auch
im niedersächsischen Kreise als Bischof von Halberstadt fest.
Ohnehin Bischof von Passau konnte er als Bischof von Stras-
burg und Abt von Murbach die Interessen des Kaiserhauses
am Öberrhein, als Deutschmeister und Abt von Hersfeld in
Franken wahren, und später wurden ihm auch noch die
Erzbisthümer Bremen und Magdeburg zugewiesen. Menzel
sieht in dieser Cumulirung von Bisthümern nur das Ver-
fahren eines constitutionellen Königs, der etwa in die Käm-
mer so viel als möglich Regierungsvertreter zu bringen sucht.
Man mag zugeben, dass der Kaiser bei der Besetzung der
Bisthümer ein ähnliches Ziel haben konnte, aber dennoch
reicht diese Parallele schwerlich hin, seine Haltung gegen
jeden Einwand sicher zu stellen. Handelte es sich nicht um
Land und Leute und Landeshoheit? bildete sich nicht eine
Macht, die für einen Zuwachs Oestreichs gelten musste?
Zwei alte reichsfürstliche Geschlechter waren ihrer Würden
entsetzt, einen Theil der Ghurpfalz hatten die Spanier inne,
Mecklenburg war dem Feldherrn des Kaisers als Lehen über-
lassen, drei grosse Bisthümer in der Hand eines kaiserlichen
Prinzen, andere kaiserliche Feldberrn im Begriffe, sich in
*) III, 14b\
• **) Sie erschien zu Mühlhausen unter Aldringers Namen, von
dem sie natürlich nicht herrühren wird. Gfrörer Gustav Adolf
p. 628 giebt aus diesem merkwürdigen Libell einen Auszug.
498 Deutschland und Gustav Adolf.
Gegenden festzusetzen, die lange Zeit dem katholischen Ein-
flüsse entfremdet gewesen waren, die Protestanten in den
östreicbisehen Erblanden fast vernichtet, Sachsen durch die
Verpfändung der Lausitz ein unthätiger Zuschauer, Branden-
burg politisch schwach und ohne allen Einfluss, die ligisti-
schen Truppen durch das ganze Reich vertheilt, Afle* war
cum letzten Schlage vorbereitet
Dieser letzte Schlag war das Restitutions-Edict von 1629.
Es wirkte wie ein Erdbeben auf die Protestanten, sagt Mai-
lath, der katholische Geschichtschreiber, *) und er hat Recht
Man wird sich also mit dem protestantischen Leo gewiss
nicht wundern dürfen, dass man von jeher ein entsetzliches
Geschrei über dies Edict erhoben hat. **) Menzel wie Uo>
wenn sie auch einräumen, der Kaiser habe materiell Unrecht
gethan, mit einer so gewaltsamen Maassregel hervorzutreten,
sind dennoch überzeugt, dass er formell durchaus im Rechte
war. Somit hätten die Protestanten keinen Anlass zur Be-
schwerde gehabt, es wurde ja nur Alles auf den Fuss jenes
Religionsfriedens gesetzt, auf den sie selbst sich unaufhörlich
beriefen. Aber so sonnenklar ist diese formelle Berechtigung
doch nicht, dass sie nicht noch manchem Bedenken unter-
läge. Als gleichberechtigte Theile hatten die beiden Coo-
fessionen den Frieden geschlossen; gegen die Anwendung
die der Kaiser jetzt dem Reservate gab, hatten die Prote-
stanten vom ersten Augenblicke Einspruch gethan, sie hatten
jenes Recht im Sinne der Katholiken nie anerkannt $iae
Verpflichtung, die man niemals eingegangen, kann man nid»
verletzen. Man mag ihr Verfahren confessionell einseift
parteisüchtig nennen, aber man wird in der Handlung*?*186
des Kaisers eben so wenig eine absolute Berechtigung fi^60
können. Mochten doch immerhin die Protestanten in ihrer
Kurzsichtigkeit die unmittelbare Entscheidung früherer Kaiser
aufgerufen haben, ohne das Reich konnte in einem stets be-
strittenen Punkte unmöglich ein Edict erlassen werden, das
den ganzen Besitzstand des Reichs umkehren musste. udu
•) HI, 169. **) III, 386.
-H
Deutschland und Gusto» Adolf. 499
sollten die Protestanten nicht das Recht haben, sich gegen
diese Auffassang jenes Paragraphen zu sträuben, da die Ka-
tholiken sich durchaus nicht durch die Deklaration gebunden
hielten, welche in demselben Frieden zum Schutze protestanti-
scher Unterthanen in katholischen Landen aufgestellt war?
Endlich galt denn nicht das ganze Besenrat nur den reichs-
unmittelbaren Stiftern? Die landsassigen Bisthümer waren ja
im Religionsfrieden den Landesberrn ausdrücklich anheim-
gegeben. Wie durfte der Kaiser dennoch Bisthümer wie
Brandenburg und Havelberg, Lebus und Schwerin, die nie
reichsständisch gewesen waren oder schon zur Zeit des Re-
ligionsfriedens, reformirt, in diesen allgemeinen Sturz mit
hineinziehen? Mailath hat aus dem kaiserlichen Staatsarchive
einige wichtige Aktenstücke mitgetheilt, deren Bekannt-
machung man ihm nicht genug danken kann. Es sind zwei
Verzeichnisse aus dem Jahre 1630; das eine „der Abteien,
Stifter und Klöster, welche in dem ober- und niedersächsi-
schen Kreise durch die Commissarien vindicirt, theils resü-
tuirt, theils noch in Administration behalten worden." *) Hier
werden mehr als 120 Abteien und Klöster aufgezählt, be-
legen im Erzstifte Bremen, in den Sprengein von Halberstadt,
Bildesheim, Minden, Verden, in den Fürstenthümern Braun-
schweig, Lüneburg und Anhalt, von denen 65 bereits ver-
schiedenen Orden zurückgestellt waren, oder zu diesem Zwecke
schon administrirt wurden; mehr als 60 andere sollten zu
gleichem Zwecke noch vindicirt werden. Es ist ein dürftiges
Namensverzeichniss ohne viel Worte, aber dennoch bemäch-
tigt sich auch des heutigen Lesers * ein Gefühl , das etwas
ahnen lässt von jenem Entsetzen, das damals die deutschen
Protestanten ergriff. Mailath hat das rechte Wort dafür ge-
funden, es war ein Erdbeben, das einen Theil Deutschlands
durchzuckte; hatten die Protestanten als Beichsglieder die
Verpflichtung, geduldig zu warten, bis ihre Kirchen einstürz-
ten und sie zerschmetterten, bis sich der Boden unter ihren
Füssen aufthat, sie zu verschlingen? Als Gommentar zu jenem
*) III, 166.
600 Deutschland und Gustav Adolf.
mag ein anderes Aktenstück dienen , das Gutachten , welches
Pater Lamonnain im Mai 1630, also etwa acht Wochen tot
der Landung Gustaf Adolfs, auf Befehl des Kaisers über die
Verwendung der eingezogenen Güter im sächsischen Kreise
abgiebt. *) Es lässt einen tiefen Blick in die katholische
Politik tbun, es wird unverhüllt ausgesprochen, was man
bereits erreicht habe und noch zu erreichen gedenke.
Auch zeigt sich deutlich genug, dass es gar nicht so sehr
um die abstracte Herstellung des alten Zustandes zu thun
war, wie man es immer wieder hervorhob; es handelte sieb
darum, einen Theil der wiedergewonnenen Klostergüter den
frühern Besitzern zu entziehen und den Jesuiten einzuräumen.
Es wird namentlich hervorgehoben, was der Kaiser „zur Aus-
rottung der Ketzerei in verschiedenen Tbeilen Deutschlands
beschlossen habe; nämlich Erneuerung der Pfarreien, Er-
richtung von Seminarien und Gymnasien für die Gesellschaft
Jesu, damit die Jugend im katholischen Glauben unterrichtet,
und die Ketzerei nicht immer fortgepflanzt werde/' Und
wenn der Verfasser mit demüthiger Drohung schreibt: „Ich
werde nicht aufhören bescheiden daran zu erinnern, so lange
zu erinnern bis Abhülfe geschafft wird, so wie ich überzeugt
bin, dass Ew. Majestät in Folge ihrer ausgezeichneten Fröm-
migkeit wirksam verlogen werde, dass es geschehe," so kann
man ermessen, welchen Eindruck diese Worte in dem Munde
des Beichtvaters machen mussten, der die Seele des devoten
Kaisers wie weiches Wachs zu kneten wusste.
Wenn diese Maassregein an Ort und Stelle durch ein
Heer unterstützt wurden, wenn der Ghurfürst von Sachsen,
der Einzige,, der noch im Stande gewesen wäre, mit Erfolg
dagegen einzuschreiten, sich durch den wenig zuverlässigen
Trost hinhalten liess, dass man auf seine Stifter das Resti-
tutionsedict nicht ausdehnen werde, so hätte' es dem Kaiser
vielleicht noch gelingen können, auf Grund dieser Macht jene
Aenderung in der Verfassung des Reichs herbeizuführen, nach
der Ghurfürsten und Fürsten auf den Standpunkt zur Zeit
•) III, 173.
s
Deutschland und Gustav Adolf. 501
Friedrichs IL zurückkehren sollten. Darf man jenes bekannte
Wort Wallensteins: „man bedürfe der Chürfursten und Für-
sten nicht mehr, man müsse ihnen das Gasthütel abziehen,"
als einen Ausdruck der kaiserlichen Absichten betrachten, so
wird man allerdings über diese keinen Augenblick zweifel-
haft sein können. Erwägt man ferner den Zeitpunkt, in dem
der Kaiser mit seinem Edicte hervortrat, den er wie Leo
sagt unklug gewählt hatte, so war auch dieser Umstand
nur geeignet, das Misstrauen zu verstärken, dass sich noch
Anderes dahinter verberge. War die Frage eine rein juri-
stische, wofür sie doch gelten sollte, handelte es sich nur
um die einfache Wiederherstellung des Zustandes zur Zeit
des Religionsfriedens, warum erschien es in einem Augen-
blicke, wo der Kaiser die Mehrzahl der deutschen Prote-
stanten als Feinde ansah, wo ihre Kraft gebrochen, und an
einen nachhaltigen Widerspruch nicht zu denken war? Und
wie wollte der Kaiser jene Machtbefugniss der Friedriche
und Heinriche anders erlangen, als durch eine Reibe von
eingreifenden Maassregeln, die in der Ausführung ent-
schiednen Gewaltthaten sehr ähnlich gesehen haben würden?
Menzel findet dies freilich nicht nöthig, er meint, es hätte
deren nicht bedurft, aber die Wege, die man ohne das hätte
einschlagen sollen, giebt er doch auch nicht an.
Auch die katholischen Stände fingen an bei den Schrit-
ten des Kaisers unruhig zu werden. Die Art wie der Ghur-
fürst von Baiern für die Herzoge von Mecklenburg und na-
mentlich den von Wolfenbüttel auftrat, zeigte deutlich, dass
er das reichsständische Element, auf dem seine eigene Stel-
lung ruhte, in jenen angegriffen fühlte. Damit war freilich
jener Schlag, der durch das Restitutionsedict gegen die Prote-
stanten geführt wurde, noch nicht abgewendet, denn die
einstweilige Vertagung einer definitiven Beschlussnahme auf
einen abermaligen Füfstentag kann wahrlich nicht als die be-
ruhigende Maassregel für die Protestanten gelten, zu der man
sie machen will. Die Restitution lag zu sehr im Interesse
der Katholiken; es kam nur auf eine Vereinigung zwischen
Zeitschrift f. Geschieht»«'. IT. 1845. 34
50? Deutschland und Gustav Adolf.
den Ständen und dem Kaiser an, wie weit jeder unmittelbar
daran Theil nehmen sollte.
5. HuttT AMfr Buchreltem.
Um endlich die Einmischung Gustav Adolfs erklärlich zu
finden, müssen wir noch ein Hai auf jene allgemeine Re-
stauration des Katholicismus zurückkommen. Auch im Osten
und Norden waren sich die beiden kirchlichen Principe politisch
entgegengetreten; der Krieg zwischen Polen und Schweden
musste wieder beginnen, so lange Siegmund seine Ansprüche
auf die schwedische Krone nicht aufgeben wollte. Die An-
sicht, dass man eigentlich in Deutschland wie in Polen des-
selben Kampf führe, war schon damals verbreitet; man bitte
es längst erkannt, dass hier wie dort derselbe Gegensatt,
nur durch die nationalen Verhältnisse bedingt, hervortrete.
Zur Zeit des Krieges selbst mochte diese Meinung noch
durch die Verhältnisse der Fürstenhäuser an Kraft gewinnen,
denn der Kaiser, Siegmund von Polen und Philipp III. waren
Schwäger. Es hatte sich dadurch eine dynastisch -katho-
lische Kette gebildet, die von Westen nach Osten, Spanien,
Italien, das südliche und östliche Deutschland, Polen
umfassend, Europa durchschnitt; es wurde möglich, iod
Madrid aus Stockholm zu bedrohen. Bereits im Jahre Ifil
wusste der chursächsische Gesandte von einem sogenannten
„christlichen Vertheidigungsbündniss" katholischer Machte und
Stände zu erzählen. *) Sogleich beim Ausbruche des Krieges
haben wir Gombinationen gesehen, die ganz auf diesem Grunde
ruhten, und nach einem Gesandtschaftsbericfate von 1622 war
sogar ein Schwärm von einigen tausend Kosaken zu Spinola's
spanischem Heere gestossen. **)
Eben darauf beruhte auch ein anderer Plan, der schon
früher nicht geradezu versucht, aber doch entworfen war,
von dem Meteeren eine Notiz giebt. War er gleich weit-
aussefaend, fast abenteuerlich, so beweist er doch, wessen
sich die protestantischen Mächte von den Katholiken bereits
*) Müller, böhm. Krieg p. 458. **) Raumers Briefe aus Paris I, 43.
Deutschland und Gustav Adolf. 503
im Anfange des 17ten Jahrhunderts zu versehen hatten. Schon
vor 1598 hatten die Spanier daran gedacht, den Hafen' Elfs-
borg zu besetzen, und von hier England anzugreifen : *) mehre
Jahrzehude hindurch habeu sie sich mit ähnlichen Entwürfen
getragen. Meteeren erzählt **) von einer jesuitischen Corre-
spondenz, die von München aus um das Jahr 1605 geführt
wurde, und ihm vorgelegen zu haben scheint. Man hatte den
Plan gemacht, Spanien solle einstweilen einen Waffenstill-
stand mit den Niederlanden schliessen, sich in die damaligen
Feindseligkeiten Danemarks und Schwedens mischen, zum
Schutz des ersten eine Flotte im Sunde erscheinen lassen
und einen Haupthafen besetzen, während Polen von Osten
her einen neuen nachdrücklichen Angriff gegen Schweden
führe. Gewiss ein meisterhafter Plan! Gelang es, diesen
Schlag gegen das Gentrum der ganzen protestantischen Welt
zu führen, mit sichrer Hand zu führen, es ist keine Frage,
das ganze Gebäude musste aus den Fugen weichen, unheil-
bare Risse und Spalten mussten von jenem Punkte nach allen
Seiten hin ausgehen. Die Protestanten waren politisch über-
flügelt, die Niederlande, Norddeutschland, Schweden waren
überall von katholischen Mächten in die Mitte genommen,
die sich bald auf feindlichem Boden die Hand reichen konn-
ten. Schweden kannte die Möglichkeit einer solchen Com-
bination sehr wohl und war sich auch der Gefahr bewusst,
wie Carl's IX. und Gustav Adolfs eigene Aeusserungen hin-
reichend beweisen. In einer eigenhändigen Notiz bei Geijer
' sagt jener: der König von Spanien habe gemeint Helsingör
zu erhalten, wenn Siegmund von Polen nach Schweden ge-
kommen wäre; und dieser schreibt im Juni 1625, als sich das
Gerücht von der Ankunft einer spanischen Flotte im Sunde
erneuert hatte: „Wir können nichts Anderes vermuthen als
dass es auf den Ocresund abgesehen sei." ***) Und das war
keine leere Furcht, denn noch im April desselben Jahres
hatte der kaiserliche Beichtvater geschrieben, Ferdinand II. habe
•) Ranke, Päpste II, 395. *•) ed. Hag. 1634 f. 665 vers.
***) Gerjer HI, 101. 131.
34*
504 Deutschland und Guttao Adolf.
geschworen , sich des Sundes zu bemächtigen. *) Schon in
den letzten Tagen Cari's IX. wurden auf Betrieb Polens alle
schwedische Schiffe in spanischen Häfen als Kriegsbeute fort-
genommen, und man dachte ernstlich an die Ausrüstung einer
spanischen Flotte in Dänkirchen.
Um so höber konnte Gustav Adolfs Besorgniss steigen,
als der Kaiser in dem Kriege Polens und Schwedens offen
Partei gegen ihn ergriff. In der Regel sieht man in der Ai-
sendung des kaiserlichen Hülfsheeres unter Arnim im Jahre
1629 nur eine Vergeltung für Schwedens unbefugtes Ein-
greifen in die deutschen Verhältnisse bei der Belagerung tob
Stralsund. Aber gerade umgekehrt stellt es sich, wennsfl
beachtet, dass schon im Jahre 16*27 ein kaiserliches Beer
unter dem Herzoge Adolf von Holstein in Polen erschienen
war und hinreichend die Gesinnungen Ferdinands IL an den
Tag gelegt hatte. ") Also der Kaiser war es, nicht Gusto?
Adolf, der auf dieser Seite zuerst das Schwert zog; *ber
freilich meistentheils liebt man es, diesen ersten Angriff m'*
Stillschweigen zu übergehen. Gleichzeitig finden steh noch
Spuren anderer Pläne, die Gustav Adolfs Stellung den katho-
lischen Mächten gegenüber doppelt gefährlich erscheinen
lassen. Man kann von den hingeworfhen Aeusserungen Wr
lenstein's über einen grossen Plan, der gegen Gustav Am
im Werke sei, wie von den Anweisungen, die schwediaw
Flotte zu verbrennen, absehen, beachtenswerth auf jedes Fall
bleibt der Briefwechsel, den er 1627 über die Absetzung des
Königs von Dänemark und dessen Herbeiziebung zum Beicbe
führt, die er seiner Versicherung nach mit dem Kaiser münd-
lich besprochen hatte.***)
Diese Idee möchte abenteuerlich erscheinen, wenn wir
nicht durch ein Aktenstück erfuhren,!) dass solche Ansicfi~
ten keineswegs vereinzelt dastanden; im Norden selbst reg-
ten sich Erinnerungen an die alte Machtvollkommenheit des
Kaisers. Im März 1629 erschien eine feierliche Gesandtschaft
!
*) Solu III, 263. **) Geijer III, 127. 132. **•) Wallenstein's
Briefe, von Förster. I, 162. 168. f) Maitalh III, 136. ]
Deutschland und Gustav Adolf. 605
des Herzogs Adolf von Holstein in Wien, um für ihren Herrn
die kaiserliche Belehnung mit dem dänischen Antheil jenes
Herzogthumes und mit dem Königreiche Norwegen zu fordern.
Die Denkschrift, die man einreichte, hatte eine sehr historische
Haltung; die Erinnerungen an die alten Kaiser wurden her-
aufgeholt, wie schon früher ihre Einwirkungen als Oberlehns-
herrn der christlichen Welt bis in den hohen Norden hinauf-
gedrungen seien; bis zu Otto 1. ging man zurück. Es wurde
daran erinnert, wie schon er Bisassen in Norwegen ernannt
habe; wie Lothar dem Erzbischof van Hamburg die kirch-
liche Jurisdiction über Dänemarks Norwegen und Grönland
übertragen, Kaiser Friedrich I. auf einem allgemeinen Reichs-
tage König Waldemar von Dänemark feierlich mit Norwegen
belehnt habe; noch Kaiser Carl IV. habe Waldemar ernstlich
daran erinnert, er müsse Dänemark und Norwegen als Lehen
vom Reiche nehmen. Diese Ideen erwachten in eben dem-
selben Augenblicke mit doppelter Stärke, als Ferdinand II. in
Deutschland eine Stellung einnahm, wie sie keiner seiner
Vorgänger, auch Carl V. nicht, eingenommen hatte; er war
in der That für einen Augenblick auf den Standpunkt eines
älteren Kaisers zurückgekehrt. Bei Ranke lesen wir, welche
Ansprüche er gleichzeitig in Italien erhob; die alten kaiser-
lichen Lehensrechte sollten hier geltend gemacht werden, in
Bologna sollte der Papst feierlich die Kaiserkrönung voll-
ziehen. Auch Preussen dachte man wieder zum Reiche zu
bringen, nach Rusdorf sprachen es die kaiserlichen Räthe
unumwunden aus, man werde behalten, was dort erobert
werde.*) Die Frage war nur, ob sich die übrigen Mächte
Europa* s diesem Ansprüche bequemen würden, noch ein Mal
in jene Corporation christlicher Staaten unter dem Kaiser
als ihrem Oberhaupte zurückzukehren.
Bedachte Gustav Adolf seine Verhältnisse zu Polen, die
Hülfsleistungen Ferdinande II. gegen ihn, die Demonstrationen
Spaniens und das Schicksal Dänemarks, wusste er, in seiner
nächsten Nachbarschaft könne sich eine Macht festsetzen, die
') Ranke, Päpste II, 548.
506 Deutschland und Gustav Adolf.
auf dem Grande kaiserlichen Rechtes ruhte, so war er, wenn
es dazu kam, politisch überflügelt Schwedens Loos war ent-
schieden, ohne Krieg oder Niederlage war es besiegt Hierin
lag die Notwendigkeit, die Gustav Adolf zum Kampfe trieb.
Es bedurfte nicht der Vertreibung eines nah verwandten
Fürstenhauses, nicht der Wegweisung der schwedischen Ge-
sandten vom Lübecker Congresse, die von den Schweden
selbst absichtlich herbeigeführt sein mag, oder nicht 'Es
bedurfte dieser Umstände nicht, die der wirklichen Sach-
lage gegenüber nur den Charakter der Zufälligkeit tragen; es
musste dennoch zum Kriege kommen. In vielen Fällen ist
der Angriff nichts als eine Vertheidigungsmassregel; Gubr
Adolf befand sich in dieser Lage. Politisch ist er durchaus
gerechtfertigt und confessionell nicht minder. Leo bemerkt,
die Betrachtung dieses Kampfes gebe ein ganz anderes Resultat,
je nachdem man ihn vom schwedischen oder deutschen Stand-
punkte aus ansehe. *) Wie richtig diese Bemerkung sei, wird
eben durch die neue Auflassung des dreissigjährigeo Kriegs
schlagend bewiesen. Wohl ist es bekannt, wie der einzelne
Mensch hat auch jedes Volk seine eigentümliche Be-
trachtungsweise, zunächst seiner Nationalgeschichte, und diese
wird sich wieder in der Weltgeschichte geltend mache»-
Das ist die natürliche Seite der Dinge; es kann nicht anders
sein, sie muss hervortreten, nur kommt es darauf an, welche
Stellung sie zum allgemeinen Gedanken in der Weltgeschichte
einzunehmen hat Jenen nationalen Unterschied der An-
sicht festhalten, ihn zu einem absoluten erheben, das heisst
die Weltgeschichte zerreissen und ihren allgemeinen Gehalt
verkennen. Schliessen diese natürlichen Betrachtungsweisen
wirklich einander aus, so giebt es eine schwedische, eine
deutsche, eine französche Auffassung der Geschichte über-
haupt, sie haben denselben Stoff aber ganz verschiedene
Gesichtspunkte. Eine Verständigung ist nicht mehr möglich,
es endet mit einem totalen Atomismus. Die Menschheit
als solche kann über ihre Geschichte nicht zürn Bewusstseio
#) III, 393.
Deutschland und Gustav Adolf. 507
kommen, man denkt nicht nach allgemeinen, nein, nur nach
schwedischen, deutschen, französischen Gesetzen. Da ist dies
der nationale Gesichtspunkt in seiner vollen Gonsequenz.
Kennt die schwedische Geschichte einen andern Gustav Adolf,
einen andern die deutsche, so ist es die Aufgabe der Welt-
geschichte, diesen Widerspruch zu heben.
Gustav Adolf war in jenem Augenblicke der einzige Ver-
treter des protestantischen Princips und der darauf ruhenden
Staaten, ynd dass seine besondere Entwicklung hier mit der
allgemein geschichtlichen einen Augenblick zusammenfiel,
dass er dies ahnte, darin eben liegt seine Grösse, seine welt-
historische Bedeutung, die für Schweden keine andere als für
Deutschland sein kann. Also bat Schweden vollkommen
Recht, das Andenken seines Königs zu feiern, eine Feier, die
wir auch aas dem heutigen Gesichtspunkte weder für trivial
noch für bornirt schwedisch halten können, und vom natio-
nalen Standpunkte wird man dies am wenigsten bestreiten
dürfen. Aber dies Recht Schwedens beruht zunächst nicht
darauf, dass Gustav Adolfs Persönlichkeit ihm angehörte,
vielmehr darauf, dass sich durch ihn die nationale Kraft
entwickelte und zu einer welthistorischen Höhe , erhob
Denn die wahrhaft nationalen Momente in der Geschichte
eines Volks sind immer auch die welthistorischen. Die
Augenblicke, wo es seine innere Energie bis zur höchsten
Kraftäusserung entwickelt, wo das Leben in den vollsten
Schlägen pulsirt, wo das Volksgefühl durch die Erschei-
nung befriedigt wird und dessen sich bewusst ist, das
sind auch die nationalen Momente. Es sind diejenigen,
in denen ein Volk sich unmittelbar in der Weltgeschichte
betheiligt, es ist der Punkt, wo Weltgeschichte und Volks-
geschichte zusammenfallen. Die welthistorischen Momente,
welche die vollste Kraftentwicklung verlangen, werden
darum auch immer die wahrhaft nationalen sein. Deutsch-
lands Reformation, Englands und Frankreichs Revolutionen
sind von welthistorischer Bedeutung, darum sind sie national
im prägnanten Sinne des Worts. Aber andererseits kann eine
Begebenheit, eine Person sehr national sein im gewöhnlichen *
608 Deutschland und Gustac Adolf.
Sinne , darum ist sie noch lange nicht welthistorisch, viel-
mehr das nur nationale ist nicht welthistorisch und darum
in letzter Instanz betrachtet auch wiederum nicht national.
Aber die allgemeine Wichtigkeit jenes Moments, in dem
Gustav Adolf landete, ruht nicht weniger in der confessio-
nellen als in der politischen Bedeutung, und das ist es, was
man mit Heftigkeit heute bestreitet, was man so gern für
eine der gutmüthigen Faseleien ausgeben möchte, deren sich
die Deutschen selbst so viele vorzuwerfen pflegen. Wir
lassen un erörtert, ob solcher Vorwurf irgendwo an seiner
Stelle ist; dass er hier ungerecht erhoben wird, davon sind
wir aufs Innigste überzeugt Gelang es, Gustav Adolf po-
litisch zu entwaffnen, so war damit unmittelbar der Prote-
stantismus im Norden Europa's gestürzt; mit Siegmunds Re-
stauration in Schweden war auch dort der Katholicismus her-
gestellt, die Protestanten fanden auf dem ganzen europäischen
Continente keinen legalen Ausdruck mehr, keine staatliche
Existenz. Dass dies nicht so kam, ist zunächst Gustav Adolfs
Werk, das wird die Geschichte immer anzuerkennen haben,
das werden auch wir, nicht aus leerer Nachbeterei, son-
dern mit vollem Bewusstsein anzuerkennen haben, auch für
Deutschland war er der Restaurator des Protestantismus.
Er bleibt es darum nicht weniger, auch wenn das spätere
wüste Hausen der Schweden ein schweres nationales Un-
glück war.
Noch wäre eines anderen Motivs bei Gustav Adolfs Auf-
treten in Deutschland zu gedenken, auf das namentlich Bart-
hold ein sehr grosses Gewicht gelegt hat, es ist die französi-
sche Diplomatie, die den Frieden mit Polen vermittelte, um
dem Könige freie Hand zu schaffen. Gewiss ein sehr wesent-
liches Moment, das aber doch nicht einzig aus dem Gesichts-
punkte derlntrigue anzusehen ist, die etwa zuletzt noch diesen
nordischen Bären von der Kettd losgelassen hätte, um ihn
auf das blutende und zertretene Deutschland als sein Schlacht-
opfer zu hetzen. Freilich spielt die französische Diplomatie
späterhin eine nur zu bedeutende Rolle, aber ihr damaliges
Auftreten ruht doch auf einer Grundlage, die Barthold
Deutschland und Gustav Adolf. 509
selbst nicht verkennt. Nicht darum, weil Frankreich einen
Traktat mit Schweden abgeschlossen wird beider Sache eine
gemeinschaftliche; es war ein Schritt, der von beiden Seiten
im augenblicklichen politischen Interesse geschah. Es war
nur die Fortsetzung jener Kämpfe, die zur Zeit der Refor-
mation diesen Charakter angenommen hatten. Die mehr
kirchliche Opposition gegen Oestreich, welche die Protestan-
ten aufgegeben hatten, übernahm Schweden; Richelieu fuhr
im Geiste Franz I. fort, die rein politische Seite dieses
Kampfes zu vertreten.
Einen anderen Versuch hat Mailath gemacht, um die
Landung Gustav Adolfs in der That als überflüssig dar-
zustellen. Er glaubt zu erkennen, dass der Kaiser in Folge
des Regensburger Reichstages durch Verabschiedung Wallen-
steins und seines gefiirchteten Heeres freiwillig von seiner
Siegerhöhe herabgestiegen sei. Aus ursprünglicher Gross-
muth habe er Verzicht geleistet auf alle Erfolge der letzten
Jahre, damit sei allen Anforderungen der Reichsstände genug
geschehen, jeder Anlass zum Kriege entfernt worden. Da
erscheint Gustav Adolf, und das Opfer, welches der Kaiser
dem Reiche gebracht hatte, ist vergeblich. Es ist schwer
auszumachen, in wie weit Ferdinands Renehmen aus reiner
Grossmuth hervorgegangen sei, ob sich überhaupt auf eine
Stellung, die eine Folge politischer Gombinationen ist, ohne
Weiteres resigniren lässt. Auf jeden Fall verfolgte auch
der Kaiser seinen speciellen Zweck, die Wahl seines Sohnes
zum römischen Könige. Am '23sten Juni 1630 wurde der
Reichstag eröffnet Allerdings landete Gustav Adolf zehn
Tage später, am 24sten Juni alten Stils, aber Wallensteins
Entlassung war damals durchaus noch nicht ausgemacht,
noch im September stand man mit ihm in Unterhandlungen. *)
Auch hätte Mailath aus Ranke's Ruch hinreichend wissen
können, dass es zuletzt die französich-baierische Politik war,
die den Kaiser gegen Wailenstein stimmte.
*) Menzel VII, 260. Am 19. September 1630 kam Wallenstein
als abgesetzter General durch Nürnberg: s. Murr's Tagebuch.
610 Deutschland und Chutac Adolf.
t. Gustav Adolfe Entwürfe und Charakter.
Wir haben den Ausgangspunkt Gustav Adolfs betrachtet,
fassen wir auch das Ziel in's Auge, das er, nicht von vorne
berein, sondern während seiner Siegeslaufbahn, von Glück
und Talent getragen, sich gestellt hatte. Man hat von jeher
die Frage, was Gustav Adolf unternommen haben würde,
wenn er bei Lützen nicht gefallen wäre, mit einer gewissen
Vorliebe behandelt; ob er ein protestantisches Kaisertum
gegründet, ob er in die Erbstaaten Oestreichs vorgedrungen
sein würde u. s. w. Nach Neigung und Parteinahme sind
von jener Zeit bis auf unsere Tage diese Fragen verschieden
beantwortet worden. Die Vorsehung hat ihn gütig vor einer
schmählichen Enthüllung seiner Plane bewahrt, sagt Bart-
hold. Vom rein historischen Standpunkte aus betrachtet, bat
die Frage an sich keine höhere Bedeutung als jene andere
dieser Art, wie sie Livius aufwarf, was geschehen sein
würde, wenn Alexander der Grosse nach Italien gtg*°8e0
und mit den Römern zusammengetroffen wäre. Es m*g aD-
ziehend sein, sich dergleichen Möglichkeiten aufzustellen und
sie wie ein Problem zu lösen. Man kann es zugestehen» w
den ruhigen Zuschauer, vor dessen Auge sich die kämpfe0"
den Kräfte entwickeln, mag es einen -eigenen Reiz haben« #
ihre Aeusserungen auf den höchsten Punkt gesteigert fl
denken und von da aus weitere Combi naüonen zu machen
Eben auf diesem äussersten .Punkte musste sich die inner*
Energie, das Wesen am consequentesten offenbaren» wie man
sich auch Napoleon mit seiner grossen Armee am Indus und
Ganges im Kampfe gegen England gedacht bat Dergleichen
mag sonst nicht uninteressant sein, nur für historisch jnus* e*
sich nicht ausgeben wollen, unmöglich kann ein Abstrahlen
vom wirklich Geschehenen, ein Hinaustreten von dem ft"'00
Boden in die Welt willkürlicher Phantasieen dafür gelten.
Doch am meisten wird man sich dagegen verwahren müssen*
wenn dergleichen Möglichkeiten gebraucht werden sollen»
um darauf Anklagen und Verdächtigungen der Person z
gründen« Freilich steht hier der Fall anders, wir w,6Sen
Deutschland und Gustat Adolf. 511
es aus positiven Zeugnissen, Gustav Adolf hatte allerdings
weitere Pläne. Dies könnte somit bei einer Würdigung
seines Charakters in Betracht kommen, doch was erfolgt sein
würde, wenn er am Leben geblieben wäre, scheint darum
vom welthistorischen, selbst schon vom nationalen Gesichts-
punkte aus nicht weniger gleichgültig.
Dass Gustav Adolf mit weit aussehenden Eroberungs-
plänen nach Deutschland gekommen sei, steht weder aus
historischen Zeugnissen fest, noch scheint es nach, der ganzen
Lage der Verhältnisse glaublich. Aber allerdings haben die
Siege, die er davon trug, allmählich weiter greifende Ent-
würfe in ihm hervorgerufen; nach seinen eigenen mündlichen
wie schriftlichen Aeusserungen kann man nicht daran zwei-
feln. Doüh ist darauf zu achten, dass es ein deutscher Fürst
war, der auf die goldene Frucht, die Gustav Adolf brechen
könne, wenn er wolle, zu einer Zeit hinwies, wo es sehr
fraglich war, ob sich der König überhaupt auf deutschem
Boden werde behaupten können. Der von vielen wegen
seiner Deutschheit hochgepriesene C hurfürst Johann Georg
yon Sachsen war es, der nach sonst bekannten Nachrichten,
die durch einen Brief des Salvius vom October 1631 *) be-
stätigt werden, „sich präsentirt als derjenige, der traulich
rathen und helfen wolle, dass Sr% Majestät die römische
Krone auf das Haupt gesetzt werde." Später traten der-
gleichen Pläne freilich offener auch von schwedischer Seite
hervor; so in den Friedensvorschlägen, die zu Anfange des
Jahres 1632 durch den Druck verbreitet wurden. Ferner ein
höchst merkwürdiges Actenstück, dessen diplomatischer Zweck
freilich ganz unbekannt ist, beginnt mit den Worten: „das
höchste und letzte Ziel aller Handlungen ein neu evangelisch
Haupt; das vorletzte, neue Verfassung unter den evangeli-
schen Ständen und solchem Haupte." ") Und ausser manchen
*) Geijer III, 249.
**) Norma fulurarum actionum, welche die Königl. Majestät zu
Schwaden dictirt. Söltl III, 275. Nähere Angaben über die Ori-
ginale der von Söltl herausgegebenen Actenstücke vermisst man
nur ungern.
512 Deutschland und Gustat Adolf.
anderen Andeutungen wäre auch jener Vorschläge an die pol-
nischen Dissidenten zu gedenken, in denen Gustav Adolf sich
sogleich die Möglichkeit, die polnische Krone zu erlangen,
offen halten will. Dennoch kann man nicht leugnen, alle
diese Vorschläge haben noch etwas sehr Vages und Gestalt-
loses, oder wie Barthold sagt, Romanhaftes. Hinsichts jener
Absichten auf Polen darf es nicht unbeachtet bleiben, dass
Gustav Adolf selbst in einem Briefe anOxenstierna darauf
völlig verzichtet, da er vollkommen mit der Last einer Re-
gierung genug habe. Aber seine Meinung ist allerdings, es
könne politisch nützlich sein, den Glauben an seine Bewer-
bung festzuhalten. *) Auch scheint der Ausdruck „protestan-
tischer Kaiser" eben nur gebraucht, um fdr's Erste kurz die
politischen Schöpfungen . zu bezeichnen, die Gustav AdoU
etwa wirklich im Auge hatte. Ein Kaiserthum entsprechend
dem alten ständisch gegliederten, und dennoch auf prote-
stantischem Principe ruhend, scheint ein Unding, das niemals
hätte in's Leben treten können. Es widersprach dem inner-
sten Wesen des Protestantismus, einen solchen politisch
kirchlichen Körper zu bilden. Auf der freisten localen Ent-
wicklung und Autonomie ruhte seine ganze Kraft; er konnte
sich von dieser eben erworbenen Summe nichts abziehen lassen,
um über sich eine neue.kirchlich politische Instanz zu schif-
fen, gegen die er im nächsten Augenblicke sich wieder er-
heben musste.
Am klarsten sind vielleicht Gustav Adolfs Pläne in den
Correspondenzen ausgesprochen, die nach seinem Tode über
die mögliche Verbindung seiner Tochter mit dem Churprin-
zen von Brandenburg geführt wurden, es ist „das Dominium
über die Ostsee." Diese Küstenländer in einer Hand vereint,
hätten allerdings eine sehr bedeutende nordische Macht ge-
bildet, die aber gewiss sehr bald, wie Stenzel mit Recht be-
merkt, vielmehr einen deutschen als schwedischen Charakter
annehmen musste. Dies war ein Plan, auf den Schwedens
ganze politische Stellung, sein Verhältniss zu Polen und Russ-
*) Geijer III, 249.
Deutschland und Gustav Adolf. £13
land binzuleiten schien; dass Gustav Adolf ihn gehabt, wird
ihm vom nationalen Standpunkte aus am wenigsten vorge-
worfen werden dürfen. Ungerecht aber scheint es, seine
ganze Laufbahn nur von diesem möglichen Endpunkte aus
betrachten zu wollen, diesen zu gebrauchen, um seinen
Charakter zu verdächtigen, seine übrigen Thaten als ein Werk
eroberungssüchtiger Willkür darzustellen, und ihre welt-
historische Bedeutung gänzlich zu leugnen. Jene Absich-
ten erscheinen vielmehr nur als ein nationales Gegengewicht
gegen die des Kaisertums. Jedes confessionelle Princip
hatte noch den innersten Trieb, sich gewissermaassen er-
obernd auszudehnen, eine so breite Grundlage als möglich
zu gewinnen. Jede politische Eroberung war ein Fortschritt
der Confession, jeder confessionelle Umschwung war mit
politischen Umgestaltungen verbunden. Die katholische Par-
tei warf ihr Auge auf den Sund, Dänemark, Norwegen; die
protestantischen Gegner griffen jetzt nach den katholischen
Btsthümern, wie das kaiserliche Restitutions-Edict nach den
reformirten Stiftsländern gegriffen hatte. Eigentliche Er-
oberungssucht wird man weder den Vertretern des Katho-
licismus noch des Protestantismus, weder Ferdinand 11. noch
Gustav Adolf zum Vorwurfe machen können, sie ruhten
beide auf einem bestimmt politisch wie kirchlich ausgepräg-
ten Principe, das sie beide mit der vollsten Kraft innerer
Ueberzeugung erfasst hatten. Es war ihre persönliche, eigene
Natur, die sich darin aussprach. Auch ist durchaus kein
triftiger Grund, vorhanden, Gustav Adolfs persönliche Ueber-
zeugung, die Lauterkeit und Aufrichtigkeit seiner Gesinnung
in Zweifel zu ziehen, oder ihn schlechtweg als Heuchler zu
bezeichnen. Alle Aeusserungen, die über Gegenstände dieser
Art von ihm überliefert sind, sprechen das vollste protestan-
tisch christliche Bewusstsein aus. Vom neuen Standpunkte
aus hat man ihm das Zugeständniss der Tüchtigkeit und auch
wohl der Frömmigkeit wie eine Art Almosen zugeworfen,
um sich damit weitere Zugeständnisse abzukaufen. Achsel -
zuckend giebt man ihm zu, was die Historiker jener Zeit
mit hoher Bewunderung erfüllte, man geizt mit einer per-
514 Deutschland und Gustav Adolf.
»unlieben Anerkennung, die ihm die heutigsten Schriftsteller
der Gegenpartei nicht zu entliehen wagten. Man bat die
katholischen Historiker, die in seinem Lobe einig sind, oft
genug aufgezählt, man thüte wohl sich dieser Zeugnisse zu
erinnern, und nicht minder sollte man sich jenes öfter an-
geführte Wort in das Gedächtnis» zurückrufen, welches der
Kardinal Carafla sprach, der gewiss zu den ersten Gegnern
Gustav Adolfs gehörte. Es ist ein Wort, das in seiner epi-
grammatischen Kürze für eine Gedenktafel gelten kann:
Gustavus rex cui parem Suecia nullum, Europa paueos dedit
Auch auf das Zeugniss eines anderen Zeitgenossen, Andreae's,
dessen Memoria uns kürzlich durch einen neuen Abdruck in
das GedScbtniss zurückgerufen worden ist,*) mag ^erstattet
sein, hinzuweisen. Vielleicht wird man von vorn herein
*
den befangenen lutherischen Geistlichen nicht als vollgültigen
Zeugen annehmen wollen; mindestens wird er bekräftigen,
dass die damaligen Protestanten Gustav Adolf noch nicht als
den Reichsfeind ansahen, oder der Meinung waren, sie hat-
ten auch wohl ohne ihn errettet werden können.
Und wie fest Gustav Adolf selbst im confessionellen
Standpunkte wurzelte, auch das ist keine seiner geringsten
Tugenden, dass er praktisch die Möglichkeit eines friedlichen
Nebeneinanderlebens, einer bürgerlichen Ausgleichung bcMer
(Konfessionen vorhersah und sie persönlich in Deutschland
schon auszuüben suchte, was ihm protestantische Zeloten
damals nicht wenig verdachten und als die irdische Weisheit
bezeichneten, die vor Gott zur Thorheit geworden sei. Man
wendet ein, in seinem eignen Lande sei er intolerant ge-
wesen. Wer es natürlich findet, dass Ferdinand II. die Prote-
stanten aus seinen Erbstaaten als ein politisch gefährliches
Element um jeden Preis fortzuschaffen suchte, der wird ge-
gen Gustav Adolfs Verfahren, durch das er das Lutherthum
zu sichern suchte, nichts einwenden können. Und gewiss
war des Kaisers Stellung als Herrscher den Protestanten
*) Gustavi Adolphi Suecorum regis memoria ex J. V. Andreae
elogüs redintegrandam curavit Rbeinwald. Berolini 1844.
Deutschland und Gustaf) Adolf. 515
gegenüber, lange nicht so gefährdet als die des Königs durch
seine Verhältnisse zu Polen und den Katholicismus daselbst
Dies fährt uns auf einen änderen Punkt, der hier noch
zu erörtern wäre. Es sind zwei Beiwörter, die Barthold in
seinem Eifer Gustav Adolf beilegt: einmal nennt er ' ihn
revolutionair dem Reiche gegenüber, und an einer anderen
Stelle einen illegitimen König.") Wer wüsste nicht, ~dass
beide Schlagwörter aus der modernen Parteisprache entlehnt
sind, wo sie so ziemlich die Geltung eines Anathems ha-*
ben. Fast möchte man meinen, es sei die Absicht gewesen,
dem Andenken Gustav Adolfs auch noch dies warnende und
absehreckende Mal zu guter Letzt aufzudrücken, lieber die
Bedeutung, die man hier dem Revolutionair beilegen soll,
kann man zweifelhaft sein. Soll es nur heissen: des
Königs Einschreiten habe eine wesentliche Aenderung der
Reichsverfassung veranlasst, so werden alle Kriege, die solche
Folgen nach sich ziehen, Revolutionskriege, wer sie veran-
lasst, ein Revolutionair zu nennen sein. Dann waren auch
die alliirten Mächte revolutionair, als sie durch ihre Siege
eine Aenderung der Verfassung Frankreichs herbeifährten.
Ist es in diesem Sinne gemeint, so erscheint jenes Beiwort
überflüssig, wenn in dem Sinne unserer Zeit, so liegt eine
grosse Ungerechtigkeit darin. Dass Gustav Adolf bei seinem
Kriege gegen den Kaiser staatsrechtlich zu Werke gegangen
sei, wird schwerlich irgend ein Schriftsteller damaliger Zeit
bezweifelt haben. Er handelte als selbstständiger Fürst einem
anderen selbstständigen Fürsten gegenüber; oder soll es etwa
auf die Entwürfe gehen, die er in der Stille hegte? Es ist
wunderbar, Gustav Adolf wird zum Revolutionair, wahrend
man gleichzeitig Philipp IL zum legalsten König zu machen
sucht, Philipp IL, der sich den Niederländern gegenüber ge-
wiss in einer viel mehr revolutionären Stellung befand, wenn
doch einmal dieses Wort gebraucht werden soll. Unzwei-
deutiger ist die Anklage, die in dem Beiwort illegitim liegt.
Sie ist darauf berechnet, Gustav Adolf gleich von vorne herein
- " ' - *
#) I, 5. 40.
516 Deutschland und GumUw Adolf.
die rechtliche Grundlage zu rauben, von der aus er handelt
Ist diese erschüttert, so wird ja wohl Alles von selbst zu-
sammenstürzen, was darauf erbaut ist Aber weder nach
den Begriffen unserer noch jener Zeit kann der König für
illegitim gehalten werden. Durch einen Wahlakt der schwedi-
schen Reichsstände war die Krone an Gustav Wasa gekom-
men, das Wahlkönigthum war durch einen zweiten bei die-
sem, wie bei Gustav Adolf selbst in ein erbliches verwandelt
worden. Das erbliche Recht von seinem Vater her und das
der ständischen Wahl ruhten auf ihm, durch sie war er
König. Siegmund's Ansprüche waren rechtlich erloschen,
nicht etwa, weil er vertrieben worden war, sondern weil er
durch die That verzichtet hatte. Den günstigen Vertrag
von Linköping hatte er gebrochen, die Aufforderungen der
schwedischen Reichsstände zurückzukehren und seines Reichs
zu wahren, hatte er unbeantwortet hingenommen, die letzte
Frist unthätig vorbeigehen lassen. Es lag in seinem Ver-
fahren eine schweigende Resignation. Und nehmen wir den
Regriff der Legitimität in seiner ganzen Consequenz, war er
denn der legitime König? Er wie Gustav Adolf hatten erb-
liche Ansprüche an die Krone; Johann wie Carl IX. war sie
durch einen ständischen Akt übertragen worden; nur jener
glaubte sich ihren Besitz durch einen Brudermord sichern
zu müssen, um eine ganz antinationale Richtung einzuschla-
gen. Wer war hier der Illegitime? War es Gustav Adolf,
wahrlich Siegmund war es nicht minder.
Noch eine allgemeine Bemerkung scheint hier an ihrer
Stelle: die Urtbeile, welche Gustav Adolfs Charakter hat er-
fahren müssen, leiten unmittelbar darauf bin. Es ist klar,
welchen ungemein schwierigen Boden die historische Kritik
betritt, wenn sie Charaktere richten will, und sich mit ihrem
moralischen Werthe oder Unwerthe zu schaffen macht, wenn
sie jenen, umzustossen oder diesen zu erweisen sucht Eine
viel leichtere Aufgabe hat sie, wo es darauf ankommt, den
Thatbestand eines einzelnen Facturus zu ermitteln, selbst wo
es sich um die Entwicklung eines ganzen Zeitabschnittes,
um die Darlegung einer Reihe gewisser Ideen handelt Aus
Deutschland und Gustav Adolf. 517
dem Studium einer bestimmten Periode, aus der Art, wie
allgemeine Gesetze hier zur Erscheinung kommen, ergiebt
sich ein höherer Standpunkt, von dem aus man verwerfen
und gegen einseitige Ueberlieferungen ein neues Resultat
gewinnen kann. Aber wo die historische Kritik vom allge-
meinen Boden auf den psychologischen hinübertreten will,
stellt sich ihr eine man möchte sagen incommensurable Grösse
entgegen, die sich ihren Berechnungen widerwillig entzieht..
Dies ist die moralische Freiheit des Einzelnen. Hier kann die
Kritik nur so weit kommen, als sie sich wirklich an histori-
sche Zeugnisse hält; wo sie aber in einer ganz bestimmten
Auffassung politischer oder religiöser Verhältnisse die vorhan-
denen Aussagen für ungültig und befangen erklärt, um sich
selbst moralisch zu Gerichte zu setzen und Lohn und Strafe
auszutheilen, wird sie für durchaus incompetent erklärt wer-
den müssen. Sie untergräbt selbst den festen Boden, auf
dem sie steht; sie nimmt Principien in sich auf, durch die
man die Geschichte überhaupt vernichten kann; sie wird
Unkritik. Soll man irgendwo der allgemeinen Tradition, wie
sie im geschriebenen Worte sich fortpflanzt, Werth und Ge-
wicht beilegen, so muss es in Charakterschilderungen ge-
schehen. Nichts wirkt mächtiger auf die Zeitgenossen, als
die Erscheinung einer grossen Persönlichkeit, und Eindrücke
dieser Art gehen durch Jahrhunderte fort. Auch hat noch
Niemand mit besonderm Erfolge gegen eine solche Charakter-
tradition angekämpft, sobald sie auf den Zeugnissen der Zeit-
genossen in Wahrheit beruhte. Demnach müssen wir Gustav
Adolf dennoch für einen der reinsten und fleckenlosesten
Charaktere — nicht für rein und fleckenlos — erklären, welche
die Geschichte der beiden letzten Jahrhunderte aufzuweisen
hat. Wir verwerfen die abgeschmackte Götzendienerei mit
grossen Namen, die zuletzt nur sich selbst Altäre baut, aber
wir halten es für kein Verdienst, mit vielem Aufwände von
Scharfsinn grossen Männern Makel anzuhängen, um sie in
den Kreis der Alltäglichkeit herabzuziehen.
Zeitschrift f. GescbichUw. «IV. 1843. 35
618 Deutschland und Gustav Adolf.
I. Die letzten Zettel des Krieges, fehlest.
Zum Schlosse noch einige Worte über Barthold's Bach
insbesondere, das die zweite Hälfte des Krieges zu seine*
alleinigen Aufgabe gemacht bat, und das Ende der furcht-
baren Katastrophe vorfuhrt Dies ist um so mehr anzuer-
kennen, je weniger die Geschichte des dreissigjährigen Kriegs
nach Gusta? Adolfs Tode eine eindringende Behandlung er-
fahren bat Man betrachtete sie als einen wenig anziehenden
Anbang» über den man so schnell als möglieb hinwegzueileo
suchte; nur Wallensteins Fall und Bernhards von Weimar
Ende wurden als interessante Episoden mitgenommen. Dieses
Knäuel von Schlachten, Raubzügen, Plünderungen und Grauet
scenen, von denen sieb das Auge mit Ekel abwendet, «nitder
aebtongswerthesten Beharrlichkeit aufgewickelt zu haben,
das ist wahrlich ein hoch anzuschlagendes Verdienst, und
man glaubt es dem Verfasser gern, wenn er versichert, an
keinen Preis die Last eines solchen Materials zum zweiten
Male übernehmen zu wollen. *) Mit vollem Rechte wird
Frankreich in den Vordergrund gestellt, denn es beherrscht
die Bewegung seit Gustav Adolfs Tode ganz entschieden.
Es beherrscht sie, weil mit diesem Falle zugleich der Cha-
rakter des Kriegs ein anderer wird; so viel politische ffe-
mente er bis dahin auch gehabt hatte, er war dennoch Ver-
wiegend ein confessioneller. Jetzt war der Hauptvertreter
der protestantischen Richtung ausgeschieden, an seine Stelle
trat als Seele der antikaiserlichen Partei ein katholischer
Staatsmann, ein Cardinal, und durch ihn bekommt das rein
politische Moment das Uebergewicht Die letzten Jahre
des Kampfes geboren der eigentlichen Refermationsepoche
nicht mehr an, er trägt bereits den Charakter jener Kriege,
die in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts in
der Idee des politischen Gleichgewichts geführt wurden.
*) unerwartet ist es, dass der Verfasser Richelieus Memoiren
als vollkommen beglaubigt ansieht, da doch Ranke (Bistor. polit.
Zeilschr. Thl. II.) ihre Unechtheit erwiesen hat.
Deutschland und Gustav Adolf. 519
Hier tritt sie zuerst losgelöst von confessionellen Elementen
auf, die sich in den frühern Kämpfen in gewissem Sinne ab-
genutzt hatten. Ihr Culminationspunkt war die Schlacht bei
Lützen, nach einander waren beide Tbeile im (Jebergewiebte
gewesen, dann war ein Augenblick des Gleichgewichts ge-
kommen. Es war das GeftihI einer moralischen Erschöpfung,
das jetzt eintrat; man fing an zu erkennen, dass man sich
hier nicht mehr viel abgewinnen könne. Es wäre für einen
Frieden gewiss der passendste Augenblick gewesen. Darum
hörte freilich das confessionelle fiewusstsein bei einzelnen
Fürsten nicht in dem Grade auf, dass man berechtigt wäre,
es ohne Weiteres, wo es hervortritt, abermals als blossen
Deckmantel politischer Zwecke zu bezeichnen. Wir sehen
es noch auf dem Prager und westphälischen Frieden ein be-
deutendes Element bilden. Oxenstierna ist Richelieu durch-
aus verwandt und ebenbürtig, auch ihn beherrscht das Staats-
interesse. Von der wehhistorischen Höhe sind die Schweden
mit Gustav Adolfs Fall unmittelbar herabgestiegen, und das
Widerwärtige, entschieden Gehässige ihrer Haltung liegt in
dem Widerspruche, in dem ihre Raubzüge durch Deutsch-
land zu der Anmaassung stehen, sich immer noch auf dem
beherrschenden Standpunkte zu befinden. Der König hatte ihn
nie mit soleher Härte geltend gemacht, weil er ganz darauf
stand. Gewiss ist es: schwedische Brutalität verbunden mit
den ränkevollen Diplomatenkünsten Frankreichs hat damals
endlosen Jammer über Deutschland gebracht.
Dieser Geist der Gabinetspolitik ist es, der nach und
nach alle kriegführenden Parteien, auch die deutschen Reichs-
fürsten bestimmt, die hier zum ersten Male versuchen, sich
als Souveräne zu benehmen; dies ist es, was den leiden-
schaftlichsten Zorn und Hohn des Geschichtschreibers, na-
mentlich gegen die protestantischen Stände, hervorruft. Sehr
glimpflich werden Sachsen und Baiern behandelt, desto übler
kommt Brandenburg seit dem grossen Churfürsten, Hessen,
Braunschweig, Sachsen -Weimar fort Doch es ist zu be-
denken, wonach diese mit schwedischer Hülfe strebten, das
erreichten jene leichter auf der kaiserlichen Seite. Baierns
35*
520 Deutschland und Guttat* Adolf.
Verfahren in den letzten Kriegsjahren ging ganz von der-
selben Politik aus, und dass Sachsen für die Erwerbung der
Lausitz vom Kampfplatze schied, kann vom territorialen Ge-
sichtspunkte, der auch Baiern und Brandenburg beherrschte,
wohl gut geheissen werden. Der Kriegsjammer wurde da-
durch von diesem Gebiete ausgeschlossen und dem Kriege
selbst keine unbedeutende Kraft entzogen. Vom nationalen
Gesichtspunkte aber wird es dem Cburliirsten Georg gerade
nicht zum Verdienste angerechnet werden können; für das
Allgemeine war weder in politischer noch kirchlicher Hin-
sicht etwas gewonnen. Wohl aber waren durch das Aus-
scheiden ihrer ersten Macht die Klüfte der protestantisch»
Fürsten aufs Neue zersplittert Mit Vorliebe behandelt Jbri-
hold den Gedanken einer dritten Partei, die sich für Deutsch-
land hätte zwischen beide kämpfende t heile stellen sollen,
ein Gedanke, der im Kriege selbst schon mehrfach auftauchte.
Gewiss wäre es vom bedeutendsten Erfolge gewesen, eine
solche Stellung zu ergreifen; und wer hätte nach Bernhard
von Weimar, der augenscheinlich dies Ziel verfolgte, mehr
Veranlassung dazu gehabt, als der Churfiirst von Sachsen?
Dennoch hat er durch seine schwankende Politik zum Hin-
ziehen des Kriegs mehr beigetragen , als das politisch und
militärisch ohnmächtige Brandenburg, das, wenn irgendein
Land, die Gräuel des Kriegs erfahren hatte und fast det
Auflösung nahe gebracht war. Und doch wird es ihm als
Reichsverrath Schuld gegeben, sich mit dem nächsten Feinde
abgefunden zu haben, wie Sachsen und Baiern auch gethan,
weil es dadurch den Schweden möglich geworden sei, wäh-
rend der letzten Jahre sich zu halten. Daher auf der andern
Seite des Verfassers Vorliebe für Männer wie Johann von
Werth, dessen Leben er bekanntlich schon 1826 als Mono-
graphie herausgab, und Melander. In ihrem Uebertritt auf
die Seite des Kaisers «erkennt er eine echt deutschte, natio-
nale Gesinnung, die er ihnen so hoch anrechnet, dass sie
selten ohne ein ehrenvolles Prädikat von ihm entlassen wer-
den, während er über andere die volle Schale seines Zornes
ausgiesst. Eben so tritt principmässig Alles in den Vorder-
Deutschland und Gustav Adolf. 52 t
grand, was früher in den Schatten zurücktrat; Alles kommt
auf eine andere Stelle. Gewiss ist es nothwendig, auch die
Kehrseite zu betrachten, aber doch möchte man wünschen,
dass es mit mehr Ruhe und Massigung geschehen wäre.
Die Leidenschaftlichkeit des Verfassers mag' immerhin ein
Beweis für die Wärme und Entschiedenheit seiner Gesin-
nung sein, aber sie ist selten geeignet, Andern eine gleiche
Ueberzeugung annehmbar zu machen. Im Gegentheil, An-
sichten, die mit einem gewissen Terrorismus geltend gemacht
werden, finden nur um so eher Widerspruch, man ist nur
um so geneigter, sich ihrer Willkür zu entziehen. '
Unumwunden sprechen sich diese Ansichten des Ver-
fassers in der Vorrede aus, ohne historisches Vehikel treten
sie hier unmittelbar auf, sie werden als Gesinnung im Zu-
sammenhange dargelegt. Diese Vorrede kann als Manifest jener
ganzen Richtung gelten und darum noch einige Worte über
sie. Von politischer Seite bezeichnet der Verf. seinen Stand-
punkt als einen durchaus deutsch staatsbürgerlichen und ver-
langt in so weit für sein Buch die Anerkennung der Neuheit.
Kirchlich lautet sein Glaubensbekenntniss, dass der Geist der
Humanität und Bildung im Ghristenthum überhaupt, nicht in
zweien entfremdeten Gonfessionen liege. Damit will er sei-
nen Gegnern gleich das Ziel bezeichnen, auf das sie loszu-
gehen haben. Er weiss es, er geht in den Kampf mit einer
althergebrachten Auffassung, und darum wird die Zahl seiner
Widersacher gross sein. Er classificirt sie genau und er-
kennt nur zwei Arten als ebenbürtig an. Es sind politisch
die Vertheidiger der spröden Vereinzelung Deutschlands in
selbstmächtige Staaten, und dann der protestantische Stolz,
der nur in seinem Bekenntnisse die einzige Bedingung hoher
menschwürdiger Freiheit und Wissenschaftlichkeit sieht und
darum beklagt, dass die Gegenpartei nicht ganz unterdrückt
worden sei. Der Verfasser selbst schliesst endlich mit dem
Geständnisse hätte er zur Zeit Ferdinands III. gelebt, er
würde mit Feder und Schwert gegen Franzosen und Schwe-
den, gegen Weimaraner, Hessen und Pfälzer gekämpft haben.
Allerdings heftiger kann sich kaum ein Geschichtschreiber
522 Deutschland und Gustav Adolf.
ausdrücken, und es giebt keinen schlagenderen Gegensatz
gegen jene erkünstelte historische Objektivität Ob jedoch
ein so geflissentliches Aufgeben allgemeiner Gesichtspunkte,
eine solche Parteinahme, die von vorne herein bekennt, eben
so gerne für ihre Ansichten dreansusehlagen als au schrei-
ben, ob ein solches Bekennfoiss selbst -in der Vorrede zu
ein$m historischen und wissenschaftlichen Werke an seiner
Stelle sei, daran wird man billig zweifeln dürfen. Wo sich
aber eine so entschieden abgeschlossene Gesinnung mit der
Fülle der Berufsgelehrsamkeit verbindet, hiesse es Unrecht
thun, wollte man von einem vereinzelten Widerspruche Ein-
fluss auf die Ansicht des Verfassers erwarten. Früheren
Recensenten gegenüber hat er daher in dem eben erschiene-
nen letzten Bande seiner pommerscben Geschichte, seh»
Auffassung durch ein neues Studium der Verhältnisse Gustav
Adolfs zu Pommern bekräftigt. Auch hier ist Gustav Adolf
bald der Napoleon mit kirchlicher Färbung, bald ein modemer
Alarich, ein falscher Josua, und im Schlussworte spricht es
der Verfasser aus, er sei seit 220 Jahren der erste Forseher,
der im Drange nach Wahrheit diese Dinge mit vorurthetb-
freier Seele betrachtet habe« »
Heftige Beactionen dieser Art sind von jeher bei uof
in Leben und Wissenschaft nichts Seltenes gewesen. Der
überschwängliche Enthusiasmus hat durch sein Uebermaus
oft genug Hohn und Verachtung hervorgerufen, und aus An-
betern nicht selten Spötter gemacht. Es war nicht xu er-
warten, dass eine Epoche wie die des dreissigjährigen Kriegs,
in der noch so viel Parteistoff liegt, diesem Schicksale ent-
gehen würde. Die Reformation, die Geschichte der nationalen
Erhebung Deutschlands gegen Kapoleon haben Gleiches er-
fahren. Ausländer mögen dies in Deutschland sich oft er*
neuende Schauspiel kaum begreifen. Und allerdings sollte
man Weniger bemüht sein, die Fahnen, denen man vorher
mit Stolz folgte, hinterher fast geflissentlich, sich selbst zum
Hohne mit Füssen zu treten. Aber dies trifft nur die Form,
die Art, wie man die Sache geltend macht, nicht diese selbst
Wir erkennen darin die Freiheit, die Lebendigkeit des prote-
Deutschland und Gustav Adolf. 623
stan tischen Princips, das keinen Augenblick ruhen kann.
Wenn es ruhte, wäre es nicht mehr unter uns; es wirft sich
aus einem Gegensatze in den andern, um seiner selbst im*
mer gewisser zu werden.
Und ein bedeutendes Moment dieser Art ist das Buch
des Verfassers, wie die seiner Vorgänger. Wir sind mit ihm
von der Gesundheit der öffentlichen Meinung und der Gel-
tung ehrlicher Geschichtschreibung, wie er es im Vorworte
zum zweiten Bande ausspricht, vollkommen überzeugt, weil
wir von der Macht des protestantischen Princips, das sie in
sich tragen, noch fester überzeugt sind. Dieser geharnischte
Widerspruch, der an Stärke des Ausdrucks die früheren
noch übertrifft, lässt nicht rasten und. ruft zu immer neuer
Prüfung auf. Der spröden Vereinzelung Deutschlands das
Wort zu reden, ist nicht unsere Absicht gewesen; der Verfasser
hat vollkommen Recht ihr gegenüber die Nationalität hervor-
zuheben. Es sollte nur die Ansicht geltend gemacht werden,
alles Geschehene, Abgeschlossene einfach zu nehmen, wie es
war und sich bildete, nicht wie es hätte sein können oder
sollen. Weder dies, noch die Uebertragung des Unmuths,
den die Gegenwart erzeugt, auf die Vergangenheit, ist einer
wissenschaftlichen Auffassung nützlich oder würdig. Aber
allerdings halten wir den Protestantismus für eine höhere
Auffassung des Ghristenthums und können somit in die An*-
sicht von einem Ghristenthume, das abstract über der Con-
fession steht, so sehr dies auch praktisch an seiner Stelle ist,
theoretisch nicht einstimmen. Es ist ein altes Vorurtheil,
dass der Protestantismus das dem Ghristenthume seiner in-
nersten Natur nach inwohnende Princip der Freiheit wie«
der zu Ehren gebracht habe, indem er den Glauben, das
freiste Element, zu Ehren brachte. Diese Freiheit, ob man
sie auch mit widerwärtigen Parteinamen zu brandmarken
suche, ist unser Erbtheil. Für sie hat Gustav Adolf, haben
zahllose Deutsche gestritten und geblutet, sie ist das Gut,
das aus dem grenzenlosen Jammer des dreißigjährigen Kriegs
gerettet wurde; um den höchsten Preis, den ein Volk geben
kann, ist sie erkauft, darum soll man sie um so höher achten,
SM Veber die neueste Auffassung der firm». Resolution,
darum ihren Besitz nickt schmälern durch die Schadenfreude,
mit der man immer wieder auf nationales Elend hinweist
Ist man ao national gesonnen, mm wohlan denn, so verleide
man nns Deutschen nicht langer das Nationalste was wir
haben; slatt mit Barthold Prediger und Schulmeister ab alt-
fränkisch und unwissend zu verhöhnen, danke man ihnen,
dass sie in ihren Grenzen das Bewusstsein dieses Besikes
lebendig erhalten haben, man rufe sie auf, dass sie fort-
fahren, es zu nähren. Denn diese protestantische lieber-
zeuguog ist unser Palladium , auf ihr ruht die Zukunft, sie
wollen wir festhalten. Dr. Rudolf Köpke.
Veber die neueste Auffassung der firanzöd*
sehen Revolution«
mit besonderer Beziehung auf Capefigne.
Je weiter die grossen welthistorischen Ereignisse in das Reich
der Vergangenheit zurücktreten, desto unbefangener pflegen
sich die Urtheiie über dieselben zu gestalten, weil das per-
sönliche Interesse sich nach und nach hinter der objecto»
Wichtigkeit der Sache verliert Dies gilt als eine allgemein an-
erkannte Wahrheit, und dennoch scheint sie durch die neueste
Behandlung der Geschichte der französischen Revolution in
Zweifel gestellt*) Nachdem die schäumenden Wogen des seine
Ufer weit überfluthenden Stromes wieder in ihr natürliches
Bett zurückgedrängt waren, begann sich ein mittleres und
gemässigtes Urtheil über den Werth und die Geltung der
treibenden Principien jener ungeheueren Bewegung zu bil-
den. Zwar hatte der Zwiespalt jener beiden grossen Par-
teien, deren eine den Fortschritt aus der absoluten Idee, die
andere das Festhalten an dem historisch Gegebenen zu sei-
nem Principe macht, nicht aufgehört, doch schien man zur
*) Der Aufsatz ist 1844 geschrieben, daher dies Urtheil erklär-
lich; Schlosser, Dahlmann widerlegen dasselbe. Mit ihnen stimmen
zum Tbeil wenigstens Niebuhrs neu verkündete Worte überein.
mit besonderer Beziehung auf Capefigue. 525
Verständigung geneigt, und wenigstens darin waren die .
Historiker der verschiedensten Färbung in Beziehung auf die
Darstellung der französischen Revolution einig, dass sie eben-
sowol die Zustände, welche ihr vorangingen, als die Um-
stände, welche sie begleiteten, missbilligten. Dieses System
der Mässigung hat man in neuerer Zeit aufgegeben. Wäh-
rend die Partei des Fortschrittes aus der bisher zugegebenen
Verderbniss des früheren Zustandes mit starrer Gonsequenz
die Rechtfertigung des ganzes Verlaufes als eines notwendi-
gen Ergebnisses folgerte, schlössen die Gegner von der Ent-
setzlichkeit der Ausschweifungen auf die Verwerflichkeit der
ersten Principien jener grossen Bewegung zurück. Ja sie
durften ihren Widersachern, wenn sie ihnen den Vorzug,
consequenter zu schliessen, rauben wollten, die Voraus-
setzung, dass der Zustand Frankreichs vor der Revolution
ein verderbter, abgestorbener gewesen, keinesweges zugeben.
Dies hat Capefigue,*) der, wie flüchtig und mangelhaft
auch seine historischen Forschungen sind, doch zu den
glänzendsten Schriftstellern der Gegenwart gehört, mit dem
grössten Aufwände von Scharfsinn und freilich auch von
Sophistik durchgeführt. Für ihn ist Ludwig XV. nicht der
von schamlosen Weibern, frivolen Höflingen und licht-
scheuen Priestern beherrschte Schwächling, sondern ein wahr-
hafter König von Frankreich, voll Nationalgefühl und tiefer
Ueberzeugung von seiner souveränen Gewalt Die sardana-
palische Schwelgerei des verderbten Hofes gilt ihm als hohe
Verfeinerung des Geschmacks, die gedankenlose Verschwen-
dung als notwendiger Glanz königlicher Herrschaft, alle
zügellose Ausschweifung als leicht verzeihlich im Vergleich
mit dem Segen, welcher dem Staate und dem Volke aus der
glanzvollen Regierung entsprossen. Ludwig XV. ist ihm ein
würdiges Glied in der Regentenreihe der Bourbonen, denen
Frankreich seinen Ruhm und seine Grösse verdankt Was
*) Besonders L'Europe peudant la revolution. 4B. 8vo. Paris 1843.
— Louis XVI. son administration et ses relations diplotpatiques
avec l'Europe. 4 B. 8vo. Paris 1844, so wie seine Geschichte
Ludwigs XV.
SM lieber die neunte Auffassung der /hm. Revolution,
aber Ludwig XVI. betrifft, so ist er für ihn nicht nur ein
guter, sondern in Bezug auf Diplomatie, auswärtige Ange-
legenheiten und Entwickelang der Nationalkraft, ein grosser
König. Und dies ist noch nicht die stärkste seiner Para-
doxen. Er behauptet, dass die Reyoluüon ton 1789, vor
welcher der grosse Haufe in dumpfer Bewunderung kniet,
keine einzige ton den wichtigsten socialen Fragen in Re-
ligion, Politik und bürgerlichem Leben gelöst hat, und da»
ihre ganze Thütigkeit nur ein blindes Zeretorangswerk ge-
wesen sei, gegen dessen verderbliche Folgen die Nation sich
noch heute ängstlich aber vergebens abringe.
Frankreich ist nach ihm durch die Revolution unwiede*-
bringlich aus der Bahn seiner Grösse gerissen. Jene na-
sichtige Diplomatie, die ihm den Besitz des Elsasses, der
Franche-Comtö, Flanderns, Lothringens und Corsika's erwarb,
und durch Verträge und Verbindungen mit mächtigen Herr-
scherfamilien sicherte, ist rücksichtslos aufgegeben, vertauscht
mit völliger Nichtachtung des öffentlichen Rechtes. Erobe-
rungen sind zwar gemacht, aber gleich denen der asiatischen
Horden, ohne dauernde Folgen und nur zu eigener Schwächung.
Während so die Revolution mit roher Faust das kunst-
volle Gebäude einer durch Jahrhunderte geprüften Staatskuurf
niederriss, hatte Ludwig nach Gapefigue durch Beförderung
des Seehandels, Vermehrung der Kriegsflotte zur Sicherung
und Ausdehnung der Golonien, und durch alles dies zu dem
nationalsten Zweck eines französischen Königs, zur Demütbi-
gung Englands mit ebensoviel Weisheit als Vaterlandsliebe
hingewirkt. Dafür zeugen die Unterstützung der Amerikaner
und die standhafte Verteidigung des Rechtes der neutralen
Flagge. Auf diesem Wege musste Frankreich die erste See-
macht, sein Monarch der Schiedsrichter zwischen allen c£vi-
lisirten Staaten werden. Auch die Abrundung des Gebietes
an der Ostgrenze durch Bewilligungen der Continentalmäehte
erscheint ihm als eine nothwendige Folge der Politik des
alten Regime. Alle diese Hoffnungen sind durch die Revo-
lution vereitelt, sie hat Frankreich um mehr als hundert
Jahre zurückgebracht
mit besonderer Beziehung auf Capeßgue. : 527
Diese wunderlichen Paradoxen führt Capeßgue in den
genannten Werken durch, und zwar mit reichem Aufwand
von Scharfsinn, und mit Benutzung vieler wichtiger Quellen
ans dem französischen Reichsarchive. Klar genug liegt das
Ziel da, nach welchem er strebt. Die Revolution ist ihm
eine die Entwickelung seines Vaterlandes unterbrechende
Episode, die ehemalige Herrschaft dagegen der wahre Weg
zur Grösse; auf ihn müssen die Franzosen zurückkommen,
wenn sie ihren grossen Beruf in der Weltgeschichte lösen
wollen.
Es lässt sich in der That kaum begreifen, wie ein Franzose
es wagen kann, so in jeder Beziehung geringschätzig über
die Ergebnisse einer Periode abzusprechen, welche sonst
durch ihren Glanz für das Nationalgefühl des Air Ruhm em-
pfänglichen Volkes so schmeichelhaft; ist. Auch konnte der
Verfasser nur durch grosse Geschicklichkeit sich aus seiner
schwierigen Stellung ziehen. Er greift das revolutionäre Prin-
cip als antinational an. Die Nachäffung englischer Sitten und
Klubs durch den sonst so ritterlichen und loyalen Adel Frank-
reichs, das Eindringen der englischen Philosophie in die bis-
her der Orthodoxie und dem unbeschränkten Königthum er-
gebene classische Literatur, sie tragen ihm die Schuld der
unseligen Verwirrung aller wahren nationalen Interessen. Die
Encyclopädisten,, Voltaire selbst, sind, seiner Ansicht nach*
frech genug, die Engländer ihren Landsleuten als unerreich-
bare Muster vorzustellen, und wenn auch mancher seinen
angebornen Gefühlen nicht bis zu dem Grade zu entsagen
vermag, so steht doch die grosse Mehrzahl unter der Herr-
schaft jener philanthropischen Schwärmer, weiche in dem
Irrwahne das Heil der ganzen Menschheit befördern zu kön-
nen, zu Verräthern an ihrer Pflicht gegen das Vaterland wur-
den. Um den Menschen in seine sogenannten natürlichen
Rechte wieder einzusetzen, lähmen die unbesonnenen Neue-
rer der Regierung die Hand, mit welcher sie sonst das po-
litische Geschick der Völker Europa's lenkte, verkümmern
ihr den Gebrauch der Mittel des Staates, aus denen jene
ehrforchtgebietende Seemacht, die Verkünderin einer glänzen-
028 Veber die neunte Aufdenmg der fram». Beookrtum,
den Zukunft für Frankreich» entstanden war. England und
Rossland, die schlauen Nebenbuhler seiner Macht, schauen
mit' innerer Befriedigung auf diese unselige Verirrung, und
schären im Geheim die Feuersbrunst , die sie von einer
lästigen Beaufsichtigung ihrer Schritte befreit Auf diese
Weise sucht Capefigue in den Franzosen die Sehnsucht nach
der alten echt nationalen Politik der ehemaligen Herrschaft
zu erregen, indem er hier mit vieler Gewandtheit die An-
hänger der Revolution nicht allein als Verrither an dem
Vaterlande, sondern auch, was der französischen Eitelkeit
ganz besonders empfindlich sein muss, als Dupes der frem-
den Diplomatie erscheinen lässt Auf diese Art weiss er
seine Gegner zu verdächtigen, sich die Miene wahrhaft natio-
naler Gesinnung beizulegen. Mit grosser Schlauheit schart
er dabei die Regierung trotz ihres revolutionären Ursprungs,
den er ihr verzeihen würde, wenn sie sich entschlösse, ihren
Schritt ganz dem Absolutismus zuzulenken; denn tun diesen
Preis söhnt er sich mit einer jeden aus, . selbst mit dem Wohl-
fahrtsausschusse des Convents, dessen, wie er sich ausdrückt,
zwar gewaltsame aber organisierende Herrschaft er rahmt,
während er das, constitutionelle Königthum so wie das Di-
rektorium auf gleiche Weise verdammt Er erkennt nur
eine Pflicht der Regierung, nämlich die, fiir Volksgrösse
und Volksmacht zu sorgen. Kein Gebot der Menschlichkeit
ist ihm so beilig, dass es Berücksichtigung verdiente, wenn
jene materiellen Interessen dagegen sprächen. Sogar die
Abschaffung des Negerhandels erfahrt seine Missbilligung,
denn auch sie ist eine Frucht der Revolution, und er wirft
sich daher mit der ganzen ihm eigentümlichen Bitterkeit
auf das Durcbsuchungsrecht, als die notwendige Folge der
durch sie erweckten philanthropischen Ideen. Dagegen zeigt
er sich empfänglich für die Grossthaten jener Zeit selbst
wenn sie die Frucht von Verbrechen sind. Diese Thatkraft
rühmt er um so unbefangener, da er frei ist von aller „weich-
lichen Sentimentalität der Gemässigten, " deren Halbheit er
ohne Rücksicht-verdammt, während selbst entschiedene An-
hänger der Revolution nur mit Zurückhaltung jene blutigen
mit besonderer Beziehung auf Capefigue. 829
Gross thaten anerkennen. Aueh die Religion ruft er zur Hülfe,
aber nicht, wie wir sie als Lebensprincip der Staaten zu
fassen gewohnt sind; als solche liegt sie ihm fern; sondern
nur als äusseres Mittel. Der Katholicismus seiner Partei
besteht nicht aus einem Systeme bestimmter Dogmen. Diese
sind ihm als solche gleichgiltig; das Wesen des Katholicis-
mus ist ihm Abgeschlossenheit durch die unbedingte Herr-
schaft der kirchlichen Autorität In der durch sie erzeugten
Einheit religiöser Anschauung liegt der ihm zugeschriebene
Segen, er ist seinem Inhalte nach äussere Verordnung, Satzung,
und demnach durchaus getrennt von dem rein innerlichen
Gebote der Sittlichkeit und des menschlichen Gefühls. Bar-
tholomäusnacht und Widerruf des Edicts von Nantes sind
für ihn weise Staatshandlungen, die Ertheilung der bürger-
lichen Gerechtsame an die Protestanten eine philanthropische
Schwäche des menschenfreundlichen Ludwig XVI. Daher
beklagt auch Capefigue in seinem Buche, dass Frankreich
durch das Aufgeben des Katholicismus in dieser Form sei-
nen Einfluss auf die katholische Bevölkerung fremder Staaten,
wie in Irland, Flandern, Polen u. s. w. verloren habe. —
Wie wenig Wahrheit, abgesehen von der Unsittlichkeit
einer solchen Ansicht von Religion, in diesen Behauptungen
liegt, ist leicht genug einzusehen. Niemand wird wohl die
Beschützung des Katholicismus, wie er eben bezeichnet wor-
den ist, dem Stammvater des bourbonischen Hauses aufbür-
den. Bichelieu legte den Grund zu Frankreichs Uebermacht
nicht durch Beförderung der katholischen Interessen, sondern
durch das engste Trutz- und Schutzbündniss mit den Prote-
stanten; Mazarin schmeichelte dem Independenten Gromwell
zum grossen Nachtheil der katholisirenden Stuarts, der grosse
Ludwig selbst verschmähte nicht die Verbindung mit den
Ketzern in Schweden und Deutschland, um das erzkatboli-
sehe Haus Habsburg zu berauben; wie kann man also sagen,
dass den Katholicismus auch Frankreichs äussere Politik
stets geleitet habe? —
Nicht minder begründet obgleich scheinbarer sind die
übrigen Behauptungen Capefigue's zum Buhme der alten
SSO Ueber die neueste Auffassung der franz. Revolution,
Herrschaft. Jene auf Schwäche, Lug und Trug gegründete
Diplomatie des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderte
war so consequent und bedachtig nicht, als sie uns von ihm
forgestellt wird« Heinrichs IV. Streben war nicht auf eine
Universalherrschaft Frankreichs, sondern nur gegen die des
Hauses Habsburg gerichtet, seine allgemeine europäische
Republik war ein ganz kosmopolitischer Traum. Rein natio-
naler erscheint die Politik Richelieus und Ludwigs XIV.,
doch überschritt letzterer schon alles Maass in seinen Ent-
würfen und musste sie daher grösstenteils scheitern sehen.
Wie wenig seine Politik trotz ihrer Kühnheit und mancher
klagen Berechnung von launenhafter Willkür frei war, be-
zeugt vor allem sein Krieg gegen Holland, für Frankreich
die Quelle unsäglicher UebeJ, die erste Veranlassung der
schnell wachsenden Uebermacht Englands, ein Missgriff, der
alles was sonst durch ihn für die Herrschaft Frankreichs io
Europa geschah, fast vollkommen wieder aufwog. Was kl!
es später, die alte nationale Eifersucht gegen England wie-
der zu beleben, und alle Kräfte des Volkes zur Bekämpfung
seiner rasch um sich greifenden Seeberrschail aufzubieten!
Dieser Kampf war das Vermächtniss Ludwigs an seinen
Nachfolger; nicht aus freier Wahl, gezwungen nur Dahin er
ihn auf, und führte ihn unter denselben ungünstigen Be-
dingungen. Die zur See immer noch mächtige Republik
Holland drängte man fortwährend den Gegnern zur ßeiorde-
rerin ihrer Grösse auf. Wenn später einzelne Züge tieferer
Staatskunst in dem Gewirr sich oft durchkreuzender und
meistens auf Persönlichkeiten beruhender Intriguen auf-
taueben,, so sind sie fast nur als Ausnahmen zu betrachten,
und selbst grossartig gefasste Pläne scheiterten gewöhnlich
durch' die ganz launenhafte Anwendung der Mittel. Und die-
ser Geist der Intrigue war so tief in das Innere der ganzen
Staatsverwaltung eingedrungen, dass selbst der redliche Wille
des geraden und offnen Ludwig XVI. ihn nicht zu bannen
vermochte.
Wenn Capefigue das Eroberungssystem des revolutio-
nären Frankreichs und seine dadurch bedingte feindselige
mit besonderer Beziehung auf Capeßgue. 531
Stellung gegen das übrige Europa verwirft, so hat er freilich
darin Recht; aber waren denn Ludwigs Yergrösserungspläne
auf rechtlichere Ansprüche gegründet? — War die Reaction
gegen die Rechtsverletzungen des revolutionären Frankreichs
grösser und für den Augenblick verderblicher, so folgte dies
nicht aus der Mässigung des erobernden Königs, sondern
vielmehr nur daraus, dass Glück und Umstände seine Un-
gerechtigkeiten minder begünstigt hatten; denn dem Principe
nach waren sie dieselben. Auch zu Ludwigs XIV. Zeiten
waren die Sympathien für Frankreich fast überall erloschen,
und nicht nur in den Regierungen, sondern auch in den
Völkern, weil fast alle sich von ihm auf gleiche Weise be-
droht und verletzt fühlten. Also nicht die Revolution allein
hat jene feindselig abstossende Politik hervorgerufen. Und
war denn die unersättliche Politik des Kaiserthums so ganz
das Erzeugniss der die Revolution hervorrufenden Ideen? —
Gegründeter möchte die Bemerkung scheinen, Frankreich
habe relativ durch das Anwachsen der Grossmächte Europa's
verloren. Doch fällt diese Vermehrung äusserer Macht nicht
grösstenteils in die Zeit vor der Revolution, und war sie
nicht eine Folge der durch Frankreichs frühere Uebergrifle
gewaltsam hervorgerufenen Reaction und des durch dieselbe
erzeugten Aufschwungs? Wenn dieser jugendliche Auf-
schwung noch herrlicher und allgemeiner in unserem Jahr-
hundert hervortritt, so verdanken die Mächte Europa's aller-
dings der französischen Revolution die Erhöhung ihrer mo-
ralischen Kraft und deren Einfluss auf die Politik, und Frank-
reich hat demnach durch seine Wiedergeburt nichts Wesent-
liches vor den übrigen Staaten voraus. Es wird daher weder
so übermüthig, wie in den Zeiten der Höhepunkte seiner
Macht unter Ludwig XIV. und Napoleon, aller Rechte der
Völker spotten, noch auch so schlaff und kraftlos wie unter
Ludwig XV. der Willkür mächtiger Nebenbuhler nachgeben
dürfen.
Diese Beschuldigungen gegen die Revolution wegen Frank-
reichs jetziger äusserer Lage haben also wenig Haltbarkeit;
ebensowenig das, was über den innern Zustand desselben
532 Heber die neueste Auffassung der fron*. Revolution,
gesagt ist Capefigue selbst gesteht ein, dass der Adel weder
durch materielle Stützpunkte, noch durch seine Gesinnung
mehr seine ehemalige Geltung für die Krone haben konnte;
denn sein Grundbesitz war grossentbeils veräussert, und die
Opposition gegen die Regierung fand in ihm ihren stärksten
Anhang. Die Geistlichkeit tbeilte diese Richtung, und barg
in ihrer Mitte eine grosse Zahl von Anhängern der damali-
gen gegen alle positive Religion so feindseligen Philosophie.
Welche Stützen für Thron und Kirche! Im dritten Stande
herrschten dieselben Gesinnungen wie in den* beiden ersten,
verbunden mit dem eifersüchtigen Drange, sich ihnen politisch
gleich zu stellen. Hiermit ist die innere Auflösung aller Ele-
mente des alten Staates, die Unmöglichkeit sie als Gnurf-
lagen eines neuen Zustandes zu benutzen anerkannt. Unbe-
greiflich muss es daher erscheinen, wenn Capefigue dies
dennoch verlangt, und den heutigen gesellschaftlichen Zu-
stand Frankreichs als einen noch mangelhafteren Unterbau
des Staatsgebäudes erklärt, wofür er uns allerdings den Be-
weis schuldig bleibt Ebenso für seine Lobpreisung der ehe-
maligen Provinzialverwaltung. Ueber der Behauptung, dass
durch das Auseinanderhalten der Provinzen und die Ver-
waltung derselben durch besondere Intendanten die Indivi-
dualität der einzelnen Bestandteile des Reiches zum H&l
des Ganzen besser berücksichtigt werden konnte, vergissft er
ganz, welche Nachtheile und Hindernisse anderseits für das
Wohl des Einzelnen wie des Ganzen daraus entspringen
mussten, weil unter solchen Umständen die Vermittelung
zwischen den besonderen und allgemeinen Interessen ganz
der Intelligenz Einzelner und daher nur zu leicht dem Irr-
thum und dem Fehlgriff, nur zu oft dem sträflichsten Eigen-
nutz hingegeben blieb. Aehnlich ist seine Ansicht über die
Generalpächter. Indem er sie lobt, weil ihre Corporation
dem Staate stets einen siebern Anhaltpunkt für seine finan-
ziellen Maassregeln gewährt, und ihn dem gebieterischen Ein-
flüsse der Banquiers entrissen habe, bedenkt er nwcht, dass
den Generalpächtern nur zu sehr Staat und Unterthanen
zugleich durch ihre Stellung in die Hände gegeben waren, um
mit besonderer Beziehung auf Capefigue. 533
nicht dieselbe auf eine eigennützige für das allgemeine Wohl
verderbliche Weise zu benutzen.
Beachtenswerth dagegen ist, was Capefigue über Lud*
wigs XVI. edles und volkstümliches Streben, Frankreich
gross zu mächen, sagt; wenn er daran erinnert, wie scharf
der unglückliche Monarch erkennt, dass Handel, Colonial-
wesen und Seemacht sein Hauptaugenmerk sein müssten;
mit welcher Aufopferung er seine grossen Pläne zu verwirk-
lichen sucht Dies und seine umsichtige äussere Politik,
welche nur zu bald durch die inneren Bewegungen durch-
kreuzt ward, hebt er besonders hervor, und spricht den wohl-
begründeten Tadel aus, dass man hierin nicht gerecht genug
gegen Ludwig gewesen sei.
Nicht ohne treffende Wahrheiten, jedoch in hohem Grade
sophistisch ist seine Kritik der populären Minister des un-
glücklichen Königs. In Türgots Reformen weist er mit Um-
sicht nach, dass sie in zu schneidenden Widerspruch mit
den damaligen Verhältnissen Frankreichs traten, und deshalb
für das Erste mehr Nachtheil als Vortheil bringen mussten,
doch hat er Unrecht, wenn er in den mangelhaften Erfolgen
die Rechtfertigung für die alten herkömmlichen Missbräuche
findet Scharfsinnig ist seine Beurtheilung der politischen
Bedeutsamkeit Neckers. Dieser glaubte Frankreich ohne Be-
rücksichtigung seiner nationalen Entwicklung in der Weise
seines kleinen durch Geldaristokratie beherrschten Vaterlandes
regieren zu können. Er wollte die Missbräuche, durch welche
der Staat in eine so grosse Finanzverwirrung gerathen war,
durch gleichmässige Ausdehnung der Steuerverpflichtung über
alle Stände, öffentliche Rechnungslegung und Theilnahme
aller Steuerpflichtigen an der Bewilligung der Lasten nach
zweckmässiger Vertretung abstellen. Der grossen Masse des
physisch und moralisch niedergedrückten dritten Standes Er-
leichterung zu verschaffen, war ein löblicher, von den Gut-
denkenden aller Stände gleich gebilligter Zweck; allein ob
dieser durch Anwendung jener Principien auf Grundlage der
bestehenden Verhältnisse in Frankreich erreicht werden konnte,
war eine ganz andere Frage, eine Frage, die sich ein Staats-
Zeitschrift f. Gesebichtsw. IV. 184">. 35
534 Ueber die netteste Auffassung der franz. Revolution,
mann, der eine alte Verfassung zeitgemäss ändern, oder eine
neue schaffen will, vor allen Dingen beantworten musste.
Da einmal keine Regierung ohne eine bestimmte Form be-
stehen kann, so ist selbst eine fehlerhafte besser als eine
schwankende. Dem Finanzminister schwebte die englische
Verfassung, das Zweikammersystem vor; er hatte aber nicht
bedacht, dass dieses sich in England nicht durch Montesquieu-
sehe Ansichten von einem modernen Husterstaat, sondern
durch den stürmischen Lauf einer mit Blut bezeichneten Ge-
schichte entwickelt hatte, nicht, dass Frankreich vielleicht
schon über die Zeit hinaus war, wo es ein dem englischen
ähnliches Ober- und Unterhaus bilden konnte , nicht, isss
vor allem der Grundbesitz, wenn man eine gemässigte Ver-
fassung schaffen wollte, als wichtigste Grundlage des neuen
Systemes angewendet werden musste. Hierin zeigte Türgot,
wie Gapefigue ganz richtig bemerkt, einen weit tieferen Blick
in das innerste Wesen einer weisen Staatskunst, indem er
nur den Grund und Boden besteuern, ihn aber auch von
allen bisher drückenden Fesseln befreien und mit politischem
Einflüsse ausstatten wollte. Mit den Ideen Türgots war allen-
falls eine der englischen ähnliche Verfassung denkbar, Necker
musste durch die consequente Ausführung der seinigeo ssr
Auflösung aller stabilen Elemente hindrängen. So ungefähr,
obwohl mit der schroffsten Uebertreibung, äussert sieb Cap*»
figue über den Einfluss der beiden für Frankreich in jener
Zeit so wichtigen Männer. Uebrigens verfällt er, trotz seines
grossen Scharfsinnes, in den Fehler, der überhaupt an den
Schriften der Anhänger des alten Herrschersystems getadelt
wird, nämlich, dass er durch seine Verteidigung den Un-
werth desselben mehr als die heftigsten Gegner herausstellt
Aus Hass gegen die Revolution und ihre Folgen wird er ein
ganz verblendeter Anbänger des Alten. Er schwelgt in dem
Andenken der Genüsse des zügellosen Hofes, wenn er den
Schauplatz so, mancher Thorheiten und Unsittlichkeiten be-
tritt, er identificirt sich ganz mit ihm, indem er sich im Beiz
der Erscheinungen, als ob er sie in die Gegenwart zurück-
zaubern könnte, berauscht, und entsagt so freiwillig dem Vor?
mit besonderer Beziehung auf Capefigue. 535
tbeil des Geschichtschreibers, unparteiisch und unbestochen
von der Bewegung des Augenblicks sein (Jrtheil abgeben zu
können. Für ihn ist heute noch eine Dübarry durch ihre
bezaubernden Buhlerkünste gerechtfertigt; ja nicht einmal in
dem politischen Gegner seiner Herren, dem Herzoge ton Or-
leans, rügt er die vollendete sittliche Verderbniss. Eine solche
schamlose Machsicht gegen die Sittenlosigkeit jener Zeit er«
regt mehr Widerwillen gegen sie als die schärfste Anklage.
Mit Recht tritt Capefigue einigen stets wiederholten oder
doch wenigstens mit Stillschweigen übergangenen Behauptun-
gen entgegen, z. B. der Beschuldigung sinnloser Verschwen-
dung gegen die Königin, so wie der wider Galonne fast all«
gemein erhobenen Anklage, dass er mit verräterischem Leicht«
sinn den finanziellen Ruin seines Vaterlandes vervollständigt
habe. Die Ausgaben des Hofes waren bedeutend; weit über«
schritten sie das, was der Glanz einer der mächtigsten Kro-
nen als gebührenden Schmuck verlangen konnte, doch waren
diese Ausgaben gering gegen das Bedürfniss des übel einge«
richteten Staatshaushaltes selbst Ja auch dieser hatte nicht
einmal die Kräfte des Volkes erschöpft, denn Frankreich war
im Allgemeinen blühend, sein Nationalreichthum in ununter«
brochenem Steigen begriffen; jedoch stand es leider dem Staate
nicht frei, in der Wahl' der Mittel zur Befriedigung seiner
Bedürfnisse stets zweckmässig und billig zu verfahren. Da«
her wurde denn auch durch Ersparungen, wie sie Necker
vorschlug, verhältnissmässig nur Unbedeutendes gewonnen,
und sie waren keinesweges geeignet auf Verminderung des
gefürchteten DeBcits merklich einzuwirken. Insofern hat
Capefigue ganz recht, allein er thut unrecht, wenn er Necker's
Sparsystem deshalb rücksichtslos verdammt, wenn er in sei«
ner Sparsamkeit nur Knickerei, nur die Herabwürdigung und
Vernichtung des alten königlichen Ansehens erblickt Auch
übersieht er ganz, dass der Heiligenschein der Majestät,
welchen Ludwig XIV. durch den von ihm eingeführten kö«
niglichen Pomp zu erhalten suchte, schon lange vor den An-
griffen des philosophischen achtzehnten Jahrhunderts dahin«
geschwunden war, dass vielmehr jener Prunk als ein Theil
36*
536 lieber die neueste Auffassung der fratn. Revolution,
der Gebräuche aller gedankenlosen Kulte erschien, gegen den
man einen Kampf auf Leben und Tod begonnen hatte. Hier»
forderte die öffentliche Meinung Befriedigung. Man wollte
den Altar nicht seiner Heiligkeit, den Thron nicht sein«
Glanzes berauben, aber ersterer sollte nicht Vernunft und
Menschlichkeit, letzterer nicht das Wohl des Volkes zum
Opfer verlangen. Türgot hatte seine ganze Kraft gegen die
Schranken des materiellen Wohlseins der Unterthanen ge-
richtet, Malesherbes, sein treuer Freund und Gelahrte, gegen
die Fesseln der Intoleranz und des Fanatismus, Necker be-
schränkte sieb darauf mit vorläufiger Beseitigung aller dieser
Lebensfragen den Herrscher als Disponenten des Staatster-
mögens zu rechtfertigen. Daher die öffentliche Rechnungs-
legung. Sie sollte beweisen, dass nicht Laune und Willkar
über die finanziellen Kräfte des Staates verfugte, sondern
eine wohlwollende und weise Regierung, die nicht sowol
sich als vielmehr das öffentliche Heil zum Zweck hat
Es kam hier also minder auf die materielle Ersparnis, als
auf die Ueberzeugung an, dass Sinn für Sparsamkeit, nicht
zügellose Verschwendung walte. Diese Vorstellung so wie
die, dass Vernunft und Mässigung herrschen, erzeugt das
Vertrauen der Unterthanen in die Regierung. Durch sokfa
Maassregeln suchten Türgot, Malesherbes und Kecker die
Schärfe der Opposition, ja man kann wohl sagen, den Hws
zu massigen, den sich die königliche Gewalt durch langjährige
Willkürherrschaft zugezogen hatte, und dies war eine der
hauptsächlichsten Aufgaben. Es ist also nichts leichter als
nachzuweisen, dass alle Ersparnisse Necker's gegen die un-
geheure Summe des Deficite nur Unbedeutendes betrugen,
allein niemand kann, wenn ich mich so ausdrücken darf, den
moralischen Einfluss der Oekonomie Necker's auf die öffent-
liche Meinung bestreiten. Durch diesen gelang es ihm, der
Krone trotz ihrer ungünstigen Lage mit Leichtigkeit Anleihen
zu einem sehr hohen Belauf zu eröffnen, ohne die Staats-
gläubiger dadurch zu beunruhigen, und ohne sich die Mög-
lichkeit zu Anträgen auf eine neue Besteuerungsweise abzu-
schneiden. Anders Galonne. Auch er wusste selbst die
mit besonderer Beziehung auf Capefigue. 537
Gapitalisten durch seine Operationen zu täuschen, indem er
nicht nur alle Verpflichtungen des königlichen Schatzes pünkt-
lich erfüllte, sondern noch überdies mit stets bereiter Frei-
gebigkeit manches launenhafte Bedürfniss des Hofes in der
ehemaligen Weise befriedigte. Daher haben ihm vorzüglich
nicht nur seine Zeitgenossen, sondern auch viele Geschicht-
schreiber ohne richtige Prüfung der wahren Verhältnisse die
ungemeine Vergrösserung der Staatsschuld von 1778 — 1786
zugeschrieben, obgleich schon Necker selbst durch die Be-
dürfnisse des amerikanischen Krieges für grosse, die gewöhn-
lichen Mittel weit überbietende Ausgaben die Staatsanleihen
hatte ausdehnen müssen. Genaue Berechnungen haben ge-
lehrt, dass sich in den Jahren der Verwaltung Calonne's das
Deficit eigentlich nicht vergrösserte, dass die ersten Jahre
des Friedens noch viele Lasten des vorhergegangenen Krieges
tragen mussten, und dass demnach der Finanzminister keines-
weges so gedankenlos gewirthscbaftet hat, als man gewöhn-
lich darzustellen pflegt. Im Gegentheil war sein Verfahren
durchaus berechnet Was Necker durch Oeffentlichkeit und
Popularität erreichte, musste er durch den Anschein des
Ueberflusses erzwingen. So hoffte er durch sein ganz un-
bestreitbares Verwaltungstalent die Meinung Tür sich zu ge-
winnen, und zuletzt hierdurch die Bevorrechtigten zur er-
weiterten Theilnahme an den Staatslasten zu nöthigen.
Wie Necker durch sein System einer weisen Staats-
ökonomie eine Popularität sonder Gleichen gewann, so be-
reitete sich Galonne durch den Anschein rücksichtsloser Ver-
schwendung den jähen Sturz, weil der eine den herrschenden
Ideen der Zeit huldigte, der andere gegen sie in den ent-
schiedensten Widerspruch trat. Deshalb fand er auch keinen
Glauben und keinen Beistand, als er endlich zu denselben
seine Zuflucht nehmen wollte. Galonne war so geschickt
als Necker in der Finanzverwaltung, an Menschenkenntniss
und politischem Scharfblick übertraf er ihn weit, allein seine
Verwaltung gründete sich auf Intrigue und Täuschung; da-
her der Widerwille gegen ihn, weil der Geist der Zeit im
Gegensatz zu der Vergangenheit die Moral als notwendigste
538 Ueber die neueste Auffassung der fron». Revolution,
Eigenschaft des Staatsmannes verlangte. So lange man nur
durch sie die neuen Ideen zum Siege fähren zu können glaubte,
blieb Necker der Heros der grossen Volksumwandlung; sein
Stern ging unter mit dem Schwinden dieses Wahnes. —
Aus allem Vorhergehenden haben wir gesehen, dass Cape-
figue entweder absichtlich oder von Leidenschaft verblendet
die Richtungen, aus welchen die Revolution hervorgegangen
ist, verkennt, dass es ihm nicht darauf ankommt, ob ein Staat
mit seiner Verwaltung auf einer sittlichen Idee beruhe, oder
nicht, sondern dass er jegliches politische System nur nach
sei ner durchaus einseitigen Vorstellung von Volksthümlicb-
keit, Volksruhm und Volksgrösse beurtheilt Für ihn aber
besteht der Ruhm des französischen Volkes darin, dass der
Hof durch seinen Glanz alle andern Höfe der eultivirten Wek
überstrahle, ohne Berücksichtigung der dazu erforderlieben
Opfer und Anstrengungen; dass der Adel keine höhere Pflicht
habe, als zur Erreichung dieses Zweckes seine Schätze und
seine besten Kräfte zu verschwenden; dass der Geras, die
Herrschaft der römischen Hierarchie, die kirchlichen Satzun-
gen gegen alle Regungen des freieren Geistes aufrecht er-
halte, jede ketzerische Abweichung von der katholischen Lehre
mit kräftiger Hand verhindere; das Volk dagegen in stum-
mer Verehrung Thron und Altar anbete, sich im Glanz? des
ersten sonne, und von dem letzteren sich das Gebiet seiner
Gedanken abstecken lasse. Dies ist für ihn die alte, ehr-
würdige Herrschaft, die Gründerin des französischen Natio-
nalruhms. Die Volksgrösse und Volksmacht aber besteht
ihm etwa in der Erwerbung Belgiens oder irgend einer an-
dern benachbarten Provinz, in furchtbarer See- und Land-
macht, in der Besoldung fremder Kabinette zur Ausführung
ehrgeiziger Pläne. Allein dabei vergisst er, dass die Politik
der Kabinette nicht mehr wie ehemals von dem Willen der
Volker unabhängig ist, und dass von alten Völkern am
mächtigsten stets das sein wird, welches sich am gerechte-
sten nach aussen, im Innern am einigsten zeigt Wenn wir
auch zugestehen, müssen, dass Frankreich heut zu Tage noch
night auf diesem Standpunkt steht, so ist doch auch ebenso
mit besonderer Beziehung auf Capefigiie. 539
gewiss, dass es vor der Revolution weder gerecht nach aussen
noch einig nach tauen war. Nur den Schein der innern
Einigkeit trug es an sich, und kein wichtiger historischer
Moment zeigte sieb, wo ein .gemeinsamer Geist das Volk für
einen grossen Zweck belebt hätte.
Was also die Franzosen von ihrer Nationalität und von
ihrer nationalen PoJitik aufgegeben haben, dürfen sie nicht
bedauern, und was Capefigue so rühmt, müssen wir als ge-
fahrliche Auswüchse, als Krankheiten abseben, gegen welche
die Revolution eine allerdings furchtbare Beaction ausgeübt
bat. Wenn man von einer grösseren Ehrfurcht vor allem
Heiligen, vor Thron und Altar spricht, so ist dies nur eine
Täuschung, denn gerade alles, was den höheren Regionen
der Gesellschaft angehörte, hielt es für guten Ton gegen
dieselben die giftigen Pfeile des frivolsten Spottes zu schleu-
dern. So erscheinen denn jene vorgeblichen Verehrer des
Heiligen als elende Heuchler, um so verächtlicher, da sie
aus eigennützigen Zwecken in dem grossen Haufen Gesin-
nungen erregen und erhalten wollten, die sie selbst nicht
tbeilten. Die unbedingte Verehrung vor dem, was uns die
Vorzeit als ihre Heiligthümer hingestellt hat, fallt überhaupt
mit dem Erwachen einer vernünftigen Kritik, in Beziehung
auf die Religion, des Protestantismus, zusammen, daher auch
Capefigue'» wiitheoder Hass gegen denselben. In ihm sieht
er mit Recht den Widerstand gegen jede nur ausserliche
Autorität; er erkennt ganz consequent in dem Protestantis-
mus die Quelle aller revolutionären Bewegung und stimmt
bierin mit manchen deutschen Historikern durchaus überein.
Historische Ansichten der Art sind freilich nicht consequent
genug, weil sonst ein jeder geistige Fortschritt in der Welt-
geschichte auf ähnliche Weise verurtheilt werden müsste.
So bricht denn Capefigue in seiner Verurtbeilung der fran-
zösischen Revolution natürlich den Stab über die ganze
Richtung der neuesten Zeit, deren Vertheidigung wir hier
nicht weiter fortführen wollen. —
Nachdem wir die Hauptzüge der Ansichten Capefigue's
über die Revolution geprüft haben, könnten wir noch eine
540 Ueber die neueste Auffassung der frans. Rtüokaion,
Menge von Einzelheiten herzählen, die ebenso einseitig und
anwahr dargestellt sind, doch genagt uns schon das Obige
zur Charakteristik seiner historischen Auffassung. Es bleifc
uns daher nur noch übrig zu betrachten, wie er als Biograph
zur Rechtfertigung der von ihr angeschuldigten Personee
auftritt Hier verwendet er die meiste Mühe auf die Zeich-
nung der Königin und des Grafen von Artois. Dem Könige
selbst lässt er, einige schon oben erwähnte CJebertreibungen
abgerechnet, nur Gerechtigkeit widerfahren; dagegen gestattet
er seinem Enthusiasmus den freiesten Lauf, sobald er von
jenen spricht Beide erscheinen ihm ganz auf der Hohe
ihrer erhabenen Stellung, ganz ausgerüstet mit dem der
Krone Frankreichs gebührenden Geiste, für erstere ein an
so höherer Ruhm, da sie nur die Adoptivtochter Frankreichs
war. Auch hier zeigt Gapefigue den gewöhnlichen Leicht-
sinn in seinem (Jrtheil. Fern sei es von uns, das Andenken
der unglücklichen Königin zu beflecken, doch, müssen wir
gestehen, dass das ungemessene Lob, welches ihr der Schrift-
steller in jeder Beziehung spendet, durch seine sophistisch-
rhetorische Färbung ihrem Bilde eher schadet als nützt, in-
dem es fast als Ironie erscheint Tadeln wir ihn auch nicht,
wenn er das reizende Sich -gehen -lassen, die unschuldge
Goquetterie der jungen Königin in den lebhaftesten Farben
schildert, und er ist ein Meister im leichten Hinwerfen sol-
cher Bilder, so mus? es seiner gefeierten Heldin doch scha-
den, wenn er triumphirend von ihr erzählt, dass sie auf einem
der grossen Opern -Maskenballe in Paris, die sie stets ohne
den König in Begleitung einiger anderer junger lebenslustiger
Damen in Fiakern besuchte, mit einer als Fischweib er-
scheinenden Maske, welche sie kurzweg Antoinette anredete,
und sie schalt, dass sie in dem Augenblick, wo ihr Mann in
seinem Bette schnarche, nicht wie es sich gebührte, bei ihm
schliefe, einen grossen Theil des Abends verkehrt, und den
lebhaftesten Antheii an den vor ihr in der derbsten Pöbel-
sprache vorgetragenen Witzen bezeugt habe. Und dies ge-
schab, als sie freilich noch jung, doch gegen 10 Jahre schon
vermählt war. Kann man sich da noch wundern, dass die
mit besonderer Beziehung auf Capeßgue. 54 i
Verläumdung so freies Spiel hatte, und wie ungegründet
auch ihre Beschuldigungen waren, doch endlich den Sieg
über die anfangs so hoch verehrte Fürstin davontrug? Der
Geschichtschreiber darf Züge der Art nicht verhehlen, denn
er soll ein wahres, ungeschminktes Bild geben, allein er
wird den Leser durchaus wider seinen Gegenstand einneh-
men, wenn er das, was der Büge bedarf, dem Löblichen
und Ehrenvollen gleichstellt.
Für die Gebieter der Völker wird manches dem Niedern
Erlaubte ein schweres Vergehen. Diese Wahrheit findet auf
Maria Antoinette ihre volle Anwendung. Sie zerriss mit Ge-
walt den Schleier, welcher bisher das geheimnissvolle Bild
der königlichen Majestät bedeckt hatte. Selbst Ludwig XV.
hatte, trotz aller Schwäche und sittlichen Verderbniss, doch
wenigstens die äussere Hülle der königlichen Erscheinung
bewahrt Diese war nun vollends nicht ohne Maria Antoi-
nette's Schuld gefallen, und leider trug noch zu ihrer Ver-
nichtung der so ehrenhafte, streng sittliche Ludwig durch
seine unkönigliche, man möchte fast sagen, spiessbürgerliche
Lebensweise bei. Demnach könnte man ganz im Gegensatz
gegen Gapefigue mit vollem Rechte behaupten, dass Ludwig
und Maria Antoinette, abgesehen von ihren sittlichen und
geistigen Vorzügen, am allerwenigsten zu Herrschern des
französischen Volkes in jener Zeit berufen waren. Und Züge
obiger Art betreffen nur die äussere Haltung Maria Antoi-
nette's; es fehlte ihr aber ebenso an königlicher Gesinnung
und Einsicht. Auch hier ist Gapefigue selbst gegen sie der
gewichtigste Zeuge. Er bestätigt, was allgemein angenom-
men wird, dass seit Maureges Tode die Königin einen ent-
schiedenen Einfluss auf die Leitung der öffentlichen Ange-
legenheiten gewann. Auch hier spricht, selbst nach seinen
Berichten, aus allen ihren Handlungen ein rücksichtsloser
Leichtsinn, die vollkommne Abwesenheit aller. Principien, ja
jeder Mangel an ernstem Willen für die Erfüllung eines so
grossen Berufes. Sie ist die eifrige Gönnerin Calonne's, weil
sie als hauptsächlichstes Bedürfniss der Krone einen Mann
verlangt, der mit Leichtigkeit allen Geldforderungen zu ge-
Sit lieber die neunte Aujfa$$umg der fron*. Revolution,
nügen versteht. Auf Principien kommt es ihr hierbei gar
nicht an, denn als der scharfsinnige Finanzminister, 4er ge-
wandte Vertheidiger der unumsebrinkten königlichen Madt
von den Notabein ernstlich angegriffen wird, erklärt sie skh,
unbekümmert um ihren treuen Diener, der ihr die« auch me
vergeben hat, für einen neuen Günstling, den Erzbischof
Lomenie von Brienne. Der König, ernster und bedächtiger,
sah mit Besorgniss auf den ungläubigen Priester» den An-
hänger und Gönner der EncyclopSdisten; allein die Königin,
gedankenlos den Eindrucken des Augenblickes hingegeben,
erblickte in dem Erzbischofe den Mann der neuen Ideen,
welcher als Höfling dieselben mit dem alten System vermit-
teln sollte« Zu diesen Ideen nahm sie aber nicht ihre Zu-
flucht, weil sie in ihnen überhaupt das Heil des Staates sab;
im Gegentheil, sie betrachtete sie als äusserst gefährlich; al-
lein sie vermuthete in ihnen, und dies ganz irrthümlieher
Weise, eine unerschöpfliche Goldquelle für den königlichen
Schatz. Sobald daher Brienne auf Ersparnisse und Be-
schränkungen drang, sah er sich augenblicklich von seiner
Beschützerin verlassen. Ja sie und der ihr voUkommes
gleiebgesinnte Graf von Artois drangen am eifrigsten bei
dem Könige auf die Entlassung des vor kurzem noch so er-
wünschten Premierministers. Ohne die ernsten Folg« As
neuen Schrittes tu bedenken, verwendete sie sich mit ta
ganzen Lebhaftigkeit ihres beweglichen Geistes für Necker,
gegen dessen Person und System sie doch aus vielen einla-
den einen entschiedenen Widerwillen hatte; aber er war der
Mann» von dem man damals Geld ohne lästige Beschränkun-
gen erwarten konnte, und dies bewog sie, seine Ernennung
bei dem Könige auf das Angelegentlichste zu betreiben« Ca-
pefigue bemüht sich gar nicht, diesen grenzenlosen Leicht-
sinn zu entschuldigen. Ganz unumwunden sagt er: „L'in-
farigue de M. Necker avait alors pour appui la reine et le
oorate d'Artois, et oda s'exptique; habitols Tun et I*autr« a
trouver d'ineassaates ressourees dans le träsor, US ne pou-
mncnt se faire 4 Tidte da cette Itroite p&mrie; IL Necker
leur affrait «m ci6dit ouvert, conmeitt ne pas aecepter avec
mit besonderer Beziehung auf Capefigue. 543
un indioible empressement." Welch einCynismus in diesem
politischen Glaubensbekenntniss! Die Gegner der Königin
könnten den gänzlichen Mangel an Ernst in ihren Schritten
nicht gründlicher nachweisen. Nicht minder unbesonnen er*
scheint nach Capefigue die Parteinahme der Königin für den
dritten Stand gegen den Adel, indem er behauptet, sie habe
einerseits die verlorne Popularität wiedergewinnen, ander-
seits sich an dem Adel wegen mancher hämischen Verlium-
düngen, die allerdings von demselben gegen sie ausgegangen
waren, rächen wollen. Hierdurch bezeugte sie aber die voll«
kommenste Nicbtkenntniss ihrer Lage und Verhältnisse.
Um niehts günstiger stellt sich das Bild des Grafen von
Artois; er ist ihm der treue Verehrer und Anhänger der
Königin, und tbeilt mit ihr nicht nur alle Privatneigungen,
sondern auoh ihre politischen Ansichten, nur ist er ihr ge-
genüber der bei weitem unbesonnenere und gedankenlosere.
Wenn die Königin ohne System und festes Princip nach
Plänen und Maassregeln greift, so zieht er stets die aben-
teuerlichsten vor; sie liebt leidenschaftlich Zerstreuung und
Vergnügen, doch mit feinem Geschmack und Anmuth,
für ihn dagegen ist die Woblanständigkeit so wenig eine
Schranke, dass er sich auf einem Maskenballe auf das Grob-»
liebste in Worten und sogar thätlich gegen die Herzogin von
Bourbon, eine Prinzessin des königlichen Hauses, vergreift;
sie überschreitet den Etat ihrer Ausgaben, jedoch grossen-
theils zu Gunsten der Notleidenden und Bedrückten, er
stürzt sich Hals über Kopf in Schulden, indem er sinn- und
zwecklos (k tort et k travers) das Geld verschleudert. Ausser-
dem hat sie den kühnen, unerschrockenen Muth der Mutter,
der vor keiner Gefahr zurückbebt, während er, der Abkömm-
ling eines in Gefahr und Kampf bewährten Fürstengeschlechts,
sich mindestens gesagt höchst zweideutig sowol in Ehren-
sachen als an der Spitze seiner braven Truppen erweist.
Und dies ist nun der loyale Königssohn, nach Capefigue trotz
dieser in den Augen aller Unbefangenen ihn verdammenden
Schilderung das Muster eines Prinzen aus dem Hause Bourbon.
Und wahrend er hier seine eigenen Worte Lügen straft, wagt
544 Nachtrag zu dem aufsatz
er ei toii Malesherbes zu sagen, er habe mit geckenhafter
Eitelkeit nur um das Lob der philosophischen Schule gebuhlt,
wagt es, den edelmüthigen Narbonne einen leichtsinnigen
Thoren, einen für das Gute wie für das Schlechte gleich
unfähigen geistigen Eunuchen zu nennen; und doch waren
dies Männer, welche in unverbrüchlicher Ergebenheit gegen
ihren unglücklichen Herrn jeden Augenblick bereit waren
die Märtyrerkrone für ihn zu tragen, obgleich er den gewag-
ten Maassregeln ihrer politischen Gegner vor ihren treuen
und ungeschminkten Rathschlägen den Vorzug gab.
Eine solche Verkehrtheit bekundet, wie schon mehrfach
gerügt, einen vollkommenen Mangel an sittlichen Grundsätzen.
Klar genug erweist sich die Sophistik seiner Ansichten ras
den hier vorliegenden Mittbeilungen, und es ist nur die Keck*
heit zu bewundern, mit welcher er heut, wo die Segnungen
einer freien Entwickelung sich immer reichlicher über die
cultivirten Staaten verbreiten, das Princip aller wahren Frei-
heit bis an seine Wurzel hinan zu verdammen wagt, mit
welcher er aller Sittlichkeit Hohn spricht, und das, was die
Geschichte und die öffentliche Meinung brandmarkt, als
einzig nachzuahmendes Vorbild anpreist So betrübend es
einerseits ist, dass ein so geistreicher Mann wie Capefigw
auf einen so wunderbaren Abweg gerathen kann , so er-
bebend ist es anderseits, dass auch nicht die glänzendsten
Gaben einer schlechten Sache vor dem Tribunal der Ge-
schichte Geltung zu verschaffen vermögen, sondern im Gegen-
theil durch den Versuch mit sophistischen Künsten zu blen-
den, der Wahrheit vielmehr ein um so sicherer Sieg be-
reitet wird. Zimmermann.
Nachtrag zu dem aufsatz über das zu abend
speisen bei den göttero,
im dritten bände dieser xeitechrift
Meine Vermutung s. 352, es würden sich noch andere Zeug-
nisse aus Schriftstellern des mittelalters finden, schlug nicht fehl.
über das zu abend speisen bei den göttern. 545
In der vor 1296 gedichteten Inländischen reimchronik
wird bei einer etwa ins jähr 1280 fallenden, dem dichter also
gleichzeitigen und selbst bekannten begebenheit das ende
eines deutschen ritters erzählt:
der hatte tugenthaften muot
zuo gote und gein den Hüten.
ein wort wil ich bediuten (d. h. melden)
daz er vor der Bige sprach,
dö man den vtnden jagete nach:
„ich wil noch hiute ze n6ne
vor dem himeltröne
bi unser vrowen nähen
mine spise enpfähen."
der pilgerin voget was er genant
und was von WestvAIen lant,
des ors beleih vor müede st&n,
er muoste den bruodern abe g&n.
Nameise der vlöch über lant
und quam Af daz is gerant
dö er des ritters wart gewar,
er jagete zim mit siner schar,
der ritter wart von im geslagen:
man hörte den held sfder clagen.
9345—64
Vor Riga, als die deutschen ritter ausgezogen waren gegen
die heidnischen Semgallen, sprach ein aus Westfalen bärti-
ger, hier nicht namentlich genannter, nur als pilgrimvogt be-
zeichneter held die ahnung aus, dieser tag werde der letzte
seines lebens sein, wie sich auch bewährte, sein pferd blieb
auf dem eis ermattet stehn und trennte ihn von allen übrigen,
so dass er den nachsetzenden feinden in die bände fiel und
von Nameise, deren anfuhrer, getödtet ward. Der uralte
ausdruck in seinem munde: „noch heute nachmittag werde
ich im himmel bei unserer frau speisen" mag unter dem
volk seit der heidnischen zeit im gang geblieben sein. Maria
wird, wie sonst in vielen fällen, an die stelle der heidnischen
Frowa (s. 351) gesetzt, und sie war der deutschen ritter
schutzfrau. Jac. Grimm.
Zur
Philosophie des Staates und der Geschichte.
PnUoeopbie das Maate oder Allgemeine Sadalllieorie. Von Dr. Hngo
Eisenbart, Privatdooeot der StaatewiesenscnaJten zu Haue. Leipzig bei F. A.
BrocUiaas. 4843. XXX n. fft6 8. S.
Die Philosophie bat sich nachgrade aller Wissenschaften and
Lebensmomente bemächtigt, und sie ans der Vernunft heraus zu
constrairen getrachtet; nar über Eins ist sie noch sehr wenig im
Klaren, über sich selbst. Sie will überall in göttlichen und irdi-
schen Dingen den Wahn zerstören, aber ihre erste Prämisse, die
Zuversicht es zu können, ist selbst ein Wahn. Sie will nicht glau-
ben, sondern wissen, und doch ist was sie weiss nar das was sie
glaubt. Daher die Menge der einander verdrängenden Systeme,
von denen jedes das unfehlbare, jedes das letzte sein will, und es
doch höchstens nur so lange bleibt bis ein vermeintlich allerletztes
das letzte wieder zum vorletzten degradirt.
Und woher diese Erscheinung? Weil das Vernünftige und
Wahre nicht dies Eine, sondern das Ganze ist, nicht ein Moment
in der Entwicklung, sondern die Entwicklung selbst, und daher
nicht in einem ersten oder letzten Scböpfangsakte, sondern in dem
Processe einer unendlichen Selbstzeugung besteht.
Doch wir wollen der Philosophie keineswegs zu nahe trete»;
vielmehr ist es nichts weniger als ein Uebel, wenn neben dem
Wirklichen auch das Ideale, neben dem was ist auch das was sein
könnte oder sein möchte sich geltend macht, oder mit andere»
Worten neben der Praxis die Theorie. Denn beide lernen selbst
unwillkürlich von einander, und in dieser Wechselwirkung beruht
ihr beiderseitiger Fortschritt. Nur da wo sie einseitig sich ab-
schliessen, entstehen immer Missverhältnisse: die Wirklichkeit,
welche die Theorie verachtet, versumpft und erstarrt; die Theorie,
die von der Wirklichkeit sich lossagt, verfliegt in Schaume und
Träume. Ist nun die Harmonie beider das einzig heilsame Ver-
bältniss, so ist doch die Vermittlung dieser Harmonie die schwie-
rigste aller Aufgaben und erfordert die höchste menschliche Kunst.
Denn Theorie und Praxis neigen allerdings von Natur zur Di-
vergenz. In jener waltet ein rastloser oft wilder Drang, in dieser
eine zähe oft phlegmatische Bedächtigkeit, Daher so häufig Zwie-
tracht und selbst offener Krieg: ein Vorwärtstreiben und Zerren
auf der einen, ein Abwehren und Sträuben auf der andern Seite.
Zur Philosophie des Staates und der Geschichte. 647
Kein Theil ist ohne Unrecht; doch die grösste Schuld trägt in den
meisten Fällen wohl die Theorie. Denn ob es gleich Niemand,
dem die Freiheit der Wissenschaft kein leerer Name ist, der Spe-
calation verargen wird, wenn sie für sich, im Bereiche des Geistes,
nach idealen Schöpfungen ringt: so muss sie doch, will sie über
sich hinausgehen und zur Lehrerin des Lebens sich aufwerfen,
zuerst selber lernen was lehren beisst, und nicht Alles auf Einmal,
sondern Eins nach dem Andern wollen. Welcher Mathematiker
hat je seinen Unterricht mit der Trigonometrie begonnen! Er würde
dadurch die Wahrheit in den Augen der Schüler zu einer Verrückt-
heit gestempelt haben. Also ist auch die Speculation in der Form
des Radicalismus vollkommen unfähig, die Interessen des wirklichen
Lebens zu berathen und zu fördern; sie scheitert an ihrer Methode
und bringt nothwendig grade die entgegengesetzten Eindrücke her-
vor; sie erscheint verkehrt weil sie Ton hinten anfängt, und be-
wirkt nichts weil sie Alles erzielt. Jede speculative Wahrheit kann
nur durch eine stufenmässige Vermittlung zu einer concreten wer-
den, oder die Harmonie zwischen Theorie und Praxis nur darch
eine proportioneile Synthese zu Stande kommen.
Wie heut zu Tage sich diese beiden Pole zu einander ver-
halten, ist offenkundig. Auf dem religiösen, dem politischen und
socialen Gebiet hat — nicht zum erstenmal, sondern wieder
einmal — die Speculation ihre äüssersten Consequenzen gezogen;
und wir können uns dessen nur freuen, insofern es der Wissen-
schaft, der ideellen Erkenntniss zum Heil und zum Sporn gereicht»
Allein dieser Idealismus verkennt sein hohes Wesen und verliert
seine würdige Haltung, wenn er sich zum Apostel des Radicalismus
der Tbat berufen wähnt und aus der Hegion des Denkens köpf«
über auf die Realität sich herabwirft, um dieselbe ein- für allemal
mit Haut und Haaren zn verschlingen und nur sich als die wahre
und letzte Realität übrig zu lassen. Auf diesem Wege hat sich die
Verneinung nicht nur der Wissenschaft, sondern auch des Lebens
bemächtigt und ist hier und dort nahe daran, das Kind mit dem
Bade auszuschütten.
Andrerseits fühlt die Wirklichkeit nur zu wobt, dass es ihr an
nichts weniger als an Krankheitsstoff gebricht; aber sie ist eine
zaghafte und ängstliche Patientin, die, um nur keiner schmerzhaften
Kur und keiner lästigen Diät sich aussetzen zu müssen, lieber mit
Palliativen sich begnügt, die das Uebel für den Augenblick und die
Heilung auf die Dauer hemmen. Denn dergestalt häuft sich nur
der Krankheitsstoff, insofern er auch die noch gesunden Theile er-
greift, und das Uebel, weil es nur um so heftiger und mit immer
bedenklicheren Symptomen hervorbricht, drängt mehr und mehr
einer Krisis entgegen.
548 Zur Philosophie de» Staates md der Geschichte.
Wer sollte da nicht, wofern ein sittlicher Glaube ihn beseelt,
nach positiven Heilmitteln sehnend sich umschauen, die, indem sie
zugleich ein Gegengift gegen die absolute Verneinung waren, das
Gleichgewicht und somit die Versöhnung zwischen der Specutaüon
und dem wirklichen Leben herzustellen vermöchten!
Dieser Gesichtspunkt ist es, welcher der neuesten „Philosophie
des Staats " oder der „Allgemeinen Socialtbeorie" von Dr. Hugo
Eisenhart ihre Stellung anweist, wie man auch über den Werth
derselben urtheilen möge. Es weht darin die Ahnung, dass unsere
Zeit einer neuen Wiedergeburt entgegengebe, und die Ueberzea-
gung, dass diese eben nicbt durch die äussere Negation, sondern
nur durch einen positiven Aufbau von Innen heraus ans Licht ge-
bracht werden könne. Freilich ist diese Ahnung und Ueberzeugung
— Dank dem sittlichen Triebe der den Menschen, und dem tieferes
Drange der die Wissenschaft nie ganz verlässt — nichts Vereinig-
tes mehr; immer lauter und zahlreicher, in einer fast schon nicbk
mehr übersehbaren Literatur, erheben sich die mahnenden Stim-
men. Doch Bedürfnisse fühlen ist leichter als sie befriedigen, und
die Mahnung an die Aufgabe noch kein Versuch ihrer Losung.
Hieran haben sich deshalb auf dem politischen und socialen Ge-
biete bisher nur Wenige gewagt, und auf dem religiösen begreif-
licherweise kaum einer und der andere,*) weil hier die durch die
Negation bewirkte Spaltung am tiefsten geht und der Gegensatz
als ein un versöhnbarer erscheint, wahrend auf jenen beiden Ge-
bieten selbst die radicalste Zerstörungssucht, und wäre es auch
wider ihren Willen, immer noch positive Anknüpfungspunkte zum
Wiederaufbau übrig lässt Zu diesen wenigen Versuchen aber ge-
sellt sich das vorliegende Buch, und macht sich also auf wissen-
schaftlichem Wege an eine Aufgabe, für die wir die höchste menscV
liebe Kunst in Anspruch nahmen.
Blicken wir jetzt näher auf dessen Inhalt. Denn wo die Kritik
einem Systeme von Gedanken naht, da dünkt uns die Zergliede-
rung des Dargebotenen ebenso unerlässlich, als sie bei historisch
erzahlenden Werken uns überflüssig erscheint.
Das Vorwort führt zunächst den Satz durch, dass die Staats-
oder Socialwissenschaften die natürliche Basis für das Studium der
Rechte und die Kunst der Gesetzgebung seien. Gesundheit,
*) Ich glaube bemerken zu müssen, dass dies am Schluss des Jahres
4843 geschrieben ward; doch dünkt mir die Sachlage, wenigstens auf
wissenschaftlichem Boden, noch wesentlich dieselbe ; und aus diesem tem-
porären Bankrott der Wissenschaft eben erklärt sich sowohl der plötzliche
Durchbruch als die göhrende Unbestimmtheit der praktischen Bewegungen
der Gegenwart, die nun, von jener im Stich gelassen, auf eigene Band
experimentirl.
Zur Philosophie des Staates und der Geschichte. 549
heisst es, ist die grosse Aufgabe aller Staats- und Verwaltungskunst.
Um sie zu erzielen müsse der eigentliche Grund und Sitz der
Krankheit erkannt und auf ihn bin curirt werden; hierzu gehöre
vor Allem Renntniss des gesellschaftlichen Körpers. Unsere Staats«
männer jedoch, meist blosse Juristen, vermeinten diese Kenntuiss
entbehren zu können; sie begnügen sich mit ihrer Pathologie und
Therapie, ihrer materia medica, ihrem Codex, der für jede Krank-
heit das bewährte Specificum vorschreibt. Wenn daher z. B. eine
Gattung von Verbrechen, etwa die Verletzung des Eigenthnms
überhand uebme, so schlügen sie nur ihr Gesetzbuch auf, das diese
oder jene Strafe verordnet, die denn alsbald mit juristischer Prä-
cision in Anwendung gebracht werde; allein sie sähen es nicht,
dass der Sitz des Uebels in Missverhältnissen des socialen Lebens
liege, dass der innere Grund der Erscheinung etwa eine Ueber-
völkerung und, was damit zusammenhängt, ein allgemeines Fallen
des Arbeitslohnes, Noth und Proletariat sei. „Sie curiren, sagt der
Verf., auf die Erscheinung; aber sie haben eine Hydra vor sich."
Er polemisirt hierauf gegen das bisherige Naturrecht als Vor-
schule des positiv -juristischen Studiums; ebenso aber auch gegen
die bisherige Staatslehre, die nur politische Wissenschaft, Dar-
stellung der Organisation der öffentlichen Gewalt sei, und daher
allerdings für dfe Rechtswissenschaft kein Fundament liefern könne;
denn wie die Recbtsidee nicht nur die individuelle Freiheit zum
Object habe, nicht nur auf den Schutz des Einzelwesens, sondern
auch auf den des Gemeinwesens und seiner besonderen Verhält-
nisse gerichtet sei: also habe auch die Staatslehre nicht blos die
Eine Aufgabe, die Verfassung zu construiren, sondern gleicherweise
die mannigfaltigen Thätigkeiten und Verbältnisse der Staatsinsassen,
die eigentlichen socialen Lebensformen darzustellen»
„Einer Socialwissenschaft also, sagt der Verf., bedürfen
wir," im Gegensatz zur „blos politischen Staatslehre;" er giebt
zu, dass in Frankreich dies Bedurfniss zuerst erkannt worden sei,
wenn auch die Systeme St-Simon's und Fourier's eher abstossen
als anziehen, oder als Illusionen erscheinen möchten. Indessen
dürften wir Deutsche darum nicht anstehen, uns des lebendigen
Keimes der Erscheinung zu bemächtigen und ihn auf unsere
Weise zu entfalten. Und dies ist es, was den Verf. trieb, nichts
Geringeres zu versuchen als den Aufbau einer „Socialwissenschaft
von deutscher Art und Kunst."
Seh ellin g hatte einst gesagt: „Das erste Streben eines Jeden,
der die positive Wissenschaft des Rechts und des Staates als ein
Freier begreifen will, müsste dieses sein, sich durch Philosophie
und Geschichte die lebendige Anschauung der neuen Welt und der
in ihr notwendigen Formen des öffentlichen Lebens zu verschaffen.
Zeitschrift f. Geschicktste IV. 1845. 37
550 Zur Philosophie des Staates smd der Geschickt*.
Es ist oioht zu berechnen, welche Quelle der Bftdong in dieser
Wissenschaft eröffnet werden könnte, wenn sie mit unabhängigem
Geiste, frei von der Beziehung auf den Gebrauch and an sich be-
handelt würde.4* „Die wesentliche Voraussetzung, fährt er fort,
ist die echte aus Ideen geführte Constroction des Staates, eine
Aufgabe, von der bisher die Republik des Piaton die einzige Auf-
lösung ist." Auf diese Worte hinweisend, hofft der Verf., dass die
„neue" Wissenschaft sich überhaupt und zumal für das Studium
der Rechte und für die Kunst der Gesetzgebung fruchtbar erweisen
werde, und spricht den Wunsch aus, dass die Regierungen es
ihren künftigen Beamten zur Pflicht machen möchten, ehe sie an
die Erlernung der positiven Wissenschaft des Rechts und der Ge-
setze gingen, einen Cursus der Staats- und Social Wissenschaft
durchzumachen. Ohne diese entbehre jene ihrer Basis, und eben
dies Grundlose und deshalb Mechanische des gegenwärtigen Rechts-
Studiums sei es, was so oft grade die fabigsten Köpfe davon zu-
rückscheucbe. Man will Richter, die selbstzeugend das Recht in
sich fortbilden. „Wohlan, ruft er aus, so setze man sie auch in
den Stand dies zu können! Man führe sie heran an die lebendigen
Brüste alles socialen Rechts und tränke sie von Hanse ans mit der
Muttermilch des Gemeinwesens I" Die Befürchtung, einen Geist zu
entfesseln der kaum in Banden geschlagen, weist der Verf. zurück;
die Socialtheorie soll vielmehr den „nalurrecbtliehen Aflerlibenas-
mus und seine beschränkte .Staatsräson" überwinden. Auch habe
ein ernstes technisches Studium und gründliches Wissen, selbst
in den bedenklichsten Kreisen noch immer am sichersten Vorwitz
und Anmaassung im Zaume gehalten. Gefährlich sei allein „das
Halbwissen, das dilettantische Wissen, das belletristische PoHfeirea,
ja das hohe metaphysische Kannegiessern.((
Doch, lassen wir des Verf. Hoffnungen und Wünsche, die wenn
sie auch gerecht waren, doch zu kühn sein dürften — and reden
wir vielmehr von seinen geistigen Thaten und Erfolgen I
In den sieben Kapiteln, welche die Schrift enthalt, steigt vor
unsern Blicken ein keckes und stolzes Gebäude empor, mathema-
tisch abgezirkelt und gemessen, eine ideale Constroction, einmal
des Staates und der Staatswissenscbaften, dann auch der Geschiebte,
der- Geographie und der Chronologie. Der Verf. hat «sich in diesen
seinen Bau der Weltordnung eingelebt; er kennt alle Säle, Zimmer
und Kammerchen ; allein er wird sich nicht wundern dürfen, wenn
es nicht Allen so ausserordentlich wohl darin benagt, wie ihm
selber. Was den Ref. betrifft, so ist auch er weit davon entfernt,
dem Verf. in allen Stücken beizupflichten; vielmehr hegt er gegen
diesen Schematismus gar viele Bedenken und glaubt, dass trotz
der scheinbaren Consequenz sieh dennoch nicht nur zweifelhafte,
Zur Philosophie des Staates und der Geschichte. 551
sondern entschieden irrthümliche Prämissen eingeschlichen haben;
ja er gesteht, dass ihm bei manchen Aufstellungen, die ihm docb
allzusehr das Gepräge blosser Träumerei und Spielerei zu tragen
schienen, eigentlich nur dies zweifelhaft war, ob darüber eher zu
lächeln oder zu zürnen sei. Indessen ein systematisch denkender
und entfaltender Geist lässt nie ohne eine gewisse Anregung, und
gewährt insofern selbst bei abweichenden oder ganz entgegenge-
setzten Ansichten immer noch einigen Ertrag.
Das Erste Kapitel handelt von dem Begriff des Gemeinwesens
im Allgemeinen,, von seinem Zusammenhange mit der Weltordnung
und den Naturreichen. Der Staat des Herrn Eisenhart erhebt sieb
auf der Grundlage der Oken' sehen Naturphilosophie und der
Platonischen Republik, die durch einen eigens erfundenen Kitt
ausgebessert und verbunden werden. Die vorhandenen Elemente
des Staates sind dann als Bausteine meist so eingefügt, dass diese
Staatsidee, fern davon den wirklichen Staat aufzuheben, ihn viel-
mehr nur idealisirt, hier und da zustutzt und zurechtschiebt, auch
wohl bei den schwierigsten Fragen sich auf ein blosses Kippen und
Wippen oder auf mysteriös räthselhafte Andeutungen beschränkt.
Wie nach Oken etwa das Pflanzenreich die Verwirklichung des
Urbildes der Pflanze, die auseinandergelegte, anatomirte Urpflanze
ist, oder wie das Thierreich das zerstückelte höchste Thier, der
natürliche Mensch — also soll auch das Menschenreich, der ethi-
sche Mensch oder der Staat dqs zerlegte Urbild des vollkommenen
Mannes oder des vollkommenen Staates sein. Schon Piaton hatte
im Staate den zerlegten Menschen, d. h. im Nähr-, Wehr- und
Lebrstande das .Begehrungs-, Empfindungs- und Erkenntniss ver-
mögen wiederzufinden geglaubt; Herr Eisenbart indessen tadelt
diese Theorie: der wahre sittliche Wehrstand sei- vielmehr der
Beamtenstand; auch solle der Lehrstand nicht wie bei Piaton kraft
des Wehrstandes über den Nährstand herrschen, ihm falle vielmehr
nur die absolut ideale Aufgabe zu, die übersinnlichen Güter des
Menschen, die Ideen und die Wahrheit, die Träger und Propheten
des göttlichen Willens auf Erden, die allerdings zuletzt überall
herrschen müssten, zu erzeugen und zu verbreiten, nicht aber
dieselben auf die Wirklichkeit anzuwenden. Endlich gebe jenem
Philosophen derjenige Stand ganz verloren, dessen gleichsam tech-
nische Aufgabe die von Piaton allen Ständen unterschiedslos vin-
dicirte Tugend sei — der Priesterstand. Der Verf. reformirt daher
die Platonische Theorie, dergestalt dass wir statt jener drei Ver-
mögen vielmehr vier Bestandstücke des vollkommenen Mannes:
Wohl, Bildung, Bürgerthum und Recht erhalten, die vier
Cardinalgüter dieser Erde, die Hauptgeschlechter der socialen Zwecke.
Die Verwirklichung dieser vier Zwecke ist die Aufgabe dgK
37« J W
5.52 Zur Philosophie des Staates und der Geschichte.
Gemeinwesens; und das Mittel der Verwirklichung ist die Arbeits-
teilung, die der Sache nach schon Piaton als Hauptgrund der
menschlichen Vollkommenheit im geselligen Zustande der Tief*
thuerei, der Polypragmosyne entgegensetzt. Sie ist gleichsam nur
ein anderer Ausdruck für das Ständewesen, die ,,Kry stallform des
Staates, das Gerippe des gesellschaftlichen Körpers, überhaupt die
allgemeine Lebensform der Menschheit." Deshalb gehöre ihre Ab-
handlung „von nun an in die Staatslehre überhaupt," in die po-
litische Oekonomie höchstens nur als ein „Lehnsatz." Durch die
Arbeitsteilung allein können alle Einzelwesen vollkommen wer-
den; doch bedarf es eines ergänzenden Mechanismus, und dies ist
der Verkehr. Dieser hebt die durch die Arbeitsteilung bedingte
Besonderung der Individuen gleichsam wieder auf, indem er der
gegenseitige Austausch der arbeitsteiligen Erzeugnisse nnd mitbin
auch der Austausch aller Bestandteile des vollkommenen Manne?
ist. „Wenn es ein Gemeinwesen giebt, sagt der Verf. S. 24, wo
nicht alle empirischen Einzelwesen die Idee des Einzelwesens in
sich verwirklichen und alle Güter des vollkommenen Zustandes
sich aneignen können für ihr Eines arbeitsteiliges Product, so
zeigt dieses nur an, dass eine Stockung im Baderwerke der grossen
Maschine stattfinde." Die Arbeitsteilung mache also nicht den
Menschen einseitig, wie man sie dessen angeschuldigt, wofern nur
eben der sie ergänzende Eintausch der menschlichen Güter und
Bildungsmittel gegen das Eine Product des Facharbeiters nicht ge-
hemmt werde. Wenn z. B. dem Lehrstande nicht vergönnt wäre
frei zu sagen, was der Geist der Wissenschaft ihm auf die Zange
legt, dann würden allerdings alle anderen Stände in Abergtaobefi
verknöchern müssen, und die Arbeitstheilung wäre in derltat
ihr intellectueller Ruin. Die Wissenschaft bat daher vor Allem &e
Bedingungen einer ungehemmten und normalen Wechselwirkung
zwischen den einzelnen Standen zu untersuchen.
Hieraus ergiebt sich nun das höchste Ideal des Staates. Es
ist der, in welchem „durch eine vollkommene, freie Arbeitstheilung
und einen derselben entsprechenden freien und vollkommenen
Verkehr im Allgemeinen die Glieder aller Stände gleichmässig voll-
kommen werden können, dergestalt dass das Product des Gemein-
wesens am Ende für Alle dasselbe ist: Herstellung des vollkomme-
nen Menschen in einem jeden ihm anvertrauten Exemplare.'' Nur
dieser Staat, sagt der Verf. S.26, dürfte der wahrhaft christliche
sein, von dem gegenwärtig so viel unfruchtbares Gerede sei, d. h.
„derjenige, der mit gleicher Liebe alle Menschen umfasst;"
denn im gesitteten Gemeinwesen werde man bei der Arbeitsthei-
lung mit Lust und Liebe für den Andern arbeiten, also Jeder nicht
nur das eigene, sondern auch des Andern Wohl bezwecken.
Zur Philosophie des Staates und der Geschichte. 553
Dieser verführerische Gedanke lockt den Verf. noch einen
Schritt weiter; um seinem idealen Werke die Krone aufzusetzen,
erbaut er, an einem berühmten Ausspruche von Steffens *) sich
emporwindend, ein himmelhohes Gerüste, eine „Symbolik des
Gemeinwesens" (S. 29 ff.); allein in dieser Himmels-Höhe und -Nähe
ergreift ihn ein Schwindel und er sinkt hinab in bodenlosen My-
sticismus. Sein ideales Gemeinwesen, dies „wundervolle Gebilde1'
erscheint ihm als der „Heiland der Menschheit," als ihr „Erlöser,^
als „Ein grosser arbeitender und helfender Mann," als jener
▼ollendete Mann," von dem geschrieben steht, dass wir uns alle
in ihm begegnen sollen/' und dass er sei „im Maasse der Kraft
und Fülle Jesu Christi." Ja diese Symbolik zieht nur ihre folge-
richtigen Consequenzen, wenn sie dies Gemeinwesen den „zer-
stückelten" Heiland nennt, den „erschlagenen" Meister, dessen
„gebrochener" Leib an alle Glieder der heiligen Runde ausgetheilt,
sie alle zu demselben macht und erhebt, was Er ist, zu „Meistern."
Denn „der Meister, der Gottmensch, das Urbild liegt ja, in seine
Bestandteile zerfällt, dem Gemeinwesen unter wie ein Grundriss
und Kreuz, und je ein solcher Beslandtbeil wird von den einzelnen
Ständen belebt und durch den Verkehr nach allen Seiten hin ver-
trieben und umgesetzt, dergestalt dass sich am Ende bei jedem
Gliede eine Gesammtheit derselben" zusammenfindet und zu dem
macht, „der seinen Leib gebrochen und an das Gemeinwesen da-
hingegeben hat. So aufersteht Er am Ende in Allen — der
erschlagene Meister, und so ist das ganze Leben des wahren und
echten Gemeinwesens, des Reiches, — Ein grosses heiliges
Liebesmahl.'*
Es ist nicht zu leugnen: die Mystik hat oft ein tiefes und sin-
niges, ein schönes und lockendes Gepräge; aber ihre Wahrheit
bleibt doch nur die eines Bildes, einer Vergleichung. Wir wenden
uns deshalb eilig von ihren Reizen ab und entfliehen der schwin-
delnden Höhe, auf die wir dem Verf. gefolgt, — doch nicht ohne
am Ausgange des Labyrinthes plötzlich ein neues Wunder zu ge-
wahren.
Indessen die Extreme berühren sich ja, und so dürfte es viel-
leicht kein Wunder zu nennen sein, wenn der Verf. am Schlüsse
seiner Symbolik (S. 33), mit Hinweisung auf Dav. Strauss, dieselbe
der speculativen Deutung preisgiebt, als ob der Charakter des Er-
lösers der Menschheit auch allein dem Ganzen, dem Gemeinwesen
beigelegt werden könne; wenn er das Bekenntniss ablegt: jeden-
*) „Der Staat ist die wechselseitige Bildung Aller durch einen Jeden
und umgekehrt, fortschreitende Befreiung durch gemeinsame That, der
Meister/-
554 Zur Pkilosopkie des Staates und der Geschickte.
falls finde einige Uebereinstimmung statt zwischen seiner Staats-
lehre und der neuesten Theologie: wenn er S. 57 f. sich damit
einverstanden erklärt, dass der historische Glaube, der in onsem
heiligen Schriften deponirte, ein unvollkommenes d. b. bikRicta
Wissen enthalte, dass nar das philosophische Wissen das wahre
sei und, wenn es einmal reif sein werde, an die Stelle jenes bäd-
liehen oder des „sogenannten geoffenbarten" Wissens treten müsse,
das jetzt noch in unserer Kirche gelte; keine Macht der Welt werde
es zu hindern vermögen. Freilich dieses philosophische Wissen
ist dem Verf. nicht mit dem Hegeischen oder dem aus diesem ab*
geleiteten, sondern ohne Zweifel mit seinem eigenen, symbofisireo
den und moralisirenden, wesentlich identisch.
Im Zweiten Kapitel „Gliederung des Gemeinwesens" werden
nun, der oben angedeuteten Zerlegung des Urbildes oder des
„Mustermenschen" gemäss, vier Hauptstande oder Arbeiterklasse
aufgestellt: 1) für Erzeugung des allgemeinen Wohles — b
Gewerbsstand, 2) für allgemeine Bildung — der Lehrstaoi
oder die Bildungsstände. Dahin rechnet der Verf. nicht nur <fie
Gelehrten und die Künstler, sondern auch den Soldatenstand und
die Geistlichen. Das Landwebrsystem sei ein Element der Volks*
bildung, der Wehrstand der allgemeine ästhetische Volkserziefaer,
der einzig volkstümliche Kunstlerstand, der Erzieher zu echter
Männlichkeit; nur aus diesem Gesichtspunkt lasse sich der unge-
heure Kostenpunkt des gegenwärtigen Militärsystems rechtfertigen;
der Krieg sei ein unsittliches Mittel und finde im „Gemeinwesen
der Idee" keinen Platz. Die Kirche dagegen sei im Gemeinwesen
nothwendig; wie der Staat die Freiheit und das Recht, sohl*
sie die Tugend zu verwirklichen, die Wissenschaft, das ta^
der Schule, zur Heiligung des Menschen zuzuspitzen; die ersteh
technische Anforderung an den Geistlichen sei daher im Gegeosaü
zum Gelehrten nicht das Wissen, sondern die Sittlichkeit; deshalb
sei sogar ein Atheist, der die Prüfung von „Herz und Nieren14 ***
halte, würdiger ein Nachfolger des Herrn in seiner Kirche zu sein
als der orthodoxeste Sünder (pectus est quod theologum W)«
Die Moral, heisst es später (S. 116) ausdrücklich, sei das Object
der Kirche und diese müsse darauf hin organisirt werden, dieselbe
sowohl zu erzeugen als zu verbreiten.
Wenn dergestalt die Bedeutung des Soldatenstandes, dessen
Bedingungen doch überdies nicht im Gemeinwesen als solchem,
sondern in dessen "Beziehungen zum Aussensein wurzeln, vel zu
hoch, die Bedeutung des geistlichen aber, wenn auch nicht 20
niedrig, doch jedenfalls zu einseitig veranschlagt wird: so Ja*8*
sich dagegen wider die Ausführungen über den Gelehrteostaoo
und das Schulwesen wenig einwenden. Das Letztere bezeichnet
Zur Philosophie des Staates und der Geschichte. 5S5
der Verf. als Organ für die Erzeugung der Wahrheit am gesell-
schaftlichen Körper, gleichsam als sein Gehirn; deshalb sei Unter-
drückung der Lebrfreiheit eine Sünde wider den Geigt, ja wider
den heiligen Geist; denn da es nur Eine Wahrheit geben könne
hier und dort, der Gelehrtenstand und das Schulwesen aber das
verordnete Organ für ihre irdische Entdeckung sei, so biease die.
Lehrfreiheit unterdrücken der Stimme GoUes selber den Mund
stopfen. Vor Allem könne die Staatsgewalt der Wissenschaft nicht
ihre Ansicht zur Norm machen wollen; vielmehr müsse sie die
Ansicht der Wissenschaft zur ihrigen (d. i. zum Gesetz, zum Dogma),
machen. Im Allgemeinen seien die grö'ssten Sünden der Weltge-
schichte daraus entstanden, dass die Gewalten diese ihre ethische
Stellung zur Wissenschaft alis zum* heiligen, in alle Wahrheit leiten-
den Geiste nicht begriffen haben. Weil jedoch die Wissenschaft
als ein Irdisches oder sich Entwickelndes stetig über die vorhan-
dene und reoipirte d. i. zum Gesetz gemachte Wahrheit hinaus-
strebe, um ein neues Gesetz, einen neuen Bund mit dem Himmel
oder ein neues Leben zu vermitteln, wahrend die Regierungen
gleichsam durch ihre Natur verurtheilt sind das Alte gegen die
Ansprüche des Neuen zu halten: so folge daraus, wie gefährlich
es sei, ein echter Gelehrter zu sein. Und doch sei jede Existenz
eine unwahre und hohle, die nicht auf der wissenschaftlichen Basis
stehe oder vom Geiste der Zeit und ihrer Wissenschaft verlassen
sei, sei es nun eine Kunst oder ein Glaube, ein Recht oder eine
Verfassung, oder auch nur eine Hantirung.
Es lassen sich indessen ohne Zweifel alle diese Behauptungen
aufstellen und vertreten, ohne dass es eines so anatomistischen
Verfahrens, einer solchen Schnür brüst der Ideenentwicklung be-
darf, wie der Verf. sie anwendet. Wie verfänglich dies sei, zeigt
sich gleich wieder bei der weiteren Construction der Arbeiter-
klassen. Als die 3te gilt ihm — r für die Au frech terhaltung der all-
gemeinen innern und äussern Freiheit — der Beamten stand,
welcher der wahre, moralische Wehrstand sei, dem der Soldaten-
stand, als Wehrstand betrachtet, höchstens nur als Zwangsmittel
diene. Diesem Beamtenstande nun räumt der Verf., voreingenom-
men durch die Idee von der Notwendigkeit einer durchgängigen
arbeitstbeiligen Gliederung des Gemeinwesens, und von der Con-
sequenz derselben vorwärts getrieben, eine Bedeutung ein, die,
Weil ihr die Wirklichkeit wie die Theorie vielfach widerstrebt, ihn
notbwepdig wiederum in Jnconsequenzen verwickeln musste. Er
vindicirt demselben nämlich* so scheint es wenigstens nach S. 50,
nicht nur die AuCrechterbaltuqg, sondern auch die Festsetzung des
Rechtes, also die gesetzgebende Gewalt als arbeitstbeiligen Beruf.
Sie der Totalität des Volkes, also der Totalität der Rechtsbedürfen-
656 Zur Philosophie du Staates und der
den beizulegen, widerspreche offenbar aller Vernunft, nämlich der
Idee des Gemeinwesens. Denn jedes Mitglied desselben tritt nach
seiner Constraction „nur in Einem" der verschiedenen Systeme
des gesellschaftlichen Körpers „productiv" auf, nämlich in des
wo es Standesmitglied ist, in „ allen anderen" jedoch aosdröckM
„nur receptiv" (S, 65). „Das Volk, sagt er S. 50, kann nach
unserer Anschauung nichts gründlich von der Gesetzge-
bung verstehen, weil es dieselbe nicht zu seinem arbeits-
teiligen Berufe hat, vielmehr gans anderem nachgebt, nämlich
ein jeder seinem Standesberufe." Seltsam I Die Gesetzgebung be-
trifft ja eben, um bei der Terminologie des Verf. zu bleiben, die
Bestandteile des Gemeinwesens d. b. die Stände seibat oder die
Organisation der Arbeiterklassen, und deren Verkehr oder den
gegenseitigen Austausch ihrer arbeitsteilig erzeugten Producta
Handelt es sich also z. B. om eioe gewerbliche Gesetzgebung, so
wird doch wohl grade der Gewerbsstand selbst am Besten wissen
was ihm noth thut; ist doch, um im Sinne des Verf. zu argomen-
tiren, ihm und nicht dem Beamtenstande das Gewerbe arbeils-
tbeiliger Beruf. Oder hätte etwa der Bildungsstand, um ein anderes
Beispiel zu wählen, über die Pressgesetzgebung d. b. ober seine
eigensten Interessen kein gründliches Urtheil? Mindestens doch
wohl ein gründlicheres und competenteres als irgend ein be-
sonderer arbeitsteiliger Gesetzgebungsstand. Allein der Verf.
bleibt dabei: die Gesetzgebung sei ebenfalls einem „besondern
Stande" zuzuweisen, der aus der Vermittlung des betreffenden
Bedürfnisses „Profession" mache; nur er könne es verstehen, was
Recht sei und was nicht. Damit kämen also sämnstliche soge-
nannte Staatsgewalten diesem Stande zu. Man ist fast gfloöthigt
zu vermuthen, der Verf. habe nur das Technische der Gesetzge-
bung im Sinn, wovon das Volk allerdings nichts Gründliches ver-
steht; und darauf scheint "auch die freilich unklare Bezeichnung
derselben als „oberste Tbätigkeit in diesem Momente" hinzudeuten.
Dann wäre indessen die ganze Behauptung gar nicht des Aufhebens
wertb, gar nicht „das wichtige Resultat," wofür der Verf. sie aus-
giebt, sondern wesentlich mit der Theorie und der Wirklichkeit
im Einklänge. Und doch giebt er augenscheinlich das Gegentheil
zu verstehen; ja diese Disharmonie wird ihm selber lästig. „Nun
collidirt aber, sagt er, mit dieser unserer Staatsidee die Rechtsidee
selbst; denn Recht ist das Gelten der individuellen Freiheit, der
Selbstbestimmung; hier aber würde dem Individuum eine fremde
Bestimmung als Gesetz aufgelegt." Während er also der constitutio-
neuen Theorie eioe Collision mit der Vernunft der Sache vorwirft,
siebt er sich selbst durch seine Gonsequenz in eine Collision mit
der Rechtsidee verwickelt. Und wie hilft er sich nun aus dieser
Zur Pftilosophie des Staates: und der Geschichte. 557
Klemme? Wanderbar genug durch das incohsequente Geständniss,
es sei „nicht ohne Vermittlung aus der Sache herauszukommen,
und diese bestehe allerdings in der sogenannten Vertretung,
als in welcher das Männerrecht der Selbstbestimmung zur An-
erkennung komme" (S. 51). Man würde glauben, das laufe denn
doch wieder auf das oonstitutionelle Princip der Repräsentation
hinaus, folgte nicht sogleich der Zusatz: „Aber diese Vertretung
darf eben nichts weiter sein als dieses, nämlich Vertretung gegen
die Staatsgewalt, aber nicht selbst diese, namentlich nicht gesetzge-
bende." Der Verf. hat also etwa deliberative Stände, ohne decisives
Votum, im Sinn. Allein bei einer solchen Art der Vertretung kann
doch nimmermehr weder von einer wirklichen Selbstbestim-
mung, noch von einem Rechte derselben, noch von einer An-
erkennung dieses Rechtes die Rede sein. Freilich auch nicht
von einer blossen juridischen Receptivität, wie sie nach S. 65
angenommen werden müsste. Ganz abgesehen davon, dass ja
diese beiden Begriffe, Receptivität und Selbstbestimmung, einander
vollständig paralysiren und also nimmermehr als Attribute eines
und desselben Volksbestandtbeiles in einer und derselben Reziehung
geltend gemacht werden können. Man sieht, der Verf. kommt hier
in der That nicht über ein unstätes Kippen und Wippen hinaus,
und es ist uns daher ganz recht, wenn er durch die Worte „wie
dieses näher zu denken sei, gehört in die Rechtsphilosophie, na-
mentlich des Staatsrechts" sich vorerst aller weiteren Verlegenheit
entzieht Denn das bei späterem Anlass ausgesprochene Geständ-
niss desselben, die Untersuchung „noch nicht in vollkommen rein-
licher Weise führen zu können" (S. 66), dürfte auch wohl auf
den ebenberührten eine volle Anwendung erleiden.
Jener spätere Anlass betrifft die noch fehlende vierte Arbeiter-
klasse, die wahrhaft mysteriös auftritt und mit dem Leser Anfahgs
förmlich Versteck spielt. Denn trotzdem dass der Verf. von vorn-
herein „vier" Hauptstände proclamirt, sagt er doch nach Erörte-
rung der bisher genannten: neben diesen „drei" Hauptständen gebe
es „keinen weiter;" alle übrigen empirisch vorkommenden seien
„zufällige;" dahin gehöre der Ade). Danach führt er indessen doch,
freilich immer noch ohne ihn naher zu bezeichnen, einen 4ten ein,
der das „notwendigste Bedürfniss Aller" befriedigen soll, das Be-
dürfniss „Mitglied des Gemeinwesens selbst zu sein." Denn in
dem Gemeinwesen bestehe das „Universalmittel" für sammtliche
andere Stände, die „gegenseitige Erlösung;" doch soll es keine
blosse Maschine zur Erzeugung Aller menschlichen Bedürfniss- und
Bildungsmittel, sondern vielmehr einen „Organismus mit immanen-
tem Zweck" darstellen. Die organischen Bestandteile des Ge-
meinwesens sind nämlich dem Verf. nicht die Stände selbst, die
SSS Zur Philosophie de* Staate* mmd der GesdnchU.
vielmehr nur die Grundlagen derselben bilden, sondern die „Env
bett Aller*4 im Genoase 1) des arbeitstheiiig erzeugten Wohls, %) des
Rechts, 3) der Bttdimg and 4) der ,,Gemoinwe8igkeit.M
Erst in dem dritten Kapitel „Fundament des Gemeinwesen*
erfahren wir nun, welches jener 4te Stand sei der den Beruf babe
unser Bedürfniss nach dem Gemeinwesen gleichsam durek
Arbettstheilong zu vermitteln: es sind -~ die Weiber, fcre Stel-
lung iq dem System des Herrn Eisenbart ist freilich eine andere
wie in dem Platonischen und Poarieristisehea Ihnen fällt tteieV
sam die andere Seite der prodocirenden Arbeltstbeilang za, der
Verkehr, der Biataasch aller fiedärfnissmittel oder der Erzeugnis«
anderer Stande gegen das Eine Prodoct jedes einzelnen flhoaes;
denn dieser Eintausch ist an sich wieder eine neue Arbeit und
erfordert eine nene Kraft, eben die der Weiber. Durch diese Coo*
straetion wird die Wirklichkeit gerechtfertigt; das Hauswesen er-
scheint als ein „ganz richtiges, anf dem Geisels der ArbdletoefloflG
selbst und damit der Kraftersparung beruhendes empirisches lo*
stitut." Dies wird man billigen dürfen ohne in den Vorwurf g*80
den Socialisten einzustimmen, als ob er im Umsatz ebenso viel
mehr verliere als er in seinem Fache hei stricter Arbeitslbeflöflg
etwa mehr verdiene* Denn einmal standen dann hnmer noch die
Aktien al pari, und überdies wäre ein solcher Verlost doch keines-
wegs durch den Socialismus als solchen d. L als System bedingt,
sondern vielmehr nur durch den Unverstand oder cHeLeideoscäift
bei der Anwendung desselben. Diese menschlichen Mängel ood
Schwachen können ja aber überall die Praxis zu einer Paff*
auf die Doctrin gestalten; auch in dem Eisenbart'sfiheo G***
wesen also werden ohne Zweifel aus der etwanigen Don***
oder Verschwendungssucht oder Betruglichkeit der Weiber im ^
salz oft den Männern nicht sowohl Ersparnisse als vielmehr V*
leiste erwachsen. Doch hebt die einzelne Thatsaohe nicht die Idee,
die Ausnahme nicht die Regel auf, und bei der Stellung des W*
bes zum Manne, die ein gleiches Interesse und ein gegenseitig*
Vertrauen bedingt, ist allerdings die Uebervortheilung weniger *°
besorgen als bei einer Gliederung von Individuen ohne RüekstiM
auf das Geschlecht
Was uns indessen zu Mitgliedern des Gemeinwesens
argumentirt der Verf. weiterbin, ist nicht die häusliche oder W*
wirtschaftliche Tbiügkeit der Weiber, sondern ihr Beruf das Ge-
schlecht fortzupflanzen, ihr Beruf als „Gebarstand. " Sie *»&*
die Träger des Gemeinwesens in die Weit, was dem Verf. wiede^
als eine „arbeitstheüige Aufgabe" gilt. Wir wollen uns bei dieser
seltsamen Auffassung nicht aulhalten, die überdies das Syst00
neuen Inconsequenzen preisgiebt, .da doch einmal dem M*00*
Zur Philosophie des Staates und der Geschickte. 609
ebenfalls ein Theil dieser „Arbeit" zufaHt, und andrerseits zwei
arbeitstheilfge Berufe in denselben Individuen überhaupt ein
Widerspruch gegen das Princip der Arbeitsteilung selbst sind.
Genug die Weiber als Gebärstand vermitteln, indem sich die Fa-
milie zum Geschlecht und dieses zum Stamm erweitert, die „Ein-
heit AHer im Blute," die „allgemeine Blutsverwandtschaft" oder
das „Volkstbum," welches die „notwendige Basis für sämmtliche
übrige Einheiten im Geweinwesen," die Basis für die „siebtbare
Arbeitsteilung" ist, während jener arbeitsteilige Beruf der Weiber
die „Nachtseite des Gemeinwesens" bildet „Ein Staat, sagt der
Verf., der aus disparaten, total unterschiedenen Völkern besteht,
wird ewig auseinander sein." Aber durch die Geburt werden wir
blos zu Mitgliedern des Volkes, noch nicht zu Mitgliedern des Ge-
meinwesens oder eines, Standes; dies geschieht, erst durch die
Erziehung, und diese ist „ein weiterer (also dritter!) Beruf der
Weiber," indem sie unsere Natur frei machen, das Talent, die
Eigentümlichkeit der Seele ausbilden. Nach dem allen ist daher dem
Verf. das Haus oder die Familie „die das Volksthum im architektoni*
sehen Aufriss durchaus deckende und verklärende Gemeinde."
In den letzten Paragraphen des dritten Kapitels bespricht der
Verf. schliesslich die „geistige Nationalitat" oder das „pneuma-
tische Volksthum", welches ihm die von den voraufgegangenen
Geschlechtern berausgeborene Gestalt des wirklichen oder künsfc»
lieben Gemeinwesens ist, soweit dieselbe bereits gelungen. Und
dies fuhrt ihn auf den weltgeschichtlichen Beruf der Völker. Wie
nämlich den Individuen, so ist auch jenen nur ein beschränktes
Leben beschieden. Der absolute findzweck, das vollkommene
Gemeinwesen, der reine Mittler, wird daher nur in einer Völker-
reihe erreicht werden können, von denen ein jedes nur Eine
Stufe des zu gestaltenden Endzwecks zu verwirklichen im Stande
sein wird. .Alles also, was ein Volksthum an Gehalt wird produ-
ciren können, wird nur eine Entwickelungsstufe jenes vollkom-
menen Wesens sein können , das in aller Geschichte gesucht wird,
eine Entwicklungsstufe des Reiches Gottes auf Erden. Und wie-
derum wird dieses nur unter der Bedingung geschehen können,
dass je einer dieser Völkergeister nach dem andern seine ge-
schichtliche Errungenschaft dem folgenden mittheilt. Jeder der-
selben wird, wie er aufersteht, in seiner reinen Blutseinheit als
ein Kind, von der ganzen voraufgehenden Weltgeschichte und
ihrer Errungenschaft gleichwie besaamt. Das Product der Welt-
geschichte ist das „vollendete" Gemeinwesen, der „vollkommene
Mann im Maasse der Kraftfulle Jesu Christi", der dann auf* ihr
„wie eine Statue auf gewaltigem Sockel" ruht. — Blau siebt, hier
treten Begel'sche Ideen in mystisch verbrämtem Gewände auf.
580 Zur Philosophie des Staates und der Geschickte.
Es ist unmöglich, das System des Verf. nach seiner ganten
Ausdehnung anschaulich darzustellen; wir begnügen uns daher,
die weiteren Constructionen desselben nur im Allgemeinen zu be-
rühren. In dem vierten Kapitel construirt er ein „System der
Staats Wissenschaften u, wodurch er seinem „Werke'4 d. h. der ra
ihm erst „geschaffenen44 Philosophie des Staats „wahrhaft die
Krone aufsetzen44 will Den Einheiten im Gemeinwesen soll die
Einteilung der Wissenschaft entsprechen, also 1) dem Volkstbum
oder der natürlichen und geschichtlichen Einheit — die Philosophie
der Geschichte. 2) Der bürgerlichen Gesellschaft oder der wirta-
schaftlichen Einheit — die Philosophie der Wirthschaft. 3) Dem
Staat oder der juristischen Einheit — die Philosophie des Rechts.
4) Dem System der Bildungsanstalten — die Culturwissenschaßeo,
d. i. «) dem Hauswesen als allgemeiner Erziehungsanstalt — die
Pädagogik, a) Dem Heerwesen als allgemeiner ästhetischer Anstalt
— die Aeslhetik. «?) Dem Kirchenwesen als allg. moralischer An-
stalt — die Ethik, d) Dem Schulwesen als allg. intellektueller An-
stalt — die Dialektik. Alle diese Wissenschaften, mit Ausnahme
der Philosophie der Geschichte, betrachtet der Verf. — wer sollte
es glauben 1 — als „reine Staats Wissenschaften4'.
Das Fünfte Kapitel enthält „Umrisse zu einer natürlichen Phi-
losophie der Geschichte" (S. 125. ff.), die nach S. 100. den Zweck
haben, die Politik aus ihren abstracten Speculationen herauszo-
reissen und an eine feste, gediegene Basis zu binden» Wir können
aber nur sagen, dass dieselben ihren Zweck vollständig parodiren,
Unter der Voraussetzung, dass die Weltgeschichte „das zerfflte
vollkommene Gemeinwesen44 sei, geht er an die „Conslroctm"
derselben, indem er die einzelnen Bestandteile seines Gemein-
wesens als ganze Gemeinwesenarten setzt und so den .gamea
Process der Geschichte in vier Weltalter zerlegt: ein volkstüm-
liches, ein juridisches, ein humanistisches und ein ökonomisches;
in dem ersten ist der Gemeinwesenbau schlechthin, im zweiten
die Sicherheitspflege, im dritten die Bildung, im vierten das Wohl
der Endzweck. Darnach erhalten wir folgende Eintheilung: I. Die
.mythische Zeit, das Weltalter der formalen Gemeinwesens 1) China,
der Familienstaat; 2) Indien, der Kastenstaat; 3) die babylonisch-
cbaldäischen Stämme, die Handelsstaaten; 4) Aegypten, der Ge-
nussstaat. IL Die alte Welt, das Weltalter der juridischen Gemein-
wesen: 1) Israel, die welthistorische Tbeokratie; 2) das persische
Princip, die Despotie; 3) Hellas, die Demokratie; 4) Rom, die
Aristokratie. III. Das Mittelalter, das humanistische (religiöse)
Weltalter: 1) die unsichtbare apostolische Kirche, der christliche
Glaube; 2) das Frankenreich, der Lehnstaat; 3) der Kirchenstaat,
das Papstthum; 4) das Kaiserthum, oder vom heiligen römischen
Zur Philosophie des Staates und der Geschichte. 561
Reich deutscher Nation. IV. Das ökonomische Weltalter, die
neuere Zeit.
Nach demselben Maasse sind nun auch im Sechsten Kapitel
„Materialien zu einer Philosophie der Geographie" die geographi-
schen Verhaltnisse zugeschnitten und der Geschichtsconstruction
dergestalt angepasst, däss sich folgende Momente entsprechen:
1) die Region der Tiefländer, Heimat der Formalgemeinwesen.
Geographie der Urzeit. 2) die Region der Bergländer, Heimat der
politischen Gemeinwesen. Alte Geographie. 3) Die Region der
Stufenländer, Heimat der humanistischen Gemeinwesen. Geo-
graphie des Mittelalters. 4) Region der Seelander, Heimat der
Oekonomiestaaten. Neue Geographie.
Aber der Ausbund dieser ganzen Philosophie jst doch das
Siebente Kapitel „zur vergleichenden Chronologie und Statistik",
wo der Verf. die Entdeckung bekannt macht, dass jedes Weltalter
1500, und jedes Zeitalter als Dauer der Weltherrschaft der ein-
zelnen Volksgeister 375 Jahre umfasse. Daraus ergiebt sich nun
eine höchst wunderbare chronologische Tabelle für alle Zeiten,
die wir der Charakteristik halber dem mit dem Buche unbekannten
Leser nicht vorenthalten dürfen:
* I. Sociales Weltalter, Urgeschichte, von 3000—1500 v. Ch.
1. Zeitaller des Familienstaats, Chinas, - 3000—2625 - -
2. - - Kastenstaats, Indiens, - 2625—2250 - -
3. - der Verkehrsstaaten, Babylons u. s.w. - 2250—1875 - -
4. • des Genussstaats, Aegyptens, - 1875 — 1500 - -
IL Politisches Weltalter, alte Geschichte, - 1500—1 - -
1. Zeitalter der Theokratie, Israels, - 1500—1125 - -
2. - - Despotie, Persiens, - 1125—750 - -
3. - - Demokratie, Hellas. - 750—375 - -
4. - Aristokratie, Roms, - 375 — 1 - -
Ilf. Religiöses Weltalter, Mittelalter, - 1 — 1500 n. Ch.
1. Zeitalter der apostolischen Kirchen - 1 — 375 - -
2. des Lehnstaats, - 375—750 - -
3. - Papstthums, - 750 — 1125 - .
4. - - Kaisertums, - 1125—1500 - -
IV. Oekonomisches Weltalter, neue Zeit, - 1500 — 3000 - -
1. Erstes Zeilalter, kritisches, - 1500—1875 - -
2., / - 1875^-2250 - •
3. Die drei organischen Zeitalter, }- 2250—2625 - -
4.' ( - 2625—3000 - -
Da lieet denn nun in seinen aussersten Umrissen dieses seit-
same Product der Speculation vor uns. Christus, sieht man, bildet
die Angel in dem System, den Mittelpunkt der Weltgeschichte,
die sich in 3000 Jahren vor und in 3000 Jahren nach ihm bewegen
SBl Zur Philosophie des Staates und der Geschichte.
soll (S. 220.), — ohne Zweifel ein geeigneter Umstand, dem „mes-
sianischen Schema" des Herrn Eisenhart, seiner „göttlich gezeug-
ten Methode" (6. 9. 11.) auch in den orthodoxesten Kreisen einigen
Beifall zu erwerben. Uns fällt dabei nur jene bekannte naive Be-
hauptung ein, dass die Erde nothwendig der Mittelpunkt des
ganzen Weltalls sein müsse, deshalb weil Christus darauf geboren
sei, — eine Behauptung durch deren Aufnahme der „Philosophie
der Geographie " unfehlbar ein gleicher Reiz hatte verliehen werden
können.
Man wird uns nicht zumuthen, alle die Ungereimtheiten zu
widerlegen, welche bei der näheren Ausführung der letzten drei
Abschnitte zu Tage kommen und welche die wissenschaftliche
Sachlage oder die historische Wahrheit ganz verschütten.
Denn was soll man dazu sagen, wenn der Verf. die unwahre
Beschuldigung ausspricht, die gewöhnliche Geographie, und „selbst
Ritter1' beschreibe den Erdboden mit „vollkommener Indifferenz",
als ob „alle Theile desselben von gleicher Bedeutung " für die
Weltgeschichte wären (S. 178.)? wenn er meint, es „fehle noch
•durchaus am A. B. G. dieser Wissenschaft*4 und behauptet, Rittertl
selbst werde es „immer nur am Einzelnen k!aru, dass diese oder
jene Form „eine allgemeine und öfter wiederkehrende" seif
wenn er, der eine so äusserst mangelhafte Kenntniss der geogra-
phischen Literatur und ihrer Leistungen verrälh, vom „specula-
tiven Gesichtspunkt " heraus lehren will, wie sich „die Sache ver-
balte" (S. 199.)? In der Tbat, den Trost, wenn er nicht mehr
begehrt, wird man gern dem Verf. lassen, dass was er für diese
Wissenschaft geleistet, allenfalls ein „A. B. C." derselben sei
Was sollen wir ferner dazu sagen, wenn auf geschichtlichem
Gebiet z. B. das römische Princip als solches mit dem aristokra-
tischen identificirt und die Blüthe des letztern in eine Zeit gesetzt
wird (375 — 1 v. Gh.), wo in Rom offenkundigerweise grade das
entgegenstehende demokratische herrschend war? Oder wenn be-
hauptet wird, der Unterschied zwischen dem römischen König-
thum und dem beginnenden Consulate sei nur der gewesen, dass
man nun statt eines lebenslänglichen einen jährlichen Dynasten
an der Spitze gehabt (S. 241.}?
Nicht minder, überraschend ist est, wenn der Gehorsam im
Lehnswesen dargestellt wird als ein „freiwilliger, sittlicher und
religiöser", als der „heilige Geist" desselben, auftretend „in reinster
himmlischer Gestalt", wie ein „göttlicher Wahnsinn" das ganze
Gemeinwesen ergreifend, so dass selbst der Freie sich und sein
eigen frei Gut zu Vasallenschaft und Lehn darbietet (S 155.}.
Wie! Also das Motiv der feuda oblata, die doch nach Herrn Ei-
senhart ausdrücklich den Lebnstaat „erst vollenden", wäre Lust
Zur Philosophie des Staates und der Geschichte. 563
am Qehorchen, wäre ein sittlicher religiöser Drang gewesen?
Freilich giebt der Verf. zu, dass sie „auch vielfach aus sinnlichen
Gründen" hingegeben sein mögen; wie aber rettet er seine Con-
struetion? Darob den Vorwurf der „psychologischen Kammer-
dienerei " gegen diejenigen, welche sich so weit vermessen, den
„ersten lauteren Trieb" jener Hingebung ganz abzuleugnen. Rein
Wunder, wenn diese mystische Anschauung des Mittelalters den
historischen wie den philosophischen Boden vollends durch die
Behauptung preisgiebt (S. 156.): „wessen unsere Zeit bedarf, nur
•m freierer Atmosphäre, ist nichts Anderes, als dieser freie Ge-
horsam einerseits, und jene wahrhaft adelige Herrschaft (nämlich
als über Pares) andererseits." Wir, meint er, hätten beides ver-
lernt, das freie Gehorchen und das edle Herrschen. Aber ein
neues Evangelium (nämlich nach S. 249 das evang. Spiritus sancti,
welches auf das evang. filii folgt) werde sie auch uns wieder-
bringen, „jedenfalls jenen Barbaren jenseit des Oceans." Das
ist also wieder einmal eine Prophezeibung zu Gunsten America-s,
wie sie an a. St. (z.B. S. 263.) noch deutlicher ausgesprochen
wird. Sollte aber wohl der Verf. von den gegenwärtigen Zu-
ständen America's Renntniss genug besitzen um so keok dessen
Zukunft bestimmen zu dürfen? Das Alterthum wenigstens nannte
ja „«Barbaren" diejenigen Völker von denen es nichts wusste,
und Herr Eisenhart gebraucht doch diesen Ausdruck ohne Zweifel
im Sinne des Alterthums. Damit stimmt die wunderliche Behaup-
tung, America sei „die Germania Europa's" und es bedürfe nur
eines Tacitus, um uns dessen „frisches ungebrochenes Leben" zu
malen (S. 253.). Als ob nicht die dortige Bevölkerung selbst eine
europäische, und ganz im Gegensatz zu Germanien eine über-
tragene civilisirtesei,'die fern von aller Urfrische, vorläufig gröss-
tenteils in sehr widrigen Zerrüttungen darniederliegt. Von an-
derer Seite treten dagegen Widersprüche ein. Denn der Verf.
entscheidet sich ja durchweg zu Gunsten der Monarchie; wie
also kann für ihn das republicanische America das „hochgelobte
Land'4, die „gemeinsame Sehnsucht" sein? Und wie reimt sich
mit jener Anpreisung angeblich mittelaUriger Principien die spätere
Versicherung (S. 252.), dass die „Formen und Ideen" des Mittel-
alters „sämmtlich beseitigt" seien und namentlich in der „Wissen-
schaft und öffentlichen Meinung"?
Doch wozu länger die seltsamen Schatten begaffen, welche
in diesem System die Geschiebte wirft? Ist es doch klar, dass
Herr Eisenhart sie auf den Kopf gestellt. Und was sollen wir auch
anders von ihm erwarten? Gesteht er es doch selbst zu, dass er
nicht nur „nicht Historiker von Fach", sondern auch überhaupt
„der gelehrten Seite, des Materials, unmächtig" sei (S. 129.).
564 Zur Philosophie des Staates und der
Auffallend ist also nur der tollkühne Uebermoth, dennoch das in
ein System za zwängen, dessen er nicht machtig ist; auffallend
die eitle Selbstgefälligkeit, womit er dabei verfahrt und die so
sehr alle Grenzen überschreitet, dass der Leser unmöglich deo
widerlichsten Bindrücken entgehen kann. Seinen Standpunkt be-
zeichnet er selbst als den „naiven, unvermittelten Standpunkt"
der Philosophie der Geschichte, uud gern geben wir ihm zu, dass
diese Philosophie eine wahrhaft naive ist Der Pragmatismus gilt
ihm als die höchste Form der Geschichtschreibung, nur müsse er
im Besitze „der rechten Zwecke und der rechten Mittel der Ge-
schichte" sein; sonst freilich sei er „die elendeste Art". „Wir
aber, fahrt er in unbegreiflicher Verblendung fort, sind nun wol
im Besitze dieser rechten und objectiven Zwecke und Mittel, des
Rathschlusses über die Völker, und streuen sie wie einen Saamen
aus u. s. w.u Diese seltene Eitelkeit mit ihren hochtrabenden und
tbeilweise wirklich faden Redensarten berührt um so unange-
nehmer, als sie mit einer oft wahrhaft groben und unanständigen
Polemik gegen alle Welt, selbst gegen die höchstbegabten Geister,
Hand in Hand geht Der Verf. bildet sich unfehlbar ein, es zur
„Meisterschaft im Wissen vom Staate " gebracht zu haben (S.S.),
und seine Philosophie des Staates macht den Anspruch, als die
„Wissenschaft von der Totalitat der menschlichen Angelegenheiten u
zu gelten (S, 251.).
Auch von anderen Mängeln ist das Buch nicht frei. Es ist
zum Theil unklar und doch auch wieder zu breit geschrieben;
zuweilen erscheint der Stoff nicht recht durchgearbeitet Der Stil
ist höchst ungleich 5 bald bis zum niederen herabsinkend, unge/eoi,
ins Komische und Barocke streifend, und mit eigenmächtig
Wortbildungen oder burschikosen Ausdrücken versetzt, bald tos
zur höchsten Emphase sich emporschwingend und das Gebiet der
mystisch romantischen Poesie berührend. Mitunter stösst man aof
sonderbare Vergleichungen, wie wenn der Verf. die socialen Le-
bensformen die den „Rechtskrystall bildende Säure" nennt (S. XVL).
Wir leugnen nicht dass manches in dem Buche gut ersonnen
ist, dass es nicht an einzelnen frappanten Gedanken und Ge-
dankenwendungen gebricht, dass es richtige Gesichtspunkte und
Bruchstücke der Wahrheit enthält, überhaupt von einem lebendigen
und reichen Geiste zeugt; auch ist es wahr, dass Gonstructionen
dieser Art, selbst wenn sie wie hier zum grossen Theil als aprio-
rische auftreten, die Erörterung des Wozu, welches bei den vor-
handenen Zuständen der Menschheit überall sich aufdrängt, mannig-
fach zu befruchten vermögen. Allein aaf der andern Seite ist doch
das gutErsonnene nur seilen stichhaltig, das Frappante nur selten
wahr, das Wahre nur selten neu; und die speculative Willkür
Zur Philosophie des Staates und der Geschichte. 565
vermag zwar anzuregen, doch Dicht immer zu befriedigen. Des-
halb fallt auch ein Gesammturtheil äusserst schwer. Man wird
behaupten müssen, dass das ganze System als solches unhaltbar
ist, ja trotz der erstrebten Consequeoz nicht einmal immer klappt.
Dazu streift der Verf.. nur zu oft in das Gebiet des Phantastischen
hinüber, und verfällt in Ideenextravaganzen und Idiosynkrasien;
denn jede BegriSssonderung, die dem anatomirenden Verfahren
bis zum Extreme huldigt, führt nothwendig, statt ihr Ziel zu er-
reichen, nur zu um so seltsameren Begriffsvermischungen. Wenn
wir demnach unser Unheil zu resümiren berufen wären, so
würden wir nach innerster. Ueberzeugung nur darüber schwanken,
ob wir die Arbeit lieber im Allgemeinen als ein Buch der Dich
tung und Wahrheit bezeichnen sollten , oder mit besonderer Rück-
sicht auf die historischen Abschnitte als ein Buch voll sinnigen
Unsinns.
Der Verf. ist. wie wohl nicht bezweifelt werden kann, seiner
eigensten Gesinnung nach Rationalist im weitesten Sinne des Wortes
und auf allen Gebieten des Lebens; aber sein System ist eine
eigentümliche Mischung von Rationalismus und Mysticismus, be-
dingt, durch den Zweck oder den Wunsch, bestehende Gegensätze
zu versöhnen und in eine Einheit aufzulösen. Schon an dieser
Halbheit scheitert sein Beginnen; er wird keinem Theile gerecht
erscheinen; denn er führt nicht vorwärts, sondern er unterhandelt;
er steht nicht auf einem neuen , sondern auf zwei alten Stand-
punkten. Dieser Versuoh. der Versöhnung führt also nicht zum
Ziel; denn die Vermittlung disparater Elemente ist nur durch die
Unterwerfung des einen unter das andere, oder beider unter ein
neues und drittes denkbar.
Wir haben schon bei früherer Gelegenheit (Bd. IV. S. 180)
des Zusammenhanges gedacht, welcher zwischen der Eisenharft'-
schen Theorie und dem Leben Jesu von Werner Hahn obwaltet
Dieses ist gleichsam eine Emanation der ersteren; das religiöse
Fundament der von Eisenhart aufgestellten Staatsidee ist hier, wie
es scheint wenn nicht auf Veranlassung doch im Einverständniss
mit demselben, näher ausgeführt. Daher ist auch bei Werner Hahn
die Versöhnung der vorhandenen Gegensätze das letzte Ziel; daher
gewahrten wir auch in ihm die wunderbare Verschmelzung des
Rationalismus und Su pernatural ismus; und daher mussten wir den-
selben Vorwurf der Halbheit, auch gegen ihn richten. Natürlich
ist durch das theoretisch reformatorische Bündniss des politischen
und des religiösen Schriftstellers oder durch den Anschluss des
einen an den andern auch im Besondern eine ganze Reihe von
Zeitschrift f. Geschichte»-. IT. 1845. ßg
B66 Zur Philosophie des Staates md der Geschüttt
ttberetastiaBmenden Gwk*Up«lrten bedingt Wie Basenhirt ta
Staat, so idesüsift Hahn das Cbristeothuai. Die „pnpaaüaebe Ge-
selMmtsdanteilung" deren der letalere sieb ruhest (&29), die aber,
wie wir sahen (Bd. IV. & 181), der romantisch epischen Poesie
weil naher siebt als der Geschichte, ist ganz im Same jenes Prag-
matismus gehandhabt, den der entere fdr die höchste Form der
Qeschicbtschreibang erkennt und dessen „rechte Zwecke und Mu-
tet" er sich seihst als eigensten »Besitz" mit so schwülstiger Eitel-
keit vindicirt. Die damit yerscbwisterte prophetische Mystik erteil
erst durch Rahn's Buch ihr erklärendes Licht Denn wenn Herr
Bisenhart nach den oben angeführten Worten „wir aber sind tm
wol im Besitz dieser rechten und objecthren Zwecke und Mittel,
des Rathschlusses über die Völker" fortführt (& 129 f.): und wir
„streuen sie wie einen Samen qua, der erst im Geist eines fli-
storikers, als in seinem rechten Boden, aufgeben und Frodrt
tragen kann; dann aber werden wir eine Historiographie und ein
Epos hervorgehen sehen, das wie im göttlichen Geiste» selber ent-
worfen und gedichtet erscheinen müsste:" so liegt es nun auf
der Hand, dass diese scheinbare Prophezeiung eigentlich nur ein
Programm zu dem Unternehmen des Bundesgenossen war, den
die Rolle zufiel jenen seltsamen Pragmatismus praktisch dorctao-
fäbren. Herr Eisenhart verwirft für die Zukunft das „sogenannte
geoffenbarte u Wissen, als ein unvollkommenes, bildlicbes, anwie-
sen Steile das philosophische treten müsse (s. oben S. 554). Bn
Gleiches thut W. Hahn; die Evangelien, sagt er, sind die etatf»
Quellen über das Leben Jesu, aber sie gestatten das Pradferffr
unbedingten Glaubwürdigkeit nicht (S. 7), sie sind keine Ja*"**
mehr, sie sind zweizüngig (S. 14). Aber jenes philosophische Wis-
sen, sahen wir schon, welchem Herr Eisenhart das Prognostik
des Sieges stellt, ist weder mit dem Hegel'schen noch einem daw&
abgeleiteten identisch, sondern vielmehr mit demjenigen, welches
er sich selbst vindicirt, und dessen Grundzüge er in der „Sym-
bolik des Gemeinwesens " skizrirt hat (s. oben S. 552 f.) W**
romantisch mystischen Grundzügen entsprechen nun wieder vw
kommen die Grundlagen in Habn's Darstellung des Lebeos Jesu
Auch hier ist das oberste Princip die „Liebe." Wie nach Berm
Eisenhart der Staat Alle mit Liebe umfassen, Ein Liebesmahl dar-
stellen soll, so soll auch nach Herrn Hahn die Religion ausschließ-
lich die der Liebe sein. Dass die Kraft des Beilandes, die Liebe,
eine aligemeine Aufgabe für alle Menschen sei, dass Jesus sieb
als Heitand in der Weltgeschichte erweise, dass aber in der
menschlichen Gesellschaft Jeder ein Heiland sein solle und durch
die Liebe es werde: das darzuthun stellt er selbst als die Haupt-
aufgabe seines Werkes dar (S. 32).
Zur Philosophie des Staates und der Geschichte. 667
Es kann nicht darauf ankommen, dieses letzlere hier zu be-
nrtheilen; würden wir doch nur die schön früher gefällten ür-
theile (Bd. IV. & 180 ff.) mit ganzer Ueberzeugung wiederholen
können 1 Auch dieser Versöhnongsversoch auf religiösem Gebiete,
wie trefflich und anziehend auch die poetisch pragmatisirende
Durchführung im Einzelnen erachtet werden mag, leidet an den-
selben Mangeln, welche die Eisenhart'sche Philosophie an t dem
Erreichen ihres Zieles hindern. Er vermag nicht wahrhaft zu ver-
mitteln, weil er, um es mit keinem Tbeile zu verderben, nur einen
ausserlicben Frieden zwischen den vorhandenen Gegensätzen un-
terhandelt und, um ihn nur zum Abscbluss zu bringen, sieh mit
einigen zweideutigen Präliminarartikeln begnügt, statt vielmehr
mit der inneren Ueberseugungsgewalt unüberwindlicher Argumente
entweder den einen Gegensatz dem anderen oder beide einem
neuen und dritten siegreich zu unterwerfen. Im Debrigen mag
man das Negative unserer Kritik uns nicht zum Vorwurf machen.
Es ist thöricht da Positives zu fordern, wo es sich blos um Prü-
fung eines Dargebotenen handelt. Diese Prüfung war und bleibt
ewiglieh die alleinige Pflicht der Kritik, und alles was darüber
hinausgeht ist nicht mehr eine Verpflichtung, sondern nur noch
ein Recht Adolf Schmidt.
Allgemeine Iiiteratuvbertehte*
Deutschland, Belgien und die Niederlande.
Correspondenz des Kaisers Karl V. Aus dem königlichen Archiv
und der Bibliotheque de Bourgogne zu Brüssel raltgetheilt von Dr. Karl
Lanz. Erster Band, 4513— 4 538. Leipzig. F. A. Brockhans. 4844, 706 8.
Zweiter Band. 4 532—4549. Hit 4 lUhographirten Tafeln, 4845. &. 686 S.
Resume des Negoziation«, qui acooupagnerent Ja revolotion des
Pays-bas Autricbiens avec les pleces justificatives, Par L. P, J. van de
Spiegel, Membre du corps equestre de la province de Gueldre, Secretaire
de Legation de S. M. le roi des Pays-bas. Amsterdam, chez Johannes
Müller. 4 844. 8. 406 8.
Gedenkstukken tot opheldering der Nederlandsche Geschiedeniss,
opgezameld uit de Archiven te Rysse), en op Gezag van het Gouver-
nement uitgegeven door Mr. L. Pn. C. van den Bergh* Leiden, by 8. en
J. Luchtmans. 4842. 8. 380 6,
Ranke sagt In seiner deutschen Geschichte (1. Ausg. 1. Band
Vorrede p. IX.): „Ich sehe die Zeit kommen, wo wir die neuere
38*
568 Allgemein* IAteraturberickU.
Geschichte nicht mehr auf die Berichte selbst nicht der gleich-
zeitigen Historiker, ausser in so weit ihnen eine originale Kenot-
niss beiwohnte, geschweige denn auf die weiter abgeleiteten Be-
arbeitungen zu gründen haben, sondern ans den Relationen der
Augenzeugen und den acbtesten unmittelbarsten Urkunden auf-
bauen werden". Und die Zeit ist schon gekommen; das Bewusst-
sein ist ein allgemeines geworden, kein Stück aus der neueren
Geschichte beleuchten zu können ohne die ungedruckten Quellen,
die für das Leben in dieser neueren Geschichte in Archiven und
Bibliotheken verborgen liegen; es ist der Fall schon eingetreten,
dass eben nur die, * welche einen Pass haben in diese staubigen ,
Länder unserer Grossväter, einen Pass, den oft der Zufall mehr
als das Verdienst und das Talent visirt hat, sich rüsten können
zur Reise, um diese zu beschreiben; fast taglich bringt uns die
Zeitung die Ankündigung eines andern historischen Buches, das
aus „ archi valiscben ungedruckten Quellen " gearbeitet ist und es
wird dieser Zusatz, einst eine Seltenheit, also eine Auszeichnung,
hoffentlich bald in der historischen Welt Mode geworden sein
(vielleicht ist er es schon), auf ähnliche Weise wie der vulgäre
Zusatz „aus den Quellen " auf geschichtlichen Arbeiten aller Art,
der doch, was freilich wunderbar genug ist, nichts weiter als den
Verdächt abwehren will, als sei die Arbeit, wenn auch nicht ans
.den Quellen, doch aus Quellen bearbeitet worden.
Während aber im Mittelalter die Zahl der Urkunden noch eine
Uebersicbt gestaltete, weil man da wie im Alterthume mehr zu
thun als zu schreiben pflegte, so ist die Masse des archivatiscfao
Materials, das die neuere Zeit aufgehäuft, unübersehbar vod der
Sterbliche versinkt in den Labyrinthen der Archive, der es wagt
mit seinem Auge auch nur einen Theil des Leseuswerthen Zu-
fassen zu wollen. In dem Reich der ungeheuren Papierschau*,
die Europa in den Bergwerken seiner Aktenkammern besitzt, geht
die Sonne nicht unter und die Welt, wenn sie käuflich wäre mit
Sonnen und Sternen und Oceanen, wäre der Preis nicht für alle
die Staatspapiere und Documente, dis auf den Millionen euro-
päischer Repositorien ruhen. Und der Herr all dieser Schätze
soll der Geschichtschreiber sein! Er stirbt, bevor die Idee von
der Grösse seines Reichthums mannbar geworden ist; er geht
zum Staub zurück, aus dem er gekommen, bevor er die Staub-
säule durchdrungen, die vor ihm herzieht und die Sonne bei Tag
und den Mond bei Nacht verfinstert; er gleicht dem erdursteuden
Geizhals, der weiter nichts mit dem, was er besitzt, anzufangen
weiss als es zu vererben und durch dieses wachsende, ewig
wachsende Erbe zu tödten. Die Kraft der Typographie ist gegen
diese Masse zu schwach, wir haben nicht so viel Menschen und
Allgemeine Literaturberichte. 569
Geld, um die Registraturen alle unter die Pressbengel zu bringen;
sollte soviel Druckpapier aufgebracht werden, um alles was in
Archiven bewahrt wird , abzudrucken , eine neue Con junctur käme
in die Handels weit und vom Misstsippi bis an den Vatican und
das Secretariat von Scbamyl hörte man einen Schrei des Erstau-
nens. — Vor diesem Reichthum hilft uns nur die Kraft des Ent-
behrenkönnens, die Kraft der Wahl und das Talent und die Ge-
duld für dieselbe. Alle unsere neueren Geschichten werden nur
Skizzen bleiben, weil die Quellen, die sie benutzt, nur ein Theil
gewesen von denen, die die Verfasser benutzen konnten, wenn
sie ewig lebten, und kein Geschichtschreiber, und sei er noch so
genial und vie lärmig wie Briareus und vielköpfig wie die Hyder,
wird eine neuere Geschichte eines Staates* dermaassen zu schreiben
sich unterfangen, dass in ihr nur ungefähr so viel von den ein-
zelnen Personen, ihrem Wertb und ihren Verhaltnissen die Rede
wäre; wie das bei den glucklichen sächsischen Kaisern der Fall
ist, die schon deshalb verdienstreicb und gross sind, weil sie
keine Hunderttausende von Decreten unterzeichnet haben.
Darum scheint uns denn, eine weitere Ausführung ist hier
nicht möglich, vor aUen Dingen den Herausgebern solcher Ur-
kunden an das Herz gelegt werden zu müssen , dass sie bedächtig
wählend und suchend an das Werk gehen und nicht dabei ver-
gessen, dass jeder Papierschnitzel wohl für den Einzelnen aber
nicht für das Allgemeine und Grosse einen Werth haben kann,
dass sie die Kräfte die für solche Werke nöthig sind, eben nur
für Grossartiges und Bedeutendes erschöpfen, über das Uebrige
aber, von „so gelehrten Greifvögeln, den Hütern so vieler Ge-
heimnisse ", wie Stumpf*) sagt, Verzeichnisse abgefasst werden,
Register, dass Jedermann wisse, was da ist, und Jedermann nach
seinen Zwecken das was da ist aussuchen und bearbeiten könne.
Oder glaubt man wirklich, dass alles gedruckt werden könnte?
Und ist es nicht unmöglich, dass jeder, der sich mit neueren
Studien abgeben will, kostbare Reisen mache auf die Speculation
hin, andere Dinge zu finden als er sucht? Panes et Regesta,
schreit die literarische Welt; diese- braucht sie, um bestehen und
etwas leisten zu können, diese sind der einzige Compass, der auf
der Bahn erhält, die man durch diese Quellenmassen macht, diese
das einzige Antidotum gegen das Uebergewicht , das die Summe
handschriftlicher Quellen auf den armen Historiograpben ausübt.
Panes et Indices stürmt man vor allen Bibliotheken, allen Samm-
lungen; der Zufall etwas zu finden muss verbannt werden; wir
*) Diplomatischer Beitrag zur teutschen und europ. Staalengeschichte
etc. von A. S. Stumpf. München, 4817. p. 9.
570 Allgemeine IAteratwrberickte.
woUeo wie gute Baoswirtbe wissen, was wir haben, dann wird
man damit haushalten können und nicht umsonst verscbwend«
Zeit, Papier und Lebenskräfte. — Und wenn einst bereinbruM
der barbarische Norden, wenn einst lodern die Bibliotheken tnd
Archive vor dem Oebermotbe einer neuen papiermüden Wck\
wenn der originale Geist auf den Ruinen HaUeJaja*8 anstimmt,
weil ihm wieder erlaubt ist original zu sein, — dann rettet wohl
Bioer noch die Verzeichnisse dessen, was eine unermüdliche Vor-
welt gethan und die Nachwelt steht dann staunend, wie wir vor
Pyramiden und Labyrinthen, vor cyclopischen Mauern and Aquae-
ducten, vor einem Index und dem gewaltigen Gedanken an seinen
Inhalt und bewundernd freut sie sich dann, wie wir es oft zu
thon pflegen, dass von dem, was sie zerstört haben, der Catalog
übrig geblieben ist. —
Wir kehren zu den oben genannten Bachern zurück. Das
erste ist unbedingt das bedeutendste. Die Regierung Kaiser Karl
des Fünften wird für die neue Zeit immer eine der merkwürdig-
sten bleiben, weil sie zuerst alle die Eigentümlichkeiten des neue-
ren Staatslebens an sich tragt. Bin gewaltiges Reich ans vielen
Nationalitäten, die äusseriioh und innerlich verschieden sind; —
der Strom von Ereignissen, der im Gemüth auf der einen Seile
seine Quelle findet und auf der andern von einer weitverzweigten
so 'verständigen als herzlosen Politik durch Heere bis in andere
Welttheile geführt wird; — die Kampfe, die auf dem geistigen Felde
der Literatur für und wider die Freiheit des Gedankens und der
Wissenschaft hervorbrechen — und über diesem allen und docb m
allem ein grosser Mann, klug und gemessen, schweigsam aarf rast-
los, der Alles sah, Alles bedachte und als alles schwankte, ales
verlies». Karl der Fünfte bat zuerst den gefährlichen und unavv
führbaren Plan gehabt, die Nationalitaten seines Reiches zu ver-
wischen, aus Allem Eins zu machen; ihm misslaog in seiner Klug-
heit, was Philipp II. in seiner Gewalt misslungen war. Es ist der
grtfsste Fehler von Regierungen, die viele Nationalitäten regieren,
dass sie die Sicherheit ihrer Herrschaft in der Verschmelzung der
Nationalitäten finden zu müssen meinen; über diesem Prooess geht
gewöhnlich das, was man sichern will zu Grunde und indem man
die einzelne Nation schützt und nicht in ihrem Theuersten Ehre
und Privilegium verletzt, wird man nie, was man von ihr
fürchtet, zu fürchten haben. Karl V. sagte: „so vüei Sprachen der
Mensch verstehe, so viel Mal Mensch ist er;" auch auf grosse Re-
gierungen ist das anzuwenden; jede Regierung muss so viel Mal
Regierung sein, als sie Nationen feitet und in dieser nationalen
Metamorphose, in der sie wie Proteus mehre Gestalten annimmt,
liegt das einzige Mittel einer guten Volksregierung. Es ist ein
Allgemeine Literaturberichte* 671
tbörichter und ungerechter Krieg, den grosse Regierungen gegen
die Nationalitäten fähren; wie über «in halbes Dutzend Menschen
nur der eine geistige Herrschaft ausüben wird, der jede Subjecti-
vität des Einzelnen kennt und anerkennt, so auch bei Kationen;
im andern Falle hat er Alle gegen sich.
Je bedeutungsvoller Karl V. und seine Regierung, desto wichti-
ger diese Correspondettz, die Dr. Lanz berausgiebt, die Briefe,
Aufträge und Berichte enthalt von Karl an andere Personen und
Anderer an ihn. Diese Briefe haben in der That ein eigeotbüm-
Kobes Interesse auch für den Leser; es ist wahr, was der Heraus-
geber sagt, dass man in die geheime Werkstätte der Seele derer,
die an der Spitze der Dinge (p. XI) stehen geführt wird, und es
wird uns möglich auch über die einzelnen Persönlichkeiten ein
richtigeres Bild zu entwerfen« Der erste Band enthält 2S1 Urkun-
den, von denen das Jahr 1513, 1. 1515. 26. 15ia 2. 1119. 1. 1520.
1. 1522. 13. 1523. 3. 1524. 14. 1525. 20. 1526. 18. 1527. 6. 1528. 10.
1529. 18. 1530. 25. 1531. 106. 1532. 20. haben. Der zweite Band
enthält 333 Stücke, von denen 1532. 43. 1533. 39. 1534. 27. 1535.
23. wovon 7 über den Zug nach Tunis. 1536. 32. 1537. 5. 1538.
10. 1530. 3. 1540. 6. 1541. 8. 1542. 23. 1543. 17. 1544. 10. 1545.
11 1546. 16. 1547. 32. 1548. 10. und 1549. 10. hat, Dazu kommt
noch ein Anhang von 98 Urkunden, die im Indes; zu den bezüg-
lichen Jahren eingereiht sind und meist zu den Jahren 1536 und 37
gehörea Daherkömmt es, dass der Gatalog des ersten Bandes mit No.281
schliesflt und der des zweiten mit No. 285 anfängt Es sind nehmlich
im ersten Bande die zugefügten Stücke bei den bezüglichen Jahren mit
b. etc. bezeichnet worden. Es sind Briefe von Karl an Franz L, an
Papst Adrian VI, Sigismund von Polen, Louise vou Savoyen und aUe
nur irgend bedeutende Personen der Zeit und wiederum dieser an ihn.
Besonders interessant ist 4er Brief des Perserschach's Ismael Sofi
an ihn. Ismael, der Gründer der mächtigen Dynastie in Persien,
war 1514 von Selim dem Sultan der Osmanen empfindlich ge-
schlagen worden und 1518 wieder angegriffen $ er nimmt die Ge-
legenheit von einer Gesandtschaft, die der König von Ungarn an
ihn geschickt und fordert den Kaiser zu einem gemeinschaftlichen
Türkenkrieg auf. Der Brief ist lateinisch und durch den Maroni-
teo Petrus, den der ungarische König an ihn gesandt hatte, erst
im Jahre 1524, wie aus der Antwort Kaiser Karl's vom 25. August
1525 hervorgeht, abgegeben. Er warnt den Kaiser hauptsächlich
vor der Wortbrüohigkeit des Osmanen und unterschreibt sieb Xaka
ismael Sophi Filius Xaiki flidetr. Es sind auch zwei Briefe von
Karl Y. an Ismael Sophi da, der aber bei Abfassung beider schon
todt war. Gleichwohl ist jeder der Briete, einer von 1525, der
andere von 1529, noch an den Ismael Sophi adressirt und so ab-
572 Allgemeine IMeraturberichte.
gefasst, als ob dem Kaiser noch gar nichts von seinem Nachfolger
Tamasp, der 10 Jahre alt auf den Thron gekommen war, ver-
lautet hätte. Er spricht auch vom Othomanus Turcaram Rex,
indem der Name Selim gar nicht genannt und Osman für dm
Beinamen gehalten wird. cf. no. 29. 75. 113. cf. Malcolm Gesch.
v. Persien 2. p. 13. der freilich davon wie von vielem andern nichts
weiss. Ebenso ist ein Brief des Königs von Fez an Karl V. ans
dem Jahr 1528 da in spanischer Sprache (n. 28). Die lithogra-
phischen Tafeln im zweiten Bande enthalten einen Brief Karl's an
die Königin Maria (IL 162.), einen von Andreas Doria an den Kaiser
(IL 165.), einen von Pfaizgraf Friedrich an den Kaiser (IL 205.)
und Markgraf Franz von Saluzzo an den Kaiser (OL 238.) Wer
diese verzuckten altmodischen Schriftzüge sieht, wird auch daraus
das Verdienst und die Kenntniss des Verfassers zu entnehmen
wissen; derjenige, der post Homerös nach Robertson und Ranke
die Zeit Karl's V. beschreiben will, wird ein näheres Unheil über
das Buch zu fallen haben. —
Das zweite Buch ist ein kurzer Abriss der Begebenheiten der
Jahre 1789 und 90 in den österreichischen Niederlanden, der durch
eine Anzahl von 114 bis jetzt unbekannten Actenstücken erläutert
wird. Joseph IL, erfüllt von dem philosophisch toleranten Geiste
des 18. Jahrhunderts beging den Fehler, diesen Geist durch ein
Edict seinen Uoterthanen aufdringen zu wollen; er vergass nicht
npr an den mächtigen Widerstand, den die Neuerung und sei sie
theoretisch auch nooh so vernünftig bei der noch nicht für die-
selbe reifen Population finden würde, sondern auch an die lauernde
Wachsamkeit der Politik in den andern Staaten zu denken, die jeden
Widerstand für sich und gegen ihn auszubeuten versuchten. Europa
stand überhaupt in zwei Lagern einander gegenüber; Russland and
Oestreich gegen Schweden und Osmanen; England mit Preussen
verbunden sah mit schelem Auge auf die Fortschritte der Kaiser
im türkischen Gebiet; die Unzufriedenen in den Niederlanden fan-
den daher leicht Gehör .und Versprechungen in Berlin und im
Haag. Derselbe aufgeregte Geist des Jahrhunderts, der Joseph IL
belebte, hatte, während er die Revolution in Frankreich heraufbe-
schwor, in dön Niederlanden selbst seine Anhänger gefunden, die
das was Joseph wollte bekämpften. Während nämlich die Theo-
kraten, an deren Spitze die Bischöfe und der intriguante van der
Noot nebst andern die Wiederherstellung des alten Zustandes
wollten , waren es die Demokraten oder Vonkisten , die nach ähn-
lichen Gestaltungen wie in Frankreich strebten. Sie hatten den
Bund pro aris et focis geschlossen, der wie Joseph IL schreibt:
„certainemenl coneu avec la plus noire malice," *) dessen Geheim-
*) cf. Ad. Borgnet histoire des Beiges a la fin da 48. siede. Brax.
4844. t. 4. p. 87.
Allgemeine Literaturberichte. 573
niss aber von einem Verräther für 15,000 Florins verkauft ward.
Beide Noot und Vonk waren Advokaten; des ersteren Verhand-
lungen mit dem Grosspensionär der Provinz Holland Mr. van de
Spiegel wird uns durch eine handschriftliche Nachricht desselben
deutlich vorgeführt Der Herausgeber dieses Buches ist der Enkel
dieses Mannes und aus seinem Nacblass stammt der Schatz merk-
würdiger Briefschaften, die neue Notizen für diese Verhaltnisse
geben. Das aufrührerische Land, das sich kaum ein Jahr selbst
zu regieren versucht hatte, ward, nachdem die Convention von
Reichenbach geschlossen war, durch die den Beigen alle Hoff-
nung auf eine Stütze namentlich von preussischer Seite genommen
ward, *) leicht von österreichischen Truppen besetzt; die Anführer
flohen bei ihrer Annäherung nach allen Seiten und alles kehrte
wieder in die alte Ordnung zurück, um bald darauf durch die
Franzosen einen noch stärkeren Stoss zu erleiden.
Das dritte König Wilhelm II. gewidmete Buch enthält nach
einer kurzen Einleitung 68 auf Öffentlichen Befehl edirte Urkunden,
von denen 1 in das 11. Jahrhundert, 1 in das 12., 28 in das 13.,
24 in das 14., 5 in das 15. und 19 in das 16. gehören. Ausserdem
ist der Inhalt von 66 andern angegeben. Alle sind zweckmässig
mit Noten und Erklärungen versehen; ein Index über den Inhalt
aller Urkunden fehlt zwar, aber dafür sind zwei andere, ein Re-
gister „van Personen en Plaatsen" von Personen und Ortsnamen
und eins der „verklaarde Woorde en Spreekwyzen" der erklärten
dunkeln Worte und Redeweisen angefügt. Es sind sehr merk«
würdige Briefschaften darunter, so p. 107. die Rekening van krijgs-
kosten en soldisen vor elk der Hollandsche ridders en Edelen,
gediend hebben, de in het leyer van den grave van Holland in
den krijgstogt tegen Viaanderen, d. h. die Berechnung des* Soldes,
*) Noch am 6. August 4790 halten die Niederlande einen flehenden
Brief an den König von Preussen abgeschickt. Darin heisst es (p. 304):
„Les Beiges qui cnerchoient depuis bien du temps, oü ils vous dresseroient
le plus glorieusement une stalue, comme les Amencains ont expose celle
de Louis XVI. a la gratitude publique .... Vous aves plaide, Sire, victo-
rieusement la cause des Barbares, des ennemis du genre humain, des Turcs
en un mot, tant eloignes de vous, parceque leur cause etoit juste. Vous
avez reconnu, Sire, la justice de la nötre; Vous en avez et6 le premier
arbitre; votre justice ne vous permettra jamais de l'abandonner, car vous
abandonneriez la völrel" Die Antwort kalt und verneinend; doch ausein-
andersetzend und erklärend, wie man dies zu thun pflegt, wenn man etwas
Versprochenes abschlagen muss. Folgende Stelle ist interessant (p. 34 0):
„Comment le roi, mon maltre, m6riteroit-il le titre honorable et flatteur
pour tout souverain, qui tlent uniquement au bonheur de ses peuples et
de l'humanitä, d'ange de paix, s'il entamait une guerre, dont le motif se-
rait en contradiction avec cette meme justice, que vous lui attribuez ä tant
de titres." ....
574 Allgemeine LUeratwrberickU.
welchen der Graf von Holland seipen Rittern und Edefci , die mit
ihm gegen Flandern sogen, getahlt bat, und ebenso ist p. 198. die
„Verbaal van den ooraprong der Hoekscbe en kabeljaaawecbe
twisten44 deren Verfasser man nicht kennt, and die so anfängt:
„dril est II declaration et maniere eomment medame ü contesse
entra en possession de ses pais de Haynau, de Hollande, de Zu-
lande et signerie de Frise" wichtig und interessant. Zuletzt will
ich noch aus p. 277. den kurzen aber röhrenden Brief des Grata
Egmont hersetzen, den er am 6. Juni 1568 am Tage, da er sein
Todesurtbeii erfuhr, an König Philipp EL schrieb: „Sire. J*ai es-
tendu ce matin la sentence, qu*il a ptai a Vre Majeste faire decreter
contre moit et combieo, que jamais mon fntention n'ait este de
riens traicter ni fahre contre la personne ny le Service de V»
Mai* ny contre nostre vraye anchienne et catholicqoe religion sy
estre je prens en pacience ce qoü piaist a mon bon dieu de
menvoyer et sy jay dnrant ces troubies conseühe an premier de
faire qaetcqoe obose, qui semUe aaltre, ce a este touqonrs aveoq
une vraye et bonne intention en Service de dieu et de V«« Ma*»
et poor la necessite da tamps. Parqnoy je prie V~ IIa*» me le
pardonner et avoir pUie de ma povre femme et enffans et sero»
teure. Vous souvenant de mes Services passez et soobs osst
espoir men voys (vais gebe) rendre a la miserieorde de dieo.
De Bruxelles prest a merir, le VI. de Juin 1568. De V»
Ma*» tras humble et leal vassal et serviteur Lemoral cffigmoot.
Das Schreiben ward von dem Bischof von Gypern Martinas ly-
thovias an Philipp gesandt und mit einem schönen lateiofectes
Schreiben begleitet, worin er das gute Cbristenthnm Egmonft b*
zeugt und eigene Bitten mit denen Egmont's vereinigt (p. 277-481V
Histoire des Beiges a la fln du dix-huitieme «iecle avec une inlro-
duction, cootenant la partie diplomatique de cette histoire peodaot le«
regne« de Charles VL et de Marie Tberese, par ad. Borgnet, profeasear
a 1'nniversUe de Liege, membre eorraspoadaat de l'acadömie royale des
adeecee et belies lettre« de Bruxelle«. Tome« I. *, Braxetlea, 4 Sa 4« 8.
(346 attd 430 S.)
Schon im Jahre 1S34 hatte Hr. Prot Borgnet seine lettre« sur
la revolution brabanconne veröffentlicht; jetzt, nachdem eine Reihe
anderer, namentlich diplomatischer Arbeiten vorhergegangen sind,
wird von ihm das Resultat dieser und seiner eigenen neuen Stu-
dien dazu angewandt, um eine klare, parteilose und ehrliche
Darstellung der Schicksale Belgiens am finde des 18. Jahrhunderte
zu geben.
In der kurzen Vorrede bespricht er die Werke ähnlichen In-
halts die er benutzt hat; erkannt mit Recht die Verdienste Van
de Spiegel's und Gaehard's, erklärt sich aber gegen die leichte
Altgemeine Literaturberichte. 575
Manier, mit der Legrand und der Abbe" Janssens zu arbeiten
schienen. An Letzterem rügt er mit Recht die Benutzung des be-
rüchtigten Pamphlet's „les masques arracheV, das der Spion und
Parteigänger Robineau verfasst hat Borgnet giebt in seiner 5. Note
1. p. 279. etc. mehre Notizen über denselben. Dieser Mensch,
ein geborner Pariser, kam im Jahr 1789 nach Belgien, wo er allen
Parteien diente „um sein Glück zu machen**. Gegen Van der
Noot schrieb er ein Drama und den Roman „les masques arracbes
par Jaques Lesueur, espion bonoraire de la police de Paris et cK
devant employe du ministire de France, en quahtö de clairvoyant
dans les pays-bas autriohiens. " Er nannte sich gewöhnlich Beau-
noir, wie auch das Drama „Van der Noot" unter dem Namen
Van Schönswaartz erschienen ist; doch trug er auch andere
Namen, wie den eines Baron's von Bamberg. .Er hatte Van der
Noot Anerbietongen gemacht, da dieser noch in Macht und Blüthe
war, soll' aber nach einer Nachricht Vonck's deshalb abgewiesen
worden sein, weil er der Madame Pinau, der Maitresse Van der
Noots, nicht genug den Hof gemacht hatte. Daher auch jener
LibeRistengroll. Dem Grafen von Metternich soll er als Spion ge-
dient haben, der sich oft stundenlang mit ihm unterhalten habe,
während an 50 Personen in der Antichambre warteten, um den
Grafen zu sprechen. Der Graf von Trautmannsdorff erkundigte
sich, ob dies wahr wäre und ob Beaunoir wirklich das Vertrauen
Metternich's gehabt hätte und äusserte, als man ihm dies bejahte,
es sei nicht zu begreifen, wie der Minister diesen Mann, der in
seinem Werke „les masques arracheV einen Coüegen so misshandelt
hatte, zu sich heran habe kommen lassen können (tom. DL p. 413.).
Ueber die Art und Weise, wie Borgnet arbeitet und dieser
Arbeit' die äussere Form giebt, spricht er sich ebenfalls aus: „En
Allemagne, sagt er, on cite considörablement, tandis, qu'en France
la mode semble plre\aloir de ne plus citer du tout, Systeme ex-
cellent pour cacher les emprunts; ä mon avis les citatioos sont
indispensables dans un ouvrage historique; seulement il ne faut
pas en abuser, et je crois ne pas avoir m6rit6 ce reproche" (p. XI.).
Im ersten Bande schildert er die Gründe der belgischen Re-
volution, die er mit allen andern Uebelstanden in der Abwesenheit
der Landesverwaltung findet. Nur durch nationale Administration
kann ein Land vor dem Unglück bewahrt werden, von dem Bel-
gien betroffen ward. Er schildert dann aus allen möglichen und
zugänglichen Quellen, aus Broschüren und handschriftlichen No-
tizen die Ereignisse bis zur Convention von Reichenbach und
seinen unmittelbaren Folgen.
Der zweite Band entwickelt die Verhaltnisse während der In-
vasion der Franzosen, die Verhältnisse Dumouriez'«, die Stimmung
576 Allgemeine Lileraturberichte.
der Nation in der Zeit, die Ungerechtigkeiten, die die Franzosen
der Nation zugefügt; in den Anhängen werden interessante Doch-
mente mitgetheilt. In den Listen der Männer, die an den da-
maligen Dingen tbeilgenommen haben, wird mehr wie ein Belgier,
wie er sagt, seinen Vater,. Ahn, Verwandten finden (p. XU),
Von interessanten Notizen, die mitgetheilt werden, erwähne ich
zwei Aeusserangen Dumoariez's, die mir weniger bekannt 20 sein
schienen. Der Commissar Chaussard, der den Vornamen Publicola
trug, beklagte sich über eine etwas energische Ordre; sie schien
ihm von einem Vezier dictirt zu sein; der General antwortete:
„Allez Mr. Chaussard, je ne suis pas plus vezir, que vous n'6les
Publicola" (IL p. 253.). Ebenso soll einst ein anderer Commissar
Camus zu ihm pathetisch gesagt haben: „General, on vous accuse
d'6tre Cäsar, si j'en elais sür, je deviendrais Brutus et vous
poignarderais". Dumouriez erwiedert ruhig: „Afon eher Camus,
je ne suis point Cäsar, vous n'6tes point Brutus, et la menace
de mourir de votre main est pour moi un brevet dlmmortaüte"
(IL p 287.). Das Werk verdient von Männern, die an denselben
Quellen wie der Verfasser stehen, die genaue Prüfung, die er
verlangt; hier wird es blos erwähnt als abschliessend gründlich
und von einem gesinnungsvollen Geist belebt, d. h. als bedeutend.
H i 1 c e 1 1 e n.
Bemerkungen zu der Recension der Schrift: K. GL Freih. v. Levtscb:
üeber die Beigen ü. s. w. (s. Bd. IV. S. 192. ff.) *)
Audiatur et altera pars!
•
Um dem Verdacht zu entgehen, als habe ich meine Eddischen Stu-
dien übereilt und ohne die erforderliche Wissenschaftlichkeit getrieben,
muss ich zu der (p. 494. ausgesprochenen) Behauptung, ich hätte ,,für
das 10., 4 4. oder 43. Jahrhundert einen Unterschied zwischen der dä-
nischen und isländischen Sprache gemacht", bemerken, dass ich die Edda,
von deren Uebersetzung in das Dänische und Isländische es sich handelt,
hauptsächlich in Beziehung auf ihren mythologischen Inhalt geprüft und
bearbeitet habe, und dabei fand, dass ein Däne ihr eine dänische Bei-
mischung gegeben habe, ein Isländer dagegen eine nicht- dänische. Zu
welcher Zeit nun die hiernach vorausgesetzte dänisehe Uebersetzung ver-
*) Unter dltser Aufschrift ist ans du folgend« Schreiben zugegangen, das wir
wörtlich mitzvtueilen kein Bedenken tragen. Red*
Miscellen. 577
fertigt worden, darüber habe ich kein Datum gefunden, die isländische
aber aus den in meinem Gommentar angeführten philologischen Gründen
in den Anfang des 4 4« Jahrhunderts gesetzt. Dass in den früheren Jahr-
hunderten, vor dem 44. Jahrhundert, die danisch -scandischen Sprachen
von der isländischen zu trennen gewesen wären, habe ich durch den
betreffenden Ausdruck nicht behaupten wollen.
Dass auch der Name der Segni oder Sunici eine Unwahrheit sei, wird
mir ebenfalls ohne Grund zugeschrieben (p. 499.)* vielmehr ist der deut-
liche Sinn meiner Worte, Cäsar habe als Eroberer und jure belli die
beiden besiegten Völkerschaften der Gaeraesi und Paemani in diese Eine
der Sunici vereinigt, auch mit einem neuen Glauben ausgestattet, in
welchem er die Sonnengöltin in einen Sonnengott verwandelt habe. Hier
hatte mich also der Recensent ganz falsch verstanden. — Was aber die
übrigen Abweichungen von meinen Ansichten betrifft, so kann ich um so
weniger einen Anstoss daran nehmen, wenn irgend wer sich dadurch
überrascht findet, weil ich selbst früher der eifrigste Vertheidiger der
Ueberzeugungen gewesen bin, die meine Recensenten, sowohl Herr P. F.
Stuhr In Berlin, als der ungenannte in Heidelberg (Jahrb. 4844. 49. SO.)
ausgesprochen haben; wenn ich aber meine früheren Ansichten nur aus
wissenschaftlichen Gründen geändert habe, die auch jedesmal gewissen-
haft beigefügt sind*), so wird jeder einzelne Punkt auch nur mit jedem
einzelnen ihn stützenden Grund umzustossen sein, und bis das geschehen,
die Sache bei jedem wissenschaftlich gebildeten Leser wenigstens noch
in suspenso bleiben müssen. Und wenn denn auch alles, was sowohl in
Betreff der Geschichte als der Etymologie und Mythologie im Vorbeigeben
mit erwähnt wurde — und über diese Nebensachen allein lassen sich meine
Beurtheiler hören! — wirklich unrichtig wäre; so würde doch mein Buch
als erster Versuch die so überaus intricate Geographie des linken Rhein-
ufers und der belgischen Provinzen ganz aufs Reine zu Dringen**),
bei jedem, der sich mit diesem Gegenstand einmal ernstlich beschäftigt
hat, oder damit beschäftigen muss, einiges Interesse erwecken müssen. —
Daher ich , diese Recensiou der Ungerechtigkeit und Ungründlichkeit be-
schuldige.
Warum aber für den Ausdruck „in seiner Gewalt" nicht lieber der
„in der Tasche" gewählt worden ist, diese p. 4 94. aufgeworfene Frage
findet ihre Erledigung darin, dass der gewünschte Ausdruck einer andern
Stelle vorbehalten blieb, und der Satz amant alterna'Camoenae beachtet
wurde; und wenn Herr P. F. Stuhr die von mir versuchte Deutung und
Ableitung des Worts „Wechselbalg", die ich durchaus Niemandem aufdringen
will, durch eiue passendere, erschöpfendere und sprachlich richtigere er-
setzt, so bin ich sofort erbötig, die meinige ganz fallen zu lassen, ja sie
förmlich zu anathematisiren.
Und das also beträfe die Sachen; den Styl aber und die einzelnen
Ausdrücke, woran auch getadelt wird; so« muss ich den unparteiischen
Leser darauf aufmerksam machen, wie ich nicht so glücklich bin, unter
die Zahl derjenigen Schriftsteller zu geboren, von denen jedes Wort ihrem
Publikum gefällt, und denen es also erlaubt ist, sich ganz so zu geben,
wie sie sind, und weitläuflig sich auszusprechen; sondern ich musste
suchen in der möglichsten Kürze Diejenigen mit meinen Ansichten bekannt
*) Aber diese meine Grunde erwähnen meine Recensenten gar nicht, als ©I» sie
nirgends rprbanden waren! Sind das nickt Recensenten!
( **) Mit diesen geographischen Untersuchungen beschäftigt sich das Buch hlos
seinem gansen Inhalt nach, eben so wie die beigegebene Karte; es hat aber
mein Recensent, der p. 196. die Wahl des Titels sich nur durch eine Muthmaassung
zu erklären im Stande ist, nichts davon finden können! fli
Im! Hm!
578 Miscellen.
zu machen, denen der Zufall meine Schrill in die Hände warf, daher ich
meist die Sache aelbst reden liesa, mein Urtheil aber ao kurz und also
auch ao acbarf wie möglich daneben atellte. Daaa daran niemand gebsa-
den Ist, der ea beaaer weiss, versteht sich von selbst; wenn ea mir ab«
dabei entführ, die Academieten Karls dea Grossen „Bsel" za nennen, so
möge jeder, ehe er mich dessbaJb verdammt, doch nur bedenken, wie ich
ea als Aufgabe meines ganzen wissenschaftlichen Studiums angesehen hatte,
die AnMnge der deutschen Geschichte an das Licht zubringen, die deut-
ache Mythologie und die deutschen AJterthttmer auf Eine Linie mit den
griechischen und römischen zu stellen, wie mir das, wie leb wissenschaft-
lich Überzeugt bin, In meinem Eddacommentar endlich auch gelungen ist;
ehe ich aber dahin kam, ehe Ich nur ao weit kam zu vermuthen, das«
die isländische Edda etwas dahin Einschlagendes und den Schlüssel dazu
wirklich enthalten könne, hatte ich doch die verschiedenen alten Schrift-
steller, die von Deutschland handelten in den besten Ausgaben mir an-
schaffen, sie durobetudlren, mit den Forschungen der Neuern vergleichen,
die ganze merovinglache Periode auf das Speclellste durchgeben, und also
manches Jahr meines Lebens und viele 400 ThaJer daran wenden müssen,
und war doch — von der einzigen Edda abgesehen — am Kode grade
ao weit ala am ersten Anfang. War ea nun, da ich mich überzeugte, die
Mönche der Academia Carolina hätten mir diese vergebliche Arbeit und diese
vergeblichen Unkosten dadurch verursacht, daas sie die deutseben Alter-
thümer gänzlich entstellten; war es mir zu verdenken, daas ich ihnen einen
Titel gab, den sie zwar nicht beansprucht, doch aber überflüssig nicht blos
an mir, sondern an jedem verdient hatten, der die deutschen AJterthttmer
auch nur einigermaassen in eine wissenschaftliche Gestalt zu bringen, und
sie mit einer den Forderungen der Kritik entsprechenden Form zu ver-
sehen bestrebt ist?
Wetzlar, den 4 0. September 4845. K. Ch. Freiherr von Lettisch.
P. S. Sollte Übrigens Herr P» F. Stuhr über diese meine Bemerkun-
gen sich im Geist seiner Recension weiter auslassen, so kann ich nfcto
dawider haben ; sollte aber Derselbe oder ein Anderer der Herrn M itaras/ter
der Zeitschrift wissenschaftlich begründete Ausstellungen über Einen
oder den andern Puukt machen wollen, und die Redaction im Interesse
der Wissenschaft Auskunft von mir darüber wünschen, und mich aant
auffordern, so bin ich auch hierzu jederzeit bereit; indem, wer seinen
Lesern wissenschaftliche Wahrheiten, sei ea zu deren ungeheurer Heiter-
keit, sei es als Sauerkraut zugerichtet, vorsetzt, ihnen darüber auch Rechen-
schaft zu geben, ohne Zweifel verbunden ist.*)
Datum ut supra. Karl Christian, früher Herr, jetzt
fatis nolentem cogentibus
Freiherr von Leutach.
•) Wir enlkelten ans um m mebr «Her Er wiedervag, ab wir der Her»aagae>* des
too dea Herrn Freifeerrn versprochenen Werkes mit Begier ge wirtig sied. Red.
*
Nachwort des Herausgebers.
Mit dem Beginn des dritten Jahrganges der Zeitschrift
für Geschichtswissenschaft werden einige Modificationen ein-
treten, die wir in der Kürze hier vorläufig bezeichnen wollen.
1) Wird sie fortan unter dem Titel „Allgemeine Zeit-
schrift für Geschichte" erscheinen, ohne darum von dem
bisher Verfolgten grundsätzlich etwas aufzugebeq; eher viel-
mehr wird sie den Kreis ihres Inhaltes, so weit der Raum
es gestattet, noch zu erweitern trachten.
*2) Die vaterlandische deutsche Geschichte soll in
noch ausgedehnterer Weise als bisher in den Vordergrund
treten, dergestalt, dass neben ihr die ausserdeutsche Ge-
schichte soweit sie auf gleicher Wurzel oder gemeinsamen
Trieben beruht am meisten berechtigt sein, aber auch der
Zusammenhang der europäischen Entwicklung sowie der
menschheitlichen überhaupt nicht ausser Acht gelassen, und
kein einziges Moment der besonderen Völker- und Staaten-
geschichte absichtlich übergangen oder gar principiell ausge-
schlossen werden soll.
3) Innerhalb der deutschen Geschichte selbst wiederum
wird namentlich auch die staatliche Entwicklung der
neuesten Zeit in höherem Maasse, als dies bisher der Fall
sein konnte, in Betracht gezogen werden. Es ist dies nicht
nur ein Recht, sondern eine offenbare Pflicht der historischen
Wissenschaft, der sie um so weniger sich entziehen darf, je
mehr die Spannungen der Gegenwart der Lösung bedürftig
sind, und je zuversichtlicher grade von ihrer Seite eine ernste
und ruhige Erwägung des Tbatsachlichen , des Gewordenen
wie des Werdenden, sich erwarten lässt.
4) Wird sie fortan neben den schon eingeführten allge-
meinen Literaturberichten, die wir durch eine spätere Reform
praktischer zu gestalten hoffen, uftter einer besondern Rubrik
„Angelegenheiten der historischen Vereine" über
580 Nachwort des Herausgebers.
den Stand derselben im Ganzen und im Einzelnen eine fort-
laufende Auskunft ertheilen, über ihre mannigfaltigen Be-
strebungen Bericht erstatten, ihre Pablicationen kritisch ta-
urtheilen und von Zeit zu Zeit in einer wissenschaftlich
geordneten Uebersicht zusammenstellen, überhaupt aber in
jeder Beziehung und nach allen Seiten hin die Interessen
derselben in geeigneter Weise wahrzunehmen suchen. Es
kann dies natürlich nur ein Versuch sein, der bei mangel-
hafter Unterstützung von Seiten der Vereine selbst not-
wendig scheitern muss, der aber im Falle eines allgemeinen
freundlichen Entgegenkommens sicher zu einem gedeihlichen
Ziele fuhren und unsere Zeitschrift, wie es von Vielen ge-
wünscht wird, allmäblig zu einem vermittelnden Organe aller
historischen Vereine Deutschlands heranbilden würde. Nähere
einleitende Erörterungen verspäten wir auf die ersten Hefte
des neuen Jahrgangs.
5) Werden wir bemüht sein, auch die grösseren Beitrage,
so oft als es irgend zulässig erscheint, in einem und dem-
selben Hefte zum Abschluss zu bringen. Denn wo nicht
weite Räume zu Gebote stehen, da ist gewiss die Wahrung
des Gesammteindruckes dem Streben nach bunter Mannig-
faltigkeit des Inhalts vorzuziehn.
Schliesslich bemerken wir noch, dass der im Januarheft
des vorliegenden Jahrgangs begonnene Aufsatz über Denk-
und Glaubensfreiheit wegen zu grosser Ausdehnung nicht in
der Zeitschrift fortgesetzt werden konnte.
Berichtigung zum vierten Bande«
Seite 395 Zeile 9 von unten ist Niem zu lesen statt Niens.
Gedruckt bei Julius Sitlenfeld in Berlin.
IntialtoverzeictmUsk
feite
Beinrieh der Löwe. Anfänge Lübecks. Von Hüllmaan . . I
Betrachtangen über Sozialismus und Com raun ismus. Dritter
Artikel. Von Prof. W. Röscher 10
Neuere Erscheinungen der historischen Literatur in Italien. Zwei-
ter Artikel. Von Dr. W. Giesebrecbt 29
Die griechische Komenverfassung als Moment der Entwickelung
des Städtewesens im Alterthume. Von Dr. K. Kuhn . . 50
Allgemeine Literaturberichte. Von Adolf Schmidt und Dr.
M. Hertz 88
Rom.
Scheiffele, 1. , Jahrbücher der römischen Geschichte . . 88
Becker, W. A., Handbuch der römischen Alterthümer , . 89
Drumano, W., Geschieht« Rom's in seinem Uebergange von
der republicanischen zur monarchischen Verfassung . . 91
Bahr, J. C. F., Geschichte der römischen Literatur ... 93
Ambrosch, J. A., Ueber die Religionsbücber der Römer 94
Co rasen, De poesi Romana antiquissima 95
Gerlach, F. D., G. Lucilius und die römische Satura . . 96
Dissertationen und Programme 96
Ueber die Entwicklung der deutschen Historiographie im Mittel-.
alter. Von Prof. G. Waitz. Schluss 97
Ueber das Unterrichts wesen der Jesuiten. Von Dr. R. W i 1 m a n s 114
Zur Geschichte des Kaisers Julian. Von Dr. W. Teuf fei . 143
Ueber Kruse 's Necrolivonica. Von Prof. L. Giesebrecht 161
Allgemeine Literaturberichte. Von Adolf Schmidt, E. G.
J. Grotefend und P. F. Stuhr 178
Rom.
Lieberkuehnius, Vindiciae librorum injuria suspectorum 178
Christen th um.
Werner Hahn, Das Leben Jesu 180
Germanen- und Kelten th um.
, Ukert, F. A., Germania nach den Ansichten der Griechen
und Römer 182
Müller, Hermann, Das nordische Griechenthum . . . 188
Obermayr, Jon. Nep., Teuton, oder die gemeinsame Ab-
stammung der germanischen, gallischen und gothischen
Völker von dem Urstamme Skandinaviens 190
Leutsch, C. Gh., Frelb. v., Ueber die Beigen des Julius Cäsar 192
Miscellen 196
Ueber den zweiten Kreuzzug. Von Prof. v. Sybel . , . . 197
Ueber den neuesten Stand der Geschichte der römischen Re-
publik. Von Dr. K. W. Nitzsch 229
Allgemeine Literaturberichte. Von Ph. Jaffe, P. F Stuhr,
S. Cassel und B. Könne 272
Deutschland und die Schweiz.
Klippel, Historische Forschungen und Darstellungen . . 272
Höfler, Kaiser Friedrich II. • 275
Stillfried - Rattonitz, die Burggrafen von Nürnberg im XII.
und* XIII. Jahrhundert 284
Zeuss, die freie Reichsstadt Speier vor ihrer Zerstörung 286
Meyer, die WaldAätte vor dem ewigen Bunde von 1291 . . 287
Rodt, die Feldzüge Karls des Kühnen ....... 289
Inhaltsverpeichniss.
Seite
Zusätze zu der Abhandlang über Manetbo und die Hundsstern-
periode (Bd. E) ffl
Anmerkung des Herausgebers . . $2
Ueber Pombal, insbesondere seine Reformen in der Verwal-
tung. Von Prof. Dr. Schäfer W
Die Fürstin Margarethe von Anhalt, geborne Markgräfin von
Brandenburg. Aus archivalischen Quellen. Von J. Voigt 327
Nordamerica und Buropa. Eine Bemerkung. Von J. W. L o e b e 1 1 359
Heinrich Pfeifer und Thomas Münzer in Mühlhausen. Eine
urkundliche Mittheilung aus der Mühlhauser Chronik von
Dr. F. A. Holzhausen 365
Allgemeine Lileraturberichte. Von S. Cassel . . . . .394
Deutschland.
Micus, Franz Joseph, Denkmale des Landes Paderborn 394
Miscellen: *. Das Mainzer Archiv. Von Klüpfel 396
Leben und Verdienste des Laurentius Valla. Von Professor
C. G. Zumpt 397
Deutschland und Gustav Adolf. Von Dr. RudolfKöpke . 43J
Erinnerungen an Francois de la Noue und dessen Vorschläge
zur besseren Bildung des jüngeren französischen Adels.
Von E. G. Vogel , Ö
Allgemeine Literaturberichte, Von P. F. Stuhrund S. Cassel 472
Deutschland und die Schweiz.
J. Greve, Geographie und Geschichte der Herzogtümer Schles-
wig und Holstein . 472
Die Schlacht bei St. Jacob 479
Das vierte Säcularfest der Schlacht bei St. Jacob . . , 479
Carl Emil Gebauer, Kunde des Samlandes 481
Bugen Huhn, Quellen der badischen Geschichte ... 482
Abhandlungen und Programme 484
Deutschland und Gustav Adolf. (Fortsetzung und Schluss.)
Von Dr. RudolfKöpke $
Ueber die neueste Auffassung der französischen Revolution,
mit besonderer Beziehung auf Capefigue. Von Prof. Dr.
Zimmermann $*
Nachtrag zu dem aufsatz über das zu abend speisen bei den
göttern, im dritten bände dieser Zeitschrift. Von Jacob
Grimm 544
Zur Philosophie des Staats und der Geschichte. Vom Heraas-
geber • • • n
Allgemeine Literaturberichte 567
Deutschland, Belgien und die Niederlande.
Lanz, Correspondenz des Kaisers Karl V 567
Spiegel, R6sum6 des Negociations qui accompagnerent la
revolution des Pays-bas Autrichiens 567
Van den Bergh, Gedenkslukken tot opheldering der Nieder- r
landsche Geschiedeniss, opgezameld uit de Archiven te Ryssel 5o<
Borgnet, Histoire des Beiges ä la fin du dix-huitieme siecle 574
Miscellen: 3. Bemerkungen zu der Recension der Schrift: K. Cb.
Freih. v. Leutsch: Ueber die Beigen u. s. w. (s. Bd. IV. S. 4 92 ff.) 576
Nachwort des Herausgebers .- . . . 579
Berichtigung zum vierten Bande • *w
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