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Full text of "Zeitschrift für Geschichtswissenschaft"

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Zeitschrift 


für 


Geschichtswissenschaft. 


Unter  Mitwirkung  der  Herren 

A«  Boeckh,  J.  und  W.  Grimm,  6*  H.  Pertz  and  L.  fUnke 

herausgegeben  '     S 


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von  v"*9       ..,>.; 

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Dr.  W.  Adolf  Schmidt, 

ausserord.  Professor  der  Geschichte  an  der  Universität  zu  Berlin. 


Vierter     Band« 


Berlin,   1845. 

Verlag  von  Veit  und  Comp. 


Heinrich  der  Löwe.    Anfänge  Lübecks* 


Heber  die  allmählig  zu  Deutschland  gezogenen  slawischen 
Länder  an  der  Ostsee,  Wagrien,  Mecklenburg  und  Pommern, 
ist  schon  im  früheren  Mittelalter  einiges  geschichtliche  Licht 
verbreitet  worden.  Bereits  im  neunten  Jahrhundert  ist  die 
ganze  Gegend  unter  dem  Namen  Wendland  bekannt  gewe- 
sen, angelsächsisch  Wineda-Land.*)  Neben  den  verdienstli- 
chen Bemühungen  christlicher  Geistlichen,  und  den  Erobe- 
rungen sächsischer  Nachbaren  hat  zur  Kenntniss  dieser  Kü- 
stengegenden der  Waarentausch  beigetragen,  auf  den  gegen- 
seitig das  Bedürfniss,  oder  Eitelkeit  und  Sinnlichkeit  geführt 
haben.  Wie  sich  aber  fast  überall  die  Anfänge  eines  Völker- 
schädlichen  Verkehrs  im  Dunkel  verlieren,  so  sind  auch  in 
dem  scandinavisch-  wendisch-  sächsischen  die  ersten  Tausch- 
plätze unbekannt.  Da  ist  denn  aus  Missverstand  und  entstell- 
ten Ueberlieferungen  der  weit  getriebene  und  lange  fest  ge- 
haltene Wahn  entstanden  von  einer  an  dieser  Küste  einst 
blühenden,  grossen  und  reichen  Handelsstadt  Wineta,  ein 
Seitenstück  zu  Thule  und  Atlantis. 

Wenn  es  fast  ganz  an  Nachrichten  fehlt,  an  welchen  sla- 
wischen Landungsplätzen  der  früheste  Umsatz  zwischen  den 
nordischen  und  sächsischen  Handelsleuten  Statt  gehabt  habe, 
so  ist  doch  die  Strasse  ziemlich  deutlich  zu  erkennen,  auf 
welcher  die  Güter  durch  Ost-  und  Westphalen  geführt,  und 
auf  Seitenwegen  weiter  vertrieben  worden:   von  Bardewik, 

*)  Des  Königs  Alfred  Beschreibung  des  nördlichen  Europa, 
deutsch  in  Försters  Geschichte  der  Entdeckungen  und  Schiffahr- 
ten im  Norden,  S.  79.    Auch  in  Scblözer's  Nestor  II.  67. 

Zeitschrift  f.  GetchichUir.  IT.   1845.  ± 


2  Heinrich  der  Löwe. 

einem  früh  und  stark  besuchten  nordsächsischen  Handels- 
platze,*) über  Magdeburg  und  Goslar,  durch  Westphalen,  gros- 
sentheils  über  Soest,  nach  Köln  und  Thiel.  Der  Zwischen- 
handel Magdeburgs  und  Goslars  von  Bardewik  bis  an  den 
Miederrhein  und  die  Waal  erhellt  aus  einem  königlichen  Frei- 
briefe, worin  erklärt  wird,  dass  die  Kaufleute  der  beiden  erst- 
genannten Orte  durch  ganz  Deutschland  zollfrei  gewesen,  nur 
nicht  an  den  Zollstätten  von  Bardewik,  Köln  und  Thiel/*) 
Der  Ruf  von  Soest,  als  einem  volkreichen  und  wohlhabenden 
Orte,  reicht  hinauf  bis  in  das  zehnte/**)  ja  das  neunte f) 
Jahrhundert 

Die  auf  diesem  Wege  umgesetzten  Waaren  standen  in 
genauem  Zusammenhange  mit  dem  Ganzen  des  Zeitalters  und 
der  Stufe  seiner  Bildung,  mit  seinen  eigenthümlichen  Genüs- 
sen, Kleidertrachten,  Kriegsbedürfnissen,  Kirchengebräuchen» 
Vorurtheilen  und  Verirrungen  der  Einbildungskraft;  ein  eitles 
Beginnen  daher,  von  einem  Zeitalter,  das  sich  überlebt  hat, 
einzelne  Theile  entlehnen,  und  sie  in  das  Ganze  eines  späte- 
ren einfugen  zu  wollen,  da  doch  wenigstens  die  unzertrenn- 
lich damit  verbundenen  ebenfalls  mit  eingeschaltet  werden 
müssten.  Von  den  Erzeugnissen  des  Nordens  kommen  am 
häufigsten  in  den  Handel  getrocknete  Fische  zur  Kost  an  Fast- 
tagen, Wachs  zu  dem  starken  Verbrauche  von  Kirchenlichtern, 
Honig  zu  Speisen  und  Getränken,  Eisen  und  Stahl  aus  Schwe- 
den zu  vielen  unentbehrlichen  Geräthen,  Werkzeugen  und 
Waffen.  Nach  Häuten  und  Fellen  für  die  Werkstätten  der 
Gerber,  Sattler,  Riemer  und  Handschuhmacher  war  die  Nach- 
frage allgemein;  denn  die  Hauptstärke  eines  Heeres  bestand 
in  der  Reiterei,  auf  die  Jagd  begab  sich  der  Gutsherr,  wie 
der  Bischof  und  der  Abt,  nur  zu  Pferde,  und  ebenso  gescha- 
hen fast  alle  grösseren  Reisen.     In  Pelzwerk  wurden  sehr 


+)  Ottonis  I.  dipl.  965,  ap.  Schlöpke,  Chronicon  von  Barde- 
wik p.  159. 

**)  Lotharii  regis  dipl.  a.  1134,  in  Heineccii  anliqq.  Goslar, 
p.  139  extr. 

♦*»  Narratio  a.  937:  Leibnitz.    Script!.  Bruns.  I.  399  extr. 

t  Vila  S.  Idae,  ibid.  p.  177. 


Anfänge  Lübecks.  $ 

bedeutende  Geschäfte  gemacht.  Der  grosse  Kaiser  Karl  hatte 
seinen  Schafpelz  getragen;  den  fanden  die  deutschen  Fürsten 
und  Ritter  zu  gemein,  mit  köstlichem  Wildwerk  aus  dem  ho- 
hen Norden  mussten  die  Feierkleider  gefüttert,  wenigstens 
verbrämt  sein;  ja  wegen  des  mannhaft;  gebietenden  Ansehens, 
das  solcher  Pelz  zu  geben  schien,  maasste  sich  ihn  der  zünf- 
tige Adel  spät  noch  als  Auszeichnung  an,  die  dem  Gewerb- 
stande untersagt  sein  sollte.*) 

Bei  den  Fürstenmänteln  ist  hierin  die  Hoffart  am  weite- 
sten gegangen,  im  Süden  und  Norden.  Die  Pelzfürsten  (prin- 
cipes  pelliti)  und  die  Purpurfürsten  (principes  purpurei)  haben 
sich  gegenseitig  in  der  Prunksucht  angesteckt:  auf  die  letzte- 
ren, nebst  den  Bischöfen,  sind  die  prahlenden  Kragen  und 
der  Besatz  übergegangen,  auf  die  nordischen  der  Ueberzug  von 
purpurfarbenem  Sammt.  Aus  solchem  bestand  nämlich  der 
aus  Griechenland  eingeführte  Stoff  der  Fürstenmäntel,**)  und 
die  Purpurfarbe  war  dabei  die  gewöhnliche.***)  Allerdings  ist 
diese  Waare  von  allen  nach  dem  Norden  ausgeführten  die 
seltenste  und  theuerste  gewesen.  Die  gangbarsten  bestanden 
in  friesischen  und  niederländischen  Tüchern,  feiner  Leinwand, 
wahrscheinlich  westphälischer,  Metallgeräthscbaften  und  Werk- 
zeugen; Waffen,  Südfrüchten,  Wein,  Gewürzen  und  Räu- 
cherwerk. 

Als  älteste  slawische  Niederlassung  an  der  angegebenen 
Küste  zum  Austausche  dieser  Gegenstände  wird  ein  Ort  an 
dem  kleinen  Flusse  Swartow  im  nordöstlichen  Wagrien  ge- 
nannt, der  sich  in  die  Trave,  auf  deren  Nordwestseite,  ergiesst 
Der  ursprüngliche  slawische  ist  in  den  heutigen  Namen  Lü- 
beck verändert.  Als  es  um  das  Jahr  1140  dem  Grafen  von 
Holstein,  Adolf  dem  zweiten,  gelang,  ganz  Wagrien  zu  be- 
setzen, und  es  seinem  Lande  einzuverleiben,  kam  auch  das 
Swartow'sche  Alt-Lübeck  unter  Holstein'sche  Herrschaft,  aber 


*)  Reicbs-Abschied  v.  J.  1497.    In  der  Sammlung  der  Reichs* 
Abschiede  II.  31. 

**)  Arnold.  Lubec.  I.  5.  ap.  Leibnit.  1. 1.  Vol.  II.  p.  633. 

***)  Charta  a.  1978:  Schannat  tradilt.    Fuldens.  p.  276:  „pur* 
pura,  quae  vulgariter  dicitur  Samyt." 

1* 


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8  Heinrich  der  Löwe. 

Erzbischof  von  Köln  landesherrliche  Rechte  über  die  Soöster 
Bürgerschaft  ausgeübt  hat,  denn  neben  der  Rathsbehörde  und 
dem  bürgerschaftlichen  Schulzen  bestand,  zur  Wahrnehmung 
der  öffentlichen  Ordnung  und  Sicherheit  und  der  damit  ver- 
bundenen Strafgerichtsbarkeit,  ein  erzbischöflicher  Vogt:  ganz 
wie  in  Köln.*)  So  wäre  Lübeck,  wenn  diese  Beweisführung 
gegründet  ist,  in  Ansehung  seiner  gemeinheitlichen  Grund- 
verfassung, eine  Enkelin  der  deutschen  Urstadt  Köln. 

In  dieser  soll  aber  ein  städtischer  Rath  (consilium  civi- 
tatis), dessen  Mitglieder  von  der  Bürgerschaft,  ohne  Wissen 
und  Willen  des  Erzbischofs,  gewählt  worden,  erst  zur  Zeit 
Engelbert' s  (des  Ersten)  entstanden  sein/*)  Das  ist  aber  eine 
urkundliche  Unwahrheit.  Denn  Engelbert  hat  die  Würde  von 
1215—1225  inne  gehabt***);  wenn  aber  die  Kölnische  Stadt- 
verfassung schon  1120  bei  der  Gründung  der  Freiburgschen, 
mit  Einführung  von  Rathmannen,  zum  Vorbilde  gedient,  so 
hat  jene  wenigstens  schon  im  elften  Jahrhundert  bestanden. 

Wie  vor  ihm  der  Zähringer  Berthold,  älterer  Bruder  des 
Schwiegervaters  von  Heinrich,  hat  auch  dieser  das  Bewusst- 
sein  gewürdigt,  das  eine  Bürgerschaft  belebt,  die  unter  Auf- 
sicht der  Regierung  ihre  gemeinsamen  Angelegenheiten  selbst 
verwaltet.  Gegenüber  dem  Bedürfnisse  des  Zeitalters,  den 
Bürgerstand  zu  befördern,  erkannte  er  als  ein  ebenso  drin- 
gendes, dem  Stande  der  Lehnmannen,  und  der  ihm  amtlich 
untergebenen  Grafen  zu  wehren,  dass  sie  ihre  Befugnisse 
nicht  überschritten ;  und  doch  hatte  er  viele  treue  Anhänger, 
die  auch  nach  dem  Umschlage  seines  Glücks  noch  fest  an  ihm 
hielten.  Hervorragend  unter  den  Zeitgenossen  ist  er  beson- 
ders durch  die  Einsicht  und  den  Muth,  mit  dem  er  die  Ein- 
griffe des  Kirchenrechts  in  das  Staatsrecht  hemmte,  weshalb 
auch  die  Bischöfe  seines  herzoglichen  Sprengeis,  namentlich 
Hermann  von  Hildesheim,  Adalrich  von  Halberstadt,  Wich- 


*)  Ibid.  p.  101.  120. 

**)  Urkunde  eines  Vergleichs  des  Erzbischofs  mit  der  Bürger- 
schaft vom  Jahre  1258:  (Bossart)  Securis  ad  radicem  posita,  Beila- 
gen, S.  76. 

***)  Cronica  von  Collen  fol.  184  b. 


Anfänge  Lübecks.  9 

mann  von  Magdeburg,  und  vor  allen  Reinhold  und  darauf 
Philipp  von  Köln,  auch  der  undankbare  Konrad  von  Lübeck,*) 
am  meisten  das  Feuer  des  Hasses  angefacht  haben.**)  Die  von 
ihm  gestifteten  Bischofthümer  in  den  eroberten  wendischen 
Gegenden  hatte  er  mit  Gütern  ausgestattet,  er  behauptete  also 
das  Recht,  die  Bischöfe  zu  ernennen  und  einzusetzen.***) 

Durchfahrend  und  rauh,  wie  der  fürstliche  Gebieter  nicht 
sein  soll,  und  in  der  Wahl  der  Mittel  zu  seinen  Zwecken  oft 
gewaltthätig,  aber  mit  seltenem  Blick  auf  die  Bewegungen 
der  drei  Stände,  die  hier  begünstigt,  dort  eingeschränkt  wer- 
den mussten,  war  Heinrich  der  Löwe  unstreitig  der  erste 
Staatsmann  seines  Jahrhunderts,  und  wenn  er  sich  noch  et- 
was mehr  über  seine  Zeit  erhoben  hatte,  um  auch  das  ge- 
ringe Landvolk  ins  Auge  zu  fassen,  wäre  er  der  erste  wahr- 
hafte des  ganzen  Mittelalters. 


*)  Helmold.  II.  7.  9.  p.  623.  624.    Arnold.  Lubec.  I.  17—20.  25 
bis  28.  p.  641.  644-646. 

*)  Id.  I.  16.  p.  640:  „pontifices  ante  omnes  cet." 
•)  Friderici  I.  dipl.  ap.  Scheid,  origg.  Guelf.  III.  470.   Helmold. 
1.  70.  87.   II.  1.  p.  595.  612.  618.    Arnold.  Lubec.  I.  13.  p.  638. 

Bonn.  Hüllmann. 


Betrachtungen  über  Boclalismus  und 

Communlsmus« 


Dritter    Abschnitt. 

Wir  haben  im  Vorigen  zwei  ganz  entgegengesetzte  Auflas- 
sungsweisen  der  socialen  Verhältnisse  und  ihrer  Zukunft  ken- 
nen gelernt:  zuerst  die  der  Communisten,  der  Socialisten  und 
des  Herrn  Stein,  welche  darin  übereinstimmen,  dass  der  heu- 
tige Gesellschaftszustand  ohne  das  äusserste  Verderben  nicht 
fortdauern  kann,  vielmehr  einer  wesentlichen  Reform  bedarf, 
wenn  sie  auch  über  die  Art  und  Weise  dieser  Reform  sehr 
von  einander  abweichen,  auch  zum  Theil  wohl  alle  bisheri- 
gen Vorschläge  der  Art  für  sehr  verfehlt  ansehen,  und  über 
das  Richtige  einstweilen  noch  ganz  im  Dunkeln  zu  sein  be- 
kennen; sodann  die  von  Chevalier,  welcher  die  Leiden  der 
Gegenwart  als  notwendigen,  aber  bald  überwundenen  Durch- 
gang betrachtet,  ganz  auf  dem  bisherigen  Wege  fortzufahren 
ratb,  und  grade  in  denjenigen  Instituten  die  sichersten  Keime 
einer  schönen  Zukunft  erblickt,  die  von  den  Anklägern  un- 
serer Zeit  am  meisten  getadelt  werden.  —  Der  günstige  Le- 
ser wird  schon  von  selbst  erwarten,  dass  die  historische  An- 
sicht des  Unterzeichneten,  deren  Grundlagen  vorhin  erörtert 
worden,  auch  hier  zu  eigentümlichen  Resultaten  fuhren,  und 
zwischen  den  beiden  Extremen  einen  gewissen  Mittelweg 
versuchen  wird. 

Vor  allen  Dingen  mache  ich  darauf  aufmerksam,  dass 
selbst  die  wunderlichsten,  abstrusesten  Systeme 
des  Socialismus  gar  nicht  so  weit  von  den  wirkli- 
chen Zuständen  entfernt  liegen,  wie  es  auf  den  er- 


Betrachtungen  über  Sociali$mu$  und  Communimus.    11 

sten  Blick  scheinen  möchte.  Diese  Bemerkung  ist  noth- 
wendig,  damit  der  Beobachter  von  dem  Fremdartigen  jener 
Systeme  nicht  verblüfft  werde.  Jede  politische  Theorie,  die 
ein  Staatsideal  aufstellt,  und  irgend  allgemeineren  Anklang 
findet,  pflegt  nur  ein  mehr  oder  weniger  verschärftes  Abbild 
desjenigen  Zustandes  zu  sein,  welcher  den  Verf.  in  der  Wirk* 
lichkeit  umgiebt.  Eine  Geschichte  der  Menschheit,  die  bloss 
nach  den  verschiedenen  Staatsidealen  geschrieben  würde,  muss 
in  allen  Hauptpunkten  mit  der  gewöhnlichen  Geschichtsdar- 
stellung zusammentreffen.  Ich  habe  diese  Erscheinung  an  ei- 
nem andern  Orte  zu  erklären  versucht/)  Wie  jeder  tonan- 
gebende Mann,  so  gelangt  auch  der  politische  Theoretiker 
nur  dadurch  zu  weit-  und  tiefgreifender  Anerkennung,  dass 
er  den  dunkelen  Gefühlen  und  unbegründeten  Wünschen  sei- 
ner Zeit  wissenschaftliche  Klarheit  und  Begründung  gewahrt. 
Nun  werden  aber  die  wirklichen  Bedürfnisse  der  Zeit  im 
Grossen  und  Ganzen,  und  namentlich  auf  die  Dauer,  allemal 
befriedigt  werden.  Es  beruht  also  jene  Erscheinung  ganz  ein- 
fach auf  dem  Satze,  wenn  zwei  Dinge  einem  dritten  gleich 
sind,  so  sind  sie  auch  unter  einander  gleich.  So  habe  ich 
z.  B.  in  meiner  Doctordissertation  zu  zeigen  versucht,  dass 
der  platonische  Idealstaat,  den  Piaton  selber  für  gänzlich  ab- 
stract  hielt,  nicht  bloss  den  Lakedämonischen  Einrichtungen/*) 
sondern  überhaupt  den  griechischen  Staats-  und  Socialver- 
hältnissen  seiner  Zeit  auf  das  Merkwürdigste  parallel  läuft.  — 
In  Bezug  auf  unseren  vorliegenden  Gegenstand  mögen  fol- 
gende Bemerkungen  einem  tieferen  Studium  als  Fingerzeige 
dienen. 

1)  Ich  habe  schon  oben  daran  erinnert,  dass  auf  den  hö- 
heren Kulturstufen  die  Macht  des  Staates  relativ  immer 
bedeutender  wird.  Das  Gebiet  seiner  Zwecke  erweitert  sich 
mehr  und  mehr;  während  er  ursprünglich  nur  nach  Aussen 
zu  für  die  Sicherheit  seiner  Angehörigen  hatte  einstehen  müs- 
sen, sorgt  er  allmählig  durch  Einführung  des  Landfriedens, 

*)  Klio,  Beitrage  zur  Geschichte  der  historischen  Kunst.  Bd.  I. 
S.  35  ff. 

**)  Wie  schon  Morgenstern  bewiesen  hatte. 


12  Betrachtungen  über  Socialismus 

« 

Abstellung  der  Blutrache  etc.  auch  für  die  innere  Rechtssi- 
cherheit; weiterhin  für  den  Wohlstand,  die  Bildung,  die  Be- 
quemlichkeit des  Volkes.  In  demselben  Verbältnisse  aber, 
wie  seine  Leistungen,  müssen  auch  seine  Ansprüche  wach- 
sen. Die  Staatsabgaben,  Staatsschulden  etc.  werden  immer  be- 
deutender. Während  Lowe  das  reine  Einkommen  des  briti- 
schen Volkes  auf  250  Millionen  L.  St.  jährlich  anschlägt,  be- 
trugen die  Staatsausgaben  1817,  also  nach  dem  grossen  Kriege, 
über  80  Millionen.  Jedermann  also  musste  etwa  30  Procent 
seines  Einkommens  für  öffentliche  Zwecke  hingeben.  Zu  glei- 
cher Zeit  wird  es  immer  üblicher,  durch  Expropriationen  etc. 
dem  Gemeinbesten  die  wohlerworbenen  Privatrechte  aufzuop- 
fern. Wie  unermesslich  wichtig  ist  es  doch  in  dieser  Hinsicht, 
dass  die  allgemeine  Wehrpflicht  in  so  vielen  Ländern  jeden  dazu 
fähigen  Unterthan  zwingt,  drei  oder  mehr  Jahre  seines  Lebens 
dem  Staatsdienste  zu  widmen!  Wie  hat  nicht  auf  den  höheren 
Kulturstufen  die  öffentliche  Erziehung,  der  Volksunterricht, 
selbst  der  Zwang  darin  einzutreten,  zugenommen,  die  blosse 
Privaterziebung  abgenommen!  Hoffentlich  wird  sie  sich  bald 
allgemein  auch  auf  die  körperliche  Ausbildung  erstrecken.  — 
Rechnet  man  hierzu  die  grosse  Menge  der  Vereine,  der  Ac- 
tiengesellschaften,  der  Volksfeste,  vor  Allem  der  Assecuran- 
zen gegen  jederlei  Gefahr:  so  lässt  sich  in  der  That  behaup- 
ten, dass  wir  dem  Ideale  der  Gütergemeinschaft  näher  gerückt 
sind,  als  man  es  vor  hundert  Jahren  hätte  träumen  können. 
Und  zwar  sind  dies  lauter  Institute,  in  welchen  die  eigen- 
tümliche Kraft  und  Tüchtigkeit  unseres  Zeitalters  hervor- 
leuchtet. Aehnlich  bei  jedem  Volke  auf  entsprechender  Bil- 
dungsstufe. Wie  in  so  vielen  Dingen  ein  Zusammenwirken 
der  scheinbar  entgegengesetzten  Triebe  das  Höchste  überhaupt 
leistet,  so  namentlich  im  Volksleben  ein  heilsames  Gleichge- 
wicht zwischen  Eigennutz  und  Gemeinsinn.  Wer  die' Macht 
zweier  Völker  mit  einander. vergleichen  will,  der  muss  nicht 
allein  ihre  Elemente  geistiger  und  körperlicher  Stärke,  son- 
dern ganz  vornehmlich  ihre  Geneigtheit  beachten,  jene  Ele- 
mente zu  allgemeinen  Zwecken  zusammenwirken  zu  lassen. 
Und  doch  sahen  wir  oben,  dass  völlige  Gütergemeinschaft  der 


und  Comtnunismus.  13 

Tod  des  Volkes  sein  würde.  Welches  ist  nun  der  Punkt, 
wo  die  Gemeinschaft  aufhört,  eine  Wohlthat  zu  sein?  Er  ist 
im  Allgemeinen  ebenso  leicht  zu  bestimmen,  wie  im  einzel- 
nen Falle  schwer.  Nur  so  lange,  aber  auch  so  lange 
gewiss  sind  die  Fortschritte  des  Zusammenwirkens, 
des  Gemeinhabens  wohlthatig,  wie  sie  den  Fort- 
schritten des  Gemeinsinnes  entsprechen,  der  Vater- 
lands- und  Menschenliebe.    Alles  Weitere  ist  vom  Uebel. 

2)  Insbesondere  sehen  wir  fast  überall,  dass  auf  den  hö- 
heren Kulturstufen  der  Staat  die  Armenpflege  immer  mehr 
in  seine  Obhut  nimmt.  So  lange  die  Armuth  noch  wenig  be- 
deutend, namentlich  politisch  bedeutend  ist,  kann  sie  der  freien 
Privatwohlthätigkeit  überlassen  bleiben.  Reicht  aber  diese  nicht 
mehr  aus,  so  muss  eine  durch  den  Staat  erzwungene,  gere- 
gelte und  concentrirte  Wohlthatigkeit  an  die  Stelle  treten. 
Es  entsteht  die  gesetzliche  Armenpflege:  die  Armen  erhalten 
T&in  Zwangsrecht,  mit  Arbeit  oder  directer  Hülfe  unterstützt 
zu  werden;  den  Reichen  wird  eine  Zwangspflicht  aufgebür- 
det Wie  ungeheuer  schwer  der  Druck  dieser  Armenpflege 
vor  einiger  Zeit  in  England  geworden,  ist  allgemein  bekannt. 
In  einer  Gemeinde  von  Oxfordshire  kamen  25,  in  zwei  an- 
deren 24  Schillinge  Armentaxe  auf  den  Acre.  Es  gab  in  Bed- 
fordshire  Gemeinden,  wo  die  Armenlast  per  Kopf  12j->  21,  ja 
35  Schillinge  betrug.  Ein  Gut  von  615  L.  St.  Pachtzins  war 
mit  427  L.  Armentaxe  beschwert.  In  der  Gemeinde  Choles- 
bury  in  Buckingham  hörte  1832,  als  die  Taxe  auf  367  L.  ge- 
stiegen war,  die  Zahlung  derselben  plötzlich  auf,  weil  die 
Grundbesitzer  und  Pächter  ihr  Land,  der  Geistliche  seinen 
Zehnten  etc.  aufgegeben  hatten.  Das  also  frei  gewordene  Land 
ward  unter  die  Armen  vertheilt!  Die  Armen  selbst  lebten  da- 
bei ganz  vortrefflich.  In  den  Armenhausern  ward  4  mal  wö- 
chentlich Fleisch  gegeben,  dazu  auf  die  Person  wöchentlich 
i  Pfd.  Butter,  7  Pfd.  Brot,  7  Pinten  Bier,  Sonntags  Pudding. 
Alles  in  bester  Qualität.  Der  Accordnehmer  musste  in  Kent 
den  Armenhausbewohnern  alle  sechs  Wochen  das  Haar  schnei- 
den lassen,  im  Nöthfälle  selbst  für  Perrücken  sorgen»  In  ei- 
ner Gemeinde  wurden  die  Hochzeitskosten  eines  Armen  mit 


14  Betrachtungen  über  Socialismus 

6  L.  121  S.  aus  der  Armenkasse  bestritten;  der  Trauring  al- 
lein kostete  8  S.  Anderswo  kaufte  sich  ein  Armer  ein  Pferd, 
um  damit  nach  der  Sandgrube  zu  reiten,  wo  er  arbeiten  musste. 
Sachverständige  konnten  der  Ansicht  sein,  dass  von  100  L. 
Geldalmosen  noch  an  demselben  Tage  30  L.  durchschnittlich 
im  Wirtbshause  vertrunken  würden.  —  Man  sieht  auch  hier 
wieder  eine  grosse  Aehnlichkeit  mit  der  Gütergemeinschaft. 
Dies  ist  aber  bei  den  meisten  Völkern  auf  ihren  späteren  Ent- 
wicklungsstufen der  Fall.  Von  den  alten  Römern  habe  ich 
schon  oben  geredet.  Dass  bei  den  Griechen  das  eigentliche 
Armen wesen  eine  so  viel  geringere  Rolle  spielt,  als  bei  den 
Neueren,  rührt  wohl  nicht,  wie  Böckh  meinte,  von  der  gros* 
seren  Hartherzigkeit  der  Alten  her,  sondern  von  ihrer  Skla- 
verei. In  Sklavenstaaten  muss  eine  Hauptursache  des  Pau- 
perismus, die  Uebervölkerung,  sehr  viel  seltener  vorkommen, 
weil  die  Fortpflanzung  der  Sklaven  unter  Gontrole  ihrer  Her- 
ren steht.  Sollte  es  ja  zu  viele  Sklaven  geben,  so  kann  man 
sie  sogar  zu  Gelde  machen.  Neben  den  sehr  geringfügigen 
Leistungen  der  eigentlichen  Armenpflege,  die  in  Athen  erst 
nach  dem  peloponnesischen  Kriege  etwas  bedeutender  wurde, 
findet  sich  ein  anderes  Institut,  welches  unserer  Armentaxe 
viel  directer  parallel  läuft.  Je  demokratischer  nämlich  der 
Staat  wurde,  desto  mehr  wurden  nicht  bloss  alle  Staatslasten 
auf  die  Reichen  allein  gewälzt,  sondern  der  Staat  musste  so- 
gar den  ganzen  Lebensunterhalt  des  grossen  Haufens  bestrei- 
ten. Ging  der  Bürger  in  die  Volksversammlung,  ward  er  in 
den  Rath  gewählt,  sass  er  zu  Gericht:  immer  empfing  er 
Sold ;  und  alle  Behörden  waren  absichtlich  überaus  zahlreich, 
damit  möglichst  Viele  dieses  Soldes  theilhaftig  würden.  So 
gab  es  z.  B.  6000  Richter  zu  Athen,  während  die  Stadt  über- 
haupt nur  gegen  20000  Bürger  zählte.  Hierzu  kam  eine  un- 
zählige Menge  von  Lustbarkeiten,  Festen  etc.,  die  bald  Vom 
Staate,  bald  von  angesehenen  Privaten  dem  Volke  gegeben 
werden  mussten.  Jeder  Bürger  hatte  freies  Theater.  U.  dgl.  m. 
So  lange  der  Staat  auswärtige  Unterthanen  besass,  mussten 
diese  die  Kosten  tragen;  nachher  die  einheimischen  Reichen. 
Wo  dieser  Zustand  sehr  entwickelt  ist,  da  muss  er  natürlioh 


und  Communismus,  15 

annäherungsweise  dieselben  Wirkungen  haben,  wie  die  Gü- 
tergemeinschaft. Namentlich  hat  man  in  England  bemerkt, 
dass  das  leichtsinnige  Heiratben  und  Verschwenden  der  Ar- 
men, überhaupt  ihre  völlige  Sorglosigkeit  für  die  Zukunft;  un- 
gemein dadurch  gesteigert  wird.  Ihre  Arbeiten  waren  in  der 
Regel  fast  gänzlich  unbrauchbar,  wie  denn  viele  Sachkundige 
die  Armenarbeit  nicht  um  ihres  directen  Nutzens  willen  em- 
pfehlen (der  ist  oft  genug  Minus),  sondern  wegen  ihres  sitt- 
lichen Einflusses  auf  den  Armen  selbst,  und  als  einen  Prüf- 
stein der  wahren  und  falschen  Armuth.  Die  nachtheiligste 
Folge  der  Armentaxe  ist  das  Verschwinden  der  Bescheiden- 
heit und  Dankbarkeit  auf  Seiten  des  Armen,  der  nun  ein 
Recht  zu  haben  glaubt,  und  der  Wohlthatigkeit  auf  Seiten 
des  Reichen;  wodurch  die  Absicht  der  Vorsehung,  in  der 
Armuth  eine  sittliche  Anstalt  Tür  Reiche  und  Arme  zu  schaf- 
fen, analog  der  gegenseitigen  Bedürftigkeit  der  Lebensalter, 
der  Geschlechter  etc.,  vereitelt  wird.  So  lange,  aber  auch 
nur  so  lange  ist  die  Armenpflege  kein  directes  Hin- 
derniss  der  Volkswirthschaft,  wie  sie  als  Wohlthat 
geleistet  und  empfangen  wird.*) 


*)  Vorschläge,  die  auf  Gütergemeinschaft  abzielen,  können  auf  ei* 
nem  blossen  Irrthume  des  Kopfes  beruhen ;  Weibergemeinschaft 
dagegen  wird  unter  Christen  nur  ein  verdorbenes  Herz  empfehlen. 
Daher  auch  nur  eine  moralisch  sehr  gesunkene  Zeit  irgend  welche 
Analogien  zu  der  letztem  darbieten  kann.  Es  leuchtet  ein,  dass 
bei  jedem  Volke  die  Versuchung  zu  fleischlichen  Sünden  um  so 
grösser  .ist,  je  mehr  die  Population  durch  das  Maass  ihrer  Nahrungs- 
mittel eingeengt  wird,  je  schwieriger  also  die  Ehe  und  die  legale 
Aufziehung  der  Kinder  wird.  In  diese  gefährliche  Lage  pflegt  ein 
jedes  Volk  zu  gerathen,  wenn  es  die  äussersten  Grenzen,  die  sei* 
ner  wirtschaftlichen  Ausdehnung  gesteckt  sind,  erreicht  hat;  die 
Gefahr  wird  grösser,  wenn  der  Volkswohlstand  Rückschritte  zu  ma- 
chen anfängt;  sie  wird  unwiderstehlich,  wenn  zu  derselben  Zeit 
ein  Sinken  der  allgemeinen  sittlichen  Kraft  eintreten  sollte.  Wäre 
nur  eine  ziemlich  gleichmassige  Vermögenstheilung  damit  verbun- 
den, so  könnten  immer  noch  Alle  des  Familiengiückes  theilhaftig 
werden,  nur  etwas  später,  als  in  anderen  Ländern;  wir  haben  je- 
doch gesehen,  dass  auf  der  vorliegenden  Kulturstufe  die  Ungleich- 
heit des  Besitzes  immer  grösser  wird,  daher  Unzählige  hier  zeitle- 


iß  Betrachtungen  über  Socialismtis 


i   * 


3)   Was  unsere  Zeit  der  s.  g.  Organisation  der  Arbeit 
Analoges  darbietet,  lässt  sich  in  solche  Momente  eintheilen, 

bens  zur  Ehelosigkeit  verdammt  scheinen.    Die  traurigen  Folgen 
eines  solchen  Zustandes  liegen  vor  Augen.    Mit  der  wachsenden 
Anzahl  der  unehelichen  Kinder,  der  öffentlichen  Dirnen  und  der 
unnatürlichen  Laster  nimmt  die  Schande,  welche  früher  auf  ihnen 
ruhete,  stufenweise  ab.   Die  Bedeutung  der  Findelhäuser  steht  hier- 
mit im  engsten  Zusammenhange.    Immer  weniger  wird  die  Heilig- 
keit des  Ehebandes  respectirt;  Speculationsheirathen ,  Ehebrüche, 
wilde  Ehen,  Cicisbeate  werden  immer  häufiger  und  erregen  immer 
weniger  Anstoss.   Als  Ursache  und  Wirkung  hiervon  ist  die  wach- 
sende Leichtigkeit  der  Ehescheidungen  zu  betrachten.    Wer  Dru- 
mann's  Geschichte  der  spätem  römischen  Republik  kennt,   dem 
wird  es  erinnerlich  sein ,  dass  von  den  hervorragenden  Personen 
damals  sehr  wenige  ganz  ohne  dergleichen  Skandal  waren.    Non 
consulum  numero,  sagt  Seneca  von  gewissen  Frauen  seiner  Zeit, 
sed  marilorum  annos  suos  computänt  (De  benef.  Hl,  16).   Hierony- 
mus  erzählt  von  einem  Manne,  der  seine  21ste  Frau  begraben;  er 
selbst  war  ihr  22ster  Mann  gewesen.   Was  die  Geschichte  der  grie- 
chischen Päderastie  betrifft,  so  hatte  noch  Solon.  Todesstrafe  dar- 
auf  gesetzt;  in  Aeschines  Zeit  dagegen  besass  man  öffentlich  aner- 
kannte Knabenbordelle,  die  sogar  Gewerbesteuer  zahlten.  —  Aehn- 
liche  Verhältnisse  dürfen  wir  leider  allenthalben  voraussetzen,  wo 
bei  einem  hochcultivirten  Volke  die  Population  seit  Menschenallern 
stille  steht.  Wenn  auf  den  allerrohesten  Kulturstufen  der  vornehmste 
„check"  der  Volksvermehrung  in  Lastern  besteht,  so  nicht  minder 
auf  den  allerraffinirtesten.     Haben  diese  Laster  eine  sehr  grosse 
Ausdehnung  gewonnen,  so  können  sie  unter  Umständen  der  Wei- 
bergemeinschaft %nahe  kommen.     Besonders  mache  ich  noch  auf 
zwei  Symptome  dieses  Zustandes  aufmerksam.    Das  eine  ist  die 
s.  g.  Emancipation  der  Weiber,  wenigstens  der  verheirateten .  Denn 
die  Jungfrauen,  um  überhaupt  an  den  Mann  zu  kommen,  werden 
da  wohl  in  klösterlicher  Zucht  gehalten,  und  leben  hernach  um  so 
zwangloser.  (So  in  Italien,  so  in  Altrom  und  Griechenland  zur  Zeit 
ihres  Verfalles;   während  in  sittlich  reineren  Zeilen  die  Jungfrau 
umgekehrt  viel  mehr  der  Welt  exponirt  wird,  als  die  Frau.    Man 
denke  an  Sparta  im  Gegensatze  zu  Athen!)  Je  weibischer  die  Män- 
ner, desto  männlicher  die  Weiber.   Es  ist  kein  gutes  Zeichen,  wenn 
im  Schriftstellern,  Regieren  etc.  zwischen  Mann  und  Weib  kein  Un- 
terschied mehr;  so  war  es  zu  Rom  in  der  Kaiserzeit,  in  Griechen- 
land während  der  makedonischen  Periode.  —  Sodann  das  Aufkom- 
men einer  Philosophie,  welche  die  „Rehabilitation  des  Fleisches u 
predigt,  mögen  es  nun  Epikureer  sein  oder  Andere.   Irgend  allge- 


und  Communismus.  17 

die  von  Oben  her,  von  Seiten  des  Staates  oder  der  Reichen, 
also  auf  dem  Wege  der  Wohlthätigkeit  erfolgen,  und  solche, 
die  von  den  Arbeitern  selbst  ausgehen.  —  Schon  die  Ar- 
menarbeitshäuser bilden  einen  Anfang  dazu;  auch  die 
Strafanstalten,  welche  durch  die  neuere  Philanthropie 
mehr  und  mehr  den  Arbeitshäusern  ähnlich  werden.  Hierzu 
kommen  alsdann  diejenigen  Einrichtungen,  die  ich  bereits 
oben  aus  Chevalier  angeführt  habe.  Die  Kleinkinderschu- 
len, die  mehr  als  tausend  Anderes  dazu  beitragen,  zwischen 
Besitzenden  und  Proletariern  ein  milderes  Verhältniss  zu  be- 
wirken, indem  sie  die  zartesten  Bestandtheile  beider  Klassen 
in  unmittelbare  freundliche  Berührung  bringen.  Die  Volks- 
schulen, dieses  vornehmste  Mittel  gegen  Verarmung,  indem 
sie  den  Hauptgrund  derselben,  die  Unfähigkeit  der  Produc- 
tion,  wesentlich  einschränken.  Rechnen  wir  dazu  noch  die 
Waisenhäuser,  die  Bibelgesellschaften,  die  Anstalten 
der  s.  g.  innern  Mission,  so  lasst  sich  allerdings  nicht 
läugnen,  dass  sehr  bedeutende  und  erfreuliche  Anfänge  ge- 
macht sind,  eine  öffentliche  Erziehung  der  niederen  Klassen 
auf  gemeine  Unkosten  ins  Leben  zu  rufen, •aber  ohne  die 
Unsittlichkeiten  der  von  den  Socialisten  erstrebten  Familien- 
auflösung. Ich  erinnere  weiter  an  die  Sonntags-  und  Feier- 
abendschulen für  erwachsene  Arbeiter;  an  die  technologischen 
Vorträge  und  Demonstrationen,  wie  sie  jetzt  schon  in  vielen 
grossen  Städten  für  die  Arbeiter  gehalten  werden;  an  die 
Feierabendvereine,  wo  ihnen  unter  Aufsicht  achtungs- 
werther  Männer  unentgeltlich  zu  anständigem  und  belehren- 
dem Zeitvertreibe  Gelegenheit  geboten  wird.  Nichts  ist  mehr 
geeignet,  communistischer  Ansteckung  vorzubeugen,  als  eine 

meinen  Anklang  wird  eine  solche  Theorie  der  Unzucht  nur  unter 
den  obenerwähnten  Verhältnissen  finden.  Wiederum  theils  Sym- 
ptom, theils  Ursache. 

Ist  einmal  von  lasterhaften  Verhältnissen  die  Rede,  so  muss 
auch  der  grossen  Vermehrung  aller  Betrügereien  und.  Diebstähle 
gedacht  werden,  welche  dem  Fortschreiten  der  Kultur  leider  fast 
parallel  geht.  Das  „stehlende  Proletariat",  mit  dem  uns  die  Com- 
munisten  bedroht  haben,  falls  wir  nicht  auf  ihre  Gütergemeinschaft 
eingingen,  ist  in  vielen  Ländern  schon  jetzt  nur  zu  sehr  verwirklicht. 

Zeitschrift  f.  Guckicktow.  IT.  1845.  2 


18  Betrachtungen  über  Socialisimis 

solche  Fürsorge  der  höheren  Stände  für  die  Mussestunden 
der  niederen.  Nur  muss  die  polizeiliche  Absicht  dabei  von 
der  menschenfreundlichen  entschieden  überwogen  werden! 
Ueberhaupt  keimen  schon  jetzt,  und  zwar  zum  sittlichen  Vor- 
teile beider  Klassen,  eine  Menge  von  Patronatsverhält- 
nissen  hervor,  die  Arbeitscommissionen,  die  Specialaufsicht 
einzelner  Menschenfreunde  über  die  entlassenen  Waisenkin- 
der etc.;  lauter  Dinge,  die,  ohne  eigentlich  Armenpflege  zu 
sein,  unendlich  viel  wirksamer  und  wohlthätiger  sind,  als 
diese.  Freilich  werden  diese  Einrichtungen  nicht  völlig  durch- 
dringen können,  ohne  dass  dadurch  die  Abhängigkeit  der  nie- 
deren Stände  von  den  höheren  wachst.  Jedermann  ist  abhän- 
gig, der  nicht  ganz  auf  eigenen  Füssen  steht,  der  ausser  den 
strengen  Rechte  noch  das  Wohlwollen  Anderer  in  Anspruch 
nehmen  muss.  Allein  ist  denn  jetzt  der  Arbeiter  ganz  unab- 
hängig? Namentlich  kann  die  obrigkeitliche  Beschützung  der 
armen  Fabrikkinder,  die  von  der  Menschlichkeit  und  von  der 
Sorge  Tür  die  Zukunft  des  ganzen  Volkes  so  dringend  gefor- 
dert wird,  nur  auf  dem  Wege  einer  sehr  geschärften  Aufsicht 
gegen  den  Eigennutz  der  Herren  und  der  Eltern  durchgesetzt 
werden;  am  besten  in  Verbindung  mit  einem  rücksichtslos  ge- 
handhabten Schulzwange.  Der  grosse,  oft  übertriebene  Wertb, 
den  man  in  England  auf  persönliche  Ungebundenheit  legt, 
und  der  insbesondere  alle  Gedanken  an  Schulpflichtigkeit  ver- 
werfen lässt,  hat  zwar  unberechenbar  viel  zu  dem  Aufschwünge 
der  englischen  Volkswirtschaft  beigetragen ;  aber  unter  der- 
selben Sonne  ist  mit  dem  Waizen  auch  das  Unkraut,  der 
Pauperismus  etc.  so  üppig  emporgewuchert  —  Zu  den  schön- 
sten Versuchen  einer  wahren  Organisation  der  Arbeit  gehö- 
ren diejenigen  Maassregeln,  welche  man  neuerdings  zur 
richtigeren  Vertheilung  der  Arbeitskräfte  im  Lande 
ergriffen  hat.  Hier  zeigt  sich  am  besten,  wie  selbst  der  ma- 
terielle Vortheil  der  Proletarier  und  der  Besitzenden  bei  wei- 
ser Leitung  Hand  in  Hand  gehen  kann.  So  hat  man  in  Eng- 
land mit  dem  grössten  Erfolge  aus  den  südlichen  Grafschaf- 
ten Arbeiter  in  die  nördlichen,  wo  der  Tagelohn  höher  steht, 
übergesiedelt.    Die  gemeinsten  Arbeiter  verdienten  sich  da- 


und  Commmismus.  jg 

durch  mit  ihrer  Familie  statt  8  —  14  Schillinge  wöchentlich, 
27—32.    Wenn  auch  die  ältere  Generation  meistens  nur  in 
demselben  Arbeitszweige,  wie  bisher,  zu  brauchen  ist,  so  öff- 
net sich  der  jüngeren,  mehr  lernfähigen  auch  in  dieser  Hin- 
sicht der  freieste  Spielraum.    Noch  bedeutender  versprechen 
die  Wakefield'scben  Kolonisationsplane  zu  werden,  zu 
deren  Ausführung  freilich  nur  wenige  Länder  geeignet  sind. 
Es  kommt  hierbei  darauf  an,  die  überzählige  Arbeitermasse, 
die  sich  jetzt  nur  gegenseitig  die  Nahrung  beengt  und  dem 
Staate  die  Armenlast  erschwert,  in  jungcultivirte  Länder  zu 
▼ersetzen,  wo  sie  sich  frei  ausbreiten,  eine  wesentliche  Er- 
gänzung des  Mutterlandes  bilden,  und  namentlich  durch  Er- 
zeugung von  Rohstoffen  der  ergiebigste  Abnehmer  für  dessen 
Gewerbsproducte  werden  kann.  Bekanntlich  ist  der  Austausch 
▼on  Robstoffen  gegen  Gewerbsproducte  überhaupt  das  vor- 
nehmste materielle  Band'  zwischen  den  Kolonien  und  Mut- 
terländern.   Was  früher  eine  Last  war,  das  soll  auf  diese  Art 
eine  Hülfe  werden.     Der  Wakefield'sche  Plan  ist  nun  vor 
Kurzem  durch  den  Handelsminister  Gladstone  in  vergrösser- 
tem  Maasstabe  erneuert,  ja  die  Frage  aller  Fragen  genannt 
worden;  man  hat  vorgeschlagen,  die  ersten  Kosten  der  An- 
Siedlung,  sowie  die  Garantie  des  ganzen  Unternehmens  auf 
den  Staat  zu  wälzen,  die  Ueberfahrt  auf  der  unbeschäftigten 
Kriegsflotte  zu  bewerkstelligen,  die  Ausrodung  der  Wälder, 
die  Anfänge  des  Städtebaus  etc.  auf  halbmilitärische  Weise 
durch  Staatsingenieure  zu   leiten  etc.    England  würde  auf 
solche  Art  mittelst  eines  geringen  und  sich  bald  wieder  er« 
setzenden  Vorschusses  nicht  bloss  eine  ausserordentliche  Ver- 
mehrung seines  innern  Reichthums  erlangen,  sondern  auch 
die  Küsten  des  Oceans  mit  einer  Menge  blühender  Tochter- 
städten bedecken :  ein  Weltreich,  wovon  selbst  die  Römerzeit 
keine  Ahnung  gehabt  hätte!   Der  merkwürdige  Aufsatz  von 
Gladstone,  worin  dies  entwickelt  ist,  —  bei  der  Stellung  des 
Verfassers  wohl  ein  Ereigniss  zu  nennen  —  schliesst  mit  den 
Worten:   „Zu  deinen  Schiffen,  o  England!  mache  dich  auf, 
und  erfülle  die  Bestimmungen  des  Himmels!"  Freilieb  treten 
der  vollkommenen  Ausführung  dieses  Riesenptanes  selbst  in 

2* 


20  Betrachtungen  über  Socialismus 

England  mancherlei  Hindernisse  entgegen.  Was  die  Erleich- 
terung des  Mutterlandes  betrifft,  so  pflegt  bekanntlich  jeder 
regelmässige  Auswanderungsabfluss  eine  vermehrte  Nach- 
zeugung hervorzurufen,  welche  das  unbehagliche  Gedrängt- 
sein der  Bevölkerung  gar  bald  wieder  eintreten  lässt  Das 
beabsichtigte  Weltreich  wird  schon  durch  den  Umstand  pa- 
ralysirt  werden,  dass  die  mündig  gewordenen  Kolonien  nie- 
mals in  der  früheren  Abhängigkeit  fortbestehen  wollen.  Und 
diese  Mündigkeit  würde  man  durch  Uebersiedlung  vieler  Fa- 
brikarbeiter in  hohem  Grade  beschleunigen.  Jedenfalls  aber 
sehen  wir  hier  eine  Tendenz,  welche  der  anderen  Tendenz 
eines  immer  schärferen  Gegensatzes  von  Reich  und  Arm  di- 
rect  entgegenarbeitet:  keine  Radicalcur,  aber  eine  wichtige 
Palliative.  Wäre  der  Gladstone'sche  Plan  zeitiger  befolgt,  so 
hätte  der  Abfluss  von  Kapitalien  und  Arbeitern  aus  dem  Mut- 
terlande dort  keinen  so  fieberhaften  Aufschwung  der  Gewerbe 
gestattet.  Die  Goncurrenz  würde  nicht  so  zügellos  geworden 
sein,  die  neuen  Maschinen  nicht  so  bald  durch  noch  neuere 
überflügelt  etc.  Die  nächste  Zukunft  Englands  wird  ganz  vor- 
nehmlich davon  abhängen,  ob  jene  bauende,  oder  diese  zer- 
störende Tendenz  raschere  Fortschritte  machen.  —  inwiefern 
eine  poch  weitergehende  Organisation  der  Arbeit  durch  den 
Staat  in  einzelnen  Gewerben  möglich  sei,  ist  nicht  im  All- 
gemeinen, sondern  nur  durch  die  genaueste  technologische 
Kenntniss  der  verschiedenen  Gewerbe  selbst  zu  beantworten. 
Am  ersten  wird  in  denjenigen  daran  gedacht  werden  können, 
wo  die  ganz  unbeschränkte  Privatconcurrenz  augenscheinlich 
selbst  materiellen  Schaden  bringt  So  z.  B.  in  def  Forstwirt- 
schaft, wo  der  fürs  Ganze  absolut  vorteilhafteste  Betrieb  die 
Hochwaldkultur  verlangt,  während  die  Privaten  für  ihr  In- 
teresse den  Niederwald  vorziehen.  Ich  erinnere  ferner  an  den 
grossen,  vielleicht  unersetzlichen  Schaden,  welchen  die  deut- 
sche Leinenmanufactur  durch  den  Individualismus  erlitten  hat 
Besonders  lehrreich  ist  in  dieser  Hinsicht  das  Studium  meh- 
rer Bergwerksverfassungen.  Bekanntlich  ist  es  in  Deutschland 
gelungen,  die  s.  g.  Freiheit  des.ßergbaus  mit  dem  Berg- 
regale wohl  zu  vereinigen.  In  Sachsen  u.  A.  haben  die  Berg- 


und .  Communismus.  2 1 

leute  ihren  sichern,  nach  Alter,  Rangstufe  etc.  fixirten  Lohn, 
namentlich  auch  mit  einem  Vorzugsrechte  bei  Bergeoneursen. 
Die  Weiber  arbeiten  gar  nicht  mit;  die  Knaben  erst  vom  1?. 
Jahre  an,  und  bis  zum  14.  Jahre  empfangen  sie  daneben  Un- 
terricht auf  der  Grube.  Die  Schichtzeit,  meistens  nur  8  Stun- 
den täglich,  darf  niemals,  und  zwar  mit  Einschluss  des  Ze- 
chenweges, über  12  Stunden  betragen.  Sehr  ausgebildet  sind 
die  Knappschaftsverbande  für  Invaliden,  Wittwen  etc.  Die 
strenge  Disciplin  der  Bergleute  ist  bekannt.  Auf  dem  Harze 
greift  ihnen  der  Staat  namentlich  auch  durch  ein  grosses  Ma- 
gazin unter  die  Arme,  woraus  ihnen  das  Korn  zu  festen  Prei- 
sen, und  zwar  mit  einem  beträchtlichen  „Magazinschaden" 
verabreicht  wird.  Diese  Einrichtungen  sind  für  unseren  Zweck 
um  so  merkwürdiger,  weil  der  Bergbau  durch  die  Grösse  der 
dazu  erforderlichen  Kapitalien,  durch  die  Stellung,  welche  die 
Maschinen  darin  einnehmen,  die  sociale  Lage  der  Arbeiter 
elc.  ungemein  viel  Aehnlichkeit  mit  dem  grossen  Fabrikbe- 
triebe hat. 

4)  Bei  Weitem  das  Meiste  wird  von  den  Arbei- 
tern selbst  ausgehen  müssen.  Hilf  dir  selbst,  so  wird 
der  Himmel  dir  helfen !  Nur  frelich  nicht  auf  dem  Wege  der 
Verschwörung,  der  Arbeitskündigung  in  Masse,  welche  durch- 
aus zum  endlichen  Verderben  der  Theilnehmenden  ausschla- 
gen muss.  Abgesehen  davon,  dass  solche  Verschwörungen 
gar  leicht  den  Charakter  des  Aufruhrs  annehmen,  und  dem- 
gemäss  unterdrückt  werden  müssen,  können  die  Herren  das 
Stocken  der  Arbeit  in  der  Regel  weit  länger  aushalten,  als  die 
Arbeiter,  bleiben  also  zuletzt,  wenn  diese  ihre  Nothpfennige 
aufgezehrt  haben,  doch  in  der  Regel  Sieger.  Sie  können  ihre 
eigenen  Verabredungen,  schon  ihrer  geringeren  Zahl  wegen, 
ungleich  heimlicher,  weiter  verbreitet  und  wirksamer  treffen. 
Solche  Turn-outs,  wie  sie  in  England  heissen,  zwingen  die  Lohn- 
herren gar  häufig  zur  Einführung  neuer  Maschinen*);  oder 
wenigstens  dazu,  jede  grössere  Bestellung  vor  ihren  Leuten 


*)  Man  denke  an  die  rasche  Verbreitung  des  „Eisernen  Man- 
nes" nach  der  grossen  Union  der  Baumwollarbeiler  in  England! 


22  Betrachtungen  über  Socialistnus 

geheim  zu  halten,  wodurch  diese  ausser  Stand  gerathen,  auch 
nur  für  die  nächste  Zukunft  ihre  Lage  vorauszusehen.  Wo  der- 
gleichen öfters  eintritt,  da  werden  die  Kapitalisten  das  unsichere 
Land  verlassen.  Die  grosse  englische  Arbeiterunion  bald  nach 
1824  wollte  nicht  bloss  die  Arbeitszeit  und  Lohnhöhe,  son- 
dern auch  die  Anzahl  der  Lehrlinge  feststellen,  und  diese,  um 
den  Zudrang  zu  vermindern,  zu  hohen  Abgaben  zwingen.  Da 
unter  den  Verschworenen,  wie  natürlich,  die  faulen  und  un- 
geschickten Arbeiter  die  Mehrzahl  bildeten,  so  ward  eine  Ge- 
sammtliste  angefertigt,  und  die  Fabrikanten  sollten  ohne  Wahl, 
nach  der  Reihenfolge  dieser  Liste  ihre  Arbeiter  sich  zuweisen 
lassen.  Bei  manchen  isolirt  gelegenen  Fabriken  setzte  die 
Union  freilich  ihren  Plan  durch;  allein  wem  konnte  deren 
Bankerott,  der  bald  unvermeidlich  war,  am  Ende  mehr  scha- 
den, als  den  Arbeitern  selbst?  —  Dagegen  liegt  der  entschie- 
den hoffnungsvollste  Keim  der  „Organisation"  in  den  Verei- 
nen der  Arbeiter  zur  wechselseitigen  Unterstüt- 
zung. Ein  schönes  Vorbild  dazu  geben  in  gewisser  Hinsicht 
die  Sqccvo*  der  alten  Athener.  Dergleichen  Vereine  sollten 
»ich  billig,  der  besseren  Assecuranz  wegen,  aus  möglichst  ver- 
schiedenen Gewerben  zusammensetzen.  Viele  sind  leider  zu 
Grunde  gegangen,  weil  sie  schlechte  Mortalitätsrecbnnngen  be- 
folgten, zu  viel  Scbmausereien  gaben  und  Arbeiterverschwö- 
rungen begünstigten.  Am  besten  sind  daher  solche  Vereine 
gediehen,  wie  der  zu  Nantes,  der  auf  Beitragen  der  Tbeil- 
nehmer  und  Geschenken  beruht,  und  sowohl  in  der  Central- 
verwaltung,  als  in  der  specialen  über  je  15  Mitglieder,  zugleich 
von  der  Industriegesellschaft,  wobltbätigen  Gebern  und  Ar- 
beiterdeputirten  geleitet  wird.  So  stehen  die  Vereine  der 
belgischen  Kohlenarbeiter  unter  einem  Verwaltungsratbe,  der 
aus  dem  Statthalter  der  Provinz,  dem  Oberbergmeister,  6  De* 
putirten  der  Grubenbesitzer  und  3  Deputaten  der  Arbeiter  ge- 
bildet wird.  Diese  Vereine  sind  im  erfreulichsten  Aufschwünge 
begriflfen:  von  den  38500  Arbeitern  der  Provinzen  Namur, 
Hennegau,  Lüttich  und  Luxemburg  waren  1842  schon  31400 
beigetreten.  Aehnlicbe  Anstalten  haben  die  Eisenbahnarbei- 
ter und  die  Lootsen  Belgiens.  —  Hierher  geboren  yor  Allem 


und  Cowmunumus.  23 

auch  die  Sparkassen.  Welche  Garantie  für  die  öffentliche 
Ruhe  Frankreichs  z.  B.,  dass  in  Paris  allein  149000  Deponenten 
mit  etwa  i 00  Millionen  Fr.  Depositum  existiren;  im  ganzen 
Reiche  320 Millionen  Depositum!  Es  ist  nicht  ohne  Bedeutung, 
dass  bei  den  Proletarieraufständen  zu  Paris  kein  einziger.  Ar- 
beiter betheiligt  war,  der  in  der  Sparkasse  ein  Guthaben  be- 
sass.  Bis  jetzt  sind  freilich,  selbst  in  England  und  der  Schweiz, 
die  Sparkassen  nicht  viel  mehr,  als  blosse  Keime.  Abgesehen 
von  der  noch  viel  zu  geringen  Zahl  der  Theilnehmer  über- 
haupt,*) wie  kann  es  selbst  Air  diese  genügen,  wenn  der  Mit- 
telbetrag der  Einlagen  in  England  etwa  380  Gulden  betrügt, 
in  der  Schweiz  129?  Aber  es  lassen  sich  die  besten  Hoffnun- 
gen daran  knüpfen/*)  Sentimentale  Schriftsteller,  die  aber  in 
den  Anfangsgründen  der  Nationalökonomie  noch  unbewandert 
sind,  haben  wohl  mit  einer  gewissen  Indignation  die  Zumu- 
thung  abgewiesen,  dass  die  Sicherheit  der  Arbeiter  haupt- 
sächlich durch  Ersparnisse  von  ihrem  eigenen  Lohne  bewirkt 
werden  sollte.   Von  diesem  so  schon  unzureichenden  Lohne? 

*)  In  England  kommen  auf  1000  Einwohner  35  Sparkassenmit- 
glieder, in  der  Schweiz  29. 

**)  Sehr  bedeutend  könnte  auch  eine  zweckmassige  Associa- 
tion des  Handwerkerstandes  dazu  beitragen,  diesen  gegen  die  Ueber- 
wocht  der  grossen  Fabriken  zu  vertheidigen.  Zunächst  müssten 
sich  Handwerker  desselben  Gewerbes  assoeiiren,  um  ihren  Rohstoff 
gemeinsam  und  im  Grossen  zu  kaufen,  Modelle,  Vorlegeblätter,  Ma- 
schinen gemeinsam  zu  nutzen,  auch  um  die  Preise  ihrer  Waare  an 
fremden  Orten  zu  erfahren,  Niederlagen  daselbst  zu  errichten  etc. 
Auf  diese  Art  könnten  insbesondere  mehre  Meister  durch  einen 
einzigen  Agenten  Jahrmärkte  beziehen;  sie  könnten  in  einer  gros* 
sen  Stadt  fern  vom  Mittelpunkte,  d.  h.  also  wohlfei!,  wohnen,  und 
dabei  einen  gemeinschaftlichen  Laden  an  der  Passagestrasse  er- 
richten. Oder  es  könnten  auch  verschiedene  Gewerbe,  die  aber 
zusammen  wirken,  eine  Association  bilden:  so  z.  B.  Sattler,  Schmiede, 
Gttrtler,  Wagner,  Laekirer  für  Wagen;  Holzhändler,  Fournirmüiler, 
Dessinzeichner,  Schreiner,  Drechsler,  Tapezierer,  Bildhauer,  Polirer 
für  Mobilien;  so  Gerber  und  Schuster  etc.  (Idee  von  Dr.  Kittel  in 
Ascbaffenburg).  —  So  ist  es  z.  B.  bei  den  englischen  Wollwebern 
sehr  üblich,  dass  mehre  Kleine  zusammen  eine  Maschine  ankaufen, 
wo  dann  jeder  Theilnehmer  eine  Anzahl  Webestühle,  mit  Dampf 
getrieben,  miethen  kann. 


•h«. 


24  Betrachtungen  über  Socialismus 

ruft  man  achselzuckend  aus.  Aber  man  muss  sich  erinnern, 
dass  die  Höhe  des  Arbeitslohnes  in  gewisser  Hinsicht 
von  den  Arbeitern  selbst  abhängt.  Sind  sie  in  der  Re- 
gel auch  genöthigt,  ihre  gegenwärtige  Thäti^keit  ganz  zu  Markte 
zu  tragen,  so  steht  es  doch  in  ihrem  Belieben,  das  zukünftige 
Arbeitsangebot  zu  vergrössern  oder  zu  verringern.  Ist  es  nun 
allen  Arbeitern  —  der  Einzelne  kann  hier  natürlich  nicht  viel 
ausrichten  —  wirklicher  Ernst  damit,  ihre  Zukunft  sicher  zu 
stellen;  unterlassen  sie  namentlich  das  Kinderzeugen,  so  lange 
sie  dies  noch  nicht  erreicht  haben:  so  wird  unzweifelhaft  spä- 
testens in  einem  Menschenalter  ihr  Lohn  um  die  hierzu  er- 
forderliche Summe  gestiegen  sein.  Freilich  nach  einer  Ueber- 
gangsperiode  voller  Entbehrungen;  allein  welches  Grosse  kann 
ohne  alle  Opfer  von  Seiten  der  Betheiligten  gewonnen  wer- 
den? Ich  sage,  spätestens  in  einem  Menschenalter,  wenn  näm- 
lich die  ganze  Steigerung  bloss  durch  vermindertes  Angebot 
verursacht  werden  soll;  vielleicht  schon  früher,  wenn  inzwi- 
schen ein  Aufblühen  der  Industrie  etc.  die  Machfrage  nach 
Arbeit  vergrössert.*)   Was  sich  hier  durch  Klugheit  und  Ein- 

*)  Von  grosser  Wichtigkeit  ist  in  dieser  Hinsicht  u.  A.  die  Hei- 
lighaltung der  Feiertage:  ich  meine  nicht  die  ebenso  wenig 
christliche  wie  menschenfreundliche  Verpönung  erlaubten  Vergnü- 
gens, sondern  das  Unterlassen  jeder  grobmateriellen  Arbeit.  Wenn 
jetzt  die  Feiertage  streng  gebalten  würden,  so  müsste  freilich  in 
den  Gegenden,  welche  bisher  davon  entwöhnt  waren,  eine  Ueber- 
gangszeit  verminderter  Einnahmen  für  den  Arbeiterstand  erfolgen. 
Bald  aber  würde  der  Lohn  durch  das  verminderte  Angebot  von  Arbeit 
so  hoch  steigen,  dass  der  Arbeiter  vom  Erlrage  der  sechs  Wochen- 
tage auch  den  Feiertag  hindurch  nach  seinen  usualen  Bedürfnissen 
leben  könnte.  Bei  demselben  Lohne  also  würden  die  niederen  Klas- 
sen weniger  zu  arbeiten  brauchen,  mehr  Zeit  für  Erholungen,  Fa- 
milienfreuden, geistliche  Sammlung  etc.  übrig  haben.  Fangen  sie 
umgekehrt  an,  den  Sonntag  zum  Werkeltage  zu  machen,  so  ist  die 
hieraus  erwachsende  Erhöhung  ihres  Lohnes  sehr  temporär;  das 
vermehrte  Angebot  wird  ihn  bald  auf  seinen  früheren  Stand  wie- 
der herabdrücken,  und  nur  die  vermehrte  Anstrengung  ist  geblie- 
ben. —  Man  sieht,  wie  die  wahre  Religiosität  und  die  wahre  Volks- 
freundlichkeit auf  dasselbe  Ziel  hinauslaufen.  Der  einzelne  Arbeiter 
vermag  auch  hier,  im  Guten  wie  im  Bösen,  nur  wenig;  aber  ein 
Gesetz  mit  gehörigen  Conlrolemaassregeln  könnte  ungemein  wohl- 


und  Cammunismus.  25 

tracht  der  niederen  Stände  ausrichten  lässt,  hat  die  englische 
Geschichte  des  vorigen  Jahrhunderts  bewiesen.  Als  unter 
Georg  IL  der  grosse  Aufschwung  der  englischen  Volkswirt- 
schaft und  die* gesteigerte  Nachfrage  nach  Arbeitern  deren  Lohn 
in  die  Höhe  trieb,  gewöhnte  sich  das  niedere  Volk  in  Eng- 
land ein  bequemeres,  comfortableres  Leben  an,  nicht  bloss 
von  der  Hand  in  den  Mund,  sondern  voll  Sauberkeit,  Nettig- 
keit und  Sicherheit  für  die  Zukunft.  Desgleichen  in  Schott- 
land, etwa  eine  Generation  später.  Den  entgegengesetzten 
Weg  schlugen  die  Irländer  ein,  als  im  Anfange  des  18.  Jahr- 
hunderts durch  den  beispiellos  vermehrten  Kartoffelbau  die 
Productionskosten  der  Arbeit  wesentlich  sanken,  der  Nahrungs- 
spielraum des  Volkes  also  weiter  wurde.  Dem  Iren  fiel  es 
nicht  ein,  als  Staatsbürger  und  Gentleman  eine  Stellung  ein- 
nehmen zu  wollen;  die  (Jnsauberkeit  seiner  Kleidung,  seiner 
Wohnung  ist  ihm  nicht  zuwider;  sein  Leichtsinn  denkt  nicht 
an  die  Zukunft.  Solchen  Menschen  kommt  es  zu,  sich  an 
die  Genüsse  des  Augenblicks  zu  halten,  und  die  vermehrten 
Unterhaltsmittcl  nur  zu  einer  noch  stärkeren  Populationsver- 
mehrung anzuwenden.  So  haben  die  Engländer  und  Schot- 
ten ihren  hohen  Lohn  selbst  verdient,  die  Iren  den  niedrigen 
grossentheils  selbst  verschuldet.  —  Niemand  glaube  übrigens, 
dass  eine  Lohnerhöhung  in  der  eben  beschriebenen  Weise 
den  höheren  Klassen,  Grundherren  und  Kapitalisten,  nachthei- 
lig sein  müsse.  Wo  ganze  Districte  oder  gar  Nationen  in  dem 
Rufe  stehen,  bessere  Arbeiter  zu  besitzen,  als  andere,  da  ist 
in  der  Regel  dieser  Umstand,  von  der  besseren  Nahrung,  Klei- 
dung etc.  bedingt.  So  hat  man  gefunden,  dass  der  geringere 
Werth  der  französischen  Arbeiter  gegenüber  den  englischen 
sehr  zusammenhangt  mit  ihrer  geringen  Fletschnahrung.  Rei 
besserer  Kost,  wie  manche  Reispiele  zeigen,  arbeitet  auch  der 
Franzose  besser.  So  haben  französische  Fabrikanten  auch 
bemerkt,  dass  nach  Reduction  der  sehr  hoch  getriebenen  Ar- 
beitszeit um  eine  halbe  Stunde  das  Product  sich  an  Masse 


thatig  wirken.    Dies  Gesetz  wäre  alsdann  gleichsam  das  Organ  ei- 
ner allgemeinen  Arbeiterverabredung. 


26  Betrachtungen  über  Socialimus 

und  Güte  nicht  verminderte,  sondern  um  ,V  zunahm/)  — 
Sismondi  hat  einst  gemeint,  die  Fabrikherren  müssten  zur 
Sorge  für  die  Krankheiten,  das  Alter  etc.  der  Arbeiter  strenge 
verpflichtet  werden ;  dagegen  durften  sich  die  Letzteren  ohne 
ihren  Gonsens  nicht  verheirathen.    Offenbar  ein  etwas  chi- 
märischer Vorschlag,  da  der  einzelne  Fabrikant,  der  so  leicht 
Bankerott  macht,  unmöglich  eine  solche,  erst  nach  langer 
Zeit  fällige,  Leistung  sichern  kann;  einstweilen  auch  der  Ar- 
beiter schwerlich  dahin  zu  bringen  wäre,  dass  er  ihm  einen 
so  grossen  Theil   seiner  Selbstständigkeit  aufopferte.    Was 
Sismondi  hier  durch  papierne  Gesetze  erreichen  wollte,  das 
sucht  auf  die  von  mir  bezeichnete  Weise  das  Leben  selbst, 
organisch,  mit  Freiheit  zu  erreichen.    Ob  es  gelingen  wird; 
ob  die  grosse  Masse   der  Arbeiter  einer  solchen  Vorsicht, 
Selbstbeherrschung  und  Beharrlichkeit  fähig  ist,  wie  sie  die- 
ser Zweck  erfordert:  —  das  ist  eben  der  Angelpunkt,  um 
welchen  sich  die  Frage  von  der  Unvermeidlichkeit  der  geld- 
oligarchisch-proletariscben  Spaltung  und  dem  Altern  des  Vol- 
kes überhaupt  dreht    Wer  woHte  verkennen,  dass  alle  die- 
jenigen, welche  irgend  auf  das  Volk  Einfluss  besitzen,  Lehrer 
von  jeder  Art,  Schriftsteller,  Staatsbeamte,  Gesetzgeber,  au 
einer  glücklichen  Lösung  dieser  Frage  viel,  sehr  viel  beitragen 
können?  Sie  sind  Alle  heilig  dazu  verpflichtet   Ganz  beson- 
ders auch  die  Fabrikanten,  die  Industrievereine  u.s.w.:  es 
müssten  denn  solche  Unmenschen  sein,  wie  man  sie  in  Frank- 
reich wohl  hier  und  da  bemerkt  hat,**)  weiche  «.  B.  den  Spar- 


*)  Chevalier  Cours  I,  115.  151.  Aehnliche  Erfahrungen  in 
Schleswig -Holstein:  Hanssen  in  Raus  Archiv  IV,  421. 

**)  Commissionsbericht  von  Dupin  in-  der  franz.  Deputirten- 
kammer  vom  16.  Mai  1834.  Mit  der  höchsten  Achtung  muss  dage- 
gen mancher  anderen  Fabrikanten,  zumal  im  Elsass,  gedacht  wer- 
den, die  ihren  Arbeitern  Haus  und  Garten  als  Tbefl  ihres  Lohnes 
anweisen,  und  6ie  durch  fortgesetzte  Sparsamkeit  endlich  Eigen- 
tbumsrecht  daran  gewinnen  lassen.  —  Wann  aber  werden  die  Fa- 
brikanten einsehen  lernen,  dass  sie  in  ungewöhnlich  günstiger  Zeit 
zu  einer  angemessenen  Lohnerhöhung  verpflichtet  sind,  wenn 
sie  in  ungewöhnlich  ungünstiger  zu  einer  Lohnenriedrigang  be- 
rechtigt sein  wollen? 


und  Commumsmut.  27 

Lassen  gram  sind,  um  ihre  Arbeiter  nicht  allzu  unabhängig 
werden  zu  lassen.  Jeder  Fortschritt,  den  das  Volk  in  wahrer 
Aufklärung,  wahrer  Freiheit,  wahrer  Religiosität  macht,  ist 
auch  ein  Fortschritt  der  vorliegenden  Sache.  Ob  das  Ge- 
bäude vollendet  werden  kann,  steht  in  Gottes  Hand.  Wehe 
dem,  welcher  voreilig  daran  verzweifelte  1  Auch  nur  ein  Stock- 
werk, ja  nur  einen  Stein  hinzuzufügen,  „ist  ein  grosser  Ge- 
danke, und  des  Schweisses  der  Edlen  werth." 

Nachschrift. 

So  eben  lese  ich  den  Aufsatz,  welchen  H.  Leo  im  No- 
vemberhefte der  evangelischen  Kirchenzeitung  über  E.  Sue's 
neueste  Romane  geschrieben  hat  Nun  kann  es  Niemandem 
weniger  einfallen,  für  Sue  zum  Bitter  zu  werden,  als  mir. 
Aber  ich  muss  doch  sagen,  so  geistvoll  der  Leo'sche  Aufsatz 
im  Einzelnen  ist,  wenn  auch  von  zahlreichen  (Jebertreibungen 
und  Leidenschaftlichkeiten  entstellt,  und  so  wohlmeinend  ge- 
wiss im  Ganzen,  so  doch  auch  in  der  Hauptsache  ungemein 
kurzsichtig.  Ein  grosser,  gefährlicher  principieller  Irrthum 
liegt  ihm  zu  Grunde.  Leo  redet  davon,  däss  sich  ganz  un- 
vermeidlich sehr  vieles  Elend  auf  der  Erde  finde,  vorzugsweise 
für  die  niederen  Klassen  und  in  grossen  Städten.  Gewiss! 
Nun  habe  zum  Glück  die  Macht  der  Gewohnheit  alle  dieje- 
nigen, welche  fortwährend  durch  jenes  Elend  berührt  werden, 
mit  einer  heilsamen  „Schwielenhaut"  versehen,  wodurch  sie 
eine  Menge  von  Dingen,  die  uns  Anderen  unerträglich  sind, 
leicht  ertrügen.  Auch  wahr!  Diese  Schwielenhaut  ihnen 
abzuziehen,  sei  die  ärgste  Grausamkeit.  Hier  liegt  der  Irr- 
thum. Wäre  jenes  Elend  gänzlich  ohne  Hoffnung  des  Bes- 
serwerdens, so  hätte  Leo  Recht  Das  ist  es  aber,  Gott  sei 
Dank,  nicht:  die  Erfahrung  lehrt,  dass  sich  allerdings  die  nie- 
deren Klassen«  ganzer  Völker  und  lange  Zeit  hindurch  in  be- 
haglicher, menschenwürdiger  Lage  befinden  können.  Um  da- 
hin zu  gelangen,  ist  die  erste  Bedingung,  dass  die  betreffen- 
den selbst  danach  streben.  Wie  können  sie  dies,  so  lange 
jene  Schwielenhaut  unverdünnt  bleibt?  Freilich  die  Ueber- 
gangsperiode  zwischen  dem  Erwachen  des  Bedürfnisses  und 


28    Betrachtungen  über  Socialismus  und  Communismus. 

seiner  Befriedigung  ist  eine  vielfach  drückende,  und  sie  kann 
ein  volles  Menscbenalter  hindurch  fortdauern;  manche  Ein- 
zelne werden  der  Versuchung  unterliegen,  selbst  ganze  Völ- 
ker sie  nur  dann  bestehen,  wenn  sie  noch  einen  bedeuten- 
den Kern  nationaler  und  sittlicher  Lebenskrall  in  sich  tragen. 
Aber  wo  in  der  Welt  gäbe  es  einen  Fortschritt,  der  nicht 
zeitweilige  Opfer  und  für  den  ganz  Schwachen  Gefahren  mit 
sich  brächte?  Ist  es  auch  „grausam,"  dem  Wilden  sein  uu- 
stätes,  heimathloses  Leben  zu  verleiden,  wenn  man  ihn  da- 
durch zum  Ackerbau  und  zur  Gründung  eines  Vaterlandes 
anleitet?  Ist  es  „grausam,"  einen  natürlichen  Menschen  die 
Höllenfahrt  der  Selbsterkenntniss  antreten  zu  lassen,  wenn 
man  ihn  dadurch  zu  Gott  führt?  Jeder  Fortschritt  zum  Bes- 
seren besteht  in  der  Anregung  neuer,  höherer  Bedürfnisse, 
sammt  deren  Befriedigung.  Die  Leo'sche  „Schwielenhaut," 
consequent  ausgebildet,  würde  den  Menschen  zum  Tbier  er- 
niedrigen. Sie  abzustreifen,  kann  wohl  schädlich  wirken, 
wenn  der  Arzt  ein  Pfuscher  oder  der  Kranke  unheilbar  ist; 
aber  es  ist  doch  immer,  wenn  richtig  angewendet,  die  uner- 
lässliche  Vorbedingung  des  Gesund  Werdens. 

Göttingen. 

W.  Röscher. 


Steuere  Erscheinungen  der  historischen 

Literatur  in  .Italien* 

(Siehe  Bd.  HI.  S.  497  ff) 


5. 

Wenn  man  bedenkt,  wie  unglaublich  gross  die  Masse  histo- 
rischen Materials  in  den  römischen  Archiven  und  Bibliothe- 
ken ist,  so  dass  sie  noch  Jahr  für  Jahr  auswärtige  Gelehrte 
herbeilockt,  wie  auf  der  anderen  Seite  es  keinen  Ort  der 
Erde  giebt,  an  dem  so  viele  und  so  grosse  Erinnerungen  haf- 
ten, wie  an  der  Stadt  der  sieben  Hügel,  so  weiss  man  sich 
kaum  zu  erklären,  wie  die  historische  Literatur  zu  dem  Grade 
der  Erstarrtheit  hier  hat  herabsinken  können,  auf  dem  sie 
sich  jetzt  beßndet.  Rom  Sst  bekanntlich  reich  an  Akade- 
mien, in  dopen  auch  die  Geschichtswissenschaft  vertreten  ist, 
und  wo  nicht  selten  historische  Abhandlungen  gelesen  wer- 
den, die  dann  in  Brochüren  wohl  auch  in  ein  grösseres  Pu- 
blicum kommen.  Aber  ausser  diesen  und  einigen  Artikeln 
der  neugestifteten  Zeitschrift:  II  Saggiatore,  redigirt  von  A. 
Gennarelli  und  P.  Mazio,  sieht  man  sich  vergeblich  nach  Pro- 
ductionen  auf  diesem  Gebiete  der  Wissenschaft  um,  man 
müsste  denn  Gompilationen ,  die  nur  dem  nächsten  Bedürf- 
nisse entsprechen  und  alles  wissenschaftlichen  Gehalts  ent- 
behren, hierher  ziehen  wollen. 

Die  erwähnte  Zeitschrift:  II  Saggiatore,  die  seit  dem 
Anfange  dieses  Jahres  in  Heften  erscheint,  von  denen  monat- 
lich zwei  ausgegeben  werden,  will  nicht  der  Geschichte  allein 
dienen,  sondern  zugleich  der  Literatur  im  Allgemeinen,  den 
schönen  Künsten,  der  Philologie  u.  s.  w.,  aber  der  bedeutend- 


30  Neuere  Erscheinungen  der 

sie  Theil  ihrer  Mittheilungen  ist  dennoch  geschichtlicher  Art 
Die  Mitarbeiter,  meist  jüngere  Gelehrte,  die  sich  hier  wäh- 
rend des  Winters  zu  wissenschaftlichen  Unterhaltungen  im 
Hause  des  amerikanischen  Consuls  Greene  zu  vereinigen  pfle- 
gen, fühlen  sich  auf  diesem  Felde  besonders  heimisch,  und 
können  über  ein  reichhaltiges  Material  gebieten,  da  ihnen  die 
meisten  Privatarchive  geöffnet  sind.  .  So  sind  denn  schon 
manche  interessante  Actenstücke  durch  sie  an  den  Tag  ge- 
kommen, besonders  für  die  Geschichte  Kaiser  Karls  V.  und 
König  Heinrichs  IV.  von  Frankreich;  was  zur  Erläuterung 
derselben  von  den  Herausgebern  geschah,  scheint  mir  eben 
nicht  von  grossem  Belang,  und  wo  diese  ohne  einen  solchen 
bestimmten  Anhaltspunkt  sich  selbstständig  auf  das  Gebiet 
der  Geschichte  wagen,  verlieren  die  sich  leicht  in  zweck- 
und  ziellose  Reflexionen,  die  leider  dem  Geschmack  der  heu- 
tigen Römer  nur  allzusehr  zuzusagen  scheinen. 

Aus  der  Bibliothek  des  Yaticans  hat  der  Cardinal  A.  Mai 
in  den  10  Bänden  seines  Spicilegium  Romanum  neuer- 
dings Vielerlei  und  Mancherlei  publicirt  So  sehr  man  auch 
den  Arbeiten  des  Cardinais  das  Bestreben  ansiebt  iu  möglich- 
ster Schnelligkeit  starke  Volumina  zu  machen,  so  musff  man 
ihm  doch  den  grössten  Dank  für  seine  Mittbeihnigen  wissen, 
da  er  von  den  einheimischen  Gelehrten  wirklich  der  Einzige 
ist,  der  die  Schätze  des  Vaticans  in  umfassender  Weise  sieb 
und  Anderen  zu  Nutze  macht.  Was  alles  Einzelne  in  dieser 
Sammlung  werth  ist,  möchte  schwerlich  ein  Einzelner  beur- 
teilen können,  denn  aus  sehr  verschiedenen  Gebieten  der 
Wissenschaft  ist  der  Stoff  zusammengebracht.  Für  die  Ge- 
schichte dürfte  der  sechste  Band  am  bedeutendsten  sein, 
der  ein*  Sammlung  von  meist  ungedruckten  Biographien  der 
Päpste  bildet.  Der  Abdruck  des  bisher  unedirten  Leben  des 
Bernardus  Guido  wird  freilich  schwerlich  ein  solches  Be- 
dürfnis* gewesen  sein,  wie  A.  Mai  meintr  und  von  den  kur- 
zen historischen  Notizen  über  die  Päpste  des  Mittelalters,  die 
hier  und  da  in  dem  Bande  zerstreut  sind,  ist  bereits  ein  nicht 
geringer  Theil  an  anderen  Orten  gedruckt  Sehr  interessant 
waren  mir  die  p.  282  abgedruckten:  Vitae  aliquot  pontifiemn 


historischen  Literatur  tu  Italien.  ,1t 

quas  ex  diversis  bibliothecae  vaticanae  codicibus  Laur.  Zac- 
cagnius  eiusdem  bibliothecae  praefectus  delibaverat,  weil  sie 
mir  noch  völlig  neu  waren,  als  ich  sie  hier  las.  A.  Mai  hat 
die  Arbeit  von  Zaccagni,  einem  seiner  Vorgänger  als  Präfect 
der  Vaticana,  abdrucken  lassen;  wie  man  annehmen  muss 
ohne  selbst  die  Handschriften  zu  kennen  und  nachzusehen, 
aus  denen  jener  schöpfte,  denn  sonst  wären  nicht  nur  man- 
nigfache  Ungenauigkeiten,  sondern  auch  bedeutende  Lücken 
im  Text  derselben  unerklärlich.  Die  Hauptmasse  jener  Leben 
ist  aus  dem  Cod.  Vat  1984  entnommen,  aus  dem  sie  jetzt 
auch  in  den  Monum.  Germ,  nach  der  Abschrift  von  Pertz 
abgedruckt  sind.  Mir  steht  diese  neue  Ausgabe  noch  nicht 
zu  Gebote,  aber  die  Yergleichung  des  Mai'scfaen  Abdruckes 
mit  dem  Hanuscript  ergab,  dass  nach  dem  ersten  Leben  Ge- 
lasius'  IL  eine  ganze  Seite  des  Manuscripts  dort  ausgelassen 
ist/)  vieler  Abweichungen  im  Einzelnen  nicht  zu  gedenken. 
Das  zweite  Leben  Gelasius'  IL,  wie  das  zweite  Victors  IL, 
sind  vielleicht  aus  dem  Cod.  Vatic.  1437  von  Zaccagni  ent- 
nommen, sie  sind  unbedeutend  und  waren  auch  beide  bereits 
gedruckt  Das  erste  unter  dem  Namen  des  Gardinais  von 
Arragonien  bei  Muratori,  das  andere  bei  Höfler  (Deutsch« 
Päpste  I.  2,  p.  379).  Zu  welchem  Cyclus  von  Papstleben  diese 
gehören,  und  von  wem  dieser  Cyclus  zuerst  geordnet  ist,  hoffe 
ich  später  einmal  ausführlich  zu  erörtern.  In  den  letzten 
Bänden  des  Spicilegium  findet  sich  nicht  Weniges  aus  den 
zahlreichen  noch  in  Handschriften  vorhandenen  Werken  des 
berühmten  Augustininermönches  Onuphrius  Panvinius  abge- 
druckt, aber  es  sind  zum  grossen  Theile  nur  Bruchstücke  und 
Auszüge,  die  in  solchen  Fällen  wenig  helfen.  Die  Einleitun- 
gen, welche  der  Cardinal  diesen  und  ähnlichen  kirchenhisto- 


*)  Späterer  Zusatz:  In  dem  Abdrucke  der  Mon.  Germ.  Script. 
T.  V.,  der  mir  jetzt  erst  zu  Händen  kommt,  findet  sich  die  bei  Mai 
ausgelassene  Stelle  p.  477  und  478  von  Huius  temporibus  in  hac 
civitate  Romana  —  et  mansit  aput  eum  usque  dum  ex  häc  vita  sub- 
tractus  est.  Uebrigens  beweist  der  neue  Abdruck  vollständig,  was 
ich  von  A.  Mai's  Ausgabe  oben  gesagt  habe. 
Berlin  den  2.  Mai  1845. 


32  Neuere  Erscheinungen  der 

rischen  Stucken  vorausgeschickt  hat,  zeigen,  dass  er  in  der 
klassischen  Philologie  mehr  zu  Hause  ist,  als  auf  diesem  Ge- 
biete, wie  er  dies  auch  selbst  an  einer  Stelle  zu  verstehen  giebt 

Unter  den  historischen  Abhandlungen,  die  ursprünglich 
für  den  Vortrag  in  einer  gelehrten  Gesellschaft  bestimmt,  erst 
später  einem  grösseren  Leserkreis  eröffnet  wurden,  nimmt 
eine  ausgezeichnete  Stelle  ein: 

Diplomatica  pontificia  ossieno  osservazioni  paleo- 
graöche  ed  erudite  sulle  bolle  de'  Papi.  Dissertazione  di  Mon- 
signore  Marino  Marini.    8.   70  S.   1841. 

Bei  dem  Interesse  des  Gegenstandes  und  bei  der  be- 
schränkten Verbreitung  der  Brochüre  (sie  ist  meines  Wissens 
gar  nicht  in  den  Buchhandel  gekommen)  ist  es  vielleicht  nicht 
unerwünscht  über  diese  Abhandlung,  obwohl  sie  bereits  am 
14.  Januar  1841  in  der  Versammlung  der  römischen  Gesell- 
schaft für  Archäologie  gelesen  wurde,  noch  jetzt  einige  Worte 
zu  hören.  Uebrigens  wird,  wie  ich  vernehme,  ein  stark  ver- 
mehrter-Abdruck  vorbereitet,  der  dann  auch  wohl  weiterhin 
seinen  Weg  finden  wird. 

Der  Graf  Monsignore  Marino  Marini,  Hausprälat  des  re- 
gierenden Papstes  und  Präfect  der  Vatikanischen  Archive,  hat 
sich  durch  Unterstützung  fremder  Studien,  wie  durch  eigene 
Arbeiten  einen  Namen  in  der  Gelehrtenwelt  neben  seinem 
grossen  Oheim  Gaetano  Marini  gesichert.  Zu  einer  Arbeit, 
wie  die  vorliegende,  konnte  schon  seiner  Stellung  nach  nie- 
mand mehr  befähigt  sein,  als  er,  der  fast  sein  ganzes  Leben 
in  den  Räumen  der  päpstlichen  Archive  zugebracht  bat,  und 
mit  jenen  Schätzen  vertraut  ist,  die  leider  noch  immer  dem 
Blicke  anderer  Menschen  entzogen  sind.  Alles,  was  er  von 
diesen  darbietet,  muss  dankenswerth  sein,  und  kann  nur  im- 
mer aufs  Neue  das  Verlangen  rege  machen,  nach  noch  reich- 
licheren, noch  ausführlicheren  Mittheilungen. 

In  dieser  Abhandlung  spricht  der  Verf.  'zuerst  von  den 
verschiedenen  Sammlungen  alter  und  neuer  Zeit,  durch  welche 
päpstliche  Bullen  bekannt  geworden  sind,  dann  von  der  gros- 
sen Bedeutung,  welche  diese  durch  ihren  Inhalt  gewinnen. 
Kürzer  ist  er  über  ihren  Werth  als  Quelle  des  kanonischen 


historische^  Literatur  in  Italien.  33 

Rechts,  ausführlich  über  ihre  Wichtigkeit  für  die  allgemeine 
Geschichte,  namentlich  im  Mittelalter.  Er  entwirft  erst  ein 
glänzendes,  meiner  Meinung  nach  zu  glänzendes,  Bild  von  der 
politischen  Stellung,  welche  die  Päpste  in  jener  Zeit  einnah- 
men, denn  dass  Gregor  V.  die  deutschen  Kurfürsten  einge- 
setzt, Innocenz  IV.  ihre  Zahl  auf  sieben  beschränkt,  dass  die 
Päpste  die  Königskrone  von  Polen  genommen  und  gegeben 
hätten,  glaubt  man  wohl  nirgends  mehr,  als  eben  in  Rom. 
Welche  Eingriffe  übrigens  in  die  Wahl  der  deutschen  Kö- 
nige die  Päpste  zu  Zeiten  sich  erlaubten,  zeigt  die  vom  Verf. 
unter  A.  mitgetheilte  Bulle  Urban's  IV.  recht  deutlich.  An  vielen 
Beispielen  wird  dann'dargethan,  wie  die  Geschäfte  von  der 
höchsten  Wichtigkeit  fast  durch  ganz  Europa  dem  Urteils- 
spruche der  Päpste  im  Mittelalter  unterworfen,  und  durch 
päpstliche  Bullen  entschieden  wurden;  die  hier  erwähnten 
Facta  werden  theils  durch  Gitate  aus  den  Originalregesten, 
theils  durch  ausführlichere  Mittheilungen  aus  denselben  be- 
legt. Die  unter  B  und  G  abgedruckten  Excerpte  aus  zwei 
Bullen  Innocenz'  IV.  betreffen  die  Verhältnisse  des  deutschen 
Ordens  zu  Russland,  die  Bulle  Alexanders  IV.  unter  D  die 
Besitzergreifung  Curlands  durch  den  Orden,  das  unter  E  ab- 
gedruckte Document  Johann's  XXII.  bezieht  sich  auf  die  mai- 
ländische  Geschichte. 

Nachdem  so  im  Allgemeinen  von  dem  Inhalt  und  der 
Bedeutung  der  päpstlichen  Bullen  gehandelt,  kommt  der  Verf. 
auf  sein  Hauptthema,  wo  vornehmlich  die  Form  derselben  in 
das  Auge  gefasst  wird.  Soviel  auch  über  alle  die  hier  ein- 
schlagenden Punkte  der  Diplomatik  geschrieben  ist,  bleibt 
doch  nach  Mabillon,  den  Maurinem,  Maffei  u.  A.  noch  un- 
endlich Vieles  zweifelhaft,  und  namentlich  für  die  schriftlichen 
Documente  aus  den  frühesten  Zeiten  des  Papstthums  ist  bei 
dem  grossen  Mangel  an  authentischen  Urkunden  wie  an  zu- 
verlässigen Nachrichten  fast  Alles  in  Unsicherheit  gestellt. 
Marini  ist  es  gelungen  einzelne  Punkte  mehr  aufzuklären,  als 
es  bisher  geschehen  war,  und  bei  anderen  mindestens  Fin- 
gerzeige zu  geben,  wie  man  in  dieser  schwierigen  Materie 
weiter  gelangen  kann.  Er  spricht  zuerst  von  den  Bullen  selbst, 

Zcitedirift  f.  Ge.cbichtaw.  IT.  1849.  3 


34  Neuere  Erscheinungen  der 

von  denen  die  Schreiben  der  Päpste  den  Namen  erhielten, 
und  lässt  sich  besonders  ausführlich  darüber  aus,  wie  es  zu 
erklären  sei,  dass  in  den  Bleisiegeln  der  Kopf  des  h.  Paulus 
immer  zur  Rechten,  der  des  h.  Pelrus  zur  Linken  gesetzt  ist,*) 
da  diesem  doch  von  jeher  in  der  römischen  Kirche  der  Vor- 
rang vor  jenem  eingeräumt  sei.  Dann  handelt  Marini  von  den 
monogrammatischen  Cirkeln,  welche  wir  seit  dem  11.  Jahr- 
hundert in  den  Bullen  gezeichnet  Gnden.  Diese  Materie  hät- 
ten wir  noch  ausführlicher  behandelt  gewünscht,  da  sich  in 
den  Wahlsprüchen  der  Papste,  die  hier  ihre  Stelle  fanden  und 
wie  ich  in  mehreren  Originalbullen  glaube  bemerkt  zu  haben, 
oft  von  ihrer  eigenen  Hand  geschrieben  sind,  mehr  indivi- 
duelle Beziehungen  zu  entdecken  sind,  als  man  sonst  bei  Din- 
gen dieser  Art  erwartet.  Es  lässt  sich  zeigen,  dass  der  Ge- 
brauch einen  bestimmten  Wahlspruch  in  die  Cirkel  zu  schrei- 
ben erst  unter  Gregor  VII.  sich  fixirte.  Victor  II.  schrieb  noch 
zwischen  jene  Cirkel:  Victoris  II.  S.  Romanae  et  apostolicae 
sedis  papae  nach  einer  Bulle  im  Berliner  geheimen  Staats- 
Archiv;  der  Wahlspruch  dieses  Papstes,  den  Marini  anführt, 
ward  von  Stephan  IX.  angewandt,**)  von  Victor  iL  ist  mir 
kein  Beispiel  bekannt.  Alexander  II.  wechselte  noch  mit  dem 
Motto:  Magnus  dominus  noster  et  magna  virtus  eius  und  dem 
anderen:  Deus  noster  refugium  et  virtus.  Eine  Bulle  von  ihm 
mit  dem  Bilde  des  h.  Petrus,  dem  eine  Hand  aus  den  Wol- 
ken einen  Schiüssel  reicht  und  der  Umschrift:  Quod  nectes 
nectam  quod  solves  ipse  resolvam,  wie  die  bei  Ciaconio  er- 
wähnte, findet  sich  auch  im  Berliner  geh.  Staatsarchiv  an  ei- 
ner Urkunde,  und  zeigt  dass  man  solcher  Siegel  sich  bis  zu 
jener  Zeit  öfters  bediente,  und  dass  sie  nicht,  wie  Marini  an- 
zunehmen geneigt  ist,  allein  als  Medaillen  dienten.    Einen 


*)  Beide  Köpfe  durch  ein  Kreuz  getrennt,  wie  man  sie  noch 
jetzt  bei  den  päpstlichen  Bullen  anwendet,  solten  zuerst  unter  Pa- 
schal  II.  in  Gebrauch  gekommen  sein.  Ich  habe  im  Archiv  von  La 
Cava  eine  Bulle  Gregor's  VH.  gesehen,  auf  der  die  beiden  Köpfe  in 
gleicher  Weise,  doch  ohne  das  Kreuz  in  der  Mitte  dargestellt  wa- 
ren; eine  Abbildung  dieses  Siegels  findet  sich  in  Muratori's  Antiqui- 
tates  V.  p.  488.        **)  Murat.  Antiquit.  V.  p.  975. 


historischen  Literatur  in  Italien.  35 

bestimmten  Wahlspruch  stets  in  die  monogrammatischen  Cir- 
kel  zu  setzen,  wurde,  wie  eben  erwähnt,  erst  seit  Gregor  VII. 
fester  Gebrauch,  Marini  hat  eine  nicht  geringe  Anzahl  sol- 
cher Motto's  beigebracht,  die  sich  aber  leicht  noch  vermehren 
liesse.  Dann  spricht  der  Verf.  über  die  verschiedenen  Arten 
der  papstlichen  Schreiben,  wie  sie  in  ihren  Formeln  dem 
Inhalte  gemäss  modificirt  wurden,  wobei  er  sich  besonders 
bei  den  epistolae  formatae  aufhält,  die  in  der  frühesten  Zeit 
der  Kirche  vielfach  erwähnt  werden  und  deren  Wesen  nichts 
desto  weniger  ziemlich  räthselhaft  ist.  Hieraufgeht  er  zu  den 
Regesten  über,  in  denen  die  Gopien  der  papstlichen  Schrei- 
ben aufbewahrt  wurden.  Zum  Beweise,  wie  hoch  die  Glaub- 
würdigkeit der  päpstlichen  Regesten  angeschlagen  wurde,  fuhrt 
er  aus  den  Regesten  Gregor's  IX.  einen  Vertrag  des  Herzogs 
Wladislaw  von  Polen  mit  seinem  Bruder  Heinrich  vom  J.  1234 
an,  in  dem  es  ausdrücklich  am  Schlüsse  beisst:  Ad  maius 
facti  robur  et  evidentiam  haec  omnia  in  Registris  Domini  Pa- 
pae  Dominis  Episcopis  procurantibus  redigantur.  Das  Acten- 
stäck  ist  unter  F.  mitgetheilt.  Lieber  das  Material,  auf  dem 
und  die  Charaktere,  in  denen  die  Bullen  geschrieben  wurden, 
lässt  sich  der  Verf.  nur  kurz  aus,  ausführlicher  über  die  Zeit- 
bestimmungen in  der  Datumszeile,  über  die  Formeln  am  Ein- 
gang und  Ausgang  der  Bullen.  Zum  Beweise,  dass  zuweilen 
der  Name  des  Papstes  im  Monogramm  geschrieben  wurde, 
wird  unter  G.  eine  Bulle  Jobann's  XII.  für  die  Kirche  S. 
Trifone  in  Rom  mitgetheilt,  die  auch  in  anderer  Beziehung 
interessant  ist  Marini  versichert,  dass  sie  die  einzige  sei  in 
den  Vaticanischen  Archiven,  in  der  sich  ein  solches  Namens- 
monogramm finde,  und  sohliesst  daraus,  dass  der  Gebrauch 
desselben  sehr  selten  gewesen  sei.  Indessen  erinnere  ich  mich 
auch  andere  Bullen  des  zehnten  Jahrhunderts  gesehen  zu  ha- 
ben, in  denen  ein  solches  Monogramm,  wie  es  in  jenen  Zei- 
ten durchgängig  auf  päpstlichen  .Münzen  und  häufig  an  römi- 
schen Bauwerken  vorkommt,  sich  antrifft.  Für  das  zum  Mo- 
nogramm verzogene  Bene-valete,  das  sich  in  unzähligen  Bullen 
findet,  war  es  wohl  unnötbig  das  unter  H.  abgedruckte  Do- 
cmnent  Clemens  III.  für  S.  Trifone  beizubringen,  indessen  ist 

3* 


36  Neuere  Erscheinungen  der 

es  an  sich  eine  dankenswerthe  Gabe,  wie  jedes  Document 
des  früheren  Mittelalters,  das  sich  auf  Rom  bezieht,  da  wir, 
von  allen  andern  ausführlichen  Quellen  verlassen,  unsere 
Kenntniss  der  so  wichtigen  Stadtgeschichte  fast  nur  aus  sol- 
chen und  ahnlichen  Urkunden  schöpfen  können. 

Bei  der  ausgezeichneten  Stellung,  die  Monsignore  Marini 
einnimmt,  dürfte  es  vielleicht  manchem  künftigen  Forscher 
von  Interesse  sein  den  Umfang  seiner  literarischen  Arbeiten 
zu  kennen,  zumal  da  nicht  wenige  derselben  ungedruckt  oder 
nicht  in  den  Buchhandel  gekommen  sind.  Ich  bin  um  so  mehr 
im  Stande  für  die  Richtigkeit  meiner  Angaben  einzustehen, 
da  ich  mich  dabei  auf  Mittheilungen  stütze,  die  ich  der  Ge- 
fälligkeit des  Verf.  selbst  verdanke.  Die  Schriften  sind  in 
chronologischer  Folge  diese: 

1816.  Memorie  storiche  dell'  occupazione  e  restituzione 
degli  Archivj  PontiOcj  e  del  riacquisto  de'  Godici  Yaticani  e 
de'  manoscritti,  e  museo  di  storia  naturale  di  Bologna.  Unedirt 

1818.    Monumenta  Galliensia  medii  aevi.    Unedirt 

1820.  Lettera  diretta  a  Mgr.  Antonio  Frosini  relativa 
alla  Specola  Vaticana.    Unedirt. 

1821.  De'  pregi  di  un  manoscritto  italiano  dell'  anno  1279 
recentemente  trovato  negli  Archivi  Yaticani.  4.  Roma  presso 
de  Romanis. 

1822.  Nuovo  esame  dell'  autenticitä  de9  diplomi  di  Lu- 
dovico  Pio,  Ottone  I.  ed  Arrigo  II.  sul  dominio  temporale  de' 
Romani  Pontefici.  4.  Roma  presso  de  Romanis.  Als  Anhang 
Lettera  diretta  al  Barone  Carlo  Yan  Yivere  sul  inerito  del 
Regesto  di  Gencio  Gatnerario. 

1822.  Degli  Aneddoti  di  Gaetano  Marini.  4.  Roma  presso 
Lino  Contedini. 

1824.  Memoria  concernente  la  riunione  in  Roma  di  tutti 
gli  Archivj  diplomatici  dello  stato  Pontificio,  corredata  degli 
analoghi  Brevi  di  Pio  IV.  e  di  Pio  V.  e  di  una  lettera  del 
Cardinal  Amulio.   Scritta  per  ordine  di  Leone  XII.   Unedirt 

1828.  Appendice  alle  memorie  storiche  suIP  occupazione 
e  restituzione  degli  Archivi  Yaticani  etc.    Unedirt 

1832.    Di  un  anello  e  di  un  Cammeo,  dissertazione  epi- 


historischen  Literatur  in  Italien.  37 

stolare  diretta  a  Mgr.  Alberto  Barbolani  de'  Conti  di  Mon- 
tanto.  8.  Roma  presso  Salviucci. 

1834.  Difesa  di  Msr.  Gaetano  Marini  per  Popera  de9  Pa- 
piri.  Lettera  anonima  diretta  da  Filalete  al  Marchese  Ber- 
nabö.   Roma  presso  Menicanti  e  Giunchi. 

1835.  Spicilegium  genealogicum  et  historicum  Regalis 
Familiae  a  Sabaudia  monumentis  e  tabulariis  Vaticanis  de- 
promptis  congestum.    Nicht  publicirt. 

1836.  Serie  cronologica  degli  Abbati  del  Monastero  di 
Farfa,  dissertazione  epistolare  diretta  all'  Emo  e  R"°  Principe 
Luigi  Card.  Lambruschini.  4.  Roma  presso  Giunchi  e  Me- 
nicanti. 

1841.  Diplomatica  Pontificia  (s.  oben). 

1842.  Risposte  ai  quesiti  della  Deputazione  pei  monu- 
menti  al  Metastasio,  al  Visconti,  al  Pinelli.    Roma. 

So  eben  ist  Msr.  Marini  mit  der  Herausgabe  historischer 
Denkwürdigkeiten  seiner  Vaterstadt  Arcangelo  beschäftigt/) 
mit  welcher  Arbeit  er,  wie  er  mir  sagte,  seine  literarische 
Lau/bahn  beschliessen  wird.  Mindestens  ebenso  grosse  Ver- 
dienste, als  durch  seine  eigenen  Productionen  hat  sich  Ma- 
rini durch  die  Art  und  Weise  erworben,  wie  er  Schatze  des 
Vaticans  für  die  Geschichte  anderer  Länder  zugänglicher  machte, 
indem  er  theils  durch  „musterhafte  Gefälligkeit/4  die  schon 
Pertz  von  ihm  rühmt,  fremde  Gelehrte  bei  ihren  Nachsu- 
chungen unterstützte,  theils  selbst  die  Hand  daran  legte,  dass 
Abschriften  und  Auszüge  der  Vaticanischen  Urkunden  an  an- 
deren Orten  verbreitet  wurden.  In  erster  Beziehung  hat  die 
Geschichte  Deutschlands  und  Böhmens  bei  den  umfassenden 
Arbeiten  von  Pertz  und  Palacky  viel  durch  ihn  gewonnen,  wie 
allgemein  bekannt  ist.  In  der  letzteren  hat  er  der  Geschichte 
Englands  und  Russlands  den  wichtigsten  Beistand  geleistet,  wie 
der  in  vier  Bänden  gedruckte  Codex  diplomaticus  Rutheno- 
Moscoviticus  zeigt,  und  wie  noch  mehr  die  sechs  Bände  der 


*)  Späterer  Zusatz.  Diese  ^chrift  ist  inzwischen  erschienen 
und  Msr.  Marini  ist  jetzt  mit  der  neuen  Ausgabe  seiner  Diplomatica 
Pontificia  eifrigst  beschäftigt. 


3g  Neuere  Erscheinungen  der 

Monumenta  Britannica  medii  aevi  beweisen  würden,  wenn 
diese  der  literarischen  Welt  zugänglich  wären. 
Rom.   November  1844. 

6. 
Bei  weitem  mehr  literarisches  Leben,  als  in  Rom,  ist  in 
Florenz,  und  namentlich  kommt  dies  auch  der  Geschichtswis- 
senschaft zu  gute,  für  welche  die  Mediceerstadt  einst  so  Gros- 
ses geleistet  hat  und  sich  den  alten  Ruhm  mit  Recht  nicht 
ganz  entreissen  lassen  will.  Die  Bibliotheken  und  Archive, 
mit  rühmenswerther  Freigebigkeit  eröffnet,  bieten  einen  un- 
ermesslichen  Stoff  dar,  und  selbst  zu  umfassenden  Arbeiten 
würden  sich  leicht  tüchtige  Kräfte  finden,  wenn  diese  Stu- 
dien besonderer  Gunst  der  Regierung  oder  aufmunternder 
Theilnahme  beim  grossen  Publicum  sich  erfreuten.  Aber  an 
beiden  gebricht  es  doch  sehr,  wie  mir  scheint  So  geschieht 
denn  im  Grossen  und  Ganzen  doch  nicht  so  viel,  als  man 
meinen  sollte,  die  besten  Kräfte  erlahmen  oder  zersplittern  sich. 
Fasst  man  aber  den  Stand  der  historischen  Literatur 
hier,  wie  er  nun  einmal-  ist,  näher  in  das  Auge,  so  ist  be- 
merkenswerth,  wie  man  sich  vorzugsweise  auf  die  Heraus- 
gabe bisher  ungedruckter  Quellen  und  Actenstücke  gelegt  bat, 
während  die  eigentliche  Forschung  und  Darstellung  wenig  in 
bedeutender  Weise  versucht  ist  Ausser  den  bekannten  Do- 
cumenti  di  storia  Italiana,  von  Giuseppe  Molini  herausgege- 
ben und  vom  Marchese  Gino  Gapponi  vortrefflich  eommentirt, 
sind  hier  seit  dem  J.  1838  5  Bände  der  venetianischen  Ge- 
sandtschaftsberichte durch  Eugenio  Alberi,  3  Bände  des  Car- 
teggio  d'artisti  von  dem  zu  früh  verstorbenen  Gaye,  die  Istorie 
Fiorentine  di  Giovanni  Cavalcanti,  eine  Hauptquelle  des  Mac- 
chiavelli,  von  Filippo  Polidori,  die  Ricordi  storici  di  Filippo  di 
Gino  Rinuccini  von  G.  Aiazzi  neu  herausgegeben  und  erläu- 
tert worden,  und  die  florentinischen  Chroniken  des  Jacopo 
Nardi  und  Benedetto  Varchi  in  neuen,  verbesserten  Ausgaben 
erschienen.  Aber  alle  diese  Publicationen  sind  an  Umfang, 
wie  an  innerer  Bedeutung  durch  das  Archivio  Storico  Ita- 
liano  überboten  worden,  voh  dem  seit  1842  8  starke  B^nde 
ausgegeben  sind  von  dem  reichsten  und  mannigfaltigsten  In- 


historischen  Literatur  iu  Italien.  39 

halte  —  eine  Sammlung  von  historischem  Material,  wie  seit 
Muratori  keine  ähnliche  für  Italien  erschienen  ist. 

Das  Hauptverdienst  bei  diesem  Unternehmen  gebührt  ohne 
Zweifel  dem  Verleger  Gio.  Pietro  Vieusseux,  der  mit  sel- 
tenem Geschick  bedeutende  literarische  Fähigkeiten  für  dies 
Unternehmen  zu  gewinnen  wusste,  und  mit  Einsicht  nicht  nur 
die  äusseren  Geschäfte  desselben  leitet,  sondern  auch  bei  der 
Bedaction  der  einzelnen  Erscheinungen  wesentlich  betheiligt 
ist.  Mächst  ihm  hat  sich  am  wirksamsten  erwiesen  der  Mar- 
chese  Gino  Capponi,  der  wohl  als  der  wissenschaftliche  Lei* 
ter  der  ganzen  Unternehmung  anzusehen  ist.  Ein  Name  von 
bedeutendem  Kufe  in  Italien  und  ein  Mann  von  dem  klarsten 
Blick,  sehr  umfassenden  Kenntnissen  und  Studien,  der  aber 
leider  durch  ein  Augenübel  an  umfangsreichen  selbstständigen 
Arbeiten  verhindert  noch  mehr  bestimmt  scheint  durch  An- 
trieb und  Einfluss  auf  Andere  der  Wissenschaft  zu  dienen, 
als  durch  eigene  Werke.  Ausser  ihm  waren  bisher  vornehmlich 
noch  an  der  Redaction  betheiligt,  von  Anfang  an  der  als  Her- 
ausgeber des  Gavalcanti  bereits  genannte  Filippo  Polidori, 
und  später  Tommaso  Gar,  von  dem  so  eben  eine  Ueberset- 
zung  des  Papencordt'schen  Cola  di  Rienzo  in  Turin  erschie- 
nen ist,  die  ausser  dem  Werthe  der  Treue  auch  noch  den  hat 
manche  Verbesserungen  besonders  in  den  AcUnstücken  zu  er- 
halten, ferner  Giuseppe  Ganestrini  und  Garlo  Milanesi. 

Man  wird  bei  dem  ganzen  Unternehmen  immer  im  Auge 
behalten  müssen,  dass  es,'  obgleich  im  besten  Sinne  des  Wor- 
tes, doch  immer  ein  buchhändlerisches  ist;  keine  Regierung, 
keine  grössere  wissenschaftliche  Verbrüderung  trägt  das  Ganze, 
sondern  allein  die  Gunst  eines  sehr  launischen  Publicums, 
dem  fortwährend  geschmeichelt  werden  muss,  um  seine  Theil- 
nahme  nicht  ganz  erkalten  zu  lassen.  Die  äusseren  Verhält- 
nisse, in  denen  das  Archiv  steht,  sind  durchaus  nicht  glän- 
zend. Bedenkt  man  dies,  so  wird  man  dem  Editore,  wie  den 
Redactoren  das  aufrichtige  Lob  zollen  müssen,  dass  sie  sehr 
Bedeutendes  geleistet  haben,  und  dass,  wo  etwa  Mängel 
sichtbar  werden^  sie  sicher  nicht  ihrer  Fahrlässigkeit  beizu- 
messen sind. 


40  Neuere  Erscheinungen  der 

An  eine  chronologische  Anoplnung  des  zu  druckenden 
Materials  war  unter  den  gegebenen  Bedingungen  gar  nicht 
zu  denken,  es  blieb  keine  Wahl,  als  nach  Materien  zu  ord- 
nen und  zwar  vornehmlich  so,  dass  die  auf  eine  Stadt  bezüg- 
lichen Quellen  und  Actenstücke  zusammengebracht  wurden  — 
eine  Eintheilung,  die  durch  den  Charakter  der  italienischen 
Geschichte  und  Literatur  nicht  minder  erlaubt  schien,  als  sie 
das  buchhändlerische  Interesse  gebot,  da  auf  den  communa- 
len  Patriotismus  in  der  Kostenberechnung  stark  gezählt  wer- 
den musste.  In  der  Auswahl  des  Stoffes  sah  man  vornehm» 
lieh  auf  durchaus  Neues,  nach  meiner  Meinung  vielleicht  zu 
ängstlich,  indem  es  wohl  bisweilen  gerathener  gewesen  wäre, 
schlechte  Texte  von  bereits  bekannten  Autoren  erster  Bedeu- 
tung zu  verbessern  und  neu  herauszugeben,  als  Mittelgut  zu 
drucken,  das  eher  noch  ein  Weilchen  in  den  Bibliotheken 
hätte  ruhen  können.  Ferner  suchte  man  für  das  mehr  ange- 
nehme Belehrung  als  wissenschaftlichen  Gewinn  suchende  Pu- 
blicum durch  Arbeiten  zu  sorgen,  die  auch  in  anmuthiger,  ein- 
schmeichelnder Form  geschrieben  waren.  Daher  vorzugsweise 
Schriftsteller  der  Quattrocento  und  Cinquecento  bisher  gedruckt 
sind.  Solche  Rücksichten  und  andere  haben  vielleicht  hier  und 
da  dem  streng  wissenschaftlichen  Charakter  des  Unternehmens 
Eintrag  gethan,  aber  im  Grossen  und  Ganzen  bleibt  der  Haupt- 
gewinn desselben  doch  der  Wissenschaft. 

Der  erste  Band  des  Archivs  ist  der  florentinischen  Ge- 
schichte, wie  billig,  eingeräumt  und  enthält  als  Hauptwerk 
die  Istoria  Fiorentina  di  Jacopo  Pitti,  von  der  leider  nur  2 
Bücher  vollständig,  die  andern  in  Fragmenten  erhalten  sind, 
dann  mehre  kleinere  Stücke,  unter  denen  von  vorzüglicher 
Schönheit  und  grossem  psychologischen  Interesse  die  Erzäh- 
lung des  Luca  della  Robbia  über  die  letzten  Stunden  des 
Pietro  Paolo  Boscolo  und  Agostino  Capponi,  die  wegen  einer 
Verschwörung  gegen  die  Medici  im  J.  1512  hingerichtet  wur- 
den —  ein  Kleinod  der  italienischen  Literatur,  das  durch  eine 
Uebersetzung  auch  dem  deutschen  Publicum  bekannt  gemacht 
zu  werden  verdiente  —  endlich  folgen  veffchiedene  Acten- 
stücke.   Die .  Herausgabe  dieses  Bandes  ist  besonders  durch 


historischen  Literatur  in  Italien.  41 

Polidori  besorgt.  Der  zweite  Band,  von  Gaetano  Milanesi 
herausgegeben,  ist  Siena  gewidmet,  den  Kern  desselben  bil- 
det 11  successo  delle  rivoluzioni  della  cittä  di  Siena,  ein  Werk 
des  Alessandro  di  Girolamo  Sozzini,  dem  sich  wiederum  klei- 
nere Schriften  und  Documente  anschliessen.  Den  dritten  Band 
edirte  Gesare  Gantü,  in  ihm  finden  sich  die  drei  mailändi- 
sehen  Chronisten  Giovan  Pietro  Cagnola,  Giovanni  Andrea 
Prato  und  Giovan  Marco  Burigozzo,  vornehmlich  für  das  15. 
und  16.  Jahrhundert  von  Bedeutung.  Den  vierten  Band  neh- 
men Lebensbeschreibungen  berühmter  Italiener  ein,  beson- 
ders solche,  die  aus  der  Feder  des  Yespasiano  Bisticci  ge- 
flossen sind,  und  die  zum  Theil  auch  gleichzeitig  durch  den 
Cardinal  Mai  edirt  wurden.  Die  Herausgabe  ist  von  mehren 
Mitarbeitern  besorgt  worden.  Der  fünfte  Band  enthalt  mehre 
bisher  unedirte  Schriften  des  Dogen  Marco  Foscarini,  vor- 
nehmlich seine  Storia  arcana  der  merkwürdigen  Ereignisse, 
welche  vom  Jahre  1733 — 1735  so  gewaltige  Verluste  für  das 
Haus  Oeslerreich  in  Italien  herbeiführten,  gewiss  eines  der 
ausgezeichneteren  Geschichts werke  des  vorigen  Jahrhunderts; 
als  Anhang  ist  ein  Yerzeichniss  der  Handschriften  der  Fos- 
carinischen  Collection  in  der  K.  K.  Hofbibliothek  zu  Wien 
gegeben,  dieses  wie  die  Herausgabe  des  ganzen  Bandes  dankt 
man  Tommaso  Gar.  Der  erste  Theil  des  sechsten  Bandes 
enthält  die  16  Bücher  pisanischer  Geschichten  des  Raflaello 
Roncioni,  ein  Werk  vom  Ende  des  16.  Jahrhunderts,  das  bei 
manchen  Vorzügen  auch  grosse  Schwächen  hat,  und  dem  um 
so  mehr  ein  so  vortrefflicher  Herausgeber  zu  wünschen  war, 
wie  es  ihn  in  dem  Professor  Francesco  Bonaini  zu  Pisa 
gefunden  hat  Der  siebente  TheiJ  ist  wieder  der  Geschichte 
Venedigs  gewidmet,  er  zerfällt  in  zwei  Bände,  von  denen  der 
erste  die  beiden  ersten  Abtheilungen  der  Annalen  des  Do- 
menico Malipiero  von  1457 — 1499  enthält,  herausgegeben  von 
Agostino  Sagredo  in  Venedig;  der  zweite  giebt  die  Fortset- 
zung und  das  Ende  derselben,  dann  die  Depeschen  des  Fran- 
cesco Foscari  und  der  anderen  Venetianischen  Gesandten  am 
Hofe  Maximilians  im  J.  1496  an  den  Senat,  Actenstücke,  die 
auch  für  die  deutsche  Geschichte  von  Wichtigkeit  sind,  und 


42  Neuere  Erscheinungen  der 

endlich  die  Venetianische  Geschichte  des  Daniele  Barbara  vom 
J.  1512—1515,  welche  wie  die  Depeschen  wieder  von  T.  Gar 
für  den  Druck  besorgt  ist. 

Es  würde  mir  unmöglich  sein  auf  die  einzelnen  Publi- 
cationen  des  Archivs  hier  näher  einzugehen,  auch  scheint  es 
weniger  nöthig,  da  dieselben  schon  seit  längerer  Zeit  in  den 
Händen  derer  sind,  die  vorzugsweise  sich  dem  Studium  der 
italienischen  Geschichte  zugewandt  haben,  und  durch  solche 
zum  Tbeil  auch  in  weiteren  Kreisen  bekannt  geworden  sind. 
Dankenswerther  wird  es  sein,  wenn  ich  eine  kurze  Nach- 
richt von  dem  gebe,  was  zunächst  vom  Archiv  zu  erwarten 
steht,  indem  ich  mich  dabei  der  mir  freundlich  zu  Dienst 
gestellten  Druckbogen  bediene. 

Zunächst  liegt  ein  bedeutender  Theil  von  der  zweiten 
Abtheilung  des  sechsten  Bandes  vor  mir,  in  dem  Professor 
Bonaini  das  zur  Kritik  des  Boncioni  erforderlfche  Material 
von  Documenten  und  Quellen  zusammengestellt  hat.  Den 
Anfang  bildet  eine  Sammlung  auf  fioncioni's  Werk  bezügli- 
cher Urkunden,  nur  in  Summarien  angegeben,  wenn  sie  ge- 
druckt waren,  in  extenso  publicirt,  wenn  sie  bisher  gar  nicht 
oder  nur  stückweise  herausgegeben  waren.  Ich  ziehe  die  bis 
jetzt  gedruckten  sehr  interessanten  Urkunden  unserer  Kaiser  an. 

1162.  Friedrich  I.  Verspricht  den  Pisanern,  er  werde  den 
in  Beichsacht  thun,  der  sie  beschädigt,  während  sie  im  Kriege 
in  seinen  Diensten  stehen. 

1162.  März.  Friedrich  L  meldet  den  Pisanern  das  Schick- 
sal Mailands. 

1191.  1.  März.  Heinrich  VI.  bestätigt  in  einer  sehr  aus- 
gedehnten Urkunde  den  Pisanern  die  Besitzungen  und  Ge- 
rechtsame, die  sie  vom  Beiche  besitzen,  schenkt  ihnen  die 
Hälfte  von  Palermo,  Messina,  Salerno  und  Neapel  mit  den 
betreffenden  Bezirken,  wie  Gaeta,  Mezzari  und  Trapani  un- 
geteilt, und  räumt  ihnen  einen  Handelsweg  mit  Kaufmanns- 
häusern in  allen  von  Tankred  besetzten  Städten  ein,  wie  den 
dritten  Theil  von  dem  Schatz  desselben  unter  der  Bedingung, 
dass  sie  ihn  unterstützen,  wie  ihr  Podestä  Theodicius  ge- 
schworen hat. 


historischen  Literatur  in  Italien.  43 

1191.  21.  October.  Heinrich  VI.  bestätigt  die  Gerecht- 
same und  Besitzungen  des  Capitels  von  S.  Maria  maggiore  in 
Pisa.   Die  beiden  Urkunden*  Heinrich's  sind  in  Pisa  gegeben. 

Der  Druck  der  Diplome  ist  erst  bis  zum  J.  1192  vorge- 
rückt, weiter  ist  man  bei  dem  der  Quellen  vorgeschritten. 
Es  sind:  Bernardi  Marongonis  vetus  Ghronicon  Pisanum,  schon 
bei  Muratori  gedruckt,  hier  aber  aus  einem  Pariser  Codex 
sehr  verbessert,  Gronaca  Pisana  di  Ranieri  Sardo  (vom  J.  962 
bis  1400),  sei  Capitoli  dell'  acquisto  di  Pisa  fatto  dai  Fioren- 
tini  nel  1406  di  Giovanni  di  Ser  Piero,  Memorial«  di  Gio- 
vanni Portoveneri  (vom  J.  1494—1500). 

Nur  im  Vorübergehen  erwähne  ich,  dass  der  neunte  Theil 
neapolitanische  Sachen  enthalten  wird,  von  denen  bereits  das 
Leben  des  Don  Pietro  di  Toledo  (Vicekönig  von  1532—1553) 
geschrieben  von  Scipione  Miccio  mit  den  dazu  gehörigen  Do- 
cumenten  gedruckt  ist;  werde  aber  länger  bei  dem  achten 
Bande  verweilen,  der  bald  in  den  Händen  des  Publicums  sein 
wird  und  nach  meiner  Meinung  an  Wichtigkeit  und  Interesse 
alle  früheren  Bände  des  Archivs  übertrifft.  Er  bringt  nämlich 
zwei  venetianische  Chroniken  des  13.  Jahrhunderts:  die  eine 
ohne  zureichenden  Grund,  wie  mir  scheint,  Ghronicon  AI« 
tinate  genannt,  in  lateinischer  Sprache;  die  andere  ein  Werk 
desMartino  daCanale,  französisch  geschrieben.  Beide  mit 
der  sogenannten  Ghronik  des  Sagornino,  die  man  von  dem  Jo- 
hannes Diaconus  nennen  sollte,  bilden  nun  für  die  ältere  Ge- 
schichte Venedigs  ein  ziemlich  bedeutendes  Material,  wäh- 
rend man  bisher  fast  immer  noch  dem  Dandolo  folgte,  der 
für  jene  Zeiten  doch  nicht  ohne  grosse  Vorsicht  benutzt  wer- 
den kann.  Freilich  wird  eine  gründliche  Kritik  erst  jetzt  mög- 
lich, wo  uns  in  der  Gbronik  des  Johannes,  in  der  sogenann- 
ten Altinatischen  und,  wie  ich  glaube,  auch  im  Ganale  Dan- 
dolo's  Gewährsmänner  ziemlich  vollständig  vorliegen. 

Ein  wunderlicheres  Gemisch,  als  wir  hier  im  Ghronicon 
Altinate  vor  uns  haben,  existirt  wohl  kaum  in  der  ganzen 
historischen  Literatur;  es  sind  Verzeichnisse  von  Dogen,  Bi- 
schöfen, kleine  Chroniken,  Fragmente  von  grösseren  fast  ohne 
alle  Ordnung  durcheinandergewürfelt,  Werke  verschiedener 


44  Neuere  Erscheinungen  der 

Zeiten,  verschiedenen  Inhalts,  verschiedener  Verfasser  bunt 
durcheinander  zusammengeschrieben.*)  Wenn  es  irgendwo 
eine  wichtige  und  dankbare  Aufgabe  für  die  historische  Kritik 
giebt,  so  ist  sie  hier,  doch  man  könnte  nicht  sagen,  dass  der 
Herausgeber  dieser  Quelle,  der  Professor  A.  Rossi,  sie  voll- 
ständig zu  lösen  auch  nur  versucht  habe,  obwohl  er  einen 
weitläufigen  und  in  vielen  Beziehungen  dankenswerthen  Gom- 
mentar  geliefert  hat.  In  einem  Briefe  an  Filippo  Polidorf  habe 
ich,  soweit  dies  mir  für  den  Augenblick  möglich  war,  ver- 
sucht die  verschiedenen  Bestandteile  der  Chronik  zu  tren- 
nen und  die  Epoche  der  einzelnen  Stücke  zu  bestimmen.  Ich 
mag  die  dort  gegebene  Begründung  meiner  Alisicht  jetzt  um 
so  weniger  des  Breiten  wiederholen,  als  vielleicht  jener  Brief 
anderweitig  zur  Kenntniss  des  Publicums  kommt.  Nor  die 
Endresultate  erlaube  ich  mir  vorläufig  anzuführen. 

Die  Chronik  enthält  acht  Bücher,  das  erste  giebt  dasYer- 
zeichniss  der  Dogen,  das  zweite  das  der  Patriareben  von  Grado, 
wie  der  Bischöfe  von  Oliveto  und  Torcello,  beide  werden, 
ihrer  ersten  Anlage  nach,  um  das  Jahr  1032  von  einem  Ver- 
fasser geschrieben  sein,  und  später  Zusätze  erhalten  haben. 
Als  Anhang  des  zweiten  Buches  dient  eine  Geschichte  der 
Verlegung  des  Bisthums  von  Altino  nach  Torcello,  die  in 
der  ersten  Hälfte  des  10.  Jahrhunderts  abgefasst  sein  muss; 
da  sie  in  ihrer  ganz  barbarischen  Latinität  ein  neues  Zeug- 
niss  für  die  Bildung  Italiens  in  jener  Epoche  giebt,  so  mag 
diese  Barbarei  auch  ihr  zu  einem  Verdienste  mehr  gereichen, 
wie  dem  Benedict  von  Soracte  (Pertz  ital.  Reise  S.  147).  Das 
dritte  Buch  liefert  in  derselben  verwahrlosten,  fast  unverständ- 
lichen Schreibart  ein  Verzeichniss  der  von  den  venetianischen 


*)  Späterer  Zusatz.  Eine  venetianische  Chronik  des  13. 
Jahrhunderts,  die  sich  in  der  Bibliothek  zu  Dresden  handschrift- 
lich befindet,  scheint  eine  Umarbeitung  des  Chronicon  Altinate  zu 
enthalten,  oder  es  müssen  ihr  wenigstens  mehre  Stücke  mit  diesem 
gemeinsam  sein.  Die  Notiz  von  dieser  Handschrift  verdanke  ich 
Herrn  T.  Gar,  der  bei  seinem  Aufenthalte  zu  Dresden  sie  einzuse- 
hen Gelegenheit  hatte. 
Berlin  den  2.  Mai  1845. 


n 


historischen  Literatur  in  Italien.  45 

Familien  gestifteten  Kirchen,  wie  der  Familien,  die  von  He- 
raclea  nach  Malamocco  und  Rialto  sich  umsiedelten,  und  die 
Erzählung  der  Kämpfe  zwischen  diesen  Inselstädten,  bis  end- 
lich Rialto  als  Hauptstadt  emporwuchs;  hier  sind  gewiss  manche 
Interpolationen  untergelaufen,  aber  der  Kern  des  Buches  rührt 
von  einem  Verfasser  her  und  ist  mindestens  vor  93?  ge- 
schrieben. Uebrigens  haben  wir  hier,  wie  schon  in  dem' An- 
hang des  zweiten  Buches  sicherlich  Volkstraditionen  vor  uns, 
in  denen  das  Fabelhalle  mit  dem  Wahren  wunderlich  gemischt, 
die  Zeiten  verwirrt,  die  Personen  verwechselt  sind.  Sehr  auf- 
fallend ist  besonders  die  Rolle,  welche  überall  in  diesen  Sa- 
gen die  Dogen  Obelerius  und  Beatus  spielen,  und  die  nur 
daraus  zu  erklären,  dass  unter  ihnen  durch  die  Zerstörung 
Heraclea's  die  letzte  grosse  Umwandlung  auf  den  Venetiani- 
schen  Inseln  erfolgte.  Das  vierte  Buch  ist  ein  Fragment  ei- 
ner grösseren  Chronik  von  Grado,  das  sich  in  einem  Vatika- 
nischen Codex  des  11.  Jahrhunderts  schon  vorfindet,  und  da 
es  bereits  dem  Diaconus  Johannes  bekannt  war,  mindestens 
vom  Ende  des  10.  Jahrhunderts  herrührt;  zum  grossen  Theil 
finden  wir  hier  nur  Wiederholung  des  Anhangs  zum  zweiten 
Buche,  jedoch  in  besserer,  klarerer  Form,  so  dass  gar  nicht 
zu  verkennen,  was  Original  und  was  Bearbeitung  sei.  Der 
Herausgeber  bringt  ein  sehr  positives  Zeugniss  bei,  dass  die- 
ses Fragment  von  dem  Patriarchen  Vitalis  Candiani  herrühre, 
und  es  möchte  kein  Grund  vorhanden  sein,  diesem  Zeugniss 
zu  widersprechen.  Man  kann  vielmehr,  wie  ich  glaube,  mit 
grosser  Wahrscheinlichkeit  annehmen,  dass  uns  hier  wirklich 
ein  Fragment  der  Chronik  jenes  Patriarchen  erbalten  sei,  die 
sich  dann  weiter  aus  der  Chronik  des  Barberinischen  Codex  er- 
gänzen lässt,  von  der  Ughelli  in  der  Italica  sacra  (V.  p.  1081  ff.) 
Bruchstücke  abdruckte.  Aber  auch  diese  Erzählung  des  Vitalis 
ist  in  den  ersten  Zeiten  durchaus  auf  Quellen  gestützt,  die 
der  Volkstradition  folgten,  und  erst  später  nimmt  sie  einen 
strengeren  Charakter  an/)  Johannes  Diaconus  wird  demnach 

*)  Die  Chronik  des  Vitalis  hat  in  letzter  Zeit  von  sich  sprechen 
machen.  In  dem  venetianiseben  Journal :  II  Gondoliere  (Jahrg.  1844. 
No.  29)  trat  ein  Herr  F.  Francesconi  auf,  und  berichtete,  dass  ein 


46  Neuere  Erscheinungen  der 

immer  der  Erste  unter  den  Venetianern  bleiben,  der  Sinn  für 
wahrhafte  Geschichte  hatte.  Sein  Nachfolger  gewissermaassen 
war  der  Verfasser  des  5.  uncf  6.  Buches  unserer  Chronik,  der 
vom  Dogen  Ordelafo  Faliero  bis  zum  Dogen  Pietro  Ziani  um 
das  J.  1230  ein  Gompendium  der  Venetianischen  Geschichte 
schrieb,  das  von  der  höchsten  Bedeutung  ist  Der  Verfasser 
fasst  die  Dinge  wirklich  im  Grossen  auf,  und  schreibt  klar 
und  würdig;  wiederholentlich  bezieht  er  sich  auf  ausführli- 
chere Annalen  der  Stadt,  die  uns  verloren  gegangen  schei- 
nen. Leider  haben  wir  grade  hier  in  dem  einzigen  bis  jetzt 
bekannten  Codex  des  Chronicon  Altinate  eine  sehr  bedeu- 
tende Lücke;  tbeil weise  lässt  sie  sich  jedoch  ergänzen  —  zum 
Glück  auch  da,  wo  die  Chronik  Tür  uns  am  wichtigsten  wird, 
m  der  Erzählung  von  dem  Frieden  des  J.  1177  —  aus  einer 
Copie  des  17.  Jahrhunderts,  die  sich  in  der  Bibliothek  von 
S.  Marco  findet  (Codd.  Ital.  Cl.  VII.  No.  212).  Schon,  früher 
hat  A.  Zon  in  dem  vierten  Bande  des  wichtigen  Inschriften- 
Werkes  von  E.  Cicogna  dieses  Stück  aus  jener  Copie  mit  ei- 
ner sehr  gründlichen  Abhandlung  über  den  Frieden  von  Ve- 
nedig herausgegeben.  Der  Verfasser  der  Erzählung  schöpfte 
bereits  aus  einer  älteren  Quelle,  und  sein  Bericht  stimmt 
durchaus  mit  dem  zweier  Augenzeugen  überein,  des  Romuai- 
dus  Salernitanus  und  des  Verfassers  der  Lebensbeschreibung 
Alexanders  III.,  die  von  Muratori  unter  dem  Namen  des  Car- 
dinais von  Arragonien  gedruckt  ist.  Wir  lesen  hier  nichts 
von  jenen  fabelhaften  Dingen,  die  später  über  die  Zusammen- 


Freund  von  ihm  in  Spanien  eine  Chronik  gekauft  habe,  deren  Ti» 
tel  Xrofi.  Vea  V.  Rand.  M.  sei,  am  Ende  Gnde  sich  das  J.  979,  die 
Schrift  sei  durch  so  viel  Abbreviaturen  unterbrochen,  dass  die  Ent- 
zifferung fast  unmöglich.  Es  wurde  ein  Specimen  gegeben,  und  zur 
Lösung  der  Aufgabe  aufgefordert,  die  allerdings  verzweifelt  scheint. 
Bin  Herr  A.  Giacomelli  erklarte  die  Sache  für  einen  Puff,  und  es 
entspann  sich  so  ein  Federkrieg,  bei  dem  nicht  viel  mehr  zum  Vor- 
schein kam,  als  eine  glänzende  Unwissenheit  in  der  Palaographie. 
Man  leitete  unter  andern  die  gothische  Schrift  von  den  Einfällen 
des  Alarich  her.  Ein  weiteres  Urlheil  in  der  Sache  abzugeben,  halte 
ich  für  ganz  unthunlich ,  da  es  an  allem  sicheren  Fundament  für 
die  Untersuchung  fehlt. 


historischen  Literatur  in  Italien.  47 

kunft  des  Kaisers  und  des  Papstes  von  Venedig  aus  verbrei- 
tet wurden,  und  die  vielleicht  auch  der  Verfasser  schon  kannte, 
denn  er  hält  es  für  nöthig  seinem  Bericht  ausdrücklich  hin- 
zuzufügen: „Sic  constat  manifeste  in  historia  de  hiis  conti- 
nente."  Sehr  merkwürdig  ist,  dass  derselbe,  der  keineswegs 
dem  Kaiser  sehr  geneigt  ist,  ihn  doch  durchaus  nicht  in  so 
verzweifelter  Lage  vor  dem  Frieden  erscheinen  lässt,  wie  fast 
alle  anderen  Quellen.  Das  siebente  und  achte  Buch  der  Chro- 
nik, die  auch  von  einem  Verfasser  herrühren  und  bald  nach 
1106  geschrieben  sein  müssen,  bringen  wieder  in  abscheuli- 
cher Latinitat  Fabeln,  die  alles  historischen  Gehaltes  entbeh- 
ren, romanhafte  Erzählungen  von  Narses,  Longinus,  Carl  dem 
Grossen^,  s.av.  Es  scheint  so  die  Volkstradition  endlich  ganz 
im  Roman  erstorben  zu  sein;  dagegen  tritt  nun  um  so  stärker 
die  gelehrte  Geschichtserfindung  oder  besser  Geschichtslüge 
hervor,  von  der  wir  freilich  auch  bereits  schon  im  3.  Buche 
unserer  Chronik  Spuren  bemerken,  die  aber  ausgebildet  für 
uns  erst  im  Canale  zum  Vorschein  kommt,  obwohl  diese  Er- 
findungen, die  Canale,  wie  mir  scheint,  bereits  auf  guten 
Glauben  hinnahm,  wohl  älter  sein  werden. 

Canale  folgte,  wie  er  selbst  sagt,  in  dem  grösseren  Theile 
seiner  Arbeit  einer  lateinischen  Chronik,  und  auf  diese  wer- 
den auch  jene  absichtlichen  Entstellungen  der  venetianischen 
Geschichte  wohl  zurückzuführen  sein,  die  wir  in  dem  frühe- 
ren Theile  seines  Werkes  finden.  Hier  schon  begegnet  uns 
das  J.  421  als  Stiftungsepoche  der  Stadt  auf  dem  Rialto, 
hier  schon  haben  wir  jene  Erzählung  von  der  Demüthigung 
Friedrichs,  wie  der  Papst  ihm  den  Fuss  auf  den  Nacken  ge- 
setzt habe  mit  den  Worten  des  Psalmisten:  Du  wirst  über 
Schlangen  und  Basilisken  wandern  und  wirst  zu  Boden  tre- 
ten Löwen  und  Drachen,  und  wie  der  Kaiser  geantwortet 
habe:  Es  gilt  nicht  dir,  sondern  dem  h.  Peter.  Nur  ist  hier 
die  Replik  des  Papstes  nicht  wie  gewöhnlich:  dem  h.  Peter 
und  mir;  sie  ist  viel  feiner  und  zugleich  viel  angemessener; 
Nicht  dir,  sondern  dem  heiligen  Constantin.  Canale  hat  übri- 
gens sein  Hauptverdienst  nicht  in  diesem  früheren  Theile,  son- 
dern vielmehr  da,  wo  er  die  Erlebnisse  seiner  Zeit  von  1250  bis 


48  Neuere  Erscheinungen  der 

1275  beschreibt.  Seine  Erzählung  ist  hier  reich  an  dem  in* 
teressantesten  Detail;  die  Kriege,  die  ßandelsunternehmun- 
gen,  die  Feste  und  Gewohnheiten  Venedigs  beschreibt  er  in 
höchst  belehrender  Weise  und  zugleich  in'  der  anmuthigsten 
Form.  Es  weht  ein  eigentümlich  romantisch -naiver  Geist 
durch  das  ganze  Buch,  und  ich  wüsste  es  keinem  anderen 
italienischen  Erzeugniss  jener  Epoche  zu  vergleichen,  wohl 
aber  möchte  es  den  catalonischen  Chroniken  des  Muntaner 
und  d'Esdot  in  seinem  Charakter  sich  nähern.  Die  Heraus- 
gabe ist  nach  dem  einzigen  bekannten  Codex  in  der  Bibl. 
Riccardiana  von  Polidori  mit  grösstem  Fleisse  besorgt;  dem 
Originale  ist  eine  Uebersetzung  in  das  Italienische  des  Tre- 
cento  beigegeben,  die  der  Graf  Giovanni  Galvan}  in  Mo- 
dena  besorgt  hat,  ein  ausgezeichneter  Kenner  der  altfranzö- 
sischen, wie  der  altitalienischen  Sprache.  Durch  ausführliche 
Noten  bat  man  der  Ausgabe  noch  einen  besonderen  Werth 
verliehen;  Cicogna,  Zon,  Galvani,  Gar,  Polidori  haben  zu  den- 
selben beigesteuert.  Diese  Andeutungen  werden  genügen,  um 
auch  das  deutsche  Publicum  auf  diese  nahe  bevorstehende 
wichtige  Publication  aufmerksam  zu  machen. 

Mit  dem  Archiv  in  Verbindung  steht  eine  Art  von  Zeit- 
schrift unter  dem  Titel  Appendice,die  vierteljährlich  ausge- 
geben zu  werden  pflegt  Die  ersten  Nummern  enthielten  fast 
nichts  als  Verbesserungen,  Anmerkungen  u.  s.  w.  zu  den  be- 
reits gedruckten  Bänden  des  Archivs,  und  bibliographische 
Notizen  über  die  neueste  historische  Literatur  auf  wenigen 
Blättern.  Allmählig  ist  jedoch  der  Umfang  bedeutend  erwei- 
tert worden,  man  bat  ausfuhrlichere  Anzeigen  der  neuesten 
Geschichtswerke  aufgenommen,  sich  selbst  einer  strengeren 
Kritik  derselben,  die  übrigens,  worauf  nicht  genug  hinzuwei- 
sen ist,  in  Italien  fast  ganz  verabsäumt  wird,  genähert,  und 
endlich  auch  Actenstücke  und  Quellen  von  geringem  Umfang, 
die  anderweitig  nicht  Platz  fanden,  hier  abdrucken  lassen. 
So  hat  dieser  Anbang  seit  der  siebenten  Nummer  eine  Gestalt 
angenommen,  in  der  er  eine  historische  Zeitschrift  von  Belang 
zu  werden  verspricht;  für  Italien  würde  dadurch  einem  sehr 
fühlbaren  Bedürfniss  abgeholfen  werden.  Ich  beschränke  mich 


historischen  Literatur  in  Italien.  49 

jetzt  darauf  einige  Beiträge  zu  nennen,  die  ein  allgemeineres 
Interesse  haben.  No.  7.  enthält  vor  Allem  zwei  vortreffliche 
Briefe  des  Marchese  Gino  Gapponi  an  den  Professor  Capei 
in  Pisa  über  die  Herrschaft  der  Langobarden  in  Italien,  nicht 
ohne  Polemik  gegen  die  Ansichten  Troya's;  ich  denke  später 
über  die  hier  einschlagenden  Streitpunkte  und  dann  auch 
über  diese  Briefe  ausführlicher  zu  sprechen.  Das  achte  Heft 
giebt  nach  dem  neapolitanischen  Abdruck  einen  zweiten  der 
Tafel  und  der  Gewohnheitsrechte  von  Amalfi,  der  wie  der 
erste  nach  der  sehr  schlechten  Wiener  Handschrift  besorgt 
ist,  die  freilich  bis  jetzt  die  einzig  bekannte  ist;  Gar  hat  ei- 
nige Verbesserungen  versucht,  doch  bleibt  immer  noch  viel 
zu  thun  übrig.  Es  folgen  ebenfalls  von  Gar  herausgegeben 
mehre  sehr  wichtige  Documente  in  Bezug  auf  Julian  von  Me- 
dici  und  Leo  X.,  der  Brief  des  Cardinal  Wolsey  an  den  Bi- 
schof Sil  vestro  Gigli  und  die  Antwort  des  Letzteren  sind  auch 
für  die  deutsche  Geschichte  von  grossem  Interesse,  es  han- 
delt sich  darin  um  die  Versprechungen,  die  Leo  X.  Heinrich 
dem  Achten  für  seine  Bewerbungen  um  die  Kaiserkrone  ge- 
geben hatte.  Das  neunte  Heft  bringt  eine  Nachlese  der  Do- 
cumente, die  G.  Molini  in  Paris  und  London  bei  seinen  Stu- 
dien für  die  italienische  Geschichte  sammelte,  sie  betreffen 
die  Epoche  von  1522—1530  und  sind  vom  Marchese  Gino 
Gapponi  mit  gewohnter  Meisterschaft  commentirt,  einige  dar- 
unter berühren  auch  die  deutschen  Verhältnisse.  Unter  den 
übrigen  Beiträgen  verdienen  besonders  Aufmerksamkeit  die 
Bemerkungen  von  M.  A.  (Michele  Amari  ohne  Zweifel)  über 
dreizehn  Werke. in  Bezug  auf  italienische  Geschichte,  die  in 
den  letzten  Jahren  in  französischer  Sprache  erschienen  sind. 
Das  Urtheil  des  Beferenten  ist  lakonisch,  aber  auch  ener- 
gisch und  geistvoll. 

Florenz  im  März  1845. 

Dr.  W.  Giesebrecht. 


Ztiteefarift  f.  Ctackichteir.  IT.  1845. 


Die  griechische  KomenverfaMungr  als  Mo- 
ment der  Entwickelung-  des   Städtewesen» 

Im  Altertlrame. 


Einer  jeden  der  Epochen,  in  welche  die  Geschichte  zerfallt, 
ist  das  Siegel  der  Offenbarung  eines  eigentümlichen  Geistes  auf 
gedrückt  Die  menschlichen  Dinge  tragen  in  einer  jeden  Zeit  den 
allgemeinen  Charakter  des  dieselbe  beherrschenden  Geistes  an  sich. 

Denn  die  natürliche  Anziehungskraft  gleichartiger  Elemente  be- 
wirkt, dass  die  Fermente  des  Geistes  von  dem  mütterlichen  Schosse, 
aus  welchem  sie  zuerst  emporgestiegen,  sich  auch  allenthalben  ver- 
zweigten, wo  sie  einen  für  ihre  Aufnahme  irgend  empfänglichen 
Boden  antrafen.  Daher  spiegeln  die  Institutionen,  in  denen  die 
Eigenthümlichkeit  der  verschiedenen  Epochen  sich  offenbart,  in 
den  verschiedenen  Völkern  einer  jeden  sich  besonders  ab.  Gesetzt 
auch,  dass  sie  in  dem  einen  derselben  früher  oder  schärfer  als  in 
dem  andern  ausgeprägt  erscheinen,  so  sehen  wir  sie  allmählig  nichts 
destoweniger  in  dem  Gemeinbesitz  der  meisten  übrigen  überge- 
hen ;  sei  es,  dass  sie  auf  diese  mechanisch  übertragen,  ihnen  durch 
Kriege,  Pflanzvolker  u.  dgl.  mitgetbeilt,  oder  von  ihnen  frei- 
willig angenommen  wurden. 

Die  Erforschung  der  Geschichte  gewahrt  das  Resultat,  dass  sie 
uns  die  Analogie  in  der  Entwickelung  der  Völker  einer  jeden  Epoche 
genauer  vergegenwärtigt.  So  hat  die  neuere  Bearbeitung  der  Ge- 
schichte jenes  Mikrokosmos,  als  welchen  das  Reich  deutscher  Na- 
tion in  der  Periode  gegen  das  Ende  des  Mittelalters  sich  ankündigt, 
die  Momente  der  Üebereinstimmung  in  den  mannigfaltigen  Bildun- 
gen der,  wiewohl  aus  einem  Stamm  entsprossenen,  doch  in  entgfr> 
gengesetzte  Bahnen  der  Entwickelung  fortgerissenen  Glieder  des- 
selben, schärfer  als  früher  hervorgehoben1).  —  In  den  Formen 
des  öffentlichen  Lebens  in  Beziehung  auf  Staat  und  Religion 
bei  den  verschiedenen  Völkern  einer  jeden  Epoche,  wird   daher 


»)  Ranke:  Deutsche  Geschichte  im  Zeitalter  der  Reformation.     Bd.  IT. 
454—464.  838— 839.  445.  f.  V.  434. 


Die  griechische  Komenverfa$sung  als  Moment  etc.      5t 

sowohl  der  Ausdruck  dessen,  was  einem  jeden  dieser  Völker  eigen« 
thüinlicb,  als  was  allen  gemeinsam  gehört,  beurkundet. 

Der  überwältigende  Einfluss  jener  allgemeinen  Formen  im  Ver- 
hältniss  zu  der  Eigentümlichkeit  der  einzelnen  Völker,  ja  ganzer 
Völkergruppen,  tritt  jedoch  in  keiner  Periode  allgemeiner  oder  be- 
deutender als  in  dem  Mittelalter  hervor.  Bei  allem  Reichthum  der 
inneren  Entwickelung  und  der  Selbständigkeit  der  einzelnen  Theile, 
welche  unstreitig  den  Charakter  des  Mittelalters,  wie  des  Alter- 
thums  bildeten,  giebt  es  doch  kein  Volk  des  Abendländischen  Europa, 
das  seine  angestammte  Art,  uml  Sitte  in  jenem  Conflicte  unverän- 
dert bewahrt  hätte. 

Vielmehr  sowie  allmählig  das  eine  nach  dem  andern  von  dem 
allgemeinen  Strome  der  Europäischen  Entwickelung  ergriffen  ward, 
bietet  uns  diese  das  ausserordentliche  Schauspiel  dar,  dass  sie  uns 
das  ganze  damalige  Europa  in  allen  seinen  Verzweigungen  nicht 
nur  von  denselben  Normen  weltlichen  und  geistlichen  Inhalts  be- 
herrscht, sondern  auch  wie  von  Einem  Geiste  und  Bewusstsein  er- 
füllt zeigt.  Das  Ergebniss  dieser  Entwickelung  beruhte  vor  Allem 
in  dem  kriegerisch-priesterlichen  Staat,  welcher  dem  Mittelalter  sein 
Entstehen  verdankte,  und  ihm  zugleich  sein  eigentümliches  Ge- 
präge aufgedrückt  hat.  Und  wie  die  Einheit  des  neuern  Europa 
durch  diesen  zuerst  begründet  ward,  so  bat  sie  sich  auch  niemals 
durchgreifender  geoflenbart,  als  so  lange  derselbe,  zusammenge- 
halten durch  das  doppelte  Band  des  Lehnswesens  und  der  Kirche, 
sich  in  ungeschwächter  Kraft  erhielt. 

Man  kann  dieselbe  Analogie  in  Rücksicht  auf  einzelne  Momente 
der  Entwickelung  einer  jeden  Epoche  verfolgen.  Sie  zeigt  sich 
in  der  Entfaltung  wie  in  den  Abwandlungen  der  Ordnungen  der 
Städte,  welche,  nach  dem  Vorbilde  des  classischen  Alterthums  in 
einem  Theile  des  neuern  Europa  frühe  zu  fast  gleicher  Macht  und 
Bedeutung  erwuchsen;  während  die  zeitige  Kräftigung  fürstlicher 
Obergewalt  ihrer  Entwickelung  anderswo  engere  Grenzen  setzte« 
Sie  zeigt  sich  ebenso  in  der  Geschichte  der  monarchischen  Staa- 
ten des  neuern  Europa.  Vor  allem  aber  in  der  Entstehung  und 
Ausbildung  der  grossen  Monarchien,  auf  denen  seit  den  mittleren 
Jahrhunderten  die  neuere  Geschichte  vornehmlich  beruhte 

Denn  es  bestand  von  jeher  eine  ähnliche  Wechselwirkung  un- 
ter den  Europäischen  Staaten,  wie  wir  jetzt  sie  wahrnehmen.  Schon 
der  lebendige  Zusammenbang  aller  schloss  Gleichheit  der  Bedürfnisse 
wie  der  Mittel  diesen  abzuhelfen,  in  sich.  Es  ereignete  sich  wohl, 
dass  eine  Regierung  die  Formen  der  Administration,  welche  eine 
andere  angenommen,  von  dieser  unmittelbar  entlehnte.  In  man« 
eben  Fällen  entlehnte  man  sogar  nicht  nur  die  Institutionen,  son- 
dern zugleich  die  Werkzeuge,  um  diese  bei  sich  einzuführen  Seihet 

4# 


52         Die  griechische  Komeneerfassung  ah  Moment 

in  kleinern  Staaten  spiegelten  sich  oft  in  überraschender  Weise 
die  Vorbilder  der  grössern  ab,  welche  sie  bei  ihren  Einrichtungen 
zum  Muster  genommen. 

Schon  die  Vereinigung  jener  Monarchien  in  Form  von  land- 
schaftlichen Aggregaten,  zum  Theil  von  einander  so  entgegenge- 
setzter Natur,  dass  jene  noch  beut  die  Spuren  dieser  Verschieden- 
heit an  sich  tragen,  ist  grossenlheils  unter  entsprechenden  Um- 
ständen und  fast  in  dem  nämlichen  Zeiträume  bewirkt  worden. 
Doch  die  innere  Consolidirung  derselben  beurkundet  nicht  minder 
die  entsprechenden  Phasen.  Ja,  die  Verkettung  ihrer  ionera  Um« 
Wandlungen  last  sich  fasst  durch  jeden  Abschnitt  der  folgenden 
Jahrhunderte  genauer  nachweisen. 

Es  war  dasselbe  Prinzip,  welches  in  den  bezeichneten  Staaten 
das  Uebergewicht  der  grossen  Vasallen  brach,  den  corporativen 
Berechtigungen  nicht  zu  überschreitende  Grenzen  setzte,  und  so 
der  neuern  Administration  Raum  gab,  —  das  Product  jener  Ent- 
wickelung,  wie  deren  vorzüglichstes. Werkzeug,  dessen  allmählige 
Einwirkung  eine  jede  dieser  Monarchien,  wo  nicht  zu  einer  or- 
ganischen Einheit,  so  doch  zu  einem  concentrischen ,  seiner  als 
solchen  sich  bewussten  Organismus,  die  Stammeseinheit  selbst  zur 
moralischen  und  intellectuellen  der  Nationalitat  erhob.  War  nun  diese 
Entwickelung  grossentheils  eine  gleichförmige,  so  legt  die  Prüfung 
der  innern  Zustande  der  meisten  Staaten  des  neuern  Europa  seit 
dem  Ausgange  des  Mittelalters  durch  alle  folgenden  Abschnitte  nicht 
minder  eine  gewisse  Gleichförmigkeit  ihrer  äussern  Umrisse  and 
Formen  dar.  Man  möge  die  Attribute  fürstlicher  Obergewalt,  oder 
die  Rechte  der  einzelnen  Körperschaften,  die  Anordnung  der  all- 
gemeinen  Behörden  des  Staats,  wie  die  Verwaltung  der  Gemein- 
den, die  Stande  des  Volks  und  die  Beschaffenheit  der  denselben 
auferlegten  Lasten  näher  in  Betracht  ziehen:  überall  zeigt  sich  in 
den  vergangenen  Jahrhunderten  eine  unverkennbare  Uebereinstim- 
mung,  wo  nicht  unter  sammtlichen  Europäischen  Staaten,  doch 
unter  denen  des  Festlandes,  indem  nur  einzelne  minder  bedeu- 
tende Ausnahmen  Platz  griffen. 

Für  uns  genügt  es  ohne  Zweifel,  dass  wir  an  diese  Erschei- 
nung erinnern,  damit  wir  uns  derselben  deutlicher  bewusst  wer- 
den. Denn  wir  blicken  auf  eine  Periode  zurück,  in  welcher  eine 
Umwandlung  der  angedeuteten  Art,  mächtiger  und  unwiderstehli- 
cher als  alle  früheren,  die  Völker  Europas  gleichsam  mit  einem  un- 
bewussten,  sympathetischen  Drange  ergriff.  Das  vornehmste  Re- 
sultat dieser  Umwandlung  war,  dass  die  Form  der  Repräsentativ- 
regierung von  der  vergleich ungs weise  engen  Sphäre,  auf  welche 
wir  diese  gegen  das  Ende  des  vergangenen  Jahrhunderts  beschränkt 
sahen,  allmählig  in  einem  beträchtlichen  Theile  der  gegenwärtigen 


der  Entwicklung  des  Städtewesen*  im  Alterthum.       53 

Welt  an  die  Steile  der  früher  bestehenden  gesetzt  wurde.  Und 
wenn  nicht  zu  leugnen  ist,  dass  diese  Umwandlung  in  mancher 
Beziehung  als  eine  blos  äussert iche  sich  darstellt,  so  durchdrang 
doch  das  ihr  zu  Grunde  liegende  Prinzip  mehr  und  mehr  die  un- 
tern Schichten  des  öffentlichen  Lebens  der  Staaten,  welche  es  an- 
genommen, so  verschieden  auch  der  nationale  und  locale  Unter- 
bau derselben  beschauen  sein  mochte.  Es  durchdrang  zum  TheH 
selbst  das  innere  Triebwerk  derjenigen  Staaten  welche  die  allge- 
meinem Folgerungen  desselben  verworfen  hatten,  in  denen  es  fast 
ebenso  bedeutende  Umgestaltungen  in  den  administrativen  und  bür- 
gerlichen Ordnungen,  als  dort  in  den  politischen,  und  .den  Verhält* 
nissen  der  Regierung  hervorrief. 

Eine  ähnliche  Wechselwirkung  wie  in  der  Geschichte  der  mitt- 
lem, neuern  oder  neuesten  Zeit,  waltete  auch  in  der  Welt  des  Al- 
terthums ob.  Die  Wahrnehmung  einer  au  Identität  grenzenden, 
verwandtschaftlichen  Uebereinstimmung  in  der  Verfassung  fast  al- 
ler Staaten  des  classischen  Alterlhums,  darf  uns  daher  ebenso  we- 
nig überraschen,  als  die  gleiche  Erscheinung,  welche  die  Betrach- 
tung der  Verfassung  der  neuern  Staaten  darbietet. 

Die  Analogie,  welche  die  Betrachtung  der  Verfassung  der  Staa- 
ten des  Alterthums  ergiebt,  beschränkte  sich  keineswegs  blos  auf 
einzelne  Institutionen;  wie  etwa  das  Wesen  der  Magistratur,  der 
Begriff  der  Einzelgerichte,  das  sich  wechselseilig  ergänzende  Ver- 
häitniss  des  Senats  und  der  Magistrate,  ja  selbst  die  individuelle 
Ergänzung  des  erstem  aus  denen  welche  diese  geführt,  die  Ge- 
schlechter und  so  manches  andere,  dem  Alterthum  mehr  oder  we- 
niger allgemein  angehörten.  Sie  erstreckte  sich  nicht  minder  auf 
die  Normen  des  öffentlichen  und  bürgerlichen  Rechts,  durch  welche 
der  Staat  als  Ganzes  getragen  und  zusammengehalten  ward;  sie 
begriff  schon  die  ersten  Bedingungen  der  gesellschaftlichen  Ver- 
einigung, worauf  die  Idee  des  Staates  beruhte,  in  sich.  Denn  wie 
in  Allem,  was  dem  Alterlhume  in  der  erstem  Beziehung  am  eigen- 
tümlichsten angehören  dürfte,  gerade  die  grösste  Uebereinstim- 
mung unter  den  bedeutendsten  Völkern  desselben  beurkundet 
wird:  so  ist  es  uns,  wenn  wir  die  gebildete  Welt  des  Alterthums 
als  ein  abgeschlossenes  Ganzes  betrachten,  als  ob  auch  nur  Ein 
Begriff  oder  Eine  Form  des  Staates  in  derselben  vorgewaltet  habe 
oder  zur  Entwickelung  gelangt  sei. 


Der  Begriff  einer  Stadt  im  Alterthum  inbesondere  war  von  al- 
lem demjenigen  wesentlich  verschieden,  was  wir  unter  dieser  Be- 
zeichnung verstehen  und  zunächst  um  uns  her  zu  erblicken  ge- 
wohnt sind. 

Die  Stellung  einer  Stadt  im  Alterthum  dem  platten  Lande  ge- 


54         Die  griechische  Komenverfassung  als  Moment 

genüber  war  vornehmlich  durch  eine  Ansicht  vom  Staat  and  dar- 
auf gegründeter  Berechtigung  bedingt,  zu  welcher,  ungeachtet  man- 
cher entsprechenden  Momente  in  der  Entwickelung  eines  neuern 
Landes,  die  neuere  Geschichte  dennoch  keine  vollständige  Analo- 
gie darbietet.  Die  Alten  fassten  als  die  Substanz  des  Staates  die 
Gesammtheit  der  Grundeigentümer  auf.  In  den  republicanischen 
Verfassungen  des  Alterthums  erblicken  wir  die  Verwirklichung  der 
auf  diese  Ansicht  gegründeten  Berechtigung.  Die  Erstere  verdient, 
zumal  in  solcher  Schärfe  ausgeprägt,  dem  Alterthume  um  so  mehr 
als  ihm  eigenthürolich  vindicirt  zu  werden,  da  sie  in  diesem  allge- 
mein, vielleicht  noch  allgemeiner  vorzuherrschcn  scheint,  wie  der 
höhere  Umfang  jener  Berechtigung  selbst,  welcher  gleichsam  den 
natürlichen  Abschluss  jenes  Verhältnisses  bildet. 

Es  wäre  vor  Allem  erforderlich,  den  Begriff,  welchen  das  Al- 
terthum  mit  der  Bezeichnung  einer  Stadt  verknüpfte,  nach  dessen 
eigenthümlicher  Schärfe  und  mit  möglichster  Berücksichtigung  der 
Reichhaltigkeit  des  Stoffes,  welche  diesem  Gegenstande  vor  andern 
eigen,  zur  Vergegenwärtigung  zu  bringen.  Dies  dürfte  am  genügend- 
sten bewirkt  werden,  duroh  eine  historische  Untersuchung  über 
die  Entstehung  der  Städte  der  Alten.  Denn,  sowie  in  aller 
Geschichte,  so  reicht  es  in  dieser  Beziehung  nicht  bin,  blos  die 
abstracten  Principien  hervorzuheben,  worauf  etwa  jener  Begriff 
ruhte.  Diese  Principien  selbst  können  vielmehr  nur  alsdann  vollständig 
gewürdigt  werden,  wenn  man  sie  in  Verbindung  mit  den  geschicht- 
lichen Thatsachen  auffasst,  deren  Ergebniss  und  Ausdruck  sie  sind. 
Denn  sowie  das  spätere  Römische  Reich,  in  Anwendung  der  Grund- 
sätze des  antiken  Staatsrechts  auf  die  gegebenen  Verhältnisse,  d.i. 
diejenigen  der  Universalmonarchie,  gleichsam  die  Manifestation  des 
antiken  Staates  in  seiner  höchsten  mechanischen  Entwickelang  in 
sich  schltesst,  über  welche  hinaus  er  abstarb,  ohne  die  MöglichkehVder 
Verjüngung  aus  eigenen  Elementen:  so  gewähren  auch  die  Städte 
des  Römischen  Reichs,  obschon  der  Freiheit  beraubt,  nichts  desto- 
weniger  eine  durch  Jahrhunderte  fortdauernde  Identität  mit  den 
ursprünglichen  Bedingungen  und  Grundlagen  der  Entwickelung  des 
gesammten  Alterthums  * ). 

Die  Städte  enthielten  zugleich  den  Begriff  der  Gemeinde  und 
des  Staates  selbst  in  sich.  Sie  sind  nicht  nur  die  Punete,  von 
welchen  alle  höhere  Entwickelung  des  Alterthums  zuerst  ausgegan- 
gen ist,  sondern  auch  die  Kreise,  in  welchen  Leben  und  Bildung, 
Vorstellung  und  Gesinnung,  Sitte  und  Gewohnheit  des  Alterthums 


*)  Der  Unterzeichnete,  seit  einer  Reihe  von  Jahren  mit  einem  Werke 
über  die  Römischen  Gemeinden  beschäftigt,  ist  durch  vorstehende  Betrach- 
tung zu  gegenwärtigem  Aufsatz  veranlasst  worden. 


der  Entwicklung  des  Städtewesens  üh  Alterthum.      55 

sich  am  unmittelbarsten  bewegten  und  abschlössen.  Sie  sind  es 
endlich,  auf  denen  der  Begriff  des  spätem  Römischen  Geraeinwe- 
sens vor  Allem  mitberuhte.  Nichts  dürfte  daher  in  der  Tbat  mehr 
dazu  beitragen  um  von  der  eigentümlichen  Entwickelung  des  Al- 
terthums  eine  anschauliche  Vorstellung  zu  gewahren,  nichts  scheint 
insbesondere  so  geeignet  zu  sein  um  die  entgegengesetzten  Bedin- 
gungen auf  welchen  die  Entwickelung  des  AUerthums  und  der 
neuern  Zeit,  diejenige  der  Völker  des  Südens  und  des  Nordens 
beruhte,  zu  lebhafter  Vergegenwärtigung  zu  bringen,  als  die  ge 
schichtliche  Ergründung  der  Natur  jener  organischen  Körperschaf- 
ten, welche  wir  in  dem  Alterlhume  unter  der  Bezeichnung  der 
Städte  antreffen,  der  Gesetze  ihrer  organischen  Gliederung,  und 
der  unauflösbaren  organischen  Cobäsion  derselben,  —  im  Vergleich 
mit  der  willkürlichen  Gebietsaffiliation,  welche  als  dem  Princip  des 
Lehenswesens  entsprechend  der  BHdung  der  neuern  Staaten  und 
Reiche  zu  Grunde  liegt. 

Der  Begriff  einer  Stadt  im  Alterthum  beruhte  auf  der  Verknü- 
pfung von  Stadt  und  Laad  zu  einem  einigen,  den  Gegensatz  der- 
selben ausschliessenden  Organismus.  Will  man  daher  ein  vollkom- 
men deutliches  Bild  von  den  eigentümlichen  Verhaltnissen  der 
Stadtgemeinden,  auch  der  Römischen,  gewinnen:  so  müsste  man 
vor  Allem  das  gegenseitige  Verhaltniss  von  Stadt  und  Land,  wie 
es  aus  dem  Gesichtspunct  des  Altertbums  überhaupt  sich  ankün- 
digt, zu  ermessen  und  darzustellen  trachten.  Und  dies  könnte 
nicht  geschehen,  ohne  dass  man  auf  ein  Moment  zurückginge,  wel- 
ches, wenn  es  gleich  den  Uranfängen  der  politischen  Gestaltung 
anzugehören  scheint,  nichts  destoweniger  die  ganze  alte  Geschichte 
erfüllt;  ich  meine  die  Gründung  der  Städte  —  eine  Handlung,  welche 
in  ihrer  für  die  Gestaltung  aller  Begriffe  und  Verhältnisse  des  Al- 
tertbums kaum  genugsam  zu  würdigenden  Bedeutung,  weit  entfernt 
dem  Dunkel  der  Sage  oder  der  Vorzeit  ausschliessend  anheimzu- 
fallen, gerade  in  den  bedeutendsten  Fällen  in  dem  Lichte  der  Ge- 
schichte vollzogen  ist.  Dadurch  eben  dass  man  sich  die  Principien 
vergegenwärtigt,  von  welchen  die  Alten  bei  Gründung  einer  Stadt 
geleitet  wurden,  setzt  man  sich  in  den  Stand,  die  Motive  zu  wür- 
digen, worauf  das  gegenseitige  Verhaltniss  von  Stadt  und  Land  bei 
ihnen  beruhte. 

Die  geschichtliche  Entwickelung  des  Begriffs  der  Stadt  drückte 
der  politischen  Entwickelung  des  gesammten  Alterthums  gleichsam 
erst  das  Siegel  auf.  Denn  dieser  Begriff  in  seiner  significanten  Be- 
deutung gehörte  nicht  nur  in  denjenigen  Theilen  der  alten  Welt, 
welche  erst  durch  die  Römer  zu  höherer  Ausbildung  berufen  wur- 
den, sondern  überhaupt  in  jeglichem  Theite  derselben  einer  ver* 


56         Die  griechische  Kometwerfassung  als  Moment 

hältnissmässig  jüngeren  Periode  an«  Er  deutet  insbesondere  bei 
jedwedem  einzelnen  Volke  des  Alterthums,  bei  welchem  wir  ihn 
antreffen ,  auf  ein  weiter  vorgerücktes  Stadium  der  Entwickeiung 
bin,  als  dasjenige  ist,  worauf,  seien  es  die  ältesten  Ueberlieferun- 
gen  einheimischer  Sage,  seien  es  die  Angaben  der  gleichzeitigen 
Geschichte  in  Rücksicht  auf  deu  Zustand  roher  Völker  des  Alter- 
thums, uns  zurückverweisen.  Er  gehörte,  um  es  mit  einem  Worte 
auszudrücken,  der  eigentlich  geschichtlichen  Periode  nicht  nur  des 
klassischen  Alterthums  überhaupt,  sondern  auch  jedes  einzelnen 
Volks  an,  bei  dem  wir  ihn  vorßnden. 

Dies  wird  noch  deutlicher  erkannt,  wenn  man  einen  Bück  auf 
den  ursprünglichen  Zustand  der  Völker  des  klassischen  Alterthums 
wirft,  und  diesen  mit  dem  späteren  vergleicht.  Denn  wir  finden, 
dass  die  Menschen  in  sämmtlichen  Theilen  der  alten  Welt  ur- 
sprünglich im  Gau  zerstreut  wohnten,  bevor  man  sie  in  Städte 
zusammenzog;  gerade  so  wie  in  unserem  Vaterlande. 

Das  war  vor  Allem  in  derjenigen  Lebensepoche  des  Griechi- 
schen Volks  der  Fall,  welche  wir  mit  dem  Namen  des  Griechischen 
Heldenalters  bezeichnen.  Es  wird  in  'ahnlicher  Weise  durch  die 
Sage  nicht  minder  als  durch  die  Geschichte  der  meisten  Italischen 
Völker  beurkundet,  dass  in  einer  entfernteren  Vorzeit  in  dem 
grösseren  Theile  Italiens  eben  so  wenig  eigentliche  Städte  in  der 
späteren  Bedeutung  dieses  Namens  angetroffen  wurden,  als  dies 
im  Durchschnitt  in  der  vorgeschichtlichen  Periode  Griechenlands 
der  Fall  war.  Die  gleiche  Erscheinung  offenbart  sich,  wenn  wir 
unsern  Blick  auf  diejenigen  Theile  der  alten  Welt  richten,  auf 
welche  die  Eroberung  derselben  durch  die  Römer  zugleich  den 
erslen  sicheren  Lichtstrahl  der  Geschichte  fallen  lasst,  und  welche 
erst  durch  die  Römer  zu  höherer  Ausbildung  berufen  sind.  Denn 
die  äussere  Form  und  Zusammensetzung  der  Gemeinwesen  dieser 
Länder,  in  Rücksicht  auf  die  Bedingungen  des  gesellschaftlichen 
Zusammenwohnens,  bildete  einen  ebenso  erheblichen  Abstand  von 
den  Italischen  und  Griechischen'  Formen  derselben  in  ihrer  späte- 
ren Entwickeiung:  als  der  gesellschaftliche  Zustand  jener  Länder 
überhaupt  nicht  nur  in  damaliger  Zeit,  sondern  noch  lange  nach- 
her einen  gleich  erheblichen  Abstand  von  demjenigen  fast  des  ge- 
sammten  übrigen  Theils  der  alten  Welt  bildete.  Dies  ergiebt  sich 
ebensowohl  aus  den  schwankenden  Ausdrücken  und  Bezeichnun- 
gen derjenigen,  welche  hierüber  Bericht  erstatten,  als  aus  ihren 
Andeutungen  in  Betreff  der  durch  die  Römer  in  dieser  Beziehung 
bewirkten  Veränderungen;  und  ich  erblicke  darin  den  überzeu- 
genden Beweis,  dass  der  Zustand  jener  Länder  in  der  angedeute- 
ten Beziehung  demjenigen  fast  des  gesammten  übrigen  Alterthums 
in  der  uranfänglichen  oder  vorgeschichtlichen  Periode  des  Letzte- 


J 


der  Entwicklung  des  Städtewesens  m  Alterthum.      57 

ren  entsprochen  habe.  Innerhalb  der  Grenzen  des  bezeichneten 
Verhältnisses  waltet  jedoch  noch  ein  eigentümlicher  Unterschied 
ob:  der  Gegensatz,  welchen  die  ursprüngliche  Lebensweise  des 
Volks  der  Germanen  im  Verhältniss  zu  den  ursprünglichen  Le- 
bensbedingungen sämmtlicber  übrigen  Völker  der  alten  Welt  bil- 
dete. Denn  während  fast  alle  diese  betreffenden  Angaben  wenig- 
stens in  dem  Gesichtspuncle  sich  vereinigen,  dass  sie  die  Erwäh- 
nung derselben  an  die  Existenz  einer  Anzahl  von  geschlossenen 
Ortschaften  („connexis  et  cohaerentibus  aedificiis")  knüpften; 
wurde  es  als  eine  Eigentümlichkeit  in  der  Lebensweise  der  Ger- 
manen hervorgehoben,  dass  der  Wohnsitz  eines  Jeden  derselben 
von  demjenigen  des  andern  getrennt  sei  *). 

Der  in  Vorstehendem  angedeutete  Gesichtspunct  soll  nun  in 
Bezug  auf  Griechenland  noch  schärfer  entwickelt  werden.  Die 
Ausführlichkeit,  mit  weicher  dies  in  dem  Folgenden  bewirkt  ist, 
und  welche  vielleicht  Manchen  überraschen  dürfte,  glaube  ich 
durch  die  Fülle  des  Materials,  welches  die  Griechische  Geschichte 
für  den  angedeuteten  Zweck  uns  darbietet,  entschuldigen  zu  dür- 
fen. Denn  während  vo»  anderen  Völkern  der  alten  Welt  als  Ita- 
lischen, Spanischen,  in  dieser  Beziehung  fast  nichts  als  die  That- 
sache  gemeldet  wird,  dass  sie  ursprünglich  in  einer  Menge  von 
kleinen  Ortschaften  gewohnt  hätten,  verharrten  nicht  wenige  Grie- 
chische Stämme  fast  die  ganze  Zeit  der  Griechischen  Geschichte 
hindurch  in  einem  derartigen  Zustande  der  Zersplitterung.  Und 
wenngleich  die  meisten  unter  diesen  Völkern  auf  die  allgemeine 
Griechische  Geschichte  weniger  selbsttbätig  einwirkten,  so  konnte 
es  doch  nicht  fehlen,  dass  diese  selbst  auf  ihren  Zustand  ein  Licht 
wirft,  durch  welches  derselbe  deutlicher  erhellt  wird,  als  dies  ir- 
gend wo  anders  der  Fall  sein  dürfte. 


Es  ist  zunächst  dem  Einwände  zu  begegnen,  dass  schon  die 
Sage  und  das  Gedicht  alle  darin  verflochtenen  Ortschaften  unter 
der  gemeinsamen  Benennung  iv6Uqy  Stadt,  zusammenfassten.  Diese 
Auffassung  war  lediglich  dadurch  begründet,  dass  die  entferntere 
Vorzeit  die  Anwendung  unterscheidender  Bezeichnungen  für  grös- 
sere oder  kleinere  Orte  so  wenig  gekannt  oder  geübt  zu  haben 
scheint,  dass  wenigstens  in  Sage  und  Gedicht  keine  sicheren  Spu- 
ren dieser  Unterscheidung  aufzufinden  sein  dürften. 

Es  blieb  erst  einer  späteren  Epoche  vorbehalten,  zugleich  mit 
dem  Unterschiede  der  Oerter  den  Begriff  einer  Stadt  selbst  noch 
genauer  zu  fixiren.  Als  jedoch  dieser  feststand,  so  bedurfte  es 
auch  nur  einer  oberflächlichen  Vergleichung  dessen,  was  in  frühe- 


f)  Tacitus  Germania  c.  46. 


56         Die  griechische  Koment>erfa$$ung  ah  Moment 

ren  Zeiten  unter  der  Benennung  einer  Stadt  verstanden  wurde, 
mit  dem  später  entwickelten  Begriffe,  um  daraus  die  Folgerung 
abzuleiten,  dass  die  in  der  Vorzeit  so  benannten  Städte  diesen 
Namen  fast  insgesamml  mit  Unrecht  führten  ■). 

Denn  was  hier  zuvörderst  die  zahlreichen  Städte,  deren  Ho- 
mer gedenkt,  insbesondere  anlangt,  so  dürften  in  der  Thal  nur 
wenige  unter  diesen  einen  gegründeten  Anspruch  darauf  gehabt 
haben,  dass  sie,  selbst  abgesehen  von  der  staatsrechtlichen  Bedeu- 
tung jenes  Ausdrucks  in  der  späteren  Periode,  zum  mindesten  das 
äussere  Gepräge  einer  Stadt  der  geschichtlichen  Zeit  an  sich  trü- 
gen. „Die  Homerischen  Gesänge,"  so  urtheilt  ein  neuerer  Schrift- 
steller in  dieser  Beziehung  •),  „verrathen  den  Eifer  des  Neustädti- 
schen." Nur  Athen,  Theben  und  einige  andere  unter  den  daselbst 
aufgeführten,  können  wirklich  als  bereits  damals  vorhandene  Städte 
nach  den  Begriffen  der  späteren  Zeit  betrachtet  werden.  *) 

Umgekehrt  dürfte  die  Mehrzahl  jener  Städte  als  blosse  Burgen 
aufzufassen  sein.  So  die  Wohnorte  der  Vasallen  der  Atreiden: 
Alektor  in  Sparta  *),  Diokles  in  Pherai '),  Orsilochos  in  Messene  •). 
Auch  Bienelaos  hegte  den  Wunsch,  daa*  es  ihm  vergönnt  sein 
möge,  eines  der  ihm  unterthänigen  Städtchen,  nachdem  dasselbe 
von  seinen  Bewohnern  geleert,  dem  Odysseus,  dessen  Sohn  und 
Gefolge,  .zum  Wohnsitze  einzuräumen  7).  Würden  aber  nicht  die 
übrigen  edlen  Geschlechter,  mit  welchen  gemeinschaftlich  einst 
Odysseus  in  Ilhaka  zusammeogewohnt  •)  unter  jener  Voraussetzung 
daselbst  zurückgeblieben  sein?  Und  wäre  dies,  würden  dann 
nicht  Odysseus  und  die  ihm  unmittelbar  angehörten,  gleichsam  die 
einzigen  Inhaber  der  ihnen  zum  Wohnsitze  angewiesenen  Stadt 
dargestellt  haben? 

Gerade  der  vorher  gedachte  Umstand  jedoch  ergiefct,  dass  al- 
lerdings unter  obiger  Bezeichnung  in  manchen  Fällen  wirkliche 
Ortschaften  verstanden  werden  müssen.  Es  wird  nämlich  von 
einigen  derselben,  wie  eben  von  Ithaka,  ausdrücklich  hervorgebo- 


')  Str.  VIII,  336  fin.  337  pr.  bezieht  sich  unstreitig  auf  Stellen  wie 
Was  IX,  453.  Odyss.  IV,  471.  XXI,  45.  Vgl.  Paos.  IV,  4,3.  f)  Wachs« 
muth,  Hellenische  Alterthumakunde  I,  4  S.  400.  *)  Denn  ersterea  war 

schon  durch  Theseus,  dessen  Lebenszeit  nach  Eusebios  54  Jahr  vor  Trojas 
Fall,  zusammengebaut,  lieber  die  Erbauung  von  Theben,  d.  h.  der  Unter- 
stadt, vgl  Od.  XI,  263.  Pausanias  IX,  5,  3.  Doch  hotte  es  damals  wüst 
gelegen.  Strabo  IX,  449.  C.  Ottfr.  Müller,  Hellenische  Stämme  I,  997. 
♦)  Od.  IV,  40.  Vgl.  Über  Sparta,  Müller  a.  a.  0.  II,  93.  *)  U.  V,  544 
sq.  Od.  IU,  48«.  XV,  486.     Vgl.  über  Pherai  U.  IX,  449.  6)  Od.  XXI, 

4  5  sq.  In  Messeue,  d.  h.  dem  Lande  (*a$  dquof),  nicht  der  Stadt.  Paus. 
IV,  4,  3.  Wäre  dieser  Orsilochos  mit  Diokles  Vater  (II.  V,  546)  nur  Eine 
Person,  so  würde  auch  das  unbenannte  Haus  des  ersteren  mit  dem  vor- 
hererwähnten Pherai  idenüsch  sein.       T)  Od.  IV.  474  sq.      *)  4d.I.  359. 


der  Enttcicklung  de*  Städteveeeni  im  AUerihm.      59 

b$n,  dass  hier,  xavä  m6Uv,  die  Edlen  des  Gaues  vereinigt  gewohnt 
hätten  »);  anstatt  dass  das  niedere  Volk:  Dolios,  Philoitios,  Eumaio», 
zerstreut  umberwohnte  *).  —  Von  ähnlicher  Beschaffenheit  wie 
jene  mochten  auch  die  zwölf  selbständigen  Gemeinwesen  aufzu- 
fassen sein,  in  welche,  nach  der  Sage,  Attika  vor  Theseus  geord- 
net war  *).  Denn  wenn  mit  Rücksicht  auf  diese  Periode  gemeldet 
wird:  dass  die  Athener  unter  Erechthens  und  die  Eleusinier  ein- 
ander bekriegt  hätten,  als  deren  Anführer  in  diesem  Kriege  fiu- 
molpos,  ein  verbündeter  Heeresfürst  der  Thrakier  bezeichnet  wird ; 
so  ergiebt  sich  klar,  dass  hierunter  nicht  bloss  Einzelne,  sondern 
die  Angehörigen  selbstständiger  Orte  zu  denken  seien.  Nichts  desto» 
weniger  bleibt  so  viel  gewiss,  dass  alle  jene  Orte  ausnehmend 
klein  waren.  Dies  bezeugt  schon  Thukydtdes  mit  Rücksicht  auf 
Mykenai,  den  Sitz  Agamemnons  4).  Noch  augenscheinlicher  wird 
dies  durch  die  Wahrnehmung  bestätigt,  dass  der  Name,  welchen 
die  Akropolen  der  griechischen  Städte,  so  lange  als  deren  Umfang 
auf  jene  beschränkt,  hiernach  mit  Recht  eigentümlich  führten, 
nämlich:  7tök$g  und  dtotv  •),  in  alter thümKcher  Erinnerung  mehren 
der  ersteren  für  immer  zu  eigen  blieb  •>. 

Nehmen  wir  demzufolge  an,  dass  ursprünglich  von  den  Grie- 
chen jeder  Ort  Polis  benannt  sei,  mit  welchem  Namen  Thukydtdes 
einen  abgesonderten  Flecken  der  Hyaier,  eines  Zweigs  der  Ozoli- 
scben  Lokrer,  bezeichnet7),  wie  nach  Pausanias  Angabe  der  Berg, 
auf  welchem  die  Ruinen  von  Altmantineia  lagen,  noch  zu  seiner 
Zeit  den  Namen  Ptotis  trug  •):  so  würde  es  sich  dadurch  erklären, 
dass  andere,  der  Benennung  Polis  entgegengesetzte  Ortsbezeicb- 
nungen  bei  den  Griechen  vielmehr  erst  dann  in  Gebrauch  gekom» 
men  seien,  nachdem  in  Ansehung  eines  Theils  der  ursprünglich  so 
bezeichneten  Orte  eine  solche  Veränderung  bewerkstelligt  worden 
war,  durch  welche  das  Verhäliöiss  dieser  Orte  zu  andern  mit  ih- 
nen auf  gleicher  Stufe  stehenden,  zuerst  völlig  eigentümlich  be- 
stimmt, und  auf  diese  Weise  ein  thatsächlicher  Gegensatz  in  der 
Stellung  der  früher  so  bezeichneten  Orte  zu  einander  hervorgeru- 
fen worden  war,  • 

Doch  es  hat  auch  an  sieh  keine  geringere  Wahrscheinlichkeit, 
dass  der  Begriff  und  die  Entstehung  des  Namens  der  Klasse  von 
Ortschaften,  welche  in  der  späteren  Epoche  Griechenlands  mit  dem 
Namen,  der  Kornea  benannt  wurden,  einer  Periode  angehören, 
in  welcher  bereits  wirkliche  Städte  in  der  späteren  Bedeutung 

*)  Od.  XXIV,  443.  f447,  468.  5S6.  *)  Datier  «He  Stichwort©  bei 

Homer:  xstpvouFtattv,  dfxxpiv*fjb£t&aa~  *)  Hermann,  Griechische  Staats^ 
alterthümer,  Deidelb.  4844,  §.  94,  Anm  9,  4)  I,  40.  «)  Daher  noch 
das  Homerische  „«&*$  ax^u  11.  VI,  8Ä.  3S7  «.  a,  •)  Thttkyd.  II,  45 
fin.  Wachsmutb  a.a.  0. 1,  4,346.       7)  III,  404.       9)  VTU,  42,  4,  vgl.  8, 1 


60         Die  griechische  Komenverfassung  als  Moment 

dieses  Ausdrucks  daselbst  vorhanden  waren.  Denn  darauf  deutet 
andrerseits  die  bekannte  Herleitung  der  Benennung  Korne  *),  wel- 
cher völlig  das  Gepräge  einer  jener  auf  sich  beruhenden,  authenti- 
schen Traditionen  beiwohnt,  denen  wir  oft  gerade  die  schärfste 
Beleuchtung  dunkler  Gegenstände  des  Alterthums  verdanken. 

Sie  setzt  nämlich  offenbar  voraus,  dass  das  Land  den  Städten 
gegenüber  ganz  oder  grösstentheils  unbewohnt  sei.  Sowie  aber 
diese  Voraussetzung  nur  mit  Rücksicht  auf  eine  andere  Voraus- 
setzung: nämlich  diejenige  der  Zusammenziehung  der  Landbewoh- 
ner in  den  Städten,  zu  erklären  sein  durfte,  so  gewinnt  auch  diese 
Herleitung  selbst  einen  um  desto  höheren  Grad  der  Glaubwürdig- 
keit durch  die  Analogie  einer  späteren  Epoche.  Denn  die  Entste- 
hung der  der  späteren  Latinilat  angehörenden  Ortsbenennungen : 
Mansio,  Mutatio,  kann  als  auf  gleichen  Gründen  oder  Voraus- 
setzungen als  diejenige  der  Komen  beruhend  angesehen  werden  *). 

Aus  dem  Angeführten  ergiebt  sich,  dass  der  Begriff  einer 
Korne  im  Gegensatz  zu  Polis,  aus  dem  späteren  Gegensatze  abge- 
leitet sei,  welchen  alle  sowohl  ursprünglich  vorhandenen,  als  auch 
erst  in  späterer  Zeit  entstandenen  Ortschaften,  im  Verhältnisse  zu 
derjenigen  Klasse  von  Orten  bildeten,  in  deren  Betracht  die  vor« 
her  angedeutete  Veränderung  zuerst  ins  Werk  gesetzt  worden 
war.  Vergegenwärtigen  wir  uns  nun  vor  Allem,  worin  in  Thuky- 
dides  Zeilalter  das  unterscheidende  Merkmal  einer  Korne  im  Ver- 
hällniss  zu  Polis  gestellt  wurde! 

Als  die  Dorier  nach  vergeblichen .  Versuchen  den  Isthmos  zu 
überschreiten,  von  Naupaktos  aus  in  den  Peloponnes  vordrangen, 
so  waren  sie  doch  weit  entfernt  sich  sogleich  des  ganzen  Landes 
zu  bemächtigen.  Sie  suchten  sich  im  Gegentheil  zuerst  nur  auf 
einzelnen  Puncten  desselben  festzusetzen,  von  welchen  aus  sie 
dann  die  befestigten  Achaischen  Orte  mit  Krieg  überzogen.  Das 
Erstere  geschah  von  Seiten  derjenigen  unter  ihnen,  welche  in  La- 
konika  einfielen,  in  der  Gegend  von  Sparta:  dessen  Lage  mit  der- 
jenigen von  Rom  eine  ausgesprochene  Aehalichkeit  besitzen  muss  *). 
In  dieser«  Gegend  erbauten  jene  in  geringer  Entfernung  von  einan- 
der gelegen  eine  Anzahl  von  Ortschaften,  und  von  diesen  aus  be- 


l)  Stepb,  Byz.^v.  xw/iij:,,  sv  rcuq  /naxqcuq  oSotq  /xcVa  %w(Ha  exu- 
crctv  Ttqoq  to  xotfiaOctat  wxroq  «aaytyvo^uVijg '  o&ev  xat  IxtKiyChTpau 
u>q  &L%oi£voq"  etc.  Etymologien m  roagnam  v.  xio/ulo&lv  650,  56:  „o>«v 
ocat  wo/Lun  to  %<aqtov  f\  xot/iijTijfHo;  xat  dvaxccvaiq  %ia<av  rs  neu,  dv^-qw- 
sfwv  asro  twv  dyqiavif  •  v.  xuua  651,  5:  „tovs  yaq  Toxovq  ©|  xaXau- 
04  9tw/u,o-uq  ««Äow  *  xou,  xwjulcu  tv  aiq  efts%\ov  xoi,aao\dat.u  *)  Vgl. 
Jacob  Golnoft-edus  ad  L.  9.  C.  Tb.  de  ann.  et  trib.  (4  4,  4)  Tom  IV,  p.  49 
ed.  Ritter,  ltiner.  Anton,  p.  94  ed.  Wesseling.  „inanalonibus  nunc  instUutis". 
»)  Paus.  III,  4  7,  %. 


der  Entwicklung  des  Städtetcesens  im  Alterthum.      61 

meisterten  sie  sich  allmählig,  obwohl  erst  nach  Verlauf  mehrer  Jahr- 
hunderte, aller  übrigen  Orte  dieser  Landschaft  >).  Der  Andrang 
Dorischer  Uebermacht  bewirkte  eine  Reihe  von  Auswanderungen 
der  in  ihrer  ursprünglichen  Heimath  in  den  Nomos  Amyklaios  und 
den  Taygetos  zurückgedrängten  Achaier,  sowie  der  von  diesen  auf- 
genommenen Minyer,  deren  Bestimmung  jedoch,  wie  schon  die- 
jenige der  ersten  Achaischen  *),  zu  den  dunkelsten  Puncten  in 
der  alten  Geschichte  gehören  dürfte  s).  Der  Rest  der  ehemaligen 
Beherrscher  des  Landes  wurde  durch  die  Eroberer  Dorischen  Stam- 
mes in  untertänigen  Stand  versetzt.  Diese  führten  aber  die  Re- 
gierung des  gesammten  Landes  von  denselben  Orten  aus,  in  wel- 
chen sie  sich  zuerst  als  Kriegsscbaar  niedergelassen,  und  welche 
sie  fortwährend  besetzt  hielten  4). 

Dies  war  Sparta,  welches  uns  Thukydides  mit  den  Worten 
zeichnet:  , Jass  es  nicht  zu  einer  Stadt  zusammengebaut,  sondern 
nach  aller  ^eise  der  Hellenen  in  Gestalt  von  abgesonderten  Ort- 
schaften oder  Komen  erbaut  sei ')".  Neuere  Untersuchungen  ma- 
chen es  wahrscheinlich,  dass  diese  Ortschaften  oder  Komen  mit 
den  vier  bis  fünf  örtlichen  Phylen ,  in  welche  die  Sparliaten  ein- 
gelheilt  wurden,  identisch  waren 6).  Die  angeführten  Umstände 
würden  es  erklären,  dass  die  Sparliaten  öfters  nach  diesen  z.  B. 
ein  Mesoat,  ein  Pitanat,  anstatt  nach  ihrem  Gesammtnamen  Spar- 
liaten benannt  wurden. 

Ein  Umstand,  woran  man  in  der  angegebenen  Beziehung  mit 
Unrecht  Ansloss  genommen  hat,  ist,  dass  die  Zahl  der  verschiede* 


»)  C.  Otlfr.  Müller,  welcher  abgesonderten,  aber  um  desto  bedeuten- 
deren Traditionen  folgt.  Hell.  St.  I,  3.  34  9  f.  II,  96  f.,  vgl.  S.  78.  85 
a)    Strabo    XUI ,    682.     Vgl.    Müller     Hell.    St.    I,    477.  »)    Ausser 

der  Theilnahme -der  Amyklaier  an  den  Wanderungen  ihrer  Slammgenossen 
nach  Aigialos  und  Aiolis  (Müller  a.  a.  0.  IT,  91)  gingen  von  derselben  Ge- 
gend folgende  Colonlen  ans:  4)  unter  Theras  nach  Thera,  Her.  IV,  445— 
448,  und  die  Kritik  dieser  Erzählung  durch  Müller  I,  329  —  339  u.  353, 
Mit  dieser  verbindet  Herodot  c.  48  die  Auswanderung  eines  Theils  der  La- 
konischen Minyer  nach  Triphylien  als  gleichzeitig,  s.  jedoch  Müller  I,  334. 
360.  3)  Unter  Pollls,  mit  der  Argivischen  des  Althaimenes  verbunden, 
nach  ifelos  und  Gortyna:  Conon  narrat.  36.  47,  vgl.  Müller  I,  347.  Her- 
mann, Griech.  Staatsalterth.  g.  30,  Anm.  8.  Dazu  3)  der  Abzug  der  Pha- 
riten  nnd  Geronthraten ,  Paus.  III,  3,  6.  33,  5  —  den  jedoch  ein  weiter 
Abstand  von  der  Gründung  von  Kroton  (Hermann  a.  a.  0  80,  4  0)  trennt. 
4)  Müller  Hell.  St.  III,  48.  _  _  •)  I,  40:  „out«  4wotiu?£*ta'w  *o%£*>?... 
*ara  xu/umq  Öe  t<J>  araX*cu<j>  rJJ?  Ek%aÖoq  rqoxy  otxt<r>*i<rij<;.  So  erscheint 
noch  Sparta  bei  dessen  Verlheidigung  durch  Agesilaos  gegen  Epaminondas: 
Plutarch.  Ages.  c.  34:  „rot  /ueo'a  tiJc  jrotaw?  xau  x'uqiwTOtTa  rotg  oxkircug 
xtgtovitgoyievo?"  und  c.  33,  als  die  Feinde  den  Fluss  zu  überschreiten 
sich  anschickten,  um  in  die  Stadt  einzudringen:  „txXitwv  ra  totara  *qo<t- 
rrotgato  «oo  xwv  (u<r<av  xcd  -uij^Xwv".  Polybius  IX,  8.  °)  Müller 
Hell.  St.  UI,  49  f.  454. 


tit         Die  griechische  Komenverfauung  als  Moment 

nen  abgesonderten  Oertlicbkeiten  Spartas,  deren  Namen  auf  uns 
gelangt  sind,  derjenigen  der  eimefnen  Phylen  desselben  mit  rich- 
ten entsprochen  habe  l).  Denn  zuvörderst  ergiebt  sich,  dass  die 
ersteren  grösstenteils  in  unmittelbarer  Nabe  der  Pbyle  and  Korne 
Pitana  lagen  *);  anstatt  dass  z.  B.  die  Phyle  Limnai,  als  nqodmtwv*), 
doch  wohl  als  abgesondert,  oder  in  grösserer  Entfernung  von 'den 
übrigen  gelegen,  zu  denken  sein  würde.  Sowie  nun  aber  Oinus, 
ebenfalls  in  der  Nähe  von  Pitana  erst  nach  Lykurg  entstanden  sein 
muss  4),  so  könnte*  dieser  Umstand  vielleicht  auf  die  Vermuthang 
fähren,  dass  auch  alle  übrigen,  unabhängig  von  den  Namen  der 
Phylen  uns  aufbehaltenen  Oertlicbkeiten  Spartas,  den  Anwaebs  der 
spatern  Zeit  darstellten.  Hiernach  würden  Limnai,  Kynosura,  Mesoa 
und  Pilana  allerdings  einmal  das  gesammle  acntspartialische  Ge- 
biet vorgestellt  haben  •).  Sollten  aber  nicht  die  spater  entstande- 
nen Orte  unter  dieser  Voraussetzung  zu  einer  benachbarten  Phyle 
geschlagen  sein?  Was  nun  diese  letztere  Vermuthung  insbesondere 
anlangt,  so  dürfte  derjenige  keine  unbesiegbaren  Zweifel  gegen  die- 
selbe hegen,  der  die  von  Ortsst'ämmen  oder  Phylen  ihrer  Natur 
nach  unzertrennlichen,  aus  dieser  im  Verlaufe  der  Zeit  sieb  gleich- 
sam von  selbst  ergebenden  Abweichungen  von  dem  ursprüngli- 
chen Ebenmaasse  derselben  erwägt.  Jene  Vermuthung  wird  aber 
insbesondere  durch  eine  bestimmte  Andeutung  des  Pausanias  em- 
pfohlen •).  Umgekehrt  dürfte  der  Lochos  Pitanates  kein  genügen- 
des Motiv  zu  deren  Verwerfung  enthalten *).  Denn  nach  dem  Zu- 
sammenhange der  Stelle,  worin  seiner  gedacht  wird  8),  erscheint 
dieser  ungleich  bedeutender,  als  was  gewöhnlich  unter  einem  Lo- 
chos verstanden  wurde.  Ich  schliesse  daraus,  dass  seine  Erwäh- 
nung auf  eine  frühere  Ordnung,  als  diejenige  der  Moren  zu  bezie- 
hen sein  dürfte  •). 

Wenden  wir  uns  nun  zu  der  Beantwortung  der  oben  aufge- 
worfenen Frage:  worin  eigentlich  in  Thukydides  Zeitalter  das  cha- 
racterislische  Merkmal  einer  Korne  im  Verhältniss  zu  Polis  gesetzt 
worden  sei?  In  Vergegenwärligung  der  Komen  Spartas,  so  wie 
diese  in  vorstehender  Stelle-  des  Thukydides  und  auch  sonst  ge^ 
schildert  werden,  nehme  ich  keinen  Anstand  jene  Frage  dahin  zu 
beantworten:  dass,  wenngleich  der  Begriff  solcher  Orte  als  der  be* 


»)  Mans©  Sparta  I,  9,  48.  *)  Müller  a.  a.  0.  Der  Lage  nach  bei 
Paus.  III,  48,  4.  cf.  4  vermuthlich  auch  Alpion.  »)  Str.  VIII,  363.  *)  Plot. 
lyc.  6.  *)  Paus.  HI,  46,  6.  Wacbsmutb  Hell.  Altert  haltete,  II,  4  S.  SO. 
•)  lfl,  44,  Ä.  7)  Wachsmuth  a.  a.  0.  •)  Her.  IX,  55  *q.  »)  Vgl: 
Mutier  Bell.  St.  111,  338.  239,  Anm.  6.  Noch  weit  spater  in  der  8cblacbt 
von  Mantineia  waren  die  Lochen  absichtlich  bis  aum  vierfachen  verstärkt, 
so  dass  sie  einer  Mors  entsprachen,  und  deshalb  auch  von  PoieoMtrcheo 
anstatt  von  Lochagen  befehligt  wurden.   Thuk,  V,  68.  74.  Müller  a.  a.  O,  931, 


der  Entwicklung  des  Städteicesens  im  Alterthum.      63 

zeichneten  wesentlich  darauf  beruhte,  dass  sie  unter  sich  politisch 
zu  einem  Ganzen  verbunden  waren,  nichts  desloweniger  ein  jeder 
derselben  räumlich  abgesondert  für  sich  bestanden  habe. 

Jedoch  die.  angeführte  Stelle  des  Thukydides  besitzt  für  uns 
zugleich  noch  eine  allgemeinere  Bedeutung  als  die  entwickelte: 
in  wiefern  sie  uns  die  Veranlassung  darbietet,  den  angedeuteten 
Gesichtspunct  zugleich  in  Rucksicht  auf  andere  hellenische  Völker 
noch  scharfer  zu  verfolgen. 

Denn  die  durch  die  oben  angezogenen  Worte  des  Thukydides 
„nach  alter  Weise  der  Hellenen "  ausgedruckte  Vergleicbung,  be- 
rechtigt uns  gerade  in  umgekehrtem  Verbaltnisse  als  Thukydides, 
den  in  den  verschiedenen  Oertlicbkeiten  Spartas  abgespiegelten 
Begriff  der  Komen,  auf  die  ursprüngliche  Verfassung  des  gesammten 
Heilenischen  Volkes  rückwärts  zu  bezieben.  So  ahnen  wir,  wie  oben 
angedeutet,  dass  dio  meisten  Hellenischen  Stämme  ursprünglich  in 
einem  entsprechenden  oder  doch  ungefähr  ähnlichen  Verhältnisse 
als  die  Spartiaten  in  mehre  Ortschaften  aufgelöst  und  getrennt 
waren,  bevor  sie  umgekehrt  in  Einem  Orte  vereinigt  wurden. 

Dass  nun  das  Erstere  keine  blosse  Hypothese  sei,  dies  verbürgt 
vor  Allem  das  ausführliche  Zeugniss  des  Strabo.    Denn  Strabo  be- 
richtet mit  klaren  Worten:  „dass  Elis  so  wie  die  meisten  übrigen 
Orte  oder  Landschaften  des  Peloponnes  (tönot,  jfotya*)  aus  einer 
bestimmten  Anzahl  von  Deinen,  dasselbe  was  Komen,  bestanden 
hatten ".    Er  bemerkt  nämlich:  „dass  aus  diesen  in  der  6pätern 
Zeit  die  berühmten  Städte  zusammengezogen  worden  seien";  von 
welchen  er  als  ausdrücklichen  Beleg  seiner  Behauptung  bei  dieser 
Gelegenheit  nächst  Elis  noch  das  Beispiel  von  drei  Arkadischen  und 
drei  Achaiiscben  Städten  besonders  heraushebt  >).    Dieser  Angabe 
des  Strabo  entspricht  auch,  was  von  ihm  in  einer  andern  Stelle 
in  Betreff  der  früheren  Jonischen  Bevölkerung  des  Aigialos  im  Ver- 
gleich mit  den  Achaiern  gemeldet  wird  *).    Das  ist  auffallend,  dass 
Strabo  die  angeführte  Behauptung  mehr  oder  weniger  auf  die  ge? 
genannten  Peloponnesischen  Orte  oder  Landschaften  zu  beschränken 
scheint.  Denn  er  hebt  Obiges  gewissermassen  als  eine  Eigentümlich- 
keit der  Letztern  hervor.  Indess  erklärt,  wenn  ich  nicht  irre,  schon 
der  bekannte,  auch  in  unserer  SteHe  angedeutete  Umstand  (vGnqov), 
dass  die  Eleier,  die  Arkader,  und  vielleicht  auch  die  Achaier,  die 


M  SU".  VIII,  336  fin.  sq.:     „  HXiq  öi  4  **>*  *d**G  jn>  *«  exwrro 
aXkoxjq  toxov?  rcug  xara  IUXo^owt^ov  xXyy  oXtywv,  o-uq  iaxtiX$&v  o 


"  et 

cxTtcrav    . 


64         Die  griechische  Komerwerfaesung  ah  Moment 

aUerthümliche  Gewohnheit  gesonderter  Wohnsitze  verglefchang3- 
weise  am  längsten  unter  den  Hellenischen  Stämmen  beibehielten, 
in  Betracht  jener  ersteren  warum  er  dies  that  Was  dagegen  die 
oben  angeführte  zweite  Bemerkung  des  Strabo  anlangt,  dass  die 
Jonier  des  Aigialos  in  Komen  gewohnt,  die  Achaier  im  GegenlheÜ 
wirkliche  Städte  in  dem  später  nach  ihnen  benannten  Lande  er- 
baut hätten :  so  durfte  sie  entweder  auf  Rechnung  eines  dem  vor- 
her angedeuteten  der  Achaier  und  Spartiaten  entsprechenden  Ge-. 
gensatzes  der  besiegten  Jonier  zu  den  eingedrungenen  Achaiern1), 
oder  sonst  eines  eigentbümlichen  Umstandes  zu  setzen  sein. 

Es  dürfte  nicht  unpassend  erscheinen,  wenn  wir  die  verschie- 
denen Peloponnesischen .Völker  und  Landschaften,  welche  vorste- 
hende Angaben  betreffen,  hier  noch  in  genauere  Betrachtung  zie- 
hen. Dazu  fordert  uns,  um  mit  der  letztem  dieser  Angaben  zu 
beginnen,  schon  der  Widerspruch  auf,  in  welchem  die  die  genann- 
ten Jonier  betreffenden  Angaben  des  Pausanias  mit  der  vorherge- 
henden Angabe  des  Strabo  zu  stehen  scheinen. 

Jonier. 

Denn  Pausanias  erblickt  nicht  nur  schon  in  den  zwölf  Theilen 
(fiiqri3fjL(qfa),  in  welche,  sowie  nach  seinem  eigenen,  so  auch  nach 
Sirabos1)  und  Herodots  •)  Zeugnissen,  die  Jonier  bereits  in  ihrer  ur- 
sprünglichen Heimath  eingetheilt  waren,  die  zwölf  Städte  des  nach- 
maligen Achaja4).  Sondern  er  berichtet  sogar,  lange  bevor  die 
Achaier  sich  des  nach  ihnen  benannten  Landes  bemeisterten,  von 
einem  einzelnen  Bezirke  desselben:  „dass  Eumelos,  welcher  diesen 
zuerst  bewohnt  und  beherrscht  habe,  nachdem  er  durch  Triptotemos, 
welcher  aus  Attika  eben  dahin  gekommen  sei,  in  den  Künsten  des 
Feldbaues  und  Städtebauens  unterwiesen  worden,  mit  Hülfe  des 
Letztern  in  jenem  drei  Städte  des  Namens:  Aroa,  Antheia  und  Me- 
satis  erbaut  habe  •).  —  Doch  die  zusammenhängende  Würdigung  sei- 
nes Berichts,  insoweit  als  dieser  den  angedeuteten  Bezirk  insbe- 
sondere betrifft,  gestattet  uns  einerseits  den  positiven  Inhalt  vor- 
stehender Ueberlieferung  von  dem  Gewand  der  Sage,  womit  der- 
selbe umkleidet  ist,  vollständig  zu  sondern.  Andrerseits  dürften 
wir  dadurch  zugleich  in  den  Stand  gesetzt  werden,  sowohl  die  ab* 
weichenden  Angaben  beider  Schriftsteller  unter  sich  zu  vereinigen, 
als  auch  unsere  in  dem  Bisherigen  enthaltenen  Voraussetzungen 
zu  bekräftigen. 

Pausanias  fährt  nämlich  weiterhin  fort:  „die  Ionier,  welche 
vorbenannte  drei  Städte  inne  gehabt,  hätten  ein  gemeinschaftliches 


i)  Vgl.  Müller  III,  74.         »)  VIII,  383.        *)  I,  445.        *)  Paus.  VII, 
6,  4.  •)  VII,  48,  *. 


der  Entwicklung  des  Städtewesens  im  Alterthum.       SS 

Heiligthum  besessen ,  welches  in  der  Nähe  des  späteren  Patrat  be- 
legen '),  der  Artemis  mit  dem  offenbar  auf  diese  Gemeinschaft 
deutenden  Beinamen  der  Triklaria  gewidmet  war.  Bei  diesem 
hätten  die  Ersteren  alljährlich  ein  gemeinschaftliches  Fest  zu  Eh- 
ren der  Artemis  gefeiert"  a).  Obwohl  aber  dieses  Fest  durch  ein 
der  ionischen  Periode  gleichzeitiges  Ereigniss  eine  ModiÖcation 
erlitt  *) ,  so  erhielt  es  sich  unter  der  angegebenen  Modißcation 
nichtsdestoweniger  noch  bis  auf  Pausanias  Zeit  herab  4).  Die  Bild- 
nisse des  Dionysos,  welche  ein  Tempelchen  in  Palrai  selbst  ent- 
hielt, und  welche  den  vormaligen  ionischen  Städten  sowohl  ihrer 
Zahl  als  Benennung  nach  entsprachen:  Aroeus,  Antheus  und 
Bf  esaleus,  dienten  ebenfalls  noch  zu  Pausanias  Zeit  als  Beleg  der 
wechselseitigen  Gemeinschaft,  durch  welche  diese  drei  ionischen 
Städte  in  einer  früheren  Epoche  mit  einander  verbunden  gewesen 
waren  *). 

Was  nun  zunächst  den  Zeitpunct  anlangt,  in  welchen  die  en- 
gere Verbindung  der  gedachten  Orte,  ein  jeder  derselben  als 
abgesondert,  zu  setzen  sein  durfte:  so  könnte  vielleicht  darin, 
dass  diese  in  der  von  Pausanias  mitgelheilten ,  an  die  O ert- 
lichkeit von  Patrai  geknüpften  Ueberlieferung,  als  ein  von  Ursprung 
abgeschlossenes  und  gleichsam  für  sich  bestehendes  Gebiet  aufge- 
fasst  werden,  eine  Rückspiegelung  späterer  Verhältnisse  vorliegen. 
Denn  Pausanias  selbst  ist  nicht  allein  weit  entfernt,  das  angedeutete 
Gebiet  den  zwölf  Theilen  beizuzählen,  in  welche  sowie  das  frühere 
lonien,  so  das  spätere  Achaia  ihmzufolge  zerßelen.  Sondern  er 
sieht  gerade  in  jenem,  nach  den  von  obigen  blos  örtlichen  Traditio- 
nen unabhängigen  Berichten,  ein  vom  letzteren  abgerissenes  Stück 
Landes.  Er  erzählt  nämlich:  die  Achaier  hätten  dasselbe  dem 
Preugenes,  sowie  dessen  Sohne  Palreus,  welche  vielleicht  als  Füh- 
rer einer  erst  später  vor  dem  Andrang  der  Dorier  sich  ablösenden 
Abtheilung  der  in  ihrer  ursprünglichen  Heimath  in  den  Nomos 
Amyklaios  zurückgedrängten  Achaier  aufzufassen  sein  dürften,  zum 
Wohnsitze  und  zur  Herrschaft  angewiesen  e).  —  Nichtsdestoweni- 


*)  VII,  22,  7.  *)  Vif,  c.  4  9.  •)  L.  1.  g.  3.  ♦)  VH,  30  pr# 

*)  VII,  24,  2.  •)  Paus.  VII,  6,  4.  2.  III,  2.  4.  vgl.  VII,  48,4.  2,  3.  4. 

Dies  wird  übrigens  nicht  dadurch  widerlegt,  dass  Herodol  in  der  ange- 
führten Stelle  Patrai  wirklich  unter  den  zwölf  Theilen  aufzählt.  Denn  das 
Verzeichniss  dieser  Theile  bei  Herodot  umfasst  die  Zahl  der  zwölf  achol- 
ischen Städte  im  Zeitalter  des  Herodot.  Dasselbe  beruht  auf  der  umge- 
kehrten Voraussetzung:  dass  die  ionischen  mit  diesen  eins  gewesen  seien, 
wie  Pausanias  die  achaiischen  mit  den  von  ihm  aufgezählten  ionischen 
als  identisch  betrachtet.  Da  nun  die  Grundzahl  zwölf  unabänderlich  fest« 
stand*  (vgl.  Nieb.  Rom.  Gesch.  II,  23.),  so  erklärt  sich  daraus,  dass  Herodot 
auf  die  spätere  Entstehung  von  Patrai,  das  an  die  Stelle  von  Keryneia  ge- 
treten sein  mnss,  keine  Rücksicht  nimmt. 

Z«iUckri(l  f.  Gwekicktow.  IT.  184».  5 


66         Die  griechische  Komencerfaaung  ah  Moment 

ger  bleibt  soviel  gewiss,  dass  jene  drei  Städte  wirklich  einmal  ab- 
gesondert von  einander  bestanden  haben  müssen.  Denn  eben  der 
erwähnte  Patreas  zog  sie  in  eine  einzige  zusammen,  welche  er 
nach  seinem  Namen  Patrai  benannte  ').  Die  durch  die  vorherge- 
dachten Umstände  bezeugte  politische  und  religiöse  Gemeinschaft 
derselben  würde  daher  bloss  mit  Rücksicht  auf  die,  ihrer  Vereini- 
gung durch  Patreus  unmittelbar  vorhergehende,  Epoche  als  hin* 
länglich  verbürgt  erachtet  werden  können. 

Hiernach  scheint  als  erwiesen  angenommen  werden  zu  dür- 
fen: dass  die  ionische  Bevölkerung  eines  in   sich  verbundenen, 
und  zugleich  in  sich  abgeschlossenen  Theils  von  Aigialos  in   drei 
von  einander  getrennten  Ortschaften  gewohnt  habe;    anstatt  dass 
die    nach   jener    diesen    Theil   beherrschenden  Achaier    in     eine 
einzige  zusammengezogen  wurden.     Denn  die   gemeinsame  Ver- 
ehrung der  Artemis  von  Seiten  der  drei  Städte  an  einem  Orte,  — 
vielleicht  nach  Gewohnheit  der  Griechen  da,  wo  dieselben  zusam- 
menstiessen,  jedesfalls  ausserhalb  Aroa  gelegen;  —   noch  mehr 
die  Verkettung  der  Ereignisse,  durch  welche  die  Form  ihrer  Ver- 
ehrung und  die  von  Pausanias  hervorgehobene  Modification    der 
letzteren  bedingt  wurden,  und  welche  ebenfalls  die  Bewohner  der 
drei  Städte  als  zu  gemeinsamen  Widmungen  verbunden  darstellt, 
berechtigen  uns  einerseits  diese  als  ein  Volk  oder  als  Gesammtheit 
aufzufassen.    Andrerseits  wird  der  in  sich  abgeschlossene  Bestand 
einer  jeden  dieser  drei  Städte   durch  den  Namen   der  dreige- 
th eilten  Artemis,  wie  durch  das  dreifache  Bildniss  des  Dionysos, 
mit    welchem    das  Tempelchen  dieses  Gottes   geschmückt   war, 
ausgedrückt. 

Setzen  wir  nun  der  obenangeführten  Stelle  des  Thukjrdides 
zufolge  den  Unterschied  von  Korne  und  Polis  in  den  in  Vorstehen« 
dem  entwickelten  zwiefachen  Gesichtspunct,  so  würde  daraus  her- 
vorgehen,  dass  insofern   als   das   erstere  Motiv   auf  vorgedachte 
ionische  Städte  Anwendung  leide,  diese  dem  Begriffe  der  Komen 
entsprachen  *);  sowie  dass  die  Behauptung  des  Strabo:  die  Ionier 
hätten  in  Komen  gewohnt,  nichts  anderes  besage  als  was  hier  an- 
gedeutet.   Daraus  ergiebt  sich  also,  dass  jene  drei  ionischen  Städte, 
aus  welchen  Pausanias  das  achaische  Patrai  erwachsen  lässt,  nichts 
anders  denn  als  die  Komen  aufzufassen  seien,  in  welchen  der  Be- 
hauptung des  Strabo  zufolge  die  Ionier  gelebt  haben  sollen.     Der 
Umstand  dagegen,  dass  Pausanias,  welcher  doch  in  der  Gegenwart 
beide  Gassen  von  Ortschaften  mit  fast  nie  fehlgreifendem  Takte 


')  Paus.  VII,  48,  3.    Daher  ,'A^  Tgtrogyoc"  Sibylle  nach  Etymo- 
logicum  magnum  v.  'Agoq. 

3)  S.  das  Etymologicum  magnum  L  1.  Müller  Hell.  St.  II,  374.  Anm.  8. 


der  Entwicklung  des  Städtewesens  m  Alterthum.       67 

unterscheidet,  die  angeführten  durch  Städte  bezeichnet,  beweist 
nur  soviel,  dass  auch  er,  was  Sage  und  ursprüngliche  Geschichte 
anlangt,  nichtsdestoweniger  dem  schon  früher  angedeuteten  Ge- 
brauch huldigte,  welcher  bis  tief  in  die  geschichtliche  Epoche  je- 
den für  sich  bestehenden  Ort  durch  Potis  bezeichnete. 

Sowie  nun  die  innigere  Verschmelzung  aller  einzelnen  Ele- 
mente des  Staates  in  dem  Alterthum  häufig  zugleich  durch  eine 
neue  Eintheilung  des  Volks  begleitet  wurde,  und  z.  fi.  die  Bevöl- 
kerung von  Tegea,  welches  aus  neun  Komen  zusammengefügt 
wurde  '),  später  in  vierPhylen  eingelheilt  worden  ist:  also  weihete 
hier  eine  jede  der  letzteren  dem  Apollon  Agyieus  ein  Bildniss, 
welches  den  Namen  derselben  führte  *).  „Die  vielen  Altäre"  in  der 
nach  dem  Zeus  Klarios  benannten  Stadtgegend  von  Tegea,  dürften 
dagegen  das  Gedächtniss  der  ehemaligen  Komen,  sowie  das  bei 
ersteren  begangene  Fest,  dasjenige  ihrer  Vereinigung  vergegen- 
wärtigen J). 

Wir  fassen  nun  die  in  der  ersteren  Stelle  des  Strabo  hervor- 
gehobenen peloponnesischen  Völker  der  Reihe  nach  noch  etwas 
schärfer  ins  Auge,  in  der  Absicht,  das  von  ihnen  dort  Gemeldete 
hier  ebenfalls  einer  noch  mehr  in  das  Einzelne  eingehenden  Un- 
tersuchung zu  unterwerfen. 

E  1  e  i  e  r. 

Schon  Oxylos  bewog  die  Bewohner  der  Elis  zunächst  liegen- 
den Komen  in  diesen  Ort  zu  ziehen4).  Sowie  aber  dieser  Um- 
stand die  Thatsache  nicht  ausschliesst,  dass  die  Eleier  auch  noch 
später  in  viele  Demen  getrennt  blieben,  so  genügt  dies  zur  Erklä- 
rung, weshalb  Strabo  die  Erweiterung  durch  Oxylos  gar  nicht  als 
identisch  mit  der  Erbauung  von  Elis  betrachtete,  sondern  diese 
vielmehr  erst  nach  dem  Persischen  Kriege,  oder  Ol.  77,  2. 
ansetzte. 

Denn  mit  Rücksicht  auf  diesen  Zeitpunct  berichtet  derselbe: 
„die  Eleier  seien  aus  vielen  Demen  in  die  nachmalige  Stadt  Elis 
zusammengezogen,  und  so  diese  aus  den  umliegenden  Orten  gleich- 
sam als  Inbegriff  derselben  zusammengefügt  worden"  ').  Folgen- 
der Umstand  verleiht  diesen  Worten  des  Strabo  einen  besondern 
Nackdruck,  welcher  den  meisten  ähnlichen  Angaben  fehlt  Strabo 
bemerkt  nämlich  von  mehreren  Ortschaften  des  Eleiiscben  Gebiets, 


*)  Str.  VH,  337   pn  Paus.  VIII,  45,  4.  *)  Paus.   VIII,   53,  3. 

•)  Paus.  VIH,  53,  4.       _       4)  Paus.  V,   4,^4.  •)  Sjr.  1.  1.   p»  33«: 

•i . . .  otye  6e  *ot«  <rw»>*>ov  tiq  vqv  wv  xofriv  tijv  HXtv-  furo,  xct 
rUgcnxa  e«  xoXikuv  ÖryuMv"  und  337  pr.  „out«  ßi  «at  i\  Wwq  ** 
ruv  xtqiocx.iöwv  <rwticd)iii<r$n  fua  tovtwv". 

5* 


68         Die  griechische  Komenterfa$$ung  als  Moment 

als  Buprasion,  Hypana:  dass  sie  zu  Elis  Erbauung  mit  verwandt 
worden  seien.  Er  deutet  zugleich  an:  dies  sei  der  Grund,  weshalb 
jene  Ortschaften  jetzt  nicht  mehr  beständen  »). 

Die  Vergleichung  vorstehender  Stelle  des  Strabo  mit  der  das 
nämliche  Ereigniss  betreffenden  Angabe  des  Diodor,  sowie  mit 
noch  zwei  andern  Stellen  des  Pausanias  wie  des  Strabo  selbst  enthalt 
jedoch  noch  einen  neuen  Beleg  zu  dem  schon  früher  hervorgeho- 
benen. Denn  es  wiederholt  sich  in  Betreff  dieser  sämmtlichen  An- 
gaben die  vorausgesandte  Bemerkung:  dass  das  hellenische  Alter- 
thum  sämmtlichen  in  diesem  bereits  vorhandenen  Ortschaften,  in 
denen  ein  staatskundiger  Schriftsteller  der  spätem  Zeit  wie  Strabo 
natürlich  in  den  meisten  Fällen  nur  Komen  oder  Demen  erblicken 
konnte,  nichts  destoweniger  durch  Städte  bezeichnete. 

Diodor  berichtet  nämlich:  „dass  die  Eleicr  bis  zu  deren  Zu- 
sammenzieht! Dg  in  dem  Einen  Orte  Elis  mehre  und  kleine  Städte 
bewohnt  hätten  *)".  Das  Letztere  ist  aber  eine  Umschreibung,  an- 
statt deren  Diodor  an  andern  Orten,  so  gut  als  Thukydides  oder 
Xenophon  und  Strabo  oder  Pausanias,  sich  ebeufalls  der  Bezeich- 
nung „Komen"  bedienten3). 

Eine  entsprechende  Bewandniss  dürfte  es  mit  der  unstreitig 
jene  ältere  Periode  betreffenden  Angabe  des  Pausanias  besitzen: 
„dass  Eleia  einst  sechzehn  Städte  gezählt  habe4)".  Denn  dass  diese 
sechzehn  Städte  ihrem  Begriffe  nach  nichts  anderes  gewesen  seien 
als  Demen,  erhellt  schon  daraus,  dass  Pausanias  die  Benennung 
Demos  in  Beziehung  auf  eine  dieser  sechzehn  Städte  wirklich  an- 
wendet. Er  erzählt  nämlich  von  ihnen :  sie  hätten  zusammen  sech- 
zehn Frauen  erwählt.  Physkoa,  eine  der  letztern  war  jedoch  sei- 
ner Angabe  zufolge  aus  dem  Demos  Ortliia  «)•  Folglich  war  die- 
ser identisch  mit  einer  jener  sechzehn  Städte.  Aus  Pausanias  Dar* 
Stellung  ergiebt  sich  ferner,  dass  von  den  erwähnten  sechzehn 
Städten  acht  auf  das  hohle  oder  eigentliche  Elis,  und  eben  so  viele 
auf  Pisatis  kamen  6).  Derjenigen  der  Pisatis  gedenkt  auch  Strabo T), 
welcher  sie  jedoch  im  Widerspruch  mit  seiner  gewöhnlichen  Auf- 
fassung hier  ebenfalls  durch  Städte  bezeichnet,  ohne  Zweifel,  weil 
es  sich  hier  von  einer  Periode  bandelte,  in  welcher  sie  wirklich 
diesen  Namen  führten. 

Ich  hoffe  weiterhin  überzeugend  dartbun  zu  können,  weshalb 
unter  den  „vielen  Demen",  aus  welchen  nach  den  Worten  des 


')  L.  1.  p.^  340.  344.  ^  *)  XI,  54  pr.  ,,'HXetpt  tiiv  xXnovc  «o*  /u- 
*gaf  grata*?  oixoxrvTtq  elq  fuav  <ruvyxla$vi<Tav  Tipv  ovofUxZofitvqv  HXtv." 
-)  II,  38.  XV,  73  Bn.  *)  V,  4  6,  4.  5.  «)  V,  46,  5.  •)  Vgl.  be- 
sonders C.  0.  Müller:  die  Phylen  von  Elis  und  Pisa,  Rhein.  Mus.  f.  Philol. 
II,  2,  4834.  S.  473.  Anna.  6.         T)  VUI,  356.  357  pr. 


der  Entwicklung  des  Städtewesens  im  Alterthum.       69 

Strabo  clas  spätere  Elis  zusammengefügt  wurde,  jene  sechzehn 
Städte  nicht  verstanden  werden  dürften,  obgleich  schon  angedeu- 
tet ist,  dass  zu  dessen  Erbauung  nicht  blos  Ortschaften  des 
hohlen  oder  eigentlichen  Elis  wio  Buprasion ,  sondern  auch 
pisalische  oder  triphylische  Orte  gleich  Hypana  verwandt  worden 
seien.  Je  genauer  daher  die  angezogene  Stelle  des  Strabo  heraus- 
hebt, aus  wie  viel  Demen  eine  jede  der  übrigen,  im  Fortgange  der- 
selben von  ihm  namentlich  angeführten  Städte  zusammengezogen 
worden  seien,  um  desto  mehr  müssen  wir  beklagen,  dass  sie  die 
Anzahl  der  zu  Elis  Erbauung  verwandten  Demen  überall  nicht  ge- 
nauer angiebt. 

A  r  k  a  der. 

Die  Arkader  zerfielen  gleich  den  Eleiern  in  eine  grosse  Anzah' 
von  abgesonderten  Ortschaften.  Dies  folgt  schon  aus  der  Genea- 
logie, welche  die  Gründung  der  meisten  Ortschaften  Arkadiens  den 
Abkömmlingen  des  Pelasgos  zuschreibt '). 

Arkas,  Urenkel  des  Pelasgos,  soll  das  Land  unter  seine  Söhne 
getheilt,  .und  diese  sollen  drei  Reiche  gestiftet  haben,  weiche  spä- 
ter in  ein  einziges  zusammenflössen  *).  Allein  die  Angaben  hier- 
über lassen  sich  nicht  von  dem  sie  umhüllenden  Gewände  der 
Sage  trennen1).  Wie  unsicher  sie  sind,  lässt  sich  schon  daraus 
abnehmen,  dass  Aristokrates ,  der  letzte  jener  vermeinten  Könige 
von  ganz  Arkadien,  zugleich  die  erste  geschichtliche  Person  der 
arkadischen  Geschichte  4,  von  Strabo  König  von  Orchomenos  ge- 
nannt wird  *.  Ferner,  dass  obgleich  nach  einigen  die  Arkader  zur 
Strafe  des  durch  jenen  in  dem  zweiten  messenischen  Kriege  ver- 
übten Verraths  sein  Geschlecht  der  königlichen  Würde  entsetzt 
haben  sollen  6) ,  andere  Schriftsteller  dasselbe  noch  später  über 
Orchomenos  herrschen  lassen  7). 

Wie  dem  nun  auch  gewesen  sein  möge,  so  deuten  doch  alle 


■)  Paus.  VIII,  2  sq.  Apollodor  HI,  8,  4.  Hermann  Gr.  Staatsalterth. 
§.  4  7.  Anm.*  3.  *)  Paus.  VJII,  4  sq.  Apoll.  III,  9,  4.  Azania  nach  dem 
ältesten  der  Söhne  benannt,  hatte  47  Städte,  Steph.  Byz.  v.  'Aiavla.  Das 
Reich  des  Apheidas  fiel  in  der  Folge  den  Nachkommen  des  Elatos  zu. 
Paus.  VIII,  5.  3.     Vergl.  Her.  VI,  427.  »)  Ganz  ungenügend  sind  Kor- 

tüms  Yermuthungen  über  diesen  Gegenstand.  Hell.  Staatsverfassungen.  S. 
456—463.  Vgl.  dagegen  z.  B.  C.  O.  Müller,  Hell.  St.  III,  449  Ende  450. 
4)  Paus.  VIII,  5?  9.  IV,  47,  2,  4.  Plutarch  de  sera  nura.  vind.  Vol.  VIII, 
p.  469  ed.  Reiske.  Heraklides  Ponticus  b.  Diog.  Laert.  I,  94^  „a%zöov 
*a<njs  'Aqxaöiaq  äxfalav".  *)  VIII,  362  „tov'Oqxo/luvo-G ßaertkea". 

•}  Pausan.  VIII,  5,  9.  IV,  22,  3.  4.  Polyb.  IV,  33.  7)  Herakl.  Pont.  1.  1. 
Plutarch  parallel.  Vol.  VII,  p.  243  ed.  Reiske.  Vgl.  C.  0.  Müller  Aegi- 
netica  p.  65.  Hell.  St.  II,  450.  Hier  war  auch  das  Grabmal  des  altern 
Aristokrates,  eines  Vorfahren  des  obengedachten.     Pausan.  VIII,  4  3,  4. 


70         Die  griechische  Komeneerfa$sung  ab  Moment 

sichern  historischen  Ueberliefernngen  über  einzelne  Orte  der  Ar 
kader  darauf  hin,  dass  diese  von  dem  Augenblicke ,  da  sie  in  dia 
Geschichte  eintreten,  in  sich  völlig  selbstständig  bestanden  ft).    Und 
daraus  lasst  sich  schliessen,  dass  das  Band,  welches  diese  Orte  in 
der  Urzeit  vereinigte,  ebenfalls  nur  schwach  gewesen  sein  dürfte. 

Aber  ihre  Selbstständigkeit  hatte  noch  einen  ganz  andern  Nach- 
druck als  die  der  einzelnen  Deinen  der  Eleier.  Elis  Vertrag  mit 
Heraia  *)  bezeugt  nämlich  auf  der  einen  Seite,  dass  die  Gesammt« 
heit  der  Eleier  darüber  wachte,  dass  kein. „Damos"  von  den  Be- 
schlüssen derselben  abtrünnig  würde.  Auf  der  andern  jedoch,  dass 
schon  einer  einzelnen  Ortschaft  der  Arkader  für  sich  betrachtet 
das  Recht  der  Selbstbestimmung  zustand.  Ich  glaube  nun  durch 
die  Analogie  beweisen  zu  können,  dass  nicht  wenigeren,  ja  noch 
mehren  der  letztern  Orte,  als  obige  Genealogie  deren  angiebt, 
die  gleichen  Befugnisse  mit  Heraia  beigewohnt  haben. 

Es  wird  nämlich  von  mehreren  und  gerade  den  unbedeutend- 
sten *)  unter  sämmtlichen  Orten  der  Arkader  ausdrücklich  hervorgeho- 
ben, dass  die  Bürger  derselben  bei  den  delphischen  und  olympischen 
Spielen  so  wenig  unter  einer  andern  Bezeichnung  vom  «Herolde 
als  Sieger  ausgerufen,  als  auch  in  die  von  den  Bleiern  geführten 
Verzeichnisse  der  olympischen  Sieger 4)  eingeschrieben  worden 
seien,  als  unter  derjenigen  ihres  Heimathsortes  s).  Dies  aber  wurde 
gerade  bei  den  Hellenen  als  das  untrüglichste  Merkmal  beides  städ- 
tischer Würde  und  politischer  Selbstständigkeit  angesehen,  sowie 
das  entgegengesetzte  Verfahren  als  Beweis  des  Mangels  derselben  •). 
Und  da  nun  äussere  Selbstständigkeit  die  Grundbedingung  des  Be- 
griffs Stadt  bildete,  so  gab  dies  dazu  Veranlassung,  dass  ein  jeder 
dieser  unabhängigen  Orte  der  Arkader  selbst  Stadt,  Polis,  benannt 
wurde. 

Daraus  ergiebt  sich  also,  dass  die  Gesammtheit  der  Arkader 
nicht  nur  eineF  innigeren  Verschmelzung,  wie  sie  nach  der  Auf- 
fassung der  Griechen  von  städtischer  Concentration  als  unzertrenn- 
lich sich  darstellte,  sondern  auch  eines  jedweden  einzelnen  Ort 
überwachenden,  alle  gemeinschaftlich  verknüpfenden  Vereins,  wie 
der    der    Eleier,    ermangelte.      Und    dieser    Umstand    kann    zur 


')  Ueberhaupt  Her.  VI,  74.  IX,  28.  77.  Pausan.  IV,  47,  S:  „'AqW- 
öutv  ßsßori&nxoTuv  a*o  xacrwv  tu*  aroXfwv".  Tegea,  welches  schon  in 
dem  Kriege  des  Charillos  als  selbständig  erscheiut,  Paus.  VIII,  5.  6.  48, 3. 
111,  7,  3,  blieb  auch  spater  in  dem  zweiten  messenischen  Kriege  von  den 
übrigen  getrennt.  Plutarch  quaest.  gr.  Vol.  VII,  p.  473  ed.  Reiske.  Ueber 
Phigalea  und  Oresthasion  vergl.  Paus.  VIII,  39,   8.  a)  S.  Böckh    Ines, 

inscr.  p.  31.  ')  Paus.  VI,  4*,  3.  4)  Paus.  III,  94,  4  An.  V,  4,  4  fin. 
$4,  6.  VI,  S,  4.  89,  9.  X,  36,  4.  4)  Paus.  VIII,  48,  3.  36,  4.  VI,  7,  3. 
•)  Paus.  V,  6,  3. 


der  Entwicklung  des  Städtewesens  im  Alterthum.       71 

geschichtlichen  Motivirung  der  Thatsache  dienen,  dass  die  Arkader 
anderen  hellenischen  Stämmen  gegenüber  in  comparativer  Schwache 
erscheinen. 

Nichts  destoweniger  entwickelte  sich  aus  der  Gesammtheit  der 
Arkader  eine  Anzahl  von  staatsbürgerlichen  Vereinen  untergeord- 
neter Art.  Das  Merkwürdige  ist  aber,  dass  in  Rücksicht  auf  die 
Bedingungen  ihrer  innern  Zusammensetzung  wie  äusseren  Macbt- 
entfaltung,  unter  diesen  Vereinen  ein  Gegensatz  obwaltete,,  ent- 
sprechend dem  angedeuteten  der  Arkader  zu  anderen  helleni- 
schen Stämmen. 

Wir  treffen  nämlich  unter  ihnen  ebensowohl  solche  an,  in 
denen  einem  einzelnen  Orte  die  ausschliessende  Leitung  aller  übri- 
gen zum  Vereine  gehörigen  Ortschaften  an  sich  zu  reissen  und 
diese  mit  sich  zu  verschmelzen  gelang,  als  auch  solche,  in  denen 
ein  jeder  der  dazu  gehörigen  Orte  zu  den  andern  in  dem  Verhält- 
nisse völliger  Gleichheit  stand.  Die  Wirkung  dieses  Unterschiedes 
zeigte  sich  eines  Theils  darin:  die  ersteren  erhoben  sich  nach 
dem  Vorgange  anderer  hellenischen  Stämme,  rücksichtlich  deren 
eine  ähnliche  Concentration  staltgefunden  hatte,  in  Folge  derselben 
ebenso  zu  nachhaltiger  Kraft,  als  zu  einem  überwiegenden  Ein- 
flüsse in  Beziehung  auf  die  übrigen  untergeordneten  Vereine  der 
Arkader.  Die  entgegengesetzte  Wirkung  trat  anderen  Theils  bei 
denen  hervor,  welche,  weil  sie  schon  von  Ursprung  die  Schwäch- 
sten1), sich  freiwillig  desto  enger  einander  anschlössen.  Denn 
das  Gewicht  dieser  letzteren  Orte  ist  überall  dadurch  nur  wenig 
vermehrt  worden,  dass  sie  Gauverbindungen  mit  gleichem  Recht 
unter  sich  eingingen. 

Die  in  der  obenangezogenen  Stelle  des  Strabo  namentlich  auf- 
geführten arkadischen  Städte  Mantineia,  Tegea  und  Heraia  ent- 
halten das  Beispiel  solcher  kleinen  staatsbürgerlichen  Vereine,  auf 
welche  die  ersterejVerbindung  Anwendung  leidet  *).  Mantineia  ge- 
bot vier  oder  fünf  Demen,  deren  Vereinigung  mit  jenem  dieser 
Stelle  zufolge  die  Argeier,  unstreitig  erst  nachdem  sie  bei  sich  ähn- 
liches vorgenommen  hatten,  d  h.  nach  dem  persischen  Kriege  be- 
wirkten a).  © 

Tegea,  der  uralte  Sitz  des  von  Apheidas  gegründeten  Reichs4) 


')  »rag  öi  J|  ogxij?  v*o  d<T$£vuaq  atpavtarsQaq",  wie  sie  von 
Pausanias  (VI,  49,  3)  bezeichnet  werden.  a)  VUI,  336:  „otov  r^q  'Aj- 
vtaölaq  Mcurtvcta  fxsv  ix.  *«'«*«  Syuwv  *u*  Agya'wv  awyiua&ti '  Teyta 
ös  *4  ivvea '  in  Tocotrrwv  St  otat  Hqala  twro  KX*Jeo/h/3qoto*u  if  xnco  K*#eww- 
tu>v".  •)  C.  0.  Müller  Bell.  St.  III,  70.  «)  Paus.  VIII,  4, 3.  5.  Die  Spu- 
ren der  Genealogie  verweisen  namentlich  auf  Mantineia,  VIII,  8,  3,  Alea  33 
pr.,  Kapnyai  35,  3.  als  dazu  gehörig. 


72         Die  griechische  Komenverfassung  nh  Moment 

stand  später  an  der  Spitze  von  acht  Deinen,  welche  es  ungewiss 
wann,  doch  vermuthlich  schoa  sehr  früh,  in  sich  hineinzog  •). 

Eine  Verbindung  von  neun  Demen  erkannte  Heraia  als  Haupt 
an,  welches  noch  Olymp.  101,  2  als  Akropolis  bezeichnet  wird  *). 
Da  es  gewöhnlich  der  lakedämonischen  >  wie  Mantineia  der  argeii- 
schen  Politik  folgte,  so  würde  es  sich  dadurch  erklären,  dass  die 
Zusammenziehung  seiner  Demen  durch  den  Sparliatischen  König 
Kleombrotos  (+  Ol.  102,  2)  oder  Kleonymos  (Kleomenes?  Ol.  102, 
3)  bewirkt  worden  sei  *). 

Die  Beispiele  der  Orte  dieser  Kategorie  beschränken  sich  je- 
doch mit  nichten  auf  die  von  Strabo  hervorgehobenen.  Im  Ge- 
gen theil,  .wenn  es  erlaubt  ist  aus  den  blos  gelegentlichen  Erwäh- 
nungen der  Komen  von  Pheneos4),  Kaphyai  und  Kleitor*),  Tbel- 
pusa  6),  Phigalea  7),  einen  allgemeinen  Schluss  zu  ziehen:  so  wur- 
den fast  alle  selbständigen  Orte  des  nordwestlichen]  Arkadiens,  des 
alten  Azaniens,  als  eben  solche  Verbindungen  von  Deinen  aufzu- 
fassen sein,  wie  die  von  Strabo  angeführten  •);  wie  wir  denn  auch 
von  Heraia  fast  blos  durch  Strabo  wissen,  dass  es  eigentlich  einer 
Verbindung  von  Demen  den  Namen  gegeben  habe.  Es  verdient 
jedoch  in  dieser  Beziehung  noch  besonders  hervorgehoben  zu  wer- 
den, dass  nur  derjenige  Ort,  welcher  einer  jeden  dieser  Verbin- 
dungen den  Namen  gegeben,  durch  die  Zurückführung  auf  einen 
der  Abkömmlinge  des  Pelasgos  zugleich  als  uralt  ausgezeichnet 
ward.  Daher  die  Demen  aller  dieser  Orte,  wo  sie  auch  nicht  so 
wie  die  Heraias  uns  sogar  dem  Namen  nach  völlig  unbe- 
kannt sind,  doch  als  erst  später  entstanden  aufzufassen  sein  dürf- 
ten. Orchomenos  gewährte  im  Gegensalze  hierzu,  wo  nicht  das 
einzige,  doch  das  characteristischste  Beispiel  eines  arkadischen  Orts, 
zu  welchem  noch  andere  und  jenem  ursprünglich  völlig  gleichste- 
hende Orte  der  Arkader  nichts  destoweniger  schon  früh  in  eine 
Stellung  geriethen ,  welche  der  der  Komen  oder  Demen  der 
von  Strabo  hervorgehobenen  mehr  oder  weniger  entsprochen  ha- 
ben dürfte  9).  In  ähnlicher  Weise  gerieth  schon  früh  Nonakris  in 
Abhängigkeit  von  Pheneos  *  °).  Melaineai  fiel  an  Heraia ■ ' ),  und  wie- 
wohl sehr  spät^isoi  an  Kleitor1*). 

Ich  gehe  auf  den  südöstlichen  Theil  Arkadiens  über.    Die  in 


»)  Müller  a.  a.  O.  >)  Diodor  XV.  40.  »)  Vgl.  Böckh  thes.  inscr. 
p.  27.  «)  Paus.  VIII,  4  3,  5.  19,  3.  Müller  III,  440.  a)  Paus.  VIII,  23,  2,  5.  6. 
6)  25,1.  7)  30,  2,  vgl.  4  4,5.  •)  Als  mehr  isollrt  stehend  betrachte  ich 
Lusoi,  Paus.  VIII,  48,  3,  Nonakris  4  7, 5,  Kynaitha  40,  Melaineai  26,  5  u.  V,  7, 4. 
Stymphalos  und  das  von  O.  Müller  übersehene  Aiea,  Paus,  VIII,  23,  4. 
•)  Paus.  VIII,  27,  3.  5.  Vgl.  3,  4.  4  3,  4.  28,  3.  36,  4.  38,  3.  *•)  Anm. 
8.  Conon  narrat.  45.  Vgl.  Kanne  p.  96.  Callim.  fr.  75,  32.  C.  O.Müller 
III,  440.  «■)  Anm.  8.  la)  Anm.  8.  Polyb.  IV,  48.  2»    4.  IX.  34,  9. 


J 


der  Entwicklung  des  Städtewesens  im  Alterthum.      73 

demselben  enthaltenen  Ortschaften  entsprachen  zwar  ebenfalls  de- 
nen der  vorhergehenden  Kategorie,  insofern  als  eine  jede  der- 
selben eigentlich  ein  Gemeinwesen  für  sich  bildete,  dessen  Grün- 
dung gleich  den  voriiergenannten  auf  unvordenkliche  Zeiten  zu- 
rückgeführt, somit  einem  der  Abkömmlinge  des  Pelasgos  zugeschrie- 
ben ward.  Weil  aber  die  in  diesem  Theile  Arkadiens  gelegenen 
Orte  so  zahlreich  waren,  dass  sie  nur  in  geringerer  Entfernung  an 
einander  grenzten,  so  kommt  auch  die  Erwähnung  von  Komen 
derselben  nur  spärlich  vor«  Wir  treffen  eine  solche  fast  blos  in 
der  Orestis  und  in  der  Kromitis  an  '). 

Ich  vermuthe,  dass  der  angeführte  Umstand  zugleich  die  Ver- 
anlassung enthalt,  dass  die  zuletzt  bezeichneten  Orte  nach  gewis- 
ses Bezirken  schon  vor  Alters  9)  Bündnisse  mit  gleichen  Rechte 
urter  sich  schlössen.  Jene  sind  daher  zugleich  als  Mitglieder  die- 
sei  Verbindungen  aufzufassen.  Denn  gleichwie  in  der  Geschichte 
unserer  Alpengegenden  und  der  an  diese  angrenzende  Lander  die 
einzelnen  Orte  gewöhnlich  unter  der  allgemeinen  Bezeichnung  von 
Gaien  zusammengefasst  werden,  deren  Ursprung  sich  in  das  Al- 
tern um  verliert,  deren  Name  und  Bedeutung,  ausser  wo  diese 
durch  ein  bezeichnendes  Merkmal  der  Natur  bedingt  sind,  dem 
Femestebenden  sogar  unter  uns  dunkel  bleibt:  so  tauchen  auch 
die  Namen  der  Orte  des  südöstlichen  Arkadiens  in  den  unifassen* 
deren  Bezeichnungen  der  Gaugenossenschaften  der  Mainalier,  Parrha- 
sier  Eutresier,  Kynurier,  Aipytier,  unter3).  Als  Beleg  dienen:  der 
Schbchthaufen  der  Mainalier  in  dem  Peloponnesiscben  Heere  4); 
die  Bezeichnung  olympischer  Sieger  u.  a.  m.  auf  Inschriften  sowie 
im  alltäglichen  Leben  als  Mainalier,  Parrhasier  u.  s.  w.  •),•  endlich 
die  Xnwenduug  der  Namen  dieser  Verbindungen  selbst  in  der  Be- 
deutung als  Landschaften  6). 

Iasofern  als  nun  s'ämmtliche  zu  einer  jeden  dieser  Verbindun- 
gen gehörigen  Ortschaften  in  dieser  Beziehung  als  Theile  eines 
grössern  Ganzen  sich  darstellen,  so  würde  es  sich  daraus  erklären, 
dass  sie  von  den  späteren  Griechen  mit  dem  Namen  „Komen" 
bezeichnet  werden;  wie  dies  unter  andern  in  einer  schon  früher 


i)  Thuk.  IV,  434.  Paus.  VIII,  34,  3.     Vgl.  noch  35,  7,  8,  38.         *)  II.  II, 
408.         •)  Haupistelle:  Paus.  VIII,  27,  3.         4)  Thuk.  V.  67.  »)  Paus. 

V,  26,  5.  27,    4.  4.  VI,   6,    4.    8,  2.   3.  9,    4.  8)  Thuk.   V.   64.     Xen. 

bist,  gr.  VII,  4,  28.  29.  Am  bezeichnendsten  ist  „i%  MouvdXov"  statt 
Tijs  Mouvaktwv  %<Jt%ctq"  (Paus.  VI,  7,  3).  Dies  war  nämlich  der  Name 
eines  Berges  (Paus.  VIII,  36,  5),  und  zugleich  einer  ehemaligen  Stadt  (VIII, 
3,  4  fin.  36,  5).  Ei  wird  aber  ebenso  wie  in  unserer  Sprache  die  ent- 
sprechenden Formen  „vom  Harz,  Rhein",  oder  der  schon  von  Luther  ge- 
brauchte Ausdruck:  „Rheinländer"  in  der  Bedeutung  als  Landschaft  ge- 
braucht. Paus.  V,  27,  4.  VI,  6,  4,  8,  3;  es  wäre  denn,  dass  in  letzterer 
Stelle  die  Stadt  zu  verstehen  sei. 


74         Die  griechische  Komenverfassung  ah  Moment 

von  mir  angezogenen  Stelle  des  Diodor  geschieht ').  Ja  dieser  Um* 
stand  gab  unstreitig  dazu  Veranlrssung,  dass  die  spatem  Griechen 
den  Begriff  der  Komen,  d.  h.,  der  in  eine  Menge  von  selbststandi- 
gen  Ortschaften  getrennten  Verfassung  an  den  Stamm  der  Arka- 
der speciell  knüpften  *).  Und  wie  nun  schon  bei  dem  Namen 
der  Tyroler,  ohne  an  die  Städte  dieses  Landes  zu  denken,  das  Cha- 
rakterbild seiner  Landbevölkerung  vor  unsern  Geist  tritt.,  in  ähn- 
licher Art  wotifate  auch  bei  den  Griechen  dem  Begriffe  der  Komen 
die  Beziehung  auf  das  Ländliche,  Bäuerliche  bei.  Denn  obwohl 
diese  Parallele  keine  vollständige  ist,  indem  die  Städte  der  Alten 
nicht  minder  als  die  Komen  auf  den  Betrieb  der  Landwirtschaft 
gegründet  waren,  so  ist  doch  gewiss,  dass  das  Leben  in  den  Ko- 
men im  Vergleich  mit  den  Städten,  auch  von  den  Griechen  als 
um  desto  geeigneter  für  den  Betrieb  der  Landwirtschaft  betrach- 
tet wurde,  je  näher  natürlich  die  Eigenthümer  selbst  in  dem  er- 
steren  Falle  ihren  Landgütern,  welche  sie  in  den  Komen  besassen, 
wohnten  *). 

Die  Geschichte  keines  andern  Volkes  als  die  der  Griechen, 
und  unter  diesen  wieder  der  Arkader  insbesondere ,  belegt 
wohl  mit  bedeutenderen  Zügen,  dass  der  Grad  der  politischen  Knt- 
wickelung  eines  Volkes  auf  dem  Princip  der  Centralisation ,  der 
Unterordnung  des  einzelnen  Theils  unter  das  Ganze,  beruhe;  hin- 
gegen Schwäche,  politische  Unmündigkeit,  wie  gehemmte  Entwik- 
kelung  durch  den  Gegensatz  beider  nothwendig  bedingt  seien.  Denn 
keinem  andern  Grunde  als  dem  Mangel  der  Centralisation,  wie  der 
auf  einen  Zweck  gerichteteten  vorörtlichen  Leitung  bei  den  Par- 
rhasiern  u.  a.  kann  es  zugeschrieben  werden,  dass  die  Manlineier, 
ungeachtet  diese  blos  fünf  Komen  zählten,  jene  ihrer  Herrschaft  zu 
unterwerfen  im  Stande  waren  4). 

Als  das  Resultat  dieser  Untersuchung  ergiebt  sich,  dass  die  Orte 
des  nordwestlichen  Arkadiens  wahrscheinlich  in  entsprechender 
Weise,  wie  die  von  Strabo  hervorgehobenen,  je  aus  eines  bestimm- 
ten Anzahl  von  Demen  bestanden;  die  südöstlichen  hingegen  als 
Demen  aufzufassen  seien,  weil  sie  unter  sich  Verbindungen  schlös- 
sen, deren  jede  eine  politische  Gesammtheit  darstellte,  und  daher 
aus  diesem  Gesichtspuncte  mit  den  Orten  der  vorhergebenden  Ka- 
tegorie von  uns  auf  gleiche  Stufe  gestellt  werden  dürfte.  —  Dies 
war  der  Grund,  dass  die  nämlichen  Orte,  von  welchen  zuerst  aus 
Päusanias  nachgewiesen  worden  ist,  dass  sie  mit  Rücksicht  auf  die 
ihnen  beiwohnende  Befugniss  der  Selbstbestimmung  des  Titels  de/ 


M  XV,  72  An.         •)  Aristot.  Polit.  II,  4,5.         •)  Vgl,  Xenoph.  bist, 
gr.  V,  2,  7.     Paus.  VII,   48,   5.  «)  Ttouk.   V,    29,  33,    84.     Nicht  die 

Mainalier,  Thuk.  V,  67.  C.  0.  Müller  111,  449. 


der  Entwicklung  des  Städtetcesens  im  Alterthum.       75 

Städte  gewürdigt  worden  seien,  nichtsdestoweniger  Komen  benannt 
worden  sind,  inwiefern  sie  als  Mitglieder  jener  Verbindungen  auf- 
gefassJburden;  —  nach  dem  nämlichen  Grundsatze,  nach  welchem 
die  ionischen  Städte,  von  welchen  früher  die  Rede  war,  von  Strabo 
Komen  benannt  sind. 

A  c  h  a  i  e  r. 

Sowie  alles  öffentliche  Wesen  auf  dem  Recht  und  der  dasselbe 
verborgenden  Gewalt  beruht,  so  ist  die  Concentration  beider  an 
Einem  Orte  ein  Symbol  der  Zusammenziehung  des  gesammten 
Volks,  und  bildet  daher  schon  an  sich,  indem  sie  die  Vereinigung 
des  Volks  sinnbildlich  darstellt,  einen  Gegensatz  zu  örtlicher  Zer- 
splitterung. So  genügte  es  schon  zur  Erfüllung  des  Begriffs  einer 
Stadt,  wenn  das  Recht  und  die  öffentliche  Gewalt  aller  übrigen 
Orte  auf  einen  einzigen  übertragen  wurden. 

Auf  diese  Weise  vereinigt  man  wohl  am  besten  die  Angabe 
des  Strabo:  ein  jeder  der  zwölf  achahschen  Theile  (fiigrj,  (leqtdeg1) 
sei  so  volkreich  gewesen,  dass  er  aus  sieben  oder  acht  Demen  be- 
standen habe  *);  —  mit  der  ihr  unmittelbar  vorhergebenden  Angabe 
desselben  Schriftstellers:  die  Ionier  halten  in  Komen  gewohnt,  die 
Achaier  hingegen  Städte  gebaut •).  Denn  wenn  die  Einnahme  des 
A ig ial os  durch  die  Achaier  auch  nur  die  vorherangedeutete  Folge 
hatte,  und  die  Achaier  damit  zugleich  eine  Erweiterung  und  Befe- 
stigung desselben  Orts  verbanden  4),  so  genügte  dies  schon  zur 
Erklärung  der  zweiten  Behauptung  des  Strabo.  Dass  es  aber  bei 
der  Eroberung  jenes  Landes  durch  die  Achaier  wirklich  so  zuge- 
gangen sei,  wie  hier  vorausgesetzt,  könnte  man  sGhon  aus  ihrer 
Stellung  zu  den  mulhmasslich  in  jenem  Lande  zurückgebliebenen 
früheren  Bewohnern  desselben  folgern.  Es  wird  aber  insbesondere 
durch  dasjenige  bestätigt,  was  Pausanias  bei  Gelegenheit  eines  der 
zwölf  Theile  des  ersteren  mittheilt. 

Dieser  berichtet  nämlich,  was  die  schon  früher  erwähnte  Ent- 
stehung von  Patrai  anlangt,  mit  Rücksicht  auf  diesen  Gegenstand 
genauer  wie  folgt:  „Patreus  habe  den  mit  ihm  gekommenen  Achaiern 
ausdrücklich  verboten,  sich  in  Antheia  und  Mesatis  niederzulassen, 
dafür  aber  den  Umkreis  von  Aroa  erweitert,  und  ihm  nach  seinem 
eigenen  den  Namen  Patrai  ertbeilt  *)".    Setzen  wir  den  Fall,  dass 


l)  VIII,  383.  386  fin.,  entsprechend  den  To*ot.  %uQcu,  p.  336  fln.  8p. 
»)  VUI,  386:      *Exacr™  6e     ~     * '*  ■'•        f      *  ' 


«OTTO-   XOt    OXTW        TOffOUTOV 

/uv  o\3V  Iwveq  xco/i/qäov 
O.  Müller,  Hell.  St.  III,  74,  Anm.  4  erklärt:  „04  /llbv  ©vi/"lwi/*g  xw,il<ij6ov 
Jxopv"  durch  „onne^Mauern  der  Städte",  und  verweist  dabei  auf  Thuk. 
HI,  33.         «)  Paus.  VII,  18,  3. 


76         Die  griechische  Koment  er  fastung  als  Moment 

in  einem  jeden  der  übrigen  achaiischen  Tbeile  Aebolicbes  verord- 
net sei,  wie  bei  Patrai  geschah,  so  konnte  Strabo  dies  mit  einigem 
Grunde  so  ausdrücken:  die  Achaier  hatten  Städte  gebaut.  M 

Aber  selbst  die  Zusammenziehung  eines  Volks  in  einem  ein- 
zigen Orte,  ist  in  der  Regel  nur  von  einem  Theile  des  Volkes  zu 
verstehen,  und  zwar  von  dem  durch  Zahl  oder  Bedeutung  überwie- 
genden. Der  Beweis  Tür  diese  Behauptung  ist  darin  enthalten,  dass 
in  den  meisten  Fallen  dieselben  Orte,  von  denen  bezeugt  wird, 
dass  ihre  Bewohner  in  einem  einzigen  Orte  zusammengezogen  wor- 
den seien,  dessenungeachtet  als  solche  fortbestanden,  also  jeden- 
falls nicht  unbewohnt  gewesen  sein  können.  Möge  daher  entwe- 
der die  vorhergehende  Mittheilung  des  Pausanias  als  buchstäblicher 
Ausdruck  dessen,  was  bei  Gründung  von  Patrai  sich  ereignete,  be- 
trachtet, oder  vielmehr  angenommen  werden,  dass  eine  Verschmel- 
zung der  vorhergedachten  drei  Städte  zu  einer  stattgefunden  habe, 
wie  der  Ausdruck  der  Sibylle:  *Aqdri  TQtnvQyog  erralben  lässt1), 
so  würde  es  sich  immer  mit  Rücksicht  auf  diese  zweite  Bemerkung 
erklären,  dass  Antheia  und  Mesatis  als  Komen  fortbestanden,  und 
in  der  spätem  Geschichte  von  Patrai  wiederauftauchen. 

Hiernach  erscheint  es  weniger  auffallend,  wie  es  heissen  könne : 
die  Achaier  hätten  Städte  gebaut,  da  doch  jeglicher  Theil  derselben 
in  sieben  oder  acht  Demen  zerfallen  sein  soll.  Wir  lernen  daraus, 
dass  auch  solche  Orte,  welche  ihre  Demen  noch  nicht  an  sich  ge- 
zogen, sondern  blos  die  oberste  Leitung  derselben  an  sich  genom- 
men hatten,  bisweilen  Städte  benannt  wurden1).  Jene  zweite  An- 
gabe des  Strabo  dient  insbesondere  noch  zur  Bestätigung,  dass 
was  von  den  meisten  Orten  der  Arkader  blos  gefolgert  werden 
konnte,  auf  die  achaiischen  insgesammt  Anwendung  leide«  Sie  be- 
zeugt nämlich,  dass  sämmtlicbe  achaiischen  Theile  denjenigen  ent- 
sprechend construirt  gewesen  seien,  welche  in  der  zu  Anfange 
dieser  Untersuchung  von  mir  angezogenen  Stelle  des  Strabo  von 
ihm  als  ausdrücklicher  Beleg  seiner  Behauptung:  dass  ursprüng- 
lich fast  jeder  selbständige  Ort  oder  Landschaft  des  Peloponnes 
aus  einer  bestimmten  Anzahl  von  Demen  bestanden  habe,  beson- 
ders hervorgehoben  werden. 

Strabo  führt  aber  in  dieser  Stelle  nächst  Elis  und  den  drei 
arkadischen ,  auch  noch  das  Beispiel  von  folgenden  drei  achaiischen 
Städten  an,  welche  in  späterer  Zeit  (vangoy)  aus  solchen  Demen 
zusammengezogen  worden  seien:  als  Aigion  aus  sieben  oder  acht, 
Patrai  aus  sieben,  Dyme  aus  acht  •).    Je  weniger  an  der  Zuverläs- 


M  Elymolog.  magn,  v.  'Aoon.  s)  Vgl.  Xen.  h.  gr.  VH,  4,  17.  48. 

■)  Str.  VIII,  337:    ,,wgö   amxiaq  Atytov   «4  *****  aj  oxtw  öfytttr  **•-»■■»»- 


tv  crwHro- 


der  Entwicklung  des  Städtetoesens  im  Altertimm.      77 

sigkeit  dieser  Angaben  des  Strabo  überhaupt  zu  zweifeln  ist,  desto- 
weniger  darf  hier  die  Frage  mit  Stillschweigen  übergangen  wer- 
den: wie  seine  Palrai  insbesondere  betreffende  Angabe  mit  der, 
nach  welcher  Patrai  schon  durch  Patreus,  und  zwar  aus  drei  Kö- 
rnen zusammengezogen  sein  soll,  zu  vereinigen  sein  dürfte? 

Die  natürlichste  Erklärung,  welche  sich  uns  darbietet,  möchte 
die  sein:  dass  Strabo  das  Letztere  nur  deshalb  verschweige,  weil 
die  Zusammenziehung  blos  einzelner  Komen  nicht  hinreichte,  um 
den  Begriff  einer  Stadt  in  der  spätem  Bedeutung  des  Wortes  zu 
erfüllen.  Jene  beiden  Angaben  stehen  demnach  zu  einander  genau 
in  demselben  Verhältnisse,  in  welchem  die  Angabe:  dass  dieEleier 
ans  allen  Demen  in  die  einige  Gesammtstadt  Elis  übersiedelt  wor- 
den l),  zu  der  hinsichtlich  Elis  Erweiterung  durch  Oxylos  steht*). 
Ein  drittes  Beispiel  des  wiederholten  und  auf  einen  erweiterten 
Umkreis  ausgedehnten  Synoikismos  würde  Theben  darbieten  *). 

Der  Zeitpunkt,  in  welchen  der  zweite  Synoikismos  von  Palrai 
gefallen  sein  dürfte,  lasst  sich  nur  insoweit  bestimmen,  dass  er 
vor  den  Zug  des  Brennus  Ol.  125,  2  gesetzt  werden  muss.  Die 
Stadtgeschichte  von  Patrai  berichtet  nämlich,  dass  die  Palrenser 
damals  allein  von  allen  Achaiern  den  Aitolern  Beistand  geleistet, 
hernach  aber,  um  sich  von  der  in  diesem  Krieg  erlittenen  Ein- 
busse  durch  desto  fieissigeren  Anbau  des  Landes  zu  erholen,  Pa- 
trai grösstenteils  verlassen,  und  in  die  Komen  oder  kleinen  Städte  An- 
Ibeia,  Mesatis,  Boline,  Argyra,  Arba  sich  zurückgezogen  hätten.  Wären 
nun  diese  Patrai  nicht  schon  früher  incorporirt  worden,  so  bliebe 
für  das  von  Strabo  gemeldete  Ereigniss  gar  kein  Raum  übrig.  Denn 
erst  Augustus  führte  die  Menschen  aus  den  gedachten  kleinen 
Städten  nach  Patrai  zurück :  der  dritte  Synoikismos  von  Patrai  4). 

Es  ist  meine  Absicht,  späterhin  noch  genauer  zu  untersu- 
chen, inwiefern  die  Angabe  des  Strabo,  nach  welcher  ursprüng- 
lich in  dem  ganzen  Peloponnes  Komenverfassung  geherrscht  habe, 
noch  durch  mehre  irgend  bedeutsame  Beispiele  bestätigt  werde. 
(Hierbei  werde  ich  mich  jedoch  keineswegs  blos  auf  den  Pelo- 
ponnes beschränken,  sondern  auch  zugleich^fes  übrige  Griechen- 
land in  Betracht  ziehen).  Denn  sowie  Thukyaides  Zeugniss  dem 
von  Strabo  noch  umfänglicher  entwickelten  Begriff  den  Stempel 
allgemeiner  Anwendung  ertheilt,  so  fehlt  es  auch  nicht  an  andern 
Zeugnissen,  wodurch  der  letzlere  gerechtfertigt  wird. 

M  i  n  y  e  r. 
Es  ist  schon  früher  angedeutet,  dass  Minyer  von  Lemnos  ver- 


')  Str.  VIII,  336.  ■)  Paus.  V,  4,  4.  »)  Paus.  IX,  5,  I.  vgl.  9. 

4)  Paus.  VII,  48,  5  cf.  20,  3.  X,  33,  4. 


78         Die  griechische  Komenverfastung  als  Moment 

trieben  in  Lakonika  eines  dauernden  Besitzes  genossen.  Sie  wur- 
den aber  zugleich  mit  den  Achaiern,  welche  sie  bei  sich  aufge- 
nommen, durch  den  Andrang  der  Dorier  genötbigt,  entferntere 
Wohnsitze  aufzusuchen.  Die  Colonien  der  Blinyer  sind  geschicht- 
lich und  enthalten  einen  neuen  Beleg  jener  altertümlichen  Weise 
gesonderter  Wohnsitze.  Denn  nicht  in  irgend  einer  von  der 
der  Städte  verschiedenen  Anlage  oder  sonst  eigentümlichen 
Beschaffenheit,  sondern  darin  dass  ein  griechisches  Volk,  welches 
wie  die  Minyer  mit  dem  Stempel  volkstümlicher  Einheit  in  der 
Geschichte  auftritt,  in  eine  bestimmte  grössere  Anzahl  von  Ort- 
schaften anstatt  Einer  getheilt  war,  beruhte  der  Begriff  der  Komen. 
Darum  sind  nicht  nur  die  sieben  Flecken  (x<3qcu),  in  welche  die 
minyeische  Colonie  auf  Thera  zerfiel  *),  sondern  auch  die  sechs 
oder  vermuthlich  sieben  Städte,  welche- der  grössere  Theil  dieses 
Volks,  Paroreaten  und  Kaukonen  vertreibend,  in  Triphylien  grün- 
dete *),  als  Komen  zu  betrachten.  Denn  wie  die  Ionier  von 
Aroa,  Antheia  und  Mesatis  alljährlich  das  gemeinschaftliche  Pest  der 
Artemis  Triktaria  begingen,  so  steuerten  sammtlicbe  tripbyliscben 
Städte  zu  dem  Tempel  des  samiscben  Poseidon  bei,  welcher  auf 
einem  Vorgebirge  Tripbyliens,  Namens  Samikoa  gelegen,  das  Sym- 
bol ihrer  Einheit  darstellte  '). 

P  i  s  a  t  e  n, 

Pisa  erscheint  besonders  rätbselhafl  in  der  Geschichte  durch 
seine  Verknüpfung  mit  Elis.  Diese  spiegelt  sich  schon  in  der 
Sage,  welche  bald  den  Beherrscher  des  einen  Landes  in  das  an- 
dere Land  versetzt,  bald  beide  Länder  zu  einem  verbindet4},  von 
denen  ein  jedes  unabhängig  von  dem  anderen  das  Recht  in  An- 
spruch nahm,  dem  Tempel  des  Zeus  in  Olympia  vorzustehen. 

Die  vereinten  Chöre  von  sechzehn  eleiischen  Frauen,  acht 
eleiische  und  acht  pisatische  Ortschaften  darstellend  *),  enthalten 
eine  bestimmte  Andeutung,  dass  Elis  und  Pisa  in  grauer  Vorzeit 
zu  einem  Zwillingsstaate  verbunden  gewesen  seien.  Hiermit  ist  viel- 
leicht die  Angabe  cjAPausanias  zu  verbinden,  dass  Ol.  50,  da  Pisa 
zerstört  wurde,  zwei  Kampfrichter  in  Olympia  anstatt  des  früheren 
einen  blos  aus  den  Bleiern  durch  das  Loos  gewählt  worden  seien  •), 

l)  Her.  IV,  453.  *)  Her.  IV,  U8.  Str.  VIII,  337.  347,  Vgl.  Mül- 
ler Hell.  St.  I,  360  f.  *)  Strabo  VIII,  343.  Paus.  VI,  35,  5.  *)  Str. 
VIII,  366.  Vgl.  357  Über  Salmoneus.  Steph.  Byz.  v.  Al™%oq.  ')  Paus. 
V,  46,  4.  Vgl.  C.  0.  Müller,  die  Pbylen  von  Elis  und  Pisa.  Rhein.  Mas. 
f.  Philol.  II,  2.  4834,  S.  473.  Anna.  6.  °)  V,  9,  4.  '„«4   a*aVrwv   Xa- 

%ovi<nv  'HWmv"  wäre  eine  leicht  za  erklärende  Verwechselung  anstatt 
„blos  aus  den  Eleiern";  zumal  die  Bemerkung  vorhergeht,  dass  die  Herr« 
•eher  aus  dem  Geschlechte  des  Oxylos  früher  selbst  den  Vorsitz  geführt 
hätten. 


der  Entwicklung  des  Staatswesens  im  Alterthum.      79 

da  doch  nach  Hellanikos  Angabe  deren  schon  ursprünglich  zwei 
gewesen  waren  *).  Die  frühe  Anwendung  des  Namens  der  Eleier 
als  Gesammlbezeichnung  der  Eleier  und  Pisaten  würde  uns  jedoch 
unter  der  angegebenen  Voraussetzung  zu  der  Vermuthung  berech- 
tigen, dass  Elis  in  jenem  Bundesverhältnisse  ungefähr  seit  Oxylos 
den  Vorrang  vor  Pisa  behauptet  habe.  So  führte  schon  Phlegon 
nach  Stephanos  von  Byzanz  in  dem  Verzeichnisse  olympischer 
Sieger  OL  4  und  27  zwei  olympische  Sieger  unter  der  Bezeich- 
nung als  Eleier  aus  Dyspontion  auf;  ungeachtet  dieser  Ort  ent- 
schieden pisatisch  war  a).  Auf  das  umgekehrte  Verhaltniss  in  der 
Periode  von  Oxylos  und  das  frühere  Uebergewicht  Pisas  über  Elis 
deutet  dagegen  ebenso  unverkennbar  das  Schiffsverzeichniss  des 
Homer  durch  die  Angabe  in  Betreff  der  überwiegenden  Starke  der 
Pylier  im  Vergleich  mit  der  der  Epeier  *),  gleichwie  die  Be- 
hauptung der  Pisaten  selbst,  dass  sie  die  ältesten  Vorsteher  des 
olympischen  Tempels  und  der  Spiele  gewesen  seien  4). 

Das  angedeutete  Bundesverhältniss  zwischen  Elis  und  Pisa 
erhielt  sich  ungeachtet  vorübergehender  Störungen  bis  gegen 
die  fünfzigste  Olympiade.  Damals  aber  erhob  sich  wegen  des 
Vorsitzes  der  olympischen  Spiele  ein  Krieg  zwischen  beiden,  in 
welchem  der  Beistand,  welchen  Sparta  Elis  gewährte,  den  Aus- 
schlag gab  ').  Er  endete  damit,  dass  Pisa  und  alle  mit  ihm  ver- 
bündeten Orte,  insbesondere  aber  Dyspontion,  Makistos  und  Skil- 
lus  zerstört6),  und  die  Landschaft  Pisa  nebst  einem  Theile  von 
Triphylien  zur  Perioikis,  d.  h.  zu  einem  eroberten  und  unterthäni- 
gen  Gebiete  des  hohlen  oder  eigentlichen  Elis  gemacht  wurde  7). 

Seit  diesem  Zeitpunkte  entschwindet  der  Name  Pisa  allmahlig 
aus  der  Geschichte  wie  aus  dem  Gedächtnisse  und  Bewusstsein 
der  Menschen;  unter  den  griechischen  Geschichtschreibern  redet 
nur  Herodot  von  Pisa,  versteht  aber  unter  diesem  den  Tempel 
des  Zeus  in  Olympia  •).  Eine  Frage,  welche  sich  hierbei  von  selbst 
aufdrängt,  ist,  ob  ausser  den  von  Pausanias  angeführten  gemein- 
schaftlich in  der  ehemaligen  Pisatis  begriffenen  Städten  Pisa  und 
Dyspontion,  auch  die  übrigen  Orte,  deren  Namen  als  zu  den  acht 


»)  Schol.  Pind.  Ol.  111,  22.  Vgl.  Müller,  die  Phylen  von  Elis  und  Pisa. 
a.  a.  O.  S.   179.  a)  V.  AuoWvtiov.     Vgl.  auch  Paus.    IV,  4  5,  4.     V. 

46,  4.     VI,  24,  4,   über   das    Factische   besonders  VI,  22,  2.  •)  Vgl. 

Sir.  Vm,  354.  *)  Str.  1.  1.  Xen.  h.  gr.  VII,    4,   28.     Diodor.    XV,    78. 

Müller  Hell.  St.  H,  446.  *)  Str.  VII|,  355  fln.  6)  Paus.  VI,  22,  2: 

„  .  . .  MoMu'cmot  xott  SxtXXo-uvuot,  oirrot  /i*v  in  •njq  TiJi<pvXia<;<  twv  6m 
aXXwv  xiqioinuv  Awxovrtot .  . .  IJtacuo'uq  /wv  Sy  «at  ocroi  tov  sroXf- 
juuru  Uiacuoiq  fiUTi<r%ov9  txeXaßsv  avcurraroiyg  iwro  YO**luv  y€v*a^>atu. 
Vgl.   V,  6,  4,  40,  2;  VI,  25,  5.     Her.  IV,  448.  7)  Thuk.  H,  25.     Xen. 

h.  gr.  m,  2,  23.         •)  II,  7. 


80         Die  griechische  Komeiwerfassung  als  Moment 

Städten  der  Pisatis  gehörend  uns  durch  Strabo  erhalten  sind  '), 
das  Loos  der  Vorgenannten  theillen  ?  Diese  Frage  lässt  sich  jedoch 
bei  dem  Stillschweigen  der  Geschichte  über  dieselbe  blos  durch 
eine  allgemeine  Würdigung  der  hierauf  Bezug  habenden  thatsäcb- 
lichen  Umstände  beantworten. 

Zwar  meldet  auch  Slrabo  nur  von  Dyspontion,  dass  es  ver- 
lassen, und  dessen  Bewohner  nach  Epidamnos  und  ApoIIonia  ge- 
zogen seien.  Er  sowohl  als  Pausanias')  reden  dagegen  von  jenen 
acht  Städten  überhaupt  nie  anders  als  wie  von  einer  vorlängst 
abgekommenen  Eintheilung.  Die  derjenigen  Pisas  entsprechende 
Einlheilung  des  hohlen  oder  eigentlichen  Elis  in  acht  Städte,  ver- 
weist jedoch  in  Betreff  jener  Eintheilung  unverkennbar  auf  die 
Periode,  in  welcher  beide  noch  als  frei  verbunden  neben  einan- 
der bestanden.  Insbesondere  spricht  aber  für  den  Untergang  je- 
ner acht  Städte,  dass  sowenig  Salmone,  Kykesion,  Harpinna  und 
Herakleia,  von  welchen  wir  durch  Strabo  gewiss  wissen,  dass  sie 
zu  ihrer  Zahl  gehörten,  als  Dyspontion  oder  Pisa  selbst,  in  der 
spätem  Geschichte  vorkommen.  Erst  unter  römischer  Herrschaft 
treffen  wir  die  zufällige  Erwähnung  Herakleias,  d.h.  als  einer  Kome 
der  Eleier  an  *),  und  eine  dieser  entsprechende  Bewandniss  dürfte 
es  auch  mit  der  Harpinnas  gehabt  haben  4).  Wollte  man 
selbst  gegen  vorstehende  Schlussfolgerung  den  Einwand  erheben, 
das  Stillschweigen  der  Geschichte  könne  ein  blos  zufälliges  sein, 
so  vermag  ich  dem  aus  folgenden  Gründen  nicht  beizupflichten. 
Erstens,  die  triphylischen  Städte  Makistos  und  Skillus,  welche 
gleichzeitig  mit  Pisa  zerstört  sein  sollen,  werden  später  wiederholt 
genannt,  so  gut  als  Lepreon,  Phrixa,  Epeion').  Zweitens,  während 
kein  einziger  Ort,  von  welchem  sich  bestimmt  behaupten  lässt, 
dass  er  zu  der  Zahl  jener  acht  Städte  gehört  habe,  in  der  spätem 
Geschichte  handelnd  auftritt,  werden  die  nämlichen  Orte,  welche 
nach  der  wahrscheinlichen  Begrenzung  der  allen  Pisatis  bei  Xeno- 
phon  und  Diodor  im  Umfange  der  letzteren  -zuerst  auftauchen, 
nicht  minder  von  Strabo  und  Pausanias  als  noch  zu  ihrer  Zeit  be- 
stehend angegeben.    . 

Strabo  bezeichnet  als  Grenze  von  Pisatis  und  Triphylien  einen 
Berg6).  Dies  war  vermulhlich  die  Akroreia,  ein  gebirgiger  Land- 
strich im  Süden  des  Alpheios  T),  von  welchem  die  darauf  befind- 
lichen Städte  den   Namen  der  akrorischen  führten  8).    Xenophon 


»)  VIII,  356,  357  pr.  a)  V,   16,    2  sq.  )  Paus.  VI,   22,  4. 

4)  Lucian.  de  mort.  peregrinor.  35.  *)  Xenoph.  h.  gr.  111,  2,  25,  30. 

VI,  5,  2,  vergl.  mit  Her.  IV,  H8.^        «)  VIII.  343.  Müller  Hell.  St.  I,  362. 

7)  Diodor  XIV.   4  7:     „...  Sud  rijs    Attgwgetag   cvyaywv  to    crtQCtioxeöov 

rertaqou;  *o\«tg"  cet.  •)  Xen.  h.  gr.  VII,  4,   14:     „rag  vwv  *A*flw- 

..'-,-.S...  -aJL.  *=\— .',*_— ..« 


qttutv  xotetq  .  .  .  xMjv  0gavoTov 


der  Entwicklung  des  Städtewesens  im  Alterthum.       81 

erwähnt  von  Letztern  blos  Tbrauslos;  Diodor  nennt  vier  dersel- 
ben: Thraistos,  Alton,  Eupagion,  Opus.  Auf  diese  folgte  zunächst 
am  Alpheios  Epitalion1).  Jenseits  desselben:  Letrinoi,  Amphidoloi, 
Marganeis  ').  Noch  wird  Kromion  in  der  Nähe  von  Olympia  als 
Ortschaft  genannt  *).  Von  allen  diesen  werden  Epitalion,  Amphi- 
doloi, Margalai,  Opus  von  Strabo  *);  Letrinoi  von  Pausanias  als 
noch  damals  bestehend  angeführt *). 

Ich  stehe  demzufolge  nicht  an,  hier  die  Vermuthung  auszu- 
drücken, dass  sämmlliche  vorhergenannten  pisatischen  Städte  be- 
reits seit  dem  angegebenen  Zeitpunkte  in  Trümmern  lagen,  wie 
einige  von  ihnen  später  geschildert  werden  °). 

Um  denselben  Zeitpunkt,  von  welchem  hier  vorausgesetzt  wird, 
dass  die  acht  Städte,  welche  die  Sage  in  Pisatis  setzte  und  die  mei- 
sten minyschen  verwüstet  wurden,  erhielt  sich  im  Süden  Triphy- 
liens,  vermulhlich  durch  die  besondere  Begünstigung  der  Spartia- 
ten,  ein  Kern  Selbstständigkeit  wie  des  spätem  Widerstandes  ge- 
gen das  Uebergewicht  der  Eleier  über  die  ganze  Westküste  des 
Peloponnes.  Dies  war  Lepreon.  Dasselbe  zog  sogar  durch  die 
Vermittlung  der  Spartiaten  noch  andere  Elemente  der  zerstörten 
Gemeinwesen  der  Minyer  oder  Lemnier  an  sich  8).  Diese  Nach- 
richt ist  blos  durch  Strabo  erhalten.  Dass  sie  aber  ungefähr  in  den- 
selben Zeitpunkt  zu  setzen  sei,  in  welchem  die  Spartiaten  den  Eleiern 
beistanden,  sich  allmählig  das  ganze  Land  bis  gegen  die  Grenze  Mes- 
seniens  zu  unterwerfen,  dürfte  daraus  gefolgert  werden,  weil  Strabo 
in  der  nämlichen  Stelle  als  Grund  der  Mitwirkung  der  Spartiaten  zu 
der  angegebenen  Vergrößerung  von  Elis  hervorhebt,  dass  die  Spartia- 
ten so  gehandelt  hätten,  weil  die  Eleier  ihnen  in  dem  zweiten  mes- 
senischen Kriege  Beistand  geleistet  hätten,  im  Gegensatze  zu  Ne- 
storiden  und  Arkadern,  welche  die  Messenier  unterstützt  hätten. 
Denn  Pausanias  bezeugt  das  Erslere  ausdrücklich  von  den  Lepre- 
aten  •).  Wenn  hingegen  Pausanias  bei  dieser.  Gelegenheit  ausser 
Arkadern,  Argeiern  und  Sikyoniern  zugleich  die  Eleier,  unter  wel 
eben  er  hier  sowie  in  mehren  anderen  Stellen  die  Pisaten  mitbe- 
greift, als  Bundesgenossen  der  Messenier  bezeichnet,  so  wider- 
spricht'dies  streng  genommen  nicht  der  vorhergehenden  Angabe 
des  Strabo;  denn  dieser  führt  die  Eleier  in  dem  zweiten  messenischen 
Kriege  ebenfalls  unter  den  Bundesgenossen  der  Messenier  mit  auf10). 
Beide  Angaben  dürften  sich  vielmehr  durch  die  Annahme  mit  ein- 


s- 


•)  Xen.  1.  1.  III,  2,  29.  a)  Xen.  1.  1.  III,  2,  25,  30.     IV,  2,  46. 

VI,  5,  2.  VII,  4,  44,  26.     Diodor  XV,  77.  8)  Diodor  I.  I.  4)  VIU, 

344,  349.     IX,  425.  *)  VI,  22,  5.  «)  Paus.  VI,  24,  6,  6.     22,  4. 

V,  6,  3.  7)  Str.  VIII,  355  fln.  »)  IV,  45,  4.  •)  VIII,  362. 

Zeitschrift  f.  Geschieht**-.  IV.  1845«  •  g 


82         Die  griechische  Kommverfassung  als  Moment 

ander  vereinigen  lassen,  dass  die  Bleier  gegen  das  Ende  des  Kriegs 
aus  Hass  gegen  Pisa  zu  den  Spartiaten  übergesprungen  seien1). — 
Soviel  steht  fest,  dass  Lepreon  im  persischen  Kriege  autonom 
und  unabhängig  von  Elis  war  *}.  Auch  beschützten  die  Spartiaten 
seine  Unabhängigkeit  von  diesem,  nachdem  es  ihrer  in  der  Folge 
mehrmals  wieder  verlustig  gegangen  war.  So  im  peloponnesischen 
Kriege,  vor  welchem  es  den  Eleiern  mit  Einem  Talent  ziusbar  ge- 
worden war*),  so  noch  später.  In  jene  erstere  Periode  durfte 
auch  allem  Anscheine  nach  die  Angabe  gehören,  dass  so  oft  ein 
Lepreat  in  den  olympischen  Spielen  gesiegt  habe,  er  als  ein  Eleier 
aus  Lepreon  vom  Herolde  ausgerufen  worden  sei 4).  Lepreons 
Verhältniss  wirft  folglich  keinen  täuschenden  Schein  auf  den  Stand 
der  Perioiken  überhaupt  •),  sondern  jenes  selbst  war  abwechselnd 
entweder  unabhängig  oder  Elis  unterthan.  Die  wiederholt  als  un- 
abhängig von  Elis  sich  ankündigende  Stellung  Lepreons  ergiebt, 
dass  ihm  vor  allen  übrigen  Perioikenslädten  der  Eleier  eigentüm- 
liche Elemente  der  Selbstständigkeit  und  staatsbürgerlichen  Kraft 
beiwohnten. 

Schon  oben  ist  angedeutet,  dass  Makistos  und  Skillos,  das  Letz- 
tere nicht  blos  durch  Xenophons  Verbannung  berühmt*),  noch 
später  bedeutend  waren.  Sie  müssen  sich  daher  von  der  ZersUj 
rung  Ol.  50  wieder  erholt  haben.  Xenophon  sagt  von  Epilation, 
einem  Ort  in  der  Niederung  des  Alpheios  in  bedeutender  Entfer- 
nung von  Makistos  gelegen,  er  grenze  an  die  Makistier T).  Strabo  macht 
denselben  zu  einem  Flecken  der  Makistia  •).  Für  die  Bedeutung 
von  Makistos  spricht  noch,  dass  Strabo  öfters  die  Benennung  Ma- 
kistia •),  anstatt  der  ausgestorbenen  Thriphylta  l0)  anwendet  — 
Ausser  diesen  sowie  einigen  schon  früher  erwähnten  tripbyliseben 
Städten  gab  es  jedoch  offenbar  keinen  altberühmten  oder  bedeu- 
tenden Ort  in  der  ganzen  Perioikis  der  Eleier;  namentlich  nicht  in 
dem  im  Norden  des  Alpheios  gelegenen  Theile  derselben.  Es  würde 
sich  daher  erklären,  das  jene  tripbylischen  Städte  die  einzigen 
Orte  waren,  deren  Namen  in  der  Entfernung  einen  Wiederklang 
hatte,  wenn  von  jener  geredet  wurde  &l).  Insbesondere  aber,  dass 
der  Name  Tripbylien  bisweilen  auf  die  ganze  Perioikis  der  Bieter, 
d.  h.  mit  Einschluss  der  Orte  im  Norden  des  Alpheios,  ausgedehnt 


')  Vgl.  Müller  Hell.  St.  II,  449,  Anm    9.  III,  507.         »)  Her.  IX,  SS. 
Pau«.  V,  23,  4.  »)  Thuk.  V,   34,    34,  49.     &6q*qv  m'xog   c.    49  isl 

wohl  nicht  Phrixa  aber  doch  Pyrgon.  4)  Paus.  V,   5,  8.     VI,   3,   8. 

•)  Wachsmath  Hell.  Alterthumskunde  I,    4    S.  464.  •)  Xen.  expecHt. 

Cyri  V,  3,  7  sq.   Diog.  Laert.  II,  segln.  58  sq.     Paus.  V,  6,  4.     Str.  Yffl, 
387.  med.         *)  H.  gr.  III,  9,  85.         •)  VIII,  349  c.  •}  VIH,   343.  d. 

349  c.         '•)  355  fin.         ■  •)  Aristophanis  aves  v.  449. 


.   der  Entwicklung  des  Städtewesens  im  Altertktm.      83 

worden  sei,  obwohl  derselbe  im  engern  Sinne  blos  auf  die  Stadt- 
gebiete von  Lepreon  und  Makistos  beschränkt  wird  '), 

Wenn  wir  die  Andeutungen  der  griechischen  Geschichtschrei- 
ber in  Rücksicht  auf  ojh  Verhältniss  der  einzelnen  Theile  des  eleu* 
sehen  Gebiets  in  der  sjRtern  Geschichte  mit  einander  vergleichen, 
so  stellen  sich  folgende  Resultate  heraus.  Xenophon  scheint 
mehre  Orte  im  Norden  des  Alpheios  zu  Triphylien  zu  rechnen  '). 
Damit  würde  übereinstimmen,  dass  Stephanos  von  Byzanz,  wie- 
wohl derselbe  Salmone,  Kykesion,  Dyspontion  Städte  der  Pisatis 
nennt,  dessenungeachtet  die  meisten  der  Orte,  welche  nach  der 
wahrscheinlichen  Begrenzung  der  alten  Pisatis  ebenfalls  im  Um- 
fange der  letzteren  gelegen  dennoch  erst  später  in  der  Geschichte 
auftauchen,  als :  Akroreia,  Epitalion  und  selbst  Amphtdoloi  in  Tri- 
phylien setzte.  Aber  selbst  wo  Xenophon  die  Orte  im  Norden 
des  Alpheios  von  den  tripbylischen  unterscheidet,  bezeichnet 
er  die  ersteren  entweder  blos  durch  Anführung  des  Namens  der- 
selben oder  mit  dem  unbestimmten  Ausdrucke  „die  übrigen*)". 
Bei  Polybios  findet  sich  der  Name  Pisatis  nur  als  Reminiscenz  in 
einem  geschichtlichen  Rückblicke  4).  Obwohl  aber  Triphylien  bei 
ihm*),  sowie  nach  einigen  andern  Andeutungen,  durch  den  Al- 
pheios begrenzt  erscheint c),  so  ermangelt  doch  die  Landschaft,  in 
welcher  Olympia  lag,  bei  ihm  sowie  bei  Xenophon  eines  eigen* 
tbümficben  Namens T).  Nichtsdestoweniger  erklärt  es  sich  von 
selbst,  dass  die  Unterscheidung  der  hohlen  oder  eigentlichen  Elis 
von  der  Pisatis  der  Natur  der  Sache  nach  unverändert  fortdauerte9). 
Eine  gelegentliche  Anführung,  dass  die  Eleier  Pisa  Elis  benannt 
hätten  9),  kann  folglich  nur  in  dem  Sinne  aufgefasst  werden,  wo- 
nach jedes  seiner  Selbstständigkeit  beraubte  Gebiet  mit  dem  Na- 
men des  Eroberers  bezeichnet  wurde:  z.  B.  Korintb  Argos10), 
Triphylien  selbst  Elis  l  l).  Wäre  hingegen  als  völlig  erwiesen  an- 
zusehen, dass  Olympia,  unvergänglich  durch  die  Feier  der  olym- 
pischen Spiele,  seinen  Namen  später  zugleich  der  Landschaft, 
welcbe   dasselbe   umgab,  mitgetheilt  habe,  so   würde  darin  der 


»)  Xenophon  h.  gr.  IV;  J,  46.     VI.  5,  ».     VH,  4,   J6.  •)  fl.  gr. 

1H,  9,  30,  vgl.  35.  3)  B\  gr.  IV,  S,  46.  VI,  6,  J.  VH,  4,  16.  „tovC 
öe  Teiyi>>*ou$  *«*  tovs  ahXovf".  4)  IV,  74  pr.  »)  C.  77,  9. 

e)  Nach  Strabo  VIII,  343  floss  der  Alpheios  durch  Pisatis  und  Triphylien« 
Bypana  und  Typana  (vgl  Paus.  V,  6,  5)  nennt  jener  344  med.  triphylische 
Städte.  343  med.  ist  bei  ihm  statt  Uvtdv^q  Tvxdvnq  zu  lesen.  Auch 
bei  Xen.  h.  gr.  IV,  3,  16  erscheinen  die  Völker  im  Süden  und  Norden 
des  Alpheios  als  gesondert.  T)  Pol.  IV,  73,  3,  4.  •)  Tbuk.  II,  J5.  Pol. 
IV,  73,  4.  •)  Didymus  in  schol.  vet.  ad  Pind,  Ol.  XI  (X)  65.  »•)  Xen. 
b.  gr.  IV,  4,  6.         »»)  Steph.  Byz.  s.  v,  Ttypvfo*. 

6* 


1 


84         Die  griechische  Komenverfassung  als  Moment 

sicherste  Beweis  liegen,  dass  das  Gedächtniss  an  Pisa  gänzlich 
erloschen  war  lf). 

Alle  diese  Umstände,  die  Nichtanwendung  der  Namen  Pisa, 
Pisatis  und  Pisaten  in  einer  andern  als  blo^alterthümlichen  Bedeu- 
tung, gegenüber  der  erweiterten  Ausdenming  des  Namens  Tri- 
phylia  und  der  Umschreibung  durch  Olympia  vereinigen  sich  mit 
dem  Verschwinden  jener  acht  Städte,  um  un3  in  der  Ueberzeu- 
gung  zu  befestigen,  dass  jene  Namen  in  dem  klassischen  Aller- 
thume  zu  den  verschollenen  gehörten,  gleichwie  für  uns  die  Na- 
men der  Ostphalen  und  Engern,  des  bairischen  Nordgau  und  der 
Allemannen.  Doch  nicht  blos  der  Name  jenes  Landes  war  ver- 
schwunden. Die  Namen  der  einzelnen  Ortschaften,  welche  wir  in 
der  späteren  Epoche  im  Gegensalz  zu  den  ehemaligen  acht  Städ- 
ten der  Pisatis  in  diesem  Lande  antreffen,  scheinen  nicht  minder 
darauf  hinzudeuten ,  dass  unter  eleiischer  Herrschaft  ein  neues 
Land  mit  neuen  Namen  der  Ortschaften  entstanden  sei,  welche  zu 
der  früheren  Eintheilung  in  acht  Städte  dem  Begriffe  nach  sich 
etwa  so  verhallen  haben  dürften,  wie  die  neuere  Lombardei  und 
die  Ortschaften  derselben  zu  der  alten  Aemilia.  Gleichwohl  wird 
in  der  beglaubigten  griechischen  Geschichte  eine  ausdrückliche 
Erwähnung  der  Pisaten  angetroffen.  Diese  dürfte  jedoch  eine  Er- 
klärung gestatten,  wodurch  das  angeführte  Resultat  bestätigt  wird. 

Die  Spartiaten  lösten  im  Frieden  Ol.  95,  3 a)  alle  die  Orte, 
welche  die  Eleier  im  Norden  wie  im  Süden  des  Alpheios  zu  ihrem 
ursprünglichen  Gebiet  hinzuerobert,  oder  durch  Kauf  erworben 
hatten,  als  unabhängige  Staaten  aus  dem  Unterthanenverbande  mit 
Elis  ab;  die  Aufsicht  des  Tempels  des  olympischen  Zeus,  wiewohl 
keine  angestammte  Gerechtsame  der  Eleier,  entzogen  sie  ihnen 
dagegen  nicht.  Denn  sie  dachten,  dass  diejenigen,  welche  anstatt 
der  Eleier  darauf  Anspruch  machen  würden,  Landleute,  /tottrat, 
folglich  dazu  ungeeignet  wären  ■).  Dies  autonome  Verhältniss  der 
früheren  Perioiken  der  Eleier  erhielt  sich  wahrscheinlich  bis  nach 


*)  Stepb.  Byz.  „OVu^atf/a  ^  «qoVqov  ll/cra  >»«yo/ifiVija  und  nt<ra 
XoKiq  xat  «(mjVij  ttJ?  OVu/urtag".  Paus.  V,  4  4,  2.  ,,"nj>  Au  tw  Aaro- 
/xinw,  e^tXaiJVOVTL  t«ijs  KXisiag  O^sv/uxtaq  tojs  /lvioc",  was  Aelian.  de 
nat.  anlmal.  V,  4  7  auf  die  uxnac  Hmtcctlösc  bezieht  Paus.  VIÜ,  4,  4: 
„Tifg  ös  yqq  vqq  1KaiElcu;  kolto,  /luv  OXv/luxiolv  ocat  toi*  AAtCpEtOTj  ratq 
zxßoXaq  ar^ocr  vqv  Meawriviav  naiv  oqoi,",  weil  nach  der  späteren  Ein- 
theilung Triphylien  grösslentheils  zu  Arkadien  geschlagen  war.  Paus.  V, 
5;  3.  a)  So  C.  0.  Müller  u.  Andere  anders,  je  nach  der  verschiedenen 

Auffassung  von  Xenophons  Chronologie.  Des  Ersteren  Darstellung  Hell. 
St.  374,  375  leidet  jedoch  an  dem  Zwang,  welcher  aus  dem  Bestreben 
ungleichartige  Berichte  zu  einem  Ganzen  zu  verschmelzen  entstanden  ist. 
Xen.  h.  gr.  III,  2,  24,- 39.  Diod.  XIV,  4  7,  vergl.  Paus,  111,8,  2.  »)  Xen. 
h.  gr.  III,  2,  30,  34.    Vgl.  Diod.  XIV,  34. 


der  Entwicklung  des  Städtewesens  im  Altert  hum.       So 

dem  Sturze  von  Spartas  Hegemonie  Ol.  102,  2  l);  wann  hingegen 
die  Eleier  den  Besitz  der  losgerissenen  Gegenden  wieder  erlang. 
ten,  wird  nirgends  genau  angegeben").  Wir  erfahren  blos,  dass 
sie  Ol.  103,  3,  sowohl  jene  als  Kyparissia  und  Koryphasion  in  Mes- 
sene  besetzt  hatten;  als  sie  jedoch  in  diesem  Jahre  auch  Lasion 
wieder  einnahmen,  die  Arkader  ihnen  deshalb  den  Krieg  erklärten, 
weil  dieser  Ort,  wenngleich  vor  Ol.  95,  3  den  Eleiern  gehörig, 
doch  in  damaliger  Zeit  zu  Arkadien  gerechnet  wurde7).  Im  Ver- 
laufe dieses  Krieges  trat  der  olympische  Monat  ein.  Dies  war 
Veranlassung,  dass  die  Arkader  nebst  den  Pisaten,  welche  die  dar- 
gebotene Gelegenheit  ergriffen,  um  ihre  frühere  Gerechtsame  gel- 
tend zu  machen,  sich  zu  dem  Zweck  verbanden,  um  die  104  Olym- 
piade gemeinschaftlich  an  der  Stelle  der  Eleier  zu  feiern  •?). 

Wer  aber  waren  diese  Pisaten?  Man  hat  für  sie  eine  Stelle  in 
der  Umgegend  von  Olympia   gesucht,  und  demzufolge  angenom- 
men, dass  die  Bürger  der  ehemaligen  Stadt  Pisa  in  Dörfern  zer- 
streut, die  Zerstörung  der  ersteren  überdauert  hatten  •);  gleichwie 
Smyrna  seit  der  Zerstörung  durch  die  Lyder  vier  Jahrhunderte  in 
Komen  fortbestanden  haben  soll6),  oder  das  hundertthorige  The- 
ben seit  Cambyses  7);  ja  nicht  weniger  griechische  Stamme  selbst 
noch  in  der  Verbannung  den  Begriff  ihres  angestammten  Gemein- 
wesens bewahrten  *).    Diese  Deutung  würde  jedoch  voraussetzen, 
dass  der  Name  der  Pisaten  auf  diese  Bürger  der  Stadt  im  Gegen- 
satz der  Landschaft  Pisa  beschränkt  gewesen  sei,  anstatt  dass,  was 
wir  über  Pisas  frühere  Geschichte  wissen,  uns  vielmehr  veranlas- 
sen sollte,  beide  im  Gegensatz  zu  Elis  als  ein  Ganzes  aufzufassen. 
Bezeichnete  doch  in  diesem  Sinne  schon  Stesichoros    die  Land- 
schaft Pisa  wie   andere  Dichter   andere  Landschaften   durch   Po- 
lis9).    Und  hätten  die  Ausleger  des  Pindar  wohl  eine  Erklärung 
für  Pisa  gesucht,  dessen  Stätte  sie  als  öde  schildern  10),  wenn  le- 
bendige Zeugen  desselben  in  dessen  nächster  Umgebung  sich  er- 
halten hätten?    Obige  Deutung  ist,  wenn  ich  nicht  irre,  eben  da- 


l)  Vgl.  Xenoph.  h.  gr.  III,  5,  42.  IV,  2,  46.  VI,  5,  2.  VII,  4,  26. 
*)  Nach  Müller,  die  Phylen  von  Elis  und  Pisa  S.  70,  wäre  dies  bereits 
vor  Ol.  403  geschehen.  Die  Eleier  zählten  nämlich  in  diesem  Jahre  zwölf 
Phylen,  Paus.  V,  9.  5.  Dies  kann  aber  blos  durch  die  Aufnahme  ihrer 
früberen  Unterthanen  in  die  letzteren  erklärt  werden.  Vgl.  auch  Schnei- 
der in  epimetro  ad  Xen.  Anab.  p.  474.  ■)  Xen.  h.  gr.  VII,  4,  4  3,  4  4. 
Diod.  XV,  77.  «)  Xen.  h.  gr.  VII,  4.  28.     Diod.   XV,   78.     vgl.   Paus. 

VJ,  4,  2.  8,  2,  22,  2.  *)  Müller  Hell.  St.  III,  459.     Phylen  von  Elis 

und  Pisa,  S.  475.  Wachsmuth,  Hell.  Alterthumsk.  1,  2,240.253.       6)  Str. 
XV,  646.  7)  Str.  XVII,  846  vgl.  805.       •)  Paus.  IV,  27,  5.       9)  Str. 

VIII,  356.  I0)  Schol.  (vet.)  ad  Pind.  Ol^I,  24.  28:    „**qi   ös  nJ^lTi- 

<FHq  ort  o  TOXoq  Iv   KXicöc  •üjto  TJi\ni%wv  ox«^wv   Ke^w/fifjAVoq  IIoX*/iwv 
yqriv".     XI  (X)  54—57. 


86         Die  griechische  Komenverfassung  als  Moment 

durch  veranlasst,  dass  in  der  spätem  Pisatis  für  den  Namen  der 
Pisaten  kein  Raum  ist.  Wie  aber  wenn  Xenophon  und  derjenige, 
welchen  Diodor  vor  Augen  halte,  den  abgestorbenen  Namen  der 
Pisaten  hier  nur  deshalb  aus  der  Vergessenheil  hervorgezogen 
und  auf  die  damals  wirklich  vorhandenen  Völkerschaften  der  ehe- 
maligen Pisatis  angewendet  hätte,  weil  jener  mit  der  Sage  über 
die  erste  Einsetzung  und  die  Feier  der  olympischen  Spiele  unzer- 
trennlich verknüpft  war?  Vermutlich  war  Pisatis  damals  in  zwei 
Parteien  getheilt ').  Wiewohl  daher  Margalieis  bereits  vor  dem 
Feste  wieder  in  die  Rande  der  Eleier  gefallen  war  *},  so  konnte 
doch  die  auf  Seiten  der  Arkader  stehende  Partei  die  Stelle  der  Pi- 
saten bei  den  Olympien  vertreten.  Waren  diese  Voraussetzungen 
begründet,  so  würde  zugleich  die  Bezeichnung  als  £a>£frat,  welche 
Xenophon  den  Pisaten  erlheilt  mit  Rücksicht  auf  das  uns  vorliegende 
Material  eine  tiefere  Bestätigung  gewinnen,  als  dies  bei  der  frühe- 
ren Erklärung  der  Fall  ist. 

Blicken  wir  zunächst  auf  denjenigen  Theil  des  eleiischeu  Gebiets, 
welchem  diese  Untersuchung  gewidmet  ist,  so  verdient  in  dieser 
Beziehung  noch  besonders  hervorgehoben  zu  werden,  dass  Xenophon 
Amphidoloi,  Marganeis  in  ähnlicher  Art  wie  Akroreioi,  nie  anders 
als  in  der  Mehrzahl  aufführt.  Geschah  dies  etwa  in  der  Absicht, 
um  jene  Orte  von  denen  zu  unterscheiden,  welche  sowie  Lasion, 
Epitalion,  erweislich  nur  aus  einer  einzelnen  Ortschaft  bestanden  •), 
so  könnte  der  angerührte  Umstand  zu  einer  ähnlichen  Deutung 
jener  Namen  als  des  ebengedachlen  Akroreioi  oder  der  schon  frü- 
her erwähnten  Gauverbindungen  der  Arkader,  der  Mainalier,  Par- 
rhasier  u.  s.  w.  Anlass  geben.  Denn  gleichwie  Stephanos  von 
Byzanz  Akroreia  als  Polis  bezeichnet,  ungeachtet  wie  wir  oben 
sahen  dasselbe  eine  Menge  von  Ortschaften  in  sich  scbtoss,  so 
könnten  auch  jene  Collectivbenennungen  sein,  deren  jede  eine  be- 
stimmte Anzahl  von  Ortschaften  begriff;  was  zugleich  ein  weiteres 
Motiv  zur  Erklärung  des  obenberührten  Mangels  einer  allgemeinen 
Bezeichnung  für  das  gesammte  Land  enthielte. 

Das  eleiische  Gebiet,  j^a,  wird  ferner  der  Stadt  entgegen- 
gesetzt, und  dieser  Name  im  ausgezeichneten  Sinne  stets  vorzugs- 
weise der  Hauptstadt  Eiis  ertheilt ').  Jenes  zeichnete  sich  nach 
Polybios  vor  sämmtlichen  übrigen  Theilen  des  Peloponnes  so* 
wohl  durch   Anbau   als   in  Rücksicht    auf  wohnliche  Benutzung 


")  S.  Xenoph.  h.  gr.  VII,  4,  U.  Diöd.  XV,  77:  „'A^xadwv  yvya- 
8tQu  ,.«goqpaVu  twv  <p-uydl6wvu.  Jenes,  weil  die  eleiischeu  Perioike* 
sich  damals  Arkader  genahnt  hätten.  Xenoph.  h.  gr.  VII,  4,  26,  vgl.  auch 
über  y\yy*6iq,  Xenoph.  h.  gr.  tll,  4,  49.  •)  Xenoph.  h.  gr.  Vtt,  4,  46. 
*)  Xen.  h.  gr.  Itt,  %  »0,  «)  Xe*.  h.  fcf.  Hl,  4,  J6,  «7.    VII,  4,  II. 

i6,  17,  49,  16,  3S. 


der  Entwicklung  des  Städtewesens  im  Alterthum.      87 

von  Seiten  der  Grundeigentümer  aus,  von  denen  manche  bis  in 
das  zweite  oder  dritte  Geschlecht  nie  die  Stadt  gesehen  hatten, 
weif  der  Tempel  des  olympischen  Zeus  nicht  nur,  einen  Got- 
tesfrieden gewährte,  sondern  auch  von  Seiten  der  Oberhäup- 
ter des  eleiischen  Staats  besondere  Vorkehrungen  für  die  auf  dem 
Lande  Wohnenden  getroffen  waren.  Dahin  gehörte  vor  allem  die 
Einrichtung,  dass  in  ihren  Wohnbezirken  selbst  Recht  gesprochen 

wurde  t).  . 

Was  nun  die  zuerst  geäusserte  Vermuthung  anlangt,  so  wird 
diese  in  der  That  durch  das  Zeugniss  des  Strabo  gerechtfertigt 
Denn  Strabo  bezeichnet  einen  Ort  Aiesiaion  als  eine  Ortschaft  in 
Amphidolis,  hinzufügend:  dass  hier  jeden  Monat  die  ümherwohnen- 
den  eine  Zusammenkunft  hielten»),  wogegen  er  andrerseits  Mar- 
galai  selbst  ebenfalls  in  Amphidolia  setzet  >).  Sowie  aber  hiernach 
kein  Zweifel  darüber  obwaltet,  dass  Amphidoloi  wenigstens  eine 
Collectivbenennung  der  vorher  angegebenen  Art  war,  so  dürfte  man 
auch  die  Choriten  des  Xenophon  in  den  Pierioiken  des  Strabo 
wieder  erkennen,  denen  auf  dem  Lande  selbst  Recht  gesprochen 

wurde.  ,„.■»!_        .™ 

Denn  dies  war,  wenn  ich  nicht  irre,  der  Sinn  der  oben  ange- 
führten Worte  des  Strabo:    das  charakteristische  Verbindungsmit- 
tel zerstreut  lebender  Bevölkerungen  im  Alterthume  überhaupt   de- 
nen  dadurch  ein  Ersatz  Tür  das  Zusammenleben  in  den   Städten 
verliehen  wurde.   Der  Name  äyogä  erinnert  an  die  Fora  und  Con- 
ciliabula  Römischer  Bürger,  welche  in  den  ausserhalb  des  eigentli- 
chen Ager  Romanus  dem  römischen  Volke  ausgetheilten  Landereien 
zum  Behuf   der  Rechtspflege  gegründet   wurden  •).    In   ähnlicher 
Weise  erinnern  die  festen  Burgen  des  Eleiischen  Gebiets,  welche 
gleitf  Thalamai  •),  Pyrgoi  •)   bei   feindlichen  üeberfallen   den  Be- 
wohnern des  platten  Landes  Schutz  boten,  an  die  Pagi  des  eigen  - 
Jchen  Ager  Romanus,  die  Schöpfung  des  Königs  Servius  Tulhus '). 

Dr.  E.  Kuhn. 


M  Pol   IV,  73,  6-40.  «)  VUI.  341:   „xo  wv   A^crtouov,, X^? 

*uw*»v  oc  **•£"    '  Awt6^),  'iBd  vgl.  auch  Xen.  n.  gr.  VU, 

r:tq\T  Di?C^  derben  <ler  Orte 

*    iL  WesseUngad  Diodor  p.  653  „quasi  ejus  regionis  taulum«  --darf 

—  laut  wesseung  au  j  g  concniabu- 

uns  nicht  irre  machen.  )  »J^^u      ^enze   fr    legis  Serviliae  re- 

lis         .  ubi  juridicundo  praeesse  solent  .     Klenze   n\   legis 

us  .  .  .  uu    J  ft2    Haubold  monum.  leg.  p.  45.       •)  roiy». 

KV  vi  V%9      «r.  VU«,  .«.  »>  ««•  IV,  !•.     ,gU  W. 

V.  44.     IX,  t>6  (hier  *f<j«ro%ta  genannt). 


Allgemeine  Eiteraturberlcfite. 


Rom. 

Jahrbücher  der  römischen  Geschichte,  mit  erläuternden  historischen, 
chronologischen,  mythologischen,  archäologischen  Anmerkungen,  von  A. 
Scheiffele,  Prof.     Heft  I— V.     Nördlingen,  Beck.  4842—44.      330  S.    4. 

Wenn  keine  Behandlungsweise  geschichtlicher  Stoffe  dem    in- 
nersten Wesen  der  Geschichte  weniger  entspricht,  als  die  streng 
annalistische,  weil  das  historische  Leben  in  einer  unendlichen  Fülle 
von  Trieben  dahinströmt,  deren  Anfang,  Ende  und  Wechsel  sich 
sowenig  wie  der  Zug  der  Gedanken  nach  willkürlichen  Zeitmaassen 
berechnen  und  begrenzen  lässt:  so  ist  doch  andrerseits  keine  mehr 
geeignet  als  sie,  dem  ersten  Detailstudium  eine  sichere  Grundlage 
zu  verleihen,  weil  gerade  sie  die  sinnlichen  Erscheinungen,  welche 
der  geheime  Drang  der  Geschichte  hervortreibt,  auf  die  sinnlichste 
Weise  zu   fixinen,  den  Verlauf  äusserer  Entwickelungen   in   der 
ausserlichsten   Aufeinanderfolge   darzustellen    vermag.     Daher   ist 
allen  Jüngern  der  Wissenschaft,  welche  sich  zu  einem  ersten,  gründ- 
lichen Anlauf  rüsten   um  des  geschichtlichen  Details   und   seiner 
Quellen  Herr  zu  werden,   dieser  Weg,   und  mithin  auch  jegliches 
Hülfsmittel  zu  empfehlen,   das  gleich  dem  vorliegenden  denselben 
zu  ebenen  bemüht  ist.  Die  Zweckmässigkeit  der  Sch.'schen  Arbeit, 
hat  der  Erfolg  bewährt;   von  dem  lsten  Heft  liegt  uns  schon  die 
2te  verbesserte  Auflage  vor.    Der  Verf.  hat  die  doppelte  Absicht 
zugleich   einen  chronologischen  Ueberblick   und  eine  fortlaufende 
Erzählung  zu  beschaffen.    Diese  letztere  muss  sich  freilich  der  Le- 
ser aus  den  Noten  selbst  gleichsam  bilden;    doch   hat   der  Verf. 
Recht,  wenn  er  bemerkt,  dass  gerade  dies  „  dem  Jüngling  zu  eige- 
ner Forschung  Anleitung"  giebt;   und  auf  diese  Anleitung  kommt 
es  eben  an.    Die  zahlreichen,  meist  wohlgewählten  Anmerkungen, 
die  stete  Verweisung  auf  die  Abweichungen  oder  die  dctaillirenden 
Berichte  der  Quellen,  die  Citationen  aus  denselben,  geben  zu  aller- 
hand Vergteichungen    den  unmittelbarsten  Anlass    und    erwecken 
einen  unwiderstehlichen  Reiz,   die  Lösung  der  angeregten  Fragen 
durch  Selbstthätigkeit  zu  versuchen.    In  der  Verwendung  der  No- 
ten zu  diesem  Zweck  oder  in  der  Methode  der  Arbeit  liegt  nun 
aber  auch   deren   eigentlicher  Werth.    Mit  den   Ausgangspunkten 
und  Ansichten  sind  wir  keineswegs  immer  einverstanden,  vielmehr 
überzeugt,  dass  manche  derselben,  wofern  sie  nicht  bei  nächster 
Gelegenheit  streng  ausgemerzt*  werden,  der  Verbreitung  des  Bu- 


Allgemeine  Literaturberichte.  89 

ches  auf  die  Dauer  sehr  hinderlich  werden  könnten.  Nicht  dass  wir 
an  einzelnen  Mängeln  und  Versehen  peinlichen  Anstoss  nähmen, 
oder  überall  schlagende  Resultate  und  selbständige  Ueberzeugungen 
forderten,  oder  die  Schattengänge  der  Urzeit  plötzlich  in  Lichtpfade 
umgewandelt  wissen  möchten!  Wohl  aber  dürfen  wir  neben  einem 
steten  Hervorheben   des  Wesentlichen   das  sorgfältige  Vermeiden 
labyrinthischer  Irrfahrten,  eine  entschiedene  Consequenz,  eine  ein- 
sichtige Prüfung  und  entsprechende  Berücksichtigung  der  Hülfsmit- 
tel  verlangen.    Erscheint  nun  der  Verfasser  einerseits  in  der  Be- 
handlung der  Sagenzeit  zu  orthodox  —  denn  wie  wesentlich  auch 
die  Kenntniss  der  Sagen  zum  Verstandniss  des  Volksgeistes  ist,  so 
wenig  darf  doch  ihr  Inhalt  auch  nur  anscheinend  das  Gewand  der 
Historie  usurpiren  — :  so  verfährt  er  andrerseits  zuweilen  mit  den 
glücklichsten   and   folgereichsten  Resultaten   kritischer  Forschung 
wiederum  in  wahrhaft  destructiver  oder  doch  höchst  leichtsinniger 
Weise.    Die  Grundpfeiler  der  historischen  Wahrheit,   wie  sie  Nie- 
buhr  aufgerichtet,  (z.  B.  die  Begriffe  der  Curien,  Tribus  und  Gen- 
turien),  anfangs  von  dem  Verf.  unangetastet  aufrecht  erhallen,  se* 
hen  wir  plötzlich  wie  durch  ein  Wunder  umgestürzt,  und  —  was 
am  wundersamsten  ist  —  durch  nichts  anderes  ersetzt,   als  durch 
das  Geröll  und  den  Schutt  der  Bröcker'schen  „Vorarbeiten".   Man 
kann  sich  nicht  leicht  in  ein  grösseres  Labyrinth  von  Confusionen 
und  Widersprüchen  versetzt  fühlen,  als  wenn  man  bei  Hrn.  Scheif- 
fele  z.  B.  rait  den  Noten  77—79  und  220  die  Note  327  vergleicht, 
wo  mit  einemmale,   anderer  Inconsequenzen  nicht   zu  gedenken, 
die  dort  patricischen  Curien  als  plebejische,    und  die  dort  plebeji- 
schen Centurien  als  patricische  auftreten.    Wer  soll  da  sich  zurecht 
und  einen  Ausgang  finden,  wer  nicht  zuvor  schon  die  Localitäten 
vollkommen  erforscht,  und  das  ist  doch  am  wenigsten  dem  „stu- 
direnden  Jüngling"  zuzumuthen,  der  sie  nur  vom  Hörensagen  kennt, 
der  noch  der  fremden  „Anleitung"  bedarf,    und  dem  diese  Anlei- 
tung zu  „geben"  der  Verf.  selbst  übernommen  hat!    Je  weniger 
wir  daher  die  Nützlichkeit  seines  Unternehmens  in  Abrede  stellen, 
je  dringender  dürfen  wir  es  ihm  ans  Herz  legen,   durch  grössere 
Sorgfalt  und  strenge  Sichtung  dasselbe  in  Zukunft  noch  nützlicher 
zu  gestalten.    Die  vorliegenden  5  Hefte  reichen  bis  zum  Jahre  146 
v.  Chr.  Adolf  Schmidt. 

Handbuch  der  römischen  Alterthümer  nach  den  Quellen  bearbeitet  von 
Wilh.  Ad.  Becker.  Zweiter  Theil.  Erste  Abiheilung.  Leipzig  4844.  XX 
und  407  S.    8.*) 

Der  zweite  Theil  des  Becker'schen  Werkes  ist  der  Behandlung 

der  römischen  Staatsverfassung  gewidmet:   die  vorliegende  erste 


*)  Auf  den  Ersten  Theil  kommen  wir  später  zurück.  Red. 


90  Allgemeine  Literaturberichte, 

Abtheilung  desselben  enthält  die  Darstellung  des  Ursprunges  des 
röffl.  Staates  (S.  3—25),  der  Gliederungen  der  röm.  Bevölkerung 
(S.  26—290)  und  der  bürgerlichen  Verfassung  unter  den  Königen 
(S.  291—394),  an  welche  sich  schliesslich  Nachträge  zu  diesem,  wie 
zum  vorhergehenden  Bande  anreihen  (S.  395—407).   Auch  hier  hat 
der  Verf.  seine  anerkannten  Vorzüge  in  vollem  Maasse  geltend  ge- 
macht: umfasseude  Belesenheit,  eindringender  Scharfsinn,  vor  Allem 
aber  Unbefangenheit  des  Urlheils  und  ungetrübte,  ruhige  Klarheit  der 
Darstellung  werden  seinem  Werke,  wenn  es  vollendet  dasteht,  den 
ersten  Rang  unter  den  vorhandenen  zuweisen.    Durch  scharfsinnige 
und  geschickt  ausgeführte  Combinationen  der  Neueren  ungeblendet, 
ist  Hr.  B.  voraussetzungslos  überall  zu  den  Quellen  zurückgegangen 
und  hat  in  ihnen  die  Hauptpunkte  der  Ansichten  Niebubr's  im  We- 
sentlichen bestätigt  gefunden.    Namentlich  gilt  dies  von  dem  Ur- 
sprünge der  plebs  aus  den  von  den  Königen  nach  Rom  verpflanz- 
ten Bevölkerungen  bezwungener  Städte,  so  wie  von  der  Deutung 
der  patres  als  Gesammtheit  der  Patricier  im  Gegensatze  zu  der  na- 
mentlich von  Rubino  vertretenen  Meinung,  die  unter  den  patres  nur 
den  Senat  verstehen  will.    Hier  hat  Hr.  B.  einem  gründlichen  und 
geistreichen  Gegner  gegenüber  das  von  ihm,  wie  von  uns,  für  rich- 
tig Erkannte  mit  meisterhafter  Schärfe  und  Präcision  durchzuführen 
gewusst  (S.  138  sqq.).    In  engem  Zusammenhange  damit  steht  die 
Stelle  über  die  lex  curiata  de  imperio  und  die  patrum  auctoritas 
(S.  314  sqq.),  die  als  gleichbedeutend  und  zwar  als  $anction  des 
allgemeinen  Volksbeschlusses  durch  die  in  den  Curiatcomitien  er- 
theilte  Zustimmung  der  Patricier  angesehen  und  erwiesen  werden. 
So  erhalten  wir  in  vielen  Hauptpunkten  zwar  Niebuhr's  Ansicht 
wieder,  aber  überall  durch  die  Feuerprobe  eines  ernsten  und  wis- 
senschaftlichen  Widerspruches    hindurchgegangen    und    geläutert. 
Nirgend  aber  folgt  der  Verf.  einer  Autorität,  sondern  überall  seiner 
Ueberzeugung:  auch  auf  Niebuhr  fusst  er  keinesweges  unbedingt 
So  tritt  er  z.  B.,  um  einige  der  bedeutendsten  Abweichungen  von 
demselben  anzuzeigen,  in  Beziehung  auf  die  gentes  und  die  dtxddsg 
des  Dionysius  von  Halicarnass  seiner  Ansicht  entgegen  (p.  35  sqq.), 
ebenso  erklärt  er  die  21  Tribus  des  Jahres  259  nicht  mit  ihm  aus 
der  Abtretung  des  Dritlheils  des  Landes  an  Porsena  (p.  168  sqq.), 
auch  in  der  vielfach  besprochenen  Stelle  Cic.  de  rep.  II.  22  stimmt 
er  nicht  mit  Niebuhr  überein  (p.  204  sqq.):  er  folgt  hier  den  Ver- 
besserungen der  man.  sec,  wonach  aber  ein  offenbarer  Irrthum 
Cicero's  über  die  Centurienzahl  der  ersten  Klasse  sich  ergiebL   Was 
der  Verf.  dabei  p.  207  sqq.  Anm.  426  über  Cicero's  Unkenntniss 
der  röm.  Archäologie  sagt,  ist  zwar  bis  auf  einen  gewissen  Grad 
zuzugeben:  dass  er  aber  solch  einen  wesentlichen  Punkt  in  der 
Verfassungsgeschichte  ignorirt  habe,  scheint  Ref.  kaum  denkbar. 


Allgemeine  Literaturberichte.  91 

Freilich  ist  dieser  Ausweg  immer  noch  viel  annehmbarer  als  der  Ton 
Arn.  F.  Ritter  (Rh.  Mus.  I.  1849.  p.  575  sqq.)  dem  Cicero  aufgebür- 
dete Additionsfehler.  Auf  Mommsen's  scharfsinnige,  aber  doch  ge- 
wiss zu  kühne  Emendation  der  Stelle  (die  röm.  Tribus  p.  60  sqq.) 
konnte  noch  keine  liücksicht  genommen  werden.  Allein  der  Zweck 
und  der  Umfang  dieser  Anzeige  erlauben  es  nicht,  naher  auf  Einzel- 
heiten einzugehen:  als  besonders  klare  und  anziehende  Ausführun- 
gen erwähnen  wir  noch  der  Abschnitte  über  capul  und  capitis  de- 
minutio, über  nobilttas  und  ius  imaginum,  über  equites  und  ordo 
equ4sler,  in  welchem  Capitel  es  vorzüglich  hervortritt,  wie  der  Verf. 
die  wirklichen  Fortschritte  der  Forschung  seit  Kiebuhr  anerkennt 
und  benutzt:  auch  der  folgende  Abschnitt  über  das  Königthum  weiss 
trotz  des  gänzlichen  Abweichens  von  der  Grundansicht  Rubino's 
die  anregenden  Untersuchungen  desselben  für  den  Gegenstand  frucht- 
bar zu  machen:  seiner  ruhigen  und  consequenten  Darstellung  ge- 
lingt es  ohne  eine  fortlaufende,  hier  ungehörige  Polemik  in  ihrer 
objeetiven  Haltung  jene  geistreich  und  scharfsinnig  durchgerührte, 
aber  einer  unbefangenen  Betrachtung  der  Quellenzeugnisse  vielfach 
widersprechende  Annahme  eines  in  den  Auspicien  und  ihrer  Fort- 
leitung  gegebenen  theokralischen  Elements  mit  seinen  Consequen- 
zen  einer  fast  absoluten  königlichen  Gewalt  auf  eine,  für  den  Ref. 
wenigstens,  überzeugende  Weise  zu  beseitigen.  —  So  erscheint  auch 
dieser  Tbeil  des  Becker'schen  Werkes  als  eine  in  der  Methode  wie 
in  der  Ausführung  gleich  ausgezeichnete  Arbeit:  auf  vollständiger 
Beherrschung  des  Materials  basirend,  alle  Momente  unbefangen  prü- 
fend und  erwägend  gelangt  sie  zwar  nicht  zu  einem  Abschlüsse 
aller  Fragen  —  denn  das  ist  bei  der  Beschaffenheit  unserer  Quellen 
theils  absolut  theils  den  Kräften  des  Einzelnen  unmöglich ,  —  aber 
sie  liefert  eine  auf  selbstständige  Forschung  gegründete,  mit  Takt 
and  Umsicht  ausgeführte,  vielfach  einen  Forlschritt  in  der  Untersu- 
chung bezeichnende  Darstellung,  die  uns  der  Fortsetzung  des  Wer- 
kes mit  grossem  Verlangen  entgegensehen  lässt. 

Geschichte  Bom's  in  seinem  Uebergange  von  der  republicanischen  zur 
monarchischen  Verfassung  oder  Pompeius,  Caesar,  Cicero  und  ihre  Zeitge- 
nossen. Naci  Geschlechtern  und  mit  genealog.  Tabellen.  Von  W.  Dru- 
mann.    Sechster  und  letzter  Band.   Königsberg  4  844.    XVI.  und  802.  S.  8. 

Wir  begrüssen  in  diesem  Bande  den  Schluss  eines  grossarti- 
gen und  mit  seltener  Beharrlichkeil  durch  einen  Zeitraum  von  mehr 
als  zwanzig  Jahren  verfolgten  Unternehmens.  Es  kann  hier  der  Ort 
nicht  sein,  über  die  Anordnung  des  Ganzen  und  den  hohen  Werth 
der  Leistungen  desselben  zu  berichten.  Nur  die  Bemerkung  sei 
vergönnt,  dass  die  Kritiken,  namentlich  die  hierorts  erschienenen, 
bisher  viel  zu  wenig  sich  auf  den  Standpunkt  des  Verfassers  zu 
stellen  gewusst  haben.    Dass  derselbe  einen  klar  vorgezetchneten 


92  Allgemeine  Literaturberichte. 

und  reiflich  erwogenen  Plan  mit  sicherer  Hand  verfolgte,  musste 
dazu  auffordern,  in  seine  Intentionen  nachdenkend  einzugehen,  statt 
mit  Einwürfen  hervorzutreten,  die  grösstenteils  auf  der  Hand  lie- 
gen und  die  der  Verf.  sich  selbst  längst  gemacht  und  beantwortet 
haben  musste.   Ein  fruchtbares  Feld  der  Erörterung  gewährt  seine 
Ansicht  über  den  Charakter  des  Cicero,  die  erst  jetzt  in  vollende- 
ter Entwicklung  vorliegt.     Der  vorliegende  Band  nämlich  ist   fast 
noch  ganz  (bis  S.  685)  der  Darstellung  dos  Lebens  des  berühmten 
Redners  gewidmet,  die  schon  die  grössere  Hälfte  des  vorhergehen- 
den Theils  in  Anspruch  genommen  hatte.    Die  Paragraphen  61  bis 
105  führen  die  Erzählung  vom  Jahre  55  bis  zum  Tode  des  Cicero, 
das  politische  Verhalten  desselben  mit  gleicher  Ausführlichkeit  schil- 
dernd als  seine  literarische  Thäligkeit,  der  sich  eine  Betrachtung 
seiner  äusseren  Verhältnisse  (Vermögen,  Landgüter,  Gestalt,  Klei- 
dung u.  A.)  zunächst  anschliesst.    Die  letzten  Paragraphen  (111  bis 
144)  geben  dann  als  Resume  und  Ergänzung  des  gegebenen  Tbat- 
bestandes  und  in  steter  Zurückbeziehung  auf  denselben  eine  allsei- 
tige Beurtheilung  und  Würdigung  des  Cicero.    Dass  Hrn.  Dr.    auf 
sorgfältigste    Quellenforschung   gegründete   Ansicht    über   densel- 
ben der  gangbaren  Bewunderung  entschieden  gegenüber  steht,  ist 
bekannt:   eine   ungezügelte  Ruhmbegierde   erscheint  ihm  als    die 
Haupt triebfeder    seiner   Handlungen    und    schonungslos  deckt    er 
die  Schwächen  seines  Charakters,  das  haltlose  Schwanken  seines 
politischen  Handelns  auf.     Auch  die  Mängel  seiner  Beredsamkeit, 
vornämlich  die  Hinneigung  zum  Wortschwall  asiatischer  Eloquenz 
und  Gedankenarmut*)  bei  formaler  Vollendung  bebt  er  hervor.   Den 
Schluss  bildet  die  Betrachtung  Cicero's  als  Juristen  und  Philosophen 
und  in  seinem  Verhältnisse  zu  den  exaclen  Wissenschaften  und  den 
schönen  Künsten.  Mit  Recht  verlangt  Hr.  Dr.  von  denen,  die  seine 
Darstellung  bestreiten  möchten  (S  IX.),  dass  sie  sich  dabei  nicht 
sofort  auf  die  Charakteristik  werfen  oder  Einzelnes  herausreissen : 
nur  eine  Geschichte  des  Cicero  vom  entgegengesetzten  Standpunkte 
geschrieben  erscheint  ihm  als  eine  die  Wissenschaft  fördernde  Po- 
lemik.   Ref.  hält  ein  solches  Unternehmen  nach  Drumann's  conse- 
quenter  und  überall  quellenmässig  begründeter  Auffassung  für  ein 
sehr  schwieriges,  denn  er  wenigstens  muss  bekennen,  bis  auf  ei- 
nige hier  und  da  schroffer  hervortretende  Härten,  die  sich  wohl  auch 
bei  derselben  Grundanschauung  milder  fassen  lassen  möchten,  durch 
die  Gewalt  der  in  ihrem  Zusammenhange  geltend  gemachten  That- 
sachen  überzeugt  zu  sein. 

Dem  Leben  des  Cicero  folgt  das  der  Seinen,  namentlich  seiner 
Gemahlinneu,  Terentia  und  Publilia,  seiner  Tochter,  seines  unbe- 
deutenden Sohnes  Marcus ;  in  ausführlicherer  Darstellung  wird  dar- 
auf Q.  Cicero  abgehandelt  und  mehr  als  selbstständige  Erscheinung 


Allgemeine  Literaturberichte.  93 

gefasst,  wie  es  von  denen  geschieht,  die  ihn  ganz  in  seinen  Bruder 
aufgeben  lassen :  freilich  schloss  er  fast  überall  demselben  fügsam 
sich  an,  aber,  wenn  er  auch  „nach  seinen  geistigen  Anlagen  nicht 
in  der  ersten  Reihe  der  Zeitgenossen  steht"  so  „verdankt  er  (S.  749) 
es  nicht  bloss  dem  Ruhme  des  Cicero,  dass  er  jetzt  noch  genannt 
wird."  Sein  Sohn  Quintus,  der  23  Jahre  alt,  nach  einem  unsläten 
Leben,  das  durch  den  Zwist  seiner  Aeltern  von  Anbeginn  an  ge- 
trübt war,  und  nach  vielfachen  Zerwürfnissen  mit  den  Seinigen, 
mit  dem  Vater  zusammen  erschlagen  wurde,  beschliesst  die  Reihe 
der  Tullii,  des  letzten  der  von  Drumann  behandelten  Geschlechter. 
Es  folgt  noch  eine  Uebersicht  der  Geschichte  des  AI.  Tullius  Cicero, 
d.  h.  eine  Inhaltsangabe  der  einzelnen,  diesem  Bande  angehorigen 
Paragraphen  und  ein  sehr  erwünschtes  Register  zu  sära milichen 
sechs  Theilen.  —  Somit  liegt  eine  der  bedeutungsvollsten  Epochen 
der  römischen  Geschichte,  die  in  gährender  Entwicklung  die  Elemente 
einer  neuen  Zeit  in  sich  trägt,  in  den  Lebensbildern  der  Haupttheil- 
nehmer  an  jenen  grossen  Bewegungen,  um  die  sich  ihre  Angehöri- 
gen und  Genossen  gruppiren,  uns  abgeschlossen  und  vollendet  vor: 
in  hellem  Lichte  erscheinen  die  widerstreitenden  Parteien  sowie 
die  Stellung  der  Einzelnen  zu  denselben,  und  aus  eingehender  Be- 
trachtung des  Dargebotenen  ergiebt  sich  auch  ein  vollständiges  und 
abgerundetes  Bild  der  Ereignisse  in  ihrem  Zusammenhange,  reich 
an  den  gerade  damals  so  bedeutungsvoll  hervortretenden  persönli- 
chen Beziehungen  und  psychologischen  Motiven,  in  deren  klarer 
Erkenntniss  wir  einen  Hauptvorzug  des  Werkes  sehen.  Herr  Dru- 
mann hat  uns  in  demselben  ein  xirjfia  ig  utt  überliefert:  möge  eine 
gerechte  Anerkennung  seines  Verdienstes  für  alle  aufgewandten 
Mühen  ihn  entschädigen. 

Geschichte  der  römischen  Literatur  von  J.  C.  F.  Bahr.  Dritte  durchaus 
verbesserte  und  vermehrte  Ausgabe.  Carlsruhe  \  844.4  845.  2  Tnl.524  u.  747  S.  8. 

Schon  der  äussere  Umfang  der  neuen  Ausgabe,  der  eine  Th ei- 
lung in  zwei  Bände  nöthig  machte,  zeigt,  dass  der  Hr.  Verf.  um 
die  Erweiterung  und  Vervollständigung  seines  Werks  eifrig  bemüht 
gewesen  ist.  Man  wird  ihm  das  Anerkenntniss  nicht  versagen  dür- 
fen, eine  umfassende  Materialiensammlung  mit  einem  grossen  Auf- 
wände von  Fleiss  geliefert  zu  haben.  Einzelne  Abschnitte  haben 
wesentliche  Umarbeitungen  und  Ergänzungen  erfahren,  namentlich 
im  ersten  Bande  die  Capitel,  die  die  ältesten  Denkmale  römischer 
Poesie  und  die  dramatische  Dichtkunst  behandeln,  im  zweiten  die 
Darstellung  der  ältesten  Geschichtschreibung,  der  Beredsamkeit  und 
der  Grammatik.  Die  reichen  Ergebnisse  der  Forschung  in  den  letz- 
ten zwölf  Jahren  sind  mit  einer  sehr  grossen  Vollständigkeit  nach- 
getragen und  so  wird  sich  das  Werk  in  dieser  neuen  Gestalt  als 
ein  brauchbares  und  nützliches  Hülfsmittel  in  erhöhtem  Maasse  er- 


94  Allgemeine  Literaturberichte. 

weisen.  Neben  diesem  Vorzüge  aber  dürfen  wir  nicht  verschwei- 
gen, dass  eine  auf  kritischer  Durchdringung  des  gesammten  Stoffes 
beruhende  Genauigkeit  noch  nicht  durchweg  gleichmassig  erreicht 
ist:  doch  hat  Hr.  B.  auch  hierin  mehr  geleistet,  als  in  den  ersten 
Ausgaben.  Eine  überall  durch  den  zu  behandelnden  Gegenstand 
selbst  bedingte  Form  der  Darstellung  aber  vermissen  wir  auch  jetzt 
noch  häufig.  Hr.  B.  schliesst  sich  hier  oft  zu  sehr  an  die  zufallige 
Aufeinanderfolge  verschiedener  Forschungen  über  einen  Gegenstand 
an,  statt  diesen  selbst  zur  Grundlage  und  zum  Ausgangspunkte  sei- 
ner Exposition  zu  nehmen.  Darauf  wird  der  Hr.  Verf.  bei  einer 
folgenden  Auflage  hauptsachlich  sein  Augenmerk  zu  richten  haben, 
um  sein  Werk  dem  von  ihm  redlich  und  mühsam  erstrebten  Ziele 
immer  naher  zu  führen. 

Ueber  die  Religionsbücher  der  Römer.  Von  Julius  Alhanasius  Ara- 
brosch  (Abdruck  aus  der  Zeltschrift  für  katholische  Theologie  und  Philo- 
sophie).    Bonn  4  843.    63  S.    S. 

Der  Verf.  gewinnt  nach  Betrachtung  der  betreffenden  Stellen 
für  indigilare  den  Begriff  der  Anrufung  eines  Gottes  verbunden  mit 
der  Anzeige  seiner  Eigenschaften  (Macr.  Sat.  1. 17),  der  dann  über- 
haupt für  „auf  priesterliche  Weise  einen  Gott  bezeichnen u  ange- 
wandt sei  (Macr.  1. 1.  1. 12  von  Maia).  Bezeichne  es  aber  ein  Anru- 
fen und  Nennen  eines  oder  mehrer  Götter  nach  einer  im  ius  di- 
vinum bestimmten  Norm,  so  dürfe  man  über  das  durch  Cens.  de 
D.  N.  3.  Serv.  ad.  Ge.  I.  21  direct  Bezeugte  hinausgehend,  alle  die 
Gottheiten  als  in  den  indigitamentis  verzeichnet  ansehen,  auf  die 
mit  Beziehung  auf  die  pontifices  oder  deren  Bücher  jener  Ausdruck 
angewandt  werde.  Aus  jenen  ergab  sich  für  die  indigiiamenta,  de- 
nen die  Ausführung  Varros  in  den  antiqq.  rer.  divin.  (Aug.  de  C. 
D.  VI.  9)  entsprach,  das  Verzeichniss  theils  auf  die  Person  des  Men- 
schen bezüglicher  Götter,  deren  jeder  nur  einmal  in  einem  beson- 
deren Lebensmoment  Einfluss  auf  ihn  äussert,  theils  solcher,  die 
sich  auf  seine  Thätigkeit  beziehen.  In  Bezug  auf  die  ersteren  urgirt 
Hr.  A.  zu  sehr  das  einmalige  Hervortreten:  es  giebt  in  der  Regel 
oder  zuweilen  öfter  im  Leben  wiederkehrende  Momente  (z.  B.  Ge- 
bären, eine  zweite  Heirath  etc.),  die  jedesmal  eine  erneute  Anru- 
fung jener  Götter  bedingen.  In  sorgfältiger  Zusammenstellung  giebt 
Hr.  A.  als  Probe  dieses  Theils  3er  indig.  ein  Verzeichniss  einiger 
Götterreihen  der  ersten,  so  wie  der  auf  den  Ackerbau  bezüglichen 
der  zweiten  Classe.  Diese  zusammen  aber  bilden  nur  einen  ver- 
haltnissmässig  geringen  Theil  derselben.  Denn  es  kommen  dazu, 
dem  oben  angedeuteten  Principe  zufolge,  noch  sehr  viele  andere 
und  der  höchsten  Wahrscheinlichkeit  nach  sämmlliche  durch  Ur- 
sprung oder  zeitige  Reception  dem  älteren  Staatseultus  angebörige 
Gottheiten,  die  aber  in  ihrer  Gesammtheit  nach  ihrer  kfrchlicb-pe- 


Allgemeine  Literaturberichte.  95 

titischen  Bedeutung  in  heiliges  Dunkel  gehüllt  waren.  Die  geistreiche 
daran  sich  knüpfende  Betrachtang,  die  das  innerste  Wesen  der  röm. 
Religion  in  vielfachen  Anknüpfungen  berührt,  erlaubt  keinen  Aus- 
zog. Die  ganze  Abhandlung  gewährt  einen  schatzbaren  Beitrag  zur 
Kunde  eines  vielfach  verdunkelten,  aber  hochwichtigen  Denkmals 
des  Römerlhums,  das  in  seinen  Ursprüngen  bis  auf  Numa  zurück- 
geführt wird.  Wird  eine  allseitige  Restitution  desselben  auch  nicht 
möglich  sein,  so  gelingt  es  dem  Hrn.  Verf.,  der  fortgesetzte  Unter- 
suchung verheisst,  vielleicht  noch  mehre  jener  Götterreihen,  wenn 
auch  nicht  ohne  Lücken,  wie  sie  in  jenen  heiligen  Urkunden  stan- 
den, zur  Anschauung  zu  bringen.  Kleine  Nachlässigkeiten  im  Ein- 
zelnen, z.  B.  den  contaminirle  Fabius  Pictor  Servilianus  S.  3  und 
störende  Druckfehler  Cornelius  Laber  für  Labeo  (S.  36. 39),  das  sinn- 
entstellende vergönnt  (S.  59,  7)  wahrscheinlich  für  verpönt  (doch 
auch  wohl  das  Opuleische  Gesetz  S.  48  statt  des  Ogulniscben?) 
wünschten  wir  fort,  um  ungestört  der  eindringenden  und  gewandten 
Untersuchung  des  feinsinnigen  Forschers  uns  hingeben  zu  können. 

G.  P.  Co  rasen  de  poesi  Romana  antiquissima  coromentationis  praemlo 
academico  oraatae  pars  selecta.  Berol.  4  844.  8.  diss.  inaug.  philo».  38  p.  S. 

Die  kleine,  aber  inhaltsvolle  Schrift  beschäftigt  sich  ausschliess- 
lich mit  den  saliarischen  Gesängen.  Der  Verf ,  der  seine  Resultate 
selbst  S.  13  ff.  und  33  zusammenfasst ,  weist  nach,  dass  der  salia- 
rische  Cultus,  aus  italisch  -  pelasgischem  Heraklesdienst  hervorge- 
gangen, nach  Rom  zunächst  aus  der  etruskischen  Verehrung  der 
Consentes  übertragen  sei:  wie  diese  die  12  Monate  repräsentiren, 
so  Mars,  der  saliarische  Gott  der  Römer,  ursprünglich  den  Früh- 
ling, nicht  den  Gott  des  Krieges.  Ihm  ist  der  März  geheiligt:  dieser 
ist  daher  die  Zeit  des  Festes.  Schon  Härtung  hatte  diese  Seite  des 
Mars  hervorgehoben  (Rel.  d.  R.  II.  p.  155  sqq  ),  aber  weniger  ent- 
schieden als  der  Verf.,  dessen  Ableitung  des  Gradivus  p.  20  sq.  als 
Gra  (=  creator)  divus  freilich  manchen  Zweifel  übrig  lässt.  Auch 
die  andern  von  den  Saliern  angerufenen,  im  März  gefeierten  Göt- 
ter erscheinen  in  enger  Beziehung  zum  Frühling  und  dem  Früh- 
lingsgotte.  Allmählig  %rst  erhielt  die  civile  und  kriegerische  Bedeu- 
tung des  Festes  die  Oberhand.  Schliesslich  betrachtet  der  Verf.  die 
Gebräuche  des  Festes,  den  Inhalt  der  Gesänge  im  Allgemeinen,  die 
specielle  Bearbeitung  der  Bruchstücke  sich  vorbehaltend,  den  Na- 
men der  axamenta  oder  assamenta  und  ihre  wahrscheinlich  ziem- 
lich früh  anzusetzende  Aufzeichnung.  —  Der  Verf.  zeigt  gründliche 
Studien  und  geschickte  Combinalionsgabe ,  die  z.  B.  bei  der  Deu- 
tung der  Consentes  und  der  damit  zusammenhangenden  Einführung 
des  salischen  Dienstes  in  Rom  durch  Numa  (p.  12  sq.)  in  überra- 
schender Weise  sich  geltend  macht  Der  Verf.  erregt  durch  diese 
Probe  nicht  geringe  Erwartungen  von  dem  Ganzen  seiner  Arbeit, 


96  Allgemeine  Literaturberichte. 

die,  der  gestellten  Aufgabe  gemäss,  eine  Erörterung  der  ältesten 
röm.  Volkspoesie  nebst  Zusammenstellung  der  Fragmente  und,  in- 
soweit sie  die  Thaten  der  Altvordern  besangen,  eine  Beurtbeilung 
ihres  Einflusses  auf  die  Gestaltung  der  ältesten  röm.  Geschichte, 
umfasste.  Wir  wünschen,  dass  der  Verf.  bald  Gelegenheit  finden  möge, 
uns  mit  seinen  Forschungen  auf  diesem  schwierigen  und  interessan- 
ten Gebiete  in  weiterem  Umfange  bekannt  zu  machen.  Möchte  er 
dann  auch  der  Correctur  des  Druckes  grössere  Sorgfalt  zuwenden. 

G.  Lucilius  und  die  römische  Satura.    Ein  Beitrag  zur  römischen  Lite 
rat  Urgeschichte  von  Franz  Do*-.  Gerlach.    Basel  4  844.   23  S.   4. 

Dieses  Schriftchen  erscheint  als  Vorlaufer  einer  Ausgabe  der 
Fragmente  des  Lucilius.  Es  beschäftigt  sich  hauptsächlich  damit 
dem  Satiriker  seine  Stellung  in  der  Entwicklung  der  römischen  Li- 
teratur anzuweisen:  in  ihm  leben  die,  in  Ennius  saturae  (über  die 
S.  11  manches  Unerwiesene  aufgestellt  wird)  untergegangenen  Ele- 
mente der  altnationalen,  ländlichen  Poesie  der  neckischen  Satura 
wieder  auf,  obwohl  er  in  Form  und  Inhalt  über  sich  selbst  sie  hin- 
ausführend (p.  11  sq.),  einen  neuen  Geist  ihr  einhauchte  (S.  21), 
wodurch  sie  wieder  keck  und  muthig  in  das  Leben  trat.  Der  nä- 
heren Ausführung  des  geistreichen,  durch  seine  geschmackvolle 
Darstellung  ausgezeichneten  Verf.  wird  man  mit  Vergnügen  folgen, 
wenn  man  auch  nicht  in  allen  Einzelheiten  mit  ihm  übereinstimmt: 
gewiss  richtig  aber  ist,  was  er  (S.  12  ff.),  der  gegebenen  Ueb  er  lie- 
ferung folgend,  über  Lucilius'  äussere  Lebens  Verhältnisse  gegen  die 
zwar  mit  Scharfsinn  und  Gelehrsamkeit  durchgeführte,  aber  vor 
einer  unbefangenen  Kritik  nicht  stichhaltige  Hypothese  van  Heusdes 
bemerkt.  Dr.  M.  «Hertz. 

Dissertationen  und  Programme. 

Lorenz,  de  praetoribus  munieipalibus  commentalio.  Typis  ofßc. 
Grimensis,  1843    18  S.   4. 

Göttüng,  nova  edilio  Legis  de  scribis,  viatoribus  et  praeconibus 
quaesloriis,  facta  ad  aeneam  tabulam  Neapolilanam.  Jenae,  From 
mann..  1844.    9  S.   4. 

H  e  r  m  a  h  n,  disputatio  de  lege  Lutatia.  Gottingae,  Dieterich.  1844.  9  S.  4, 

Pfund,  de  antiquissima  apud  Italos  Faba9  eultura  ac  religione. 
Berolini,  1845.    38  S.    8. 

M.  Hertz,  Sinnius  Capito,  eine  Abhandlung  zur  Geschichte  der 
römischen  Grammatik.   Berlin,  1844.    Oehmigke.   37  S.    8. 

Brückner,  Cicero  num  Catütnam  repetundarum  reum  defendtt 
Suidnicii,  Heeg.   1844.    HS.   4. 

Pfilzn-er,  Kritische  Bemerkungen  zu  Tacitus  Agricola.  Beleuch- 
tung der  „Beiträge  zur  Kritik  und  Erläuterung  von  Tacitus  Agri- 
cola" von  Wex.  Neubrandenburg  bei  C.  Brünslow.  1843.  32  S.  4. 

Derselbe,  commentatro  quot  quibusque  numeris  insignes  legiones 
inde  ab  Augusto  usque  ad  Vespasiani  prineipatum  in  Oriente  te- 
tenderint.   Ebendaselbst,  Höpfner.    1844.   12  S.   4. 

Teuf  fei,  de  Juliano  imperatore  Christianismi  contemtore  et  osore. 
Tubingae,  Fues.    1844.  37  S.   8. 


Heber  Hie  Entwicklung  der  deutschen 
Historiographie  im  Mittelalter. 

(Schlussarlikel.    Siehe  Bd.  II.  S.  39  ff.  97  ff.) 


4. 
tlrosse  Veränderungen  in  der  deutseben  Geschichtschreibung 
zeigen  sieb  seit  dem  1*2.  und  13.  Jahrhundert,  so  dass  wir  < 
wohl  berechtigt  sind,  hier  eine  neue  Periode  zu  beginnen. 
Freilich  nicht  auf  einmal  machen  sie  sich  geltend,  nur  lang- 
sam und  allmählig  dringen  sie  durch;  die  neuen  Foonen  tre- 
ten anfangs  nur  vereinzelt  auf,  gehen  neben  denen  her,  die 
bis  dahin  die  gewöhnlichen  waren  und  die  sich  auch  noch 
lange  in  vielfacher  Anwendung  erhielten;  nach  und  nach  wer- 
den sie  dann  aber  die  vorherrschenden,  und  wenn  sie  auch  die 
anderen  nicht  gleich  verdrängen,  so  sind  wir  nun  doch  genö- 
tbigt  den  Charakter  der  Historiographie  überhaupt  nach  ihnen 
zu  bestimmen.  Es  sind  dann  aber  wieder  unter  sich  sehr  ver- 
schiedene Tendenzen,  die  auf  diese  Umwandlung  ihren  Ein- 
fluss  ausüben;  es  zeigen  sich  Richtungen,  welche  von  ganz 
verschiedenen  Grundlagen  ausgehen  und  sich  oft  nur  sehr  we- 
nig berühren;  sie  hängen  theils  mit  früheren  zusammen,  theils 
sind  sie  der  gerade  Gegensatz  dagegen;  aber  in  ihrer  Man- 
nigfaltigkeit geben  sie  der  historischen  Literatur  des  späteren 
Mittelalters  einen  ganz  eigenthümlichen,  fast  buntscheckigen 
Charakter.     Und  dieser  wird  dann  noch  dadurch  vermehrt, 
dass  immer  auch  die  alten  Formen  beibehalten  werden  und 
selbst  in  der  spätesten  Zeit  noch  Werke  entstehen,  die  denen 
des  früheren  Mittelalters  gleichartig  oder  nachgeahmt  sind; 
es  finden  sich  unmittelbare  Fortsetzungen  älterer  Arbeiten, 

ZtiUchrifl  f.  Geschickte«-.  IV.   1845.  7 


98  lieber  die  Entwicklung  der  deutschen 

in  denen  man  freilich  nicht  gerade  sklavisch  an  die  Art  und 
Weise  der  Vorgänger  sich  anschliesst,  aber  doch  auch  keinen 
ganz  neuen  Ton  anzuschlagen  gemeint  ist  Dazu  kommt  end- 
lich die  ungeheure  Productivität  dieser  Zeit  Die  kleinen  ano- 
nymen Annalcn,  Chroniken  und  Geschichten  lassen  sich  kaum 
zählen;  nun  ist  kein  Kloster,  keine  Kirche,  fast  keine  Loca- 
lität,  die  nicht  irgend  eine  Aufzeichnung  über  ihre  Geschichte 
oder  doch  über  einzelne  Hauptbegebenheiten  derselben,  aber 
die  Entstehung,  Wiederherstellung,  Reformation  u.  dgl.  auf* 
zuweisen  hatte.  Wie  vor  Alters,  so  werden  auch  jetzt  anna- 
listische Aufzeichnungen  abgeschrieben,  fortgesetzt,  vermehrt, 
und  mit  wuchernder  Kraft  wachsen  aller  Orten  solche  zum 
Theil  kaum  der  Literatur  angehörige  Arbeiten  hervor,  die  un- 
ter sich  verwandt  und  doch  immer  wieder  in  Einigem  selbst- 
ständig und  eigentümlich  sind.  Ein  grosser  Theil  derselben 
liegt  noch  in  den  Bibliotheken  verborgen,  und  wenn  auch 
die  historische  Ausbeute,  die  aus  ihnen  zu  erwarten  ist,  ver- 
hältnissmässig  gering  sein  mag,  so  ist  doch  die  vollständige 
Untersuchung  derselben  nothwendig,  um  die  eigentliche  Ent- 
stehung dieser  Arbeiten  darlegen  zu  können,  und  diese  wird 
ohne  Zweifel  od  genug  darthun,  dass  die  gedruckten  Werke 
nicht  die  originalen  sind,  sondern  aus  anderen  abgeleitet,  aus- 
gezogen, und  nur  deshalb  pdblicirt,  weil  sie  zufällig  ihren 
Herausgebern  in  die  Hände  gefallen  waren« 

Ich  enthalte  mich  von  diesen  Arbeiten  oder  auch  nur  den 
wichtigeren  unter  ihnen  zu  sprechen  —  ein  besonders  nen- 
nenswertes Beispiel  sind  die  österreichischen  Annalen,  un- 
ter denen  einige  doch  von  mehr  als  gewohnlicher  Bedeutung; 
—  ich  bin  genöthigt  auch  die  grösseren  Werke  namhafter  Ver- 
fasser zu  übergehen,  insofern  sich  in  ihnen  nicht  eine  von 
der  früheren  verschiedene  Behandlungsweise  geltend  macht 
Ich  komme  vielleicht  auch  in  Gefahr,  einzelne  deshalb  nicht 
genug  zu  berücksichtigen,  weil  sie  mir  nicht  hinreichend  be- 
kannt sind;  denn  ich  kann  mich  allerdings  nicht  rühmen  die 
Werke  dieser  späteren  Zeit  alle  gelesea  zu  haben.  Ich  muss 
mich  begnügen  die  Hauptrichtungen  zu  bezeichnen,  welche 
auf  die  Umbildung  des  Charakters  der  Historiographie  einen 


Historiographie  im  Mittelalter.  99 

unmittelbaren  Einfluss  ausgeübt  haben,  und  werde  daneben 
nur  einige  der  hervorragendsten  Erscheinungen  besonders  er- 
wähnen können.  • 

Als  charakteristisch  für  die  Zeit  des  12.  und  13.  Jahr- 
hunderts ist  es  zunächst  hervorzuheben,  dass  das  sagenhafte  V 
Element  mehr  und  mehr  in  die  Geschichte  eindrang. 
Sage  oder  der  Sage  verwandte  Ueberlieforung,  war  der  Anfang 
aller  Geschichte  bei  den  Deutschen  gewesen,  erst  nach  und 
nach  hatte  diese  sieh  davon  losgesagt,  hatte  sich  zu  einer  freie- 
ren und  höheren  Behandlung  erhoben.    Aber  auch  vor  dem 
hellen  Lichte  der  Historie  war  die  Sage  nicht  gewichen,  son- 
dern sie  behauptete  sich  nur  zunächst  in  anderen  Sphären. 
Es  ist  deutlich,  wie  die  grossen  Begebenheiten  der  Geschichte 
der  mündlichen  Unterhaltung  und  Erzählung  des  Volkes  ebenso 
wie  der  bewussten  poetischen  Gestaltung  als  Stoff  dienten 
und  auf  diese  Weise  den  eigenthümlichsten  Auflassungen,  den 
wunderlichsten  Umgestaltungen  unterlagen.    Nicht  so  gleich 
fanden  solche  Traditionen  ihren  Weg  in  die  Literatur;  doch 
währte  es  nicht  lange,  dass  sie  auch  hier  erschienen,  und  bald 
in  ihrer  wahren  Beschaffenheit,  bald  aber  auch  unter  dem 
Scheine  der  Geschichte  auftraten.   Unter  dem  Urenkel  Karl's 
des  Grossen  schreibt  ein  Sangaller  Mönch  ein  Buch  voll  der 
wunderlichsten  Geschichten  über  den  grossen  Kaiser,  die  er 
meist  aus  dem  Munde  älterer  Zeitgenossen  überkommen  hat 
Kaum  ein  Jahrhundert  später  begegnet  uns  die  erste  Spur 
der  Erzählungen  über  Karl's  Zug  nach  dem  Morgenlande,  und 
auch  die  erste  uns  bekannte  poetische  —  ich  sage  so,  ob* 
schon  die  Darstellung  selbst  in  lateinischer  Prosa  niederge- 
schrieben ist  —  Bearbeitung  der  Kämpfe  zwischen  Christen 
und  Soracenen  in  Spanien  zu  Karl's  Zeiten  ist  noch  aus  dem 
10.  Jahrhunderte.    Erst  bedeutend  später  erschien  dann  je- 
nes Werk  des  sogenannten  Turpinus,  das  ganz  und  gar  den 
Charakter  des  Romanes  an  sich  trägt,  obschon  es  sich  für 
Geschichte  ausgiebt.  Aber  schon  vorher  haben  solche  Ueber- 
lieferungen   in   historische   Werke    Eingang  gefunden ,   zu- 
erst in  Italien,  wo  die  Chroniken  des  Benedict  von  S.  An- 
dreas, eines  unbekannten  Salernitaners  und  des  Mönches  von 


100  Veber  die  Entwicklung  der  deutschen 

Novalese  eben  dadurch  einen  so  eigentümlichen  Charakter 
erbalten  haben«  —  Ans  dem  Munde  des  Volkes,  vielleicht  ans 
Liedern  und  Gelängen  entnahm  Dado  von  St.  Quentin,  was 
er  am  Anfang  des  11.  Jahrhunderts  über  die  Zöge  und  Nie- 
derlassungen der  Normannen  in  Frankreich  schrieb-  —  Und 
auf  ähnliche  Weise  fand  nun  auch  in  Deutschland  die  Sage 
bei  den  Historikern  Berücksichtigung ;  der  treffliche  Widukind 
hat  nicht  allein  die  Urgesobichtep  seines  Volkes  daraus  ge- 
schöpft, er  hat  auch  spater,  noch  in  der«Geschichte  Hein- 
riche 1.,  die  Volksüberlieferung  nicht  ganz  verschmäht,  wenn 
er  ihr  auch  nicht  eben  viel  einräumt  Viel  häufiger  bezieht 
sich  Ekhehard  von  Sangallen  auf  das,  was  gesagt  und  gesun- 
gen wurde  von  den  Begebenheiten  des  10.  Jahrhunderts»  van 
Adalbert's  Fall  durch  Hatto's  List  und  anderen  merkwürdigen 
Di  »gen.  Ja  untersuchen  wir  das  Werk  dieses  Verf.  näher, 
so  zeigt  sieb,  dass,  so  sinnlich  treu  seine  Erzählung  auch  die 
Zustände  zu  vergegenwärtigen  scheint,  doch-  in  Wahrheit  eben 
nur  eine  Sagengeschichte  gegeben  wird ;  es  ist  nichts  als  nie- 
dergeschriebene Klostertradition  und  Volksüberlieferung;  fast 
überall  lässt  sich  Genauigkeit  der  Namen  und  Zeitbestimmungen 
vermissen;  der  Verf.  hat  keine  geschriebenen  Quellen  vor  sich, 
und  daher  beruht  seine  Darstellung  ganz  und  gar  auf  dem 
unsicheren  Boden  mündlicher  sagenhafter  Mittheilongen.  --— 
leb  kann  hier  nicht  alle  Werke  bezeichnen,  die  hier  oder  da 
Elemente  dieser  Art  in  sich  enthalten;  ich  hebe  es  nur  noch 
hervor»  dass  einzelne  Quellen,  die  Annalen  von  Quedlinburg, 
eine  Würzburger  Chronik  und  Ekhehard  von  Oranjia  sich  ge- 
radezu auf  die  weit  verbreitete  im  Volksmunde  und  in  Lie- 
dern lebende  deutsche  Heldensage  berufen,  die  ifctt  der  wah- 
ren Geschichte  Ermanrich's  und  Theodorickte  zu  vermitteln 
namentlich  dem  letzteren  schwierig  genng  erscheint.  E*  wä- 
ren uns  gewiss  noch  weit  mehr  sagenhafte  Ueberlieferungen 
aas  dieser  Zeit  erhalten,  wenn  nicht  die  grossen  Chretiiken, 
die' sich  besonders  mit  der  älteren  Geschichte  beschäftigten, 
es  vorgezogen  hätten,  ältere  Quellen  »wörtlich  auszuschrei- 
ben, sei  es  dass  sie  den  unhitftoriseben  Charakter  anderer 
Überlieferungen  erkannten,  sei  es  dass  sie  aus  einer  gewis- 


Historiographie  im  Mittelalter.  101 

sen  gelehrten  Opposition  gegen  diese  im  Volke  lebenden  Er- 
zählungen an  ihnen  vorübergingen.  Es  wäre  doch  zu  wün- 
schen gewesen,  dass  ein  Autor  uns  alle  solche  volkstümli- 
chen Geschichten  und  Anecdoten  gesammelt  hätte,  deren  Vor- 
handensein uns  z.  B.  das  merkwürdige  Buch  des  englischen 
Chronisten  Willelmus  Malmesburiensis  darthut  und  die  mei- 
stens einen  novellenartigen  Charakter  an  sich  tragen. 

Es  geschah  freilieb  etwas  der  Art,  doch  in  einer  Weise, 
die  es  uns  schwer  macht  zu  unterscheiden,  was  dem  eigent- 
lichen Gebiet  der  Sage  und  was  der  frei  und  willkürlich 
schaffenden  Dichtkunst  angehört  Denn  indem  im  12.  Jahr- 
hunderte die  deutsche  Dichtkunst  sich  in  grossartiger,  glän- 
zender Weise  ausbildete,  zog  sie  auch  diesen  Stoff  in  ihr  Be- 
reich, und  zwar  nicht  bloss  die  Thaten  einzelner  schon  der 
Sage  anheim  gefallener  Persönlichkeiten,  sondern  es  wurde 
ihr  die  ganze  Geschichte  der  Gegenstand  cigenthümlicber  dich- 
terischer Bearbeitung  und  Darstellung. 

Schon  in  der  ersten  Hälfte  des  12.  Jahrhunderts  entstand 
die  sogenannte  Kaisercbronik ,  wenigstens  gehen  die  ältesten 
Handschriften  nur  bis  Lothar;  Umarbeitungen  und  Erweiterun- 
gen gehören  dann  in  die  späteren  Jahre  des  12.  Jahrhunderts. 
Das  Ganze  aber  ist  eine  freie  poetische  Behandlung  der  ge- 
sammten  Geschichte  wie  sie  das  Mittelalter  kannte,  aber  so  frei, 
dass  es  oft  hockst  schwierig  erscheint  auch  nur  die  Anknüp- 
fungspunkte an  die  wahre  Geschichte  oder  die  sonstige  Ueber- 
lieferung  zu  finden,  wenigstens  in  den  Tbetlen,  die  mir  be- 
kannt geworden  sind.  Manches  mag  aus  solchen  vereinzelten 
legenden-  oder  novellenartigen  Erzählungen,  wie  ich  sie  vor- 
hin bezeichnete,  entlehnt  sein;  —  doch  zweifle  ich,  dass  es 
Massmanns  Gelehrsamkeit  gelingen  wird  überaH  die  Quellen 
nachzuweisen,  und  Vieles,  und  besonders  die  ganze  Ausfüh- 
rung wird  doch  wob!  dem  Dichter  angehören,  obschon  dieser 
geradö  mit  grosser  Entschiedenheit  sich  für  die  wahre.  Ge- 
schichte gegen  die  erdichteten  Romane  seiner  Zeit  ausspricht. 
— -  Nicht  anders  Rudolf  von  Ems  in  der  Weltchronik,  die 
selbst  freilich  kaum  an  dieser  Stelle  in  Betracht  kommen  kann, 
da  sie  nur  einen  Theil  der  biblischen  Geschichte  utafasst  der 


102  Heb  er  die  Entwicklung  der  deutschen 

aber  vielfach  umgearbeitet,  fortgesetzt  wurde  und  ähnlichen 
Arbeiten  der  Zeitgenossen  zur  Grundlage  diente.  —  Der  Stoff, 
den  diese  Werke  verarbeiteten,  ist  auf  jeden  Fall  kein  aus- 
schliesslich und  ursprünglich  defitscher,  sondern  es-  sind  Sa- 
gen und  Geschichten  des  Orients,  der  römischen  Welt,  Ita- 
liens und  des  übrigen  Südens,  die  hier  mit  volksmassigen 
deutschen  Erzählungen  verbunden  werden,  und  die  der  Dich- 
ter dann  ausführt,  erweitert,  auch  wohl  aus  eigener  Phanta- 
sie vermehrt.  Sie  sind  das  Resultat  jener  grossen  phanta- 
stisch-religiösen Bewegung,  welche  die  Welt  des  Abendlan- 
des seit  dem  Ende  des  10.  und  dem  II.  Jahrhundert  ergriff 
und  die  ihren  Höhepunkt  in  der  Zeit  der  ersten  Kreuzzüge 
erreichte.  Durch  die  Kreuzzüge  wurde  plötzlich  die  ganze 
weite,  orientalische  Welt  dem  Abendlande  erschlossen,  und 
eben  sie  haben  auf  die  Vermischung  der  Sagen,  auf  die  ganze 
Ausbildung  dieser  Literatur  den  bedeutendsten  Einfluss  geübt. 

In  der  Tbat  gehörte  dies  Alles  aber  der  Geschichte  der 
Prosa  viel  mehr  an,  als  einer  Betrachtung  der  historiographi- 
schen  Leistungen;  wir  sind  hier  wenigstens  auf  ein  Gebiet 
gerathen,  wo  die  angebliche  Geschichte  gleicbmässig  in  Stoff 
und  in  Form  der  Dichtkunst  sich  anreiht.  Dass  die  Historio- 
graphie dieser  die  Form  entlehnt,  ist  freilich  auch  sonst  der 
Fall,  ohne  dass  deshalb  der  eigentlich  geschichtliche  Charak- 
ter diesen  Werken  verloren  ginge.  Wir  sehen  aber  zunächst 
noch  hiervon  ab  und  verfolgen  es  noch  etwas  weiter,  wie  die 
Sage  auf  die  Geschichtschreibung  eingewirkt  hat. 

Da  sehen  wir,  wie  seit  der  Mitte  des  12.  Jahrhunderts 
eine  sagenhafte  Ueberlieferung  immer  mehr  Aufnahme  in  die 
historischen  Werke  findet;  ich  meine  aber  hier  dife  eigent- 
liche Volkstradition,  die  sich  unwillkürlich  über  jedes  wich- 
tigere Ereignis»  der  Geschichte  bildet  und  die  von  jenen  no- 
vellenartigen Erzählungen  doch  noch  wesentlich  zu>  unter- 
scheiden ist.  Da  ist  es  bald  Karl  der  Grosse,  theils  und  vor- 
zugsweise sind  es  .die  grossen  Könige  und  Kaiser  des  10. 
Jahrhunderts,  deren  Personen  und  Thaftan  in  solcher  sagen- 
haften Gestalt  erscheinen.  In  der  Kaisercbronik  ist  ihre  Ge- 
schichte zum  blossen  Gedicht  geworden;  hier  dagegen  ist  der 


Historiographie  im  Mittelalter.  103 

Stamm  der  Geschichte  geblieben,  aber  eine  wuchernde  Fülle 
traditioneller  Ueberlieferungen  hat  .sich  an  denselben  ange- 
setzt und  verdeckt  ihn  oft  ganz  und  gar  dem  Auge  des  ober- 
flächlichen Betrachters.  Selbst  in  so  rein  compilatorische 
Werke  wie  die  des  sogenannten  Annalista  Saxo  dringen  sie 
ein ;  sie  finden  hier  freilich  keine  vollständige  Aufnahme,  doch 
sieht  man  aus  manchen  Andeutungen,  wie  sie  weite  Verbrei- 
tung erlangt  haben  und  wie  die  Historiker  sich  ihrer  nicht 
mehr  erwehren  können.  Etwas  später  finden  sie  dann  auch 
einen  Autor,  der  sie  bereitwillig  aufnimmt  und  verarbeitet, 
den  Godfried  von  Viterbo,  einen  Italiener,  der  aber  grossen- 
theils  in  Deutschland  lebte,  und  dessen  Memoria  seculorum 
eine  fast  ganz  in  lateinischen  Versen  geschriebene  Sammlung 
solcher  Geschichten  von  den  einzelnen  Königen,  Kaisern  und 
anderen  merkwürdigen  Personen  enthält  Wir  würden  viel- 
leicht auch  dies  Buch  in  die  Poesie  zu  verweisen  haben,  wenn 
der  Verfasser  nicht  so  bestimmt  in  seiner  Vorrede  an  K. 
Heinrich  VI.  den  historischen  Charakter  für  dasselbe  in  An- 
sprach nähme  und  wenigstens  die  Angelegenheiten  Fried- 
riche I.  in  einer  mehr  geschichtlichen  Weise  dargestellt  hätte, 
wenn  er  nicht  ausserdem  später  einen  prosaischen  Text,  den 
er  freilich  aus  Otto  von  Freisingen  entlehnte,  hinzugelugt  und 
das  Ganze  nun  aufs  Neue  unter  dem  Namen  Pantheon  als 
ein  wahres  Geschichtsbuch  edirt  hätte.  Es  bat  denn  auch 
den  grössten  Einfluss  auf  die  späteren  Autoren  Deutschlands 
wie  Italiens  ausgeübt,  seine  Geschichten  haben  die  weiteste 
Verbreitung  gefunden,  und  was  in  seinen  Versen  leicht  als 
blosse  Erfindung  oder  Ausschmückung  erscheint,  nimmt,  in 
schlechte  Prosa  umgesetzt,  später  nur  zu  od  einen  unbedingt 
historischen  Charakter  in  Anspruch.  —  Diese  anekdotenartige 
Geschichtserzählung  wurde  nun  besonders  beliebt  und  machte 
sich  wie  in  den  deutseben  Chroniken,  die  seit  der  Zeit  ent- 
stehen, so  auch  in  denen  geltend,  die  sich  in  Sprache  und 
Form  den  früheren  Vorbildern  anschlössen;  namentlich  in  je- 
nen ungeheuren  Cempilationen,  wie  sie  seit  dem  1?.  und  13. 
Jahrhundert  häufig  sich  finden,  denen  jede  Ueberlieferung 
recht  und  willkommen  war  und  als  deren  Hauptrepräsentan- 


104  lieber  die  Entwicklung  der  deutschen 

ten  ich  nur  den  Alberieus  und  das  Speouhim  historiae  des 
Vincentius  vqp  Beauvais  nennen- will,  sodann  aber > auch  ra 
den  Kaiser-  und  Papstgeschichten,  von  denen  keine  be- 
rühmter ist  als  die  des  Martiuus  Polonus  aus  der  zweiten 
Hälfte  des  13.  Jahrhunderts,  ein  Buch,  das  eine  fast  unglaub- 
liche Verbreitung  in  ganz  Europa  gefunden  und  diese  Ge- 
schichtcheo,  die  es  statt  der  wahren  Geschichte  gab,  zur  all- 
gemeinsten Kenntnis»  gebracht  hat  Indem. diese  Historien 
nun  amplificirt,  weiter  entstellt,  durcheinander  gewirrt,,  in- 
dem Ficüonen  zu  bestimmten,  z.  B.  hierarchischen  Zwecken 
hinzugerügt  wurden,  so  kam  es  bald  dahin,  das*  statt  der 
Geschichte  nur  eine  grosse  Reihe  von  Fabeln,  in  denen  selbst 
die  ursprünglichen  echt  sagenhaften  Bestandteile  schwer 
herauszufinden  sind,  fortgeschleppt  wurde.  Und  das  Ganze 
bildet  in  den  Chroniken  des  14.  und  15.  Jahrhunderte  ein 
Gewebe,  das,  wenn  man  es  nicht  in  die  einzelnen  Fäden 
aufzulösen  und  jeden  auf  seinen  Ursprung  zurückzufuhren 
weiss,  als  ein  Gewirr  erseheint,  das  man  vendriessüch  am 
liebsten  von  sich  werfen  möchte.  Schon  lange  hat  die  Kritik 
gesucht  sich  dieses  Wustes  zu  entledigen;  doeh  in  der  Reget 
ohne  rechte  Gonsequenz,  und.  Einiges  bat  sieh  bis  zw  jüng- 
sten Zeit  in  unseren  Geschichtsbüchern  erbalten  oder*  sucht 
von  Zeit  zu  Zeit  sich  wieder  Geltung  zu  verschaffen.  Man 
meint  dies  zu  rechtfertigen,  wenn  man  steh  eben  auf  die 
Volkssage  als  die  Quelle  dieser  Ueberlieferungen  beruft*'  Um 
aber  bis  zur  echten  Sage  vorzudringen,  bedarf  es  sorgfältiger 
Sichtung;  die  allmählige  Entstehung,  An  wachsung,  Ausbildung, 
Verbreitung  dieses  Stoffes  ist  nachzuweisen,  Vieles«  als  rein 
willkürliche  Erdichtung  auszuscheiden,  und  auch  der  wahr- 
haft sagenhafte  Bestandtheil  ist  doch  eben  nur  als  Sage,  nicht 
als  wahre  Geschichte  zu  würdigen. 

Wie  aber  die  geschichtliche  Literatur  des  Mittelalters, 
insofern  sie  sich  mit  den  filteren  Zeiten  beschäftigte,  hierdurch 
einen  ganz  eigentümlichen,  aber  nicht  erfreulichen  Charak- 
ter erhalten  musste,  liegt  zu  Tage. 

Von  ebenso  grosser  Bedeutung  aber  und  viel  erfreulicher 
zugleich  war  es,  dass  die  geschichtlichen  Werke  jetzt 


im  Mittelalter.  105 

grossentheiis  in  heimischer  Sprache  geschrieben 
wurden.  Es  hängt  das  zumTheil  mit  jenem  ersten  zusam- 
men. Wie  nämlich  Sage  und  Dichtkunst  auf  den  Stoff  der 
Historiographie  einen  wesentlichen  Einflnss  ausübten,  so  ge- 
brauchte diese  auch  nicht  selten  die  poetische  Form  für  ihre 
Darstellungen.  In  lateinischen  Versen  hat  man  auch  früher 
schon  historische  Stoffe  bearbeitet,  wie  in  Deutschland  be- 
sonders das  Werk  des  sächsischen  Diohters  über  das  Leben 
Karl's  des  Grossen  und  die  Gedichte  der  Hrotvuit  über  die 
Thaten  Otto's  I.  und  die  Geschichte  Gandersheims  einen  be- 
deutenden Namen  erlangt  haben.  Sie  sind  aber  keineswegs 
die  einzigen,  sondern  in  Deutschland  wie  in  Italien  und  Frank- 
reich, in  carolingtscber  und  in  späterer  Zeit  lassen  sich  im- 
mer Arbeiten  der  Art  nachweisen;  eins  der  merkwürdigsten 
Betspiele  wUrde  ans  dem  12.  Jahrhundert  das  Gedicht  des 
Gmtheros  Ligurinus  über  die  Thaten  Friedriche  I.  sein,  wenn 
wir  uns  der  Zweifel  über  die  Echtheit  entschlagen  könnten. 
Dagegen  muss  das  schon  genannte  Werk  Godfried's  von  Vi- 
terbo  hierher  gesohlt  werden.  Wir  haben  aber  an  dieser  Stelle 
doeh  nicht  näher  hiervon,  sondern  nur  von  den  Geschichten 
und  Chroniken  in  deutschen  Versen  zu  sprechen,  wie  sie  ent- 
standen, sobald  die  deutsche  Dichtkunst  jenen  höheren  Auf- 
schwung nahm  und  jene  weite  Verbreitung  erlangte,  welche 
wir  besonders  seit  dem  12.  Jahrhundert  wahrnehmen.  Eben 
jene  Kaiserchronik  und  die  Weltchronik  des  Rudolf  von  Ems 
stehen  hier  am  Uebergange  von  reiner  Dichtung  zur  Historie 
im  dichterischen  Gewände.  An  sie  schliesst  sich  dann  zu- 
nächst das  Werk  des  Enenkel,  eines  Oesterreichers  um  die 
Mitte  des  13.  Jahrhunderts.  Auch  von  ihm  haben  wir  eine 
Weltchronik,  jener  des  Rudolf  und  seiner  Fortsetzer  in  An- 
lage und  Ausfuhrung  ziemlich  gleichartig;  dem  biblischen  Stoff 
sind  auch  die  romanhaften  Eraihtangen  vom  Trojanischen 
Krieg  und  Alexander  zugemisoht,  dazu  anderes,  das  freilich 
noch  nicht  Geschichte  ist,  doch  ihr  mehr  sich  annähert  und 
anderswo  dafür  gHt.  Derselbe  Mann  dichtete  aber  auch  eine 
Geschichte  des  österreichischen  Hauses  (Fürstenbuch},  und 
betritt  hier  schon  ein  mehr  historisches  Gebiet,  das  er  dann 


106  Heber  die  Entwicklung  der  deutschen 

aber  freilich  auch  immer  mit  den  verschiedenartigsten  Ge- 
schichtchen, oft  den  fremdartigsten  und  ungehörigsten,  be- 
reichert. Und  im  Laufe  des  13.  und  14.  Jahrhunderts  wird 
dann  diese  poetische  Form  auch  auf  rein  historische  Gegen- 
stände angewandt,  und  es  entsteht  die  eigentliche  Reim- 
chronik, die  einen  wichtigen  Platz  in  der  Historiographie 
des  späteren  Mittelalters  einnimmt.  Auch  ihr  Charakter  ist 
nicht  mit  Einem  Worte  zu  bezeichnen,  sondern  verschieden 
nach  dem  Inhalt  und  nach  der  Individualität  des  Verfassers: 
mitunter  Bearbeitung  lateinischer  Quellen  oder  eigene  treue 
Darstellung  der  Thatsachen,  mitunter  freiere  Behandlung  des 
Gegenstandes.  Zu  jener  Gattung  müssen  wir  die  niederdeut- 
sche Chronik  Eberhard's  von  Gandersheim  noch  aus  dem  An- 
fang des  13.  Jahrhunderts,  zum  Theil  auch  die  Chronik  des 
Braunschweigisch- Weifischen  Hauses  rechnen.  Kineo  volks- 
tümlichen frischen  Charakter  tragen  alle  diese  Werke  an 
sich.  Jenen  sagenhalten  Stoff  nehmen  sie  auf  und  verarbei- 
ten ihn,  v  wo  sie  die  früheren  Zeiten  in  den  Kreis  ihrer  Darr 
Stellung  hineinziehen;  von  der  unmittelbarsten  Wichtigkeit 
aber  sind  sie,  wo  gleichzeitige  Begebenheiten  den  Gegenstand 
der  Darstellung  ausmachen.  Godfried's  Hagen  Beimcbronik 
von  Köln  ist  aus  Deutschland  eins  der  bedeutendsten  Bei- 
spiele, und  daran  reihen  sich  die  zahlreichen  belgischen  und 
niederländischen  Arbeiten  dieser  Art;  hier  drängte  der  ganze 
Charakter  des  Volks  die  Poeten  zur  Behandlung  solcher  Stoße, 
die  nicht  ausschliesslich,  nicht  vorzugsweise  dem  Gebiete  4er 
Phantasie  angehörten.  Bald  wurden  allgemeine  Chroniken, 
wie  der  berühmte  Geschichtsspiegel  des  Afaerlant,  bald  ein- 
zelne Begebenheiten,  wie  von  Heelu  die  Sehlacht  bei  Worin- 
gen,  zum  Gegenstand  der  Behandlung  gemacht;  auehdie»  Lan- 
desgeschichte schrieb  man  mit  Vorliebe  in  dieser  Weise  und 
Form.  —  Die  interessanteste  Verbindung  aber  historischer 
Darstellung  und  poetischer  Behandlung  zeigt  Ottokar  von 
Horneck  in  seiner  österreichischen  Chronik  aus  dem  Ende 
des  14.  Jahrhunderts,  einem  Werke,  dem  an  lebendiger  Auf- 
fassung und  Vergegenwärtigung  der  Zustände  und  Begeben- 
heiten kaum  ein  anderes  an  die  Seite  gestellt  werden  kann,  so 


Historiographie  im  Mittelalter.  107 

wenig  auch  die  Erzählung  auf  unbedingte  historische  Glaubwür- 
digkeit Anspruch  zu  machen  hat,  da  der  Verfasser  wenigstens 
oft  mit  dem  ihig  überlieferten  Stoff  ebenso  frei  schaltete  wie 
der  Dichter  mit  den  von  ihm  bearbeiteten  Sagen  und  Romanen. 

Das  Eigenthümliche  und  Bedeutende  in  diesen  Werken 
war  immer,  dass  sie  in  heimischer  Sprache  geschrieben  wa- 
ren; so  härten  sie  auf  blosse  Arbeiten  der  Gelehrsamkeit  zu 
sein,  nun  fanden  sie  Eingang  beim  Volk  und  nahmen  eine 
bedeutende  Stellung  ein  in  der  literarischen  Entwicklung  des- 
selben. Und  nur  kurze  Zeit,  so  that  man  den  entscheidenden 
Schritt  und  schrieb  in  deutscher  Prosa,  was  man  bis  dabin 
in  ein  poetisches  Gewand,  wenigstens  äusserlich,  eingehüllt 
hatte.  Ist  dies  einerseits  ein  Zeichen  der  Fortbildung,  deren 
die  prosaische  Darstellung  überhaupt  sich  zu  erfreuen  hatte, 
so  hat  es  andererseits  auch  selbst  dazu  beigetragen,  sie  zu 
einer  höheren  Stufe  freier  mannigfaltiger  Darstellung  zu  füh- 
ren. Später  und  in  weniger  bedeutender  Weise  als  in  den 
Nachbarländern  ist  es  in  Deutschland  geschehen;  den  Ville- 
bardouin,  Joinville,  Malaspini  und  Villani  haben  wir  aus  die- 
ser Zeit  kein  gleiches  Werk  an  die  Seite  zu  stellen.  Das 
älteste  Werk  von  erheblicher  Wichtigkeit  ist  die  Sachsen- 
chronik, die  um  die  Mitte  des  13.  Jahrhunderts  entstand  und 
sich  wenigstens  durch  die  Darstellung  vortheilbaft  auszeich- 
net. Theils  ist  sie  nach  älteren  lateinischen  Quellen  gearbei- 
tet» theils  ist  der  Stoff  hier  der  im  Munde  des  Volks  leben- 
den Tradition  entnommen;  vielleicht  zeigt  sich  nirgends  eine 
eigenthümiichere  Vereinigung  der  gelehrten  und  volkstüm- 
lichen Ueberlieferung;  scharfer  Kritik  gelingt  es  noch  wohl 
"sie  zu  sondern,  doch  sind  sie  immer  höchst  eigenthümtich 
verbunden  und  geben  dem  Werke  einen  besonderen  Reiz.  E» 
hat  auch  in  Nerddeutscbland  grosse  Verbreitung  gefunden  und 
ist  Quelle  und  Vorbild  für  viele  andere  ähnliche  Arbeiten 
geworden. 

Später  hat  dann  die  historische  Prosa  immer  allgemei- 
nere Pflege  erhalten  und  sich  zu  grösseren  Leistungen  auch 
in  Deutschland  erhoben.  Ehe  ich  einzelne  dieser  Werke  nenne, 
muss  ich  aber  darauf  aufmerksam  machen,  dass  jetzt  wie  die 


108  Ueber  die  EntwickUtng  der  deutschen 

Wissenschaft  und  Literatur  überhaupt,  so  besonders  auch  die 
Geschichte  den  Händen  der  Geistlichen  grossen- 
theils  entzogen  wurde,  indem  nun  theilg  von  den  Dich- 
tern und  Literaten,  wie  sie  besonders  in  Italien,  mitunter 
auch  an  dem  kaiserlichen  Hof  sich  finden,  theils  von  Rechts- 
gelehrten und  Staatsmannern,  mitunter  wohl  von  den  han- 
delnden Personen  selbst,  theils  endlich  in  den  aufblühenden 
Städten  von  Mitgliedern  des  Bürgerstandes  ihre  Bearbeitung 
unternommen  wurde.  Für  eine  weitere  reichere  Ausbildung 
war  das  von  grosser  Bedeutung.  Es  ist  freilich  nicht  gesagt, 
dass  damit  immer  eine  Ablassung  in  deutscher  Sprache  ver- 
bunden war;  es  blieb  Latein  die  Sprache  nicht  bloss  der  Ge- 
lehrsamkeit und  der  Wissenschaft,  auch  der  Stantsgeschifte 
und  politischen  Verhandlung,  und  sie  war  wie  an  den  Hö- 
fen, so  auch  in  den  Städten  jederzeit  wohl  bekannt.  Anob 
wandte  man  in  den  späteren  Zeiten  des  Mittelalters-  sich  grade 
mit  Vorliebe  einer  eleganten  Ausbildung  des  lateinischen  Styles 
zu,  und  wenn  man  aufs  Neue  begann  in  fremder  Sprache  mit 
den  Dichtern  des  Alterthums  zu  weiteifern,  und  wenn  selbst 
ein  Petrarcha  solche  Versuche  seinen  unsterblichen  Sonetten 
vorziehen  konnte,  so  ist  es  nicht  zu  wundern^  dass  auch  die 
weltliche  Geschtchtaehreibung  noch  oft  dieses  Gewende«  sich 
bediente.  So  schrieb  der  Kanzler  Mathiaa  von  Neuenburg  mit 
wahrer  politischer  Einsicht  die  Geschichte  des  13.  und  14. 
Jahrhunderts;  den  ausgezeichneten  Staatsmann  Albertinus 
Mussatus,  den  Biographen  K.  Beinrich's  V1L,  dürfen  <  wir  »n 
dieser  Stelle  nennen,  obwohl  er  ein  Italiener  war;  dem  K. 
Karl  IV.  selbst  verdenken  wir  eine  Darstellung  seiner  frohe- 
ren Lebensjahre.  Diesen  Autoren^  aber  reihen  sich  auch  ein- 
zelne Geistliche  »an,  die  entweder  selbst  zu  wichtigen  Staats- 
geschäften gebraucht  und  so  in  den  Stand  geeetzt  wurden, 
die  Geschichte  ihrenZeit  mit  voller  Sachkenntnis»-  zu  'schrei- 
ben, oder  die  als  höher  gebildete  und  gelehrte  Männer  xu 
historischen  Arbeiten  besonders-  befähigt  waren.  —  Die  letzte 
Zeit  der  Hohenstaufen  und  die  nächsten  unruhigen  Jahre  sind 
weniger  reich  an  solchen  Arbeiten  als  sonst  irgend  eine  Pe- 
riode der  deutschen  Geschichte;  in  den  folgenden  Zeiten  &m 


HUioriographU  im  Mittelalter.  109 

hen  wir  aber  auch  hier  wieder  bedeutendere  Kräfte  thatig. 
Der  Verfasser  der  Colmarer  Annalen,  der  Geistliche,  der  das 
Leben  des  Bischofs  Balduin  von  Trier  geschrieben ,  der  Abt 
Johann  von  Victring  u.  A.  sind  mit  verdientem  Lobe  hervor- 
zuheben. Auch  in  den  Städten  wurde  noch  manche  Chronik 
lateinisch  geschrieben,  auch  hier  waren  es  nicht  selten  Geist« 
liehe,  die  mit  der  Abfassung  solcher  Werke  beauftragt  und 
beschäftig!*  waren.  Doch  keineswegs  immer;  auch  die  Stadt- 
schretber  und  andere  weltlichen  Standes  übernahmen  diese 
Arbeit 

Auch  müssen  wir  es  als  die  Begel  betrachten,  dass  hier 
die  deutsche  Sprache,  die  von  jedermann  verstanden  wurde, 
den  Vorzug  erhielt  Gerade  in  de»  Städten  entstanden  nun  die 
ausgezeichnetsten  prosaischen  Geschichtsbücher,  die  Deutsch- 
land im  Mittelalter  aufzuweisen  bat,  vortreffliche  Stadt-  und 
Provinzialgeschichten,  die  Strasaburgtr  Chronik  von  Cloeener, 
und  etwas  später  in  der  zweiten  Hälfte  des  14.  Jahrhunderts 
die  Elsassische  Chronik  von  Jäkob  Königshoven,  um  dieselbe 
Zeit  in  Norddeutschland  die  bremische  Chronik  von  Scheue 
und  ßynesberch,  die  Lübecker  Stadtchronik  und  ihre  Ueber- 
arbeitungen  und  Fortsetzungen  von  Detmar  und  anderen  im 
15.  Jahrhundert  Im  Laufe  dieser  Zeit  und  besonders  gegen 
da»  Ende  des  Mittelalters  erhielt  dann  fast  jede  bedeutendere 
Stadt  ihren  Chronisten,  auch  wohl  mehre  kurz  nach  einander, 
die  sich  fortsetzten,  oder  indem  sie  sich  ausschrieben,  doch 
auch  gegenseitig  ergänzten.  Da  entstanden  die  „hillige  Chro- 
nik der  Stadt  Köln,"  Chroniken  von  Nürnberg,  Augsburg, 
Magdeburg,  Hamburg  und  vielen  anderen  Orten.  Und  einen 
ähnlichen  Charakter  haben  nun  die  Geschichten  der  einzelnen 
Länder  und  Provinzen,  deren  es  aus  dem  15.  Jahrhundert  eine 
fast  zu  grosse  Menge  giebt,  von  Thüringen,  Hessen,  Baiern, 
Oesterreich.  Auch  die  südschwäbischen  Städte  haben  schon 
{ruber*  ihre  Chronisten  aufzuweisen,  Zürich  den  Eberhard 
Möller  und  andere,  Bern  de«  Justingor,  nun  entstehen  die 
nationalen  Schweizer  Chroniken  von  Schilling,  Stumpf,  und 
Tschadi ,  mit  denen  wir  schon  die  Grenze  des  Mittelalters 
erreichen,  zom  Ttoü  überschreiten. 


110  lieber  die  Entwicklung  der  deutsclien 

Auf  die  wunderlichste  Weise  zeigen  oft  alle  diese  Bü- 
cher sowohl  die  Fehler  als  die  Vorzüge,  die  wir  den  Wer- 
ken dieser  Zeit  im  Allgemeinen  zugeschrieben  haben.  In  ih- 
ren früheren  Theilen  sind  sie  meistens  reich  an  apocryphen 
Nachrichten,  sei  es  dass  die  Verfasser  die  einmal  in  Umlauf 
gebrachten  Geschiebten  aufnahmen,  oder  dass  sie  neuen  Stoff 
aus  der  Sage,  aus  der  Dichtung  entlehnten;  jede  Stadt  wusste 
sich  nun  eines  besonderen  in  der  Regel  ganz  uabistonschen 
Ursprunges  zu  rühmen,  solche  Gelehrsamkeit  hat  meistens  die 
Sache  veranlasst  oder  doch  weiter  ausgeschmückt;  und  nicht 
anders  ist  es  mit  den  Ursprüngen  der  einzelnen  Stamme  und 
Fürstengeschlechter  gegangen;  freche  Zudringlichkeit  scheute 
sich  nicht  ihnen  eine  Urgeschichte  anzudichten,  die  meistens 
aller  wahren  Ueberlieferung,  ja  aller  vernünftigen  Ansicht  wi- 
derspricht Dieselben  Werke  aber  erscheinen,  wenn  ihre  Dar- 
stellung die  spatere  Zeit  erreicht,  vortrefflich  derch  die  ge- 
sunde Autfassung  der  Verbaltnisse,  durch  die  frische  aus  dem 
Leben  selbst  geschöpfte  Erzählung;  man  sieht,  die  Verfasser 
kannten  das  Leben  und  wussten  es  zu  schildern. 

Es  giebt  aber  auch  Bücher,  die  nur  die  Zeitgeschichte 
zum  Gegenstande  haben  und  daher  jenem  Tadel  entgehen. 
Einige  Stadt- und  Landesgeschichten  gehören  dahin;  hier  will 
ich  nur  Eberhard  Windeck's  Geschichte  des  Kaiser  Sigtsmund 
und  seiner  Zeit  anfuhren,  ein  Buch,  das  durch  die  Stellung 
des  Verfassers  —  er  war  dem  Kaiser  nahe  verbunden  — > 
durch  die  umfassende  Behandlung  des  Gegenstandes  usd  die 
Darstellung  in  deutscher  Sprache  immer  in  hohem  Maasse 
die  Aufmerksamkeit  der  Freunde  deutscher  Historiographie 
auf  sich  gezogen  bat,  wenn  es  gleich  nicht  in  alles  Bezie- 
hungen mit  manchen  anspruchsloseren  Arbeiten  au  wetteifern 
im  Stande  ist 

Neben  diesen  verschiedenen  Richtungen  «acht  sich  nun 
aber,  wie  ich  schon  bemerkte,  auch  noch  manche  aus  frühe- 
rer Zeit  beibehaltene  Art  der  Behandlung  geltend;  es  finden 
sich  die  Bischofs-  und  Klosterchroniken,  auch  jene  Lebens- 
beschreibungen angesehener  Geistlichen  fest  noch  ganz  in  der 
alten  Weise.  Noch  immer  entstehen  Weltchroniken,  wie  man 


j 


Historiographie  im  Mittelalter.  111 

sie  im  11.  und  12.  Jahrhundert  liebte,  bald  rein  annalistisch, 
bald  nach  Kaisern  und  Päpsten  geordnet  Hier  ist  es,  wo 
eine  weitschichtige  Gelehrsamkeit  sich  zu  Tage  legt»  in  der 
Regel  nicht  in  der  erfreulichsten  Weise.  Diese  Werke,  die 
als  Speculum  historiae,  flores  historiarum,  imago  mundi,  cos* 
modromium,  fasciculus  rerum  u.  s.  w.,  immer  aufs  Neue  ent- 
stehen, sind  tbeilweise  doch  nur  grosse  Ablagerungsplätze  fiir 
Lieberlieferungen  aller  möglichen  Art;  Geschiebte  und  Sage, 
Excerpte  aus  älteren  Quellen  und  neue  Erdichtung,  Erudi- 
dition  und  krasse  Unwissenheit  liegen  hier  im  bunten  Ge- 
misch nebeneinander,  und  so  lauge  das  Mittelalter  dauert, 
findet  diese  Literatur  kein  Ende,  sie  dauert  noch  über  das- 
selbe hinaus.  Für  dies  Gebiet  ist  auch  die  Neubelebung  der 
classischen  Studien  ohne  alle  Bedeutung;  man  lässi  einmal 
von  der  gewohnten  Weise  nicht  ab,  und  kümmert  sich  we- 
nig um  die  Fortschritte,  die  in  Darstellung  und  historischer 
Auffassung  gemacht  worden  sind  und  fortwährend  gemacht 
werden. 

Allerdings  aber*  war  diese  Beschäftigung  mit  der  Litera- 
tur des  Alterthums  auch  fiir  die  Historiographie  von  grosser 
Bedeutung;  gelang  es  auch  sobald  noch  nicht  die  verworrene 
Tradition  zu  lichten  und  nach  Anleitung  der  echten  Quellen 
sich  der  Irrtbümer  und  falschen  Begriffe,  welche  die  Welt 
beherrschten,  zu  entschlagen,  so  lernte  man  doch  die  Zeit- 
geschichte mit  grösserer  Eleganz  schreiben,  es  widmeten 
sich  ihr  aufs  Neue  Männer  von  höherer  politischer  Bildaag, 
wie  jener  Aeneas  Sylvius,  dem  wir  mehre  wichtige  Bücher 
über  deutsche  Geschichte  verdanken,  und  wie  andere  beson- 
ders in  Italien  thätig  waren. 

Einen  so  eigentümlichen  Anblick  bot  die  Historiographie 
am  Ende  des  15.  Jahrhunderts  dar:  man  schrieb  in  lateini- 
scher und  deutscher  Sprache;  die  Geschichte  war  durch  die 
Bemühungen  ausgezeichneter  Männer  volksthümlich  geworden, 
doch  strebte  sie  auch  nach  Eleganz  und  Zierlichkeit  im  frem- 
den Gewände;  man  zeigte  Sinn  für  höhere  politische  Auf- 
fassung wenigstens  der  Zeitgeschichte  und  war  befangen  in 
den  falschesten  Ansichten  über  die  Vergangenheit;  die  An- 


112  lieber  die  Entwicklung  der  deutschen 

m 

fange  schärferer  Kritik  begannen  sich  zu  regen,  so  wie  der 
Kreis  der  zugänglichen  Quellen  ein  grösserer  wurde,  und  zu- 
gleich wagte  man  die  frechsten  Erdichtungen  in  den  Urge- 
schichten einzelner  Länder,  Städte  und  Geschlechter;  gesunde, 
entwicklungsfähige  und  abgestorbene,  faule  Elemente  lagen 
unmittelbar  neben  einander;  oft  treten  sie  uns  in  demselben 
Buche  entgegen.  Kein  lebendigeres  Beispiel  Tässt  sich  den- 
ken als  Johann  von  Trittenheim  (Trithemiüs),  von  dem  ein- 
zelne Werke  steh  durch  Gelehrsamkeit  und  elegante  Dar- 
stellung aufs  vorteilhafteste  auszeichnen;  noch  jetzt  ist  na- 
mentlich sein  Chronicon  Hirsangiense  besonders  m  literarhi- 
storischer Beziehung  ein  unschätzbares  Hülfemittel;  während 
er  zugleich  den  phantastischen  Sinn  und-  die  Lügenlust  jener 
Jahre  in  solcher  Weise  theilte,  dass  er  jene  wunderlichen 
Geschichten  der  alten  Franken  erdichtete,  die  er  unter  den 
Namen  eines  Hunibald  und  Wattbald  mit  dreister  Stirn  in 
dte  Welt  schickte. 

Dann  aber  regt  sich  auch  in  der  deutschen  Gesfchkht- 
sebreibung  ein  anderer  Geist;  eine  feinere  historische  Kritik, 
eine  gelehrte  und  zugleich  geschmackvolle  Bebandtang  macht 
sieh  mehr  und  mehr  geltend.  Turnmayr  (Aventtmis)  schrieb 
seine  bayersche  Chronik,  ein  Werk  ebenso  gründlicher  For- 
schung wie  einer  gesunden  echt  patriotischen  Gesinnung,  die 
den  Mann  beseelte.  Albert  Krantz  verfasste  gleichzeitig  seine 
Bücher  über  norddeutsche  Geschichte,  die  doch  schon  ganz 
auf  umfassender  sorgfältiger  Forschung  beruhen.  Daran  rei- 
hen sich  die  Werke  von  Hartmann  Schede! ,  Jacob  Wtmpfe- 
1mg,  Sebastfcn  Frank,  Johann  Cario  und  Andern,  die  an  der 
Grenze  des  Mittelalters  stehen  oder  dasselbe  bereits  ganz  hin- 
ter sich  lassen,  und  die  dann  hinüberführen  in  die  neue  Zeit, 
wo  Slehbtnus  und  mancher  seiner  Zeitgenossen  an  dem  Ein- 
gang einer  neueto  Periode  deutscher  Historiographie  stehen. 
"  Kiel. 

G.  Wiitz. 


Heber  das  Unterrlchtoweften  der  Jesuiten. 


Wer  es  unternähme,  das  Unterrichtswesen  der  Jesuiten  in 
seinem  ganzen  Lfm  fange  darzustellen,  dürfte  dasselbe  nicht 
losgerissen  von  dem  Institute,  dem  es  zu  dienen  bestimmt 
war,  betrachten.  In  gewisser  Beziehung  könnte  man  sogar 
die  Schulen  und  Gollegien  der  Jesuiten  als  die  eigentlichen 
Träger  und  Repräsentanten  des  Geistes  überhaupt,  der  sie 
belebte,  ansehen,  weil  durch  sie  mehr  als  durch  irgend  eine 
andere  ihrer  Einrichtungen  die  Tendenzen  des  Ordens  prac- 
tisch  durchgeführt  und  ihre  Lehren  dem  heranwachsenden 
Geschlechte  eingeimpft  werden  sollten. 

Im  Allgemeinen,  darf  man  wohl  sagen,  fehlt  aber  noch 
eine  erschöpfende,  den  Gegenstand  in  seinem  innersten  We- 
sen auffassende  Untersuchung  über  die  jesuitischen  Unter- 
richtsanstalten. Während  die  Politik,  die  Moral  und  die  Dog- 
matik  dieses  Ordens  in  mehr  oder  weniger  gediegenen  Streit- 
schriften erörtert %  angegriffen  oder  vertheidigt  wurden,  hat 
man  sich  über  das  Schulwesen  desselben  mit  allgemeinen  An- 
sichten begnügt  und  demselben,  auch  protestantischer  Seits, 
im  Grossen  und  Ganzen  immer  eine  grosse  Anerkennung  gezollt 

Da  nun  aber  der  Orden  jetzt  wieder  stolz  sein  Haupt 
erhebt  und  auf  die  Leitung  und  Regierung  der  katholischen 
Kirche  den  unverkennbarsten  Einfluss  gewonnen,  so  ist  zu 
erwarten,  dass  er  die  Erfolge,  welche  er  in  den  Cabinetten 
der  Fürsten  wie  in  der  öffentlichen  Meinung  zu  erringen  ge- 
wusst,  nach  alter  bewährter  Sitte  durch  Erweiterung  seiner 
Unterrichtsanstalten  für  die  Zukunft  dauernd  zu  sichern  su- 
chen, wird.   Dass  er  dies  beabsichtigt,  bezeugt  einer  der  aus- 

Zeitschrift  f.  6«sebiehUw.  IV.  1845.  g 


114  lieber  das  Unterrichtstoesen  der  Jesuiten. 

gezeichnetsten  Jesuiten  unserer  Zeit.  Die  Erziehung,  sagt 
Ravignan/)  nimmt  einen  grossen  Platz  in  unserm  Le- 
ben ein,  wenn  es  uns  erlaubt  ist,  in  diesem  Punkte 
unsern  Constitutionen  zu  folgen. 

Die  protestantische  Wissenschaft  —  und  wir  bedauern 
am  meisten,  dass  wir  diese  Bezeichnung  gebrauchen,  auf  die 
reinste  Thätigkeit  des  Geistes  den  Parteinamen  confessionel- 
len  Haders  übertragen  müssen,  —  wird  sieh  daher  bald  in 
dem  Fall  sehen,  diese  Richtung  jesuitischer  Thätigkeit  näher 
zu  würdigen  und  sich  überhaupt  die  Frage  vorzulegen,  ob 
die  Pädagogik  der  Gesellschaft  Jesu  von  ihr  als  eine  wissen- 
schaftliche und  im  höheren  Sinne  menschliche  anerkannt  wer- 
den könne. 

Vorliegender  Beitrag  zur  Lösung  dieser  Frage  macht 
nicht  den  Anspruch,  dieselbe  nach  allen  Richtungen  hin  in 
erschöpfen  und  sämmtliche  Beziehungen,  in  welchen  das  Un- 
terrichts- und  Erziehungswesen  mit  dem  ganzen  Institute  der 
Jesuiten  steht,  ausführlich  nachzuweisen.  Derselbe  strebt  nur 
dahin,  mehr  als  in  den  bisherigen  Bearbeitungen  geschehen 
ist,  auf  den  principiellen  Zusammenbang,  in  welchem  die 
jesuitische  Pädagogik  mit  dem  ganzen  Geiste  des  Ordens  steht, 
aufmerksam  zu  machen,  sodann  ihren  Werth  und  ihre  Be- 
deutung für  die  heutige  Zeit  und  die  moderne  Wissenschaft 
näher  zu  erörtern. 

Um  es  gleich  mit  einem  Wort  zu  sagen,  wir  glauben, 
die  früheren  günstigen  Urlbeile  selbst  protestantischer  Schrift- 
steller über  das  Unterrichtswesen  der  Jesuiten  können  für 
die  beutige  Betrachtungsweise  um  so  weniger  massgebend 
sein,  als  die  protestantische  Wissenschaft  damals  selbst,  an 
Aeusserlichkeiten  haftend  und  einem  hohlen  Schematismus 
verfallen  grado  hierin  mit  den  Jesuiten  aufs  Beste  barmo- 
nirte.  Auoh  neuere  Schriftsteller,  wie  Ruhkopf  und  Schwan, 
haben  nicht  angestanden,  in  ihren  Werken  über  die  Geschichte 
der  Erziehung  diese  Urtheile  wiederzugeben,  und  der  Letz- 
tere dabei  den  Werth  oder  Unwertb  der  jesuitischen  Päda* 


*)  De  Peiistence  et  de  l'institut  des  J6suites.    Paris  1844. 


lieber  das  Unterrichtswesen  der  Jesuiten,  11$ 

gogik  für  die  heutige  Zeit  zu  besprechen,  völlig  ausser  Acht 
gelassen. 

Wir  werden  zunächst  für  einige  Augenblicke  den  Ur- 
sprung der  Gesellschaft  Jesu  und  die  Antriebe  betrachten, 
welche  derselben  die  noch  heut  zu  Tage  obwaltende  Rich- 
tung gegeben. 

Die  grosse  wissenschaftliche  Bewegung,  welche  im  15. 
und  16..  Jahrhundert  die  Völker  des  Abendlandes  ergriffen, 
und  ihren  dürstenden  Geist  zu  den  unerschöpflichen  Quellen 
des  Wissens,  auf  die  Denkmäler  des  hellenischen  Alterthums 
zurückgeführt  hatte,  war  für  die  Päpste,  obwohl  anfangs  von 
ihnen  aufs  eifrigste  gepflegt  und  unterstützt,  doch  zuletzt  von 
den  bedenklichsten  Folgen  gewesen.  Sie  mussten  den  Abfall 
der  ocoidentalen  Nationen  von  der  Autorität  des  römischen 
Stuhls  wesentlich  dem  Wiederaufleben  der  griechischen  Li- 
teratur zuschreiben,  und  richteten,  sobald  der  Katbolicismus 
sich  rehabilitirt  hatte  und  aufs  Neue  zum  Bewusstsein  seiner 
Gewalt  gekommen  war,  die  ernstesten  Repressivmaassregeln 
gegen  die  Wissenschaft,  die  solchen  Abfall  des  halben  Eu- 
ropa^ verschuldete. 

Eines  der  vorzüglichsten  Werkzeuge  hierfür  war  der  neue 
Jesuiten-Orden.  Er  verfuhr  in  dieser  Beziehung  ganz  in  der 
klugen  Weise  und  mit  der  Gewandtheit,  die  ihn  immer  aus- 
gezeichnet haben.  „Er  begriff,  wie  Möhler  sagt/)  seine  Zeit"; 
er  sah  ein,  dass  die  Wissenschaften,  wie  sie  aus  den  Antrie- 
ben des  15.  Jahrhunderts  erwachsen,  ein  Lebenselement  der 
europäischen  Völker  geworden,  ihr  Dasein  nicht  mehr  abzu- 
leugnen, ihre  Wirkungen  nicht  aufzuheben  waren.  Anstatt 
aber  gegen  den  Strom  der  literarischen  Bewegung  sich  stem- 
men su  wollen,  nahm  er  die  Wissenschaften  in  den  Kreis  seiner 
Thätigkeit  auf,  aber  er  machte  sie  dem  Glauben  dienstbar. 

Es  giebt  eine  höhere  Einheit  des  Glaubens  und  der  Wis- 
senschaft, worin  beide  nur  als  die  verschiedenen  Ausstrah- 


*)  Geschichte  und  Beurtheilung  der  Jesuiten.    Aus  Collegien- 
heften,  bekannt  gemacht  von  J.  B.  Leu.   Luzern  1840. 

8* 


116  Heber  das  Unterrichtswesen  der  Jesuiten. 

Jungen  des  einen  göttlichen  Geistes  gedacht  werden.  Die 
abendländischen  Völker  haben  vom  Anbeginn  ihrer  Bildung 
danach  gerungen,  sie  zu  erreichen.  Noch  heute  bildet  das 
Streben  nach  dieser  Einheit  die  Aufgabe  unserer  Philosophie 
und  bewegt  unsere  Literatur. 

War  es  diese  Einheit,  welche  auch  die  Jesuiteu  mein- 
ten? In  keiner  Weise.  Die  Wissenschaft  war  ihnen  an  sich 
nichts;  am  allerwenigsten  erkannten  sie  ihren  Selbstzweck 
an;  sie  galt  ihnen  nur  als  Mittel  zum  Zweck. 

Wollte  man  den  Geist,  der  ihren  ganzen  Orden  bewegt 
und  treibt,  aus  seinen  Mitgliedern  die  vorzüglichsten  Streiter 
für  das  wiederhergestellte  Papstthum  macht,  mit  einem  Worte 
bezeichnen,  so  könnte  man  ihr  Institut  den  in  Staat,  Kirche 
und  Schule  sich  verwirklichenden  Mechanismus  nennen.  Eben- 
so  wenig  als  der  Glaube,  den  sie  lehren,  ein  wahrhaft  innerlich 
gewordenes  Eigenthum  des  Gemüths  ist,  wie  ihre  Moral  weit 
entfernt  das  innere  Heilende  und  Heiligende  der  christlichen 
Sittenlehre  zu  besitzen  -sich  in  eine  flache  Casuistik  verliert/) 
und  in  ihrem  verrufenen  Probabilismus  die  Sünde  als  ein 
rein  äusserlicher  Begriff,  als  ein  durch  eben  so  äusserliche 
Handlungen  Abzuthuendes  aufgefasst  wird,  wie  es  hierbei 
ihnen  nicht  auf  die  innere  Reue,  sondern  auf  das  mecha- 
nische Substituiren  eines  Vorwandes  oder  einer  probablen 
Meinung  ankommt,  um  der  Sünde  enthoben  zu  sein:  so  war 
es  ihnen  in  den  Schulen  nicht  um  eine  innerliche,  den  gan- 
zen Menschen  durchdringende  und  sittlich  kräftigende  Bil- 
dung zu  thun.  Sie  eigneten  sich  dieselbe  an,  weil  der  Besitz 
der  Wissenschaften  eine  nothwendige  Bedingung  zur  Herr- 
schaft war.  Aber  der  Jesuitismus  ist  hierin  wie  in  allem 
Uebrigen  eine  blosse  Maschine,  ohne  innern  lebendigen,  schö- 
pferischen Geist/*)    Unter  militärischer  Disciplin  stehend,  ei- 


*)  Wir  berufen  uns  mit  Absiebt  auf  den  augenblicklieb  noch 
in  hohem  Ansehn  stehenden  Dogmaliker  Monier  in  der  angeführ- 
ten Schrift  p.  22. 

**)  Man  wird  uns  dieses  Ausdrucks  wegen  nicht  der  Unbillig- 
keit zeihen,  wenn  man  bedenkt,  dass  Ravignan  in  der  heiligsten 
Angelegenheit  des  menschlichen  Herzens,  in  der  Religion,  p.  43  von 


lieber  das  Unterrichtstcesen  der  Jesuiten.  117 

nem  Antriebe  folgend,  konnte  er  allerdings  dem  neugegrün- 
deten Papstthum  für  einige  Zeit  die  Gewalt  wieder  verschaf- 
fen. Aber  dieselbe  war  weit  entfernt,  das  zu  sein,  was  sie 
behauptete:  eine  rein  geistige;  vielmehr  war  sie  durch  und 
durch  von  weltlichen  Interessen  bewegt  und  ihr  Dasein  auf 
politische  Parteiungen  gegründet.  Ihr  Werkzeug  in  diesen 
Kämpfen  musste  daher,  wenn  es  überhaupt  ein  wahrhaft  in- 
neres Princip  besessen,  dies  doch  bald  verflachen  und  ver- 
weltlichen. Um  wie  viel  mehr  musste  aber  die  Wissenschaft 
in  ihren  Händen  diesem  Einfluss  unterliegen.  Die  Jesuiten 
haben  jene  ungestüme  Bewegung  auf  das  Alterthum  zurück, 
in  ihr  Gebiet  geleitet.  Aber  in  wie  enge  Grenzen  haben  sie 
den  früher  so  mächtigen  Strom  gedämmt,  wie  muss  er  ar- 
beiten in  den  Mühlwerken  ihrer  Collegien,  und  wie  schleicht 
er  dann  traurig  durch  die  Wüsten  und  Steppen  ihrer  Wis- 
senschaft einher!  In  drittehalb  Jahrhunderten  wie  wenige 
Männer  von  originalem  Geist  und  wahrhaftem  Genius  unter 
ihnen.  Und  was  mehr  sagen  will,  hat  die  ganze  neuere  Lite- 
ratur des  modernen  Europa's  sich  nicht  unter  Mitwirkung 
des  protestantischen  Europa's  und  wesentlich  in  Opposition 
zu  dem  vom  Jesuitismus  vertretenen  Katholicismus  entwickelt? 
Freuen  wir  uns,  es  sagen  zu  können:  das  protestantische 
Deutschland  bat  unter  allen  Ländern  Europa's,  beinahe  allein 
das  grosse  wissenschaftliche  Erbe  des  15  und  16.  Jahrhun- 
derts zu  schätzen,  zu  wahren  und  zu  entwickeln  gewusst. 
Aus  der  Zeit  todter  Aeusserlichkeit  und  leeren  Schematis- 
mus, die  im  ganzen  17.  und  in  der  ersten  Hälfte  des  18.  Jahr- 
hunderts wie  ein  Bann  auf  den  Wissenschaften  lagen,  ist  es 
durchgedrungen  zu  ihrem  wahrhaften,  innerlichen,  freien  und 
befreienden  Besitz. 

Das  wichtigste,  authentische  Document  über  das  Unter- 
richtswesen der  Jesuiten  ist  die  Batio  studiorum/j    Gegen 

einer  politique  toute  sumalurelle  et  sacr6e  spricht  und  die  Or- 
ganisation des  Ordens  p.  55  als  ein  rouage  facile  et  regulier  be- 
zeichnet. 

*)  Im  Institutum  Societatis  Jesu.  Prag  1757.  Yol.  II.  p.  169  sq. 


118  lieber  das  Ünterrichtstcesen  der  Jesuitett. 

Ende  des  16.  Jahrhunderts,  im  Moment  der  grössten  Aus- 
breitung des  Ordens  unter  Mitwirkung  sämmllicher  damals 
beim  Unterricht  beschäftigten  Jesuiten  entstanden,  enthält 
dieselbe  eine  bis  ins  geringste  Detail  gehende  Instruction  für 
die  Vorsteher  und  Lehrer  der  Schulen,  welche  ihrer  iodivi- 
duellen  Lehrmethode  den  geringstmöglichen  Spielraum  lässt, 
sie  gradezu  zu  Werkzeugen  (instrumenta)  ihrer  Obern  macht, 
Und  dafür  sorgt,  dass  der  Unterricht  von  den  höchsten,  un- 
sern  Universitäten  gleichkommenden  Glassen  bis  zu  den  Ru- 
dimenten herab  in  einem  und  demselben  Geiste  betrieben 
wurde. 

Zur  Errichtung  von  Gollegien  und  Schulen  wurde  Igna- 
tius  Loyola  von  Anfang  an  besonders  durch  die  Wahrneh- 
mung bestimmt,  dass  es  „Männer,  die  zugleich  vollkommen 
ausgebildet  und  gut  und  fromm  wären,  nur  wenige  gäbe/1') 
Er  sah  ein,  dass  er  sich  die  notwendigen  Werkzeuge  fiff 
seine  Zwecke  erst  heranbilden  müsse,  oder,  wie  andere  Je- 
suiten sich  ausdrücken,  „Ecclesia  müsse  die  beste  Hoffnung 
auf  die  künftige  Posterität  bauen"  (Lang.  G.  der  Jes.  in  Baiern 
1819  p.  15).  Indem  aber  die  Jesuiten  zuerst  nur  für  ihr  In- 
stitut die  Jugend  heranbilden,  erweitern  sich  allmählig  ihrc 
Zwecke  und  umfassen  das  ganze  heranwachsende  Geschlecht 
des  katholischen  Europa's.  Nicht  minder  aber  auch  des  pro- 
testantischen. Wir  wissen,  dass  durch  ihre  Collegien  Intri- 
guen  in  protestantischen  Ländern  unterhalten  und  die  Herr- 
schaft des  Katholicismus  vorbereitet  wurde.  Und  kaum  war 
ein  Land  durch  die  Gegenreformation  dem  Papsfthum  wie- 
dergewonnen, so  erschienen  auch  die  Jesuiten,  um  diese  Er- 
oberung  durch  ihre  Collegien  dem  Papstthum  geistig  zu  si- 
chern. In  dieser  Beziehung  haben  sie  demselben  die  wesent- 
HchstenJDienste  geleistet.**)   Ihr  Unterricht  war  in  den  katho- 


*)  Ranke  Pä'psle.  Erste  Aus.  I.  p.  216;  nach  den  Constitutio- 
nen: boni  simul  et  eruditi  pauci  inveniuntur. 

**)  Edwin  Sandis.  Relation  de  I'Estat  de  la  Religion  (frz.  Aosg. 
von  1641)  in  den  ersten  Jahren  des  17.  Jahrhunderts  geschrieben,  er- 
wähnt S.  163,  wie  die  englischen  Seminarien  der  Jesuiten  in  Italien, 
Frankreich  und  den  spanischen  Niederlanden  besonders  dazu  8e' 


lieber  das  Unterrichtswesen  der  Jesuiten.  119 

tischen  Landern  ohne  Zweifel  besser  und  systematischer  als 
der  frühere;  und  durfte  auch  mit  den  protestantischen  Gym- 
nasien» selbst  nach  dem  Zeugniss  von  Edwin  Sandis,  Anfangs 
den  Vergleich  nicht  scheuen.  Zudem  war  er  unentgeltich; 
man  kann  sich  denken,  welchen  Zulauf  sie  hatten/) 

Ihr  ganzes  Schulinstitut  umfasste  zwei  Abtheilungen,  die 
höheren  Classen,  welche  unseren  Universitäten,  die  unte- 
ren, welche  unseren  Gymnasien  entsprachen.  Jene  zerfie- 
len in  die  Theologischen,  mit  den  Professoren  der  h.  Schrift, 
der  hebräischen  Sprache,  der  scholastischen  Theologie  und 
der  Gewissensfälle  und  die  Philosophischen  mit  den  Pro- 
fessoren der  eigentlichen  Philosophie,  der  Moralphilosophie 
und  der  Mathematik;  diese  aber  in  die  Humanitäts-Glas- 
sen  (Poetik  und  Rhetorik)  und  die  grammatischen  Glas- 
sen: InGma  oder  Budimenta,  Secunda  und  Syntaxis. 

An  der  Spitze  des  ganzen  Instituts  stand  der  Bector  ßol- 
legii,  der  einen  Studienpraefecten  für  die  Universitäts-  und 
einen  anderen  fiir  die  Gymnasialclassen  unter  sich  hatte.  Der 
Studienpraefect  war,  wie  die  Ratio  Studiorum  p.  178  sagt» 
das  instrumentum  generale  des  Rectors.  Er  unterrichtete  nicht 
selbst  und  hatte  nur  für  die  Aufrechterhaltung  der  Disciplin 
zu  sorgen,  so  wie  die  Thätigkeit  der  Lehrer  und  Schüler  zu 
beaufsichtigen.   Deswegen  muss  er  während  der  ganzen  Zeit 

dient,  katholische  Umtriebe  in  England  zu  unterhalten.  —  Für  uns 
nicht  ohne  Interesse  ist  die  Nachricht,  dass  um  1574  gegen  vier* 
hundert  junge  Brandenburger,  welche  in  den  Jesuitercollegien  der 
benachbarten  Staaten  ihre  Erziehung  erhalten,  zum  Katholicisinus 
übergetreten  waren.  Dies  hatte  dann  die  Verbesserung  der  Berli- 
ner Schulen  und  die  Erhöhung  des  Gehaltes  der  Lehrer  zur  Folge. 
Ruhkopf,  Gesch.  des  Schulwesens  I.  p.  383. 

*)  Sandis  1.  c.  wirft  ihnen  aber  hierbei  vor:  que  comme  ils 
ont  des  vises  mondaines  de  gloire,  de  profit  et  de  caba* 
les,  plustot  que  d'acquit  de  conscience  et  de  beneficence  purement 
charitable,  ils  n'ont  point  eu  grand  esgard  a  ('Instruction 
des  enfans  de  basse  condition,  soit  pour  la  naissance, 
soit  pour  la  capacite  naturelle:  en  lieu  que  les  Protestans  y 
vont  avec  uneplus  religieuse  indifference  seseotans  par  conscience 
däbiteurs  de  ce  talent  d'instruction  de  piöte  ä  tous,  riches  et  poures, 
nobles  et  ignobles.  # 


120  Heber  das  Unterrichtswesen  der  Jesuiten. 

des  Unterrichts  in  den  Vorsälen  verweilen  oder  die  Gassen 
der  einzelnen  Lehrer  besuchen  (R.  St.  178—186,  196—201). 
Häufig  aber  stellte  sich  zwischen  ihm  und  den  jüngeren  Leh- 
rern ein  sehr  lebhafter  Gegensatz  ein,  wovon  Cornova  (die 
Jesuiten  als  Gymnasiallehrer.  Prag  1804.)  S.  111  aus  eigener 
Erfahrung  zu  sprechen  weiss. 

Der  Jüngling,  welcher  sich  dem  Orden  widmen  wollte,*) 
trat  gewöhnlich  aus  der  Rhetorik,  der  obersten  Gymnasial- 
classe,  durch  einfache  Ablegung  der  drei  Gelübde  in  den  Or- 
den ein,  d.  h.  er  versprach  dies  einst  zu  thun  und  wäre,  wenn 
er  diesem  Gelöbniss  ungetreu  gewesen,  in  den  Bann  verfal- 
len (Ranke  I.  217);  doch  übernahm  die  Gesellschaft  ihm  ge- 
genüber keine  Verpflichtung  und  konnte  ihn  in  bestimmten 
Fällen  wieder  entlassen.  Auf  den  Eintritt  folgte  ein  Noviziat 
von  zwei  Jahren,  welches  in  der  Abgeschiedenheit  zugebracht 
und  worin  die  Seele  des  Novizen  durch  geistliche  Betrach- 
tungen und  Hebungen  im  Sinne  des  Ordens  bearbeitet  wurde; 
hierauf  folgte  die  repetitio  humaniorum,  d.h.  die  Vorberei- 
tung zum  Lehramt  für  die  unteren  Glassen.  Dieselbe  be- 
zweckte wesentlich  nur  eine  weitere  Ausbildung  im  Lateini- 
schen und  wurde  nach  einer  nur  den  Oberen  anvertrauten 
Instructio  privata  geleitet.  Diese  Repetition  dauerte  ebenfalls 
zwei  Jahre.  Innerhalb  dieser  letzten  vier  Jahre  des  Novizi- 
ats  und  der  Repetition,  musste  auch  der  dreijährige  philoso- 
phische Gursus  absolvirt  sein  (Gerlach,  Gesch.  des  Brauos- 
berger  Gymnasiums.  Schulprogr.  von  1832  S.  8).  In  einigen 
Provinzen  wie  namentlich  in  Böhmen  fing  derselbe  aber  erst 
nach  beendeter  Repetition  an  (Gornova  S.  81).  Hatten  die 
Novizen  diesen  Gursus  beendet  und  das  Examen  bestanden, 


*)  Nach  der  R.  St.  p.  203  war  es  streng  verboten,  Jünglinge 
zum  Eintritt  in  den  Orden  zu  verlocken;  diejenigen,  welche  Lust 
zum  Eintritt  bezeigten,  musste  der  Lehrer  an  den  Beichtvater  ver- 
weisen. Die  angeblichen  monita  secreta  (Paderborn  1661  p.  14>) 
stellen  dagegen  als  Grundsalz  der  Jesuiten  auf,  dass  sie  vorzugs- 
weise kluge,  schöne  und  edle  Jünglinge  anzulocken  und  durch  Dro- 
hungen und  Geschenke  zu  gewinnen  suchten.  In  Polen  und  Deutsch- 
land hätten  namentlich  die  geistlichen  üebungen  sich  hiefür  sehr 
zweckmässig  erwiesen. 


lieber  das  Unterrichtswesen  der  Jesuiten.  121 

so  wurden  sie  alle,  abgesehen  von  ihrer  grösseren  oder  ge- 
ringeren Fähigkeit,  Lehrer  der  unteren  Classen,  und  gelang- 
ten erst,  nachdem  sie  hier  4 — 5  Jahre  gewirkt,  zum  Studium 
der  Theologie,  welches  sie  4  Jahre  beschäftigte.  Nach  Verlauf 
derselben  unterzogen  sie  sich,  im  Alter  von  32  —  33  Jahren, 
der  letzten  Prüfung  oder  des  Tertiorats  und  traten  sodann 
unter  feierlicher  Ablegung  der  4  Gelübde  in  den  Orden  ein, 
der  sie  seinen  Zwecken  und  ihren  Anlagen  und  Fähigkeiten 
gemäss  als  Professoren  der  höheren  Classen,  als  Beichtväter 
oder  Missionare  verwendete.  (Gornova  S.  46  und  94.  Ger- 
lach S.  7.  Ravignan  S.  44.  48  sq.  Doch  Gndet  sich  über  die 
Reihenfolge  derStudien  manche  verschiedene  Angabe  bei  ihnen). 

Der  Unterricht  nun,  immer  demselben  Grundgedanken 
folgend  und  nur  auf  die  Wissenschaften  sich  erstreckend, 
welche  den  Zwecken  des  Ordens  entsprachen,*)  war  weit  ent- 
fernt ein  frei  wissenschaftlicher  zu  sein.  Er  bewegte  sich  viel- 
mehr vorzugsweise  in  zwei  Richtungen,  die  aber  in  sich  wie- 
der aufs  engste  verbunden  den  Ordensmitgliedern  die  Ein- 
heit der  Lehre  und  der  Ansicht  gegeben  und  aus  ihnen  zu 
gleicher  Zeit  die  gewandtesten  Dialektiker  und  die  feinsten 
Weltmänner  gemacht  haben.  Zuerst  also  in  der  Richtung 
auf  eine  starre  Orthodoxie,  die  selbst  auf  dem  eigentlichen 
Gebiete  der  katholischen  Kirchenlehre  noch  die  einer  tieferen, 
spirituelleren  Auffassung  Zugethanen  ausschloss;  diese  spricht 
sieb  vornehmlich  in  den* Universitäts-Classen  aus;  dann  aber 
in  der  Richtung  auf  eine  formelle  Verstandesbildung,  welche 
besonders  in  den  Gymnasial-Classen  vertreten  wurde. 

In  Retreff  des  ersteren  Punktes  setzt  die  Ratio  St.  S.  171 
ausdrücklich  fest:  dass  Niemand  Professor  der  Theologie  wer- 
den dürfe,  der  nicht  der  Lehre  des  heil.  Thomas  von  Aquino 
ganz  und  gar  zugethan  sei  (vergl.  S.  185).  Wer  aber  dieser 
Lehre  fern  stehe  oder  sich  um  dieselbe  nicht  kümmere,  solle 


*)  Rat.  St.  S.  170:  omnes  diseiplinas  Instituto  nostro  con- 
gruentes  ita  tradere.  Von  der  Methode  der  früheren  Professoren 
im  Lehren  und  Disputiren,  durfte  kein  spaterer  abweichen,  voraus- 
gesetzt, dass  dieselbe  dem  Geiste  und  der  Art  des  ganzen  Institu« 
tes  entsprochen  hatte.    Rat.  St.  S.  191. 


122  lieber  das  Vnterrichtstcesen  der  Jesuiten. 

gar  nicht  zum  Lehramt  zugelassen  werden  (Rat  St  S.  171). 
Auch  mussten  die  Professoren  der  Philosophie  den  theologi- 
schen Gursus  absolvirt  und  denselben  während  zweier  Jahre 
repetirt  haben,  damit  ihre  kirchliche  Lehre  desto  fester  sei 
und  der  Theologie  desto  mehr  diene  (ib.).  Aristoteles  bildete 
zwar  die  Grundlage  des  philosophischen  Unterrichtes  und  ge- 
noss  des  höchsten  Ansehens.  Auch  durfte  der  Professor  in 
keinem  wichtigen  Stücke  von  ihm  abweichen;  nur  da  musste 
er  ihn  widerlegen,  wo  er  der  Orthodoxie  widerstritt  Dies 
galt  dann  besonders  auch  von  seinen  Commentatoren,  nament- 
lich dem  Averroes:  wenn  man  aus  ihm  etwas  Gutes  anfüh- 
ren müsse,  so  solle  dies  ohne  Lob  geschehen;  womöglich 
müsjsc  gezeigt  werden,  dass  er  dies  anderswoher  genommen 
habe;  vom  h.  Thomas  dürfe  man  nie  anders  als  ehrenvoll  spre- 
chen.*) Wer  aber  zu  Neuerungen  geneigt,  oder  zu  freien 
Geistes  sei,  der  wäre  ohne  Umstände  vom  Lehramte  zu  ent- 
fernen. 

In  Betreff  der  zweiten  Richtung  war  es  ihnen  vornehmlich 
<larum  zu  thun ,  gute  Redner  und  fertige  Dialektiker  zu  bil- 
den, die  sich  durch  keinen  Einwand  einschüchtern  Hessen, 
auch  gegen  den  begründetsten  immer  noch  eine  Einrede  w 
machen  wussten.**)  So  wird  zwar  festgesetzt  R.  St.  172,  dass 


*)  R.  St.  S.  193.  Sed  si  quid  boni  ex  ipso  (Averroe)  profe- 
rendum  sit,  sine  laude  proferat,  et  si  fieri  polest,  id  eum  aliunde 
sumpsisse  demonstret  —  Coutra  vero  de  S.  Thoma  nunquam  non 
loquatur  honorifice.  Dies  heisst  doch  in  gewisser  Beziehung  nicht 
anders  als  dem  Lehrer  anbefehlen,  lügnerisch  zu  verfahren,  ebenso 
wie  8;  186:  Non  satis  est  Üoctorum  sententias  referre  et  suam  re- 
ticere;  sed  defendatopinionem  S.  Thomae,  ut  dictum  est,  vel  quae- 
stionem  ipsam  omittat.  Leichtere  Fragen  wurden  einfach  da- 
durch entschieden  (ibid.),  dass  man  sagte:  S.  Thomas  respondet  ne- 
gando  vel  afflrmando.  Die  k.  Kirche  will  immer  vom  h.  Geiste  ge- 
leitet und  gelenkt  worden  sein  —  und  hier  wird  den  Aussprüchen 
eines  Menschen  eine  fast  göttliche  Autorität  beigemessen!  —  Der 
Ausspruch  über  Averroes  erinnert  an  einen  ähnlichen  eines  Jesui- 
ten, der  uns  von  einem  Jesuiten  selbst  überliefert  wird:  Cornova 
S.  7 :  Si  auctor  libri  est  haereticus,  jam  Über  eo  ipso  nihil  valet 

**)  Der  Bericht  von  Edwin  Sandis  ist  über  diesen  Punkt  inter- 
essant S.  165.  Et  pour  rendre  ies  enfans  encore  plus  intraitaWes 


Ueber  das  Unterrichtstcesen  der  Jesuiten.  123 

Niemand  von  der  Philosophie  zur  Theologie  übergehen  dürfe, 
der  nicht  die  Mittelmässigkeit  übersteige,  aber  zugleich  in  dem 
Falle  eine  Ausnahme  statu irt,  dass  bei  solch  mittelmässigem 
Kopfe  sich  ausgezeichnete  Talente  zum  Regieren  der  Gewis- 
sen (ad  gubernandum)  oder  zum  Reden  fänden.  Der  Unterricht, 
heisst  es  S.  195,  müsse  darauf  hinwirken,  dass  die  Jünglinge 
über  nichts  mehr  Scham  fühlten,  als  von  den  Gesetzen  der 
Form  abgewichen  zu  sein,  und  der  Lehrer  nichts  strenger 
von  ihnen  verlangen,  als  dass  sie  die  Gesetze  des  Disputi- 
rens  wüssten;  auch  habe  man  bei  der  Preisvertheilung  be- 
sonders darauf  zu  sehen:  cujus  melior  erit  orationis  forma 
(R.  St.  S.  202).  Um  nun  diese  formelle  Verstandesbildung  zu 
erreichen,  ward  vorzugsweise  die  lateinische  Sprache  getrieben, 
die  dann  auch  ohne  Unterlass  täglich  gesprochen  und  geübt 
wurde;  in  ihr  waren  alle  schriftlichen  Ausarbeitungen  anzu- 
fertigen, alle  Concertationen,  Disputationen  und  andre  öffent- 
liche Aufführungen,  welche  einen  grossen  Theil  der  Zeit  die 
Jesuitenschüler  beschäftigte,  zu  halten.  Ebenso  wenig  aber 
wie  es  darauf  ankam,  die  Lehren  des  Glaubens  in  der  inner- 


ä  aueune  contraire  persuasion,  ils  leur  impriment  par  grand  arti- 
fice  une  certaine  acariastre  et  avertine  obstination,  d'aflecter  Ia  vi- 
ctoire  en  tous  differens,  par  une  desmesuröe  passion  et  violence 
d'esprit:  —  S.  166.  Mais  les  Jesuites,  presumaos  d'estre  en  actu- 
elle  et  non  debatable  possession  de  la  veritä;  et  ne  s'esludians 
ä  autre  chose,  qua  l'avancement  de  leur  parti,  sont  fort 
diligens  ä  impriroer  dans  les  esprils  de  leurs  escoliers  cette  fiertä 
et  obstinalton  qui  les  rende  ardans  amaleurs  et  defen9eurs  de  leurs 
opinions;  et  impatiens  et  intraitables  ä  loutes  considerations  con- 
traires,  comme  n'ayant  autre  but  en  leurs  disputes  que  la 
vic Loire.  Et  pour  ancrer  profondement  ces  passions  en  leurs 
esprits  par  l'exercice,  je  les  ai  veu  en  leurs  Colleges  alliser  et 
acharner  leurs  escoliers,  mesmes  les  plus  pelits  en  leurs  disputes 
grammaticales,  jusques-Iä  qu'ä  peu  qu'Us  ne  se  sautassent  aux  yeux 
et  ne  se  deschirassent  la  face  ä  belies  ongles  les  uns  aus  autres; 
de  quoi  les  assistans  estrangers  se  scandalizoyent  et  les  Jesuites 
au  contraire  y  prenoient  singulier  plaisir  et  en  faisoyent  gloire. 
Wir  werden  von  der  übermässigen  Beförderung  des  Ehrgeizes,  der 
in  den  Jesuiten -Collegien  herrschte,  unten  noch  weitere  Beispiele 
beibringen. 


124  lieber  das  Unterrichtswesen  der  Jesuiten. 

sten  Ueberzeugung  der  Jugend  gegen  die  Anfechtungen  des 
Verstandes  zu  sichern,  wie  die  Jesuiten  sich  allein  damit  be- 
gnügten, die  recipirte  Ansicht  des  h.  Thomas  ii>  ihrer  ganzen 
Strenge  zu  überliefern,  sonst  aber  jede  freie  Regung  auf  dem 
Gebiete  der  Theologie  mit  dem  Banne  belegten:  so  beabsich- 
tigten sie  bei  Betreibung  der  alten  Sprachen  und  ihrer  Lite- 
ratur auch  nicht  im  entferntesten  das  ethische  Moment  die- 
ser Disciplinen  hervorzuheben.  Auf  den  wahrhaft  lebendigen 
und  bildenden  Inhalt  derselben  nahmen  sie  gar  keine  Bäck- 
sicht, Wie  ihr  Zögling  in  Sachen  des  Glaubens  zu  einer  al- 
lerdings rein  äusserlichen  Beruhigung  gekommen  war,  so  sollte 
er  auch  in  den  vollkommensten  Besitz  des  damals  als  Gelehr- 
ten- und  Diplomaten-Sprache  allein  herrschenden  Lateins  ge- 
setzt werden.  Dass  dabei  die  Bildung  der  Beredsamkeit,  der 
gute  Vortrag  und  eine  schöne  äussere  Haltung  vorzugsweise 
beachtet  wurde,  versteht  sich  wohl  ebenso  gut  von  selbst,  als 
wie  dass  ihre  Methode  wohl  gewandte,  glatte,  schönredende 
Weltmänner  bilden  konnte  und  noch  bildet,  ohne  aber  des- 
wegen an  Gemütb,  Gesinnung  und  Charakter  starke  Menschen 
hervorzubringen. 

Wir  werden  uns  nun  vorzugsweise  mit  dem  Gymnasial- 
unterrichte beschädigen. 

Aeussere  Einrichtung  des  Unterrichtes. 

Das  Schuljahr  läuft  von  Ostern  zu  Ostern.  An  diesem 
Zeitpunkte  treten  die  grossen  Ferien  mit  dem  allgemeinen 
Examen  und  der  grossen  Versetzung  ein.  Durchschnittlich 
gilt  die  Begel,  dass  im  ersten  halben  Jahre  das  Pensum  ab- 
solvirt,  im  zweiten  aber  wiederholt  wird  (B.  St  197). 

Die  Schulstunden  sind  täglich  Vormittags  von  8  —  1W 
und  Nachmittags  von  2  —  4£  Uhr.  An  zwei  Tagen  in  der 
Woche  ist  nur  Vormittags  Stunde  (dies  vacationis).  Der  Un- 
terricht wird  nach  einem  kurzen  Gebete  damit  begonnen,  dass 
der  Lehrer  am  Vormittage  von  8—9  die  Ausarbeitungen  der 
Schüler  corrigirt,  sie  einzeln  hervorruft  und  auf  die  Fehler 
leise  aufmerksam  macht.  Während  dessen  sind  die  übrigen 
Schüler  mit  Anfertigung  neuer  Arbeiten  beschäftigt,  wie  Be- 
schreibung irgend  einer  Oertlichkeit,  Nachahmung  der  Stelle 


lieber  das  Unterrichtswesen  der  Jesuiten.  125 

eines  alten  Schriftstellers,  (Jebersetzung  aus  dem  Lateinischen, 
Anfertigung  von  Epigrammen,  Epitaphien  etc.,  verschieden  je 
nach  dem  wissenschaftlichen  Standpunkte  der  Schüler  (B.  SL 
S.  205.  Gerlach  S.  12).  Hierauf  folgt  der  eigentliche  Unter- 
richt, der  eben  nichts  besonderes  hat;  als  Eigentümlichkeit 
heben  wir  noch  hervor,  dass  um  die  Aufmerksamkeit  der 
Schüler  desto  reger  zu  erhalten,  des  Nachmittags  von  halber 
zu  halber  Stunde  mit  dem  Griechischen  und  Lateinischen  ab- 
gewechselt und  die  Zeit  von  4 — 4\  zur  sogenannten  Concer- 
tation  benutzt  wurde,  d.  h.  zu  gegenseitigen  Hebungen  der 
Schüler,  von  denen  jeder  einzelne  seinen  aemulus  hatte.  Die 
übrige  Einrichtung  des  Unterrichtes  haben  Gerlach  I.  c.  und 
Sökeland,  Progr.  des  Münster'schen  Gymnas.  v.  1826  vollkom- 
men klar  nach  den  Quellen,  und  wie  es  scheint,  auch  nach 
lebendigen  Traditionen  dargestellt. 

Die  einzelnen  Lehrobjecte  der  Jesuiten-Gymnasien  waren : 
A.    Dqs  Lateinische. 

Wie  Sökeland  mit  Recht  bemerkt,  das  A  und  das  O  des 
ganzen  Jesuiten-Unterrichtes,  die  einzige  Disciplin,  worin  sie 
sich  unbestreitbare  Verdienste  erworben  haben.  Cicero  vor  Al- 
lem war  das  Musterbild,  dessen  Ausdrücke  und  Wendungen  sich 
anzueignen  für  die  höchste  Aufgabe  der  Schüler  galt,  zu  wel- 
chem Zwecke  einzelne  Perioden  aus  seinen  Schriften,  besonders 
den  Reden,  den  Schülern  dictirt  wurden,  um  ähnliche  Gedan- 
ken in  ähnlicher  Weise  auszudrücken.  Bei  Yertheilung  der 
Preise  wurde  auf  den  lateinischen  Styl  fast  einzig  Rücksicht 
genommen.*)  In  der  Rhetorik  und  Poetik  musste  jeden  Sonn- 
abend ein  Schüler  eine  von  ihm  angefertigte  Rede  oder  Ge- 
dicht vortragen;  wozu  vom  Professor  sehr  ins  Einzelne  ge- 
hende Anweisungen  dictirt  und  in  den  Stunden  bestandig  er- 
läutert wurden;**)  Einzelne  solcher  lateinischen  Gedichte  müs- 


*)  R.  St  S.  202:  dummodo  potior  semper  solutae  orationis  la- 
tinae  ratio  habeatur. 

**)  Rat.  St.  S.  210.  Sökeland  S.  10  theilt  Beispiele  solcher  An- 
weisungen mit:  Initium  fiat  per  triplicem  exclnmationem,  perverba 
gravia  oder  splendida,  tunc  sequatur  interrogatio.  Von  Gedichten 
würden  Epigramme,  Oden,  Elegien,  Episteln  angefertigt. 


126  Heber  das  Unterrichtswesen  der  Jesuiten. 

sen  die  tollste  Mischung  antiker  Reminiscenzen  und  jesuitisch- 
katholischer  Frömmigkeit  gewesen  sein/)  Der  beständige  Ge- 
brauch der  lateinischen  Sprache  war  in  den  oberen  Gassen 
unerlässlich  (B.  St.  S.  204);  erst  in  den  grammatischen  wird 
die  Landessprache  zur  Erklärung  der  Schriftsteller  benutzt 
Gelesen  wurden  folgende  lateinische  Autoren: 
In  der  Rhetorik  die  rhetorischen  Rücher  Gicero's  und 
seine  Reden.  In  der  auch  vorzugsweise  Humanität  genann- 
ten zweiten  Classe,  der  Poetik:  unus  Cicero  iis  fere  libris, 
qui  Philosophiam  de  moribus  continent;  dann  Caesar»  Sallust, 
Livius,  Gurtius  und  Virgil  (exceptis  Eclogis  et  quarto  Aeoei- 
dos);  ausserdem  ausgewählte  Oden  des  Horaz  und  Elegien 
und  Epigramme  andrer  Dichter  (modo  sint  ab  omni  obscoe- 
nitate  expurgati).  Im  zweiten  halben  Jahre  wird  eine  Ueber- 
sicht  der  Regeln  der  Rhetorik  gegeben  und  die  leichteren 
Reden  des  Cicero  gelesen.  In  der  ersten  grammatischen 
Classe  Gicero's  Briefe  ad  Famil.,  ad  Att.,  ad  Quint.  f ratr. ; 
sodann  ausgewählte  und  gereinigte  Stücke  aus  Catull,  Tibull 
und  Properz ;  zuweilen  auch  das  4.  Buch  der  Georg.,  das  5. 
und  7.  der  Aeneide.  In  der  zweiten  einzelne  Briefe  des 
Cicero  und  die  leichteren  Gesänge  des  Ovid;  in  der  dritten 
einige  auserwählte  Stücke  des  Cicero.  Den  wissenschaftli- 
chen Standpunkt  dieser  fünf  Classen  charakterisirt  die  Ratio 
nun  in  folgender  Weise:  III.  Gramm«:  Rudimcntorum  per- 
fecta, syntaxis  inchoata  cognitio.  II.  Gramm.:  totius  quidem 
Grammaticae,  minus  tarnen  plena  cognitio.  I.  Gramm.:  ab- 
soluta Grammaticae  cognitio.  Humanit  postquam  ex  Gram- 
maticis  excesserint,  praeparetur  veluti  solum  eloquentiae.  R be- 
tone a  ad  perfeetam  eloquentiam  informat,  quae  duas  facul- 
tates  maximas,  Oratoriam  et  Poeticam  comprebendit;  ex  bis 
autem  duabus  primae  semper  partes  oratoriae  tribuantar. 

R.  Dem  Griechischen  ward  im  Vergleich  mit  dem 
Lateinischen  nicht  eben  viel  Aufmerksamkeit  gewidmet;  auch 
sind  die  Anweisungen  über  das  Studium  desselben  ausseror- 

*)  Michelet  und  Qu  inet  Les  Jösuites  S.  269.  Aus  dem  Parn. 
ehrist.  St.  Ignatii  auspicio  adsurgens,  Eklogen  wie:  S.  Ignatius  et 
primus  ejus  socius  Petrus  Faber  sub  persona  Dapbnidis  et  Lycidae. 


üeber  das  Unterrichtswesen  der  Jesuiten.  127 

dentHch  kurz  und  nur  so  obenhin  gegeben.  Was  Cornova 
S.  64  über  die  Betreibung  des  Griechischen  während  der  fie- 
pet, hum.  sagt,  dass  man  es  gehasst,  weil  es  an  den  Erho- 
lungstagen  getrieben  worden  und  die  Lehrer  desselben  als 
die  Diebe  der  Zeit  angesehen,  welche  den  lateinischen  Pro- 
fessoren von  Rechtswegen  ganz  zugehört,  wird  auch  wohl  auf 
das  ganze  Lehrinstitut  seine  Anwendung  finden.  Mögen  die 
Absichten  mancher  Oberen  in  dieser  Beziehung  auch  gut  ge- 
wesen sein  (Gerlach  S.  10),  so  wurde  das  Studium  des  Grie- 
chischen doch  bei  Seite  gesetzt,  weil  das  Lateinische  das  ein- 
sige war,  worin  man  sich  hervorthun  konnte. 

Gelesen  wurde  von  griechischen  Autoren: 

In  der  Rhetorik:  Demosthenes,  Tbukydides,  Homer,  He- 
siod,  Pindar  und  einige  Kirchenvater.  Für  die  Poetik  finde 
ich  keine  besonderen  Autoren  angegeben;  der  wissenschaft- 
liche Standpunkt  der  Glasse  ist,  ut  mediocriter  scriptorei 
intelligant  et  6cribere  aliquid  Graece  norint.  In  der  erstep 
grammatischen  Glasse:  Ghrysostomus  und  Aesop;  in  der  zwei- 
ten der  griechische  Catechismus  und  Cebetis  tabula;  in  der 
dritten  endlich  wird  nur  conjugirt  und  declinirt. 

G.  Der  Religionsunterricht 
war  nach  dem  Zeugnisse  zweier  katholischer  Schulmanner, 
Gerlach 's  und  Sokeland's,  ohne  alle  Einrede  sehr  schlecht  und 
bestand  airt  nichts  weiter  als  den  Gatechismus  des  Ganisius 
auswendig  zu  lernen.  Bei  einem  Orden,  der  wie  die  Jesui- 
ten die  Verteidigung  des  katholischen  Glaubens  zu  seiner 
Lebensaufgabe  gemacht,  muss  dies  billigerweise  höchlichst 
auffallen.  Der  Religionsunterricht  fand  jeden  Freitag  und 
Sonnabend  in  der  ersten  und  letzten  halben  Stunde  statt  Das 
tägliche  Gebet  vor  Anfang  des  Unterrichtes  wurde  vom  Leh- 
rer und  den  Schülern  mit  entblösstem  Haupte  und  auf  den 
Knien  verrichtet;  ausserdem  musste  derselbe  noch  geistliche 
Gespräche  mit  seinen  Zöglingen  fuhren,  die  Litanei  der  h. 
Jungfrau  jeden  Abend  in  seiner  Glasse  recitiren  lassen  und 
den  Schülern  zur  Privatlectüre  vorzüglich  das  Leben  der  Hei- 
ligen empfehlen. 

Kur  Mehrung  des  religiösen  Sinnes  waren  an  den  mei- 


128  Heber  das  Unt  er  rieht  stce&en  der  Jesuiten. 

sten  Schulen  noch  Sodalitäten  annuntiatae  Mariae  Virginia 
errichtet,  welche  aus  den  bessern  Schülern  der  Classen  be- 
standen, die  sich  besonders  zu  dem  Zwecke  vereinigten,  um 
geistliche  Uebtfngen  und  öffentliche  Aufzüge  mit  wehenden 
Fahnen  zu  halten.  In  den  Fasten  sahen  die  Jesuiten  es  gern, 
wenn  soviel  Schüler  als  möglich  sich  zu  den  freiwilligen  Geis- 
selungen einstellten  (Sökeland  S.  21).  Von  1000—1200  Schä- 
lern des  Münsterschen  Gymnasiums  geisselten  sich  im  17ten 
Jahrhundert  durchschnittlich  300 — 500  jahrlich,  worüber  die 
Jesuiten  ausführliche  Listen  geführt  haben. 

Dies  sind  die  hauptsächlichsten  Disciplinen  des  Gymna- 
sial-Unterrichts  der  Jesuiten.  Von  philosophischen,  mathe- 
matischen, historischen  und  geographischen  Studien  ist  in 
ihren  Schulinstituten  älterer  Zeit  aus  natürlichen  Gründen 
ebensowenig  die  Rede,  als  von  einer  tüchtigen  und  würdigen 
Betreibung  der  Landessprache  und  Literatur.  Nur  an  den 
sogenannten  Vacationstagen  wurde  den  Schülern  ein  Aggre- 
gat von  allerlei  Notizen  über  das  Alterthum  gegeben,  worin 
die  Hieroglyphen  eine  sonderbare  Rolle  spielen  (Rat  St  210. 
Gerlach  S.  14). 

In  den  Gollegien ,  welche  sie  neuerdings  seit  ihrer 
Wiederherstellung  gegründet,  wie  das  Institut  St  Michel  in 
Freiburg,  ist  die  Geschichte  nun  allerdings  in  den  Lections- 
plan  mit  aufgenommen,  dagegen  das  Deutsche  nicht  allein 
ausgeschlossen,  sondern  Werke  classischer  deutscher  Dichter 
selbst  ihren  Schülern  zu  lesen  verboten  worden.  Im  Allge- 
meinen tbun  sie  aber  mit  ihrer  Erziehung  sehr  geheim  und 
gestatten  den  Fremden  nicht  gern,  Einsicht  in  die  Mysterien 
ihres  Unterrichtswesens  zu  gewinnen  (Mundt,  Freihafen  1839. 
I.  S.  34  und  63). 

Uns  sind  aber  mehrere  ihrer  Geschichtslehrbücher  zuge- 
kommen, welche  für  ihre  Erziehungshäuser  in  Frankreich  ge- 
schrieben sind  und  über  deren  Einrichtungen  ein  genügendes 
Licht  verbreiten.  Zwar  betreffen  alle  diejenigen,  deren  wir 
habhaft  werden  konnten,  nur  den  Unterricht  der  Geschichte; 
aber  grade  diese  haben  für  uns  die  grösste  Wichtigkeit,  weil 
sie  aufs  bündigste  die  ganze  Weltanschauung  der  Jesuiten 


lieber  das  Unterrichtswesen  der  Jesuiten.  129 

ausdrücken,  und  den  Protestantismus  aufs  Unverhohlenste  dar- 
über aufklären,  wessen  er  sich  von  den  ehrwürdigen  Vätern 
der  Gesellschaft  Jesu  zu  versehen  habe. 

Aus  einem  literarischen  Verzeichniss  der  in  ihren  Unter- 
richtshäusern eingeführten  Lehrbücher  ersehen  wir,  dass  der 
lateinische  Unterricht  ungefähr  derselbe  geblieben,  der  grie- 
chische dagegen  -völlig  ausgefallen  ist,  dafür  aber  der  Unter- 
richt in  den  Elementen  der  französischen  Sprache,  der  Geo- 
graphie, der  Arithmetik  und  Buchhaltern',  so  wie  in  der  Ge- 
schichte mit  in  den  Lectionsplan  aufgenommen  worden.  Die 
ganze  Sammlung  kündigt  sich,  unter  dem  pomphaften  Titel 
Collection  de  Glassiques  A.  M.  D.  G...  (ad  majorem  Dei  glo- 
riam)  an;  wir,  die  wir  von  der  politique  toute  surnaturelle 
et  sacreä  des  Ordens,  die  der  salbungsvolle  Vater  v.  Bavignan 
in  diesen  Worten  ausgedrückt  Gndet,  keine  Idee  haben,  wir 
können  uns  freilich  nur  mit  mitleidigem  Lächeln  oder  voll 
Ekel  abwenden,  wenn  wir  auch  Bücher,  wie  die  Epitome  de 
Diis  et  Heroibus  poeticis,  wie  Phaedri  fabulae,  oder  die  Se- 
lectae  Ovidii  fabulae,  oder  endlich  wie  ihr  Lehrbuch  der  kauf- 
männischen Buchhaltern  herausgegeben  finden:  ad  majorem 
Dei  gloriam!  # 

D.  Der  Geschichtsunterricht,  mit  dem  wir  uns 
hier  noch  einige  Augenblicke  beschäftigen  wollen,  wird  in 
ihren  französischen  Gollegien  jetzt  folgendermaassen  ertheilt: 
In  Sixifcme  die  Histoire  sainte,  in  Cinquifeme  die  Histoire  de 
rEglise  (jedes  Buch,  1  Volumen,  in  Fragen  und  Antworten 
zum  wörtlichen  Auswendiglernen),  in  Quatrifeme  die  Hist. 
ancienne  (1  Vol.);  in  Troisi&me  die  Bist,  romaine  (1  Vol.  als 
ob  sie  nicht  zur  Hist.  anc.  gehöre!),  in  Seconde  und  fihäto* 
rique  die  Hist.  de  France  (2  Vol.).  Zum  Wiederholen  für  alle 
Glassen  und  zum  Unterricht  in  der  Geschichte  der  modernen 
Staaten  dient  der  Gours  d'Hist,  welcher  nebeneinanderlaufend 
Hist.  sacrte  und  profane  enthält,  und  welchem  einige  nötions 
präliminaires  für  Huitifeme  und  Septföme  angehängt  sind. 

Die  Methode  dieser  Bücher,  welche  alle  dem  Jesuiten  G. 
ihr  Dasein  verdanken  und  in  Lyon  bei  Busand  erschienen  sind, 

Zeitschrift  f.  ÜMehichUw.  IV.  1845.  Q 


130  Ueber  das  Unterrichtswesen  der  Jesuiten. 

ist  die  der  R6sum<s;  unter  allen  übrigen  bat  man  diese  vorge- 
zogen, weil,  wie  der  Verf.  des  Cours  d'Hist  sagt,  eile  donne  aux 
jeunes  gens  la  memoire  des  choses,  eile  les  forme  k  mettrc 
en  ordre  et  k  exprimer  leurs  idies;  eile  prAte  k  leur  style 
de  la  puret6,  de  la  facilitö  et  de  Pabondance  et  leur  Ate  in- 
failliblement  cet  embarras  qu'äprouvent  presque  toujours  les 
personnes,  qui  n'ont  pas  pris  de  bonne  benre  l'habitude  de 
parier  et  d'öcrire.    Man  sieht  leicht,  es  ist  nur  die  formelle 
Verstandesbildung,  welche  auch  die  neueren  Jesuiten  anstre- 
ben.   Anstatt  wie  die  deutsch- protestantischen  Schulen  dem 
kindlichen  Alter  die  Fülle  des  historischen  Lebens  in  der 
Form  der  kindlichen  Sagen  des  AUerthums  und  der  Biogra- 
phien zu  geben,  und  allmäblig  mit  den  erhöhten  Geisteskräf- 
ten des  Knaben  und  Jünglings  auch  den  Standpunkt  histo- 
rischer Betrachtungsweise  sich  erhöhen  zu  lassen,  und  von 
der  biographischen  Auffassungsweise  allmäMig  zur  ethnogra- 
phischen und  pragmatischen  überzugehen  —  geben'  sie  der 
zartesten  Kindheit  gleich  eine  Masse  unverstandenen  Stoffes 
aus  der  ganzen  profanen  und  heiligen  Geschichte,  prägen  we 
dem  Gedächtniss  des  Kindes  rein  mechanisch  «in  und  lassen 
sein#n  Verstand  sich  bemühen,   dessen  äusserlich.  Herr  zu 
werden,  was  es  nicht  verstehen  kann  (wie  namentlich  die  Ge- 
schichte der  christlichen  Kirche  und  der  verschiedenen  Hae- 
resien,  die  mit  grosser  Ausführlichkeit  behandelt  sind),  und  was 
keine  Beziehung  zu  seinem  Geiste  und  Gemüthe  haben  kann. 
Der  mehrfach  erwähnte  Jesuit  Ravignan  sagt  S.  46  sei- 
ner angeführten  Schrift:  S.  Ignace  veut  —  des  hommes  so- 
Kdement  instruits,  des  hommes  qui  ne  s'ägarent  point,  qoi 
marchent  d*un  pas  assurö  dans  le*  voies  de  la  v6rit£  —  des 
hommes,  qui  sacbent  tout  ce  qu'ü  faut  savoir,  qüi  se  pla- 
cent  fid&lement  en  präsence  du  mouvement  de  la 
science  et  se  maintiennent  k  sa  hauteur;  qui  en  tout, 
en  bistoire,  en  physique,   en  philosophier  en  tittörature, 
comme  en  thtologie  ne  restent  point  en  arri&re  de  leur 
siede,  mais  puissent  en  suivre  ou  mtoie  en  aider 
les  pro  gros,  sans  jamais  oubäer  toutefiris,  qu'ils  sont  vouto 
k  la  döfense  de  la  religion  et  au  salut  des  Arnes. 


Heber  das  Unterrichtswesen  der  Jesuiten,  131 

Er  gestatte  uns,  diesen  hohen  Maasstab  auf  eisige  der 
genannten  Bücher  seines  Mitbruders  G.  anzulegen. 

Wie  weit  der  Letztere  den  Fortschritten  des  Jahrhun- 
derts in  der  Geschichtswissenschaft  nachgeeilt  sei,  ja  sie  so- 
gar befördert  habe,  dafür  mögen  folgende  aus  seinem  Cours 
d'Histoire  gezogenen  Zeugnisse  dienen: 

Yon  der  Völkerwanderung,  ihren  Ursachen  und  Folgen 
hat  derselbe  nicht  die  mindeste  Idee;  er  weiss  nicht,  dass 
alle  die  Staaten  des  neueren  Europa's  von  den  Germanen 
allein,  oder  Ton  ihnen  im  Bunde  mit  den  römischen  Provin- 
zialen  gegründet  worden  sind.  Wenn  die  Germanen  ja  ein« 
mal  vorkommen,  so  werden  sie  regelmässig  barbares,  mit  dem 
ebenso  regelmässigen  Zusätze:  sortis  du  Nord  de  FEurope  et 
de  l'A&ie  genannt  Nur  von  den  Franken,  deren  Enkel  er 
durch  seine  Lehrbücher  auf  den  Weg  des  scietices  et  des 
arts  setzen  und  zu  Staatsmännern  erziehen  will,  hat  er 
eine  ebenso  neue  als  für  sieh  und  seine  Nation  schmeichel- 
hafte Idee,  er  nennt  sie  S.  81,  man  staune:  Scythes  d'ori*- 
gine!  Von  der  Bildung  des  Frankenreichs,  seiner  Ausbreitung 
über  Gallien  und  Frankreich  weiss  er  freilich  nichts,  dafür 
entschädigt  er  uns  aber  damit,  dass  er  des  Ostgothen  Theo- 
dertck's  Zug  nach  Italien  ins  Jahr  483  setzt,  und  dabei  die 
judieiöse  Bemerkung  einschaltet  S.  85:  Presque  dans  le  meine 
temps  (483!)  les  Anglais  (dass  diese  Völker  damals  Angle* 
und  Saxons  oder  Anglo-Saxons  genannt  werden  müssen,  weil 
der  Name  Anglais  erst  im  11.  Jahrhunderte  aufkommt,  ist 
zu  unbedeutend,  ab  dass  er  es  wissen  könnte),  sortis  du 
Nord  de  l'Europe  s'emparent  de  la  grande  Bretagne.  L'Ecosse 
ei  la  Pologne  ont  d&s  lors  (seit  483!)  leurs  Souveräns  par- 
ticiiüers,  wodurch  er  wiederum  die  Geschiebte  in  dankens- 
werter Weise  verwehrt  Mit  den  Daten,  welche,  wie  er  sagt, 
ue  sont  que  pour  l'exactitude,  hat  er  freilieh  ein  merkwür- 
diges Unglück.  So  setzt  er  Pipin's  Thronbesteigung  in  das 
Jahr  750,  den  bekannten  Vertrag  von  Verdüa  ins  Jahr  842, 
Genua's  Trennung  Tom  deutschen  Reiche  ins  Jahr  936  und 
die  Einsetzung  des  CoUeguims  der  sieben  Kurfürsten  ins  J. 
1Q64.   Dafür  können  wir  uns  an  folgender  dazwischen  Stelle 

9# 


132  lieber  das  Unterrichtswesen  der  Jesuiten. 

erfreuen:  Aprfes  plusieurs  guerres  sanglantes,  ils  separtagent 
l'AIIemagne,  la  France  et  l'Italie  (wie  wir  gelernt  haben,  im 
Jahre  84?).  Les  gouverneurs  de  provinces  profitent  des  trou- 
bles  pour  se  rendre  indäpendants:  on  voit  paroitre  entr'autres 
les  petites  souverainitls  de  Milan,  de  Toscane,  de  Savoie,  de 
Loraine,  de  Flandre  et  de  Brandebourg.  L'AIIemagne  passe 
des  princes  frangais  (Ludwig  der  Deutsche  und  seine  Nach- 
kommen sind  natürlich  Franzosen)  aux  ducs  de  Saxe  936!, 
zu  welchem  Jahre  dann  beiläufig  auch  die  Uebertragung  der 
römischen  Kaiserwürde  an  Otto  I.  erwähnt  wird.  Die  deutsche 
Geschichte  überhaupt  wird  mit  einer  musterhaften  Treue  und 
Gründlichkeit  behandelt.  Von  den  sächsischen  Kaisern  kennt 
dieser  Gelehrte  nur  Otto  I.,  von  den  fränkischen  keinen,  von 
den  Hohenstaufen  nur  Friedrich  II.  und  von  dem  Luxembur- 
ger Hause  wiederum  keinen.  Dass  es  das  illustre  maison 
d'Autriche  gewesen,  dessen  Joch  die  Schweizer  abgeschüttelt, 
und  nicht  das  der  Empereurs  d'Occident,  wie  er  will,  thut 
auch  wenig  zur  Sache.  Von  der  Geschichte  des  Papstthums, 
seiner  Unterordnung  unter  die  deutschen  Kaiser,  seiner Jlman- 
cipation,  seiner  Weltherrschaft  und  seinem  Falle,  der  doch 
in  jeder  Beziehung  die  französische  Geschichte  angeht,  mag 
der  Verf.  ganz  schöne  und  neue  Ideen- haben,  nur  schade, 
dass  er  sie  seiner  lernbegierige!  Jugend  vorenthält;  sie  muss 
sich  begnügen  zu  erfahren,  dass  die  Päpste  sich  lange  Zeit 
in  Avignon  aufgehalten  haben.  Dafür  ist  er  aber  um  so  aus- 
führlicher bei  der  Geschichte  der  Reformation,  wo  er  die 
ganze  christliche  Milde  seines  Ordens  im  schönsten  Lichte 
entfaltet. 

Man  verarge  uns  den  scherzhaften  Ton  nicht,  womit  vir 
diese  Bötiseh  des  ehrw.  Vaters  abgefertigt  haben,  aber  man 
erlaube  uns  ihm  und  seinen  Genossen  in  Deutschland  den 
Rath  zu  ertheilen,  erst  Geschichte  zu  lernen,  bevor  sie  es 
unternehmen,  die  Jugend  darin  unterrichten  zu  wollen.  Ein 
ganz,  anderes  Urtheil  müssen  wir  aber  über  die  Art  und  Weise 
fällen,  wie  derselbe  die  Kirchengeschichte,  namentlich  die  der 
Reformation,  mit  dem  Gifte  seines  tödtlichen  Hasses  gegen 
den  Protestantismus  erfüllt  und  die  Jugend  in  Grundsätzen 


Heber  das  Unterrichtstcesen  der  Jesuiten.  133 

errieht,  die,  wenn  sie  sich  verwirklichen,  nicht  anders  als 
den  Frieden  aller  Staaten  vernichten  können. 

Wir  werden,  um  die  Ansichten  der  heutigen  Jesuiten  in 
diesen  Punkten  näher  kennen  zu  lernen,  ausser  dem  Gours 
d'Hist,  auch  die  Hist.  eccläs.  und  die  Hist  de  France  benutzen. 

Im  Allgemeinen  muss  schon  der  finster-mönchische  Geist 
auffallen,  mit  welchem  die  Geschichte  und  Entstehung  der 
verschiedenen  Haeresien  aufgefasst  ist.  In  ihnen  erscheint  re- 
gelmässig der  Teufel  thatig.  Hist.  eccl6s.  S.  36  u.  41  le  demon 
oder  l'enfer  qui  voyant  les  idoles  renvers6es,  suscite  les  h6- 
rlsies;  ihr  ganz  eigentümlicher  Charakter  c'est  le  mensonge 
et  l'obstination *)  (ib.  S.  43).    Auch  von  dem  Ursprünge  des 

*)  Eine  ganz  ähnliche,  für  die  protestantische  Welt  noch  weit 
bedeutsamere  Aeusserung  hat  jüngst  Herr  Laurent,  General-Vicar 
von  Luxemburg,  päpstlicher  Haus-Prälat  etc.  in  einer  Art  Rund- 
schreiben zur  Eröffnung  des  von  ihm  begründeten  Priester -Semi- 
nars gemacht.  Er  schreibt  zuerst  den  Verfall  der  Kirche  inj  15. 
und  16.  Jahrhundert  dem  Umstände  zu,  dass  die  Mitglieder  der 
Kirche  selbst  vom  Zauber  stolzer  Wissenschaft  verlockt  wären. 
Sodann  fährt  er  fort:  „Da  so  die  Kinder  Gottes  sich  mit  den  Kin- 
dern der  Menschen  verbanden,  hatlen  bald  alle  Geister  ihre  Wege 
verdorben,  so  dass  es  Gott  den  Herrn  gereuen  musste  (!), 
die  Völker  aus  dem  Unterschiede  der  Sprachen  zur  Einheit  des 
Glaubens  geführt  zu  haben.  In  seiner  Gerechtigkeit  nahm  er  sei- 
nen Geist  von  den  fleischlich  gewordenen  Menschen  hinweg  und 
aus  den  geöffneten  Brunnen  des  Abgrunds  fuhren  die 
Geister  der  Lüge  über  die  Erde  herauf  and  es  entstand 
der  grosse  Abfall  vom  Glauben,  der  die  Christenheit, 
besonders  in  unserm  deutschen  Vaterlande  durch  und 
durch  spaltete,  und  der  Irr-  und  Unglaube  ergoss  sich 
über  die  Erde,  wie  eine  Sündfluth"  (abgedruckt  in  der  Lu- 
xemburger Zeitung  vom  22.  Februar  1845).  Herr  Laurent  erwirbt 
sich  Verdienste  um  Aufrechterhallung  der  deutschen  Sprache  auf 
jenen  vom  französischen  Elemente  von  jeher  gefährdeten  Grenzen 
unserer  Nation.  Will  er  aber  die  Einheit  des  Volks  so  verstehen, 
dass  sie  auch  die  Einheit  des  Glaubens,  in  seinem  Sinne,  herbei- 
führe, so  muss  Jeder,  dem  das  Wohl  des  gemeinsamen  Vaterlan- 
des am  Herzen  liegt,  aufs  Unumwundenste  hiergegen  Protest  ein- 
legen. Das  Land  gemischt  -  confessioneller  Bevölkerung  mag  sich 
freuen,  wo  in  diesem  Sinne  gebildete  Priester  eine  Einwirkung  auf 
das  Volk  erlangen. 


134  lieber  das  Unterrichtswesen  der  Jesuiten. 

Mahomedanismus  haben  sie  eine  dein  ganz  analoge  Ansieht 
(ib.  S.  59).  Au  commencement  du  7ifeme  siicle  le  dßmon 
youlut  avoir  un  empire  dont  il  Tut  le  seul  mattre,  et 
comme  c'ötait  dans  I'Eglise  d 'Orient  que  les  schismeset 
les  h6r£sies  avaient  eu  jusqu'alors  le  plus  de  succ&s,  ce  fut 
aussi  dans  cette  Eglise  que  Dieu  par  un  juste  effet  de 
sa  colfere,  lui  permit  d'ex^cuter  les  projets  de  destruction 
qu'il  mäditaif.  Mahomet  fut  l'instrument  dont  se  servit  1'esprit 
de  mensonge.  Yon  dem  Kampfe  des  deutseben  Kaisertums 
mit  dem  Papsttbum  erfahren  die  Schüler  auch  hier  nichts, 
wenn  man  nicht  die  S.  64  ausgesprochene  Ansicht,  dass  der 
Kaisertitel  KarTs  des  Grossen  eine  Belohnung  gewesen  sei, 
welche  die  Kirche  und  die  Römer  für  die  der  ersteren  er- 
zeigten Dienste  verliehen,  hieher  ziehen  will,  wobei  die  Schul- 
jugend freilich  sich  die  Frage  allein  beantworten  kann,  wer 
denn  der  Kirche  das  Recht  gegeben,  Kaisertitel  zu  verleihen. 
Von  der  Gefangenschaft  der  Päpste  heisst  es  gleichfalls  nur: 
Clement  V.  fixa  sa  r6sidence  4  Avignon.  Dagegen  enthüllen 
sie  ihre  wahre  Uerzensmeinung  bei  Erwähnung  des  Costnitzer 
Goncils  und  des  Todes  von  Johann  Huss  S.  87:  le  Concile 
ne  sollicita  point  son  supplice,  mais  il  laissa  agir  la  justiee 
du  Souverain,  qui  certainement  peut  pour  le  bien 
de  PEtat  punir  (d.h.  verbrennen)  ceux  qui  troublent 
l'ordre,  en  räpandant  de  mauvaises  doctrines,  sou- 
vent  plus  funestes  ä  la  tranquillitö  publique  que 
les  vols  et  les  assassinats*)  und  sprechen  auch  zu  uns 
Protestanten  in  unzweideutigem  Rüde,  wenn  sie  S.  88  die 
Einnahme  Constantinopels  durch  die  Türken  als  eine  puni- 
tion  manifeste  de  l'opinidtretö  des  Grecs  schismatiques  dar- 
stellen. Wissen  doch  die  protestantischen  Staaten  nun,  was 
ihnen  gewiss  bevorsteht,  da  das  endurcisseflkeat  der  Ketzer 
doch  noch  viel  mehr  criminel  sein  muss,  als  das  der  Schis- 
matiker.   Der  Höhepunkt  ihrer  Darstellung  ist  aber  die  Zeit 

m 

*)  Wir  erröthen  es  sagen  zu  müssen,  auch  ein  protestantischer 
Historiker,  Leo,  hat  im  zweiten  Theil  seiner  niederländischen  Ge- 
schichten beinahe  mit  Obigem  wörtlich  übereinstimmende  Grund- 
sätze geäussert. 


lieber  das  Unterrichtswesen  der  Jesuiten.  135 

der  Reformation,  wo  das  Lutherthum  entsteht,  cette  h£r£sie, 
la  plus  terrible  et  la  plus  funeste  qui  ait  attaquä  I'Eglise, 
cette  secte  favorable  aux  inclinations  corrompues  de  l'homme 
(ib.  S.  89  sq.).  Mit  einem  so  tiefen  und  innigen  Charakter  wie 
Luther  werden  sie  äusserst  leicht  fertig:  Esprit  inquiet  et 
ardent,  il  se  mit  ä  parier  et  ä  lerire  —  et  cet  amas  d'erreurs 
il  le  qualifia  du  nom  de  r6formation,  II  exhala  sans  m£na- 
gement  sa  bile  contre  le  souverain  pontife  et  contre  les  d6- 
fenseurs  de  la  foi  catbolique.  On  ne  peut  voir  sans  Indigna- 
tion les  bouifoneries,  les  grossieretäs,  les  turpitudes  m6me, 
dont  ce  fougueux  apötre  a  sali  ses  ouvrages  et  Ton  aurait 
peine  ä  concevoir,  comment  il  a  pu  söduire  tant  de  peuples, 
si  l'on  ne  conn^isflnt,  quelle  est  la  foree  de  la  passion  des 
richesses  et  des  plaisirs  sur  le  coeur  bumain.  Sie  stehen 
selbst  nicht  an  ihm  auch  noch  andere  Verbrechen  vorzuwer- 
fen S.  91 :  Luther  avait  pr6ch6  hautement  la  revolte  non  seu- 
lement  contre  I'Eglise,  mais  aussi  contre  les  Princes,  und  häu- 
fen ähnliche  Anschuldigungen  auf  Calvin,  wobei  die  Naive- 
tat  ihrer  Insinuationen  höchst  komisch  ist.  Hist.  de  France, 
k  l'usage  de  la  jeunesse  1840.  I.  Bd.  S.  284:  la  conjuration 
d'Amboise,  oü  les  Calvinistes  donnferent  le  premier  exemple 
de  la  fureur  que  Theräsie  peut  inspirer  contre  les 
puissances  legitimes,  wobei  sie  sich  denn  wohl  hüten, 
jenen  Fanatikern  der  Ligue,  welche  den  Königsmord  predig- 
ten, ihren  wahren  Namen,  Jesuiten,  zu  geben  und  sie  blos 
als.  certains  prädicateurs  beizeichnen  (ib.  S.  308).  Aber  was 
muss  der  Protestantismus  nicht  alles  ausbaden?  Auf  die  Frage 
(Hist.  eccl.  S.  99)  A  quelle  cause  doit-on  attribuer  Pincrädu- 
lit6  du  18.  siecle?  geben  sie  guten  Mutbs  die  Antwort:  la 
doctrine  de  Luther  et  de  Calvin,  teile  fut  la  source  fatale  d'oü 
sortit  l'increcjplitä  pour  se  propager  en  Angleterre  d'abord, 
puis  en  France,  et  de  \k  dans  toute  FEorope.   Sie  construi- 

»in  ihre  Geschichte  dann  weiter:  Der  Jansenismus  und  der 
nglaube  sind  die  Ursachen  der  Revolution  (Cours  d'Hist. 
S.  132,  Hist.  eccl.  S.  102,  Hist.  de  France  II.  104):  L'impiet6 
sous  le  nom  de  Philosophie  profite  des  plaies  faites  k  l'auto- 
ritö  eccläsiastique;  eile  obtient  la  suppression  de  la  Compa- 


136  lieber  das  Unterrichtswesen  der  Jesuiten. 

gnie  de  J6sus,  ( —  le  grand  obstacle  aux  progrfes  de  rincri- 
dulitö  —  de  tout  temps  le  fteau  de  I'incr6dulit6  et  de  I'h6r6- 
sie  —  par  wie  distinction  bien  honorable  on  lui  comptait 
autant  d'ennemis  qu'ä  la  religion)  et  dfeslors  eile  rtpand  pres- 
que  sans  obstacle  le  poison  de  la  licence  et  de  Pincrfduliti. 
La  foi  s'affaibit,  les  moeurs  se  däpravent  (erst  1773?  der  Hof 
Ludwig's  XIV,  ihres  bäros  chrätieu,  des  Regenten  und  Lud- 
wig's XV,  waren  ohne  Zweifel  sehr  tugendhaft),  les  principes 
de  l'anarcbie  se  propagent  et  minent  les  fondements  de  la 
soci£t£  et  de  la  Religion.  Nachdem  sie  sodann  nach  ihrer 
Weise  den  Fortgang  der  Revolution  geschildert,  schliessen  sie 
damit,  dass  die  princes  legitimes  par  la  plus  soudaine  et  la 
plus  beureuse  des  rävolutions  (!)  wiedeAuf  den  Thron  ge- 
stiegen, und  dass  der  erste  Act  des  (meist  durch  Ketzer  und 
Schismatikerl)  in  seine  Rechte  wieder  eingesetzten  Papstes  die 
Wiederherstellung  des  Jesuiten -Ordens  war.  Auch  in  der 
histoire  de  France,  wovon  uns  eine  Ausgabe  von  1840  vor- 
liegt, haben  sie  die  Geschichte  nicht  weiter  als  bis  1815  geführt. 

Wir  haben  uns  vielleicht  über  die  Gebühr  bei  ihrem  Ge- 
schichtsunterricht aufgehalten,  und  der  wissenschaftliche  Werth 
ihrer  Lehrbücher  wenigstens  würde  dies  in  keiner  Weise  recht- 
fertigen, aber  wir  haben  es  in  der  Absicht  gethan,  um  so  viel 
an  uns  ist  nachzuweisen,  dass  wenn  solche  Auffassungsweise 
der  Geschichte,  wie  es  allen  Anschein  hat,  auch  bei  uns  ein- 
dringt, und  die  Jugend  unseres  katholischen  Deutschlands 
in  diesem  Geiste  und  in  diesen  Lehren  erzogen  wird,  als- 
dann alle  Errungenschaften  früherer  Jahrhunderte,  die  Resul- 
tate langer,  unseliger  Kämpfe,  die  unserem  Vaterlande  sein 
Herzblut  gekostet  und  das  erniedrigte  Deutsehland  zum'  Spiel- 
ball fremder  Willkür  gemacht,  für  die  Zukunft  in  Frage  ge- 
stellt sind  und  dies  neue  unselige  Verwicklungen  herbeizu- 
führen nicht  verfehlen  würde. 

Wir  kehren  jetzt  zu  unserer  Aufgabe  zurück.  Dem  l^- 
terricht  von  Seiten  der  Schuljugend  eine  lebendige  Theilnahme 
zuzuwenden,  war  eine  Haupttendenz  der  Jesuiten.  Kann 
man  auch  zugeben,  dass  einzelne  ihrer  Einrichtungen  in  die- 
ser Reziehung  eine  nähere  Würdigung  und  vielleicht  selbst 


lieber  das  Unterrichtswesen  der  Jesuiten.  137 

Nachahmung  verdienten,  so  blieben  sie  doch  auch  hierin  ih- 
rem Principe  getreu  und  bewirkten  einen  grösseren  Wett- 
eifer einzig  durch  äussere,  nur  auf  die  Eitelkeit  und  Ehr- 
sucht der  Schüler  berechnete  Mittel,  nicht  aber  durch  Bele- 
bung der  idealen  Triebfedern  in  der  Jugend.  Hierhin  gehören 
vor  Allem  die  Akademien  d.h.  Vereinigungen  der  besseren 
Schüler  zum  Zweck  gemeinsamer  Hebungen  in  mündlichen 
Vorträgen  und  Disputationen,  der  Art,  dass  die  Schüler  der 
Theologie  und  Philosophie  eine  Akademie,  die  der  Rhetorik 
und  Poetik  eine  zweite,  und  die  der  drei  grammatischen  Gas- 
sen eine  dritte  Akademie  bildeten.  Dieselben  hielten  jährlich 
zweimal  unter  grossem  Gepränge  öffentliche  Sitzungen  und 
besassen  ausserdem  das  Recht,  aus  ihrer  Mitte  ihre  Beamten 
und  Vorsteher,  d.  h.  einen  Rector,  zwei  Räthe  und  einen  Se- 
cretair  zu  wählen;  einer  der  Glassen- Ordinarien  leitete  ihre 
liebungen  als  Moderator.  Die  Mitglieder  der  Sodalität  zur 
h.  Jungfrau  sind  eo  ipso  auch  Mitglieder  der  Akademie  ihrer 
Glasse  (Ratio  Studiorum  S.  221). 

Die  Versetzungen  fanden  jährlich  einmal  nach  den 
grossen  Ferien  statt.  Für  die  zu  diesem  Behufe  anzustellen- 
den Prüfungen  werden  die  Schüler  einen  Monat  lang  vor- 
bereitet (ibid.  207)«.  Bei  der  schriftlichen  Prüfung  giebt  der 
Praefect  das  Thema,  worauf  Niemand  von  den  Schülern,  nicht 
einmal  mit  dem  Praefecten  sprechen  darf.  Die  mündlichen 
Examina  werden  nicht  von  den  ordentlichen  Lehrern  der  Glasse, 
sondern  vom  Praefecten  und  zwei  durch  diesen  in  Gemein- 
schaft mit  dem  Rector  ernannten  Jesuiten  abgehalten.  Diese 
Examinatoren  haben  einen  vom  Hauptlehrer  angelegten  Gata- 
log,  wdrin  die  Schüler  nach  6  Kategorien  als  Optimi,  Boni, 
Mediocres,  Dubii,  Retinendi,  Rejiciendi  unterschieden  sind  (ib. 
S.  207),  in  Händen,  rufen  die  Schüler  je  drei  und  drei  zur 
mündlichen  Prüfung  auf  und  verkünden  unmittelbar  nachher 
das  von  ihnen  unter  Berücksichtigung  der  Gomposition  und 
der  vom  Lehrer  hinzugefügten  Note  das  Resultat  derselben 
(ib.  S.  199). 

Ausserdem  werden  noch  andere  Examina  Behufs  der 
Preisverteilung  angestellt.  Die  Rhetorik,  hatte  8  Preise, 


138  Heber  das  Unterrichtswesen  der  Jesuiten. 

die  Poetik  5,  die  erste  grammatische  Classe  6,  die  beiden 
übrigen  deren  4  zu  vertheilen.  Nachdem  die  Schüler  die  be- 
treffenden Ausarbeitungen  vollendet,  übergeben  sie  dieselben 
mit  einem  Motto  versehen;  ihr  Name  befindet  sich  in  einem 
mit  demselben  Motto  versehenen  und  versiegelten  Papier.  Die 
drei  Richter,  von  welchen  der  Eine  ein  Fremder  sein  kann, 
geben  ihr  Urtheil  mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Form 
der  Ausarbeitung,  worauf  dann  am  festgesetzten  Tage  mit  fei- 
erlichen Worten  ein  Praeco  dem  Sieger  den  Preis  ertbeilt, 
und  ein  carmen  brevissimum  recitirt,  was  sogleich  von  den 
Sängern  wiederholt  wird  (Rat.  St.  S.  202).  Abgesehen  von 
diesen  öffentlichen  Preisen  hat  jeder  Lehrer  in  seiner  Classe 
den  Wetteifer  und  den  Ehrgeiz  seiner  Schüler  durch  Privat- 
preise oder  Siegeszeichen  anzustacheln,  und  damit  Einzelne 
zu  belohnen,  welche  entweder  ihren  Gegner  besiegt  oder  ein 
Buch  ganz  auswendig  gelernt,  oder  sonst  dergleichen  „Illu- 
stres" getban  haben. 

Dieselbe  Verweltlichung  des  Unterrichtes,  die  wir  hier 
schon  wahrnehmen,  zeigt  sich  auch  in  den  vielbesprochenen 
öffentlichen  Aufführungen,  so  wie  in  der  Einrichtung,  dass 
die  besten  Gedichte  oder  Gompositionen  der  Schüler  öffent- 
lich angeschlagen  wurden  (ib.  S.  210).  Nicht  minder  aber 
auch  in  den  Goncertationen  zweier  Glossen  untereinander 
(de  iis  tantum  rebus,  quae  utrique  .classi  communes  sunt  ib. 
S.  206),  wo  immer  je  zwei  oder  drei  Schüler  mit  einan- 
der disputiren  und  sich  durch  Fragen  in  die  Enge  zu  trei- 
ben suchen  (siehe  oben).  Welche  Wonne  dann  für  die  nie- 
dere Classe,  wenn  sie  die  höhere  besiegt  und  welche  Schmach 
für  die  letztere!  Aufs  Schärfste  aber  trat  dies  unsittliche  Mo- 
ment, die  Schüler  allein  durch  Ehrgeiz  zu  bewegen,  in  den 
besonderen  Monats-Goucertationen  jeder  Classe  hervor.  Diese 
wurden  vorgenommen,  um  die  besten  der  Schüler  mit  den 
prangenden  Namen  des  Alterthums  zu  schmücken,  so  gab  es 
in  jeder  Classe  ein  Rom  und  ein  Carthago,  in  beiden  zwei 
Gonsulen,  hierauf  Senatoren  und  Ritter.  Die  letzten  Bänke 
nahm  die  Plebs  ein,  über  denselben  waren  Eselsköpfe  und 
andere  sinnreiche  Embleme  befestigt,  mit  der  Inschrift;  JNos 


lieber  das  Unterrichtstceten  der  Jesuiten.  13$ 

numerus  sumus,  fruges  consumere  nati  (R.  St.  S.  206.  Söke- 
land  S.  22).  Jeder  Schüler  hatte  so  seinen  Aemulus,  der  seine 
Arbeit  durchsah  und  die  Fehler  anstrich,  bevor  dieselbe  in 
die  Hände  des  Lehrers  kam. 

Diese  Einrichtung  regte  unzweifelhaft  den  Wetteifer  der 
Schüler  an.  Indem  die  Jesuiten  aber  einen  der  wesentlich- 
sten Zwecke  bei  Betreibung  classischer  Studien,  das  jugend- 
lich reine  Gemüth  mit  den  Idealen  des  Alterthums  zu  erfül- 
len, verkannten,  statt  dessen  aber  nur  weltliche  Triebe  in  sie 
pflanzten,  das  Herz  der  Knaben  vom  Anbeginn  an  vergifteten, 
und  sie  zu  aufgeblasenen  hochmüthigen  Geschöpfen  machten: 
darf  es  nicht  Wunder  nehmen,  wenn  die  Schulzucht,  wel- 
che von  dem  sittlichen  Geiste  des  Institutes  zeugen  soll,  in 
fast  allen  ihren  Instituten  äusserst  zerrüttet  war.  Zwar  fehlt 
es  auch  in  dieser  Beziehung  an  Verordnungen  nicht;  es  sind 
selbst  Vorschriften  über  Beobachtung  des  Susseren  Anstandes 
vorbanden,  welche  auch  das  Kleinste,  Unbedeutendste,  Gleich- 
gültigste nicht  dem  eignen,  freien  Antriebe  überlassen,  und 
den  Schüler  wirklich  zu  einem  willenlosen  Stab  in  der  Hand 
seines  Oberen,  zu' einem  Leichnam  machen,  (perinde  ac  ca- 
daver  essent!)  *)  Es  schreibt  die  Rat.  St  S.  200  ausdrücklich 
vor,  die  Lehrer  sollten  im  Geiste  der  Milde,  des  Friedens 
und  der  Liebe  mit  den  Schülern  verfahren ;  aber  dennoch  fin- 
den sich  auch  Anweisungen,  dass  man  die  Excedenten, 
wenn  sie  sich  weigern,  die  dictirten  Schläge  zu  empfangen, 
sobald  dies  mit  Sicherheit  geschehen  könne,  zwin- 
gen, oder  anderen  Falles  fortschicken  solle.  Zu  den 


*)  Instit.  Soc.  Jesu  IL  114  Regulae  modestiae.  2.  Caput  huc 
illuc  leviter  non  moveatur,  sed  cum  gravitate  ubi  opus 
erit,  et  si  opus  non  sit,  teneatur  rectum  cum  moderata 
inflexione  in  partem  anteriorem,  ad  neulram  partem 
deflectendo.  3.  Ocuios  demissos  ut  plurimum  teneant,  nee  im- 
moderate  eos  elevando,  nee  in  banc  aut  illam  partem  circumfle- 
ctendo.  4.  toter  loquendum,  cum  homiuibus  praesertim  alieujus 
auetoritatis,  non  defigatur  aspectus  in  eorum  vultus,  sed  potius 
sub  ocuios.  5.  Rugae  in  fronte,  ac  multo  magis  in  naso 
evitenlur.  6.  Labia  nee  nimium  compressa,  nee  nimium 
dedueta. 


140  lieber  das  Unterrichtswesen  der  Jesuiten. 

Züchtigungen  war  ein  eigener  Corrector  vorhanden,  der  nicht 
zur  Gesellschaft  gehörte.  Weil  aber  eben  der  Geist  des  gan- 
zen Schulinstitutes  der  Jesuiten  ein  falscher  und  lügnerischer 
ist,  so  klagen  auch  die  Geschichten  fast  aller  ihrer  Schulen 
über  den  gänzlichen  Verfall  der  Zucht,  so  namentlich  auch 
Sökeland  S.  29,  welcher  die  Bemerkung  macht,  dass  man  in 
unseren  Tagen  den  Untergang  aller  bürgerlichen  Ordnung  vor- 
hersagen würde,  wenn  auf  unseren  Schulen  nur  ein  Drittheil 
des  Unfugs  geübt  würde,  der  auf  dem  Münster'schen  Gymna- 
sium vorgekommen  ist  Auch  hierin  ist  der  Charakter  jesuiti- 
scher Pädagogik  noch  heutigen  Tages  sich  gleich  geblieben.  Was 
man  von  Gutunterrichteten  über  das  Freiburger  Institut  ver- 
nimmt, stimmt  ganz  mit  dem  Obengesagten  überein.  Die  gross- 
ten  Excesse  sind  dort  an  der  Tagesordnung;  die  Schüler  füh- 
ren Pistolen  und  Messer  und  gebrauchen  sie  nicht  selten  gegen 
die  Professoren,  trotzdem  dass  diese,  um  den  Hass  der  Be- 
straften von  sich  abzulenken,  die  Züchtigungen  durch  maskirte 
Diener  vornehmen  lassen,  wobei  die  jungen  Leute  oft  den  kin- 
dischsten, ja  den  unanständigsten  Strafen  unterworfen  werden. 
Nicht  ohne  ein  inneres  Widerstreben  können  wir  hier 
noch  anderer  Anklagen  gedeuken,  welche  der  Ritter  von  Lang 
1815  gegen  die  Jesuiten-Schulen  erhoben  und  die  das  grau- 
envollste Licht  auf  die  bodenlose  Unsittlichkeit  werfen,  welche 
wenigstens  in  ihren  Gollegien  des  oberen  Deutschlands  ge- 
herrscht haben  muss.  Was  diesen  Beschuldigungen  ein  so 
grosses  Gewicht  verleiht,  ist  der  Umstand,  dass  Lang's  betref- 
fende Schrift  nicht  etwa  Anklagen  oder  Verläumdungen  Sei- 
tens der  Feinde  der  Jesuiten  enthält,  deren  Werth  ein  rela- 
tiver und  fraglicher  wäre,  sondern  sich  vielmehr  auf  die  un- 
widerleglichsten  Actenstücke  gründet,  die  aus  den  bei  Auf- 
hebung des  Ordens  in  die  Hände  der  bairischen  Regierung 
gefallenen  Archiven  der  Gesellschaft  herrühren.  Hier  sind  es 
also  die  amtlichen  Berichte  der  Jesuiten  selbst,  welche  die 
entsetzlichste  Unsittlichkeit  ihrer  Gollegien  ins  hellste  Licht 
stellen.  Betitelt  ist  Lang's  Bücheichen*)  nach  dem  Vater  Ja- 


*)  Jacobi  Marelli  S.  J.  Amores  e  Scriniis  Provinc.  Super.  Ger- 


Ueber  das  Unterrichtsioe&en  der  Jesuiten.  141 

cob  Marel,  welcher  im  Augsburger  Gollegium  sich  die  schnö- 
deste Unzucht  mit  seinen  Zöglingen,  besonders  denen,  welche 
Adel  der  Geburt  und  körperliche  Schönheit  auszeichnete,  er- 
laubte und  sie  namentlich  durch  grosse  Geschenke  in  seine 
verbrecherischen  Absichten  zu  willigen  vermochte.  Es  sind 
die  edelsten  reichsfiirstlichen,  noch  heute  blühenden  Geschlech- 
ter, v.  Ö.,  v.  F — B.  und  F — K — W.,  deren  Sprösslinge,  von 
seinen  unzüchtigen  Begierden  befleckt,  die  Berichte  des  Con- 
sultors  Jac.  Banholzer  und  des  Beichtigers  Ignatius  Erhard  an 
den  Pater  Provinzial  des  oberen  Deutschlands,  durch  ihr  eig- 
nes schriftliches  Zeugniss  bestätigt  haben!  So  gross  war  die 
Verruchtheit  des  Marel,  die  Details  erfüllen  den  Leser  wirk- 
lich mit  dem  tiefsten  Grauen,  dass  die  Zöglinge  selbst  fürch- 
teten, dass  Marel,  wenn  er  das  Venerabile  emporhielte,  um 
das  Volk  zu  segnen,  einst  vom  Blitze  getroffen  darnieder  sin- 
ken möchte.  Aber  Marel  war  nicht  der  einzige  Verbrecher 
dieser  Art  in  seinem  Orden;' Lang  sagt  in  der  Vorrede,  er 
könne  ähnlicher  Vergehen  der  Jesuiten  noch  mehr  denn  100 
nachweisen  und  giebt  uns  im  Anbange  noch  die  Liste  von 
gegen  30  gleicher  Vergehen  überführten  Mitgliedern  der  Ge- 
sellschaft, deren  Schuld  die  Actenstücke  desselben  Archivs 
constatiren,  und  die  sämmtlich  in  der  letzten  Hälfte  des 
17.  Jahrhunderts  gelebt  haben.  Was  hierbei  besonders  auf- 
fällt, ist  wie  die  laxe  Moral,  welche  man  ihrem  Orden  Schuld 
gegeben  und  die  derselbe  immer  von  sich  abgelehnt  hat,  hier 
wirklich  in  Fleisch  und  Blut  übergegangen  erscheint,  so  dass 
Victor  Wagner,  der  in  Luzern  11  Knaben  in  ipsa  Cathedra 
stuprirte,  öffentlich  lehrte:  haec  sine  peccato  licere  und  Ma- 
rel selbst,  ganz  im  Sinne  und  Geiste  des  Quietismus  die  Kna- 
ben zu  jener  Sünde  durch  die  Vorstellung  zu  bewegen  wusste: 


maniae  Monachü  nuper  apertis  brevi  libello  expositi  per  K.  H.  de 
Lang.  Monachü  1815.  Diese  Ausgabe  wurde,  wie  man  sagt,  ihrer 
Zeit  von  den  Jesuiten  beinahe  ganz  aufgekauft.  Xav.  Schneider  hat 
sie  neuerdings  (1837),  mit  einer  Uebersetzung  versehen,  wieder 
herausgegeben,  und  sie  wohl  aus  dem  genannten  Grunde,  unter 
dem  sonderbaren  Titel:  Notice  sur  l'instruction  secondaire  unter 
das  Publicum  verbreitet» 


142  lieber  das  Unterrichtswesen  der  Jesuiten. 

licere  ista  omnia,  modo  absil  consensus  in  voluptatem.  Nicht 
minder  bemerkenswert!!  ist  aber  auch  die  Schwachheit  und 
die  Nachsicht  der  Oberen  diesen  Freveln  gegenüber;  der  Art, 
dass  die  gewöhnlichen  fleischlichen  Vergehen  des  Jesuiten  Fer- 
dinand gar  nicht  nach  Born  gemeldet  (inter  parietes  meliora 
edoctus  puniatur),  dieselben  beim  Pater  Georg  Lauth  nicht 
für  hinreichend  erachtet  werden,  um  ihn  aus  der  Gesellschaft 
zu  entfernen,  beim  Pater  Theodor  Beck  die  Stupration  von 
10  Knaben  nur  mit  Auferlegung  eines  jejunium  sabbattnum 
bestraft,  der  Pater  Herler,  desselben  Verbrechens  gegen  17 
junge  Leute,  worunter  13  aus  den  besten  Familien,  überfuhrt, 
nach  einem  entfernteren  Gollegium  versetzt,  und  als  er  auch 
hier  wieder  in  die  alte  Sünde  verfällt,  Augustiner  zu  werden 
gezwungen,  Jacob  Marel  endlich,  wegen  seiner  Vergehen,  ein- 
fach aus  der  Gesellschaft  entlassen  wird.  Dies  Alles  aus  Buck- 
sicht für  die  bona  fama  societatisl 

Uns  bleibt  hier  nichts  weiter  übrig,  als  einen  Ausspruch 
des  ehrw.  Pater  v.  Bavignan  anzuführen.  La  culpabilitä 
d'une  sociätä,  sagt  derselbe  S.  8,  nepeütavoir  une  ex- 
pression  pratique  et  juste  que  daos  les  fautes  de 
ceux  qui  la  composent.  A  ceux-ci,  aux  individus, 
appartiennent  l'action,  le  crime,  la  vertu.  Quels  sont 
parmi  nous  les  coupables? 

Dr.  R.  Wilmaos- 


Ii£ 


Zur  beschichte  des  Kaiser«  Jullanu». 


1.    Die  chronologische  Bestimmung  von  Julian's 

Jugendgeschichte. 

In  keinem  Punkte  von  Julian's  Geschichte  stossen  wir  auf  so 
viele  Dunkelheiten  und  Schwierigkeilen  wie  bei  dem  Versuche,  die 
verschiedenen  Angaben  über  seine  Jugendzeit  zu  verbinden  und 
in  eine  entsprechende  Ordnung  zu  bringen.  Gibbon  z.B.,  der 
sich  noch  am  gründlichsten  darauf  einlässt,  stellt  die  ungenaue  Be- 
hauptung auf,  Julian  habe  in  Mailand  7  Monate  in  bestandiger  To- 
desfurcht geschmachtet  ((II,  206  der  Wiener  Ausgabe)  und  fügt  in 
einer  Note  die  noch  unrichtigere  Bemerkung  hinzu,  Julian  vergrös- 
sere in  seinem  Sendschreiben  an  die  Athener  absichtlich  seine  Lei- 
den, indem  er,  obwohl  in  dunkeln  Ausdrücken,  zu  verstehen  gebe, 
dass  dieselben  über  ein  Jahr  gedauert,  ein  Zeitraum,  der  sich  mit 
der  chronologischen  Wahrheit  nicht  vereinigen  lasse.  Auch,  ist  es 
nicht  richtig  berechnet,  wenn  Gibbon  den  Aufenthalt  Julian's  in 
Athen  auf  sechs  Monate  bestimmt.  Und  solcher  Irrthümer  liessen 
sich  bei  Andern  noch  mehre  nachweisen,  z.  B.  bei  Neander  (über 
den  Kaiser  Julian)  S.  80.  93  die  mangelhafte  Datirung  der  Reise  nach 
lonien,  die  quellen  widrige  Behauptung  eines  dreimaligen  Aufenthalts 
in  Athen  (S.  83.  86)  u.  A.  Es  scheint  daher  passend,  die  Quellennach- 
richten über  diesen  Zeitraum  zusammenzustellen  und  zu  prüfen. 

Wenn  JuKan  bei  seinem  Tode  im  J.  363  32  Jahre  alt  war,  so 
war  er  demnach  im  J.  331  geboren.  Am  22.  Mai  337  starb  Con- 
stantmus  und  nach  dessen  Tode  wurden  bekanntlich  alle  Glieder 
des  kaiserlichen  Hauses  ausser  den  drei  Söhnen  des  Constantin 
und  Gallus  und  Julianus,  auf  directes  oder  indirectes  Anstiften  des 
Constantius  von  der  Soldateska  ermordet.  Den  Gallus  rottete,  dass 
er  grade  todkrank  war,  den  Julianus  sein  zartes  Aller.  Libanius,  der 
dies  berichtet,  sagt  (oratt.  I,  525  Reiske):  ovrog  de  xal  nqecßvzeqog 
äfcXg>ig  bfAondxqtog  rov  noXi)v  öiacpevyova*  tpovov,  jiv  fälv  vögov 
facapivitSj  q  nqdg  &dmiov  dno%yifitw  iS6xu,  rdv  de  irjg  ifiiatiag, 
—  äqx*  yäq  dnijXXaxio  ydXaxrog.    Sokrates,  der  sich  im 


144  Zur  Geschichte  de$  Kaisers  Jutianus. 

Uebrigen  an  ihn  anschliesst,  gerätb  in  Beziehung  aof  die  Berech- 
nung des  Allers  auf  das  entgegengesetzte  Extrem;  er  sagt  nämlich 
(III,  1,  S.  135  C):  'Iovhaviv  de  rj  rjUxCa  {dxxaex^g  yuq  fy  in) 
dU<SU)Gtv.  Und  ebenso  Sozom.  V,  2,  S.  482  fin.:  in  yäq  Sydoov 
fjTuxtag  Ijysv  irog;  nur  ist  hier  deutlicher  ausgesprochen,  dass  er 
das  achte  Jahr  noch  nicht  vollendet  hatte.*)  Dies  stimmt  gleich  wohl 
nicht  zu  der  Chronologie.  Im  Sommer  337  war  Julian  erst  sechs  Jahre 
alt  und  man  kann  durch  kein  Mittel  acht  herausbringen.  Nur  jene 
Zahl  stimmt  auch  recht  zu  dem  Zusammenhange.  Ein  achtjähriger 
Knabe  ist,  vollends  im  Orient,  von  der  Reife  nicht  so  entfernt,  dass 
er  ganz  und  gar  ungefährlich  erscheinen  könnte.  Mst*  iviavzüv 
ißiofiov  wurde  Julianus,  wie  er  selbst  angiebt  (Misopog.  352  CJ, 
dem  Eunuchen  Mardonius  zur  Erziehung  übergeben.  Wo  er  sich 
damals  aufgehalten  habe,  darüber  haben  wir  keine  directe  Angabe; 
nur  wissen  wir,  dass  die  Güter  seines  ermordeten  Vaters  von  Con- 
slantius  'eingezogen  worden  waren  (Jul.  ad  Athen.  273  B)  und  ihm 
so  nur  sein  mütterliches  Vermögen  blieb,  zu  welchem  unter  An- 
derem  ein  Gut  in  Bithynien  gehörte,  von  welchem  er  Epist.  46  sagt: 
zotiro  Ipol  (luqaxty  xofjudfj  vim  nedtov  idöxet  tptXiaiov.  Er  wird 
also  wohl  seine  Knabenzeit  entfernt  vom  Hofe  und  von  diesem  un- 
beachtet (wenigstens  sah  ihn  Constantius  erst  in  Kappadokien  zum 
ersten  Male  ad  Ath.  S.  274  A)  auf  seinen  mütterlichen  Besitzungen 
zugebracht  haben. 

Von  jetzt  an  werden  die  Angaben  widersprechend  und  unklar. 
Vor  Allem  handelt  es  sich  um  Julian's  Aufenthalt  in  Constantino- 
pel,  in  Bezug  auf  welchen  es  sich  fragt,  ob  er  zweimal  Statt  hatte, 
einmal  vor  der  kappadokischen  Gefangenschaft,  das  andere  Mal 
nach  derselben,  oder  ob  nur  einmal  und  zu  welcher  Zeft  alsdann? 
Stellen  wir  die  Quellenangaben  zusammen.  Libanius  lasst  (or.  Fu- 
nebr.  I,  S.  525.  Reiske)  auf  die  Erzählung  der  Rettung  des  Lebens 
von  Julian  die  Worte  folgep:  dtiiqiße  mal  rovg  Myovg  iv  ttJ  pt- 
ytotfl  pträ  u)v  cPa>fw/v  noXtt  (d.  h.  Constantinopel)  yontov  $ig  bV 
dacxaXelov  . .  ov  coßdSv  ovdi  Xvnwv  ovd*  ä&äv  unoßXiTt&S&ak  JmI 
nXfj&og  äxoXov&wv  xal  ibv  da?  txttvtov  &6$vßov  aXV  cvyovgrfg 
n  ßiknCTOg  awcpqoövvrig  <pvXa%  (Mardonius)  xal  naiday&yiq  §n- 
Qog  ovx  äpoiQog  navdttag.  löxhjg  n  fierqCa  u\  s.  f.  (I,  526):  rjStj  (Je 
nq6<St\ßog  rjv  xal  rd  Trjg  yvtieuig  ßatoXixdv  noXXoTg  xal  ptydhotg 
t(X(Ar}(>toig  ifirjvvaq.  xal  ravia  ovx  eXa  xa&tvduv  Kwytndmor. 
StCaag  de  firj  noXv  fisydXrj ...  Imtinatöß  nqbg  vfyv  äqeTrjv  rov  vtov 

*  '  '  ■  ♦ 

*)  Bei  dieser  Uebereinstimmuog  der  Nachrichten  ist  nicht  abzusehen, 
-wie  Markus  von  Areihusa  einen  wesentlichen  Einfluss  auf  Julian's  Errettung 
gehabt  haben  könne,  von  welchem  Gregor  von  Naz  (orat.  Ul,  S.  90  C)  sagt: 
twv  ereo'wxoTWv  rov  sc,ayiarov  njvixa  ro  yevoq  arvry  xav  extv&uvi've  *cu 
<5ta  3X0*179  \)Xtttay<xyövTwv  tu;  wutoq  fjv. 


Zur  Geschickte  des  Kaisers  Julianus:  145 

. .  nipmt  adtdv  dg  rfjv  Nixofirjdovg  ttöXiv  (wie  Libanius  in  seiner 
Eigennamen  umgehenden  Rhetorenmanier  Nikomedia  benennt),  nat- 
dtvead-ai  d*  iCötaciv  QovaCav.  6  6i  ov  tponä  fiev  naq*  ipi,  rov£ 
Xöyovg  6s  (dvov/mevog  SjmXwv  ovx  tXöei.  Durch  diese  Beziehung  auf 
seine  eigene  Person  wird  Libanius'  Zeugniss  noch  beachlenswer- 
(her.  Sichtlich  kannten  und  benutzten  ihn  Sokrates  und  Sozome- 
nus.  Jener  erzählt  (III,  1,  S.  143  f.  Vales.):  iml  %  xaj  avnov  (Gal- 
lus  uud  Jul.)  tov  ßuöMwg  oqfirj  (wie  sie  sich  in  der  Ermordung 
ihrer  Verwandten  bewiesen  hatte)  ixtxavvww,  rdXXog  fuv  roig  iv 
ylwv(u  xarä  Trjv  7>E<p€<Tov  Itpoda  StdaüxdXovg,  h&a  aviolg  xal 
xrij<ug  jjv  ix  nqoyövatv  noXhi\  (vergl.  Liban  I,  531  R.).  YovXiavdg 
de  av£r]&flg  twv  iv  Kwv&mnCvov  noXn  TtoudevTriqttov  rjxqodio, 
dg  t%v  ßa&XiXTJVj  iv&a  töib  tu  naiSivi^qia  rp,  iv  Xntö  tyiffian 
nqoia)v  xal  V7i6  Maqöovtov  rod  evvov%ov  Ttaiiaytayov'iMvog.  (Nach- 
dem er  sodann  Julian's  (christliche)  Lehrer  in  der  Grammatik  und 
Rhetorik  genannt,  fährt  Sokrates  (S.  144  A)  fort:  äx/id^ovrog  6i 
avxov  mql  TOvg  Xöyovg  <ptffMi  Hg  dg  tov  6rj(iov  SUrq^BV  (hg  ettj 
txavdg  rot  cPo)fiaC(ov  nqdyfiaxa  dtOMUv*  xal  tovto  Xomiv  tpavt- 
qwg  &qvXXov(isvov  taqax^v  Inoiu  reo  ßaötXet.  dw  ps&tGirjaw  ad- 
tov  ix  Tfjg  fi$yaXo7fdXi(og  dg  ttjv  NixofitfdHav.  Offenbar  ist  nach 
diesen  beiden  Schriftstellern  der  Hergang  folgender:  Julianus  be- 
suchte als  Knabe  und  angehender  Jüngling  unter  der  Aufsicht  des 
Mardonius  die  Unterrichtsanstalten  zu  Gonstantinopel  in  dem  Auf« 
zuge  eines  Nacbgeborenen ;  als  aber  seine  Talente  und  Fortschritte 
die  Bücke  und  die  Neigung  des  Volkes  ihm  zuwandten,  entrückte 
ihn  der  eifersüchtige  und  ängstliche  Constanlius  nach  Nikomedia. 
Ein  Theil  dieser  Darstellung  wird  dadurch  bestätigt,  dass  nach  der 
schon  aufgeführten  Angabe  des  Julianus  selbst  Mardonius  wirklich 
sein  Pädagog  war.  Dagegen  widerspricht  den  meisten  dieser  Data 
der  Bericht  des  Sozomenus.  Dieser  erzählt  (V,  2,  S.  465  f.  Vales.) 
zuerst  ausführlich  die  Gefangenschaft  der  beiden  Brüder  in  Makel- 
lum  und  fährt  dann  fort  (S.  166  C):  find  xqovov  nvä  Ttavaafiivov 
KiüvGravrtov  Tfjg  oqyfjg  (also  dieselbe  Wendung,  mit  welcher  So- 
krates von  dem  Attentat  auf  das  Leben  der  Brüder  weiter  gegan- 
gen war),  rdXXog  /mv  dg  t^v  *AoCav  iX&wv  iv  *E<p£ocö  dt,hqißtv, 
iv&a  drj  rd  nXtCw  tfig  ovatag  efyev  (ganz  wie  Sokrates).  °lovXia- 
vbg  di  dg  KwvGTavrwov'noXiv  inavtX&wv  rolg  ixuGt  dtdacxd- 
Xo&g  i<poCra.  cfricewg  di  tv  %%{xiV  *a*  T0?S  ficid^fiact  fyadfwg  IxoV 
iovg  ovx  iXdv&avsv  iv  IÖhätov  yäq  cxrfpan  rdg  nqoöoovg  nowv'- 
fuvog  noXXolg  GvvtyCvtTO*  irrst  de,  ola  cpiXtT  iv  öfiCXtp  xal  ßatik- 
Xsvovöfl  nöXet,  ädsXyög  wv  tov  xqaroVvTog  xal  nqdyfiara  dwtxtlv 
Ixavdg  elvai  <pawö(itvog  TfQogsdoxuro  ßatiiXvouv  xal  noXvg  mql 
avTOv  TOiovxog  ixqdui  X6yog,  nqogndx&vi  iv  NMoprjäda  didyuv. 
Also  ganz  dasselbe,  was  Libanius  und  Sokrates  indirect  vor  die 

Ztiuchrifl  f.  Gefcbichtsw.    IV.  184".  IQ 


146  Zur  Geschichte  da  Kaieere  Juüamti. 

kappadokische  Haft  setzen,  6etzt  Sozomenus  Ausdrücklich  nach  der- 
selben; so  Gallus  Aufenthalt  in  Ephesus,  so  Julians  Studien  in 
Coostantinopel.  In  Bezug  auf  das  Erstere  scheint  Sozomenus  nun 
gleich  im  Unrecht  zu  sein;  denn  dass  Gallus  und  Julianus  gleich* 
zeitig  aus  Aiakellum  entlassen  wurden,  und  zwar  jener  um  vom 
Kaiser  zum  Cäsar  ernannt  zu  werden  und  alsbaid  .an  seinen  Po* 
sten  nach  Antiochia  abzugehen,  wird  durch  viele  Zeugnisse  ausser 
Zweifel  gesetzt;  m.  s.  Jul.  ad  Athen.  S.  270  D.  971  D.  Gregor  Nazor. 
III,  S.  61  D:  tdv  (Mv  äishpdv  rj  (piXayd-qumia  rov  avTOXQdroQog 
&nodkttw<S{,  ßatoXia,  —  «ff  6*1  wrrJQZ*  ***«£  noXXtjy  Qowrfar  xai 
ädnav  u.  s.  f.  Liban.  or.  I,  S.  527  R.:  ixshup  (ih>  ovr  fiiv  ubqI  tovz* 
fj  GTrovty  (in  Nikomedia),  rd!  d*  ddtXcpcß  yCvrcav  /utiomrfo  zijg  ßa- 
CiteCag  xarä  ri  dsvuQov  äxfjpa;  Ammian.  11.  XIV,  1,  1  von  Gal- 
lus: ex  sqvalore  nimio  miseriarum  ...  ad  principale  culmen-pro- 
vectus,  vergl.  Tillemont  hist.  des  emp.  IV,  S.  694,  not.  2.  Was  aber 
die  andere  Differenz  betrifft,  die  in  Bezug  auf  Julian's  Studienzeit 
in  Constantinopel,  so  scheint  eine  Vermittlung  nahe  zu  liegen.  We- 
der Libanius  noch  Sokrates  sprechen  nämlich  von  Julian's  Haft  in 
Ifakellum,  vielleicht  weil  sie  nichts  davon  wissen;  der  Erstere,  der 
doch  wohl  Julian's  Sendschreiben  an  die  Athener  gelesen  hatte, 
vielleicht  aus  Versehen  oder  mit  Absicht;  Sozomenus  aber  ist  mit 
Julian  derjenige,  welcher  die  genauesten  Notizen  über  diese  Haft 
mittheilt.  Sechs  Jahre  lang  (Jul.  ad  Ath.  S.  271  B)  war  nämlich  Ju- 
lian mit  seinem  Bruder  Gallus  in  fundo  Maceili  (Amm.  Bl.  XV,  2, 7. 
vergl.  Sozom.  X,  2,  S.  165  D  Vales.  nqoq%jdxd^aav  iv  KaTtmioxfa 
iutTQlßtw  iv  MaxiXkw,  welcher  Aufenthalt  von  Soz.  als  ein  ganz 
erträglicher  dargestellt  wird),  von  allem  standesgemässen  Umgänge 
abgesperrt  (ad  Ath.  S.  271  C)  —  denn  der  Besuch  des  Constantius 
(ad  Ath.  S.  274  A)  war  ein  vorübergehender  und  hatte  wohl  andere 
Zwecke  — ,  allein  auf  Bücher  (vergl.  z.  B.  Jul.  Epist.  9  extr.)  und 
ihre  Dienerschaft  angewiesen.  Da  von  hier  aus  Gallus  zum  Cäsar 
ernannt  wurde  und  dieses  im  März  351  geschah,  so  wissen  wir, 
dass  der  Anfangspunkt  dieser  sechsjährigen  Gefangenschaft  das  Jahr 
345  ist,  wo  Julian  14  Jahre  alt  war.  Es  liegt  nun  die  vermittelnde 
Annahme  nahe,  dass  Julian  sowohl  vor  seiner  kappadokisohen  Ge- 
fangenschaft, als  nach  dieser,  in  Constantinopel  studirt  habe,  und 
darauf  führt  Sozomenus'  Ausdruck:  er  sei  dahin  zurückgekehrt 
'(ArawAdW),  von  selbst.  Nun  fragt  sich  zuerst,  welche  von  bei* 
den  Studienzeiten  die  Eifersucht  des  Constantius  erregte?  Nimmt 
man  die  frühere  an,  so  hat  man  den  Vortheil,  dass  nun  die  kappa- 
dokische Haft  nicht  mehr  so  unmotivirt  dasteht,  und  dass  mit  ihr 
nun  wirklich  die  Reihe  dessen  beginnt,  was  Julianus  persönlich 
durch  Constantius  erlitten  (da  die  Ermordung  seines  Vaters  und 
älteren  Bruders  und  die  Einziehung  seines  Vermögens  früher  Statt 


Zur  Geschichte  des  Kaisers  Juliama.  147 

halte,  als  Julian's  Selbstbewusstsein  vollständig  wach  war),  wie 
Julian  selbst  es  darstellt  ad  Äth.  S.  271  B;  für  die  zweite  sich  zu 
entscheiden,  könnte  man  durch  den  Umstand  veranlasst  werden, 
dass  bei  dem  alsdann  schon  vorgerückteren  Alter  des  Julian  die 
Eifersucht  des  Constantius  natürlicher  erscheint,  und  dass  die  An- 
gabe des  Libanius  mehr  zu  ihrem  Rechte  kommt,  da  dieser,  in 
Nikomedia  wohnend,  doch  wohl  darüber  unterrichtet  war,  von  wo 
aus  Julian  in  diese  Stadt  gekommen  sei.  Indessen  wird,  was  das 
Letzte  betrifft,  die  Untrüglichkeit  von  Libanius'  Angaben  durch  seine 
Auslassung  der  historisch  feststehenden  kappadokischen  Haft  be- 
deutend vermindert,  und  in  Bezug  auf  das  Erste  ist  es  zweifelhaft, 
ob  Constantius,  wenn  Julian  schon  erwachsen  war,  als  er  die  Auf- 
merksamkeit des  Volkes  und  die  Eifersucht  des  Kaisers  erregte, 
sich  mit  der  blossen  Verweisung  in  eine  andere  Stadt  begnügt  hätte; 
auch  hatte  das  Volk  nach  Julian's  kappadokisclfer  Haft  weit  weni- 
ger Veranlassung  in  ihm  den  künftigen  Kaiser  zu  erblicken,  da  eben 
erst  Gallus  zum  Cäsar  ernannt  war  und  sich  noch  durch  nichts 
verhasst  gemacht  hatte.  Es  ist  daher  an  sich  schon  überwiegend 
wahrscheinlich,  dass  der  Verlauf  folgender  war.  Vielleicht  von. sei- 
nem zehnten  Jahre  an  (weil  es  doch  längerer  Zeit  bedurfte,  bis  der 
Ruf  der  Talente  eines  bescheiden  auftretenden  Knaben  so  weit  sich 
verbreitet  und  solche  Gedanken  erregt)  besuchte  Julian  die  Unter- 
richtsanstalten zu  Conslantinopel ;  durch  seine  Fähigketten  wurde 
die  Aufmerksamkeit  des  Volkes  und  der  Argwohn  des  Kaisers  rege 
gemacht,  und  dieser  verbannte  ihn  nebst  seinem  Halbbruder  nach 
dem  fernen  Kappadokien  und  bielt  sie  dort  0  Jahre  lang  in  stren- 
ger Haft.  Nach  seiner  Freilassung  kehrte  Julianus  nach  Constanti- 
nopel  zurück,  das  ihm  am  meisten  bekannt  und  durch  seine  Ju- 
genderinnerungen theuer  war,  und  wohin  er  sich  um  so  furcht* 
loser  begab,  weil  damals  sein  Verfolger  nicht  dort  residirte.  Von 
hier  aus  führte  den  Julian  sein  Lerntrieb  bald  nach  dem  nahen  Ni- 
komedia, dessen  Unterrichtsanstalten  sich  damals  grade  eines  be- 
sonderen Rufes  erfreuten.  Julian  kam  also  wirklich  von  Constan- 
tinopel  aas  nach  Nikomedia,  —  darin  hat  Libanius  vollkommen  Recht 
und  darüber  konnte  er  sich  auch  nicht  wohl  täuschen,  um  so  we- 
niger, weil  er  persönlich  die  Wirkung  davon  zu  empfinden  hatte, 
dass  Julian  unmittelbar  von  Constantinopel  herkam  (durch  das  Ver- 
bot seiner  Vorlesungen);  aber  darin  hat  er  Unrecht,  dass  er  die- 
sen zweiten  kurzen  Aufenthalt  in  Constantinopel  verwechselt  mit 
dem  früheren  längeren  und  daher  bekannteren,  welcher  durch  Con- 
stantius unterbrochen  worden  war,  während  den  zweiten  JuKan 
freiwillig  beendigte.  In  Folge  dieser  Verwechslung  fand  Libanius 
keinen  Raum  für  Julian's  Aufenthalt  in  Makellum,  und  Sokrates 
sehloss  sich  in  alten  Punkten  an  ihn  an.    Die  ganze  Schilderung, 

10* 


148  Zur  Geschichte  des  Kaisers  JuHasws. 

welche  beide  von  Julian's  Rolle  io  Constantinopel  geben,  ist  richtig 
und  passt  nur  auf  dessen  frühere  Jahre ,  nur  auf  die  Zeit  vor  Ma- 
kellum;  erst  in  den  Folgen,  weiche  sie  diesem  Aufenthalte  gebeu, 
irren  sie,  indem  sie  als  solche  die  Verweisung  nach  Nikomedia  an« 
statt  der  nach  Makellum  angeben  und  so  einen  Zeitraum  von  sechs 
Jahren  überspringen.  Sozomenus  sah  den  letzteren  Fehler  ein, 
verfiel  aber,  indem  er  ihn  verbessern  wollte,  in  einen  andern.  Er 
versetzte  nämlich  das,  was  seine  Vorganger  richtig  in  Julian's  11 
bis  14.  Lebensjahr  setzen,  in  dessen  zwanzigstes,  wohin  es  nicht 
passt,  liess  aber  die  Erzählung  jener  durchblicken,  indem  er  die 
nach  Makellum  erfolgende  Reise  nach  Constantinopel  eine  Rückkehr 
nannte,  was  nur  unter  der  Voraussetzung  verstandlich  ist,  dass  der 
erste  Theil  der  Angaben  des  Libanius  und  Sokrates  die  Wahrheit 
enthält.  Richtig  ist  also  an  Sozomenus'  Bericht  die  Einschiebuog  der 
kappadokischen  Haft  und  die  Andeutung  eines  zweimaligen  Aufent- 
haltes in  Constantinopel;  irrig  aber  ist,  dass  er  den  zweiten  Auf- 
enthalt daselbst  auf  eine  Weise  schildert  und  ihm  Folgen  beimisst, 
welche  vielmehr  zu  dem  ersten  gehören;  dieser  Irrtbum  ist  daher 
entstanden,  dass  Sozomenus  die  Angabe  seiner  Vorgänger,  Julian 
sei  durch  die  Eifersucht  des  Kaisers  nach  Nikomedia  verwiesen 
worden,  beizubehalten  suchte,  anstatt  sie  zu  berichtigen. 

Zu  dieser  Darstellung  stimmt  auch  dasjenige  Datum,  welches 
einen  weiteren  schwierigen  Punkt  im  Leben  des  Julian  bildet,  näm- 
lich seine  Zusammenkunft  mit  Gallus.  Als  man  später,  nach  der 
Ermordung  des  Letzleren,  nach  einem  Vorwande  suchte,  auch  den 
Julian  zu  verdächtigen  und  anzuklagen,  stützte  man  sich  auf  zwei 
Punkte:  quod  a  Macelli  fundo  ad  Asiam  demigrarat  liberalium  de- 
siderio  doctrinarum  et  per  Constantinopolim  transenntem  viderat 
fratrem  (Amm.  M.  XV,  2,  7).  Das  Erste  scheint  sich  darauf  zu  be- 
zieben, dass  Julian  von  Makellum  aus  nicht  an  den  Hof  sich  begab, 
sondern  seinem  Wissenstrieb  folgte  und  nach  Nikomedien  sich 
wandte.  Dies  that  er  insofern  non  sine  iussu,  als  Constantius  aus- 
drücklich ihm  die  Erlaubniss  ertheilt  halte,  sich  zu  unterrichten  wo 
er  wolle,  indem  er  es  gern  sah,  mql  rä  ßißXta  itkaväa&a*  utör 
xal  uqyüv  fiäXXov  fj  xov  yivovg  xal  irjg  ßatoXefag  vnofuiwffiK" 
o&cu  (Eunap.  Max.  I,  S.  48  Boisson.).  Amniian  überspringt  hiebei 
wegen  der  Beiläufigkeit  seiner  Notiz  den  kurzen  zweiten  Aufenthalt 
Julian's  in  Constantinopel  wenigstens  insofern,  als  er  denselben 
nicht  ausdrücklich  erwähnt,  aber  auch  nicht  ausschliesst.  Hätte  er 
ganz  genau  sein  wollen,  so  hätte  er  sagen  müssen:  weil  er,  von 
Makellum  entlassen,  in  Constantinopel  nicht  geblieben  war,  son- 
dern sich  alsbald  von  da  aus  nach  Nikomedia  begeben  hatte  (aus 
Wissensdurst).  Uebrigens  scbliesst  hier  Ammian  Kappadokien,  als 
den  westlichsten  TheiJ,  von  dem  eigentlichen  Kleinasien  aus;  denn 


Zur  Geschichte  des  Kaisers  Julianus.  149 

dass  er  Asta  hier  nicht  in  dem  engsten  Sinne  (As.  propria)  nehme, 
sondern  in  dem  von  Kleinasien,  beweist  der  Umstand,  dass  er  Ni-< 
komedia  darunter  milbegreift,  wofern  die  Benennung  nicht  über* 
haupt  vom  europäischen  (constantinopolischen)  Standpunkte  aus 
gewählt  ist.  Schwieriger  ist  der  zweite  Punkt  der  Anklage.  Nach 
Ammian  fand  also  die  Zusammenkunft  in  Constantinopel  statt  und 
zwar  zu  der  Zeit  als  Gallus,  im  Begriffe  sich  nach  Antiochia  zu 
verfugen,  durch  diese  Stadt  reiste.  Wenn  er  blos  durchreiste,  wo- 
her kam  er?  'Z??  VraXCag,  sagt  Liban  I,  527  R.  (nifimrai,  ££  Y. 
rijy  nqdg  iü)  (pQOvqfotov).  Was  hatte  er  dort  zu  thun?  Er  hatte 
von  Gonstanlius  seine  Belehnung  mit  der  Cäsarwürde  entgegenge- 
nommen. Hatte  aber  Constantius  damals  (J.  351)  seine  Hofhaltung 
bereits  in  Italien,  in  Mediolanum?  Unmöglich.  Noch  herrschte  Ma- 
gnentius  im  Occidente  und  eben  darum  war  Gallus  zum  Cäsar  er- 
nannt worden,  damit  Constantius  seine  Aufmerksamkeit  und  Kraft 
ungetheilt  dem  Magnentius  zuwenden  könnte,  der  dann  auch  im 
J.  353  seinen  Untergang  fand.  Man  muss  daher  annehmen,  Con- 
stantius habe  sich  zu  Anfang  des  Jahres  351  zwar  in  Mediolanum 
ebensowenig  als  in  Constantinopel  aufgehallen,  aber  doch  in  der 
Nähe  von  Italien  und  dem  Kriegsschauplatze,  so  dass  Libanius  den 
allgemeinen  unbestimmten  Ausdruck  gebrauchen  konnte  £§  Yr«- 
Xtag,  während  doch  Constantius  das  eigentliche  Italien  erst  im  fol- 
genden Jahre  (352)  von  Magnentius  eroberte.  Dahin,  wo  sich  grade 
der  Kaiser  befand,  wurde  Gallus  berufen,  zum  Cäsar  ernannt  und 
erhielt  die  Weisung,  sich  schleunigst  nach  Antiochia  zu  begeben. 
Auf  dem  Wege  dahin  kam  er  durch  Constantinopel  und  hier  sah 
er,  nach  Ammian,  seihen  Bruder  Julian.  Möglich  ist  dies  wohl;  es 
beweist,  wenn  es  richtig  ist,  nur  di$  Schnelligkeit,  mit  der  sich  Gal- 
lus auf  seinen  Posten  begab,  vermöge  welcher  er  seinen  Bruder 
Doch  in  Constantinopel  antraf,  so  kurz  dessen  Aufenthalt  in  dieser 
Stadt  war.  Aber  bei  Libanius  findet  sich  noch  eine  andere  Ver- 
sion: ixuvog  fjth>  ovv  (der  zum  Cäsar  ernannte  Gallus)  xal  8iä  v?tg 
Btdwfag  doQVfpoQOvfievog  IjfcJ^e*  xal  tldov  (die  Brüder)  älX?jX(ü 
(or.  I,  527  R.)  Während  es  in  Libanius'  Darstellung  zweifelhaft 
bleibt,  ob  das  Zusammentreffen  Zufall  oder  Absicht  war,  glaubt 
dessen  Nachfolger  Sokrates  bestimmter  sagen  zu  dürfen:  Kaitiaq 
ävaÖux&slg  rtxw  dipdfitvog  avxdv  (den  Julian)  dg  zrjv  NvxofiridHaVj 
öi€  inl  ttiv  ioiav  Inoqtvsio  (III,  1).  Wer  hat  nun  Recht,  Ammian 
oder  Libanius?  Fand  die  Zusammenkunft  in  Constantinopel  stall 
oder  in  Nikomedia?  Im  Ganzen  ist  dies  ziemlich  gleichgültig,  da 
die  beiden  Städte  so  nahe  bei  einander  liegen,  dass  äs  in  chrono- 
logischer Beziehung  so  gut  als  keinen  Unterschied  macht,  ob  Julian 
zur  Zeit,  da  Gallus  sich  in  seine  Residenz  verfügte,  noch  in  Con- 
stantinopel war  oder  bereits  nach  Nikomedia  abgegangen.   Indessen 


150  Zur  Geschichte  des  Kaisers  Juhaaus. 

scheint  doch  dem  Zeugni&s  des  Libanus  mehr  Glauben  zu  sehen- 
•&en  zu  sein,  weil  dieser  damals  selbst  in  Nikomedia  lebte  und  so- 
mit aus  der  besten  Quelle,  aus  dem  Augenschein,  seine  Angabc 
schöpfte.  In  Nikomedia  halte  also  diese  Zusammenkunft  statu  Giebt 
man  aber  in  diesem  Punkte  die  Darstellung  des  Ammian  auf,  so 
versteht  es  sich  von  selbst,  dass  auch  die  Rechtfertigung  des  Ju- 
lian nicht  darin  bestehen  kounte,  dass  er  nachwies,  auch  diese  Zu* 
sammenkunft  habe  non  sine  iussu  imperatoris  stattgefunden;  er 
musste  vielmehr  erhärten,  dass  Gallus  ihn  aufgesucht  habe,  nicht 
er  den  Gallus,  und  dass  die  damaligen  Verhandlupgen  entfernt  keine 
politische  Tendenz  gehabt  hätten.  Dies  wird  er  um  so  mehr  getbao 
haben,  als  er  auch  Ep.  ad  Ath.  S.  273  A  eidlich  versichert,  dass  er 
so  gut  als  gar  keine,  am  wenigsten  aber  eine  politische  Verbindung 
mit  Gallus  gehabt  habe,  was  auch  Libanius  (or.  I,  530)  nachdrück- 
lich bekräftigt.   -. 

In  Nikomedia  also  war  Julian  frei  und  konnte  Lehrer  wählen, 
welche  ihm  beliebte,  nur  mit  einer  Ausuahme:  den  Libanius,  deo 
berühmtesten,  durfte  er  nicht  hören,  das  hatte  er  seinem  früheren 
Lehrer  in  Constantinopel,  dem  Christen  Bkebolius,  eidlich  verspre- 
chen müssen  (Liban.  I,  527),  ein  Eid,  dessen  lästige  Wirkung  er 
durch  seinen  Eifer  zu  vereiteln  wusstc,  indem  er  sich  um  schwe- 
res Geld  einen  ständigen  Nachschreiber  bei  Libanius  hielt  (no(ft- 
p£a  nvä  %wv  nad*  rifUqav  XiyofUvwv  SwQtcug  (jKydlcug  xafiär 
ptvog,  ibid.).  Dieses  Factum,  worüber  Libanius  doch  Gewissheit 
haben  musste,  ist  einer  der  stärksten  Beweise,  dass  Julian  von  Con- 
stantinopel aus  nach  Nikomedia  kam.  Der  Aufenthalt  in  dieser  Stadt 
wurde  für  Julian's  Religions-  Richtung  entscheidend.  Hier  war  es 
nämlich,  wo  seine  von  Kindheit  an  gehegte  Vorliebe  für  die  helle- 
nische Religion  (Ammian.  Marc.  XXII,  5,  1  a  rudjmentis  pueritiae 
primis  inc|inatior  erat  erga  numinum  eultum,  vergl.  Julian,  or.  in 
Sol,  S.  130  C  inivqxf  fxat  äswdg  ix  nat&wv  rwv  avytiSv  rov  &o* 
Ttd&ogj  und  aus  der  kappadokischen  Zeit  die  Notiz  bei  Gregor  Naz. 
or.  III,  S.  61  C,  Julian  habe  gegen  seinen  Bruder  immer  die  Ma- 
nische Religion  vertheidigt)  vorzugsweise  durch  den  um  seinet- 
willen hieher  gekommenen  Philosophen  Maximus  (Sokrates  III,  1, 
S.  136  BC)  solche  Nahrung  fand,  dass  er  innerlich  vollständig  ®il 
dem  Christentimme  brach  und  nur  den  äusserlichen  Soheia  aus 
Furcht  noch  beibehielt  (vergl  Julian.  Ep.  42,  S.  80  Heyler,  Liban.  I, 
588.  Ammian.  M.  XXII,  5.  I  f.  Sokr.  III,  1,  S.  144  C.  Sozom-  V,  % 
S.  166  D  Vales).  Daher  sagt  auch  Gregor  von  Naz.  or.  III.  S.  611  D: 
l<4<rCa  r\v  avitS  to  rrjg  uttßstog  ddacxalfiov  und  schreib!  8$ 
Recht  der  Philosophie  sein  Abwendigwerden  vpn  dem  Christ«0* 
thume  zu:  hei  di  dg  üvdqaq  nqoUvxtg  (Gallus  und  Julian)  tJÄ 
rwv  iv  (ptlvaeyty  dQ/iwiiuiv  %tyt*VTO  (dg  /*tjmi*  &f*kf»t)  *«* 


Zur  Geschichte  des  Kaisers  Julianus.  151 

Ttfi  ix  tov  Xöyov  nQogtXdpßavov  dvvapw,  ..  ovxin  xatix**»  &Xtp 
vijv  vöaov  oUg  u  fy  (Julian  nämlich),  ibid.  A.,  womit  vollkommen 
übereinstimmt  Liban.  or.  I,  528  Reiske:  Kai  non  (in  Nikomedien) 
xoig  %ov  IlXdtwvog  yipovöw  dg  tuviov  iX&dv  äxofaag  virio  r« 
&ewv  xal  daifiövw  u.  s.  w.,  äXfivqäv  dxorjv  ämxXrjaaTO  notlpq 
X6yq>  xal  ndvxa  tov  Ifjmqoc&tv  ixßaXu)v  vd-Xov  uvmgrjyaytv  dg 
t%v  tyvxty  *&  tfS  äkti&tCag  xdXXog  wGjisq  tfg  nva  fiiyav  vsdv 
äydXpara  &e<8v  nqdtsqov  vßqrtfiiva  ßoqßöqto.  xal  jjv  /mv  nsql 
xavza  heqogy  iGxyfiaiC&io  d£  rd  nqöc&iv,  ov  ydq  i£fjv  cpavfjva*. 
Eine  bedeutend  abweichende  Darstellung  giebt  Eunajfms  in  Max. 
1, 48  Boisson. :  Ttaviaxov  ßa&iwv  xal  ßaqvtdiwv  viroxMfiivwv  xvq- 
ftdtwv  fterä  ßamXixrjg  vnovotag  xal  doqvcpoqtag  ntq^cpotia  xal 
di&Gn*x&  b*n$  ßovXono .  xal  dr}  xal  dg  niqyafiov  icpixveTicu  xard 
xXiog  nljg  Aid  tat  ov  cog>(ag.  Aber  dieser  selbst  schon  zu  alt,  weist 
ihn  an  seine  Schüler,  von  denen  aber  grade  nur  Chrysanlhius  und 
Eusebius  anwesend  sind.  Von  dem  Letzteren  geheimnissvoll  auf 
Maximus  hingewiesen,  eilt  er  diesem  nach  Ephesus  nach;  auch  den 
Chrysanthfus  ruft  er  hieber  xal  (x6Xt,g  tjqxow  äp<pu)  ifj  tov  naidbg 
sig  tag  ftadyCHg  evqvxwqCa  (ib.  S.  51).  Aber  ist  schon  Eunapius 
überhaupt  ein  unglaubwürdiger  Schriftsteller,  welcher  um  jeden 
Preis  seine  Helden  verherrlichen  will  (daher  er  hier  den  Julian  dem 
Maximus  nachreisen  lässt,  nicht  umgekehrt,  wie  Sokr.JII,  I,S.  136  C 
erzählt  nach  der  Andeutung  bei  Liban.  or.  funebr.  I,  528:  irjg  <pif- 
fji/qg  navjaxol  (peqofjtivqg  ndvng  o\  mql  tag  MovCag  xal  tovg  äX- 
Xovg  f€  &eoig  o\  fiev  liiomöqow,  ol  cP  ijrXeov,  (Sjv&vdovxig  Idsiv 
x  ixüvov  xal  cvyyevid&ai  xal  elmlv  aviot  n  xal  äxovaat,  Xiyov- 
tog),  so  verrath  sich  die  Unrichtigkeit  dieses  Berichtes  insbeson* 
dere  noch  in  manchen  einzelnen  Punkten.  Einmal  in  der  Ueber- 
treibung,  womit  Julians  Reich th um  und  in  Folge  dessen  sein  Auf- 
zug geschildert  ist,  und  welche  nur  den  Zweck  hat,  seine  Bemühung 
um  Aidesius  und  Maximus  in  ein  für  diese  noch  schmeichelhafteres 
Licht  zu  rücken;  denn  Julian  war  damals  nicht  reich,  da  er  sein 
vollständiges  väterliches  Vermögen  erst  als  Kaiser  wieder  in  seinen 
Besitz  bekam  (vergl.  Jul.  Ep.  ad  Ath.  S.  273  B),  und  noch  weniger 
war  ein  glänzender,  Aufsehen  erregender  Aufzug  der  Julian's  Nei- 
gungen und  Erziehung  entsprechende.  Auch  beweist  der  Ausdruck 
io$  na*ä6gs  wie  wenig  Kenntniss  Eunapius  von  der  Chronologie 
batte,  da  Julian  um  diese  Zeit  in  seinem  zwanzigsten  Jahre  war. 
Denn  dass  seine  Abwendung  vom  Christenthume  in  diesem  Lebens- 
alter erfolgte,  giebt  Julian  selbst  an  (Epist.  51:  m&6p*voi,  t<$  tcq- 
Qtv&ivu  xaxtlvrp  rrp  bdov,  nämlich  das  Christentbum,  axqig  Itwy 
stxoc*).  Wir  haben  also  alle  Ursache,  die  Erzählung  des  Eunapius 
bei  Seite  zu  lassen  und  uns  an  die  mit  Julian's  eigenen  Angaben 
übereinstimmende  Darstellung  des  Libanius  und  Sokrates  zu  halten, 


152  Zur  Geschichte  des  Kaisers  Julianus. 

wonach  er  (von  Kappadokien  aus,  also  nach  seinem  19.  Jahre)  nach 
Nikomedien  kam  und  hier  für  die  hellenische  Philosophie  und  Re- 
ligion vollständig  gewonnen  wurde.  Nur  so  viel  können  wir  an 
Eunapius'  Erzählung  als  richtig  anerkennen,  dass  allerdings  Julian 
um  diese  Zeit  (etwa  unmittelbar  nach  seiner  Freilassung)  allerlei 
kleine  Reisen  in  Asien  herum  ausführte,  deren  er  in  seinem  Briefe 
au  Themistius  S.  259  BC  selbst  Erwähnung  thuL  Jedenfalls  aber 
befand  er  sich  in  Nikomedien  als  sein  Bruder  Gallus  ermordet  wurde. 
Dieses  Ereigniss  war  auch  für  Julian  von  bedeutenden  Folgen.  Man 
beschuldigte*  ihn  bei  dem  ängstlichen,  misstrau ischen  Kaiser  des 
Einverständnisses  mit  Gallus.  Die  Anklagepunkte  und  die  Rechtfer» 
tigung,  welche  ihnen  Julian  entgegensetzen  konnte,  haben  wir  des 
Näheren  bereits  betrachtet.  Es  ist  uns  hier  nur  noch  übrig,  die 
ausserlichen  Hergänge,  welche  sich  an  diese  Anklage  knüpften,  dar- 
zulegen. 

Der  Tod  des  Gallus  erfolgte  nach  Gibbon  im  December  des 
J.  354,  wo  Julian  volle  23  Jahre  alt  war,  Gallus  aber  29  (Amm.  M. 
XIV,  11,  27).  Die  Folgen,  welche  dieses  Ereigniss  für  ihrf  hatte,  er- 
zählt Julian  selbst  (ad  Ath.  S.  272  D)  so:  Tokio v  xiuvui  naqiiw* 
(Constantius)  totg  ix&t<STOi,g,  ifie  de  d<prtxe  pöyig  imd  (jltivwv  6Xwv 
IfocvGag  rfjde  xaxeTae  xul  TtOHfjödfisvog  i/Mpqovqwv.  Also  von  Gal- 
lus' Tod  an  wurde  Julian  7  volle  Monate  lang  hin  und  hergeschleppt 
und  gefangen  gehalten.  Dies  wird  im  Wesentlichen  auch  durch  Li- 
banius bestätigt,  der  (Oratt.  I,  S.  530  R.)  berichtet:  (JaUo?)  <*0*- 
&vt}<fxev  a<pa)vog,  . .  xul  uviCxu  oiiog  (Julian)  dvicnacxo  tb  xal  fy 
iv  fiiaco  cpvXdxwv  ihnXtßfiivüiv  .  •  •  xa*  xqogfjv  rd  fjujdi  iy  &°$ 
tSqvG&cu  xcüqCov,  TÖirovg  de  ix  jötuov  dfieCßew  iv  Takawwqty 
Sokrates  schliesst  sich  auch  hier  an  Libanius  an,  indem  er  (III,  h 
S.  144  D  Vales.)  erzählt:  inel  rdXXog  dv$Qt&T},  naqaxq^V^  xa* 
*IovXwvdg  vnonxog  xaiicvt]  t<8  ßatoXu*  i&o  cpqovqsic&cu  avriv 
IxiXevöev.  ItyviTag  d£  diaSqdacu  rovg  cpqovqovvrag  avrdv  r6nw 
ix  TÖnov  äfietßiüv  dteötü&zo  •  3ipe  6i  non  ff  jov  ßatoXiwg  y^V^ 
EvöeßCa  xqvmöfitvov  ävevqovaa  net&ei,  rdv  ßatoXia  fi>rjdev  (W 
avrdv  dqäticu  xaxovj  Gvyxioqrjöat,  6i  inl  tag  *A&ijvag  iXfrdvn  y** 
Xococpelv.  Nur  hat  Julian  und  Libanius  statt  dieses  romanhaften; 
aus  blossem  Missverständniss  der  Ausdrücke  des  Libanius  entstan- 
denen Versteckens  und  Entdecktwerdens,  von  welchem  auch  Am- 
mian  nichts  weiss,  eine  wahrscheinlichere  Version,  dass  nämlich 
Julian  gefangen  herumgeschleppt  worden  sei.  Worin  aber  bestand 
dieses  ihcvea&art  Jedenfalls  einmal  darin,  dass  Julian  von  Niko- 
tnedia  an  den  Hof,  der  sich  jetzt  zu  Mediolanum  befand,  transpor- 
lirt  wurde  (perductus,  Ammian  XV,  2,  7;  vergl.  ib.  §.  10  u*  c  3,  h 
wo  derselbe  Ausdruck  wieder  von  Gefangenen  gebraucht  ist).  Con- 
stantius bereute  die  Ermordung  des  Gallus,  sobald  sie  vollzogen 


Zur  Geschichte  des  Kaisers  Julianus.  153 

war,  um  so  mehr  aber  hiess  ihn  sein  böses  Gewissen  die  Rache 
des  Julianas  fürchten.  Gern  verwandelte  sich  die  Furcht  in  Zorn, 
als  ihm  seine  Camarilla  einredete,  Julian  habe  sich  mit  Gallus  ge- 
gen ihn  verschworen  gehabt.  Aber  der  Kaiserin  Eusebia  Fürsprache 
und  Vermittlung  beseitigte  für  Julian  die  ihm  drohende  Gefahr.  Sie 
verschaffte  dem  Gefangenen  und  Angeklagten  eine  Privataudienz 
bei  dem  Kaiser,  der  ihn  seit  Kappadokien  nicht  mehr  gesehen  hatte 
(ad  Ath.  274  A),  worin  Julian  die  falschen  Anklagen  zurückwies 
und  sich  vollständig  rechtfertigte  (Jul.  ad  Ath.  273  A.  Or.  III,  S.  118  B 
ovx  ävfjxsv  7j  Evotßta  tolvtu  deofiivrj  nqiv  i/u  rjyayev  Big  8tf>w  tipt 
ßatoXiwg  xal  rvjraV  inoCrjGs  Xdyov,  xal  änoXvofiivqy  näcav  alzlav 
ädtxov  (Svvtjg&t]  ;  vergl.  ad  Ath.  274  A  &na%  iv  *haXla,  v&q  äv  irjs 
cwxriqCag  rüg  ifiavrov  &a^^<fatfu).  Constantius  versprach  ihm, 
ihn  noch  öfter  vor  sich  zu  rufen,  was  aber  der  Eunuch  Eusebius 
zu  hintertreiben  wusste,  so  dass  ihn  Gonslantius,  obwohl  Julian 
ungefähr  sechs  Monate  in  Mediolanum  sich  aufhielt  (Jul.  ad  Ath. 
S.  274  A  xaixoh  rijv  avrrjv  ahoi  ndXw  ££  dtxrjGa  fifjvagj  xal  piviot 
xal  vni<$xtx6  p*  dsdaseftou,  ndXtv) ,  nicht  wieder  sah  bis  nach 
seiner  Rückkunft  aus  Hellas.  Sogar  sein  Leben  wäre  in  Mediolanum 
vor  den  Nachstellungen  der  schuldbewussten  und  daher  ihn  fürch- 
tenden Camarilla  nicht  sicher  gewesen  (quum  obieeta  dilueret,  ne- 
fando  adsentatorum  coetu  perisset  urgente,  Ammian  XV,  2, 8,  vergl. 
Jul.  ad  Ath.  273  A),  ni  Eusebia  suffragante  regina  duetus  ad  Com  um 
oppidum  Mediolano  vicinum  (wo  er  seinen  Feinden  aus  dem  Ge- 
sicht war),  ibique  paulisper  moratus  proeudendi  ingenii  causa,  ut 
cupidine  flagravit,  ad  Graeciam  ire  permissus  esset.  So  Ammian 
und  ebenso  Libanius  (Orr.  I,  531  R):  rdv  de  eldsv  ..  fj  Kajv<nav- 
rtov  ywij  xal  rdv  pev  (Julian)  fjXirjaCj  xov  dt  (Constantius)  ifidXa^e 
xal  noXXaZg  raTg  Ixtctcug  iXvcsv  (von  seinen  Banden)  iqiSvxa  rvjg 
lEXXddog  xal  f*dXi<na  Stj  xov  xijg  'EXXddog  d(p&aXfioti>  x(Sv  *Ad^i 
vwv,  dg  yijv  iotofiivrjv  iripfya*.  Aber  die  Darstellung  beider  Schrift- 
steller ist  aus  Julian  in  einem  Punkte  zu  ergänzen:  Julian  wurde 
nicht  unmittelbar  von  Gomum  aus  nach  Hellas  entlassen,  sondern 
er  hatte,  unterstützt  von  Eusebia,  sich  die  Erlaubniss  ausgewirkt, 
in  die  Heimath  seiner  Mutter,  htl  jjjv  irjg  firjxqdg  (weil  sein  väter- 
liches Vermögen  confiscirt  war)  iaxlav  (ad  Ath.  273  B),  also  wohl 
nach  Bithynien  oder  Jonien,  zurückzukehren  (Or.  III,  S.  118  B  von 
Eusebia:  oXxais  tmd-v/iovvx*  ndXiv  amtvai  nofm^v  ä<rg>aXtj  nu- 
q£GXev>  iiMQiifßai,  nqwxov  xdv  ßaCkXia  %v^iithica<5a)*  Schon  war 
er  unterwegs  (vergl.  ad  Ath.  273  A  d)g  ovv  dnoyvywv  ixu&ev  <?<ty*e- 
vog  lnoQtv6[M)y  inl  Trjv  tilg  fiyjrQog  itixtav,  und  nachher  noqevofxi- 
vov  hcl  tfjv  iaxlav) }  als  sich  ttbqI  to  2Cq(mov  und  nachher  aus 
Gallien  Sykophanlen  erhoben  und  Unruhen  aus  ihren  Gegenden 
meldeten  (ad  Ath.  273.  CD;  in  der  Lobrede  auf  Eusebia,  Or.  HI,  S. 


154  Zur  Geschichie  des  Kaisers  Julianus. 

118  C  drückt  er  sich  wie  es  der  Tact  gebot,  od  bestimmt  aus:  iui- 
fjkovoq  tj  rwog  ^vnvxCag  äXXoxoTOv  bdbv  xuvvq»  vTtonfAOftfvft). 
Der  misstrauische  Constantias  fürchtete,  Julianus  möchte  steh  an 
die  Spitze  einer  dieser  Empörungen  stellen  (deicag  wxnämto  xol 
(poßrjd-clg,  ad  Alb.  273  D),  schickt  ihm  daher  sogleich  nach  (avtixa 
It?  ifti  nipmi)  und  weist  ihn  weg  von  dem  Schauplatze  beider 
Aufstände,  nach  Hellas,  wofür  sich  in  seiner  Abwesenheit  Eusebia, 
seine  Neigungen  wohl  kennend,  verwendet  hatte  (Or.  III,  S.  118  C 
von  Eusebia:  ijtotpdfiwov  jiifimi  rrjy  'EXkdda,  javvrjv  aliqGom 
naqä  ßaatXiwg  vttbq  £pov  xal  äTrodrjpovvTog  tjSrj  t^v  £«'(»?).*) 
Wir  wissen  also,  dass  er  erst  7  volle  Monate  nach  GaJhis  Tod 
nach  Hellas  kam,  also  im  Sommer  des  Jahres  355,  und  deo  Aus- 
druck ihtvead-a*  wissen  wir  so  zu  erläutern,  dass  Julian  von  Ni- 
komedien  nach  Mediolanum  transportirt,  von  da  nach  Comum  ge- 
wiesen, von  da  nach  Constantinopel  entlassen,  unterwegs  aber  nach 
Athen  beordert  wurde.  Zugleich  aber  sehen  wir,  dass  es  mit  dem 
siebenmon&tlichen  Herumgezerrtwerden  nicht  allzustreng  zu  neh- 
men ist;  nur  etwa  einen  vollen  Monat  #ang  brachte  er  unterwegs 
zu,  die  übrigen  sechs  Monate  verweilte  er  in  Mediolanum,  freilich 
in  einer  Lage,  welche  unangenehm  genug  war,  da  er  sich  allent- 
halben von  Feinden  umringt  sah.  Auch  wie  lange  Julian  in  Hellas, 
oder  vielmehr  Athen,  wohin  er  sich  sogleich  begab,  verweilte,  kön- 
nen wir  bestimmen,  da  wir  den  Anfangspunkt  seines  dortigen  Auf- 
enthalts wie  den  Endpunkt  desselben  kennen.  Der  Anfangspunkt 
ist,  wie  wir  eben  gesehen  haben,  etwa  der  Juni  des  Jahres  355. 
Nun  war  er  aber  am  6.  November  desselben  Jahres  schon  einige 
Zeit,  wenn  auch  nicht  lange  (baud  ita  dudum  ab  Achaico  tractu 
accitus,  Ammian  XV,  8,  1)  in  Mediolanum;  deun  an  diesem  Tage 
wurde  er  dort  zum  Cäsar  ernannt,  dem  Heere  vorgestellt  u.  s.  w,; 
er  muss  also  Anfangs  October  den  Befehl  zu  schleuniger  Rückkehr 
an  den  Hof  erhalten  und  Athen  verlassen  haben.  Er  war  somit 
nicht  über  ein  Vierteljahr  in  Athen,  wozu  auch  ganz  der  Ausdruck 
passt  fuxQÖv  ilg  tijv  vEXXd6a  xsXivCag  vnoxw^ijaa^  ad  Ath.  S.  273  D- 
Julian  benutzte  hier  seine  Müsse  (<#oäi)  ixtivfj,  Ep.  ad  Tbemisl» 
S.  260  B,  wo  er  auoh  seine  damalige  Besitzlosigkeit  schildert,  vergl 
Liban.  oratt.  I,  531  R.)  zu  emsigem  Studium  der  Philosophie,  wie- 

*)  Gregor  Naz.  IV,  4  24  D  sagt,  er  habe  ausdrücklich  den  Kaiser  uro 
Erlaubnis*  zur  Reise  nach  Hellas  gebeten,  angeblich  um  das  Land  und  seine 
Bildungsanstalten  kennen  zu  lernen,  In  Wahrheit  aber,  um  mit  den  dort!" 
gen  Opferern  und  Gauklern  sich  zu  besprechen.  Wahrscheinlich  bat  Julian 
dem  Gregor  gesagt,  was  sein  geheimstes  Motiv  sei?  —  Dagegen  Libantos 
sroocgxw.  1,  44  0,  8  Reiske  sagt  richtig:  eta  og^e^c  njv  totj  3a6ityv 
o*oi  ßo-uXr^ttriq  e^ervertav  iv  toio'Utcj)  %w(hw  otawxXeto*^?,  ty>  o  *<*v" 
wf  av  HSqajLLSc  Server  lag  v*OH>%oy<rijs.  Und  Julian  selbst  (ep.  ad  Themi*** 
t6Q  A) ;  ouuuv  e*i  w}v  eE^td6a  *dtevy  o-re  p*  fpe^iyuv  ivipiiv»  «WWW- 


Zur  Geschickte  des  Kaisers  Julianus.  166 

wofal  er  sich  bereits  durch  seine  gründlichen  Kenntnisse  auszeichnete 
(Zosimus  III,  2, 1  ix  rdSv  *A&r\vüv  *IovXiavdv  fitiomifinnak,  rolg  ai- 
tq&i  <p*XoGog>ovot  evvdvta  xal  iv  navtl  7tcuäsv<K(xtg  eXdft  tovg  iav- 
tov  xa&*  jjytfAdvag  vmQßaXXdit&vov,  und  Libanius  oratt.  I,  532: 
pdvog  ixuvog  viwv  twv  Adyva&  fjxdnwv  d*dd$ag  n  paXXov  fj 
fia&wv  ä^Xd-ij  Taiyaqovv  ätf  nva  Cfiijrr]  mol  avtdv  iwoäro  viü)v, 
TtQecßtrrfQtoVj  <pAQ<Td<pu)Vj  ^ijidqwv).  Aber  er  war  damals  noch  so 
schüchtern,  dass  er  erröthete,  so  oft  er  zum  Sprechen  kam  (Liban. 
I,  533:  6  de  Xiywv  «  rjv  Sfiolwg  d-avpaGtdg  xal  aldovfi&vog.  od 
yuq  fyf  &n  x^fa  iQv&rjfiaiog  icp&iyytzo).  Hier  machte  er  auch 
die  Bekanntschaft  des  eleusinischen  Hierophanlen,  Eunap.  vita  Ma- 
ximi  I,  S.  52  f.  (Boiss.),  der  aber  freilich  nach  seiner  Gleichgültig- 
keit gegen  den  historischen  Rahmen  oder  nach  seiner  Unkenntniss 
des  streng  Geschichtlichen  diese  Bekanntschaft  in  eine  viel  frübepe 
Zeit  setzt»  Andere  Bekannte  von  Athen  her  begegnen  uns  Epist.  55 
und  Ammian  XXII,  9,  13.  Auch  Gregor  von  Nazianz  und  Basilius 
waren  gleichzeitig  mit  ihm  in  Athen,  aber  wohl  ohne  dass  er  ih- 
nen bei  seiner  damals  bereits  entschiedenen  Richtung  besonderes 
Interesse  widmete  (rfjg  nq^dirpog  aviov  änuvng  än$Xavovs  tov 
mrttvtc&ai,  de  ol  ßiXncioi,,  Liban.  1,  532) ;  vielleicht  auch  wurden 
sie  von  ihm  verdunkelt  und  dadurch  gekränkt  Bald  aber  rief  Con~ 
stantius,  nachdem  Eusebia  die  entgegenstehenden  tptvdelg  vnotpCag 
dtiXvtev,  ivaoyu  uxfurjQCeo  u3  ßCq>  t<$(jh$  xQto/jLivrj  (or.  III,  S.  121  A), 
ihn  an  seinen  Hof  zurück  (pMqdv  elg  tijv  'EXXdda  xiXsdaug  &ro- 
XWQijccu  ndXtv  lxü$hv  ixdlti  naq*  iavxdv,  ad  Alh.  273  D.  Or.  III, 
S.  121  B).  unter  schmerzlichen  Tbranen  ging  Julian  aus  der  theuren 
Stadt  einem  noch  ungewissen  Geschicke  entgegen  (ad.  Ath.  275  A). 
In  Mailand,  wo  er  iv  im  nQoa<mt<$  sich  einquartierte  (ad  Ath. 
275  B),  Hess  ihn  in  Abwesenheit  des  Kaisers  Eusebia  freundlichst 
bewillkommen  (ib.  S.  274  B) ;  bald  kam  auch  Constantius,  nachdem 
er  eben  den  Feldzug  gegen  Silvanius  glücklich  beendigt  hatte,  nach 
Mediolanum  und  Julian  wurde  nun  an  den  Hof  gezogen  (ibid.  274  C), 
wo  er  sich  wegen  seiner  Philosophentracht  Manches  gefallen  las- 
sen musste  (ib.  274  CD).  So  war  er  nun  unter  Einem  Dache  (o/io- 
qdipiog)  mit  denen,  von  welchen  er  wusste,  dass  sie  seiner  gan- 
zen Familie  den  Untergang  bereitet  hatten  (S.  274  0).  Zwar  schwand 
allmähUg  der  Argwohn  der  Höflinge  gegen  ihn  (ib.  274  D),  aber 
Julian  fühlte  sich  nicht  heimisch  in  dieser  Atmosphäre  und  wollte 
daher  die  Kaiserin  in  einem  flehentlichen  Briefe  uqi  die  Erlaubniss 
zur  Rückkehr  ersuchen  (ib.  275  C);  aber  er  bedachte  die  Gefähr- 
lichkeit dieses  Schrittes  und  da  er  noch  überdies  durch  einen  Traum 
davor  gewarnt  wurde,  so  unterliess  er  ihn  (ibid.)  Ueberbaupt  eut- 
sohloss  er  sich  jetzt  zu  vollkommener  Ergebung  in  seih  Schicksal 
(ib.  275  D  bis.  277  A)  und  Hess  es  sich  daher  auch  gefallen,  als  ihn 


156  Zur  Geschichte  des  Kaisers  Julia***. 

Constantius  am  6.  November  355  zum  Cäsar  ernannte,  so  bang  ihm 
dabei  war  (ib.  377  A.  vergl.  Misopog.  S.  357  B.  Liban.  I,  533.  Amm. 
XV,  8,  17),  ertrug  auch  die  zwar  glanzende,  aber  harte  Gefangen- 
schaft, in  welcher  er  die  24  Tage  bis  zu  seinem  Abgang  von  Mai- 
land lebte  (ad  Atb.  277  A— C).  Am  1.  December  355  ging  er  nach 
Gallien  ab  (ib.  277  D  und  Amm.  XV,  8, 18),  wobei  die  Art,  wie  Con- 
stantius für  seine  Ausrüstung  sorgte  (Jul.  Ep.  ad  Atb.  S.  277  D.  Liban. 
orr.  f,  535  Zos.  111,  3,  3.  Amm.  XV,  8,  18)  die  Vermuthung  nährte, 
dass  er  nach  Gallien  geschickt  werde  oty  Iva  ßatotevrj  xwv  htivji 
pövov,  äXX  Iva  iv  ifj  ßatnUta  dt,u<p&aQJj  (Eunap.  Max.  I,  53.  Socr. 
111, 1,  S.  145  C.  Ammian  XVI,  11, 13),  was  aber  wohl  nur  ein  Wech- 
selfall  war,  den  man  zwar  keineswegs  fürchtete,  aber  auch  nicht 
unmittelbar  wünschte. 

Aus  dieser  Darstellung  muss  sich  ergeben  haben,  dass  die  Haupt- 
quellen, Julianus,  Libanius  und  Ammianus,  in  keinem  Theile  mit- 
einander in  Widerspruch  sind;  nur  erzählt  Julianus  manchen  un- 
tergeordneten Punkt  und  manchen  Nebenzug,  welchen  Ammianos, 
der  nur  einen  kurzen  beiläufigen  Blick  rückwärts  wirft  auf  die  Ge- 
schichte des  Julian  ehe  er  Cäsar  wurde,  überspringen  konnte  und 
rousste,  Libanius  aber  entweder  nicht  kannte  oder  übersah;  wir 
haben  somit  festen  historischen  Boden  genug  um  eine  zusammen- 
hängende Darstellung  dieses  Theiles  seines  Lebens  geben  zu  können. 

2.    lieber  die  Aechtheit  einiger  Briefe  des  Julian. 

Eine  ergiebige  Quelle  für  die  Geschichte  des  Julianus  und  die 
Erkenntniss  seines  Charakters  als  Mensch  und  als  Regent  sind  seine 
Briefe.  Schade,  dass  wir  sie  nicht  alle  haben,  dass  die  erhaltenen 
nicht  alle  vollständig  sind,  nicht  einmal  die  Aechtheit  aller  ausser 
Zweifel  ist.  Doch  ist  letztere  Zwei  fei  haftigkeit  bei  weitem  nicht  so 
gross,  als  es  der  neueste  Herausgeber  derselben,  L.  H.  Heyler,  dar- 
stellt. Dieser  verdächtigt  z.  B.  Ep.  25,  deren  Inhalt  er  so  angiebt: 
Collata  in  Judaeos  beneficia  sua  recenset.  Quos  tum  hortatur,  ot 
in  ipsius  gratiam  preces  ad  Deum  miltant.  Denique  Hierosolymam 
ab  ipso  refectum  iri  pollicetur.  Man  sieht,  der  Brief  hat  historisches 
Interesse  und  die  Frage  über  seine  Aechtheit  ist  daher  schon  viel- 
fach verhandelt  worden,  s.  die  Literatur  bei  Heyler  S.  974.  Was 
sind  die  Zweifelsgründe?  Heyler  selbst  führt  sie  nicht  auf,  sondern 
giebt  nur  an,  dass  schon  Aldus,  Martinius  und  Petavius  Bedenklich- 
keiten gehabt  haben,  indem  sie  der  Ueberschrifl  des  Briefes  bei- 
fügten: „d  yvri<tfwsff.  Von  äusseren  Gründen  könnte  hieher  nur 
der  Umstand  gehören,  dass  einige  Handschriften  den  Brief  nicht 
haben ,•  was  aber  für  den,  der  die  handschriftliche  Beschaffenheit 
der  Julianischen  Briefe  naher  kennt,  durchaus  nichts  Befremdendes 
hat.    Von  inneren  Gründen  dürfte  nur  der  von  Belang  sein,  dass 


Zur  Geschichte  des  Kaisers  Julianus.  157 

sich  Julian  in  diesem  Briefe  über  sein  Verfahren  gegen  den  Hof 
des  Constanlius  auf  eine  Weise  ausspricht,  die  der  Geschichte  zu- 
wider ist  und  auf  einen  Verfasser  fuhren  könnte,  welcher  gegen 
Julian  feindselig  gesinnt  gewesen  wäre.  Während  nämlich  nach 
Ammian  {XXH,  4,2.  data  quo  velint  eundipotestate  proiecit,  vergl, 
Socr.  III,  1,  S.  139  joüg  (üv  ovv  dkä  javxag  rag  ahtag  QißaXe) 
nur  von  einer  Entlassung,  Ausweisung  des  Hofgesindes  die  Rede 
sein  kann,  sagt  Julian  in  dem  Briefe:  Qvg  per  iyii  dg  ßö&qov  äeag 
(oXtGa.  Aber  recht  verstanden  sagen  die  Worte,  wenn  auch  in  ei- 
ner etwas  übertriebenen  Form ,  doch  im  Wesentlichen  nichts  an- 
deres als  was  Ammian  und  Sokrates  auch  sagen :  er  stiees  sie  von 
dem  behaglichen  müssigen  Leben,  welches  sie  bisher  geführt,  hin- 
aus in  ein  herbes,  stiess  sie  von  ihrer  Höhe  herab  und  da  die  mei- 
sten nichts  Ordentliches  gelernt  hatten,  und  ausser  der  Hofatmo- 
sphäre nicht  gedeihen  konnten,  so  mochte  bei  vielen  die  Folge 
sein,  dass  sie  untergingen.  So  schwach  somit  die  Gründe  gegen 
die  Aechtheit  sind,  so  stark  sind  die  für  dieselbe.  Zuerst  die  äus- 
seren: ausdrücklich  berichtet  Sozom.  V,  22:  *Iovdatotg  ivvpvg  ijv 
xal  nqaog  ..  xal  uvtw  de  tcm  7iXij&£t,  fyqatytv  «u£€<r#a*  vttbq  av- 
tov  xal  vqg  aviov  ßaaikstog.  Dies  entspricht  den  Worten  des  Briefs: 
Iva  fw  (ie(£ovag  svx&g  norfie  rrjg  ifirjg  ßatoteCag.  Hätte  (wie  Hey- 
ler annimmt)  ein  Falscher  die  Worte  des  Sozomenos  sich  zum 
Thema  gewählt,  wonach  er  den  gegenwärtigen  Brief  ausarbeitete, 
so  hätte  er  sicher  nicht  unterlassen,  auch  das  vmQ  avroti  seines 
Originals  auszudrücken ;  und  wie  kann  man  eine  so  untergeordnete 
Aeusserung  zum  Mittelpunkte  des  Briefs  machen  und  annehmen, 
dass  alle  die  übrigen  theilweise  wichtigen  historischen  Angaben 
desselben  nur  zur  Bekleidung  jener  einzigen  gedient  haben!  Aber 
noch  andere  innere  Gründe  sprechen  4fc  die  Aechtheit.  Erstens 
hätte  man  später  gar  kein  Interesse  gehaßt,  einen  Brief  dieser  Art 
dem  Julian  unterzuschieben,  oder  hätte  man  es  gethan,  so  hätte  das 
Product  ganz  anders  ausfallen  müssen.  Ein  nachahmender  Verfäl- 
scher pflegt  die  charakteristischen  Eigenthümlichkeiten  des  Nachzu- 
ahmenden möglichst  stark  aufzutragen,  Julian  aber  war  durch  die 
Declamationen  der  christlichen  Schriftsteller  allmählig  in  ein  Licht  ge- 
rückt worden,  als  habe  er  das  Christenthum  gebassi  und  verfolgt.  Ein 
Späterer  nun,  der  einen  Brief  JuHan's  an  die  Juden  fabricirt  hätte, 
halte  ganz  gewiss  nicht  unterlassen,  dem  Kaiser  Aeusserungen  die- 
ses Inhalts  unterzuschieben,  wovon  aber  in  Ep.  25  keine  Spur  ist. 
Ebenso  spricht  sich  der  Brief  über  Julian's  Vorgänger,  den  christ- 
lichen Kaiser  Conslantius,  nicht  stärker  aus,  als  Julian  sonst  %u 
thun  pflegt.  Auch  wäre  es  wohl  keinem  Fälscher  eingefallen,  den 
Julian  sagen  zu  lassen,  er  habe  die  auf  die  Steuern  der  Juden  be- 
züglichen Oocumente  in  seinem  Archive  verbrannt,  was  ein  sonst 


i6S  Zur  Geschichte  des  Kaisers  JuKanus. 

nirgendsher  bekanntes  und  nicht  leicht  2Q  erfindendes  Datum  ist. 
Endlich  kann  an  dem  universell -religiösen  Julianus  die  Achtung, 
womit  er  von  dem  Judengotte  in  diesem  Briefe  redet,  um  so  we- 
niger auffallen,  als  er  Ep.  63  (S.  133  Heyler)  die  Ueberzeugung  aas- 
spricht, dass  nur  die  Benennungen  der  Götter  verschiedene  seien, 
das  Wesentliche  aber  allenthalben  dasselbe. 

Ebenso  scheint  der  Brief  an  Arsaces  (Ep.  67)  nur  mit  Unrecht 
verdächtigt  zu  werden.  Heyler  sagt  S.  485:  mtnime  credendum  est, 
ab  Juliano  profeclas  esse  litteras  arrogantiam  spirantes  qualem  in- 
dignissimi  nebulones  prae  se  ferrent.  Eine  sehr  geistreiche  Art  zu 
argumentiren!  Der  bombastische,  grosssprecherische  Ton  des  Brie- 
fes ist  absichtlich  angenommen,  weil  er  einem  Barbaren  und  zwar 
einem  orientalischen  Fürsten  gilt,  und  ist  darauf  berechnet,  diesem 
zu  imponiren  (lxir%fj£u*ß  vergl.  Epist.  ad  Themist.  S.  363  A).  Eine 
andere,  aber  nicht  hieher  gehörige  Frage  ist,  ob  zu  diesem  Zwecke 
ganz  die  rechten  Mittel  gewählt  sind;  da  aber  dieser  Ton  Julian 
durchaus  nicht  natürlich  war,  so  werden  wir  gegen  Fehlgriffe  im 
Einzelnen  Nachsicht  haben  müssen.  Nicht  triftiger  ist  Heyler's  zwei- 
ter Grund :  praeter  Julian!  morem  insultatur  memoriae  Constantini. 
Dieser  wird  nämlich  äßq6juxog  xat  noXvfrfjg  genannt,  welches  letz- 
tere der  dreissigjahrige  Julian  von  dem  45jährigen  Constantius  im- 
merhin sagen  konnte.  Auch  diese  Herabsetzung  des  Constanttas 
ist  darauf  angelegt,  den  Arsaces  einzuschüchtern  und  ihm  zu  sa- 
gen, dass  jetzt  strengere  Saiten  aufgezogen  werden.  Ob  derselbe 
Zweck  nicht  auch  auf  eine  tactvollere  Weise  zu  erreichen  gewesen 
w'äre,  gehört  nicht  hieher.  Auch  dieser  Brief  ist  durch  Sozomenos 
hinreichend  beschützt.  Dieser  sagt  (VI,  1):  IdQtfaxfm  ...  ¥ygcnps 
(fvfifiC^at  mql  t^v  nofafitov*  änavd-adeiaadfievdg  re  7i4qav  zov 
fingCov  iv  t#  Imäzolfj  tötadibv  f*ffv  i^dqag  dg  imTtjfotor  nqog 
IjyifiovCav  xal  (ptlov  olg  lvö[u&  &eoig  (was  alles  Wort  für  Wort 
auf  Ep.  67  passt),  KwvGtavrtcp  rt,  6V  dtedQaw,  wg  dvdvSqoo  xoü 
äasßti  XoidöQrjödfiBvog  u.  s.  w.  Die  Unmännlichkeit  liegt  in  &ßq4- 
Totrog  ausgesprochen,  das  Prädicat  äasß^g  oder  dvtfGeßjjg  aber  muss, 
wenn  man  es  nicht  schon  in  dem  Gegensatze  zu  Julian,  der  sich 
rbv  d-twv  &sgamvrtft  nennt,  liegen  sollte,  an  die  Stelle  des  ohne- 
hin sehr  auffallenden  und  nur  auf  Muratori's  Handschrift  beruhen- 
den TToXvsr^g  gesetzt  werden.  Wenn  endlich  Sozomenos  als  wei- 
teren Inhalt  des  Briefs  angiebt:  Imi  Xqrtnavbv  dVra  iitw&dvtto 
(rdv  ^Aqadxiov) ,  imnCvcov  rffv  vßqw  f[  ßXa<r<pri(iHv  ä  pf}  &£(ug 
&7toi)ddt>ü)V  dg  rdv  Xqwibv,  . .  •  ämx6[ma<fcv  vTtodrjXwv  äg  oi* 
btafufooi,  Sv  fiyiXtai  &edv  ih,y(OQOvvn  rdSv  TVQogrtrayfAivwv,  —  so 
kann  dies  nur  zum  Beweise  dienen,  dass  hier  derselbe  Fall  ist,  wie 
so  häufig  bei  Julian  (vergl.  Heyler  zu  Ep.  97,  S.  292,  zu  38  fin.  S.  350 
und  zu  03  fir).  S.  479),  dass  nämlich  6i^  mönchischen  Abschreiber 


Zur  Geschichte  des  Kotier*  Jutianui.  159 

die  dem  Christentum  feiodlioben  Stellen  gradezu  weggelassen  ha- 
ben; vielleicht  aber  ist  die  Stelle  nur  eine  Remfniscenz  von  einer 
aus'Sokrates  herübergenommenen  früheren  Erzählung  (V,4,  S.483D), 
wo  es  von  Julian  hiess:  imi  öe  xal  inuSxulmw  ol  äntq  dutäti 
dg  tdy  XqustÜv,  ßka<r<f7}ftatv  od  i§  o  yahXaiog  cov  (des  blinden 
Bischofs  Maris)  &tdg,  stnt,  &SQamvcn  at.  Endlich  tnuss  selbst 
Heyler,  der  pathetisch  sagt:  equidem  totum  foetum  ut  impurum 
damno;  scripserit  aliquis  fraudafor,  qui  e  Sozomeno  didicerat,  Ja* 
lianam  similis  argumenti  litteras  ad  Arsacem  deditse,  —  zugeben: 
quisquis  fuerit  auctor,  non  imperitus  erat  stili  Juliani.  Also  ein 
neuer  Bestätigungsgrund  der  Aechtheit. 

Auch  die  zuerst  von  Fabricius  herausgegebenen,  von  Heyler 
sub  No.  68  —  77  abgedruckten  Briefe  halte  ich  mit  Ausschluss  des 
letzten  und  etwa  des  ersten  alle  für  acht.  Heyler  in  seiner  aple- 
diluvianischen  Manier  urtheilt  über  sie  (S.  495):  mea  sententia  com- 
plures  Jntersunt  indignae  Juliane  Aliae  sunt  adeo  futiles,  ut  argu- 
mentum agnoscam  nullum  easque  scriptae  censeam  ab  otioso  quo- 
piam  homine,  qui  nugis  eiusmodi  tetapus  faller  et;  aliae,  quibus 
argumentum  est  quantumvis  leve,  tantam  in  singulis  locutionibus 
cum  stilo  Juliani  concordantiam  referunt,  ut  Julianum  se  ipsum  ex- 
scripsisse  minus  existimem  quam  servum  aliquod  iuiitatorum  pe- 
cus  (?)  fueum  nobis  facere  voiuisse.  So  ungeschickt  indessen  diese 
ganze  Argumentation  ist,  so  ist  doch  einzelnes  davon  nicht  zu  be- 
streiten. So  ist  es  an  Ep.  68,  die  bei  Heyler  8  Zeilen  füllt,  doch 
auffallend,  dass  fast  die  Hälfte- aus  Wendungen  besteht,  welche 
wörtlich  ebenso  in  früheren  Briefen  vorkommen  (s.  Heylers  Noten). 
Desto  weniger  ist  bei  Ep.  69  Grund  zur  Verdächtigung.  Inhalt  und 
Form  ist  durchaus  in  der  sonstigen  Weise  des  Julian,  und  auch 
Heyler  sagt  (S.  497):  quaedam  leguntur  utique  convenientissima 
Juliano.  Nichtsdestoweniger  meint  er:  sententiae  complures  adeo 
sunt  inconcinnae,  ut  interpolatus  videatur  conlextus.  Nur  hat  er 
diese  sententiae  inconcinnae  näher  nachzuweisen  unterlassen,  und 
die  Annahme  einer  blossen  Interpolation  enthält  das  Zugeständnis* 
der  Aechtheit  in  sich.  Auch  Ep.  70  erklärt  Heyler  für  unverdächtig, 
wie  er  den  Inhalt  von  Ep.  71  non  alienum  a  Juliani  moribus  findet» 
Ep.  72  erklärt  er  stillschweigend  für  acht,  von  Ep.  73  urtheilt  er 
(S.  500):  insunt  complura  stilum  Juliani  referentia.  Dagegen  bei 
Ep.  74  heisst  es  (S.  503):  absurdes  hasce  litteras  nemo  sanus  iudi- 
eabit  esse  Juliani.  Is  enim  pro  vitandis  publicae  vecturae  incom- 
modis  (unrichtige  Darstellung;  die  Post  ist  nur  nicht  zu  rechter 
Zeit  da,  und  er  tröstet  sich,  er  wäre  doch  nur  durchgeschüttelt 
worden  u.s.  w.)  minime  coactus  esset  pedibus  uti  suis;  vel  si  de- 
leciationis  gratia  pedestre  fecisset  iter  nunciaturus  a  puerili  tempe* 
rasset  östentatione,  quae  nugarum  insuUissimum  venatorem  prodit. 


I 

I 
I 


160  Zur  Geschickte  des  Kaisers  Jutianus. 

Mit  solchen  polternden  Urtheiien  kann  man  sich  nur  lächerlich  ma- 
chen. Abgesehen  davon,  dass  es  nicht  unmöglich  ist,  dass  der  Brief 
von  Julian  geschrieben  wurde  ehe  er  eine  öffentliche  Stellung  hatte, 
ist  es  ganz  in  der  Art  des  mit  seiner  Einfachheit  und  Abhärtung 
sogar  etwas  kokettirenden  Kaisers,  wenn  o'ie  erwartete  Fahrgele- 
genheit nicht  im  Augenblick  zur  Stelle  ist,  einen  Theil  des  Weges 
(bis  er  eingeholt  wird)  zu  Fusse  zurückzulegen.  Und  was  die  osten- 
tatio  betrifft,  so  hatte  ein  Privatmann  (was  der  nugarum  venator 
wäre)  dazu  ja  gar  keine  Veranlassung  gehabt,  indem  nur  bei  einem 
Hochstehenden  etwas  derartiges  einigermaassen  bemerkenswert 
erscheinen  kann ;  indessen  ist  die  ostentatio  in  dem  Briefe  gar  nicht 
vorhanden  und  derselbe  hat  so  viele  kleine  Eigentümlichkeiten 
des  Julian  an  sich  (Citate  aus  Homer  und  Plato,  Lieblingswörter 
wie.  äXXoxöiog  u.  dgl.),  dass  wir  ihn  unbedenklich  für  acht  hallen. 
—  Zu  Ep.  75  bemerkt  Hey ler  (S.  505):  adeo  futilis  est,  ut  an  (num) 
Julian i  sit,  addubitare  liceat.  Otiosj  sophistae  poterit  esse  lucubra- 
tio  (also  —  wenn  wir  nur  das  Uebertriebcne  dieser  Behauptung 
abziehen  —  auch  Juliani).  Locutiones  tarnen  usurpantur,  quas  ad 
instar  bonorum  auctorum  Julianus  frequentavit  (d.  h.  quibus  saepe 
usus  est);  unde  liquet,  fraudatorem,  si  exstitit,  non  ex  toto  rüdem 
fuisse.  Dies  hebt  sich  von  selbst  auf  und  der  Brief  ist  also  julia- 
nisch. —  Ep.  76  ist,  wie  auch  Heyler  (S.  507)  anerkennt,  entschie- 
den acht  und  auch  ausserlich  ganz  gut  beglaubigt.  Aber  Ep.  77  ist 
das  Fabricat  eines  Christen,  so  gewiss  wie  der  angebliche  Brief  des 
Gallus  an  seinen  Bruder  Julianus.  Heyler  (S.  510)  echauffirt  sich 
wieder:  quae  hinc  elucent,  intolerabilis  arrogantia  prorsusque  ri- 
dicula  iaetatio,  non  minus  ab  indole  Juliani  sunt  alienae,  quam  ab 
eius  stilo  vocabula  quaedam  abhorrent  monstruösa,  quae  nonnisi 
ab  insulsissimo  nebulone  poterant  effingi.  Andere  Verdachtsgründe 
sind:  Julian,  der  mehre  Jahre  in  Gallien  und  Germanien  zubrachte, 
hätte  die  fiogtpr}  uyqiatvovGa  der  Gothen  nicht  neu  und  bemer- 
kenswert!) finden  können;  er  hätte  nicht  voraus  und  am  wenigsten 
an  Basilius  geschrieben:  Sei  fi€  ctiv  noXXtS  tw  7d%€*  xaraXaßtiv 
irjg  IltQGüv,  was  gradezu  komisch  ist;  die  Wendung  (du  fu  tjo- 
m6<TaGd-cu  töv  2dnu)QU))  ä%Qt,g  oi  vjzöfpoqog  xal  vTfOttXrjg  po* 
ytvriTai,,  ist  eine  speeifisch  christliche  (neutestamentliche)  und  hier 
sehr  übel  angebracht;  Julian  soll  sich  zu  seiner  Legitimation  auf 
nichts  Besseres  zu  berufen  wissen,  als  darauf,  dass  er  KanKftM' 
rtvov  tov  XQuittixov  dir&yovog  sei,  was  bei  einem  Christen  aller- 
dings fast  die  einzige  unbedenkliche  Beglaubigung  für  Julian  war; 
endlich  ist  die  Abzweckung  des  ganzen  Briefs  vollständig  absurd 
und  in  der  Form  zeigt  sich  eine  ganz  unjulianische  Armuth  an 
Ausdrücken,  so  dass  dreimal  von  Julian's  Charakter  yaXrjvdg  ge- 
braucht wird,  was  Julian  niemals  in  diesem  Sinne  angewandt  hätte, 


lieber  Kruse* s  Necrolivonica.  161 

zweimal  die  Verbindung  vnöyoQoq  xai  inonkfa  u.  s.  f.  Die  ün- 
äcblheit  kann  daher  kaum  bezweifelt  werden.  Aecbt  ist  nur  das 
durch  Sozom.  V,  18  hinreichend  beglaubigte  Witz  wort  am  Schlüsse 
(dvfyvwv,  eyvutv  Kai  xmiyvwv),  welches  die  Veranlassung  zur  Fa- 
brication  des  ganzen  Briefes -gegeben  hat. 

Tübingen.  Dr.  W.  Teuffei. 


Heber  Kruse'*  Necrolivonica. 


Die  Altertfaümer,  welche  die  Ueberschwemmung  der  Düna  im 
*  Frühjahr  1837  zu  Tage  brachte,  erregten  sofort  die  Aufmerksamkeit, 
wie.  des  historischen  Vereines  in  Riga,  so  auch  der  russischen  Re- 
gierung. Von  Seiten  der  letzteren  wurde  Prof.  Kruse  in  Dorpat 
beauftragt,  einen  Theil  des  Fundes,  der  nach  Mitau  gekommen  war, 
genauer  zu  untersuchen.  Er  that  es  und  berichtete  darauf  i.  J.  1838, 
die  meisten  der  von  ihm  gesehenen  Alterthümer  seien  warägisch- 
russischen  Ursprunges,  man  habe  jedoch  auch  an  mphren  Orten 
der  livländiscben  und  kurlandischen  Küste  acht  römische  und  grie- 
chische Antiquitäten  gefunden,  denen  näher  nachzuforschen  erfor- 
derlich .sein  möchte.  Auf  den  Grund  dieses  Berichtes  wurde  eine 
zweite  grössere  Untersuchungsreise  durch  Kurland,  Livland  und 
die  Insel  Oesel  angeordnet.  Herr  Kruse,  der  sie  auszuführen  hatte, 
erhielt  dabei  die  Vorschrift,  die  genauesten  Nachforschungen  anzu- 
stellen, um  die  Oertlichkeit ,  den  Zustand  und  die  äussere  Gestalt 
der  alten  Gräber  mit  mehr  Bestimmtheit  kennen  zu  lernen  und  die 
in  ihnen  enthaltenen  Sachen  zur  Erläuterung  der  historischen  Nach» 
richten  über  den  Seehandel  dieser  Gouvernements  in  den  alten  Zei~ 
ten  zir  untersuchen.  Durch  diese  Instruction  waren,  wie  der  In- 
struirte  selbst  richtig  bemerkt,  die  Resultate  seiner  Reise  bedingt. 
Fügt  er  aber  hinzu,  schöner  und  präciser  könne  die  Aufgabe,  die 
ein  Alterthumsforscher  sich  hier  setzen  müsse,  gewiss  nicht  gestellt 
werden:  so  ist  kein  Zweifel,  dass  sie  ihm  selbst  in  dem  Lichte  er« 
scheint,  sie  ist  unverkennbar  der  Wiederhall  seines  ersten-  Berich» 
tes,  der  alle  jene  Alterthümer  für  ausländisch  erklärt  hatte.  Wer 
davon  nicht  vorweg  überzeugt  ist,  wird  schwerlich  einverstanden 
sein,  dass  die  Gräber  und  Grabalterthümer  eines  Landes  allein  oder 
vornehmlich  über  dessen  Handel,  ja  nur  über  dessen  Seehandel  Auf» 
schluss  geben  können;  er  wird  die  Frage  der  unbefangenen  For- 
schung hinderlich  Gndfen,  Sie  ist  indessen  gestellt,  und  Prof.  Kruse 
hat  «ich  eifrigst  um  ihre  Lösung  bemüht.   Er. hat  die  ihm  aufgetra* 

Zeitschrift  f  Geschieht»*-.  IV.   1845.  H 


1 


162  Ueber  Kruse'*  Necrotwonica. 

gene  Reise  im  Sommer  1839  gemacht,  bat  dann  i.  J.  1840  eine  zweit« 
zur  Untersuchung  der  alten  Feste  Isborsk  und  das  Jahr  darauf  ein« 
dritte  nach  Reval  unternommen,  alle  mehr  oder  minder  ausschliess- 
lich für  den  einen  archäologischen  Zweck.  Ausgebreitete  bachge- 
lehrte Studien  sipd  ergänzend  hinzugekommen.  Das  Resultat  dieser 
mehrseitigen  Th'ätigkeit  sind  die  Necrolivonica. 

Dies  Buch  umfasst  Erörterungen  und  Abbildungen.  Die  letz- 
teren machen  einen  Atlas  von  44  Blättern  altertümlicher  Gegen- 
stände und  einer  Karte  von  Kurland,  Livland  und  Esthland  aas. 
Besonders  gefällig  und  sauber  ausgeführt  kann  man  die  Arbeit  nicht 
nennen;  sie  steht  in  der  Hinsicht  den  Abbildungen  des  Friderico- 
Francisceum  von  Lisch  bedeutend  nach.  Auch  vollständig  ist  sie 
nicht.  Eine  beträchtliche  Anzahl  Blätter,  auf  welche  das  Buch  ver- 
weist, sind  in  dem  Atlas  nicht  enthalten.  Doch  ist  dieser,  aller  Man- 
gel ungeachtet,  eine  dankenswerthe  Gabe;  er  veranschaulicht  eine 
Menge  altertümlicher  Gegenstände,  wie  die  Beschreibung  es  nicht 
vermöchte,  und  hat  dadurch  der  nordischen  Archäologie  einen  we- 
sentlichen Dienst  geleistet.  Der  erörternde  Theii  der  Necrolivonica 
hat  gleichfalls  ein  unfertiges  Ansehen.  Er  besteht  aus  einem  Ge- 
neralberichte an  den  Minister  v.  Ouwarow  mit  sechs  Beilagen.  Diese 
sieben  Stücke  machen  nicht  einmal  äusserlich  ein  Ganzes  aus,  je- 
des ist  besonders  paginirt;  innerlich  sind  sie  es  eben  so  wenig. 
Der  Leser  wird  unaufhörlich  von  dem  Berichte  in  die  Beilagen,  von 
diesen  in  jenen  verwiesen,  durch  Wiederholungen  ermüdet  und 
gelangt  doch  kaum  zu  einer  klaren  Uebersicht.  Auch  dem  Inhalte, 
den  Untersuchungen,  den  geschichtlichen  Combiuationen  und  Hy- 
pothesen des  Verf.  tässt  sich  vielfach  nicht  beistimmen.  Aber  seine 
ausgebreitete  Belesenheit  hat  von  da  und  dort  her  eine  reiche  Fülle 
historischen  und  archäologischen  Materials  zusammengebracht,  das 
späteren  Forschern  zu  Gute  kommt,  nnd  woraus  diese,  aufgefor- 
dert selbst  durch  dessen  erste  Behandlung,  unbedenklich  in  vielen 
Stücken  ganz  andere  Ergebnisse  gewinnen  werden,  als  die  vorlie- 
genden und  doch  aus  ihnen  hervorgegangene.  Seien  daher  die  Ne- 
crolivonica mit  geziemender  Anerkenntniss,  aber  mit  dem  Vorbe- 
halte der  Einsage  auf  vielen  Punkten,  als  eine  bedeutende  Erschei- 
nung in  dem  Gebiete  der  nordischen  Altertumswissenschaft  will* 
kommen  geheissen, 

Der  Verf.  beginnt  damit  die  historischen  Nachrichten  über 
den  Seehandel  der  russischen  Ostseeprovinzen  zusammenzustellen, 
welche  nach  der  Vorschrift  der  Regierung  durch  die  Altertbümer 
sollten  erläutert  werden.  Der  Bernstein  und  die  griechische  Mythe 
von  dessen  Entstehung  sind,  wie  gewöhnlich,  voran;  ihnen  folgen 
Hypothesen  über  einen  alten  Handelsverk*Nr  der  Phönicier  nnd 
Griechen  mit  der  von  Pytbeas  erwähnten  Insel  Basilia,  nach  Herrn 


lieber  Kruse'*  Necrolkxmica.  163 

Kruse  dem  jetzigen  Oesel,  und  dem  Lande  am  Eridanus,  der  die 
Windau  oder  Düna  sein  soll  Die  Getanen,  welche  nach  Herodol 
(IV.  108)  hellenischer  Abkunft  aus  den  Empörten  am  schwarzen 
Meere  waren,  sucht  der  Verf.  an  der  Stelle,  wo  später  Novgorod 
gegründet  wurde.  Nach  den  Griechen  sind  die  Römer  auf  See-  und 
Landwegen  mit  dem  Bernsteinlande  in  Handeisverbindung  getreten, 
auch  mit  Liviand.  So  wird  behauptet;  durch  geschichtliche  Zeugnisse 
begründet  ist  dieser  römisch-livländische  Bändel  so  wenig,  als  manche 
vorhergegangene  Annahme.  In  noch  näherer  Berührung  als  Grie- 
chen und  Römer  sollen  die  Geten,  Gothen  und  Skandinavier  mit 
den  Einwohnern  Livlands  gestanden  haben.  Die  Geschichte  dieser 
Verhältnisse  ist  ein  sehr  verschlungenes  Gesgjnnst  alter  und  neuer, 
glaubwürdiger  und  unhaltbarer,  mitunter  nicht  einmal  richtig  excer- 
pirter.  Nachrichten:  es  in  seine  Bestandtheile  aufzulösen  und  diese 
einzeln  zu  würdigen,  erforderte  eine  besondere  Arbeit.  Im  AI  Ige- 
meinen  liegt  dem  Kundigen  am*  Tage,  dass  der  Verf.  mit  dem  Cha- 
rakter und  der  Entstehung  der  nordischen  Sagen,*)  auf  deren  Zeug* 
niss  er  mit  Recht  ein  Gewicht  legt,  nicht  hinreichend  bekannt  ist. 
lflüiler'3  Sagabibliothek,  die  Untersuchungen  desselben  Geschichtfor- 
schers über  die  Quellen  des  Saxo  und  des  Snorre,  selbst  der  kleine, 
inhattreiebe  Aufsatz  über  den  Ursprung,  die  Blüthe  und  den  Unter» 
gang  der  islandischen  Geschichtschreibung**)  scheinen  für  ihn  gar 
nicht  vorhanden,  eben  so  wenig  Dahlmann's  Einleitung  in  die  Kri- 
tik der  Geschichte  von  Altdänemark.  Oder  lagen  vielleicht  auch  diese 
Arbeiten  auf  dem  von  Herrn  Kruse  verschmähten  Wege  der  neuen 
Hyperkritik ,  welche  fast  alle  Quellen  der  früheren  Zeit  durchaus 
verdächtigt,  verfolgt?  Was  die  Necrolivonica  auf  dem  Wege  der 
gewagten  Gombinationen  erreicht  haben,  lauft  auf  Folgendes  hinaus; 
Schon  zur  Zeit  Odin's,  eines  Zeitgenossen  des  Augustus,  und 
bald  nachher  wurden  von  den  dänischen  Königen  Hading  und  sei- 
nem Sehne  Frotho  L,  später  auch  von  einem  anderen  dänischen 
Könige  Hother  und  von  Rorik,  der  König  von  Dänemark  und  Schwe- 
den soll  gewesen  sein,  desgleichen  von  anderen  schwedischen  Kö- 
nigen Heerfahrten  nach  Esthland  und  Kurland  gemacht,  welche  Er- 
oberungen von  Festen  und  Landschaften  und  zeitweilige  Zinspflicht 
der  Bewohner  zur  Folge  hatten.  Ein  esthnischer  König  Olimar 
soll  sich  mit  dem  Hunnenkönige  Attila;gegen  Dänemark  verbündet 
haben  aber  geschlagen  sein.  Frotho  Uli  unterwarf  darauf  Esthland, 
üolmgard  und  Kiew,  sein  Sohn  Frotho  IV.  auch  Kurland,  Semgal- 


*)  Berr  Kräfte  schreibt :  Saga«,  ein  Plural,  der  so  wenig  deutsch,  als 
isländisch  und  dänisch  ist. 

**)  Er  sieht  deutsch  In  den  historisch  -  antiquarischen  Miltheilungen 
der  Gesellschaft  für  nordische  Alterthumskunde,  welche  die  NecroHvonica 
cltiren,  konnte  also  Herrn  Kruse  nicht  unbekannt  sein. 

11* 


1 


164  lieber  Kruse9»  Necrolwonicv. 

len  und  PreuSsen.  Die  bezwungenen  Estben  nahmen  die  Hülfe  Theo- 
dorich's  des  Grossen  in  Anspruch;  aber  der  Ostgothe  leistete  sie 
nicht  wegen  der  grossen  Entfernung.  So  standen  die  Esthen  noch 
in  der  Mitte  des  sechsten  Jahrhunderts  unter  danischer  Herrschaft, 
denn  König  Yngwar  von  Schweden,  der  sie  bekriegte,  wurde  von 
ihnen  erschlagen ,  und  Yngwar's  Sohn ,  König  Anund  eroberte  ihr 
Land  wieder.*)  Damals  wurde  Schweden  oft  von  Danen,  Esthen, 
Liven  und  Kuren  geplündert,  und  als  König  Anund  in  Eslhlaod 
einfiel,  erschlugen  ihn  die  Eslben.  Nicht  lange  nachher  endete  das 
Ynglingergeschlecht  in  Schweden,  und  Iwar  Vidfadme  gelangte  zur 
Herrschaft.  Dieser  eroberte  ausser  anderen  Landern  auch  wieder 
Esthiand.  In  der  firagallaschlacht,  welche  Iwar's  Enkel  Harald  Hil- 
detand und  Sigurd  Ring  einander  lieferten,  hielten  sich  Kurland  and 
Esthiand  zu  diesem,  Kiew  und  Ostragard  zu  jenem.  Sigurd  gewann 
den  Sieg  und  das  Königthum,  doch  unterwarf  Sigurd's  Sohn  und 
Nachfolger  Ragnar  Lodbrok  von  rieuem  die  Liven  ( Hellespontii), 
Tschuden  (Scythae),  Kurland  und  Samland.  Nach  dessen  Tode  wurde 
der  dänische  Unterkönig  Rurik,  der  Jätland  von  der  Eider  bis  zum 
Meere  in  Besitz  hatte,  durch  die  Tschuden,  zu  denen  auch  die  Esthen 
gehörten,  Slawen,  Krivitschen  und  Wessen  gerufen,  um  über  sie 
zu  herrschen  (861).  Er  ist  der  bekannte  Stifter  des  Grossfürsten- 
ihums  Russland. 

Herr  Kruse  legt  auf  diese  Entdeckung  ein  besonderes  Gewicht. 
Es  ist  nun  klar,  meint  er,  dass  die  ersten  Vorfahren  des  erhabenen 
russischen  Herrschergeschlechtes  nicht  rohe  Gaziken  oder  gemeine 
Seeräuberhäuptlinge  waren,  wie  manche  Historiker  fabeln,  soodern 
in  der  genauesten  Verbindung  standen  mit  dem  soandinavtscheo 
Herrschergeschlechte ,  weiches  mehre  berühmte  Throne  auch  des 
westlichen  Europa  gründete  und  vor  Columbus  seine  Entdeckun- 
gen bis  Amerika  ausdehnte.  Ohne  Rhetorik  gesprochen,  der  Verf. 
sucht  darzuthun:  die  Russen,  welche  nach  Nestors  Erzählung  an* 
Rurik  und  seinen  Brüdern  sich  in  Novgorod,  Bielosero  und  Isborsk 
niederliessen ,  kamen  nicht,  wie  man  bisher  angenommen  bat,  aus 
Schweden*,  sondern  aus  dem  Rosengao,  der  in  der  Gegend  von 
Schleswig  und  um  die  Quellen  der  Eider  lag,  südlich  begrenzt  von 
den  Obotriten,  nördlich  von  den  Angeln;  Rurik  selbst  war  eine 
Person  mit  Rorik,  dem  Bruder  des  Dänenkönigs  Heriold,  der  auf 
Antrieb  Ludwigs  des  Frommen  in  Mainz  die  Taufe  empfing.  Aber 
die  Argumentation,  durch  welche  die  neue  Hypothese  sieb  be- 
gründet, gewährt  keine  Ueberzeugung. 

Rorik,  der  Bruder  Heriolds,  wurde  von  dem  Dänenkönige  zum 


*)  In  dieser  Weise  durch  „denn",   wie  durch   „und"   verbindet  der 
Verf.  die  angeführten  Tbatsachen. 


r* 


lieber  Kruse' s  Necrolivonica.  165 

Unterkönige  oder  Comes  von  Jütland  eingesetzt  behauptet  Herr 
Kruse,  gestützt  auf  das  Zeugniss  der  Fulder  Annalen,  welche  beim 
Jahre  857  berichten,  der  Nortmanne  Rorik  habe  von  Dorestat  aus, 
mit  Zustimmung  seines  Herrn,  des  Königs  Lothar,  eine  Flotte  nach 
den  Grenzen  der  Dänen  geführt  und  sammt  seinen  Gefährten  mit 
Zustimmung  des  Dänenkönigs  Qorich  den  Theil  des  Königreiches 
besetzt,  der  zwischen  dem  Meere  und  der  Eider  belegen.4)  Un- 
möglich können  die  Worte  den  Sinn  haben,  den  die  Hypothese  in 
ihnen  findet:  sie  waren  dann  der  schiefste  Ausdruck,  den  ein  ein- 
facher Gedanke  finden  könnte,  und  der  sie  schrieb,  der  Annalist 
Ruodolf,  war  nach  der  Meinung  seiner  Zeitgenossen  ein  ausgezeich- 
neter Geschichtschreiber  und  Dichter,  ein  herrlicher  Meister  in  al- 
len freien  Künsten  (Ann.  Fuld.  865).  In  der  angeführten  Erzählung 
ist  unverkennbar  von  nichts  anderem  die  Rede,  als  von  einer  vor- 
übergehenden militärischen  Besetzung,  die  der  Danenkönig  gestat- 
tete, damit  von  hier  aus  irgend  ein  Kriegsunternehmen  ausgeführt 
werde.  Welches,  deuten  auch  die  Annalen  hinreichend  an.  Die 
Garolingischen  Könige  Lothar  und  Ludwig  der  Deutsche  hatten  schon 
vor  Rorik's  Aufbruch  aus  Dorestat  eine  Zusammenkunft  gehabt  (Ann. 
Fuld.  857).  Sie  muss  nicht  zu  beiderseitiger  Zufriedenheit  ausge- 
fallen sein,  denn  zu  einer  zweiten,  die  im  April  des  folgenden  Jah- 
res in  Coblenz  statt  finden  sollte,  fand  Lothar  sich  nicht  ein.  Er 
schloss  vielmehr  ein  Bündniss  mit  dem  Könige  Carl  dem  Kahlen 
gegen  Ludwig.  Dieser  rückte  mit  Heeresmacht  in  Carl's  Königreich 
ein  (Ann.  Fuld.  858).  Da  fielen  Dänen  in  Sachsen  ein,  das  zum 
Reiche  Ludwig's  des  Deutschen  gehörte,  wurden  aber  zurückge- 
schlagen *nn.  Bertin.  858).  Es  waren  allem  Ansehen  nach  die  Da- 
nen Rorik's,  die  eben  zu  dem  Zwecke  an  die  Eider  hinüber  gegan- 
gen waren,  um  von  da  aus  Ludwig's  Gebiet  zu  bedrohen.  Däni- 
scher ünterkönig,  Comes  von  ganz  Jütland,  ist  mithin  der  Bruder 
des  Heriold  nie  gewesen  5  das  von  ihm  auf  kurze  Zeit  besetzte  Land 
zwischen  dem  Meere  und  der  Eider  kann  nicht  mehr  begriffen  ha- 
ben, als  die  jetzige  Eiderstedter  Marsch  mit  der  Strecke  Geest  in 
ihr,  den  Raum  von  der  Eidermündung  bis  zur  Hever  Tiefe.  Aus 
der  Gegend  von  Schleswig,  aus  dem  Rosengau,  müsste  demnach 
der  Stifter  des  Grossfürstenlhums  Russland  weichen.  Auch  der  Gau 
weicht  von  der  ihm  angewiesenen  Stelle.  Der  Rosengau  ist  näm- 
lich das  nur  einmal  in  der  Chronik  von  Moissac  erwähnte  Rosogavi. 
Dass  diese  Landschaft  am  linken  Ufer  der  untern  Elbe,  in  der 

Nähe  des  Gaues  Wihmuodi  gelegen,  unterliegt  keinem  Zweifel.   Die 

_ 

*)  Rorih  Nordmannus,  qui  praeerat  Dorestado,  cum  consenau  domint 
sui,  Hlotharii  regis,  classem  duxit  in  fines  Danorum,  el  consentiente  Horico 
Danorum  rege,  partera  regni  quae  «St  inter  mare  et  Egidoraro  cum  sociis 
suis  possedit.    Ann.  Fuld.  857. 


166  Ueber  Kruse1  s  NecroUeonica. 

Chronik  von  Mois%ac  berichtet  beim  Jahre  804:  Deinde  misit  Impe- 
rator scaras  suas  in  Wimodia  et  in  Hostingabi  et  in  Rosogavi,  ut 
illam  gentem  foras  patriam  traducerent;  nee  non  et  illos  Saumes, 
qui  ultra  Albiam  erant,  transdnxit  foras  (Pertz  Monom.  Germ.  T.I. 
S.  307 ).  Die  Stelle  zeigt  zugleich ,  wie  unhaltbar  die  Annahme  ei- 
nes früheren  Rosengaues  am  rechten  Eibufer  ist,  dessen  Bewoh- 
ner Carl  der  Grosse  eben  i.  J.  804  soll  fortgeführt  und  auf  die  linke 
Seite  des  Stromes  verpflanzt  haben,  woraus  dann  der  spatere  Ro- 
sengau entstanden. 

Schleswig  ist  also  nicht  die  Beimath  der  Russen.  Ihre  Verknü- 
pfung mit  dem  Rosengau  ist  nur  ein  phantastisches  Spiel  mit  Na- 
men. „Es  scheint  —  äussert  sich  der  Urheber  dieser  Meinung— 
als  wenn  ein  Theil  der  Russen  besonders  den  (bei  den  Byzanti- 
nern üblichen)  Namen  der  Ros  oder  Rosen  geführt  hatte,  denn(!) 
es  gab  jenseits  der  Elbe  einen  besonderen  Rosengau."  Die  ältere 
Ansicht  über  das  Vaterland  Rurik's  und  seiner  Genossen  hat  sieb 
nach  haltbareren  Gründen  umgesehen.  Nestor  selbst  giebt  keine 
bestimmte  Auskunft,  wohl  aber  Prudentius  Trecensis,  ein  fränki- 
scher Annalist,  der  um  eben  die  Zeit  schrieb,  da  die  Russen  sich 
in  Novgorod  niederliessen:  sein  Geschichtbuch  scbliesst  mit  dem 
Jahre  86I.  In  ihm  wird  beim  Jahre  839  gemeldet,  der  griechische 
Kaiser  Theophilus  habe  Gesandte  an  Ludwig  den  Frommen  geschickt, 
um  wegen  eines  Bündnisses  *zu  unterhandeln.  Mit  diesen  Griechen 
seien  auch  einige  Fremdlinge  gekommen,  die  sich  in  Constantinopel 
als  zum  Geschlechte  der  Rhos  gehörig,  als  Abgeordnete  ihres  Kö- 
nigs, kund  gegeben  hallen  (qui  se,  id  est  feentem  suanjw  Rhos  ?o- 
cari  dicebant,  quos  rex  illorum,  Chacanus  vocabulo,  arrse  (Theo- 
philum)  amicitiae,  sieul  asserebant,  causa  direxerat),  und  welche 
der  Kaiser  dem  Frankenkönige  empfohlen  habe,  damit  dieser  ihnen 
die  Heimkehr  durch  sein  Land  gestalte.  Kaiser  Ludwig  habe  der 
Sache  weiter  nachgefragt  und  in  Erfahrung  gebracht,  die  Männer 
seien  vom  Geschlechte  der  Schweden  (comperit  eos  gentis  esse 
Sueonum  (Pertz  Mon.  T.  I.  S.  434).  Dem  gemäss  bat  man  bisher 
angenommen,  Schweden  sei  die  Heimath  der  Russen  und  ihrer  er- 
sten Führer  an  die  Ufer  des  Ladoga  und  Urnen  Sees.  Herr  Kruse 
dagegen  interpretirt :  „Wenn  die  Rhos  sich  i.  J.  839  gegen  Ludwig 
den  Frommen  ex  genle  Sueonum  nannten,  als  einige  von  einer 
Gesandtschaft  nach  Byzanz  zurückkehrten:  so  ist  darunter  wohl 
nur  zu  verstehen,  dass  das  ganze  Geschlecht  des  Odin  ex  gente 
Sueonum  war."  Aber  von  dem  ganzen  Geschlechte  des  Odin  W 
in  der  Erzählung  des  Annalisten  gar  nicht  die  Rede,  sondern  sehr 
bestimmt  von  niemand  anders,  als  den  aus  Constantinopel  gekom- 
menen Männern  vom  Geschlechte  der  Rhos,  mit  welchem  Namen 
Photius  und  Kaiser  Constantin  Porphyrogenitus  die  Russen  bezeich- 


lieber  Kruse7 $  Necrolivonica.  167 

neu.  Es  ist  also  nach  allem  Bisherigen  kein  Grund  der  älteren 
Meinung  von  dem  Vaterlande  Rurik's  zu  Gunsten  der  neueren  ab- 
zusagen. 

Rurik's  nächste  Nachfolger,  melden  die  Necrolivonica  weiter, 
auf  Nestor  gestützt,  behaupteten  die  Herrschaft  über  die  Tschuden. 
Im  zehnten  Jahrhunderte  entstand,  durch  einen  neuangekommenen 
Waräger  Fürsten  Rogwolod  begründet,  ein  von  Russland  unabhän- 
giges Fürstentum  Polozk,  dem  sich  die  Liven  unterwarfen;  nur 
war  dessen  Selbstständigkeit  nicht  von  Dauer;  Wladimir  der  Grosse 
brachte  es  unter  russische  Herrschaft.  Damals  standen  die  jetzt 
russischen  Ostseeländer  Livland  und  Gsthland  in  bedeutendem  Han- 
delsverkehr mit  Dänemark  und  Schweden,  der  Mittelpunkt  dieses 
Handels  war  Birca.  Bald  aber  erhoben  sich  aus  den  dänischen  See* 
fahrern,  die  das  Ghristenthum  nicht  annehmen  wollten,  die  gefürch- 
teten Askemänner,  die  an  allen  Küsten  der  Ostsee  und  jenseits  der 
Ostsee  in  Sachsen,  Friesiand  und  England  als  Seeräuber  umher- 
schwärmten.  Deren  Hauptniederlassung  sucht  Herr  Kruse  an  der 
Düna,  da,  wo  die  Ueberschwemmung  des  Jahres  1837  die  merkwür- 
digen Alterthümer  zum  Vorscheine  gebracht  hat.  Der  Name  Asche- 
raden, welcher  von  dem  Altnordischen  askr  Schiff  und  rade,  dem 
deutschen  Rhede,  herkommen  und  Schiffsrhede  bedeuten  soll,  muss 
zur  Begründung  der  Hypothese  dienen.  Allein  ein  altnordisches 
Wort  rade  in  der  angeführten  Bedeutung  ist  mir  nicht  bekannt,  fin- 
det sich  auch  so  wenig  bei  Björn  Haldorson,  als  in  den  sonstigen 
Glossarien,  die  mir  eben  zur  Hand  sind,  und  Asch  bedeutet  im 
Mittelhochdeutschen  eben  sowohl  ein  Schiff,  als  askr  im  Isländischen. 
Auch  wird  der  Name  Ascomanni  von  Adam  von  Bremen,  bei  dem 
er  allein  vorkommt,  ausdrücklich  als  deutsch  bezeichnet;*)  im  Nor 
den  findet  sich  kein  anderer,  als  der  altübliche  der  Vikinger.  Asche- 
raden ist  demnach  höchst  wahrscheinlich  erst  von  den  deutschen 
Ansiedlern  in  Livland  benamt,  wie  die  dortige  Burg  erst  dem  Mei- 
ster Winne,  dem  Erbauer  von  Segewold  und  Wenden,  ihre  Ent- 
stehung verdankt.  Von  ihm  meldet  die  livländische  Chronik,  Welche 
man   dem  Dilleb   von  Alnpeke  zugeschrieben    hat  (Ausgabe  von 

Pfeiffer  v.  638-642): 

er  was  von  guotem  rate, 
das  hüs  ze  Aschräte 
büte  er  dar  nach  zebant 
er  tröste  wol  daz  arme  lant 
mit  siner  grözen  vrumekeit. 


*)  Fenint  eo   tempore  classem  piratarura,   quos  dos  tri  Aseomannos 
vocant,  Saxoniae  appulsam,  orania  Fresiae  atque  Hathulae  vastasse  maritima. 


Adana.  Brom.  73. 


168  lieber  Kruse'*  Necrolieonica. 

Als  die  Züge  der  Askemanner  gegen  die  Mitte  des  eilften  Jahr- 
hunderts aufhörten,  hatten  die  Danen  bereits  England  erobert;  Kö- 
nig Knud  der  Glosse,  der  beide  Reiche  beherrschte,  eroberte  aacfe 
wenigstens  einen  Theil  von  Esthland.  Dagegen  erbaute  um  eben 
die  Zeit  der  russische  Gross  fürst  Jaroslav  I.,  Wladimirs  Sohn,  Dor- 
pat  als  nördliche  Grenzfeste  gegen  die  Dänen,  während  er  ausge- 
breitete Verbindungen  mit  Byzanz,  Polen,  Deutschland,  England, 
Ungarn  etc.  unterhielt.  Dennoch  nahm  der  „  Dänenkönig  Knud  II. 
i.  J.  1080  Kurland,  Samogitien  und  Esthland  ein;  damals  war  Wse- 
wolod Jaroslawitsch  Gross  fürst  von  Russland.  Erst  dessen  Nach- 
folger wussten  sich  wieder  Einfluss  unter  den  Tschuden  zu  ver- 
schaffen. Zugleich  wurde  Nowgorod  mächtig  durch  seinen  Han- 
del mit  deutschen  Waaren,  deutsche  Kaufleute  Hessen  sich  in  der 
Stadt  nieder,  deutsche  Handelsschiffe  aus  Cöln,  Bremen,  Hamburg, 
bald  auch  aus  Lübeck  segelten  nach  Kurland,  Livland  und  Esthland. 
Durch  sie  gelangte  Meinhard  an  diese  Küste,  mit  dem  das  Cbristen- 
thum  und  die  deutsche  Colonisation  ihren  Anfang  nahmen. 

Den  historischen  Nachrichten  über  den  Handel  der  russischen 
Ostseelande  folgt  die  Betrachtung  der  Alterthümer,  welche 
jene  erläutern  sollen.  Schritt  vor  Schritt  der  Instruction  folgend 
beginnen  die  Necrolivonica  damit  die  Oertlicbkeit  nicht  nur  der 
alten  Gräber,  sondern  auch  der  alten  Befestigungen  und  Opferplätze 
zu  untersuchen,  der  beiden  letzteren,  weil  sie  die  vormals  bewohn- 
ten Gegenden  bezeichnen,  wo  man  mit  Sicherheit  auch  Grabalter- 
thümer  erwarten  kann.  Die  Gräber,  wird  bemerkt,  finden  sich 
meistenteils  in  den  Niederungen  an  den  bedeutenderen  Flüssen 
und  am  Meere  z.  B.  längs  der  Düna,  an  der  Abau,  an  der  Windau, 
am  rigischen  Meerbusen,  selten  in  höheren  Gegenden.  Daraus  zieht 
der  Verf.  den  Schluss,  jene  Denkmäler  rühren  zum  grössien  Theile 
von  einem  der  See-  und  Flussschiffahrt  kundigen  Volke  her.  Er 
bestimmt  diese  allgemeine  Andeutung  näher,  indem  er,  wie  andere 
vor  ihm,  die  Bauerburgen  unterscheidet  in  solche,  die  oben  platt 
und  ohne  Brustwehr  und  solche,  die  mit  einer  Brustwehr  umgeben 
sind.  Letztere  trifft  er  in  den  esthnischen,  erstere  in  den  lettischen 
Gegenden  an,  diese  ist  er  geneigt  warägischen,  jene  einheimischen 
Ursprunges  zu  glauben.  Indessen  erscheinen  die  Burgwälle  auch 
anderwärts,  wohin  die  Waräger  nicht  gekommen  sind,  in  jeuer  zwie- 
fachen Form.  In  Pommern  sind  die,  welche  Brustwehren  haben, 
die  häufigeren,  doch  fehlen  die  platten  nicht  ganz:  der  vierte  Jah- 
resbericht der  Gesellschaft  für  pommersche  Geschichte  und  Alter- 
tumskunde erwähnt  eines  solchen  am  Ahlbeker  See  in  der  Ueker- 
münder  Forst  (Neue  Pomm.  Prov.  Bl.  IV.  S.  203.  204).  Auch  liegen 
die  Opferplätze  und  Bauerburgen,  in  deren  Nähe  der  Verf.  mit  Recht 
die  alten  Gräber  sucht,  keines weges  ausschliesslich  in  den  Fluss- 


lieber  Kruse9 s  Necrolivonica.  1G9 

niederungen  und  an  der  Seeküste;  die  Nation,  welcher  die  Gräber 
angehören ,  kann  also  nicht  als  eine  ausschliesslich  oder  vorzugs- 
weise Schiffahrt   treibende  gedacht  werden.     Der  skandinavische 
Ursprung  der  Graber  bei  Ascheraden  und  aller  ihnen  ahnlicher, 
auf  den  die  Argumentation  hinaus  will,  ist  aus  ihrer  Oertlichkeit 
nicht  zu  folgern.   Die  Necrolivonica  erwägen  demnächst  die  Form 
der  Gräber.   Zwischen  Gräbern  und  Grabmälern  wird  nicht  aus- 
drücklich unterschieden,  doch  zeigen  die  Angaben,  dass  der  Unter- 
schied hier,  wie  anderwärts,  vorhanden.   Den  Gräbern,  die  keinen 
monumentalen  Zweck  haben,  ist  die  von  dem  Verf.  beschriebene 
erste  Form  beizuzählen:  die  Gruft  ist  in  den  ganz  ebenen  Boden 
gemacht,  die  Leiche  mit  ihrem  Schmucke  in  der  Richtung  von  N. 
nach  S.  hinein  gelegt;  über  der  Brust  liegen  mehre  grosse  Feld- 
sleine.  Das  Ganze  aber  ist  so  mit  Erde  überschüttet,  dass  auf  der 
Oberfläche  nichts  ein  Grab  andeutet.  Ob  auch  Urnenlager  ohne  äus- 
sere Bezeichnung  gefunden  werden,  wie  die  in  Meklenburg  und  Pom- 
mern bekannten  Wenden-  oder  Heidenkirchhöfe,  ergiebt  sich  nicht  mit 
Bestimmtheit.   Es  wird  nur  bemerkt,  dass  auch  zuweilen  in  natür- 
lichen Hügeln,  Kiesgruben,  Wäldern  und  Sümpfen  Grabalterthümer 
vorkommen,  manchmal  selbst  auf  neuen  Kirchhöfen,  denn  diese 
seien  oft  angelegt,  wo  früher  heidnische  Begräbnisse  waren.    Die 
Grabmäler,  von  denen  die  Necrolivonica  melden,  sind  theils  eben, 
theils  erhöbt,  die  letzteren  wieder  entweder  für  einzelne  oder  für 
mehre  Leichen  gemacht,  Monandrien  oder  Polyandrien,  nach  der 
Benennung  des  Verf. ;  die  erhöhten  Monandrien  sind  Hügel,  entwe- 
der von  Sand  oder  von  Steinen  aufgeschüttet.    Steinhügel,  Dysser 
wie  sie  in  Dänemark  heissen,  kennt  Herr  Kruse  nicht  aus  eigener 
Ansicht;  sie  kommen  aber  nach  der  Versicherung  des  Prof.  Hueck 
an  der  Grenze  Livland's  gegen  Russland  in  der  Gegend  von  Neu- 
hausen vor  und  enthalten  rohe  Urnen  mit  Asche.    Die  monandri- 
schen  Sandhügel  sind  zum  Theil  ohne  Stein  Umsetzung,  zum  Theil 
in  einem  Umkreise  von  grossen  Feldsteinen,  die  nicht  eingefassten 
bald  niedriger,  bald  höber.    In  den  niedrigen  liegen  grösstenteils 
unverbrannte  Leichen  in  der  Richtung  von  N.  nach  S. ;  sie  enthal- 
ten daher  gewöhnlich  mehr  Grabalterthümer  als  die  höheren,  die 
meist  Brandstätten  bedecken.   Sandhügel  mit  Steinen  umkränzt  trifft 
man  nur  bei  Seiburg,  nirgend  in  Livland,  Esthland  und  dem  nörd- 
lichen Kurland;  auch  sie  sind  über  Brandstätten  aufgeworfen.  Po- 
lyandrische  Grabmäler  fand  der  Verf.  der  Necrolivonica  an  zwei 
Orten,  bei  Kapsehten  und  Dreymannsdorf.   Es  sind  hohe  Hügel  von 
Sand.  Rings  umher  in  bedeutender  Ausdehnung  bemerkt  man,  dass 
der  Boden  1  oder  l\  Fuss  tief  mit  einer  Lage  von  vielen  Kohlen 
vermischt  ist,  in  der  sich  Urnen,  Bronzefragmente  und  eiserne  Ge- 
räthe  vorfinden,  fast  alle  mit  Kennzeichen  des  Brandes.   Man  sieht, 


170  Ueber  Kruse' $  NecroUeomca. 

dass  die  Körper  der  Todten  rings  um  den  grossen  BegräbnissplaU 
verbrannt  and  dann  die  Urnen  mit  Knochen  and  lletallüberresten 
in  den  Hügel  verscharrt  wurden.  Die  ebenen  Grabmäler  sind  all« 
monandrisch ,  liegen  aber  an  manchen  Orten  in  grosser  Zahl  bei 
einander.  Sie  sind  von  zweierlei  Art.  Die  einen  bestehen  aus 
Steinquadraten,  die  auf  ebener  'Erde  liegen  und  in  der  Mitte  nocb 
eine  Steinsetzung,  einen  Kreis  oder  ein  Oblongum,  enthalten.  Die 
Leichen  darin  sind  unverbrannt,  ihre  Lage  von  N.  nach  S.,  die 
Tiefe  des  Grabes  ungefähr  24  Fuss;  der  Bestattete  bat  seinen  gan- 
zen Schmuck,  seine  ganze  Bewaffnung  bei  sich.  So  sind  die  Grab- 
statten bei  Ascberaden  und  an  mehren  andern  Orten  des  Dunatba- 
les;  ob  sie  immer  so  waren,  ob  nicht  ursprünglich  Erdbügel  über 
den  Steinquadraten  aufgeschüttet  standen,  ist  dem  Verf.  fraglich. 
Bei  Ascheraden  war  vor  der  Ueberscbwemmung  von  den  Steinset- 
zungen nichts  zu  sehen,  sie  waren  mit  Erde  bedeckt,  die  erst  durch 
den  Fluss  weggesefalämmt  wurde.  Gewiss  von  jeher  eben  ist  die 
andere  Art  dieser  Grabmaler,  Steinquadrate«  gleich  der  ersterea, 
aber  darin  ihr  ungleich,  dass  die  Quadrate  ganz  mit  kleinen  Stei- 
nen angefüllt  sind,  unter  welchen  unmittelbar  ein  sehr  schwarzer, 
mit  Kohlen  vermischter  Boden,  Reste  verbrannter  Knochen,  Urnen- 
scherben,  Stücke  zerschmolzenen  Metalls,  mitunter  etwas  tiefer  eioe 
ganze  Urne. 

Die  Necrolivonica  mühen  sich  nun  nachzuweisen,  was  die  fort- 
während im  Hintergrunde  stehende  Hypothese  fordert,  dass  alle 
Gräber  und  Grabmäler  Livland's  auch  in  Skandinavien  vorkommen. 
Wie  trüglich  aber  der  Schluss  von  der  Uebereinstimmung  des  äus- 
seren und  Inneren  der  Gräber  auf  gleiche  Nationalität  ihrer  Stifter, 
ist  schon  früher  bemerkt.  In  dem  vorliegenden  Falle  hat  sogar 
die  Uebereinstimmung  Schwierigkeilen.  Die  Sandhügel  in  Kreises 
von  Feldsteinen,  wie  sie  bei  Seiburg  erscheinen,  haben  ihres  Glei- 
chen nicht  überall  im  scandinavischen  Norden,  sondern  nur  in 
Schweden,  und  Rurik  soll  aus  Schleswig  gekommen  sein.  So  ge- 
hören sie  vielleicht  —  erwiedert  Herr  Kruse  —  dem  mit  Rogwolod 
eingewanderten  Geschlechte  an,  das  sich  in  Polozk  und  am  linken 
Ufer  der  Düna  niederliess.  Die  Steinhügel  scheinen  ihm  von  Rö- 
mern gemacht,  nach  dem  römischen  Geräthe  zu  schliessen,  das 
man  in  Schlesien  in  einem  solchen  Grabmale  gefunden  hat,  doch 
wird  die  Annahme  ihm  selbst  wieder  zweifelhaft,  weil  häufiger  als 
in  Schlesien  die  Dysser  sich  in  Schweden  und  Norwegen  zeigen. 
Man  muss  hinzufügen:  sie  fehlen  auch  in  den  deutschen  Ostsee- 
ländern nicht,  es  sind  in  Meklenburg,  wie  in  Schlesien^ römische 
Alterthümer  in  ihnen  gefunden.  Deshalb  hat  auch  Lisch  wenig- 
stens einige  .dieser  Grabmäler  den  Römern  zugeschrieben)  die  bal- 
tischen Studien  (IX.  H.2.  S.  174  etc.)  betrachten  nur. den  alterthüm- 


lieber  Kruse*»  Necrolivonica.  171 

lieben  Inhalt,  nicht  die  Steinhügel  selbst  als  das  Werk  römischer 
Hände.  Völlig  abweichend  von  den  scandinavischeji  Gräbern  sind 
unter  den  Inländischen  nur  die  zuerst  beschriebenen,  welche  die 
Todten  unverbrannt  mit  schweren  Steinen  auf  der  Brust  in  sich 
bergen:  sie  scheinen  kaum  irgendwo  anders  im  Norden  vorzukom- 
men. Vielleicht  sah  man  in  der  Last,  womit  die  Leiche  beschwert 
wurde,  ein  Mittel  zur  Sicherung  ihrer  Grabesruhe  gegen  necro- 
mantiseben  Zauber,  der  wie  überall  so  auch  bei  den  nordischen 
Völkern  geglaubt,  geübt  und  gefürchtet  wurde  (Edda  Saem.  T.  L 
S.  340  etc.  T.  II.  S.  536  etc.  Rafn  Fornaldar  Sögur  Nordrlanda  B.  I, 
bes.  434  etc.  Vgl.  Finn  Magnusen  Eddalaeren  B.1V.  S.  259—267); 
in  Kurland  waren,  nach  dem  Ausdrucke  Adam's  von  Bremen  (cap. 
223),  alle  Häuser  voll  Todtenbeschwörer,  die  sich  durch  eine  be- 
sondere der  Mönchskleidung  ähnliche  Tracht  auszeichneten.  So 
waren  die  Vorstellungen,  welche  in  jener  Livland  eigenthümlichen 
Bestattungsweise  ihren  Ausdruck  fanden,  nur  anders  geäussert,  dem 
ganzen  Norden  gemein,  ja  sie  reichten  weit  über  diesen  hinaus. 
Die  Necrolivonica  meinen  es  anders.  Sie  finden  keinen  Grund  die 
zuletzt  bezeichneten  Gräber  von  den  übrigen  zu  trennen  d.  h.  sie 
nicht  für  scandinavisch  zu  halten,  weil  die  Schmucksachen,  welche 
sich  in  ihnen  finden,  in  Form  und  Legirung  ganz  dieselben  sind. 

Denn  auch  den  Inhalt  der  Gräber,  von  den  Todten  abge- 
sehen, betrachtet  Herr  Kruse  als  grösstentheils  aus  einer  Quelle  ge- 
flossen und  durch  den  Handel  unter  den  verschiedenen  Völkern 
dieser  Gegend  verbreitet  Die  scandinavischen  Waräger,  welche 
ihren  Austurweg  durch  die  Düna  und  den  Dnjepr  nach  Byzanz 
nahmen  und  mit  den  dort  erbandelten  Produclen  zurückkehrten, 
waren,  seiner  Meinung  nach,  die  Verbreiter  dieser  Handelsartikel 
wie  der,  die  aus  ihrer  Heimath  kamen.  Die  Annahme  zu  erhärten 
untersucht  er  die  gefundenen  Alterthümer  ihrer  Masse  und  ihrer 
Form  nach. 

Die  Masse  ist  Stein,  Glas,  Bernstein,  Thon,  selbst  Stücke  von 
Leder,  Hanf,  Bast  und  wollenem  Gewebe  haben  sich  gezeigt;  vor- 
waltend sind  metallische  Stoffe,  Silber,  Gold,  Zinn  und  Blei  ver- 
hältnissmassig  wenig,  etwas  mehr  Eisen,  am  meisten  Bronze.  Nun 
mangeln  aber  in  den  russischen  Oslseeprovinzen  alle  Metalle,  auoh 
die  Bestandtheile  der  Bronze,  auch  erscheinen  die  alten  Estben, 
Liven  und  Letten  in  den  Nachrichten  der  ersten  deutschen  Ansied- 
ler im  Lande  als  wenig  cultivirt.  Daraus  schliesst  der  Verf.  der 
Necrolivonica:  die  Bronzealterlhümer  von  Ascheraden  und  was  ih- 
nen ähnlich  können  nicht  im  Lande  selbst  und  von  den  Einhei- 
mischen gearbeitet  sein.  Gegen  das  letzte  der  beiden  Argumente 
hat  indessen  schon  v.  Brackel  in  den  Mittheilungen  des  Rigaer  hi- 
storischen Vereines  (B.  II.  S.  362  etc.)  erinnert,  die  christlichen 


172  lieber  Kruse* 8  Necrokvonicä 

Chronisten  seien  keine  unbefangene  Zeugen,*)  und  selbst  wenn 
man  ihre  Aussagen  als  wahr  annehme,  so  gehe  doch  daraus  nur 
hervor,  dass  der  sittliche  und  intellectuelle  Bildungszustand  der 
heidnischen  Bewohner  Livland's  in  der  Zeit,  da  die  Kirche  unter 
ihnen  ihr  Werk  begann,  ein  herabgestimmter  gewesen.  In  der 
That  wird  eine  solche  Detonation  überall  in  der  Geschichte  zu- 
nächst vor  dem  Eintritte  des  Christenthumes,  vor  jeder  grossen 
Erhebung  des  Geistes  bemerkbar.  Der  von  dem  Nichtvorhanden- 
sein der  Metalle  hergenommene  Einwand  würde  nicht  blos  Liviand 
treffen,  sondern  die  ganze  südliche  Ostseeküste,  auch  Dänemark 
und  Schleswig,  die  vermeintliche  Heimath  Rurik'ff  und  seiner  Wa- 
räger. Doch  hat  man  in  M  eklen  bürg  neben  altertümlichem,  bron- 
zenen Geräthe  die  Formen,  in"  denen  es  gegossen,  und  Stücke  un- 
verarbeiteten Metallös  gefunden,  in  Dänemark  ein  dünnes  Gefäss 
von  Bronze,  in  dem  noch  die  hart  gebrannte  Thonmasse,  über  die 
es  gegossen  ward  (Worsaae  Dänemarks  Vorzeit  durch  Afterthü* 
mer  und  Grabhügel  beleuchtet  S.  35.  Jahresbericht  des  Vereines 
für  meklenburgische  Geschichte  II.  S.  140).  Dass  der  Erzguss  in 
jenen  Ländern  selbst  getrieben  ist,  wird  nach  so  handgreiflichen 
Zeugnissen  nicht  zu  bezweifeln  sein.  Die  Geschichte  ist  damit  im 
Einklänge.  Nicht  nur  Widukind  (III.  68)  gedenkt  eines  ehernen 
Götzenbildes  der  Wagrier,  das  zur  Zeit  Otlo's  des  Grossen  von  den 
Sachsen  erobert  wurde;  schon  viel  früher,  mindestens  ein  Jahr- 
hundert vor  christlicher  Zeitrechnung,  gebrauchten  die  Cimbern 
Bronze  zu  Geräthen  ihres  Cultus  (Strabo  VII.  2.  £iSapa  xahutöv 

etc. xgaTfJQa  x^facotiv  etc.).     Woher  die  Rohstoffe  kamen, 

steht  dahin.  Der  Annahme,  welche  England  als  ihre  Mutterstätte 
betrachtet  (Worsaae  a.  a.  0.  S.  35,  36),  ist  zwar  die  Nachricht  gün- 
stig, dass  auf  den  Kassiteriden  Zinn  und  Blei  in  geringer  Tiefe  ge- 
funden wurden,  als  die  Römer  zuerst  dorthin  kamen,  auch  dass  die 
Einwohner  bereits  ihre  Metalle  an  Kaufleute,  die  zu  ihnen  kamen, 
verhandelten ;  aber  was  sie  dafür  eintauschten,  war  bronzenes  Ge- 


*)  Gewiss  stimmen  sie  nicht  zu  den  gelegentlichen  Nachrichten  der 
nordischen  Egilssage  (46,  53)  Über  den  Culiurzustand  der  Kurländer  im 
Anfange  des  zehnten  Jahrhunderts.  Damals  fanden  hier  die  isländischen 
Vikinger  Thorolf  und  Egil  an  der  Mündung  eines  grossen  Flusses  (vermutn- 
lich  der  Düna)  wohl  angebaute  Felder,  stattliche  Gehöfte,  Reichtbum  und 
Wohlleben.  Die  Einwohner  waren  mit  Pfeilen,  Wurfspiessen,  Lanzen  und 
Schwertern  bewaffnet;  eins  der  letzteren  nahm  Thorolf  von  da  mit  und 
gab  ihm  seiner  Schärfe  und  Trefflichkeit  halber  den  Namen  der  Natter. 
In  der  Küche  eines  gut  eingerichteten  kurländiscben  Hauses  sah  man  Kes- 
sel, die  über  dem  Feuer  hingen,  und  Schüsseln,  in  denen  die  Speisen  auf- 
getragen wurden;  es  gab  im  Hause  ein  grosses  Speisegemach  und  einen 
Schlafsaal,  viele  Diener  waren  hier  und  da  beschäftigt,  selbst  an  Kostbar- 
keiten fehlte  es  nicht,  besonders  war  Silber  reichlich  vorhanden. 


lieber  Kru$e'$  Necroticonica.  173 

räth  (Strabo  III.  5).  Uebereinstimmend  damit  berichtet  Cäsar  (de 
hello  gall.  y.  12)  von  Britannien,  das  Binnenland  enthalte  weisses 
Blei,  die  Küste  Eisen,  aber  wenig;  die  Bronze,  deren  man  sich  be- 
diene, sei  eingeführt.  Jeden  Falles  zeigt  die  Analogie  Dänemark'« 
und  Meklenburg's,  dass  die  Abwesenheit  einheimischer  Metallstoffe 
kein  Grund  ist,  den  russischen  Ostseeländern  und  ihren  alten  Be- 
wohnern die  einheimische  Bereitung  und  Verarbeitung  der  Bronze 
abzusprechen.  Von  wo  ihnen,  was  sie  dazu  gebrauchten,  könnte 
zugegangen  sein,  ist  bis  jetzt  eben  so  wenig  klar,  als  woher  jene 
westlicheren  Lande  es  empfingen.  Auf  die  Tschudengruben  des 
Altai  verweist  v.  Brackel.  Dem  widerspricht,  so  weit  chemische 
Untersuchungen  reichen,  die  Mischung  der  in  den  Tschudengräbern 
gefundenen  Bronze. 

Prof.  Kruse  hat  dies  nicht  übersehen.  Von  ihm  veranlasst 
führte  Prof.  Gobel  in  Dorpat  eine  Reihe  chemischer  Analysen  nicht 
blos  Ascheradener,  sondern  auch  anderer  Altertbümer  von  Bronze 
aus;  die  Resultate  wurden  mit  anderwärts  gewonnenen  verglichen: 
so  ist  man  zu  folgenden  Bestimmungen  gelangt.  Alle*  Legirungen, 
welche  von  den  Griechen  und  ihren  Colonien  abstammen,  besteben 
aus  Kupfer  und  Zinn  oder  aus  Kupfer,  Zinn  und  Blei;  niemals  fin- 
det sich  in  ihnen  Zink.  Bronzen,  welche  dieses  enthalten  mit  Zinn 
und  Blei  oder  darohne,  sind  römischen  Ursprunges;  das  bezeugen 
die  meisten  Resultate  der' chemischen  Untersuchungen,  doch  er- 
giebt  sich  aus  einseitigen  und  mit  ihnen  aus  den  von  dem  äl- 
teren Plinius  (XXXIV.  20)  angeführten  Legirungen,  dass  es  auch 
Bronzen  ohne  Zink  bei  den  Römern  gegeben  hat.  Die  Alterthümer 
aus  den  russischen  Ostseeprovinzen,  welche  nicht  classisch-antiken 
Ursprunges  sind,  enthalten,  so  viele  ihrer  analysirt  wurden,  ohne 
Ausnahme  Zink,  stimmen  also  mit  der  eigentümlich  römischen  Me- 
tallmischung überein,  wahrend  alterthümliches  Bronzegeräth  aus 
Tschudengräbern,  aus  Frankreich,  aus  der  Mark  Brandenburg,  von 
der  Insel  Rügen,  und  selbst  aus  Scandinavien,  das  man  chemisch 
untersucht  hat,  nur  aus  Kupfer  und  Zinn  bestand  wie  die  griechi- 
sche Composition.  Das  Ergebniss  widersprach  der  Hypothese,  die 
Alterthümer  aus  Ascheraden  seien  scandinavischer  Herkunft.  Allein 
bald  verlautete  von  Kopenhagen  her,  die  bisher  analyslrten  nordi- 
schen Bronzen  seien  aus  dem  eigentlichen  Bronzezeitalter,  man 
habe  nun  auch  andere  späterer  Zeit  aus  einem  Grabhügel  im  Kirch- 
spiele Növling  unweit  Alborg,  die,  aller  Wahrscheinlichkeit  nach,  dem 
zehnten  Jahrhunderte  angehörten,  einer  solchen  Untersuchung  un- 
terworfen und  in  ihnen  Zink  gefunden,  wie  in  den  livländischen, 
Demnach  scheint  Herrn  Kruse  das  Bronzezeitalter  der  Scandinavier 
das  voraugusteische  oder  griechische  zu  sein,  in  welchem  man  noch 
kein  Zink  gebrauchte,  während  nachher  in  der  späteren  römischen 


174  lieber  Kruse*  s  NecroUconica. 

Kaiserzeit  io  Italien  wie  auch  im  Norden  Zink  mit  beigemischt 
wurde.  Das  Zeitalter  im  Norden  fiele  sonach  mit  dem  an  die  Stell« 
der  eigentlichen  Bronzezeit  getretenen  Eisenalter  (Leitfaden  zur 
nordischen  Alterthumskunde  S.  60,  61.  Worsaae  a.  a.  0.  S.  36, 
37)  zusammen.  Dessen  Anfang  in  die  Zeit  des  Augustus  zu  set- 
zen widerstreitet  aber  bestimmten  geschichtlichen  Zeugnissen,  wie 
früher  in  dieser  Zeitschrift  (B.  II.  S.  179)  nachgewiesen  ist. 

Als  gelöst  lässt  sich  mithin  die  Frage  nach  dem  geschichtlichen 
Verhalten  jener  alterthümlichen  Legirungen  zu  einander  noch  nicht 
betrachten;  sie  ist  erst  angeregt.  Noch  bleibt  zu  untersuchen,  ob 
beide  von  einem 'Punkte  ausgegangen  oder  von  mehren,  ob  Grie- 
chen und  Römer  die  Erfinder  waren,  oder  nur  die,  welche  sich 
des  Erfundenen  vor  allen  andern  Völkern  zu  den  kunstreichsten 
Gebilden  bedienten.  Die  Probleme  sind,  ohne  Zweifel  für  die  Cul- 
turgeschichte  von  Bedeutung;  nicht  minder  für  die  Religionsge- 
schichte. Denn  das  Schmelzen  der  Metalle  haben,  nach  den  My- 
then, überall  die  Götter  gelehrt.  Sind  also  metallurgische  Tradi- 
tionen von  Volk  zu  Volk  gegangen,  so  waren  sie  an  religiöse  ge- 
knüpft, so  wurden  sie  durch  Priester  und  Religionsstifter  verbreitet. 

Die  zunächst  vorliegende  "Frage  nach  dem  Ursprünge  der 
Inländischen  Bronzen  ist  eben  so  wenig  klar  gelöst.  Den  Tscbu- 
den sind  sie  abzusprechen,  wenn  ia  deren  Grabern  wirklich  über- 
all nur  die  Melallmischung  ohne  Zink  gefunden  wird,  eine  Tbat- 
sache,  die  bis  jetzt  noch  nicht  erwiesen,  nicht  einmal  wahrschein- 
lich gemacht  ist.  Dass  sie  den  Scandinaviern  zuzusprechen,  be- 
weist ihre  Masse  wenigstens  nicht:  die  Legirung  gehört  nicht 
ausschliesslich  jenem  Volke  an. 

Die  Form  der  fraglichen  Alterthümer  findet  der  Verf.  der  Ne- 
crolivonica  im  Allgemeinen  nicht  anders  als  die  der  scandinavi- 
schen  und  norddeutschen,  ja  meistentheils  sind  sie  diesen  so  aho- 
lich, als  ob  sie  aus  einer  Werkstatt  hervorgegangen  wären.  Eine 
Aehnlichkeit  wird  man  ihm  zugeben  müssen,  vielleicht  nicht  eine 
so  vollkommene,  wie  er  annimmt.  Dann  entsieht  aber  die  Frage, 
ob  der  scandinavisebe  Ursprung  so  weit  reiche  als  die  Aehnlich- 
keit. Wer  darauf  mit  Ja  antwortet,  muss  dem  scandmavisebeo 
Norden  in  vorgeschichtlicher  Zeit  eine  Thätigkeit  im  Erzguss  zu- 
gestehen, die  über  die  gegenwärtige  weit  hinaus  ginge,  und  mit 
dem,  was  von  dem  früheren  Culturzustande  jener  Gegenden  be- 
kannt ist,  nicht  übereinstimmt.  Denn  bronzenes  Gerälb,  dem  scan- 
dinavischen  ähnlich,  findet  sich  hier  und  da  vom  atlantischen  Meere 
Us  an  den  Ural.  Oder  hätte  die  Aehnlichkeit  weitere  Grenzen  als 
der  scandinavische  Ursprung,  so  fragte  man,  wie  Weit  denn  dieser 
reiche.  Aus  der  Uebereinslimmung  der  Form  im  Allgemeinen 
leuchtet  also  die  Notwendigkeit  der  Annahme  noch  nicht  ein,  die 


Heber  Kruse' $  Necrolwonica.  175 

an  der  Düoa  gefundenen  Alterthümer  seien  über  See  dorthin  ge- 
kommen. 

Der  Verf.  geht  dann  weiter  ins  Einzelne.  Er  sucht  die  Bestim- 
mung jedes  in  den.  Ascheradener  Gräbern  gefundenen  Stückes 
nachzuweisen.  Die  hier  und  da  zerstreuten  Nachrichten  von  der 
Bewaffnung  und  Bekleidung  der  Scandinavier  werden,  der  Hypo- 
these gemäss,  für  den  angegebenen  Zweck  benutzt,  nicht  selten 
auch  die  Trachten  anderer  Völker  als  Ergänzung  gebraucht.  So 
stellt  Herr  Kruse  die  vollständige  Bekleidung,  den  Schmuck  und  die 
Waffen  eines  Waragers,  einer  Warägerin  und  eines  Kindes  be- 
schreibend und  in  einer  Zeichnung  dar:  das  nennt  er  die  Anasta- 
sis  der  Waräger-Russen.  Die  Beneimungjst  schon  früher  von  An- 
deren in  ähnlichem  Sinne  gebraucht;  aber  für  angemessen  kann 
sie  nicht  gellen.  Die  Auferstehung  der  Nationaltracht,  wenn  der 
Ausdruck  gestattet,  ist  nicht  die  Auferstehung  der  Nation.  Die  Ar* 
beit  selbst  verdient  als  ein  Werk  ernsten,  gelehrten  Fleisses  volle 
Anerkennung,  ungeachtet  des  Einspruches,  der  gegen  manches  Ein- 
zelne zu  erheben  wäre.  Von  einer  solchen  detailltrten  Erörterung 
muss  aber  hier  abgesehen  werden,  nur  eine  principielle  Ansicht 
sei  mit  Wenigem  berührt.  Die  Anastasis  der  Waräger  zieht  auch 
nichts  Waragisches  in  ihren  Kreis,  weil  sie  grosse  Aehnlicbkeit 
zwischen  der  Landestracht  der  Esthen,  Letten,  Griechen,  Römer, 
Scandinavier  und  Deutschen  bei  mannigfacher  Verschiedenheit  an- 
erkennt. Die  Aehnlicbkeit  aber  leitet  sie  her  von  einer  Urtracht, 
die  alle  mit  aus  dem  Orient  brachten.  Und  woher  die  Urtracht? 
Der  Leib  des  Menschen  war  ohne  Zweifel  das  Modell,  dem  sie  der 
Verstand,  dem  Bedürfnisse  gemäss,  nachbildete,  während  die  aller 
Vernunft  immanente  Idee  des  Schönen  zu  dem  Bedürfnisse  den 
Schmuck  fügte.  Nun  sind  Leib,  Verstand  und  Vernunft  überall  des 
Menschen,  nicht  blos  im  Orient;  Aehnlichkeiten  in  der  Kleidung 
müssen  daher  überall  unter  den  Nationen  statt  finden,  auch  ohne 
äussere  Ueberlieferung,  weil  alle  Menschen  sind.  Es  sind  unleugbar 
mancherlei  Kenntnisse  durch  äusserliche  Tradition  von  Volk  zu 
Volk  gegangen,  doch  wird  die  Geschichte  nicht  willkürlich  und  ohne 
bestimmte  Zeugnisse  eine  solche  vorauszusetzen  haben.  Selbst  wo 
sie  eintritt,  bleibt  sie  fruchtlos  ohne  die  Empfänglichkeit  derer,  die 
sie  aufnehmen  sollen  d.  h.  ohne  diejenige  Bildung,  die  wenigstens 
dämmernd  schon  hat,  was  ihr  in  Klarheit  entgegengebracht  wird. 

Zwei  altertümliche  Wagen  mit  Gewichten,  die  eine  in  Asche- 
raden unter  den  präsumtiven  scandinavischen  Bronzen,  die  andere 
bei  Palfer  in  Esthland  gefunden,  haben  die  Aufmerksamkeit  des 
Prof.  Kruse  noch  besonders  in  Anspruch  genommen.  Sie  stimmen 
ihrer  Form  nach  durchaus  mit  scandinavischen  Geräthen  gleicher 
Art,  welche  das  Museum  nordischer  Alterthümer  in  Copenhagen 


176  lieber  Kruse9  s  NecroUvonica. 

aufbewahrt,  und  die  in  dem  Nordisc  Tidsskrift  for  Oldkyodigked 
B.  I.  S.  398—406  beschrieben  und  erörtert  sind.*)  Es  kam  darauf 
an,  auch  die  Gewichte  von  diesseil  und  jenseit  zu  vergleichen,  da- 
mit klar  würde,  ob  auch  in  dieser  Hinsicht  Übereinstimmung  statt 
finde.  Der  Zweck  führte  zu  umfassenden  metrologischen  Forschun- 
gen theils  der  Herren  Parrot,  Paucker  und  Mädler,  theils  des  Verf. 
selbst.  Deren  Endergebniss  war:  die  livländischen  Gewichte  ge- 
hören mit  den  in  Norwegen  und  Dänemark  gefundenen  zu  einem 
Systeme,  aber  eben  sowohl  mit  den  römischen,  angelsachsischen, 
ja  den  arabischen  Münzgewichten.  Hat  das  System  diese  weite 
Verbreitung,  so  ist  nicht  abzusehen,  wie  die  Necrolivonica  zu  dem 
Schlüsse  kommen,  die  Pajfersche  Wage  sei  vermutblich  eine  Wage 
der  Nor t mannen  oder  Danen,  mit  welcher  diese  sich  in  ihre  Tri- 
bute haben  zuwägen  lassen,  vielleicht  auch  Silberschmucksachen 
gewogen  haben. 

Unter  den  Ascberadener  Alterthümern  fanden  sich  noch  Glas« 
perlen,  muthmaasslich  aegyptischen  Ursprunges,  Muscheln  aus  dem 
indischen  Ocean  und  Münzen,  Gegenstände,  welche,  die  letzteren 
begreiflich  zumeist,  von  Wichtigkeit  sind,  um  das  Aller  der  Grä- 
ber an  der  Düna  und  die  Gegenden  zu  bestimmen,  mit  denen  Liv- 
land  damals  in  Zusammenbang  stand.  Prof.  Kruse  hat  die  Münzen  ein- 
zeln verzeichnet  Sie  sind,  seiner  Angabe  nach,  anglodänische, 
angelsächsische,  arabische,  fränkische,  deutsche  und  Byzantiner  und 
gehören  sämmtlich  in  den  Zeitraum  von  760  bis  etwa  1068.  Aus 
diesen  Zeugnissen  folgert  der  Verf.  einen  Handelsverkehr  LivlancTs 
im  neunten,  zehnten  und  eilften  Jahrhunderte,  der  sich  auf  der  eh 
nen  Seite  bis  nach  England  und  Irland,  auf  der  anderen  bis  an 
die  Ufer  des  Nil  und  des  Ganges  ausgedehnt,  und  der  an  der  Düna 
seinen  Mittelpunkt  in  Ascheraden  gehabt  habe,  wo  man  die  mei- 
sten Alterthümer  gefunden.  Nächst  diesem  Orte,  der  zu  einem 
solchen  Stapelpiatze  vortrefflich  gelegen,  scheine  Creraon  und  über- 
haupt die  Ufer  der  Aa  ansehnliche  Handelsplätze  gewesen  zu  sein. 
Ascheraden,  die  Seeräuberfeste  der  Ascomannen,  wäre  also  auch 
ein  warägischer  Handelsort,  ja  dieses  früher  als  jenes,  denn  der 
Handel  soll  bereits  im  neunten  Jahrhunderte  bestanden  haben« 
Die  letzte  Hypothese  überzeugt  so  wenig,  als  die  erste.  Zwar  ei- 
nen mittelbaren  merkantilen  Zusammenhang  der  Dünaufer  mit 
den  angeführten  aussersten  Grenzen  mag  man  auf  das  Zeugniss 
der  Münzen  und  der  sonstigen  Alterthümer  zugeben;  aber  Asche- 
raden's  Gründuug  durch  Waräger  ist  durch  den  Namen  so  wenig 


*)  Ein  Auszug  daraus,  deutsch,  steht  in  den  historisch-antiquarischen 
Mltthetlungen,  herausgegeben  von  der  Gesellschaft  für  nordische  Alterthnms- 
kuode  S.   403  —  4  00. 


lieber  Kruse* $  Necrolivonica.  177 

verbürgt,  als  Aschcraden's  Stapelrechl  durch  die  Menge  allcrthüm- 
licher  Gegenstände,  die  ein  zufälliges  Naiurereigniss  nuf  diesem  ei- 
nen Punkte  einmal  aufgedeckt  bat.  Sie  reichen  noch  nicht  hin,  den 
Umfang,  die  Art  und  die  Träger  des  Handels  erkennen  zu  lassen, 
der  in  der  ersten  Hälfte  des  Mittelalters,  vor  Anfang  des  Kirchen  We- 
sens und  der  deutschen  Niederlassungen  in  Livland  getrieben  wurde. 

Aber  man  hat  noch  andere,  altere  AUerlhümer  in  den  russi- 
schen Ostseepro vinzen  gefunden.  Herr  Kruse  verzeichnet  41  rö- 
mische Münzen  aus  der  letzten  Zeit  des  Augustus  bis  in  die  Re- 
gierung Valentinian's  I.  Sie  sind  meist  auf  der  Insel  Oesel,  an  der 
Küste  von  Kurland  in  der  Gegend  von  Kapselten  und  tiefer  land- 
ein bei  Bornsmünde  unweit  Mitau  zum  Vorschein  gekommen.  Die 
Oeseler  Münzen  sind  die  ältesten,  sie  reichen  bis  auf  Hadrian,  die 
Kapsehtener  von  da  bis  auf  Philipp,  den  Araber,  der  Bornsmünder 
Fund  gehört  in  noch  spätere  Zeit.  Die  Necrolivonica  sehen  darin 
ein  Zeugniss,  dass  die  Römer  für  ihren  Bernsteinhandel,  den  sie 
zur  See  trieben,  zuerst  während  der  Regierung  des  Tiberius  eine 
kleine  Station  auf  Oesel  hatten,  dann,  zur  Zeit  des  Hadrian,  auch 
auf  die  Küste  des  Festlandes  und  endlich  in  das  Innere  übergingen, 
bis  der  nach  Constantin  dem  Grossen  immer  mächtiger  werdende 
Andrang  der  nordischen  Völker  sie  zwang,  diese  entfernten  Statio- 
nen aufzugeben.  Die  Combinalion  ist  sinnreich,  aber  gewiss  nicht  ,. 
die  einzig  mögliche:  der  römisch-livlandische  Bernsteinhandel  bleibt 
eine  Vermulhung. 

Selbst  altgrieebische  AUerlhümer  haben  sich  in  diesem  entle- 
genen Ostseelande  gezeigt.  Bei  Peterskapell  im  Innern  des  rigi- 
schen  Meerbusens  wurden  in  einem  Grabhügel  ausser  einer  ungla- 
sirten,  grossen  Aschenurne  manches  bereits  eingeschmolzene  Ge- 
räth,  eine  unbekleidete  Bronzefigur  von  griechischer  Arbeit,  zwei 
thasische  Silbermünzen,  eine  syrakusische  Silbermünze  und  eine 
Kupfermünze  des  Demetrius  Poliorcetes  gefunden;  bei  Arensburg  auf 
der  Insel  Oesel  fand  sich  eine  Kupfermünze  von  Panormus,  bei  Dorpat 
angeblich  eine  griechische  Münze  von  Neapolis.  In  Betracht  kommen 
kann  von  diesen  Funden  eigentlich  nur  der  ersterwähnte,  denn  nur 
von  ihm  verbürgt  der  Fundort,  dass  er  in  vorchristlicher  Zeit  ins 
Land  kam,  aber  doch  nicht,  dass  auf  dem  Seewege,  dass  zur  Zeit 
des  Demetrius  und  durch  Massilier,  Nachahmer  der  Unternehmung  des 
Pytheas,  wie  Herr  Kruse  annimmt.  Die  Alterthümer  sind  merkwür- 
dig, doch  bisher  zu  vereinzelt,  um  Folgerungen  aus  ihnen  abzuleiten. 

Alles  zusammen  genommen  ist  zur  Lösung  der  von  Herrn  von 
Ouwarow  gestellten  Aufgabe  durch  die  Necrolivonica  wenig  erreicht, 
das  als  sicher  gelten  könnte:  die  Geschichte  des  alleren  Seehandels 
der  russischen  Ostseeprovinzen  steht  ziemlich  auf  demselben  Punkte, 
wie  vorher.    Aber  im  Streben  nach  jenem  Ziele  ist  mehr  gewon- 

Z*iUcbrift  f.  GochichUw.    IV.  1845.  \0 


178  lieber  Kruse9 $  NecroHvomca. 

nen,  als  beabsichtigt  war.  Wichtige  archäologische  Untersuchun- 
gen sind  angeregt  und  eingeleitet,  die  ihren  Abschloss  von  einer 
erfahreneren  und  glücklicheren  Zukunft  erwarten.  Darin  Hegt  das 
Hauptverdienst  des  besprochenen  Boches:  dadurch  tritt  es  aus  dem 
Gebiete  der  provinziellen  Geschichte  in  das  der  allgemeinen,  der 
die  Archäologie  derjenigen  Völker,  welche  die  classische  Welt  Bar- 
baren nannte,  wesentlich  angehört,  eben  so  wesentlich,  als  die  Er- 
forschung der  griechischen  und  römischen  Alterthumer. 

Stettin. 

Ludwig  G  lesebrecht. 


Allgemeine  Idteraturbericlite. 


Rom. 


Vindictae  Itbrorum  injuria  suspecloruw.  Insuni:  4)  Epislola  critiea  de 
veiere  diurnorum  actorura  fragmento  Dodwelliano  data  ad  virura  am- 
pliss.  Viel.  Le  Clervium.  Parisienseiu ;  2)  Derensio  Comelii  Nepotis  contra 
Aemil.  Probum,  librariuro.  Scripsit  G.  B.  F.  Lieberkuehnius.  ups.  Vo- 
gel.   4844.    336  S.    8. 

In  unserem  Aufsatze  über  das  Staatszeitungswesen  der  Römer 
(Bd.  I.  dieser-Zeitschr.  S.  314)  zeigten  wir  die  Absicht  des  Herrn 
Lieberkühn  an,  die  Dodweirschen  Fragmente  als  acht  zu  verteidi- 
gen. Derselbe  hat  nunmehr  in  der  ersten  Abhandlung  des  vorlie- 
genden Buches  (die  zweite  lassen  wir  unberührt)  sein  Versprechen 
erfüllt,  und  es  ist  daher  unsere  Pflicht,  diese  Thatsache  nicht  mit 
Stillschweigen  zu  übergehen.  Wir  befinden  uns  aber  in  einer  üblen 
Lage;  denn  da  wir  uns  entschieden  gegen  die  Aechtheit  erklärt,  so 
wird  unser  Urlheil  nothwendig  als  ein  Vorurtheil  erscheinen  müs- 
sen ,  wenn  wir  das  Resultat  des  Verf.  nicht  billigen.  Fn  der  Thal, 
wie  gross  auch  der  Aufwand  von  Fleiss  und  Gelehrsamkeit  ist,  wie 
gern  wir  die  Gewandtheit  und  Eleganz  der  Ausführung  im  Allge- 
meinen auch  anerkennen:  so  halten  wir  es  doch  für  eine  vergeb- 
liche Mühe,  eine  Sache  noch  retten  zu  wollen,  die  längst  schon 
unrettbar  verloren  ist.  Die  Argumente  welche  für  die  Aechthett 
beigebracht  werden  oder  beigebracht  werden  könnten  —  denn 
aus  unserer  eigenen  Ermittking  (a.  a.  0.  S.  311  ff.)  dürfte  man  neue, 
wenn  auch  mit  Ungrund,  abzuleiten  trachten,  —  dünken  uns  bei 
weitem  schwächer  wie  die,  welche  ihr  entgegen  stehen.  Ja  es  scheint 


Allgemeine  Literaturberichte.  179 

uns  zuweilen,  als  ob  dem  Verf.  selbst  die  Sache,  die  er  zu  retten 
bemüht  ist,  unter  den  Händen  entschlüpfte.  Dass  das  apographum 
Vossianum  dictatis  exceplum  sei,  non  descriptum  ex  archelypo  quo» 
dam,  behaupteter  selbst  (S,  11),  und  überhaupt  erhebtauch  er  den 
verfänglichen  Umstand  über  allen  Zweifel,  dass  der  erste  Besitzer 
aller  dieser  angeblichen  Zcitungsfragmenle  eben  jener  Ludov.  Vives 
war  (S.  14  sq.),  der  eine  so  zweideutige  und  zwitterhafte  Rolle  in 
der  Wissenschaft  spielt  und  auf  den  wir,  von  Le  Clerc  abweichend, 
von  vornherein  unsern  Verdacht  hinlenkten  (a.  a.  0.  S.  319).  Es 
bleibt  ein  höchst  bedeutungsvoller  Umstand,  dass  selbst  Vossius  nicht 
einmal  weiss,  ob  Vives  wirklich  eine  alte  Handschrift  besessen  habe, 
sondern  diese  Frage  nur  mit  einem  „ut  opinor'  beantworten  kann. 
Dass  des  Pctavius  Fragmente  gleich  denen  des  Pighius  von  Vives 
herstammen,  ist  dagegen  aus  Vossius  (utraque  ex  eodem  L.  Vi- 
vis  .  .  .  exemplari  descripla)  so  klipp  und  klar  (denn  jenes  ut  opi- 
nor bezieht  sich  augenfällig  auf  „velustissimo(<  und  nicht  auf  „eo- 
dem" zurück),  dass  jede  weitere  Frage  über  die  Art  und  Weise 
wie  Petavius  dazu  gelangt  sei  (S.  15)  uns  müssig  und  gleichgültig 
erscheint.  Dass  die  Verschiedenheit  der  Lesarten  in  den  beidersei- 
tigen Handschriften  ein  argumentum  non  debile  für  die  Aecbtbeit 
sei,  kann  ich  nicht  einsehen;  mir  erscheint  es  schon  deshalb  als 
null  und  nichtig,  weil  man  gewiss  mindestens  mit  ebenso  vielem 
Fug  daraus  vielmehr  die  Unächtheit  folgern  dürfte;  denn  eine  und 
dieselbe  Quelle  kann  gewiss  weit  weniger  zu  abweichenden  Lesar- 
ten führen,  wenn  sie  eine  alte  unantastbare,  als  wenn  sie  eine  will- 
kürlich gemachte  und  daher  auch  der  ferneren  Willkür  des  Erfin- 
ders unterworfene  ist.  Der  Verf.  hat  nun  zwar  seine  Abhandlung 
an  Herrn  Le  Giere  gerichtet;  wir  können  indessen  hier  be Vorwor- 
ten, dass  auch  der  letztere,  der  gegenwärtig  eine  zweite  Ausgabe 
seines  umfassenden  Werkes  über  die  römischen  Journale  v orberei« 
tel,  trotz  aller  gebührenden  Anerkennung  des  Herrn  Lieberkühn, 
doch  ebenfalls' bei  seiner  Ansicht  beharrt.  Denn  „Je  m'applaudis" 
sagt  derselbe  in  einem  an  uns  gerichteten  Schreiben  vom  23.  Sept. 
v.  J.  „de  voir  que  le  plaidoyer  fort  gracieux  et  fort  poli  du  savant 
de  Weimar  en  faveur  des  pretendus  fragments  anciens  qui  ont 
trompe  tanl  de  critiques,  ne  vous  a  point  convaineu,  et  que,  dans 
cetle  discussion  qui  n'est  pas  sans  importance  pour  L'histoire,  j'au- 
rai  de  —  auxiliaires  a  Berlin."  Wir  sehen  dieser  neuen  Ausgabe 
mit  Spannung  cutgegen.  Möchte  sie  durch  die  Herausgabe  der  hi- 
stoire  litteraire  de  la  France,"  deren  21.  Theil  in  diesem  Jahre  er- 
scheinen soll,  und  die  Herrn  Le  Clerc's  Thäligkeit  jetzt  vorzugs- 
weise in  Anspruch  nimmt,  nicht  allzulange  verzögert  werden! 

Adolf  Schmidt. 

12* 


180  Allgemeine  Lileraturberichie. 

Ghristenthum. 

Das  Leben  Jesu.    Eine  pragmatische  Geschichts-Darstellung  von  Wer- 
ner Hahn.     Berlin.     Alexander  Bunker  4844.*) 

Die  strengen  Anforderungen  des  religiösen  Glaubens  an  den 
Verstand  haben  zu  dem  Versuche  getrieben,  an  seine' Stelle  das 
religiöse  Wissen  zu  setzen.  Wir  dürfen  den  Versuch  nicht  gelan- 
gen nennen:  es  ist,  um  zu  dem  religiösen  Wissen  zu  gelangen, 
weniger  der  ganze,  vollständige  Mensch,  als  der  abstracte  Verstand 
thätig  gewesen.  Dazu  fühlte  allerdings  der  Denker  sich  hingedrängt: 
er  wollte  den  einseitigen  Forderungen  des  Glaubens  einseilige  Wahr- 
heiten des  Verstandes  entgegensetzen,  um  nur  erst  den  Grund  ond 
Boden  zu  gewinnen,  auf  welchem  das  Denken  des  ganzen  Men- 
schen, wie  er  aus  Fleisch  und  Blut  und  Geist  und  Herz  besteht, 
den  neuen  Tempel  der  Religiosität  errichten  könne.  Wenn  jetzt 
so  Viele  sich  mit  dem  Atheismus  befriedigen,  so  sind  nur  die  Coo- 
Sequenzen  des  Verstandes,  nicht  zugleich  Herz  und  Gemüth  — 
es  ist  nicht  der  ganze  Mensch  befriedigt.  So  tragen  wir  an  dem 
Fluche  unserer  Zeit,  wie  noch  jedes  Geschlecht  an  dem  Fluche  der 
seinigen  getragen.  —  Ludwig  Feuerbach,  als  er  zu  beweisen  suchte, 
dass  die  Menschen  bisher  nur  ihre  Ideale  der  Vollkommenbeil  als 
Gott  verehrten,  wusste  wohl,  dass  er  dem  Herzen  ein  schönes  Gut 
nahm,  indem  er  dem  Verstände  eine  Wahrheit  geben  wollte;  und 
nur  daraus  lassen  sich  seine  Sacramente  des  Weines,  Brotes  und 
Wassers  erklären.  Aber  das  Herz  hat  an  diesen  Sacramenten  eben 
so  wenig  Antheit  nehmen,  wie  sich  wieder  den  Illusionen  der  Kind- 
heit zuwenden  können.  Da  ist  man,  um  dem  Herzen  ein  Genüge 
zu  schaffen,  auf  Culte  der  verschiedensten  Art,  besonders  der  Po- 
litik ,  der  Kunst  und  der  Persönlichkeiten  gerathen.  Diese  eigen- 
thümliche  Atmosphäre  der  Zeit  musste  auch  auf  den  Charakter  des 
vorliegenden  Werkes  influiren,  ja  dies  verdankt  derselben  vielleicht 
allein  seinen  Ursprung.  Der  Verf.  übt  den  Cultus  der' Persönlich- 
keit, und  zwar  einer  Persönlichkeit,  die,  hier  als  Gott  verehrt,  dort 
selbst  in  ihrer  historischen  Existenz  bestritten,  als  der  Anfangspunkt 
ein'er  ungeheuren  Weltbewegung  gesetzt  ist.  Ohne  Zweifel  ist  der 
Jesus  unsers  Autors  durch  und  durch  eine  poetische  Persönlich 


*)  Wenn  wir  den  Grundsatz  des  Hrn  v.  Amnion  anerkennen,  dass  die 
heilige  Geschiebte  keinen  anderen  Gesetzen  unterliege,  als  alle  übrigen 
Ansiebten  der  Vergangenheit  (die  Geschichte  des  Lebens  Jesu.  Bd.  II.  <$44 
S.  V.):  so  dürfen  wir  uns  auch  zu  einer  Benrtheilung  des  vorliegenden 
Buches  für  berechtigt  halten;  um  so  mehr  als  dasselbe  schon  auf  seinem 
Titel  Ansprüche  geltend  macht,  die  unsere  Zeitschrift  Überall,  gleichviel  wo 
sie  erhoben  werden,  zu  prüfen  verpflichtet  ist.  Wir  machen  hier  übrigens 
vorläufig  auf  den  Zusammenhang  aufmerksam,  in  welchen  diese  Schrift  zu 
der  Eisenhart'schen  Theorie  des  Staates  und  der  Geschichte  steht,  und  den 
wir  bei  späterer  Gelegenheit  näher  zu  beleuchten  gedenken.  Red. 


Allgemeine  Lileraturberichte.  181 

keil.  Mit  wahrhaft  künstlerischem  Geiste  entwirft  der  Verf.  auf  dem 
dunklen  Grunde  des  jüdischen  Volkslebens  sein  glänzendes  Bild 
hoher,  heiliger  Liebe  —  ein  Bild  voll  der  feinsten  psychologischen 
Motive,  ein  Bild,  dem  nur  die  poetische  Form  fehlt,  um  es  als  ein 
romantisches  Epos  von  hoher  Trefflichkeit  gelten  zu  lassen.  Auch 
sagt  der  Verf.  selbst,  das  Lebensbild,  welches  er  liefere,  solle  eine 
freie,  ideale  Anschauung  des  Lebens  Jesu  sein,  die  er  nicht 
sowohl  aus  äusseren  Quellen,  als  aus  dem  Sinne  der  Verehrung 
gegen  Jesus  geschöpft,  und  nach  seinem  Verständniss  der  Liebe 
gebildet  habe.  Dennoch  nennt  er  sein  Leben  Jesu  eine  pragma- 
tische Geschichts-Darstellung.  Darüber  will  er  sich  durch 
seine  Ansicht  von  der  Geschichlschreibung  rechtfertigen.  „Es  ist 
—  sagt  er  —  niemals  die  Sache  eines  Geschichte  Werkes  nur  die 
„nackte  Wahrheit  zu  erzählen.  Das  ist  eine  plan-  und  zwecklose 
„Chronik,  deren  Worte  weiter  nichts  als  ein  knechtischer  Abdruck 
„des  'äusseren  Verlaufes  der  Dinge  sind.  —  Dem  Geschichtswerke 
„soll  man  Urtheil  über  die  einzelnen  Vorfälle  und  ihre  Wichtigkeit 
„ansehen.  Den  Vorfällen  muss  der  Historiker  die  Stelle  geben,  die 
„ihm  nach  dem  Zwecke  seiner  Auffassung  zusagt.  —  Auf  diese  Weise 
„wird  er  nothwendig  in  seiner  Darstellung  manches  Abweichende 
„von  dem  wirklichen  Verlaufe  bilden."  Wenn  der  Verf.  in  diesen 
Sätzen  den  Gedanken  ausgesprochen  haben  will,  dass  der  Geschieht  - 
sebreiber  in  das  Innere  der  Erscheinungen  hinabsteigen,  den  bele? 
benden  Geist  und  Odem  derselben  belauschen  und  ihre  genetische 
Entwicklung  bis  zu  ihrer  idealen,  allgemeinen  Bedeutung  verfolgen 
und  darstellen  müsse:  so  ist  das  der  Standpunkt,  von  dem  aus  wir 
jetzt  überhaupt  die  Geschichte  geschrieben  haben  wollen.  Wenn  aber 
in  jenen  Sätzen  dem  Geschichtschreiber  auch  nur  die  geringste  Be- 
rechtigung zu  einem  willkürlichen  Hineintragen  subjeetiver  Vorstel- 
lungen in  die  Ereignisse  seldst  vindicirt  werden  soll:  so  ist  in  der 
neuesten  Zeit  mit  dieser  Art  Geschichtschreibung  hinlänglich  Unfug 
getrieben,  um  nicht  gegen  dieselbe  ernstlich  zu  protestiren.  Jedes 
historische  Ereigniss  hat  allerdings  zu  seiner  besonderen  Form  noch 
seinen  allgemeinen,  idealen  Inhalt.  Diesen  letzteren  muss  der  Hi- 
storiker aus  der  ersteren  herausfinden,  aber  nicht  hineintragen. 
Wo  nun  die  Quellen  die  besondere  Form  selbst  zweifelhaft  machen, 
wo  es  der  historischen  Kritik  nicht  gelingt,  jene  Form  nachzuwei- 
sen: da  ist  es  nicht  nur  sehr  waglich,  den  idealen  Inhalt  darstellen 
zu  wollen,  sondern  da  hat,  wie  wir  meinen,  die  Geschichtschrei- 
bung sogar  ihre  Grenzen  gefunden,  und  das  Feld  der  romantischen 
Poesie,  der  willkürlichen,  künstlerischen  Gestaltung  eröffnet  sich. 
Desshalb  zweifeln  wir  nicht,  dass  mit  demselben  Rechte,  wie  un- 
ser Verf.  seinen  Jesus  als  Held  der  Liebe  aufgefasst  und  durchge- 
führt hat,  ein  Anderer  den  Bekämpfer  des  Gesetzes  als  Held  der 


182  Allgemeine  Literaturberickte. 

Freiheit  oder  irgend  eines  anderen  Begriffes  auffassen  und  durch- 
führen könnte.  Desshaib  auch  halten  wir  diesen,  wie  sehr  auch  poe- 
tischen Jesus  nichr  für  einen  historischen,  und  müssen  folgerecht 
dem  Werke  den  Charakter  einer  Geschichts-Darstellung  absprechen. 
Die  Behauptung,  dass  trotz  alier  gelehrten  Kritik  dieser  Jesus,  der 
Jesus  voll  Liebe,  unantastbar  sei  —  hat  der  Verf.  nur  dadurch  er- 
härtet, dass  wir  gern  das  ängstliche  Fragen  nach  Zeit  und  Ort  und 
allen  Aeusserlichkeileu  des  Handelns  Jesu  aufgeben,  wenn  wir  voll 
der  Liebe  sind  und  ganz  erfreut  darüber,  dass  Jesus  der  Fürst  and 
Herold  der  Liebe  gewesen  ist.  Diese  Ansicht  gründet  sich  doeb 
mehr  auf  ein  empfängliches  poetisches  Gemülh,  als  auf  einen  acht 
historischen  Sinn.  Darin  aber  hat  der  Verf.  gewiss  Recht,  dass  wir 
unseren  Verstand  besser  zum  Nutzen  und  Frommen  der  Menschen 
beweisen  könnten,  als  in  dem  Kritteln  an  den  Evangelien;  aber 
nöthig  war  diese  Kritik  doch.  Die  zähe  Natur  der  Einseitigkeit  bat 
vieles  an  sich  Unnölbige  nöthig  gemacht,  und  wird  das  auch  noch 
fernerhin  thun  —  Ueber  die  theologische  Bedeutung  des  Werkes 
zu  sprechen,  ist  hier  nicht  der  Ort.  Wir  bemerken  nur,  dass  es, 
vom  Standpunkte  des  Rationalismus  aus  geschrieben,  doch  ein  ei* 
genthümliches  Gepräge  trägt.  Der  Verf.  hat,  vermöge  seiner  ro- 
mantisch-poetischen Gemüthsstimmung,  eine  unverkennbare  Hinnei- 
gung zum  Supernaturalismus.  Und  wie  er  die  beiden  Hanptgegeo- 
satze  in  der  Theologie  zu  vermitteln  strebt,  hat  er  sie,  soweit  das 
Unmögliche  möglich  ist,  in  sich  selbst  vermittelt.  Die  theologische 
Genialität,  mit  welcher  das  dem  Verf.  gelungen ,  ist  aber  eine  rein 
subjeetive,  welche  sich  mit  Illusionen  und  einem  leisen  Hinweg- 
schlüpfen über  die  wahren  Schwierigkeiten  der  Vermittlung  hilft- 
Die  Gegensätze  zwischen  Rationalismus  und  Supernaturalismus,  Ver- 
nunft- und  Autoritats-Ueberzeugung  sind  so  alt,  wie  der  Kampf  des 
Menschen  für  Licht  und  Wahrheit;  und  unsere  Zeit  scheint  hier 
vollends  jede  Vermittlung  unmöglich  gemacht  zu  haben:  auf  beiden 
Seiten  will  man  den  ganzen  Sieg  und  die  vollkommene  Niederlage. 
Dennoch  dürfte  der  Verf.  unseres  Lebens  Jesu  für  seinen  Standpunkt 
nicht  wenige  Anhänger  in  den  weiten  Kreisen  der  Halbgebildeten 
gewinnen,  wenn  er  fortführe,  in  derselben  geistreichen  Weise  das 
Chrislenthum  zu  der  Religion  der  Liebe  auszubauen.  £• 

Germanen-  und  Kelteuthura. 

Weimar  im  geogr.  lasül.  4843.  Germania  nach  den  Ansichten 
der  Griechen  und  Römer  dargestellt  von  F.  A.  Ukert,  Dr.  d.  Philos.  u. s.  w. 
oder:  Geographie  der  Griechen  und  Römer  von  den  frühesten  Zei- 
ten bis  auf  Ptolemäus;  dritten  Theils  erste  Abtheilung.  Mit  zwei  Karten. 
X.  und  464  S.  8. 

Wenn  irgendwo  Geschichte  und  Geographie  Hand  in  Hand  mit 
einander  gehen,  so  ist  dieses  bei  dem  alten  Germanien  der  Fall, 


Allgemeine  Literaturberichte.  183 

dessen  Geschichte  ohne  eine  genauere  Kunde  des  Volkes  und  Lan- 
des so  wenig  versländlich  ist,  dass  Tacilus  eben  dadurch  veranlasst 
zu  sein  scheint,  ein  möglichst  getreues  ßild  von  Germanien  zu  ent- 
werfen, bevor  er  auf  seine  Historien  die  Annalen  folgen  liesse.  So 
eröffnet  auch  unser  Verf.  sein  Werk  nicht  blos  mit  einer  geschicht- 
lichen Darstellung  des  Bekanntwerdens  der  Griechen  und  Römer 
mit  Germanien,  sondern  kann  auch  nicht  umhin,  die  doppelt  gege- 
bene Uebersicht  der  Völkerschaften  und  ihrer  Wohnplätze  an  ge- 
schichtliche Dala  zu  knüpfen.  Darum  wäre  zu  wünschen,  er  hätte 
dem  mageren  geographischen  Gerippe,  welches  er  bei  Iberien  und 
Gallien  zum  Grunde  legte,  dadurch  mehr  Fleisch  und  Saft  gegeben, 
dass  er  alles,  was  wir  vom  alten  Germanien  wissen,  in  dessen  Ge- 
schichte verwebte,  worauf  am  Ende  bei  den  geographischen  Rubri- 
ken nur  regislerartig  verwiesen  zu  werden  brauchte,  und  dass  er 
dabei  nicht  nur  mit  seinem  rühmlichen  Sammlerfleisse  alle  verschie- 
denen Ansichten  der  Alten  und  Neueren  lieferte,  sondern  auch  mit 
deutschem  Forschungsgeiste  möglichst  zu  ermitteln  suchte,  welchen 
Glauben  sie  verdienen.  Dann  würden  auch  die  beigegebenen  Kar- 
ten mehr  Belehrung  bieten,  wenn  wir  in  den  Zusammenstellungen 
der  Germania  Cäsaris,  Strabonis,  Plinii,  Taciti,  nach  Gat- 
terer's  Muster  auf  der  ersten  Karte  die  allmählichen  Forlschritte  in 
Germanien's  Kunde  mit  Einem  Blicke  überschauten,  und  dann  durch 
die  zweite  Karte  lernten,  welches  Bild  sich  Plolemäus  durch  Be- 
nutzung der  ihm  zugänglichen  Quellen  von  Germanien  entwarf. 
Aber  sowie  man  in  der  tabellarischen  Uebersicht  der  Völkerschaf- 
ten bei  einzelnem  Ueberflusse  noch  manches  Volk  vermisst,  wel- 
ches dem  Verf.  selbst  bei  seiner  bewunderungswürdigen  Belesen- 
heit nicht  entging;  so  sind  auch  auf  den  Karten  nicht  nur  viele 
Völker  weggelassen,  welchen  der  Verf.  keinen  bestimmten  Platz 
anzuweisen  wusste,  sondern  auch  viele  auf  Cäsar's  Karte  verzeich- 
nete, welche  doch  die  späteren  Schriftsteller  auf  gleiche  Weise  an- 
erkannten. Wie  ganz  anders  würde  manche  Bestimmung  ausgefal- 
len sein,  wenn  der  Verf.  mehr  gestrebt  hätte,  die  wachsenden  Fort- 
schritte in  Germanien's  Kunde  anschaulich  zu  machen,  als  die  wech- 
selnden Ansichten  über  die  Wohnsitze  der  verschiedenen  Völker 
bei  den  einzelnen  Schriftstellern  zu  zeigen.  Anstatt  dass  alle  ger- 
manische Völker  Cäsar's,  zu  welchen  die  Tulingi  und  Volcae 
Tectosages  eben  so  wenig  zu  zählen  waren  als  die  Latobrigi 
und  Bauraci,  mit  Ausnahme  der  unsicheren  Harudes  und  Se- 
dusii  auch  von  den  späteren  Schriftstellern  anerkannt  werden,  hat 
sie  der  Verf.  auf  den  übrigen  Karten  meist  weggelassen,  als  wären 
sie  den  Ubiern  gleich  verpflanzt,  oder  wie  die  Sigambern  erloschen. 
Den  Sueven  und  Gherusken  weiset  er  dagegen  eine  ganz  besondere 
Lage  an,  weil  er  in  der  silva  Bacenii  nicht  den  Baiken-  oder 


— c 


184  Allgemeine  Literaturberichte. 

Buchen- Wald  erkennt,  sondern  sie  dahin  zeichnet,  wohin  Tacitus 
G.  I.  30  den  saltus  Hercynius  verlegt.    Setzte  Cäsar  die  Sue- 
ven  den  Cherusken,  sowie  Tacitus  A.  IL  44,  entgegen,  so  wohnleo 
seine  Sucven  da,  wo  sie  auf  Strabo's  Karte  stehen,  und  die  Che- 
rusken den  Annalen  des  Tacitus  gemäss  zu  beiden  Seiten  der  We- 
ser nördlich  von  der  Diemel  und  westlich  von  der  Leine.  Strabo's 
Kunde  von  Germanien  stützte  sich  nur  auf  die  Tbaten  des  Cäsar, 
Drusus  und  Germanicus,  aber  seine  Karte  hat  bei  unserem  Verf. 
mit  Cäsar's  ausser  den  Sueven  und  Bojohemum  nur  noch  die  Me- 
napier  und  Cimbern  gemein.   Statt  aller  anderen  Völker  finden  wir 
nur  im  Westen  die  Cauchen,  Bructeren  und  Chatten,  im  Osten  die 
Langobarden  und  Hermunduren  angegeben,  obwohl  beim  Triumphe 
des  Germanicus  im  J.  17  n.  Chr.  G.  nach  Tac  A.  IL  41,  durch  wel- 
chen Straho  die  meisten  Namen  seiner  germanischen  Völker  ken- 
nen lernte,  die  Cherusken  vorzüglich  hervorstrahllen.    Merkwürdi- 
ger Weise  Gnden  wir  auch  bei  Strabo  die  Angrivarier  nicht  genannt, 
wesswegen  um  so  mehr  zu  glauben  ist,  dass  S.  291  rafißqiovvoi  für 
^AyyQiovuQioi,  verschrieben  ward,  vt'ieXavßot  für  Xdfxaßo^Kaovl- 
xoi  xul  Kafitfriavol  für  Ka&vhcot,  xal  ^Afityiavol  oder  Upipwvd' 
Qtoi.    Ob  unter  den  Cathylken  die  JovXyovfinot  des  Ptolemäos 
und  Dulgibini  des  Tacitus  zu  verstehen  seien,  mag  dahin  gestellt 
bleiben;  aber  so  viel  ist  gewiss,  dass  bei  keinem  Schriftsteller  die 
germanischen  Namen  mehr  verschrieben  sind,  als  bei  Strabo,  wess- 
halb  der  Verf.  die  tabellarische  Uebersicht  der  Völkerschaften  nicht 
mit  den  unbekannten  Namen  des  Strabo  ohne  beigefügtes  Frage- 
zeichen hätte  bereichern  sollen.   Sowie  er  jedoch  hier  einen  höhe- 
ren Werth  auf  vollständige  Aufzählung,  als  auf  kritische  Beurtei- 
lung legte,  so  hat  er  sich  dagegen  auf  der  Karte  des  Plinius  damit 
begnügt,  ausser  den  allgemeinen  Benennungen  der  fünf  Völkerstämme 
nur  die  Bataver,  Friesen  und  Cimbern  zu  verzeichnen.    Auf  der 
Karte  des  Tacitus  sind  unter  den  vielen  Völkern,  deren  Lage  der 
Verf.  nicht  zu  bestimmen  wagte,  auch  die  Angrivarier  weggelassen: 
diese  werden  durch  die  Chauken,  sowie  die  Chauken  durch  die 
Cherusken  vertreten,  wahrend  die  Langobarden  an  der  Semnonen 
Stelle  sich  zwischen  der  Elbe  und  Oder,  sowie  die  Gothonen  zwi- 
schen der  Oder  und  Weichsel,  ausbreiten,  und  längs  der  Weichsel 
von  den  Peucinen  und  Bastarnen  hinab  die  Venedi,  Fenn i,  Aestyi 
wohnen.    Wie  wenig  Nutzen  hiernach  die  vier  kleinen  Kärtchen 
gewähren,  leuchtet  in  die  Augen;  dass  aber  auch  die  mit  vieler 
Sorgfalt  gezeichnete  Karle  des  Ptolemäu3  wenig  nützt,  davon  liegt 
die  Schuld  in  der  Willkür,  mit  welcher  Ptolemäus  seine  Unkunde 
von  Germanien  bemäntelte.    Je  mehr  diese  der  Verf.  selbst  schon 
im'rheinischen  Museum  VI.  3,  S.  347  ff,  nachwies,  und  in  seinem 
Germauicn  S.  258  ff.  durch  andere  wahrgenommene  Missgriffe  er- 


Allgemeine  Literaturberichte.  185 

örlerte;  um  so  weniger  hätte  er  es  verkennen  sollen,  dass  Plole- 
mäas  nicht  blos  die  Völker  zu  weit  von  der  Donau  nach  Norden 
und  vom  Rheine  zu  weit  nach  Osten  schiebt,  sondern  auch  die 
Namen  der  Gebirge  so  verrückt,  dass  die  Donau  den  Alpen  bei  der 
Oede  der  Helvetier,  nicht  gar  weit  von  den  Quellen  des  Rheines, 
die  Ems  im  Norden  der  abnobischen  Berge,  und  die  Weser  auf 
dem  Melibocus  entquillt.  Kein  Wunder  demnach,  wenn  Ptolemäus 
auch  des  Tacitus  Mattium  am  Adrana  A.  I.  56  mit  Mattiacum  A.  XI. 
20  verwechselnd,  die  ihm  längs  des  Pfahlgrabens  bekannt  gewor- 
deneu Oerter  Novasium  und  Amasia  oder  Amisia,  d.  h.  Nassau  und 
Bad-Ems,  von  Mattium  nach  den  Quellen  der  Ems  zu  verlegt.  Der- 
gleichen Bemerkungen  bleiben  freilich  nur  Muthmaassung,  aber  der 
Nachrichten  Quelle  zu  erforschen  führt  nicht  nur  überhaupt  viel 
weiter,  als  wenn  man  sie  blos  getreulich  sammelt,  und  nach  den 
angeführten  Deutungen  Anderer  hinzufügt,  es  lasse  sich  nichts  mit 
Sicherheit  bestimmen,  sondern  ist  auch  bei  Ptolemäus  unerlässlich, 
damit  mau  nicht,  durch  die  Bestimmungen  nach  Graden  der  Länge 
und  Breite  verleitet,  ihm  eine  grössere  Kenntniss  von  Germanien 
zutraue,  als  er  wirklich  besass,  und  in  seinen  94  Städten  eine  Wi- 
derlegung des  Tacitus  finde,  welcher  den  Germanen  die  Städte  im 
römischen  Sinne  absprach.  Da  der  Verf.  ausser  einigen  Städten 
innerhalb  des  römischen  Grenz walles  nur  wenige  zu  deuten  wagte, 
so  führte  er  nur  die  Meinungen  älterer  Ausleger  an,  vorzüglich  der 
ihm  seit  dem  Beginne  seiner  Geographie  im  J.  1816  zuvorgekom- 
menen Bearbeiter  Germanien's  Mannert,  Wilhelm  und  Reichard,  von 
welchen  der  erste  meist  die  Längen-  und  Breitengrade  beachtete, 
der  zweite  die  Distanzen  der  Oerter  berechnete,  der  dritte,  wie 
Kruse,  nach  ähnlichen  Namen  haschte.  Da  er  aber  deren  Bestim- 
mungen nicht,  wie  die  Namen  der  Völkerschaften  in  eine  tabella- 
rische Uebersicht  ordnete,  welcher  er' hin  und  wieder  wenigstens 
seine  eigene  Meinung  hätte  hinzufügen  können:  so  weiss  man  we- 
der, nach  welchem  Principe,  noch  mit  welcher  Wahrscheinlichkeit 
die  Bestimmungen  gegeben  seien.  Müssen  wir  daher  auch  des 
Verfs.  Enthaltsamkeit  von  aller  Hypothesensucht  und  seine  unbe- 
fangene Prüfung  unhaltbarer  Meinungen  in  gleichem  Grade  rühmen, 
als  wir  die  Reichhaltigkeit  und  lichtvolle  Anordnung  des  gesammel- 
ten Stoffes  bei  sichtlichem  Streben  nach  Kürze  und  Deutlichkeit 
anerkennen,  so  vermissen  wir  doch  den  erforderlichen  Forschungs- 
geist, und  müssen  um  so  mehr  wünschen,  dass  des  Verfs.  Buch 
die  Grundlage  weiterer  Forschung  werde,  je  mehr  er  selbst  die 
Unzulänglichkeit  der  Hülfsquelien  bis  auf  Ptolemäus  anerkennt  Dür- 
fen wir  von  den  Verirrungen,  welche  sich  Ptolemäus  in  der  Benut- 
zung des  Tacitus  zu  Schulden  kommen  liess,  auf  andere  schliessen, 
deren  Quelle  für  uns  verloren  ist;  so  sinkt  der  scheinbare  Vorzug 


186  Allgemeine  Literaturberickte. 

mathematischer  Genauigkeit  in  denjenigen  Gegenden,  in  welchen 
der  römische  Krieger  oder  Handelsmann  nur  kurze  Zeit  verweilte, 
fast  zu  Nichts  herab,  und  wie  wenig  selbst  des  Tacitus  zu  eigener 
Belehrung  geschriebene  Germania  befriedige,  beweiset  dessen  Zu- 
flucht zu  Dichtern  in  Ermangelung  besserer  Quellen,  und  die  gänz- 
liche Vernachlässigung  dessen,  was  der  ältere  Plinius,  der  selbst 
im  Lande  der  Chauken  verweilte,  XVI.  1  ff,  an  verschiedenen  Stel- ' 
len  seiner  Naturgeschichte  meldet.     Denn  dass  Tacitus  römische 
Dichtersagen  nicht  ganz  verwarf,  lehrt  sein  drittes  Capitel,  und  dass 
er  wirklich  Einiges  aus  Dichtern  schöpfte,  deren  willkürliche  Schil- 
derung des  Rheinstromes  doch  schon  Horaüus  S.  1,10,37  A.  S.  18 
rügte,  lassen  weniger  einzelne  Hexameter,  welche  der  Zufall  gab, 
als  dichterische  Redensarten  vermutben,  wie  G.  39:  Auguriis  pa- 
truni  et  prisca  formidine  sacram,  und  G.  5:  nee  suus  ar- 
mentis  honor  est  aut  gloria  frontis.    Von  des  Tacitus  Be- 
nutzung der  zwanzig  Bücher  deutscher  Kriege,  welche  Pliuius  nach 
der  Versicherung  seines  Neffen  Ep.  III.  5  während  seines  Feldzu- 
ges in  Germanien  begann,  zeugen  die  Annalen  I.  69;  aber  dass  er 
selbst  die  Erwähnung  der  Ingävonen,  Hermionen  und  Istävonen 
G.  2  nicht  aus  Plinius'  Naturgeschichte  IV.  28  oder  die  Beschreibung 
des  Bernsteins  G.  45  nicht  aus  PI.  H.  N.  XXXVII.  11  schöpfte»  er- 
hellt aus  dem  Stillschweigen  über  anderes  daselbst  Angeführtes, 
während  der  Völker  und  Könige,  welche  erst  vor  Kurzem  (vergl. 
A.  II.  24)  der  Krieg  eröffnete,  sogleich  zu  Anfange  der  Germania 
ausdrücklich  gedacht  wird.    Freilich  hat  sich  Tacitus  auch  so  sehr 
der  Kürze  beflissen,  dass  er  niebt  nur  von  vielen  Flüssen  schweigt, 
von  welchen  er  in  den  Annalen  erzählt,  sondern  auch  G.  8  von 
der  im  Aufrühre  des  Civilis  bekannt  gewordenen  Veleda  H  IV.  61, 
65  spricht,  ohne  ihrer  Wohnung  am  Flusse  Luppia  H.  V.  22  zu  ge- 
denken.   Wenn  Tacitus  auch  in  den  Annalen  XIII.  57  den  Salz- 
fluss  an  der  Grenze  der  Hermunduren  und  Catten  nicht  mit  dem 
Namen  Sala  benannte,  so  mochte  er  die  davon  gegebene  Schilde- 
rung für  bezeichnender  halten;  dass  aber  eben  daselbst  civitas 
Ubiorum  für  Juhonum  oder  Vibonum  zu  lesen  sei,  daran  las- 
sen die  conditae  nuper  coloniae  moenia  A.  XII«  27  G.  28 
nicht  zweifeln.  Zu  verwundern  ist  es,  dass  unser  Verf.-,  der  sich  sonst 
mit  Recht  wenig  um  die  vielfältig  versuchten,  aber  meistens  unbe- 
gründeten Etymologien  der  Namen  bekümmert,  an  welchen  Ruperti 
mit  anderen  Herausgebern  und  Beurtheilern  der  Germania  so  reich 
ist,  gerade  die  seltsamste  Erklärung  des  Namens  Ubier  durch  lie- 
ber anfahrt,  welchen  Vogt  die  Trevirer  als  Drüber  entgegensetzte, 
da  doch  Menzel,  wenn  wir  nicht  irren,  im  Morgenblatte  durch  Ver- 
gleichung  des  Dan-ubius  mit  dem  althochdeutschen  Tuon-owa 
und  dem  neuhochdeutschen  Don-au  nachwies,  dass  Ubii  soviel 


Allgemeine  Literaturberichte.  187 

als  Ower  oder  Auer  (Nass-auer,^  deren  Namen  Hr.  v.  Gerning 
schon  durch  Nasua  bei  Cäsar  B.  6.  I.  37  bezeichnet  glaubte)  be- 
deuten. Wenn  Graff  dieselbe  Bedeutung  im  Namen  der  Avionen 
sucht,  so  dürfen  wir  nicht  übersehen,  dass  diese  zu  den  Sueven 
oder  Hermionen  gehörten,  deren  Mundart  von  den  Islavonen  am 
Rheine  verschieden  war,  wenn  sie  gleich,  nach  dem  Namen  des 
Visurgis  oder  Wisaraha,  welcher  in  der  Mundart  der  Ingävo- 
nen  Wirr  aha  lautete,  zu  urtbeilen,  der  niederdeutschen  Mundart 
auf  gleiche  Weise  gegenüberstand,  wie  es  sich  noch  in  den  Mund- 
arten  der  Schwaben,  Hessen  und  Hermun - duringer  kund  giebt. 
Wenn  wir  übrigens  auch  im  Althochdeutschen  Wetar-eiba  für 
Welter-au  lesen,  so  ist  es  nicht  zu  verwundern,  dass  die  Römer 
und  Griechen  die  deutschen  Namen  verschiedentlich  verdrehten, 
sowie  sie  zwar  die  Ingauer  Ingävon'und  Eidstaben  Istavon,  aber 
die  Thalgauer  Dulgibiner  oder  Dulgumnier  nannten.  Obgleich 
schon  Drusus  auf  die  natürliche  Feindschaft  zwischen  Nieder-  und 
Oberdeutschen,  welche  später  die  Sachsen  gegen  die  Franken  auf- 
regte, seine  Eroberungsplane  baute.,  und  sich  mit  den  Friesen  und 
Gauchen  befreundete,  um  mit  deren  Hülfe  die  gefürchteten  Catten 
und  Cherusken  zu  bekämpfen:  so  hat  doch  unser  Verf.,  wiewohl 
er  es  nicht  verkannte,  dass  die  Germanen  durch  die  Namen  der 
Ingavon,  Hermion  und  Istavon  drei  verschiedene  Mundarten 
bezeichneten,  nicht  versucht,  die  Namen  der  einzelnen  Völkerschaf- 
ten denselben  unterzuordnen,  wie  es  eine  systematische  Anordnung 
verlangt,  weil  es  sich  nicht  genau  bestimmen  lasse,  welche  Völker- 
schaft zu  dieser  oder  jener  Abtheilung  gehöre.  Allerdings  bleibt 
die  Entscheidung  in  einzelnen  Fällen  zweifelhaft;  aber  der  Versuch 
einer  systematischen  Anordnung  muss  gemacht  werden,  wenn  man 
die  Völkerbündnisse  der  späteren  Zeit  gehörig  begreifen  will.  Nicht 
minder  nothwendig  ist  die  Bezeichnung  der  richtigen  Aussprache 
mancher  Namen,  wie  Batävi  und  Chamävi,  Caüci  und  Süevi:  denn 
wer  Ingävönes  und  Istävftnes,  wie  Teutones  oder  Teutöni  spricht, 
wird  weniger  versucht  werden,  bei  der  blossen  Pluralendung  des 
Wortes  Gau  und  Stab  an  Wohner  zu  denken.  Wer  es  weiss, 
dass  die  Römer  unsern  Diphthong  ei  durch  5  oder  T  bezeichneten, 
und  ein  d  vor  *t  abwarfen,  wird  auch  in  Istävones  leicht  die  Eid- 
staben oder  Eidgenossen  erkennen.  Es  konnte  aber  auch  eben  so 
leicht  ein  eidstabisches  Feld,  auf  welchem  das  Bundesgericht  der 
gegen  die  Römer  verbündeten  Völker  gehalten  ward,  in  die  Benen- 
nung Idista  visus  gemildert  werden,  in  deren  Adjectivendung  man 
irrig  ein  Substantiv  Wiese  gesucht  hat,  um  sich,  wie  Massmann 
in  seinem  Arminius  S.  117,  damit  abzugeben,  wie  Idista  zu  deuten 
sei.  Hätte  unser  Verf.  beachtet,  was  in  der  allgemeinen  Encyclo- 
pädie  von  Ersch  und  Gruber  unter  Idistavisus  campus  erin- 


188  Allgemeine  Literaturberichte. 

nert  ist,  so  würde  er  die  hohe  Bedeutung  desselben,  wie  dessen 
Lage  in  der  Ebene  zwischen  der  Weser  and  dem  Süntel  oder  dem 
Sühntbeile  des  dem  Thuisto  oder  Hercules  geweihten  Dichterwal- 
des, welcher  nach  Tacitus  A.  IL  18  eine  Ausdehnung  von  zehn  Mil- 
lien  in  der  Länge  hatte,  leichter  erkannt  haben,  wie  Ruperti  zu 
Tacitus  A.  II.  16.  Denn  er  bewährt  überall  ein  so  gesundes  ür- 
theil,  dass  er  unter  verschiedenen  Meinungen  leicht  die  wahrschein- 
lichste herausfindet.  Wenn  er  daher  auch  selbst  oft  seine  Unwis- 
senheit gesteht,  so  geschieht  dieses  doch  nicht  ohne  reife  Ueberie- 
gung,  um  nichts  Unsicheres  für  Gewissheit  auszugeben. 

Hannover.  G.  J.  Grotefend. 

Das  nordische  Griechenlhum  und  die  urgeschichtliche  Bedeutung  des 
nordwestlichen  Europa's  von  Hermann  Müller,  der  Philosophie  und 
beider  Rechte  Doctor,  öffentlichem  ordentlichem  Professor  des  Staatsrechts 
an  der  Hochschule  zu  Wurzburg.     Mainz,  4844. 

Die  kellischen  Studien  haben  seit  einiger  Zeit  in  Deutschland 
wenn  auch  nicht  zu  blühen  angefangen,   doch  wenigstens  zu  kei- 
men.   Um  wie  wichtiger  der  Gegenstand  ist,  um  den  es  sich  han- 
delt, um  so  mehr  muss  man  wünschen,  dass  er  mit  Ernst  und 
Gründlichkeit  verfolgt,   nicht  aber  dadurch  ekelhaft  werde,  dass 
man  seltsame  Spielereien  damit  treibe.    Weder  Leonische  Phanta- 
sie, noch  Dieffenbachische  Verworrenheit  werden  die  Sache  fördern 
können.  Aber  auch  die  Art,  wie  Hermann  Müller  sie  ergriffen  hat, 
kann  zu  nichts  Gutem  führen.    Er  hat  sie  von  einem  eigentümli- 
chen religiösen,  oder  soll  man  sagen,  kirchlichen  Standpunkte  ans 
aufgefasst.    Ihm  ist  das  keltische  Druidenthum  das  Vorbild  der  ge- 
heiligten Priesterlichkeit  der  katholischen  Kirche.    Hat  man  bisher 
die  Mysterienlehren  der  Urzeit,  theils  in  Chaldäa,  theils  in  Aegypten, 
theils  bei  den  Brahmanen  in  Indien,  oder  auch  theils  wohl  auf 
dem  Hochlandevon  Ost-Asien,  wo  während  aller  historischen  Zei- 
ten stets  nur  Tartaren  und  Mongolen  gewohnt  haben,  vergeblich 
gesucht:  so  verweist  jetzt  Herr  M.  auf  den  Nordwesten  der  Feste 
der  alten  Welt,  auf  Britannien  und  Irland.  Im  Besitze  der  Urweis- 
heit  sind  ihm  zufolge  die  Titanen,  Teutonen,  Atlas  und  Prome- 
theus gewesen  und  beide  haben  in  Britannien  gelebt  (S.  66);  oder 
nach  einer  anderen  Auffassung  ist  Atlas  die  Felsküste  der  britischen 
Inseln  am  Sunde  (S.  112)  und  an  diese  war  Prometheus  gefesselt, 
dort,  wo  einst  König  Lear  irrend  zwischen  Krähen  und  Dohlen, 
kletternd  Fenchel  sammelte  (S.  40,  123).    Gegenüber  ist  Tartaros 
und  bei  Maastricht  der  Hades. 

Dass  dies  Alles  sich  so  verhalte,  wird  mit  Beihülfe  einer  feinen 
Handhabung  der  Kunst  der  Etymologie  theils  aus  den  Lehren,  die 
sich,  in  den  bakchischen  uud  satnothrakischen  Mysterien  erhalten 
haben  sollen,  erwiesen,  theils  aus  jener  Wissenschaft,  in  deren  Be- 


Allgemeine  Literaturberichte.  189 

silz  wir  dadurch  gesetzt  worden  sind,  dass  die  walisischen  und  iri- 
schen urgriechischen  Druiden,  von  denen  auch  der  grosse  O'Con- 
nel  abstammt  (S.  185),  mit  dem  ganzen  Schatze  ihres  urzeitlichen 
Wissens  übertraten  in  den  Stand  christlicher  Mönche.  Denn  da- 
von will  Herr  M.  nichts  wissen,  dass  in  der  berühmten  Gelehrten- 
schule der  irischen  Mönche  des  Mittelalters  ein  reges  Streben,  des- 
sen Einflüsse  weithin  wirkend  über  die  christliche  Welt  im  Westen 
sich  ausbreiteten,  erwacht  sei,  die  Ueberlieferungen  der  walisischen 
und  irischen  Volkssagen,  sowie  die,  die  man  bei  Virgil  und  Ovid 
fand,  mit  Herbeiziehung  des  Julius  Africanus,  des  Eusebius,  des 
Hieronymus  und  Anderer  mit  dem  in  Uebereinstimmung  zu  brin- 
gen, was  ihnen  als  die  hebräische  Wahrheit  galt  (Vergl.  Zeitschr. 
für  Geschichtsw.  B.  I.  S.  251).  Dass  dabei  der  Synkretismus,  der 
schon  in  der  heidnischen  Zeit  Wurzel  geschlagen  hatte,  und  beson- 
ders lebendig  in  Alexandrien  aufgeblüht  war,  nachher  aber  den  Kir- 
chenvätern einen  Leitfaden  bot,  den  irischen  Mönchen  die  eigent- 
liche Stütze  ihres  gelehrten  Treibens  dargeboten  halte,  darf  nach 
Herrn  M.  nicht  angenommen  werden,  obgleich  für  diese  Annahme 
auch  dies  ganz  besonders  sprechen  würde,  dass  nach  dem  Systeme 
jener  Mönche  historische  Wahrheit  für  "die  irische  Geschichte  nur 
erst  aufdämmerte  seit  der  Zeit  der  Gründung  Alexandrien's.  Da- 
von soll  die  Rede  nicht  sein,  dass  die  irischen  und  walisischen  Sa- 
gen und  Lieder  später  vielfach  Umwandlungen  erlitten  haben,  und 
Vieles  in  sie  hineingekommen  ist,  was  in  seiner  Wurzel  aus  der 
christlichen  Gelehrsamkeit  des  Mittelalters  stammte.  Es  sind  viel- 
mehr nur  die  von  den  alten,  in  der  Urzeit  in  Britannien  und  Irland 
heimischen  Nordgriechen  herslammenden  Sagen  missverstanden  und 
falsch  gedeutet  worden.  Von  Urtroja  an  der  Themse, «von  London 
aus,  waren  die  Urphrygier  ausgezogen  und  hallen  sich  in  Kleinasien 
angesiedelt.  Die  Erinnerung  an  dies  historische  Moment  aber  war 
in  dem  Bewusstsein  der  anliken  Welt  verschwunden,  und  als  nun 
die  in  dieser  Welt  wurzelnde  Gelehrsamkeit  und  die  Druidensage 
sich  begegneten,  soll  die  letztere  falsch  aufgefasst  worden  sein. 
Anstatt  dass  man  aus  dieser  hätte  entnehmen  sollen,  dass  die  von 
Homer  besungene  Troja  eine  von  der  britischen  Troja  herstammende 
Ansiedlung  sei,  kehrte  man  die  Sache  um,  und  machte  Urtroja  zur 
abgeleiteten.  Auch  ein  anderes  älteres  Troja  Ondet  sich  noch  an 
der  Seine.  Zwar  ist  das  parisische  Troja  jünger  als  das  an  der 
Themse,  und  ist  von  London  aus  gegründet  worden ;  aber  bei  wei- 
tem älter  ist  es  doch  als  das  in  Kleinasien  und  verliert  sich  seinem 
Ursprünge  nach  in  die  fernsten  Urzeiten.  Wenn  so  alle  histori- 
schen Verhältnisse  umgedreht  werden,  fühlt  man  sich  veranlasst,  mit 
dem  Herrn  Professor  (S.  213)  auszurufen:  —  „Freilich  möchte  einem 
leicht  schwindeln,  wenn  die  Wellpole  sich  gänzlich  verschieben."  — 


190  Allgemeine  LUeraturberichte. 

Teuton,  oder  die  gemeinsame  Abstammung  der  germanischen,  galli- 
schen und  gothischen  Völker  von  dem  Urstamme  Skandinaviens.  Aus  den 
Quellen  nachgewiesen  von  Joh.  Nep.  Obermayr,  K.  b.  pens.  Regiraents-Au- 
ditor.     Passau,  4843.     96  S.  8. 

Wenn  man  ein  beliebiges  Zusammenwürfeln  von  allerlei  zu- 
sammengesuchten Stellen  der  verschiedensten  Schriftsteller  aus  den 
verschiedensten  Zeilen  ein  Arbeiten  aus  Quellen  nennen  will,  so 
darf  man  freilich  auch  der  vorliegenden  Schrift  das  Zeugniss,  wor- 
auf sie  Anspruch  macht,  dass  sie  nämlich  aus  Quellen  gearbeitet 
sei,  nicht  verweigern.  Sie  wimmelt  nur  von  Auszügen  aus  Wer- 
ken des  Alterlhums  mit  hinzugefügten  Auszügen  aus  neueren  Schrif- 
ten. Prüfung  der  Quellen  und  Quellenvergleichung  jedoch,  worin 
doch  die  Hauptsache  jeder  kritischen  quellen  massigen  Arbeit  be- 
steht, dies  beides  wird  gänzlich  vermisst.  Nachrichten  über  chara- 
kteristische Verschiedenheiten  verschiedener  Volkstümlichkeiten 
weiss  der  Verf.  auf  leichtem  Wege  auszugleichen,  wie  das  unter 
anderem  besonders  auch  da  auffallt,  wo  er  (S.  31)  gegen  Cäsar's 
eigene  Ansicht  dessen  Bericht  über  den  Gegensatz  der  Volkstüm- 
lichkeit der  Germanen  gegen  die  der  Gallier  auf  seine  Weise  zu 
erklaren  versucht.  Der  Grund  übrigens,  warum  stets  Germanen 
geschrieben  und  selbst  auch  das  doppelte  im  in  dies  Wort  einge- 
schoben wird  bei  Anführung  von  Originalstellen  aus  den  Quellen, 
leuchtet  nicht  ein. 

Die  ethnographische  Grundansicht  des  Verf.  ist  diese,  dass  (nach 
Plutarch  im  Kamill)  die  Kelten  ursprünglich  aus  Asien  über  die  ri- 
phäischen  Gebirge  in  Skandinavien  eingewandert  sind.  Theils  Nee* 
res-Ucberschwemmungen,  theils  Uebervölkerung  haben  dann  einen 
grossen  Theil  von  ihnen  gezwungen y  weiter  zu  ziehen,  oder  sie 
sind  auch  Seefahrer  geworden  und  sollen  als  solche,  wie  etymolo- 
gisch (S.  7)  auseinandergesetzt  wird,  den  Namen  Kelten  erhalten 
haben.  „Nachdem  auf  solche  Weise  Germanien  und  Gallien  ein- 
genommen war,  griffen  die  Kellen  von  der  See-Seite  her  die  Völ- 
ker Iberien's  an,  drängten  die  alten  Bewohner  von  der  Nordwest- 
küste  zurück,  und  Hessen  sich  daselbst  nieder.  Von  dort  verbrei- 
teten ^ie  sich  gegen  die  Mitte  der  Halh-Insel ,  und  erzeugten  das 
gemischte  Volk  der  Keltiberer."  (S.  11). 

Daraus  dass  Dio  Cassius  sagt,  die  Germanen  und  Gallier  wä- 
ren früher  mit  dem  gemeinsamen  Namen  „  Kellen "  benannt  wor- 
den, und  dass  Tacitus  sagt,  der  Name  Germatwiae  wäre  neu,  soll 
(S.  13)  die  gemeinsame  Abstammung  der  Germanaeii  und  Gallier 
von  dem  Urstamme  Skandinaviens  bezeugt  werden.  Strabo  und 
Diodor  werden  auch  noch  herbeigezogen. 

Darauf  gehl  Herr  Obermayr  über  zu  dem  Versuche,  die  über- 
einstimmenden Zeugnisse  glaubwürdiger  Geschichlschreiber  über 


Allgemeine  Literaturberichte.  19t 

die  Bluts* Verwandtschaft  der  germanischen  und  gallischen  Völker 
durch  eine  -vergleichende  Gegenüberstellung  der  Mythologie,  Sitten 
urid  Gebräuche  derselben  zu  verstärken.  Gegen  die  angewandte 
Methode  der  Vergleichung  dürfte  indess,  wie  schon  oben  angedeu- 
tet worden  ist,  manches  einzuwenden  sein.  Der  als  c.  VC.  statt  L. 
6.  c.  XVII,  angeführten  Stelle  Cäsar's  über  die  Gallier:  Deum  ma- 
xime  Mercurium  colunt:  huius  sunt  plurima  simulacra,  setzt  er  (S. 
33)  die  Stelle  von  Tacitus  (Gerroan.  c.  IX.)  über  die  Deutschen  in 
folgender  Weise  zur  Seite:  Ceterum  nee  cohibere  parietibus  deos, 
neque  in  ullum  humanioris  speciem  adsimilare,  ex  magnitu- 
dine  coelestium  arbitrantur.  Es  mag  dahin  gestellt  bleiben,  ob  die 
gesperrten  Worte  durch  einen  Druckfehler  in  den  Text  hineinge- 
kommen sind.  Im  Uebrigen  aber  hätte  es  heissen  müssen:  in  tillam 
humani  oris  speciem. 

Von  den  Kello  -  Germanen  werden  die  Brito-lberen  streng  un- 
terschieden und  so  kommt  als  Ergebniss  der  ganzen  Untersuchung 
folgendes  heraus:  „1)  Der  Küstenstrich  des  allantischen  Meeres  von 
der  Seine-Mündung  bis  zu  den  Pyrenäen  —  oftmals  Armorica  ge- 
nannt —  war,  mit  einziger  Ausnahme  der  Bituriges,  Ubisci  und  Sau- 
tones, von  Völkern  nicht-gallischer  Abkunft  bewohnt,  weil  die  Ve- 
neter  gleichfalls  Stammgenossen  der  Bewohner  der  Halbinsel  Bri- 
lannia  minor  waren,  und  die  Völker  Aquitanien's  zu  den  spanischen 
Iberern  gehörten.  2)  Die  Küsten- Bewohner  des  mittelländischen  Mee- 
res waren,  äussernden  griechischen  Pflanzstädten  gleichfalls  Iberer, 
Lignrer  mit  Galliern  untermischt.  3)  Diese  Völker  gehörten  dem 
iberischen  Volksstamme  an,  welcher  vor  dem  Eindringen  der  Kel- 
ten der  alleinherrschende  auf  der  pyrenäischen  Halbinsel  und  auf 
den  britischen  Inseln  war.  4)  Dieser  grosse  Volksstamm  verrath 
durch  Sprache  und  Sitte  phönicische  Abkunft.  5)  Diese  stammver- 
wandten Völker,  welche  jetzt  Kelten  und  Galen  genannt  werden, 
als  ob  sie  die  Nachkommen  dieser  Völker  wären,  sind  von  den  Gal- 
liern grundverschieden,  und  bezeichnen  den  Fremden  mit  dem  Na- 
men: Gall"  (S.  72,  73). 

Vergleicht  man  die  Arbeit  des  Herrn  Obermayr  mit  der  des 
Herrn  Hermann  Müller  über  das  nordische  Griechenthum ,  so  sieht 
man,  wie  sich  in  unserer  Zeit  Alles  verkehrt.  Der  Letztere  hat  un- 
erwartet auf  Urgriechen  in  Britannien  und  Irland  hingewiesen;  der 
Erstere  aber  läugnet  die  keltische  Abstammung  der  Völker,  die 
man  aus  sprachlichen  Gründen  bisher  als  die  einzigen  Ueberreste 
der  keltischen  Völkerstämme  angesehen  hat.  Seine  (S.  6*5)  aufge- 
stellte Behauptung  indess,  dass  die  Sprache  der  Bretagner,  Waliser, 
Kornwaliser,  Iren  und  Schotten  Mundarten  wären,  die  aus  Einer 
und  derselben  Quelle  mit  der  baskischen  geflossen,  wird  ihm  Nie- 
mand zugeben. 


192  Allgemeine  Literaturberichte. 

Ueber  die  Beigen  des  Julius  Caesar.  Ein  geographisch-kritischer  Ver- 
such u.s.w.  von  Carl  Christian  Freiherrn  von  Leulsch,  Verfasser 
des-  Markgrafen  Gero.     Giessen,  4  844. 

Vergleicht  man  obigen  Titel  mit  dem  Inhalte  der  Schrift,  so 
fühlt  man  sich  um  so  mehr  versucht  die  Frage  aufzuwerten,  ob 
ihrer  Erscheinung  nicht  eine  Mystifikation  zu  Grur.de  liegen  dürfte, 
da  der  Inhalt  überhaupt  vielfache  Veranlassung  zu  einer  solchen 
Versuchung  darbietet,  und  das,  was  milgetheilt  wird,  sich  durchaus 
nicht  unter  jenem  Titel  zusammenfassen  lasst.    Dass  es  indess  da- 
mit völlig  ernstlich  gemeint  sei  und  kein  Verdacht  einer  Myslifica- 
tion  zugelassen  werden  darf,  dafür  liegen  die  bestimmtesten  Be- 
weise vor,  die  nötigenfalls,  wenn  etwa  die  Sache  weiter  zur  Spra- 
che kommen  sollte,  vorgelegt  werden  könnten.   In  sicherer"  Ueber- 
zeugung  also,  dass  der  Herr  Baron  ganz  ernstlich  die  Ansichlen 
hegt,  die  er  der  gelehrten  Welt  hat  mittheilen  wollen,  darf  man  ihm 
die  Versicherung  geben,  dass  er  im  Irrthum  lebe,  wenn  er  furch 
tet,  dass  die  Mehrzahl  seiner  Leser  daran  ein  Aergeniiss  nehmen 
dürfte  (S.  71).   Die  Wirkung  dieser  Schrift  wird  vielmehr  sich  über- 
all nur  äussern  als  Erregung  zu  einer  grossen,  oder,  wie  man  auch 
zu  sagen  pflegt,  Ungeheuern  Heiterkeit.    Nur  zu  einer  Ergötzlich- 
keit  und  Kurzweil   kann  die  Art  und  Weise  dienen,  wie  die  „fei- 
sten Mönche1   am  Hofe  Carl's  des  Grossen  uns  vorgeführt  werden, 
wie  der  Herr  Baron  sie  „anzapfen"  zu  müssen  glaubt,  wie  er  sie 
uns  als  „Esel"  darstellt,  die  „sich  betrachtet  halten  als  die  wahren 
Eigenthümer  der  gesammten  europäischen  Gelehrsamkeit,  die  im 
Namen  des  Frankenherrschers  über  alles  und  jedes  rücksichtslos 
zu  verfügen  berechtigt  seien,  und  von  deren  Vorschriften  und  Ora- 
keln gar  keine  Appellation  denkbar  sei"  (S.  71,  73).    Nicht  indess 
blos  die  Gelehrten  des  achten  und  neunten  Jahrhunderts,  die  übri- 
gens allerdings  in  den  Irrthümern  der  Schule  der  irischen  Gelehr- 
ten befangen  gewesen  sind,  greift  der  Freiherr  wegen  Verfälschun- 
gen mancherlei  Art  an,  sondern  dem  Cäsar  selbst  giebt  er  Schuld, 
dass  er  den  Volksnamen  Sunici  erfunden  habe,  „theils  um  die  deut- 
sche Mythologie  noch  weiter  zu  verwirren,  theils  auch  um  den 
Geistreichen  zu  spielen,  indem  er  im  Gegensatz  zu  den  übrigen 
Deutschen,  die  sich  Mondskinder  nannten,  hier  den  Namen  Sonnen- 
kinder aufbrachte "  (S.  31).    Wenn  so  die  Bücher  über  den  galli- 
schen Krieg  daran  leiden,  dass  ursprünglich  schon  durch  den  Ver- 
fasser derselben  selbst  Unwahrheiten  in  sie  hineingekommen  sind, 
so  haben  sie  jedoch  noch  weit  mehr  gelitten  durch,  spätere  Ver- 
fälschungen der  Handschriften.    Der  Herr  Baron  haben  sich  daher 
zum  Nutzen  und  Frommen  künftiger  Herausgeber  dieser  Bücher 
der  Mühe  unterzogen,  eine  vorläufige,  jedoch  schon  ziemlich  lange 
Liste  von,  wenn  ich  richtig  gezählt  habe,  415  Stellen  mitzutheiien, 


Ailgemeike  Literaturberiehte.  198 

die  semer  Meinung  nach  einer  besonderen  Berücksichtigung  und 
Verbesserung  zu  empfehlen  waren. 

Darin  liegt  jedoch  nicht  das  Hauptgewicht  der  Schrift;  es  liegt 
vielmehr  in  dem  Zweck«,  Urtereeionner  su  suchen  auf  defett  Ko- 
sten die  Herausgabe  eines,  wie  behauptet  wird,  sehr  bedeutenden 
Werkes  veranstaltet  werden  könnte.    „Dies  Buch  ist  mit  allen. sei- 
nen Beilagen  und  Nebenarbeiten,  nebst  den  data  gehörigen  Him- 
mels- sowohl,  als  anderen  Karten,  Zeichnungen  mythologischer  AI- 
tertbümer  und  mehr  als  1060  erläuternden  sonstigen  Abbildungen 
in  der  Handschrift  gänzlich  vollendet,  und  falls  sich  ein  angemes- 
senes Publicum  dafür  finden  seÄte,  demselben  aoth  sugäaglieh" 
(S.  8t).    Es  enthalt  die  reichen  Ergebnisse  tie4jaariger,  nach  den 
ins  Obigen  angedeuteten  kritischen  Frlnoipien  angestellter  Forsoben- 
gern  in  dem  Oehieie  der  altdeutschen  Geschichte.  Eine  nähere  Gha* 
rafeterfstak  dieses  Werkes  enteilt  der  Titel,  unter  dem  es  erephew 
nen  seil,  «ed  bei  der  Merkwürdigkeit  seines  Inhaltes  scheut  es 
notnweadfe,  denselben,  wie  wettKefig  er  auch  sein  mag,  dem  Le- 
ser dieses  Berichtes  miteutheilen.  Er  lautet:  „Edda  (SaenHindrhins 
Froda)  -id  est  Edda  anüqua  sive  cannina  anUqmsskaa,  jussu  CSareä 
Impemtoris,  quem  Magnum  vocant,  colleota  atque  in  coqejris  rede* 
cla;  postea,  tempore  CaroM  Crassi  atque  Arnulfi,  aucta  passim  et 
iarterpeiaia;  dein  e  Fraocico  sermone  in  Daxrioum,  tandem  vero  am 
Iskndornm  Itagoain  conversa  atque  tani  hie  quam  übe  adulterata 
qnidem,  sed  ab  interprete  Islando  in  noTum  plan«  ceosom  acta  et 
miserriaie  eorrupta*.  nunc  Tero  exouesa,  abjeetiaqne  glossis  et  ad- 
ditamentts  aJienis,  pristino  metro,  antiquo  splendori  et  genuinae  in 
quaotum  fieri  potuit  integritati  restituta,  nee  non  soltitfs,  qua?  * 
dtsaidio  Jäter  iJJa  atque  Tacili  utriusque  scripta  emergere  *»4eban~ 
tnr,  dabiis,  Germaniae  vindicata,  Laiina  Editorum  HafeiensKia)  in- 
terpretatione,  bis  aut  ter  mutala,  indke  loonpletissimo  et  sommea- 
tario  insMrocfta?  quo  in  eommentario  non  solum  critica  ratio  expen* 
dttur,  sed  et  medü,  quod  vocant  aevi  historia  et  geographia  quam 
aaaxime  älustrantur,  potissime  vero  antiquissfma  Gern&anorum  teli* 
gio  et  fabula  —  tiova  plene  disciplina,  et  a  doctissfenis  quoqge  in- 
lacta  hucusque  eruitur  et  restituitur,  Gcaeeae  autem  mythologiae* 
et  insi  in  tenebris  jaoenti  ~  deteotis  Homeri,  flesiodi,  Herodoti  aUo- 
ruroque  fraudibus  —  lux  aecenditur,  omnaaque  tarn  mysteriorunj, 
quam  fabulsrunf,  ut  et  prknordiorum  historiae  generis  nttfcBant  a.pe- 
riuetnr  arcana.     Quibus  aoeesseront  Iota  tarn  Hefniensium .  quam 
Bokniensium  leotionis  varietas,  sacra  paganae  GermaBiae  geographia 
et  Germauorum  geenliüra  Fasti.    Opera  et  studio  C.  C.  Uberj.Bai- 
ronis  de  Leutsch,  auctoris  libri,  qui  est  de  Gerone,  Marobjen*  0«*- 
aatalium. 

ZeiU*krift  f.  GtwhichUw.  IV.   1S43.  |3 


194  Allgemeine  Literaturberichte. 

Was  in  diesem  vielversprechenden  Titel  ausser  anderem  auf* 
fällt,  ist,  dass  Tür  das  zehnte,  elfte  oder  zwölfte  Jahrhundert  ein 
Unterschied  zwischen  der  dänischen  und  isländischen  Sprache  ge- 
macht wird ;  indess  das  muss  uns  nicht  irren,  da  wo  so  viele  neue 
Entdeckungen  verheissen  werden.  Hat  der  Herr  von  L.  doch  schon 
in  dem  Gebiete  der  altdeutschen  Geschichte,  deren  Literatur  er  für 
erlogen  oder  wenigstens  durch  und  durch  für  verfälscht  hält,  so 
bedeutende  Ermittlungen  gemacht!  So  z.  B.  hat  er  in  der  Germa- 
nia des  Tacitus  gefunden,  „dass  die  Priester  des  Semnonenhayos 
im  Namen  ihres  Gottes  die  Herrschaft  nicht  blos  über  ganz  Deutsch- 
land, sondern  über  die  ganze  Erde  behauptet  hätten"  (S.  3).  Die 
ganze  Weisheit  dieser  Priester,  mit  der  sie  die  deutsche  Welt  re- 
gierten, soll  darin  bestanden  haben,  „dass  sie  erst  ein  suevisches, 
dann  ein  ingävonisches,  dann  wieder  ein  suevisches  Volk  und  im- 
mer 40  abwechselnd  fort,  nach  Belgien  schickten;  hatte  sich  das 
dann  dort  festgesetzt  und  alles  nach  seinem  Gutbefinden  und  Wohl- 
behagen geordnet,  so  kam  das  feindliche  und  warf  das  kaum  auf* 
gerichtete  Gebäude  wieder  gänzlich  über  den  Haufen.  Und  damit 
das  nun  auch  jedesmal,  so  wie  es  vorher  abgekartet  war,  wirklich 
vor  sich,  gehe,  waren  die  untergeordneten,  bei  den  einzelnen  Völ- 
kerschaften befindlichen  Priester  geschäftig,  indem  sie  die  Partei, 
die  da  unterliegen  sollte,  durch  ihre  Taschenspielerkünste  irre 
machten  und  entmuthigten ,  umgekehrt  aber  der  Gegenpartei  Vor- 
schub leisteten,  Mutb  einsprachen  und  die  Feinde  verriethen,  der- 
gestalt, dass  sich  alles  grade  so  fügen  musste,  wie  es  eben  vorher 
ausgerechnet  worden  war"  (a.  a.  0.).  Diese  Semnonenpriester  stan- 
den auch  in  einem  geheimen  Einverstandniss  mit  Cäsar  als  römi- 
schem Pontifex  Maximus,  und  dasselbe  ging  darauf  hin,  „dass  man 
suevischer  Seits  den  Römern  Gallien  überlassen,  Cäsar  dagegen 
den  Sueven  die  Herrschaft  über  die  Ingäwonen,  die  sich  ganz  los- 
reissen  zu  wollen  schienen,  wieder  in  die  Hände  spielen  solle" 
(S.  17).  —  „Das  Netz  ward  glücklich  gestellt;  denn  da  diese  Sue- 
ven —  später  erscheinen  sie  unter  dem  Namen  der  Kalten  —  in 
den  Bund  der  Ingäwonen  traten,  die  auf  der  Rheininsel  sesshaften 
suevisch-katlischen  Bataver  römische  Bundesgenossen  und  Schutz- 
verwandte wurden,  so  hatte  man  suevischer  und  römischer  Seits 
die  Ingäwonen,  die  nunmehr  so  gut  wie  verrathen  und  verkauft 
waren,  gänzlich  in  seiner  Gewalt "  (warum  wird  hier  nicht  lieber 
gesagt:  in  der  Tasche?)  „und  mussten  die  tanzen,  wie  ihnen  nur 
vorgepfiffen  wurde "  (S.  24).  Zu  dieser  Stelle  fügt  jedoch  Herr  von 
L.  in  einer  berichtigenden  Anmerkung  (S.  130)  hinzu:  „Als  wir  die- 
ses schrieben,  hatten  wir  noch  nicht  gefunden,  dass  die  Ingäwonen 
ebenfalls  unter  der  Leitung  einer  besonderen  Priesterschaft  stan- 
den, die  ihren  Sitz  in  der  Gegend  von  Burgdorf  (zwischen  Han- 


Allgemeine  Literaturberichte.  195 

nover  und  Zelle  an  der  Aller)  schon  seit  Jahrtausenden  gehabt 
hatte,  und  die  also,  als  sie  gestattete,  dass  ihr  Land  durch  das  nur 
beschriebene  politische  Neu  umzogen  wurde,  ebenfalls  ihre  Ein- 
willigung gegeben  und  ihre  bestimmten  Absichten  dabei  haben 
musste.  Es  war  deren  Meinung  aber  keine  andere,  als  die  Inga* 
wonen  selbst  durch  diesen  Zaum  in  der  Abhängigkeit  von  sich, 
von  den  Priestern,  zu  erhalten." 

Solche  Ergebnisse  historischer  Forschung  enthält  die  angezeigte 
kleine,  nur  zwischen  8  und  9  Bogen  starke  Schrift,  die  unter  ei- 
nem so  unscheinbaren  Titel  erschienen  ist.  Es  entsteht  die  Frage 
über  die  Veranlassung  # der  Wahl  dieses  Titels.  Dieselbe  beruht 
aber  darin,  dass  gleich  Anfangs  (S.  1)  in  etymologischer  Weise  der 
Beweis  auch  für  die  Behauptung  versucht  wird,  dass  die  Belgier  als 
Abkömmlinge  des  ingäwonischen  Stammes  sich  hervorstellten,  „der 
das  nordwestliche  Deutschland  nicht  nur  sammt  Schweden,  son- 
dern auch  das  heutige  Polen,  bevölkerte."  Zur  Verstärkung  des 
Beweises  wird  noch  in  einer  Anmerkung  hinzugefügt:  —  „Noch 
eine  Spur,  dass  auch  Deutsche  den  Namen  Belgier  geführt  haben, 
ist  folgende:  Wenn  ein  Belgier  geboren  war,  so  scheint  ihm  von 
seinen  Verwandten  und  Zugehörigen  und  allen  übrigen  y  die  ihm 
wohlwollten,  sowohl  jetzt  als  auch  noch  späterhin  der  Glückwunsch 
zu-  und  entgegengerufen  worden  zu  sein:  Wachse  Belgier I  wel- 
cher Zuruf  nicht  blos  in  Belgien,  sondern  in  einem  grossen  Theil 
von  Deutschland,  vielleicht  überall,  noch  heutiges  Tages  bekannt 
und  gebräuchlich  ist,  indem  man  zum  Beispiel  schreienden  Kin- 
dern, um  sie  zu  beschwichtigen,  die  Redensart  zuruft:  Halts  Maul 
verwünschter  Wechselbalg  1" 

P.  F.  Stuhr. 


196  MiMCtUtn. 


Mlieelle 


i. 

lo  meiner  Schrift  Über  die  GeschsetUe  des  eienenJMuigen  Krieget 
(Forschungen  und  Erläuterungen  über  Hauptpunkte  der  Geecbtehle  des 
siebenjährigen  Krieges.  Nach  archivaliscben  Quellen.  Tbl,  I.  S.  308 — 314). 
ist  die  Geschichte  des  Sturzes  von  Bestuchef  nacb  urkundlichen  Berichten 
erzählt.  Es  helsst  auch  dort  (3.  310):  „Dass  er  (BesfuchSf)  wider  Wissen 
und  Wille»  der  Kaiserin  geheime  Befehle  an  Apr/xln  habe  ergehen  lasten, 
fttr  diese  Behauptung  hat  man  tu  der  damaligen  Zeit  keine  Beweine  auf- 
finden können,  und  die  Schuld  seines  Sturzes  ist  auch  gar  nicht  m  die- 
sem Verhältnisse  zu  suchen."  Doch  ist  es  noch  in  den  neuesten  Zeiten 
ganz  altgemein  behauptet  worden,  dass  Bestuchef  wirklieh  mit  Apraxin  Ja 
einem  geheimen  Briefwechsel  gestanden  habe.  Zugleich  eralhke  nmn  sieh, 
die  Kaiserin  Biaabeth  wäre  Im  Herbste  des  Jahres  4757  gefährlich  ksaak 
gewesen,  und  dadurch  habe  sich  Bealucbef  bewegen  lassen,  die  Freund- 
schaft des  jungen  grossfürstlichen  Hofes  zu  suchen.  Das  Eine  ist  aber  so 
wenig  wahr  wie  das  Andere.  Ton  einiger  Bedeutung  jedoch  Ist  es,  tu 
wissen,  woher  diese  Gerüchte  entstanden  seien.  Base  AufkJlning  ibar 
aäaae  Frage  Ist  in  meinem  angerührten  Werke,  nicht  gegeben,  ich  eegretta 
daher  die  Gelegenheit,  das  Versäumte  hier  nachzuholen. 

Der  Obriat  Viellnghof,  ein  geborner  Kurländer,  der  in  französisches 
Diensten  stand  und  sich  als  französischer  Militärgesandter  im  russischen 
Hauptquartier  befand,  hat  bald  nach  der  Schiacht  von  Greee4igerndorf  eut- 
trnder  neben  während  des  Btiekaogea  oder  gleich  nach  demselben  Beriesle 
an  Beinen  Hof  eingesandt,  die  dem  entsprachen,  was  nachher  fiUschUch 
allgemein  als. wahr  angenommen  worden  ist.  Die  Originalbecichte,  in  de- 
nen dies  enthalten  ist,  habe  ich  selbst  während  meiner  Arbeiten  in  Pari* 
im  Archive  des  französischen  Kriegs-Ministeriums  m  Rindeil  gebebt.  Vle* 
tmgfcttt  nennte  das,  woran  er  zur  Zeit,  als  er  jene  Berichte  schrieb,  glaubte, 
nur  in  den  Vorzimmern  des  russischen  Hauptquartiers  erfahren  haben.  Es 
leuchtet  also  ein,  dass  man  von  Seiten  des  russischen  Hauptquartiers  Gründe 
gehabt  haben  rauss,  solche  falsche  Gerüchte  aussprengen  zu  lassen.  Dem 
russischen  Hofe  selbst  aber  umss  auch  noch  später  daran  gelegen  gewo- 
gen sein,  solchen  Gerüchten  Glauben  zu  verschaffen.  Denn  anders  ist  es 
nicht  zu  erklären,  dass  der  englische  Gesandte  Knigth,  der  erst  sn  Anfange 
des  Märzmonats  4758,  einige  Tage  nach  dem  Sturze  Bestuchef s  in  Peters- 
burg eingetroffen  war,  bald  nach  seiner  Ankunft  hierselbst  an  seinen  Hof 
berichten  konnte,  es  hätten  sich  in  den  Papieren  Apraxin's  wirklieb  Be- 
weise darüber  gefunden,  dass  Bestuchef  sich  in  eine  Intrigue  mit  der  Gross- 
(Urstin  eingelassen  habe  (vergl.  a.a.O.  S.  340.  Raumer,  König  Friedrich  II. 
S.  456). 

P.  F.  Stuhr. 


Heber  den  zweiten  Kreuzzuff* 


Als  Urban  11.  im  Jahre  1094  Europa  zur  Befreiung  des  hei- 
ligen Grabes  aufrief,  bewegte  sich  das  Leben  der  abendlän- 
dischen Völker  fast  ausschliesslich  auf  geistlichen  Gebieten. 
Die  Bestrebungen,  ein  Staatswesen  im  eigentlichen  Sinne  her- 
zasteilen, seift  der  Völkerwanderung  von  Merovingern  und  Ka- 
rolingern, von  Ottonen  und  Gapetingern  mit  immer  schwä- 
cherem Erfolge  wiederholt,  waren  unter  Heinrich  IV.  und 
Philipp  I.  völlig  gescheitert.  Durch  die  Siege,  welche  das 
Papstthum  verbündet  mit  den  Dynasten  und  Landesherren 
über  die  Könige  erfochten  hatte,  stellte  es  sich  mit  ausschliess- 
licher Kraft  an  die  Spitze  der  Aristokratie,  in  welche  sich 
damals  die  Reiche  Europa's  aufzulösen  schienen.  Nationale 
Eigentümlichkeit  schien  mit  den  Herrschergewalten  an  ihrer 
Spitze  gebrochen;  die  einheimische  Literatur  der  Germanen, 
schon  einmal  durch  den  geistlichen  Sinn  Ludwig  des  From- 
men geknickt,  musste  auch  jetzt  wieder  das  Feld  in  Deutsch- 
land und.  Frankreich  völlig  räumen  Ebenso  entschieden 
wandte  die  Kirche  der  Antike  den  Rücken,  der  römischen, 
welche  den  Karolingern,  der  griechischen,  welche  den  Ottonen 
Vorbild  und  Quelle  geistigen  Lebens  gewesen.  Die  Kirche 
selbst,  so  weit  sie  auf  Kultur  Anspruch  machte,  wurde  von 
diesem  Absterben,  das  sie  veranlasst  hatte,  getroffen:  ihre  ei- 
genen wissenschaftlichen  Bestrebungen,  die  ersten  Berührun- 
gen zwischen  Theologie  und  Philosophie,  durch  welche  das 
neunte  Jahrhundert  sich  ausgezeichnet,  schienen  verscheucht, 
nachdem  die  Kirche  ihren  Sinn  auf  die  Eroberung  des  Staa-r 
tes  gerichtet  hatte.  Neben  den  hierarchischen  Interessen  gab 

Zeitschrift  f.  GMcfaicktsw.  IV.   1845.  14 


198  lieber  den  zweiten  Kreuzzug. 

es  nur  eine  geistige  Richtung  noch  von  allgemeiner  Bedeu- 
tung, eine  Mystik  und  Askese,  welche  in  einem  ziemlich  grob 
gefassten  Streben  nach  Beseligung  jeder  wahren  Kultur  ver- 
nichtend in  den  Weg  zu  treten  Anstalt  machte. 

Wenn  also  der  Papst  ein  Unternehmen  anregte  von  my- 
stischem Gehalte,  mit  der  Aussicht  auf  himmlische  Seligkeit, 
so  war  es  klar,  das  Abendland  werde  sich  erheben  wie  ein 
Mann;  diese  Ausstrahlung  der  geistlichen  Gewalten  werde 
durch  kein  fremdes  Element  gebrochen,  durch  keine  weltliche 
Färbung  getrübt  werden.  So  geschah  es;  Ritterthum  und  Po- 
litik, wenn  auch  nicht  ganz  abzuweisen,  blieben  in  unterge- 
ordneter Stellung,und  sobald  sie  im  Oriente  selbst  sich  ein- 
mal etwas  stärker  hervorhoben,  erfolgte  vor  Moara  und  Tri- 
polis ein  hediger  Ausbruch  der  asketischen  Masse,  wodurch 
das  Ganze  durchaus  den  ursprünglichen  Charakter  wieder  er- 
hielt. Das  damals  gegründete  Reich  bewahrte  dies  Gepräge 
unter  den  ersten  Balduinen;  unter  Fulko  allerdings  trat  eine 
starke  Umwandlung  ein,  welche  aber,  wie  wir  sehen  werden, 
nicht  in  dem  Beginn  neuer  Richtungen,  sondern  nur  in  dem 
Verfalle  der  früheren  Energie  bestand. 

Im  Abendlande  schloss  unterdess  das  Kaiserthum  mit  der 
Kirche  eine  vorläufige  Abkunft  durch  das  Wormser  Concor- 
dat  Der  Staat  der  Deutschen,  durch  Lothar  jedenfalls  nicht 
in  geistreicher  Weise  vertreten,  machte  während  des  Friedens 
neue  Einbussen,  jedoch  gelang  es,  die  Regierung  auf  dem 
noch  erhaltenen  Felde  zu  constituiren ,  eine  leidliche  Krall 
und  ein  weit  geachtetes  Ansehen  zu  behaupten.  Entschiede- 
ner dagegen  waren  die  Fortschritte  der  Staatsgewalt,  oder 
was  damals  dasselbe  ist  des  Königthums,  in  Frankreich  unter 
dem  Nachfolger  Philipp'»,  dem  strengherrschenden  Ludwig  VL, 
der  mit  der  Kirche  einträchtig  wie  Lothar,  sein  weltliches 
Gebiet  mit  ungleich  grösserer  Folgerichtigkeit  und  Ordnung 
zusammenhielt.  Es  waren  also  noch  einmal  auf  dem  euro- 
päischen Continente  politische  Mächte  gebildet  Die  Kirche 
in  ihrer  Oberherrlichkeit  anerkannt,  konnte  doch  unmöglich 
eine  grosse  kriegerische  Thatigkeit  wie  1094  ohne  Berathang 
mit  den  Staatsgewalten  ins  Leben  rufen.    Selbst  in  nächster 


lieber  den  zweiten  Kreunug.  199 

Nähe  von  Rom,  welch  ganz  anderen  Anblick  geordneter  und 
befestigter  Kraft  gewahrte  das  sicilische  Reich  König  Roger  IL, 
als  1090  die  kaum  angesiedelten,  unter  sich  hadernden,  wenn 
auch  stets  kriegbereiten  Schaaren  Boemund's  und  seiner  Ver- 
wandten. 

Wie  die  Politik,  so  hatte  auch  die  Kultur»  sobald  die 
heftigsten  Stürme  ruhten,  neue  Schösslinge  hervorgetrieben. 
Ausschliesslichkeit  hat  in  Europa  zu  keiner  Zeit  irgend  eine 
Kraft  zu  behaupten  gewusst,  vielleicht  für  Augenblicke,  für 
den  Moment  des  Sieges  nach  oder  in  alleserschütternden  Käm- 
pfen, niemals  in  dauernden  Einrichtungen,  in  den  ruhigen, 
schaffenden  Anordnungen  eines  bleibenden  Daseins.  Einen 
solchen  Moment  des  'Kampfes  und  Sieges  hatte  Hierarchie 
und  Askese  um  1094  gehabt,  und  damals  den  Kreuzzug  ge- 
schaffen; kaum  hatte  man  das  Schwert  aus  der  Hand  gelegt, 
so  entwickelten  sich  mitten  aus  der  Bewunderung  und  dem 
Gehorsam  heraus  eigenartige  Kräfte.  Welcher  Gontrast  kann 
schärfer  sein,  als  die  inbrünstige  Hoffnung  der  ersten  Jerusa- 
lemfahrer und  der  kecke  Scherz,  mit  dem  Wilhelm  IX.  von 
Aquitanien  das  Fehlschlagen  derselben  und  seine  Mühen  und 
Nölbe  besingt?  Diese  Keckheit  aber,  die  in  aller  Weltlichkeit 
zu  Hause  ist,  welche  dem  Ruhme  und  der  Schönheit  der  ir- 
dischen Dinge  mit  heissem  Herzen  nachgeht,  ist  in  der  gan- 
zen Reibe  der  südfranzösischen  Dichter  lebendig,  welche  an 
jenen  Wilhelm,  an  die  Vantadours  und  Marcebruns  sich  an- 
schliessen.  Es  ist,  als  hatte  hier  in  der  Landschaft  der  Lan- 
guedoc  der  Auszug  des  frommen  Raimund  von  Toulouse  Luft 
gemacht;  wer  nun  noch  in  asketischer  Strenge  den  Freuden 
der  Liebe,  der  Waffen,  des  Gesanges  den  Rücken  kehren  will, 
wandert  gleich  in  die  Ferne  des  Orientes  hinaus;  zu  Hause 
hat  die  Poesie  zu  einer  geistreichen,  aber  ganz  profanen  Ent- 
wicklung den  Raum  gefunden.  In  Nordfrankreich  begegnen 
wir  in  jener  Zeit  den  ersten  Dichtungen  der  Karlssage;  der 
grosse  Kaiser  wird  von  der  Begeisterung  der  Kreuzfahrer  für 
sich  in  Beschlag  genommen,  und  als  Vorkämpfer  der  Chri- 
stenheit in  Spanien  gefeiert.  Hier  ist  also  noch  ein  geistli- 
cher Grundgedanke,  die  Verdienstlichkeit  des  Glaubenskrieges 

14* 


200  lieber  den  »weiten  Kretizzug. 

wird  in  allen  Tönen  gepriesen;  bezeichnend  seheint  für  un- 
seren Gegenstand  aber  auch,  dass  die  spanischen  Kriege  Karl's 
die  früher  auftauchende  und  unter  den  ersten  Kreuzfahrern 
verbreitete  Sage  von  seinem  Zuge  nach  Jerusalem  ganz  in  den 
Hintergrund  drängen.  Nicht  lange  dauert  es  dann,  so  bricht 
die  Fluth  der  bretanischen  Romane  über  Frankreich  und  halb 
Europa  herein,  und  die  gesammte  schöne  Literatur  erfüllt  siel 
mit  deren  Abenteuern,  mit  der  inhalt-  und  planlosen  Lust 
am  Stoffe,  ohne  dass  irgend  welche  Idee  daraus  hervor- 
schimmerte. 

Nun  ist  es  ferner  bekannt,  in  welcher. Weise  die  Anschau- 
ung des  Orientes,  welche  die  Kreuzzüge  unmittelbar  gewähr- 
ten, zunächst  auf  Europa  wirkte.  Die  Erscheinung  ist  im 
Grossen  ähnlich  dem  Eindrucke,  welchen  die  Reisebücher  da- 
maliger Romfahrer  gewähren.  Sie  sind  aus  der  nordischen 
Heimath  ausgezogen,  schwerlich  mit  anderen  Gedanken,  als 
der  Andacht  zum  h.  Petrus  und  der  Ehrfurcht  vor  dem  Nach- 
folger desselben.  Sie  kommen  zurück  und  kennen  nun  vor 
Allem  die  mirabilia  urbis  Romae,  die  alte  heidnische  Herr- 
lichkeit, welche  jetzt  auf  die  unglaublichste  Weise  in  den  Dienst 
der  heiligen  Kirche  gerathen  ist.  lieber  Palästina  erhalten 
wir  vollständige  Auskunft  freilich  erst  durch  den  viel  späte- 
ren Jacob  von  Vitry,  man  braucht  aber  nur  den  Albertus 
Aquensis  und  die  orientalischen  Geschichten  bei  Orderich  ein- 
zusehen, um  sich  auch  für  1130  von  dem  Wechsel  der  Auf- 
fassungsweise  zu  überzeugen.  Statt  der  Heiligenmythe  er- 
scheint die  Sage,  neben  dieser  das  Mährchen,  neben  dem  Mi- 
rakel die  wunderlichsten  Weltwunder:  was  man  nicht  selbst 
gesehen  hat,  lässt  man  sich  erzählen,  und  wovon  die  Natur- 
geschichte der  Morgenländer  keinen  Rericht  erstattet,  das 
schreibt  man  nötigenfalls  aus  dem  Plinius  und  Solinus  ab. 
Ein  syrischer  Rischof  der  das  Abendland  zum  zweiten  Kreuz* 
zuge  aufforderte,  erzählte  dabei  vom  Priester  Johannes,  der  mit 
grossem  Heere  den  Christen  zur  Hülfe  gewärtig,  nicht  über 
den  Tigris  gelangt  und  drei  Jahre  am  Ufer  umsonst  auf  das 
Zufrieren  des  Flusses  wartet  Da6s  er  es  erzählt,  ist  nicht 
eben  auffallend,  aber  dass  der  Bischof  Otto  von  Freisingen, 


lieber  den  zweiten  Kreuzzug.  201 

der  Oheim  des  Barbarossa,  es  weitläufig  wiederholt,  und  eben- 
falls nichts  Merkwürdigeres  dabei  findet  als  den  gewaltigen 
Eisgang,  dass  überhaupt  erst  dreissig  Jahre  nachher  einem 
Menschen  es  einfiel,  den  Priester  auf  irgend  eine  Weise  für 
die  abendländische  Kirche  zu  gewinnen,  das  ist  bezeichnend 
für  den  Geist  dieser  Jahrzehnte.  Ich  brauche  nicht  näher 
auszuführen,  wie  dieser  Sinn  für  Seltsamkeit,  diese  Reiselust, 
dieser  Trieb  in  die  Länder  der  Fabel  hinein  in  der  deutschen 
Poesie  eine  Zeitlang  tongebend  wurde,  wie  ein  Jahrhundert 
später  er  sich  von  dem  geistlichen  Ursprünge  ganz  ablöste 
und  sich  ausschliesslich  der  geographischen  und  commerciel- 
len  Wissbegierde  dahingab.  Genug,  auch  auf  dieser  Seite  gab 
es  mächtige  Reize,  welche  den  Flug,  den  man  seit  1090  ge- 
rade zum  Himmel  empor  genommen,  unmerklich  wieder  zur 
Erde  hinablenkten.  Erging  es  doch  den  Eifrigsten  nicht  an- 
ders, den  Lenkern  und  Leitern  der  Askese  des  11.  Jahrhun- 
derts, den  Gluniacensern.  Ihre  Congregation  hatten  sie  ge- 
radezu auf  der  Abtödtung  des  sinnlichen  Menschen  auferbaut; 
dann  brachte  die  Heiligkeit  ihnen  Reichthum,  der  Orden 
schmückte  seine  Kirchen  und  Klöster  mit  Allem,  was  die 
Kunst,  die  eben  daran  sich  herausbildete,  ihm  zu  liefern  ver- 
mochte; wer  hätte  es  tadeln  mögen  —  im  Ganzen  war  kein 
Gedanke  an  sittliche  Verschlechterung,  im  Gegentheil,  das  be- 
haglichste und  würdigste  Dasein  richtete  man  sich  ein  —  aber 
das  Feuer  war  doch  erloschen ,  welches  fünfzig  Jahre  zuvor 
alles  Irdische  zu  verzehren  und  in  reiner  Flamme  dem  Herrn 
zu  opfern  bestimmt  war. 

Um  endlich  in  zwei  Worten  zusammenzufassen,  wie  weite 
Strecken  damals  für  die  Kirche  wenn  nicht  feindliches  aber 
doch  unabhängiges  Gebiet  zu  werden  drohten,  braucht  man 
nur  die  zwei  Namen  auszusprechen,  Abälard  und  lrnerius. 
Die  wissenschaftliche  Wiederbelebung  des  römischen  Rech- 
tes ist  gleich  von  ihrem  ersten  Aufdämmern  an  eine  geschicht- 
liche Thatsache  ersten  Ranges  und  mannigfaltigster  Wirksam- 
keit Ganz  im  Allgemeinen  ist  es  schon  wichtig,  dass  durch 
sie  ein  bedeutender  Theil  der  geistigen  Kräfte  von  den  kirch- 
lichen Dingen  ab  und,  auf  die  Beobachtung  und  Bearbeitung 


202  Heber  den  zweiten  Kreuzzug. 

der  menschlichen  Zustände,  des  täglichen  Lebens,  des  privat- 
rechtlichen  Verkehrs  hinübergelenkt  wird.  Der  Abt  Wibald 
von  Corvey,  der  erste  Geistliche  des  damaligen  Deutschlands, 
klagt,  er  wisse  die  Mönche  seines  Klosters,  ungefähr  des  be- 
rühmtesten in  den  ostrheinischen  Landen,  nicht  von  den  ju- 
ristischen Studien  hinweg,  und  zu  wahrhaft  christlicher  Be- 
schäftigung zurückzubringen.  Nun  kam  hinzu,  dass  die  Ver- 
gangenheit, welche  sich  in  diesen  Studien  eröffnete,  in  den 
wichtigsten  Beziehungen  zu  der  damaligen  den  geradesten  Ge- 
gensatz bildete,  dass  sie  Staat  und  Kirche,  öffentliches  und 
Privatrecht  genau  sonderte,  und  der  Staatsgewalt  eine  unbe- 
dingte Herrschaft  über  alle  übrigen  Gebiete  beilegte.  Es  hing 
freilich  nicht  unmittelbar  mit  den  Rechtsschulen  zusammen, 
es  entsprang  aber  aus  demselben  Streben,  welchem  diese  ihre 
Blüthe  verdankten,  dass  damals  die  Stadt  Rom  ihrer  geschicht- 
lichen Grösse  gedachte,  sich  gegen  die  päpstliche  Herrschaft 
auflehnte,  und  den  weltbeherrschenden  Senat  der  alten  Re- 
publik wieder  in  das  Leben  zu  rufen  strebte.  Den  Päpsten  war 
es  eine  äusserst  lästige  Diversion,  welcher  sie  sich  erst  viele 
Jahre  nachher  durch  die  Hülfe  Friedrich's  I.  ganz  entledigten. 
Zu  derselben  Zeit  erhob  dieser  aber  kaiserliche  Ansprüche  weit 
über  das  bisherige  Maass  seiner  Gewalt  hinaus,  welche  er  un- 
mittelbar auf  die  Rechte  der  alten  Imperatoren  zurückführte. 
Trafen  sie  nicht  auf  der  Stelle  den  Papst,  so  bedrohten  sie  doch 
dessen  beste  Bundesgenossen,  die  lombardischen  Städte  die 
Verwirklichung  derselben  hätte  das  gesammte  System  erschüt- 
tert, zu  welchem  ebensowohl  die  Zersplitterung  der  politi- 
schen, wie  die  Gentralisirung  der  geistlichen  Macht  gehörte. 
Geradezu  auf  den  Mittelpunkt  aber  der  geistlichen  Stel- 
lung jener  Zeit  zielte  die  Entwicklung  der  scholastischen  Phi- 
losophie, wie  sie,  weniger  bedeutender  Repräsentanten  *u 
geschweigen,  von  Abälard  in  der  ersten  Hallte  des  12.  Jahr- 
hunderts ausging.  Gebildet  durch  die  Gründer  zuerst  des 
Nominalismus,  dann  des  Realismus,  beide  übersehend,  mitten 
in  ihrem  Gegensatze  sich  selbst  eine  geharnischte  Stellung 
gründend,  in  Lehre  und  Leben  von  den  Wegen  der  kirchli- 
chen Philosophen  abgewandt,  regte  er  durch  ganz  Frankreich, 


lieber  den  zweiten  Krewzug.  203 

vor  Allem  unter  der  begabteren  Jugend,  die  umfassendste  Be- 
wegung an.    Das  Verhältniss  von  Glauben  und  Wissen,  die 
Erfordernisse  der  Beseligung,  die  Begriffe  des  allgemeinen  und 
besonderen  Seins  unterwarf  er  einer  kühnen,  rücksichts-  und 
voraussetzungslosen  Durchforschung;  er  erkannte  den  Glauben 
nicht  an,  der  sich  nicht  auf  den  Gedanken  gründe,  in  einem 
jenseitigen  Leben  möge  ein  reines  Anschauen  gelingen,  hier 
auf  Erden  sei  man  angewiesen,  die  Mysterien  auf  einen  In- 
halt zu   beschranken,   der  nichts  Vernunftwidriges  enthalte. 
Es  war  in  diesem  Maasse  die  erste  Benutzung  logischer  Tha- 
tigkeit  zur  erschöpfenden  Gestaltung  der  Metaphysik:  merk- 
würdig genug,  wie  sein  Hauptwerk  zu  dem  Ergebniss  kam, 
die  mera  essentia  sei  nichts  als  die  susceptibilitas  contrario- 
rum.    Was  blieb  übrig  von  Papst  und  Kreuzzügen,  wenn  die- 
sen Grundsätzen  der  Baum  gelassen  wurde,  ihre  Consequen- 
zen  fortzubilden,  sie  auf  die  äusserlich  vorhandene  Kirche  an- 
zuwenden, auf  Eroberung  statt  auf  Selbsterhaltung  auszugehen? 
Niemand  wird  also  die  weltgeschichtliche  Bedeutung  des 
Mannes  in  Zweifel  ziehen,  der  diesem  Strome  sich  in  den 
Weg  stellte,  und  die  öffentliche  Meinung  zu  einer  entschei- 
denden Protestation  gegen  die  neue  Philosophie  mit  sich  fort- 
riss.    Und  nicht  allein  durch  diesen  Kampf  hat  der  heilige 
Bernhard  sich  den  Anspruch  erworben,  zwischen  Gregor  VII. 
und  Innocenz  III.  als  einzig  ebenbürtiger  Beförderer  der  ka- 
tholischen Kirche  genannt  zu  werden.   Man  hat  wohl  von  Lu- 
ther gesagt,  er  sei  in  allen  Dingen  maassgebend  für  die  Rich- 
tungen seiner  deutschen  Zeitgenossen  gewesen;   man  kann 
ahnlich  von  Bernhard  behaupten,  dass  nichts  Wesentliches 
für  die  Haltung  der  damaligen  Kirche  existirt  habe,  wofür 
seine  Thätigkeit  nicht  feststellend  geworden  sei.    Die  kirch- 
liche Philosophie  bildete  er  fort,  bis  sie  den  Angriffen  der 
Scholastik  gewachsen  war  und  diese  selbst  in  sich  aufnehmen 
konnte;  dem  Verfalle  der  Askese  steuerte  er,  indem  er  den 
verweichlichten  Gluniacensern  die  Ordnung  von  Glairvaux  und 
Cibeaux  entgegensetzte;  für  die  Einheit  der  Hierarchie  wurde 
er  in  grossartiger  Weise  thätig,  als  gegen  Innocenz  II.  sich 
der  Gegenpapst  Anaklet  anfangs  mit  bedeutenden  Aussichten 


1 


204  Ueber  den  zweiten  Kreuttug. 

erhob.  Auf  das  Wort  des  hinfälligen  und  zarten  Mannes 
horchte  die  Bevölkerung  des  gesamroten  Abendlandes;  seine 
Briefe,  in  denen  überall  der  Zierlichkeit  des  Styls,  der  Genau- 
igkeit und  nicht  selten  der  Sentimentalität  der  Bilder  eine 
sichtliche  Mühe  gewidmet  ist,  gingen  durch  die  Länder,  der 
Lebensathem  eines  herrschenden  überall  unwiderstehlichen 
Geistes.  Er  wehrte  jede  Beförderung,  die  ihn  den  Mauern 
von  Clairvaux  entrissen  hätte,  hartnäckig  von  sich  ab;  aber 
auf  dem  Stuhle  zu  Rom  sass  Eugen  HL,  der  eine  unbedingte 
Ehrfurcht  vor  dem  Abte  beinahe  für  seine  grösste  Tugend 
hielt.  Wahrlich  nicht  zu  seinem  oder  der  Kirche  Schaden. 
Bernhard  hat  einmal  die  Kirche  gegen  äussere  Angriffe  und 
innere  Spaltungen  siegreich  vettheidigt;  er  hat  ferner  —  und 
dies  bezeichnet  ihn  näher  —  sie  in  Wahrheit  fortgebildet,  in- 
dem er  nicht  fanatisch  gegen  Gultur  und  Politik,  wie  Gre- 
gor Vll.  und  etwa  Lanfrank ,  einen  Vernichtungskampf  ver- 
suchte, sondern  die  Gegner  auf  ihrem  eigenen  Boden  zu  schla- 
gen bemüht  war,  und  die  fremden  Elemente  durch  Assimi- 
lation der  Kirche  unterwarf.  Es  ist  klar,  dass  nur  auf  diesem 
Wege  die  Beherrschung  der  Welt  erreicht  werden  konnte, 
wenn  auch  Tür  den  Augenblick  die  Bewegung  langsamer,  die 
Tendenzen  verwickelter  wurden. 

Auf  diesen  Augenblick  kommt  es  uns  nun  aber  gerade 
an.  Möglich  war  ein  neuer  Kreuzzug  noch  immer  auf  den 
alten  Grundlagen.  Nur  darüber  kann  man  sich  nicht  täuschen, 
auf  so  reinen  und  geraden  Linien  wie  1096  war  nicht  zum 
Ziele  zu  gelangen.  Mit  einer  Menge  verschiedener  Elemente 
musste  man  sich  auseinandersetzen:  einem  einfachen  fana- 
tischen Glaubensaufruf  hätte  der  vielfach  abgezogene  Geist 
dieser  Zeit  schwerlich  gehorcht,  in  dem  Verlaufe  des  Unter- 
nehmens war  der  Berührung  mit  festen  politischen  Grössen 
nicht  auszuweichen. 

Ich  brauche  hier  nun  nicht  zu  wiederholen,  welche  Ver- 
flechtung äusserer  Ereignisse  den  Krieg  unmittelbar  hervor- 
rief. Auf  der  einen  Seite  der  Fall  Edessa's,  dessen  Kunde 
in  allen .  Ländern  .eine  schmerzliche  Aufregung  verursachte, 
auf  der  anderen  Seite  die  Zerknirschung  König  Ludwig's  VII. 


lieber  den  zweiten  Kreuzzug.  205 

der  nach  einer  Zeit  entschiedenen  Widerstandes  gegen  die 
Kirche  endlich  durch  die  Kriegsgräuel  in  Vitry  zur  Reue  und 
Busse  geführt  wurde.  Er  veranlasste  die  erste  Kreuzpredigt 
auf  dem  Concile  zu  Bourges,  December  1145,  und  wirkte  dann 
bei  dem  Papste  die  Vollmacht  Tür  den  St.  Bernhard  aus, 
Ostern  1146  zu  Vezelai  in  gleichem  Sinne  die  Völker  aufzu- 
rufen. Dem  gehorchte  dann  halb  Frankreich,  eine  Masse  deut- 
scher Schaaren,  zuletzt  König  Konrad  III.  selbst,  so  dass  im 
Frühling  1147  zwei  gewaltige  Heere  in  Metz  und  Regensburg 
zum  Aufbruche  bereit  standen.  Fassen  wir  die  Motive,  wel- 
che einen  so  mächtigen  Aufschwung  bedingten,  etwas  näher 
in  das  Auge. 

Zunächst  Edessa.  Hat  dessen  Verlust  in  der  Tbat  den 
syrischen  Christen  völlige  und  schleunige  Vernichtung  gedroht? 
haben  sie  wirklich,  durch  solche. Furcht  bestimmt,  Gesandt- 
schaften in  den  Occident  geschickt,  um  eine  ausserordentliche 
Hülfe  aufzubieten?  Lieber  die  Wichtigkeit  Edessa's  für  die 
bleibende  Behauptung  Palästina^  habe  ich  früher  geredet; 
nichts  wäre  begreiflicher  und  richtiger  als  eine  solche  Besorg- 
niss  und  eine  ihr  entsprechende  Maassregel  gewesen.  Aber 
auch  hier  ist  von  dem  uns  Begreiflichen  in  jenem  Jahrhun- 
dert selbst  nichts  zu  entdecken.  Der  letzte  Graf  von  Edessa 
selbst,  Joscelin  II.  hatte  die  Stadt  seit  Jahren  verlassen,  ihre 
Befestigung  vernachlässigt,  ihre  Besatzung  vermindert.  Fürst 
Raimund  von  Antiocbien,  den  nach  dem  Verluste  die  nächste 
Gefahr  treffen  musste,  wies  jede  Bitte  um  Beistand  mit  Scha- 
denfreude zurück.  Die  Regierung  von  Jerusalem,  anstatt  nach 
dem  Falle  alle  Kräfte  zur  Deckung  der  hart  geschädigten  Nord- 
grenze aufzubieten,  verwickelte  sich  in  nutzlose  Streitigkeiten 
mit  Damaskus  und  Boszra.  Endlich  der  Sieger  selbst,  durch 
uns  unbekannte  Ursachen  gehindert,  dachte  nicht  im  Minde- 
sten an  eine  kräftige  Benutzung  seines  Gewinnes.  Der  Schlag 
war  gefallen,  darnach  herrschte  im  Oriente  tiefe  Ruhe,  fried- 
liche Stille,  wie  sie  lange  nicht  gewesen.  Ein  syrischer  Bi- 
schof ging  nach  Rom,  um  beim  Papste  ein  Urtheil  über  Zehnt- 
processe  zwischen  König  und  Kirche  auszubringen;  er  hatte 
die  Absicht,   nachher  auch  in  Frankreich  und  Deutschland 


206  lieber  den  weiten  Kreuszug, 

Werbungen  für  den  Orient  zu  versuchen.  Wir  wissen,  dass 
deren  seit  den  Zeiten  Balduin's  I.  fast  ununterbrochen  im 
Gange  waren ;  dass  der  Bischof  nichts  Weiteres  und  Umfas- 
senderes im  Sinne  trug,  scheint  mit  Bestimmtheit  daraus  zu 
erhellen,  dass  er  bei  den  wirklichen  Verhandlungen  selbst, 
die  in  ausführlicher  Genauigkeit  uns  vorliegen,  an  keiner  Stelle 
vorkommt,  dass  Wilhelm  von  Tyrus  seiner  überhaupt  gar  nicht 
gedenkt  und  als  Anlass  des  Kreuzzuges  nur  die  unbestimmten 
höchst  übertriebenen  Gerüchte  bezeichnet,  welche  sich  im 
Abendlande  nach  dem  Falle  Edessa's  verbreitet  hätten.  Er 
weiss  das  aus  den  Gestis  Ludov.  VII.,  welche  er  überhaupt 
diesem  Theile  seiner  Geschichte  zu  Grunde  legt:  wie  wäre 
es  denkbar,  dass  eine  formliche  Gesandtschaft  von  solcher 
Wichtigkeit  ihm  entgangen  wäre?  Jener  Bischof  ist  zunächst 
zu  dem  Papste  gekommen;  den  Gedanken  des  Kreuzzuges 
fasst  aber  der  Papst  erst  auf  die  Anregung  Ludwig's  VII. 
Dass  der  Gesandte  die  Absicht  hatte,  auch  diesen  König  zu 
besuchen,  wissen  wir  nur  durch  Otto  von  Freisingen:  als 
Beweggründe,  welche  den  König  zur  Heerfahrt  bestimmten, 
nennt  derselbe  Schriftsteller  aber  ganz  andere  Dinge.  Es  bleibt 
nur  eine  Notiz  der  Chronik  von  Morigny,  dass  Gesandte  von 
Antiochien  und  Jerusalem  nach  Frankreich  die  Bitte  um  Hülfe 
gebracht  hätten.  Dass  sie  zum  Könige  gekommen,  dass  sie 
von  ihrer  Regierung  geschickt  worden,  davon  wird  nichts  ge- 
sagt: ich  kann  sie  nur  zu  den  Menschen  rechnen,  welche  Wil- 
helm von  Tyrus  bezeichnet:  es  fanden  sich  Manche,  welche 
jene  Gerüchte  weit  und  breit  in  allen  Ländern  und  Provin- 
zen verbreiteten.  Sie  verhalten  sich  also  zu  den  eigentlichen 
Veranlassern  des  Kreuzzuges,  wie  ein  halbes  Jahrhundert  frü- 
her Peter  der  Einsiedler  und  seine  Genossen  zu  Papst  Ur- 
ban  IL  und  der  an  diesen  abgeordneten  griechischen  Gesandt- 
schaft. Jedenfalls  entbehren  die  Gompositionen,  zu  welchen 
Wilken  und  Michaud  jene  Nachricht  der  Chronik  und  die 
Worte  Otto's  über  den  syrischen  Bischof  benutzen,  aller  po- 
sitiven Begründung. 

Doch  wozu  solche  Reihe  von  Schlüssen,  wo  ein  höchst 
positives  Zeugniss  in  ganz  entscheidender  Bündigkeit  redet? 


Ueber  den  »weiten  Kreuzzug.  207 

Im  Anfange  des  Jahres  1139  hatte  Ludwig  VII.,  durch  seine 
morgenländischen  Erfahrungen  keinesweges  abgekühlt,  den 
Plan  in  Spanien  zur  Ehre  des  Kreuzes  die  Ungläubigen  zu 
bekämpfen.  Auf  seine  Anfrage  lobte  Papst  Hadrian  die  fromme 
Absicht,  unterliess  aber  nicht  zu  warnen:  der  König  habe  sich 
ja  gar  nicht  über  die  Meinung  .der  spanischen  Christen  er- 
kundigt, ob  man  seiner  gerade  jetzt  bedürfe,  ob  er  gerade  in 
diesem  Augenblicke  auch  nifr  gelegen  komme;  Ludwig  möge 
sich  erinnern,  wie  er  einst  mit  König  Konrad,  ohne  das  Volk 
des  Landes  um  Rath  zu  fragen,  die  Fahrt  nach  Jerusalem  be- 
gonnen, und  wie  daraus  für  alle  Theile  nur  Unglück  entstan- 
den sei.  —  An  eine  Gesandtschad  also  der  Syrer  an  die  Kö- 
nige von  Deutschland  und  Frankreich  ist  so  wenig  zu  den- 
ken, dass  man  jene  vielmehr  durch  das  Unternehmen  vollständig 
überraschte;  es  war  eine  ganz  von  innen  heraus  entsprungene 
Regung  abendländischer  Andacht,  die  auf  die  Kunde  von  dem 
Unglücke  im  heiligen  Lande  zu  den  Waffen,  trieb.  Es  war 
noch  immer  die  Gesinnung  von  1100  und  1120,  die  nichts  An- 
deres wusste  als  di«  Feinde  Christi  mit  der  Schärfe  des  Schwer- 
tes zu  treffen:  dass  jetzt  dort  am  heiligen  Grabe  ein  bedeu- 
tender Staat  mit  allen  denkbaren  Interessen  der  Politik,  des 
Krieges,  des  irdischen  Daseins  existire,  dass  dieser  auf  die 
verschiedenste  Weise  von  dem  Unternehmen,  je  nachdem  man 
es  einleitete,  berührt  werden  könnte,  deren  dachte  man  nicht 
im  Mindesten,  oder  schlug  es  neben  jenem  Hauptzwecke  zu 
gar  nichts  an.  Schwer  hat  man  es  gebüsst;  Sieg  und  Seligkeit, 
wie  sie  der  erste  Kreuzzug  gebracht,  waren  dem  zweiten  nicht 
bestimmt:  in  jenem  hatten  die  mystischen  Kräfte  ganz  freie 
Bahnen  gehabt,  in  diesem  standen  unabweisbare  weltliche 
Momente  im  Wege,  die  man  weder  zu  umgehen  noch  zu 
sprengen  verstand. 

Was  nun  den  eigentlichen  Helden  der  Kreuzpredigt  von 
11*46  betrifft,  den  heiligen  Bernhard,  so  ist  es  oft  angeführt 
worden,  dass  ursprünglich  seine  Begeisterung  für  diesen  Krieg 
nicht  eben  im  vollsten  Strome  daherrauscbte.  Früher  hatte 
er  Manchem  gesagt,  es  sei  besser  in  der  Heimath  ein  Leben 
des  Glaubens  und  der  Heiligkeit  zu  führen,  als  in  der  Fremde 


208  lieber  den  weiten  Kreuzzug. 

des  Orientes  umherzuschweifen;  ein  wohlgehaltenes  Kloster 
sei  ebensowohl  eine  Pforte  des  himmlischen  Jerusalem,  als 
die  irdische  Stadt  desselben  Namens.   Als  König  Ludwig  ihm 
seine  Pläne  eröffnete,  wies  er  ihn  an  den  Papst,  und  mahnte 
ab,  ohne  dessen  Gutachten  ein  solches  Werk  zu  beginnen. 
Erst  auf  den  Befehl  dieser,  höchsten  Behörde  übernahm  er 
die  Hission  selbst  die  Völker  unter  die  Waffen  zu  rufen. 
Niemand  wird  nun  bezweifeln,  dass  er  einmal  die  Sache  be- 
gonnen mit  Kraft  sie  betrieben  habe:  wie  mächtig  seine  Rede 
und  der  Ruf  seiner  Wunder  gewirkt,  zeigt  mehr  als  jede  Quel- 
lenaussage der  unabsehbare  Erfolg.   Bei  alle  dem  aber,  welch 
ein  Gegensatz  zwischen  der  Beredtsamkeit  seines  Rundschrei- 
bens, des  einzigen  uns  erhaltenen  Denkmales  und  dem  Schwünge 
Von  1094,  wie  er  in  den  verschiedenen  Meldungen  von  der 
Rede  Urban's  II.  zu  Tage  liegt.    Hier  ist  eine  mächtige  Ein- 
fachheit, die  mit  formloser  Begeisterung  auf  die  Sache  unauf- 
haltsam losschreitet;  dort  fehlt  es  nicht  an  Eifer  und  Grün- 
den, aber  niemand  wird  neben  dem  Glaubensprediger  den  in 
seiner  Weise  vollendeten  Schriftsteller  verkennen.    Es  bewegt 
sich,  sagt  er,  und  zittert  die  Erde,  weil  der  Herr  seine  Erde 
verloren  hat,  seine  Erde  sage  ich,  wo  seine  Füsse  gestanden, 
seine  Erde,  die  er  mit  Wundern  gesegnet,  mit  dem  eigenen 
Blute  geweiht  hat,  wo  die  ersten  Blüthen  der  Auferstehung 
erschienen  sind.   Dort  brechen  jetzt  durch  unsere  Sünden  die 
Feinde  des  Kreuzes  ein.    So  geht  es  weiter  durch  das  ganze 
sehr  umfangreiche  Schreiben.    Er  wirft  sich  die  Frage  auf, 
warum   Gott  nicht  gleich   die  Legionen   seiner  Engel  zum 
Kampfe  schicke,  und  antwortet:  Gott  sage  ich  versucht  Euch 
und  hat  Erbarmen  mit  Euch,  seht  da,  mit  welcher  Kunst  er 
Eure  Erlösung  bereitet  und  staunt  und  schaut  die  Tiefe  sei- 
ner Gnade.     Denn  was  ist  es  als  eine  ausgesuchte  und  nur 
von  Gott  zu  erfindende  Gelegenheit  zur  Seligkeit,   dass  er 
Mörder  und  Räuber,  Ehebrecher  und  Meineidige  wie  die  Ge- 
rechten zu  seinem  Dienste  beruft?  —  Er  dachte  schwerlich, 
als  er  diese  ausgesuchten  und  nur  von  ihm  zu  erfindenden 
Wendungen  niederschrieb,  zu  wie  traurigen  Folgen  er  hier 
die  Masse  der  Sünder  für  den  Krieg  der  Heiligen  aufbot,  welch 


lieber  den  zweiten  Kremzug.  209 

ein  Gesindel  sich  zu  dieser  Gnadenpforte  eindrängen,  und  wel- 
chen Gebrauch  es  von  Gottes  Erbarmen  in  Bulgarien  und 
Constantinopel  machen  würde.  Vielmehr  muss  die  Form  die- 
ser in  zahlreichen  Abschriften  verbreiteten  Epistel  ihn  selbst 
nicht  wenig  befriedigt  haben;  denn  in  einem  Privatschreiben 
an  Kaiser  Manuel,  worin  er  einen  französischen  Adligen  em- 
pfiehlt, wiederholt  er  die  meisten  jener  Sätze,  und  führt  den 
Schluss  noch  weiter  aus:  das  Grab,  wo  die  jungfräuliche  Blü- 
the  der  Maria  mit  Leintüchern  und  Wohlgerüchen  niederge- 
legt, aus  welchem  die  erste  und  grösste  Biüthe  auf  unserer 
Erde  wieder  erstanden  ist.  —  Es  ist  die  Manier,  die  er  in 
allen  seinen  schriftstellerischen  Leistungen  nicht  verläugnet 
hat,  eine  ganz  sentimentale  Gesinnung  trifft  hier  zusammen 
mit  grosser  stylistischer  Gewandtheit;  daraus  folgt  eine  Su- 
perfötation  der  Formen,  ein  Ueberfluss  der  Bilder,  eine  zu- 
weilen witzelnde  Masse  der  Antithesen,  welche  seinen  Zeit- 
genossen freilich  angemessen  war,  aber  überall  das  Gegentheil 
von  unbefangenem  Hingeben  an  den  Stoff  bezeichnet  Welch 
ein  Herzeleid  war  es  ihm,  als  ein  junger  Verwandter,  den  er 
sorglich  gepflegt,  von  ihm  zu  den  Gluniacensern  abfiel,  und 
welche  Blüthen  der  Redekunst  treibt  dieser  Schmerz  hervor. 
Stehe  auf,  gürte  dich,  rüste  die  Kräfte,  ende  die  Trägheit, 
rühre  die  Arme,  löse  die  Hände.  Sei  es  meine  Schuld,  wie 
du  sagst  und  ich  nicht  läugne,  oder  deine,  wie  Viele  glauben, 
obgleich  ich  nicht  klage,  oder  meine  und  deine,  wie  ich  eher 
glaube,  jetzt,  wenn  du  nicht  zurückkehrst,  wirst  du  allein 
nicht  schuldlos  sein.  Oder,  wenn  er  nicht  Lust  hat,  um  ir- 
gend eines  päpstlichen  Auftrages  willen  seine  klösterliche  Be- 
schaulichkeit zu  verlassen,  wie  rund  und  pracis  entgegnet  er: 
leichte  Geschäfte  kannst  du  ohne  mich,  schwere  nicht  durch 
mich  beenden;  wäre  ich  ein  bedeutender  Mensch,  hätte  Gott 
wohl  mein  Licht  nicht  unter  den  Scheffel  eines  Klosters  gesteift. 
In  einer  seiner  grössten  Lebensfragen,  in  dem  Streite  mit 
Abälard,  mit  welcher  behaglichen  Sorgfalt  putzt  er  die  heftig- 
sten Streitschriften  heraus.  Moses  befiehlt,  sagt  er  einmal, 
wenn  eine  Streitfrage  entsteht,  so  tragt  sie  dem  Hur  und 
Aaron  vor.    Ich  meine  den  Moses,  der  im  Wasser  kommt, 


210  lieber  den  »weiten  Krewusug. 

nicht  blos  im  Wasser,  sondern  auch  im  Blut  Ich  mein« 
den  Eifer  und  das  Ansehen  der  römischen  Kirche,  das  ist 
unser  Hur  und  Aaron,  dahin  bringen  wir  unsere,  nicht  Fra- 
gen, sondern  Schaden  des  Glaubens.  Er  beschreibt  dann  den 
Uebermuth  und  die  wissenschaftliche  Methode  des  Abälard, 
daher  kommt  es,  fahrt  er  fort,  dass  das  Osterlamm  entweder 
gegen  Gottes  Vorschrift  in  Wasser  gekocht  oder  roh  zerrissen 
und  gebissen  wird.  Ich  dachte  nicht,  sagt  er  in  Bezug  auf 
das  eben  geendigte  Schisma,  dass  aus  den  ausgebrochenen 
Dornen  neue  herausbrechen  würden,  dass  wir  dem  Löwen 
(dem  Petrus  Leonis)  entronnen,  dem  Drachen  zur  Beute  wür- 
den. Unsere  Thranen  fliessen,  denn  es  spriessen  mächtig  die 
Sünden  hervor.  Er  beschreibt  dann  den  Goliath,  den  Käm- 
pfer von  Jugend  auf,  die  gallische  Biene,  welche  den  Herrn 
und  seinen  Christ  umschwirrt,  die  ihren  Bogen  spannt  und 
ihren  Pfeil  in  Bereitschaft  hält.  In  ähnlicher  Weise  redet  er 
im  reichsten  Style  über  Arnold  von  Brescia,  den  Menschen, 
den  Brescia  ausspie,  Born  verabscheute,  Frankreich  zurück- 
stiess,  Italien  nicht  behalten  wollte,  der  nicht  blos  ein  schlauer 
Fuchs  im  Weinberge,  sondern  ein  grosser  Wolf  in  der  Hürde 
Christi  sei,  der  zwar  im  Leben  massig  und  auf  Fasten  bedacht 
sei,  der  aber  mit  dem  Teufel  speise  und  nach  dem  Blute  der 
Seelen  durste.  Er  empfiehlt  einen  Unterdrückten  dem  Könige 
Roger:  gieb  Gott  deine  Ehre,  dass  du  sie  nicht  verlierest,  oder 
dich  von  ihr  verlierst;  höre  den  Lieberbringer  dieses  Briefes 
an,  den  nicht  die  Begierde  zu  dir  fuhrt,  sondern  die  Noth, 
nicht  seine,  sondern  der  Seinigen  Noth,  vieler  Diener  des 
Herrn,  die  ihn  gesandt  haben. 

Doch  ich  kürze  eine  Abschweifung  ab,  deren  Inhalt  ohne 
irgend  eine  Mühe  ein  blosses  Blättern  in  seinen  Schriften  er* 
geben  und  vervollständigen  kann.  So  häuGg  bei  seinen  Zeit-* 
genossen  Anklänge  dieser  Manier  erscheinen,  so  wird  man  ihn 
doch  auch  hierin  seiner  ganzen  Stellung  nach  mehr  schöpfe- 
risch für,  als  bedingt  durch  den  Zeitgeist  nennen,  um  so  mehr 
als  in  Autoren  wie  Abälard,  Wibald  und  Otto  von  Freisingen 
ganz  andere  Bichtungen  zu  Tage  treten.  Kein  Stoff  vermag 
ihm  neben  der  Begeisterung  die  Besonnenheit  ganz  zu  ver- 


tfeber  den  zweiten  Kreuzzug.  QU 

drängen.  Wie  weit  ist  er  von  dem  stürmenden  Drange  von 
1094  entfernt,  wenn  er  seine  Kreuzfahrer  zu  kriegerischem 
Gehorsam  und  soldatischer  Ordnung  ermahnt,  wenn  er  erin- 
nert, in  dem  ersten  Kreuzzuge  sei,  wenn  er  nicht  irre,  ein 
gewisser  Peter  aufgetreten,  und  habe  das  Volk  vernichtet, 
welches  ihm  leichtsinnig  folgte,  wenn  er  tadelt,  ganz  wie  der 
Abt  von  Glugny,  dass  man  die  Juden  vor  ihrer  Bekehrung 
tödte,  statt  sie  zum  Besten  des  Kreuzzuges  zu  besteuern. 
Endlich  wie  charakteristisch  ist  folgende  Aeusserung  seines 
Begleiters  bei  den  Kreuzpredigten,  des  Mönches  Philipp:  in 
Chalons  kommt  Bernhard  mit  König  Ludwig  zusammen,  dort 
sind  viele  französische  und  deutsche  Fürsten,  so  wie  Gesandte 
König  Konrad's  und  Herzog  Weif s  anwesend,  um  gemeinsam 
den  Krieg  zu  berathen;  durch  diese  Gespräche  wird  Bern- 
hard zwei  Tage  abgehalten,  zum  Volke  hinauszugehen,  zu 
seinem  Scbmerze,  aber  das  Gemeinwohl  ging  allerdings  vor. 
Er  war  eben  thätig  als  gewissenhafter  Beamter  der  Kirche 
mit  allen  Kräften  aber  nicht  mit  eigenem  Feuer;  er  hat,  sagt 
Geufrid,  trotz  königlicher  Aufforderung,  trotz  päpstlicher  Bit- 
ten das  Werk  erst  übernommen,  als  ein  amtlicher,  öffentli- 
cher Brief  des  Papstes  ihn  zum  Organe  der  römischen  Kirche 
in  dieser  Sache  ernannt  hat. 

In  diesem  einen  ausserlichen  Umstände,  in  dieser  offici- 
ellen  Wichtigkeit  des  Papstes  ist  also  noch  die  Weise  des 
ersten  Kreuzzuges  unverändert;  der  Papst  ist  der  eigentliche 
Vorsteher  und  Feldherr  des  Krieges.  Michaud  hat  dies  in 
Bezug  auf  1094  in  etwas  übersehen ;  er  sagt,  damals  sei  über- 
haupt gar  keine  Organisation  vorhanden  gewesen,  nur  die 
Einstimmigkeit  der  Begeisterung  habe  jene  Massen  zusam- 
mengehalten und  geleitet.  Das  Letzte  ist  richtig,  wenn  man 
die  inneren  treibenden  Impulse  angeben  will,  das  Erste  ist 
ungenügend,  denn  der  päpstliche  Legat  Adhemar  wird  so  aus- 
drücklieh wie  möglich  als  der  Anführer  des  Heeres  bezeich- 
net. Es  war  kein  König  dabei,  heisst  es  wohl  in  den  Quel- 
len, Christus  selbst  war  Feldherr  —  der  Papst,  welcher  auch 
sonst  als  der  Vertreter  des  Heilandes  galt,  war  nicht  minder 
an  dieser  Stelle  sein  Organ.    Das  Heer  war  im  eigentlichen 


212  lieber  den  »weiten  Kreu%%ug. 

Sinne  eine  römisch-päpstliche  Bewaffnung,  rührte  päpstliche 
Fahnen  und  wurde  dem  Kaiser  Alexius  nur  durch  päpstliche 
Schreiben  empfohlen.  Im  Jahre  1146  wurde  das  Verhältnis* 
der  Form  nach  nicht  geändert.  Ludwig  nahm  das  Kreuz  erst 
auf  päpstliche  Erlaubniss;  erst  durch  den  Papst  wurde  das  Heer 
der  französischen  Kreuzfahrer,  die  doch  schon  vor  der  Wall- 
fahrt dem  Könige  verpflichtet  waren,  angewiesen,  demselben 
zu  gehorchen;  der  Papst  erliess  ein  tadelndes  Schreiben  an 
Konrad  III.,  dass  er  das  Kreuz  ohne  Anfrage  in  Born  aus 
Bernhard's  Händen  genommen,  obgleich  sonst  Bernhard  ja 
nur  als  römischer  Bevollmächtigter  handelte.  So  wenig  zwei- 
felhaft schien  dieser  Anspruch,  dass  Konrad  nichts  antwortete 
als  dass  der  beilige  Geist  wehe,  wo  er  wolle,  und  keinen 
Baum  lasse  um  den  Papst  oder  sonst  jemand  zu  Bathe  zu 
ziehen.  Dennoch  hatten  die  Dinge  in  ihrem  innersten  Be- 
stände sich  auch  nach  dieser  Seite  wesentlich  geändert.  Es 
war  keine  Bede  davon,  dass  ein  päpstlicher  Legat  den  Zug 
selbst  mitgemacht,  dass  die  Curie  sich  in  die  einzelnen  An- 
Ordnungen  eingemischt  hätte;  nachdem  sie  den  Königen  die 
allgemeine  Vollmacht  gegeben,  fiel  die  Ausführung  der  welt- 
lichen Macht  ausschliesslich  anheim.  Eine  Kreuzzugssteuer, 
so  weit  sie  auf  die  Geistlichen  fiel,  bewilligte  der  Papst,  der 
König  aber  bestimmte  ihren  Belauf  und  Umschlag.  Alle  Be- 
clamationen,  die  in  bedeutender  Zahl  uns  vorliegen,  grob,  wei- 
nerlich oder  erhaben  wie  sie  auftreten,  geben  nur  an  die 
Beichsbejbörden.  Wie  bei  dem  dritten  Kreuzzuge  die  Ver- 
keilung der  Bollen  noch  entschiedener  zu  Gunsten  der  Staats- 
gewalten geschah,  haben  du  Yeil  und  Michaud  sehr  gut  er- 
örtert; die  Kreuzfahrt  ist  hier  vollständig  dem  Organismus 
des  Feudalstaates  anheimgefallen. 

Das  Wichtigste  aber,  sowohl  zur  Charakteristik  als  fär 
den  Ausgang  des  Kreuzzuges  von  1146  ergab  sich  aus  der 
damaligen  Beschaffenheit  des  europäischen  Staatensystemes, 
aus  den  politischen  Beziehungen  zwischen  seinen  vorwiegen- 
den Mächten.  Im  Jahre  1094  waren  diese  entweder,  wie 
Deutschland,  Frankreich  und  die  italienischen  Normannen  pa- 
ralysirt,  oder  standen  dem  Unternehmen,  wie  England,  Spa- 


lieber  den  »weiten  Kreuzzug.  213 

nien  und  der  Norden  völlig  fern ;  der  Papst  hatte  höchstens 
mit  dem  griechischen  Reiche  über  die  Freiheit  des  Durchzu- 
ges zu  unterhandeln.  Umgekehrt  herrschte  1190  ein  grossar- 
tiges Einverständnis  in  ganz  Europa  in  Bezug  auf  den  Kreuz- 
zug; die  Mächte,  durchgängig  durch  kraftige  Herrscher  ver- 
treten, klar  darüber,  dass  man  den  Zweck  nicht  ohne  seine 
Mittel  erreichen  könne,  ordneten  ihre  specielle  Politik  den 
allgemeinen  Ansprüchen  der  Christenheit  und  den  vom  Papste 
angeregten  Tendenzen  der  Kreuzfahrt  vollständig  und  aufrich- 
tig unter.  Das  einzige  griechische  Reich  stand  mit  Saladin 
in  offenem  Bündnisse;  man  war  ihm  indess  gewachsen  und 
zum  grössten  Theile  berührten  die  fränkischen  Bestrebungen 
seine  Kreise  gar  nicht  Bei  dem  ersten  Kriege  also  hatten 
Hierarchie  und  Askese  das  Feld  allein,  bei  dem  dritten  war 
die  Politik,  wenigstens  im  Beginn  des  Kreuzzuges,  mit  ihnen 
verbündet.  Wie  aber  stand  dies  Verhaltniss  bei  dem  Gegen- 
stande unserer  Betrachtung,  bei  der  zweiten  grossen  Schild- 
erhebung des  Abendlandes? 

Wir  müssen  ausgehen  von  dem  entferntest  liegenden, 
dafür  aber  für  einen  asiatischen  Krieg  zunächst  in  Betracht 
kommenden  Reiche,  dem"  byzantinischen.  Das  Haus  der  Co- 
ronenen  hatte  hier  kurz  vor  dem  ersten  Kreuzzuge  eine  not- 
dürftige Ordpung  gestiftet  und  mit  eben  aufkeimenden  Kräf- 
ten den  Heeren  Roemund's  und  Gottfriede  gegenüber  eine 
leidliche  Neutralität  eingenommen.  Die  Normannen,  unter 
Guiskard  schon  von  Apulien  her  seine  gefährlichsten  Feinde, 
hatten  aber  diesen  Krieg  auch  in  Gilicien  erneuert,  und  seit 
dem  .Jahre  1137  waren  stets  verstärkte  griechische  Demonstra- 
tionen in  diesen- Gegenden  einander  gefolgt.  Kaiser  Johann  I. 
stellte  seinen  Einfluss  in  K)$inasien  mit  Kraft  upd  Umsicht 
fest,  nöthigte  Antiochien  seine  Lehnshoheit  anzuerkennen,  kam 
aber,  so  lange  er  lebte,  hier  nicht  aus  der  Stellung  eines  miss- 
trauischen  Beobachters  heraus.  Sein  Sohn  Manuel,  ebenso  krie- 
gerisch wie  sein  Vater,  unter  einem  äusseren  Anfluge  abend- 
ländischer Ritterlichkeit  eine  rast-  und  rücksichtslose  Politik 
versteckend,  erweiterte  diese  Erfolge,  führte  mehr  als  einen 
glücklichen  Krieg  mit  Sultan  Masud  von  Iconium,  und  schloss 

Zeitschrift  f.  <;«sebirlitsvr.  IV.  1845.  j/> 


214  lieber  den  zweiten  Kreutxug. 

i 
\ 

gerade  1146  mit  ihm  einen  sechsjährigen  Frieden,  in  dem- 
selben Augenblicke,  in  welchem  die  unpolitische  Religiosität 
der  Franzosen  sich  in  die  Bewegung  des  Kreuzzuges  hinein- 
warf. Dies  Zusammentreffen,  unglücklich  genug,  war  aber 
bei  Weitem  nicht  das  zumeist  entscheidende. 

Manuel,  in. der  Herrschaft  über  einen  Staat,  der  durch 
strenge  Finanz-  und  künstliche  Heerverwaltung  eben  neu 
gekräftigt,  die  Grenzlander  Asien's  und  Europa's  umfessie, 
fühlte  sich  als  den  Vertreter  eben  sowohl  einer  europäischen 
als  einer  orientalischen  Macht.  Er  hatte  sich  gegen  Ungarn 
und  Russland  durch  vielfache  Kämpfe  in  eine  geachtete  Stel- 
lung gesetzt;  noch  bei  Lebzeiten  seines  Vaters  war  er  mit 
der  Schwägerin  Konig  Konrad's  von  Deutschland  vermählt 
worden;  seit  dem  Bunde  der  beiden  Kaiserhöfe  gegen  Gre- 
gor VII.  und  Robert  Guiscard  war  dies  Verhaltniss  eigent- 
lich niemals  erschüttert  Ein  dauernder  Gesandschaftsverkebr 
fand  zwischen  beiden  Reichen  statt,  in  Speier  selbst,  als  Con- 
rad das  Kreuz  nahm,  war  ein  griechischer  Botschafter  in  sei- 
ner Umgebung.  Zwei  Punkte  beschäftigten  damals  die  ge- 
meinschaftliche Aufmerksamkeit  der  beiden  Regierungen.  Ein- 
mal der  Tbronstreit  in  Ungarn,  dessen  vertriebener  Erbe,  Boris 
der  Sohn  König  Kalmanis',  von  beiden  Regenten  die  Zusi- 
cherung thätiger  Hülfe  erhielt,  worauf  der  Krieg  auf  der  deut- 
schen Seite  sogleich  begann,  Herzog  Heinrich  von  Oestreich 
und  Baiern  aber  eine  schlimme  Niederlage  erlitt  Dann  die 
Widersetzlichkeit  des  Normannenkönigs  Roger  von  Apulien 
und  Sicilien,  der  so  eben  mit  dem  Papste  ausgesöhnt,  eine 
gegen  Deutschland  und  Byzanz  gleich  feindselige  Geltung  be- 
hauptete; gegen  ihn  hatte  Conrad  schon  mit  Manuel's  Vater 
Johann  eii\  Bündniss  geschlossen;  er  vergalt  es  durch  enge 
Freundschaft  mit  Herzog  Weif,  dem  eifrigsten  deutschen  Geg- 
ner Conrad's,  der  seinerseits  «ogleich  auch  mit  der  feindli- 
chen Regierung  Ungarn's  abschloss  und  so  dem  Bunde  der 
beiden  Kaiserbofe  eine  unscheinbarere  aber,  darum  oicht  we- 
niger gefährliche  Allianz  entgegensetzte. 

An  sich  hatte  bei  einer  solchen  Lage  des  Reiches  jede 
weitaussehende  neue  Unternehmung  bedenklich  scheinen  müs- 


lieber  den  zweiten  Kreuzmg.  215 

sen.  Hier  kam  nun  hinzu,  das*  wie  Conrad  mit  Manuel,  so 
Ludwig  VII.  mit  Boger  seit  Jahren  auf  befreundetem  Fusse 
stand;  die  Normannen  in  Italien  hatten  die  französische  Hei- 
math nicht  vergessen ;  kaum  benachrichtigt  von  Ludwig' s  Pil- 
gerfahrt, sandte  er  Botschafter,  welche  ihn  aufforderten,  sei- 
nen Weg  über  Apulien  zu  nehmen,  Boger  wolle  sich  selbst 
oder  seinen  Sohn  dem  Zuge  anschliessen.  Indess  hatte  Lud- 
wig auch  in  Deutschland,  Ungarn  und  Ryzanz  um  Durchzug 
und  Verpflegung  nachgesucht,  aller  Orten  günstige  Auskunft 
erhalten,  und  demnach  im  Herbste  i  146  festgestellt,  ein  Reichs- 
tag solle  im  nächsten  Februar  zusammentreten  und  über  die 
Wahl  des  Weges  entscheiden.  Nun  schloss  sich,  höchst  un- 
vermuthet,  König  Conrad  selbst  dem  Unternehmen  an,  mit. 
ihn]  das  Haupt  seiner  Gegner,  Herzog  Weif,  und  die  Ver- 
sammlung zu  Etampes  beschloss  den  Zug  durch  Ungarn,  Bul- 
garien und  Bomanien.  Auch  hier  waren  normannische  Ge- 
sandte gegenwärtig;  als  die  Entscheidung  gefallen  war,  bra- 
chen sie  zornig  und  klagend  auf:  man  werde  die  Tücke  der 
Griechen  kennen  lernen,  ihr  König  wisse,  wie  er  mit  die- 
sen stehe. 

Hier  schon  war  es  klar,  dass  die  Einlassung  auf  den 
Kreuzzug  zwar  einen  inneren  Krieg  zwischen  Conrad  und  Weif 
abwende,  dass  sie  aber  die  Herstellung  der  deutschen  Waf-r 
fenebre  gegen  Ungarn  und  die  Leistung  der  dem  Boris  zu- 
gesicherten Hülfe  unmöglich  mache.  Im  Gegentheile,  da  für 
das  deutsche  Kreuzheer  der  Weg  nach  Syrien  gerade  durch 
Ungarn  ging,  so  war  ein  schleuniges  Abkommen  mit  der  dort 
bestehenden  Regierung  unumgänglich.  Ebenso  wenig  konnte 
bei  der  neuen  Verbindung  mit  Ludwig  VII.  und  Weif  an  eine 
Bekämpfung  Rogers  gedacht  werden,  auch  wenn  Deutschland 
etwa  die  Kraft  für  zwei  Kriege  zugleich  besessen  hatte.  Die 
Erfüllung  der  griechischen  Tractate  wurde  also  auf  unbestimmte 
Zeit  hinausgeschoben,  und  Kaiser  Manuel  hatte  um  so  mehr 
Grund  zum  Unwillen,  als  der  Anlass  des  Aufschubes  in  ei- 
nem Unternehmen  lag,  welches  Roger's  Rundesgenosse  an^ 
geregt,  Roger  mit  seinem  Rathe  unterstützt,  ja  um  Geringe» 
unmittelbar  gegen  Constantinopel  gelenkt  hätte.    Denn  wer 

15* 


216  Veber  den  »weiten  Kreuzzug. 

möchte  in  Abrede  stellen,  dass  wenn  der  Reichstag  von  Etam- 
pes  die  Strasse  von  Apulien  gewählt  hätte,  das  Kreuzheer 
von  Boger  sogleich  in  seinen  griechischen  Krieg  verwickelt 
worden  wäre? 

Bleiben  wir  einen  Augenblick  bei  dieser  Möglichkeit  ste- 
hen- Deutschland,  durch  Ungarn  dann  vom  Kriegsschauplatze 
getrennt,  durch  die  Bekreuzung  des  Königs  von  einem  An- 
griffe auf  Frankreich  oder  Apulien  gehindert,  hätte  seinen 
Bundesgenossen  wohl  im  Stiche  lassen  müssen;  schwerlich 
wird  man  an  der  Eroberung  Constantinopel's  in  diesem  Falte 
zweifeln  können.  Vielleicht  hätte  sich  damals,  als  die  christ- 
lichen Beiche  in  Syrien  noch  bestanden,  eine  Latinisirung  des 
Morgenlandes  mit  besserem  Erfolge  als  1503  versuchen  las- 
sen; jedenfalls  wäre  es  eine  ganze  Maassregel  gewesen,  ein 
Krieg  der  Entschlossenheit,  des  Systems,  der  Gonsequenz. 
Nun  aber  war  dies  Alles  unmöglich;  hatte  König  Conrad  dem 
Kreuzzuge  zu  Liebe  seinen  Angriff  auf  Boger  unterlassen,  so 
bequemte  sich  der  Kreuzzug  dafür,  mit  Kaiser  Manuel  ein 
friedliches  Uebereinkommen  zu  versuchen.  Nicht  bios  der 
Papst,  wie  im  ersten  Kreuzzuge,  sondern  auch  die  beiden 
Könige  beschickten  den  Kaiser;  dieser  versprach  freien  Durch- 
zug, Verkehr  und  Verpflegung,  wenn,  sie  dieselben  Bedin- 
gungen eingehen  wollten,  welche  die  ersten  Kreuzfahrer  dem 
Kaiser  Alexius  bewilligt  hatten.  Seine  Gesandten  trafen  den 
König  Ludwig  in  Begensburg,  man  einigte  sich  vorläufig  auf 
guteis  Einverständniss,  verschob  aber  die  Entscheidung  über 
die  wesentlichen  Punkte  auf  die  persönliche  Zusammenkunft 
der  beiden  Souveraine.  So  viel  man  aus  Odo's  Bericht  erse- 
hen kann,  war  es  nicht  bewusste  und  hinterhaltige  Feindse- 
ligkeit, aus  der  man  eine  bindende  Verpflichtung  zu  über- 
nehmen weigerte :  wie  dem  aber  auch  sei,  Manuel  war  we- 
nigstens den  Franzosen  gegenüber  auf  keine  Weise  gesichert 
Ebenso  hatte  Conrad,  so  viel  wir  wissen,  nur  Frieden,  nicht 
aber  Herausgabe  der  Eroberungen  versprochen,  indess  mochte 
Manuel  bei  ihm  weniger  dringend  als  bei  Ludwig  auf  aus- 
drückliche Garantien  bedacht  sein.  Auf  alle  Fälle  vereinte 
er  seine  Truppen  in  den  auf  dem  Wege  des  Kreuzheeres  lie- 


lieber  den  zweiten  Kreuzzug.  217 

genden  Gegenden,  eine  Maassregel,  die  ihm  Wilken  als  er- 
sten Beweis  seiner  Feindseligkeit  anrechnet,  deren  Unterlas- 
sung aber,  wie  gar  nicht  ausgeführt  zu  werden  braucht,  hur 
bei  grenzenlosem  Leichtsinne  möglich  gewesen  wäre. 

Wie  gesagt  ich  zweifle  gar  nicht  an  der  aufrichtigen  Fried- 
lichkeit der  beiden  Pilgerkönige  gegen  das  griechische  Reich. 
In  diesem  Augenblicke  aber  trat  unvermuthet  das  Schlimmste 
dazwischen.  König  Roger  von  Sicilien,  der  noch  so  eben 
nach  Jerusalem  mitzuziehen  versprochen,  der  fortdauernd  mit 
Frankreich  ein  enges  Einverständniss  zur  Schau  trug,  be- 
nutzte die  Vereinigung  der  griechischen  Streitkräfte  im  Inne- 
ren des  Landes,  und  Gel  mit  seiner  Flotte  über  die  schwach 
besetzten  Seeplätze  des  Peloponneses  her,  welche  dann  ohne 
grossen  Widerstand  seinen  Waffen  erlagen.  Hiermit  war  — 
niemand  kann  es  verkennen  —  die  Lage  der  Dinge  auf  das  We- 
sentlichste verändert:  bei  der  griechischen  Regierung  war  von 
nun  an  die  argwöhnische  Vorsicht  gegen  die  Kreuzfahrer  nicht 
blos  entschuldbar,  sondern  eine  Notwendigkeit.  Wenn  irgend 
ein  Mensch  das  Misslingen  des  Kreuzzuges  verschuldet  bat, 
so  ist  es  Roger  von  Sicilien,  so  ist  es  weiter  der  Papst  oder 
der  König  von  Fratikreich,  vorausgesetzt,  dass  diese  im  Stande 
gewesen  wären,  jenen  einseitigen  Angriff  zu  hindern. 

Dies  Letzte  wird  wohl  für  immer  unentscheidbar  bleiben, 
die  blosse  Thatsache  aber,  wie  sie  uns  vorliegt,  fuhrt  auf  die 
allgemeinen  Remerkungen,  mit  welchen  wir  begannen  zurück. 
Fünfzig  Jahre  früher  oder  später  wäre  jener  Krieg  Roger's 
an  sich  eine  Unmöglichkeit  gewesen.  Entweder  hätte  die 
ascetische  Begeisterung  für  das  Morgenland  sich  mit  verein- 
ter Kraft  zuerst  auf  Byzanz  geworfen ,  wie  es  .Gregor's  VII. 
Plan  gewesen,  oder  sie  hätte,  vertreten  durch  den  Papst  und' 
die  öffentliche  Meinung,  dem  Könige  das  Schwert  in  demsel- 
ben Augenblicke  zu  Boden  geschlagen,  in  welchem  er  es  er- 
hoben. Jetzt  aber  gab  es  keine  Volksstimme  für  den  .heili- 
gen Krieg,  welche  durch  Kraft  und  Einheit  sich  für  eine  Got- 
tesstimme hätte  ausgeben  können;  neben  den  geistlichen  Antrie- 
ben von  allgemeinem  Gehalte  behaupteten  politische,  weltliche, 
beschränkte  Interessen  ihre  Bedeutung.  Der  Boden,  aus  wel- 


218  lieber  den  zweiten  Kremzug. 

ehern  der  Kreuzzug  erwuchs,  gehörte  ihm  nur  halb,  zur  an- 
deren Hälfte  einem  wesentlich  verschiedenen  Geiste 'an. 

Unter  solchen  Vorzeichen  bewegten  sich  die  Massen  des 
deutschen  Heeres  langsam  auf  Gonstantinopel.   In  Ungarn,  in 
Bulgarien,  bei  dem  Zuge  über  den  Balkan  war  die  Ordnung 
erträglich,  dann  aber  in  den  fruchtbaren  Ebenen  von  Nissa 
und  Philippopel  begannen  die  wildesten  Excesse.    Zweierlei 
macht  den  Umfang  derselben  bei  fortdauerndem  Einverständ- 
nisse zwischen  Conrad  und  Manuel  begreiflich:  die  Zusam- 
mensetzung des  deutschen  Heeres,  in  welchem  eine  unend- 
liche Menge  nutzlosen  Gesindels  sich  befand,  und  die  Schwäche 
des  Königs,  der  hier  die  Truppen  so  wie  später  in  Klein- 
asren die  Fürsten  nicht  im  Mindesten  zu  bändigen  vermochte. 
Ueber  Beides  sind  die  Aussagen  der  griechischen  und  französi- 
schen Quellen  einstimmig.   Manuel  umgab  den  Heereszug  mit 
seinen  leichten  Soldtruppen,  welche  jede  Ausschweifung  be- 
straften, alle  Umherschweifenden  niedermachten.    Man  kam 
weiter  und  weiter,  zuletzt  bis  zu  förmlichen  Schlachten;  Rang- 
streitigkeiten gesellten  sich  hinzu;  zuletzt  drohte  Conrad,  er 
werde  im  Lande  bleiben  und  im  Frühling  Gonstantinopel  bela- 
gern. Die  Antwort  war  eine  neue  Niederlage  einer  deutschen 
Abtheilung  gleich  darauf,  als  der  König  nach  Asien  übergesetzt 
war,  das  Anerbieten  eines  neuen  Schutz-  und  Trutzbündnisses. 
Es  kann  nur  gegen  Roger  gerichtet  gewesen  sein;  Conrad,  der 
jetzt  zum  heiligen  Grabe  weiter  musste  und  wollte,  lehnte 
es  ab.    Der  ganze  Zustand  konnte  ihm  nicht  anders  als  wi- 
derwärtig sein;  die  Interessen  seines  Reiches  forderten  jenes 
Bündniss  durchaus;  statt  dessen  sah  er  sich  durch  den  ersten 
falschen  Schritt,  durch  die  Kreuznahme,  in  eine  ganz  entge- 
gengesetzte.Bahn  geworfen,  und  musste   endlich  zufrieden 
sein,  wenn  er  nur  einen  völligen  Bruch  mit  Manuel  vermied. 

Dieser  Hess  fär  das  Erste,  tlureh  die  Ankunft  des  fran- 
zösischen Heeres  beschäftigt,  das  Verbältniss  zu  Conrad  auf 
sich  beruhen.  Das  Schicksal  des  deutschen  Heeres  ist  nun 
bekannt,  wie  es  durch  eine  unvorsichtige  Theilung  geschwächt, 
durch  nachlässige  Marschordnung  seiner  Verpflegung  beraubt, 
zu  neun  Zehnteln  von  den  Türken  in  wenig  Wochen  aufge- 


lieber  den  zweiten  Kreuzsug.  219 

rieben  wurde.  Dass  Manuel  an  diesen  Unglücksfällen  keine 
Schuld  trug,  darüber  beziehe  ich  mich  auf  Hammer's  und 
Lücke 's  besonnene  Darlegung,  welche  keinem  Zweifel  über 
diesen  Punkt  mehr  Raum  lassen.  Selbst  der  scheinbarste 
Grund,  mit  welchem  etwa  Wilken  seine  Anklage  verstärken 
könnte:  Manuel's  Benehmen  gegen  Ludwig  VII.  zeige  einen 
jeder  Treulosigkeit  gewachsenen  Charakter  —  selbst  dies  kann 
oichts  in  Bezug  auf  die  Deutschen  erweisen,  weil  eben  das 
allgemeine  Verhaltniss  Manuel's  zu  den  beiden  Nationen  völ- 
lig verschieden  war. 

Der  Schwerpunkt  der  griechischen  Politik  lag  ein-  für 
allemal  in  dem  Kriege  gegen  König  Roger.  Gegen  ihn  al- 
lein konnte  man  ausdauern;  ebenso  hätte  man  allein  mit  Lud- 
wig von  Frankreich  nichts  zu  fürchten  gehabt.  Alles  aber 
stand  auf  dem  Spiele,  wenn  beide  sich. gegen  Byzanz  verei- 
nigten, und  die  nahe  Möglichkeit  eines  solchen  Bundes  lag 
offen  zu  Tage.  Eine  starke  und  keineswegs  geheime  Partei 
vertrat  ihn  im  Kriegsrathe  Ludwig's,  erinnerte  an  die  eig- 
nen Verhältnisse  zu  Roger,  an  die  steten  Händel  zwischen 
Griechen  und  Normannen,  und  forderte  mehrmals  den  König 
auf,  zum  Besten  auch  des  heiligen  Grabes  sich  mit  Roger* s 
Seemacht  zur  Bestürmung  Constantinopel's  zu  verbinden.  Die 
Stimmung  der  grösseren  Volksmasse  bewegte  sich  ganz  in 
derselben  Richtung,  nur  Ludwig's  Sehnsucht  nach  Palästina 
und  der  Mangel  päpstlicher  Vollmacht  verhinderten  einen 
Ausbruch.  Während  also  die  Deutschen,  zuchtlos  und  un- 
bändig im  Einzelnen,  fast  ununterbrochen  mit  den  Griechen 
im  Hader  lagen,  fürchtete  Manuel  doch  keine  wesentliche 
Schädigung  von  ihnen,  weil  er  über  Conrads  Verhalten  zu 
Roger  an  sich  hinlängliche  Sicherheit  hatte.  Ganz  umgekehrt 
hielt  Ludwig  möglichst  strenge  Disciplin,  Hess  seine  Barone 
dem  Kaiser  den  Lehnseid  für  die  asiatischen  Erwerbungen 
leisten  und  wechselte  mit  Manuel  festes  Versprechen  auf 
Frieden  und  Freundschaft;  trotzdem  war  Manuel  nicht  beru- 
higt, weil  er  in  Bezug  auf  Roger  nicht  die  gewünschten  Zu- 
sicherungen erbalten  hatte.  Er  forderte  diese  hier  um  so 
unumwundener,  je  verdächtiger  ihm  die  französisch-norman- 


220  Ueber  den  zweiten  Kreuzzug. 

nische  Freundschaft  war ;  die  Ablehnung  einer  Allianz  gegen 
Roger  war  ihm  hier  keineswegs  so  gleichgiltig  wie  bei  Con- 
rad. Es  war  weder  ehrlich  noch  grossherzig,  unter  diesen 
Umstanden  den  Lehns-  und  Friedensvertrag  zu  schliessep;  es 
war  eine  Spiegelfechterei  mit  Eid  und  Gelübde,  welche  in 
keiner  Weise  zu  rechtfertigen  ist.  Auch  erhellt  kein  rechter 
Grund  für  ihre  Notwendigkeit,  denn  das  französische  Heer 
hatte  damals  Europa  schon  verlassen,  und  die  dringendste 
Gefahr  für  Gonstantinopel  war  "beseitigt:  im  Wesentlichen  war 
die  Lage  der  Dinge  beim  Abschlüsse  des  Vertrages  dieselbe 
wie  bei  dem  endlichen  Ausbruche  der  Feindseligkeiten.  Dass 
dieser  aber  trotz  der  Vertrage  erfolgte,  dass  Manuel  noch  an 
demselben  Tage  mit  den  Türken  die  Verbindung  eröffnete, 
ihnen  alle  Schritte  der  Franzosen  anzeigte,  seine  Streitkräfte 
mit  den  Schaaren  von  Iconiym  vereinigte,  von  dem  Allen  ist 
der  einzige  Grund  nicht  eine  längst  vorbereitete  Feindseligkeit 
der  Griechen  gegen  die  Kreuzfahrer,  sondern  die  Weigerung 
Ludwig' s  sich  bestimmt  über  und  gegen  Roger  zu  erklären. 
Zu  dieser  Weigerung  mag  nun  der  König  die  besten 
und  zwingendsten  Gründe  gehabt  haben;  ich  behaupte  auch 
nichts  weiter,  als  die  trostlose  Lage  des  Kreuzzuges  von  sei- 
nen ersten  Augenblicken  an,  in  notwendiger  Folge  aus  den 
blos  andächtigen  und  nicht  auch  politischen  Vorbereitungen 
desselben.  Die  Widersprüche  entwickelten  sich  von  Tage  zu 
Tage  schneidender.  Conrad,  der  mit  dem  Beste  seines  Hee- 
res sich  .zuerst  an  die  Franzosen  angeschlossen  hatte,  wurde 
der  Gesellschaft  bald  müde,  und  ging,  nicht  etwa  nach  Sy- 
rien voraus,  sondern  auf  ManuePs  Aufforderung  nach  Con- 
stantinopel  zurück.  Und  hier  kam  dann,  während  Griechen 
und  Türken  dem  französischen  Heere  in  Kleinasien  bedeu- 
tenden  Abbruch  tbaten,  jenes  Bündniss  gegen  Roger  zu 
Stande :  sobald  der  Kreuzzug  beendigt  sei,  wolle  man  gemein- 
schaftlich mit  den  Venetianern  die  apulischen  Normannen  an*- 
greifen.  So,  als  griechischer  Bundesgenosse  langte  Conrad 
im  Frühling  1148  in  Palästina  an,  um  hier  neben  Ludwig  VII 
dem  Freunde  der  sieilischen  Regierung,  der  so  eben  von  Ma- 
nuel die  ärgsten  Angriffe  erlitten,  den  Krieg  gegen  die  Seid- 


j 


lieber  den  zweiten  Kreuzzug.  221 

schlicken  zu  beginnen.  Wie  innig  unter  solchen  Umständen 
das  Verbaltniss  beider  Könige  sein  konnte,  bedarf  keiner  wei- 
teren Ausführung. 

Es  ist  nun  um  so  weniger  meine  Absicht,  den  einzelnen 
Verlauf  der  Kriegsereignisse  zu  erörtern,  als  ich  Tür  diese  zu 
Wilken's  Darstellung  wenig  hinzuzusetzen  hätte.  -Nur  in  kur- 
zen .Umrissen  rufe  ich  die  wesentlichen  Seiten  des  syrischen 
Zustandes  in  das  Gedächtniss.  Der  grosse  Impuls  der  reli- 
giösen Eroberung,  welchen  das  Jahr  1094  gegeben,  kam  mit 
dem  Tode  Balduin's  II.  völlig  ins  Stocken.  Die  Zeiten  Kö- 
nig Pulko's  und  Balduin's  III.  charakterisiren  sich  im  Ge- 
gensatze zu  jenen  wenn  auch  nicht  geistreichen  immer  aber 
kriegerischen  Königen  durch  eine  friedliche,  bewahrende,  or- 
ganisirende  Gesinnung.  Die  städtische  Verfassung,  das  Rechts- 
system des  Lehnwesens  wird  ausgebildet,  ruhiges  Geniessen 
des  einmal  Gewonnenen  mit  möglichst  geringem  Aufwände 
für  die  Vertheidigung  zeigt  sich  als  herrschende  Stimmung, 
der  religiöse  Drang,  statt  alle  Adern  des  Zustandes  zu  erfül- 
len, ergeht  sich  in  eigenen  abgesonderten  Kreisen.  In  der 
Wüste  leben  zahlreiche  Einsiedler  nach  dem  Muster  Johan- 
nes  des  Täufers,  die  Hierarchie  bewegt  sich  in  den  Händeln 
zwischen  den  Patriarchen  von  Jerusalem  und  Antiochien,  in 
der  Auflehnung  Radulfs  von  Antiochien  gegen  die  römische 
Oberhoheit.  Was  die  politische  innere  Thätigkeit  betrifft,  so 
ist  es  eigen,  welche  Wichtigkeit  auf  einmal  die  Frauen,  ihre 
Reize,  ihre  Launen  und  Jntriguen  in  diesem  Reiche  der  As- 
kese erhalten  haben.  Raimund  von  Poitou  gewinnt  Antiochien, 
indem  er  sich  mit  den  beiden  berechtigten  Erbinnen,  mit  Mut- 
ter und  Tochter  gleichzeitig  verlobt  und  erst  vor  dem  Altare  die 
Mutter  enttäuscht.  Jerusalem  kommt  in  die  äusserste  Gefahr 
durch  Hugo  von  Joppe,  welchen  der  König  zum  Aufrühre 
zwingt,  nachdem  er  ihn  fiir  den  Bevorzugten  der  Königin  ge- 
halten. Der  jüngere  Joscelin  verliert  Edessa,  weil  er,  sonst 
tapfer  genug,  ein  glänzendes  und  schwelgerisches  Leben  mit  sei- 
nen Goncubined  diesseit  des  Euphrat  vorziqfct.  Als  die  Kreuz- 
fahrer 1147  das  gelobte  Land  erreichen,  ist  längst  keine  Rede 
mehr  von  einem  systematischen  Kriege  gegen  die  eigentlich 


222  lieber  den  »weiten  Krewwug. 

gefährlichen  Gegner.  In  Jerusalem  ist  man  eifrig  bedacht, 
die  Grenze  gegen  Askalon  durch  eine  Reihe  von  Castellen  zu 
decken,  denn  von  dorther  kommen  freilich  keine  mächtigen 
Angriffe,  aber  doch  häufig  genug  störende  Plünderungszüge 
Indess  hatte  Zenki  die  Macht  von  Mosul,  von  Mesopotamien 
und  Aleppo  in  seiner  Hand  vereinigt,  und  dann  auf  zwei 
Söhne  vererbt,  die  mit  einander  in  festem  Verständnisse,  den 
Fanatismus  der  gesammten  muselmännischen  Bevölkerung  ge- 
gen die  Christen  aufzuregen  verstanden.  Nach  dem  Falle 
Edessa's  hielten  sie  Antiochien  und  Tripolis  ununterbrochen 
in  Athem,  Jerusalem  war  ihnen  noch  unzugänglich,  weil  Da- 
maskus, die  einzige  selbstständige  türkische  Herrschaft  zwi- 
schen ihnen~und  den  Gegnern  lag,  und  in  ihren  Vernichtungs- 
krieg einzugehen,  eben  um  der  eigenen  Selbstständigkeit  wil- 
len, wenig  Lust  bezeigte.  Nichts  wäre  wichtiger  für  die  Chri- 
sten gewesen,  als  entweder  mit  dieser  Stadt  auf  das  Engste 
sich  zu  verbünden,  wozu  sich  nicht  selten  ein  günstiger  An- 
lass  ergab,  oder  sie  um  jeden  Preis  in  ihren  eigenen  Besitz 
zu  bringen.  Die  Regentin  aber,  Königin  Melisende,  erkannte 
diese  Lage  der  Dinge  so  wenig,  dass  sie  unmittelbar  vor  dem 
Kreuzzuge  einen  Krieg  gegen  Damaskus  erhob,  nicht  auf  Ein- 
nahme der  Hauptstadt,  sondern  auf  Besetzung  eines  südlicher 
gelegenen  Bezirkes  gerichtet  Unglücklich  wäre  es  gewesen, 
wenn  es  gelungen  wäre. 

Dass  bei  solchen  Gesinnungen  der  Kreuzzug  den  Pullaoen 
nicht  eben  erwünscht  kam,  ist  nur  das  ganz  Natürliche.  Viel 
lieber  hätte  man  das  Eintreffen  kleiner  Verstärkungen  gese- 
hen, mit  denen  man  kleinen  Anfällen  der  Türken  ohne  Aen- 
derung  des  Systemes  hätte  begegnen  können.  Das  Uebelste 
war,  dass  ihrer  Unthätigkeit  bei  den  beiden  abendländischen 
Königen  auch  nur  wieder  die  Begeisterung  der  Andacht  und 
keine  vernünftige  Auffassung  irdischer  Verbältnisse  entgegen- 
trat. Wollte  Ludwig-  bleibenden  Nutzen  stiften,  so  musste 
er  die  Pullanen  zu  einem  mächtigen  Angriffe  auf  Nureddin 
fortreissen,  und#chon  in  Antiochien  empfing  er  durch  den 
Fürsten  Baimund  die  dringende  Aufforderung  zu  einem  sol- 
chen Kriege,    Gelang  dieser,  so  fiel  Edessa  auf  der  einen, 


lieber  den  »weiten  Kreuzzug.  223 

Damaskus  auf  der  anderen  Seite  ganz  von  selbst  in  christli- 
che Hände.  Aber  Ludwig  wollte  nichts  hören  und  nichts 
thun,  bis  er  das  heilige  Grab  gesehen  habe.  Raimund  rächte 
sich  durch  einen  Liebeshandel  mit  der  Königin  von  Frank- 
reich, der  in  dem  heftigsten  Bruche  zwischen  beiden  Fürsten 
endigte.  Einseitige  Religiosität,  fröhliche  Genusssucht,  Man- 
gel an  aller  geistigen  Besonnenheit,  richteten  hier  wie  an  al- 
len anderen  Punkten  die  Entwicklung  des  heiligen  Krieges 
zu  Grunde. 

In  Jerusalem  wurde  dann  der  Angriff  nicht  auf  das  ent- 
fernte und  gefährliche  Aleppo,  sondern  auf  die  natürliche 
Vormauer  gegen  Nureddin,  auf  das  schwache  Damaskus  be- 
schlossen. Der  Emir  wandte  sich  notbgedrungen  um  Hülle 
nach  Mosul;  Balduin  III.  aber  zürnte,  als  er  vernahm,  ein  eu- 
ropäischer Fürst  solle  die  Stadt  erbalten,  wenn  man  sie  ero- 
bere. Zwischen  beiden  erfolgte  hieraus  ein  geheimer  Ver- 
trag, weder  Mosul  noch  die  Franken  sollten  Meister  von  Da- 
maskus werden,  den  Status  quo,  der  ihnen  sämmtlich  an- 
genehm sei,  wollte  man  aufrecht  erhalten.  Damit  wurden 
die  Hülfstruppen  von  Mosul  überflüssig,  die  Fortschritte  der 
Franken  wurden  durch  Verrätberei  der  Jerusalemiten  hinter- 
trieben. Die  kleine  Politik  dieser  Landesherren  war  der  ge- 
waltigen religiösen  Bewegung  des  Morgen-  und  Abendlandes 
Tür  dieses.  Mal  noch  Meister  geworden.  - 

Darauf  wurde  christlicher  Seits  noch  ein  Angriff  auf  As- 
kalon  beliebt,  als  es  aber  zur  Ausfuhrung  kommen  sollte, 
fand  sich  Conrad  zum  zweiten  Male  von  den  Pullanen  ver- 
lassen, und  schiffte  sich  mit  erneutem  Unwillen  nach  Con- 
stantinopel  ein.  König  Ludwig  blieb  noch  bis  Ostern  1149 
auf  dringendes  Bitten  wohl  zumeist  der  mit  ihm  eng  befreun- 
deten Templer  und  segelte  dann  zurück  nach  Sicilien.  Die 
politischen  Spannungen,  an  welchen  hauptsächlich  das  Un- 
ternehmen gescheitert  war,  stellten  sich  gleich  nach  seinem 
Schlüsse  in  voller  und  gesteigerter  Spannung  heraus.  Lud- 
wig wurde  unterwegs  von  der  griechischen  Flotte  angebalten, 
von  der  normannischen  wieder  befreit,  Conrad  schloss'  so- 
gleich mit  Manuel  ein  neues  Bündniss  gegen  den  König  Ro- 


224  Heber  den  »weiten  Kreu&zuy. 

ger.  Herzog  Weif,  unter  dem  Kreuzesbanner  so  eben  mit 
Conrad  vereinigt,  stellte  ebenfalls  noch  auf  dem  Rückwege 
seine  Verbindung  mit  Roger  wieder  her,  und. hinderte  darauf, 
wie  vor  dem  Kreuzzuge,  jede  unmittelbare  Einwirkung  des 
deutschen  Königs  auf  Italien.  Die  Rückwirkungen  dieser 
Verwicklung  wurden  sogleich  auch  den  syrischen  Christen  in 
herbster  Weise  fühlbar. 

Denn  wenige  Monate  nach  Ludwig's  Abreise  hatten  sie 
bereits  die  Strafe  für  ihre  beschränkte  Politik  wahrend  des 
Kreuzzuges  erhalten.  Im  Juni  1149  war  Nureddin  in  das 
Fürstenthum  Antiochien  eingebrochen,  mit  überlegener  Macht, 
hatte  Raimund  selbst  in  entscheidendem  Siege  erlegt,  und  das 
ganze  Gebiet  überschwemmt.  Ralduin  HL  rettete  die  Haupt- 
stadt, konnte  aber  nicht  hindern,  dass  Nureddin  nach  seiner 
Willkür  in  der  Landschaft  schaltete  und  waltete.  Auf  die 
Stunde  dieser  Niederlage  zuckte  noch  einmal  eine  schwache 
Bewegung  der  Theilnahme  durch  Frankreich.  Mit  dem  Papst 
im  Einverstandnisse  erhob  sich  wiederum  der  heilige  Bern- 
hard. Er  hatte  den  Vorwürfen,  die  man  an  ihn  wegen  des 
schlechten  Erfolges  „seiner"  Kreuzfahrt  richtete,  nichts  ent- 
gegenzusetzen gewusst,  als  die  Sünden  der  Pilger,  welche 
Gottes  Zorn  auf  sich  herabziehen  mussteh,  die  Berufung  auf 
Moses,  welcher  trotz  der  Verheissung  eben  seiner  Sünden 
wegen  nicht  in  das  gelobte  Land  gekommen ,  endlich  einige 
Träume  und  Visionen,  dass  die  Gefallenen  denn  doch  "die 
himmlische  Seligkeit  durch  ihren  Opfertod  erlangt  hätten. 
Jetzt  predigte  er  von  neuem  das  Kreuz,  aber  die  asketische 
Begeisterung  zeigte  sich  bedeutend  herabgestimmt.  Mit  Mühe 
kam  eine  schwach  besuchte  Versammlung  in  Ghartres  zu 
Stande,  welche  ihn  zum  Heerführer  des  oeuen  Zuges  erwählte; 
er  nahm  es  an,  mit  vollem  Bewusstsein  freilich,  wie  wenig 
er  einer  solchen  Aufgabe  gewachsen  sei,  und  bat  den  Papst, 
er  möge  den  Rathschluss  des  Himmels  vorher  über  die  Aus- 
führung erforschen.  In  Wahrheit  ruhte  das  Steuer  der  Sache 
in  anderen  Händen,  und  richtete  sich  nach  einem  anderen 
Ziele.  Abt  Suger-  von  St.  Denys,  der  heftigste  Gegner  des 
Krieges  vor  dem  Kreuzzuge,  der  Reichsverweser  Frankreichs 


Ueber  den  zweiten  Kreuzzug.  225 

während  desselben,  betriteb  jetzt  das  eigentliche  Geschäftliche 
der  Angelegenheit  in  Verbindung  mit  dem  Abte  Peter  dem 
Ehrwürdigen  von  Clairvaux.  Sieht  man  ihre  Gorrespondenz 
durch»  so  wird  man  nicht  gerade  die  Redlichkeit  ihres  Vor- 
gebens, dem  heiligen  Grabe  zu  Liebe  ihre  Rüstung  zu  be- 
treiben, in  Abrede  stellen,  wohl  aber  das  Ergebniss  erschei- 
nen sehen,  dass  1151  fast  noch  mehr  als  1146  der  türkische 
Krieg  auf  das  Engste  mit  dem  griechisch-sicilischen  verfloch- 
ten wurde.  König  Roger  erbot  sich  wieder,  das  französische 
Heer  zu  empfangen  und  zu  geleiten,  König  Conrad  meldete 
nach  Byzanz,  ganz  Frankreich  sei  auf  Betreiben  Roger's  un- 
ter den  Waffen  gegen  Constantinopel,  der  Papst  drang  in  die 
deutsche  Regierung,  ihr  antikirchliches  Bündniss  mit  Manuel 
aufzugeben,  der  heilige  Bernhard  ermahnte  Conrad,  den  si- 
cilischen  König  durch  keinen  Angriff  zu  hindern,  der  Kirche 
fernere  grosse  Dienste  zu  leisten.  Endlich  der  Abt  Peter 
schrieb  an  Roger:  „Wie  viele  Andere  trauere  auch  ich  über 
euren  Zwist  mit  Conrad,  wir  meinen,  dieser  schade  den  latei- 
nischen Reichen  und  der  Ausbreitung  des  christlichen  Glau- 
bens. Man  sagt,  die  christliche  Kirche  sei  vor  allen  Dingen 
gegen  die  Saracenen  zu  (ordern,  wir  denken  aber,  noch  "wich- 
tiger wäre  Frieden  zwischen  euch  und  Conrad.  Denn  schlim- 
mer als  die.  Saracenen  sind  die  Griechen,  durch  deren  Ver- 
rath  die  Blüthe  von  Gallien  und  Germanien  umgekommen 
ist.  Unter  dem  Himmel  «ehe  ich  keinen  Fürsten,  der  so  wie 
ihr  zur  Rache  geeignet  wäre.  Deshalb  erhebe  dich,  ein  an- 
derer Maccabaus,  bald  hoffe  ich  über  Conrad's  'Gesinnung 
Günstiges  mittheilen  zu  können."  Es  ist  hiernach  klar,  dass 
man  den  Griechen  entscheidende  Schläge  zugedacht  hatte: 
dies  setzt  wieder  die  Absicht  voraus,  Roger  durch  französi- 
schen Zuzug  zu  verstärken,  da  dieser  für  sich  allein  seit  1146 
den  Krieg  nicht  abgebrochen,  stets  glücklich,  aber  nie  mit 
grossen  Erfolgen  geführt  hatte.  Suger  sammelte  daneben 
freilich  auch  Geld  für  syrische  Kämpfe  und  sandte  beträcht- 
liche Summen  kurz  vor  seinem  Tode  ab;  König  Ludwig  selbst 
trug  sich  mit  ähnlichen  Plänen.    Aber  die  allgemeine  Stirn- 


228  lieber  den  »weiten  Kreuziug. 

dem  geschichtlichen  Gebiete  des  dritten  Kreuzzuges  angehört. 
Dringende  Vorboten  des  äussersten  Ruins,  so  waren  die  letz- 
ten Ergebnisse  eines  Unternehmens  beschaffen,  an  welchem 
die  schwachen  Seiten  der  mittelalterlichen  Religiosität  eben 
so  deutlich  zu  Tage  treten,  wie  die  Stärke  derselben  an  den 
Erfolgen  des  ersten  Kreuzzug.es.  Nur  zu  raschen,  gewalt- 
samen, augenblicklichen  Leistungen  war  sie  befähigt,  nur  den 
Menschen,  der  seine  niederen  Triebe  vernichtete  und  seine 
höheren  unentwickelt  Hess,  vermochte  sie  erfolgreich  zu  lei- 
ten. Enthusiasmus,  Abtödtung,  Einseitigkeit  waren  ihre  Grund- 
bedingungen :  darauf  ist  aber  die  fruchtbringende  Ruhe  eines 
bleibenden  Zustandes  oder  die  systematische  Behandlung  ei- 
nes mehrfach  verzweigten  Unternehmens  nicht  zu  gründen. 
Mit  einer  selbstständigen  geistigen  Entwicklung,  mit  den  gros- 
sen Factoren  des  irdischen  Lebens,  der  menschliehen  Wis- 
senschaft, dem  politischen  Staate  verstand  sie  es  nicht  sich 
in  Einklang  zu  setzen.  Dadurch  geschah  es  mit  Notwen- 
digkeit, dass  ihre  Bestrebungen  zuletzt  an  den  schlimmsten 
Schwächen  unserer  Natur  zu  Grunde  gingen. 

Bonn. 

i  v.  Sybel. 


Heber  den  neuesten  Stand  der  Gtesehlchte 
der  römischen  Republik« 


Ine  Arbeiten  auf  dem  Gebiete  der  römischen  Geschiebte  sind 
seit  Niebubr's  erstem  Auftreten  zu  einer  Literatur  angewach- 
sen, welche  die  verschiedenartigsten  Regungen  der  seitdem 
verflossenen  Zeit  in  einem  verkleinerten  Bilde  umfasst  In  je- 
nen drei  Bänden  römischer  Geschichte  liegt  eine  solche  Fülle 
allseitigen  Lebens  vor,  dass  sie  bis  jetzt  noch  nicht  bis  zum 
Grunde  ausgebeutet  ist,  in  wie  viel  und  wie  verschiedene 
Bächlein  und  Ströme  auch  sie  nach  allen  Seiten  hin  abge- 
leitet ward.  So  ist  denn  allerdings  die  Betrachtung  dieser 
Literatur  an  und  für  sich  schon  vom  höchsten  Interesse,  den- 
noch aber  lässt  sich  dabei  die  Frage  nicht  unterdrücken,  wa- 
rum doch  die  meisten  Arbeiter  sich  in  den  eng  abgesteckten 
Grenzen  halten,  auf  die  Niebuhr's  Arbeit  durch  ein  böses 
Geschick  beschränkt  blieb,  während  er  selbst,  was  ei;  darin 
geleistet,  nur  als  die  mühselige  Vorarbeit  zu  einer  viel  schö- 
neren Aufgabe  betrachtete.  Denn  das  lässt  sich  nicht  leug- 
nen, dass  die  meisten  und  bedeutendsten  Erscheinungen  auf 
diesem  Felde  uns  immer  wieder  zu  Rom's  Urgeschichten  zu- 
rückfuhren, und  dass,  wo  man  sich  weiter  hinausgewagt  hat, 
den  Arbeiten  jene  belebende  Anschauung  des  Ganzen  noch 
viel  mehr  als  dort  fehlt,  wo  Niebuhr's  Beispiel  zunächst  lehrt, 
dass  man  Volk  und  Staat  immer  sich  lebendig  vorhalten  müsse, 
um  das  Einzelne  richtig  zu  beurtheilen.  Diese  Anschauung, 
sagten  wir,  fehlt  noch  mehr  für  die  späteren  als  die  früheren 
Zeiten,  doch  muss  man  leider  auch  in  diesen  den  Mangel  nur 
zu  oft  empfinden.   Man  pflegt  wohl  Niebuhr  bei  pflichtschul- 

ZtiUchrift  f.  Geschickt«*.  IV.  184*.  Iß 


230  Ueber  den  neuesten  Stand  der  Geschichte 

diger  Anerkennung  seiner  Grösse,  den  Vorwurf  zu  machen, 
dass  er  sich. durch  Zahlenverhältnisse  zu  gewagten  Hypothe- 
sen ohne  Grund  verlocken  lasse  und  es  würde  doch  nichts 
leichter  sein  als  aus  den  Arbeiten  mancher  solcher  Tadler 
Beispiele  anzuhäufen,  wie  sie  an  ähnlichen  Zahlenverhältnis- 
sen ihre  eigenen  Einfälle  ausgesponnen,  während  Niebuhr 
mit  dem  Feuer  und  Leben  seiner  Anschauung  diese  Trüm- 
mer alter  Verhältnisse  zu  durchdringen  strebte.  Unter  die 
interessantesten  Stellen  des  Niebubr'schen  Werkes  gehört 
zweifelsohne  der  Abschnitt  des  dritten  Bandes  über  die  Cen- 
sur  des  Fabius  Maximus,  darin  er  seine  Ansicht  von  der  Ver- 
änderung der  Genturienverfassung  vorträgt.  Er  hatte  Jahre 
lang  über  diese  Frage  nachgedacht  Wer  diesen  seltenen  Mann 
nur  so  weit  kennt,  als  es  uns  jetzt  vergönnt  ist,  nach  seinem 
Verdienste  und  seinen  Erfolgen  um  die  Geschichte  Rom's, 
nach  seinem  Ernste  und  seiner  Freude  bei  ihrer  Erforschung, 
nach  seinem  tief  bewegten  Gemütbsleben,  mit  dem  er  die 
grossen  Männer  der  Vergangenheit  liebte  wie  die  Glieder 
seines  Hauses,  und  wer  in  eben  diesem  Falle  es  mitfühlt,  wie 
gerade  hier  all  diese  grossen  und  guten  Regungen  bei  ihm 
in  Einem  gesegneten  Augenblicke  lebendig  wurden,  dem  muss 
die  wissenschaftliche  Frage  nur  um  so  wichtiger  und  ernster 
sich  aufdrängen :  hatte  Niebuhr  bei  dieser  Ansicht  Recht?  Ja 
es  giebt  vielleicht  keine  Frage,  die  für  die  Verehrer  seiner 
Person  anziehender,  für  seine  Wissenschaft  wichtiger,  für  die 
ganze  spätere  Geschichte  Rom's  entscheidender  wäre. 

Sie  ist  in  neuester  Zeit  zweimal  verneint  worden.  Gott- 
ling  in  seiner  „Geschichte  der  römischen  Staatsverfassung"  und 
Peter  in  seinen  „Epochen  der  Verfassungsgeschichte  der  rö- 
mischen Republik "  haben  beide  dem  Fabius  das  Verdienst 
jener  Veränderung  der  Verfassung  nicht  zugesprochen,  son- 
dern der  erste  diese  Reformation  hundert  Jahre  später  in  die 
Censur  des  Flaminius,  Peter  sie  unter  die  Oecemvirn  gesetzt 

Güttling  nimmt  als  die  Hauptabsicht  bei  dieser  Verän- 
derung an,  die  beiden  getrennten  Arten  der  römischen  Volks- 
versammlungen ,  die  oligarchisohe  der  Centuriatcomitien  and 
die  democratische  der  Tributcomitien  auf  eine  verständige 


der  römischen  Republik.  231 

Weise  zu  verschmelzen,  —  „solche  neue  Combination  all- 
mahlig  an  die  Stelle  der  beiden  anderen  treten  zu  ifessen,  da- 
mit Rom  nicht  mehr  die  einzige  Erscheinung  darböte,  seine 
inneren  Angelegenheiten  durch  zwei  nach  ganz  verschiedenen 
Grundsätzen  berufene  Nationalversammlungen  zu  ordnen  (381)." 
Dass  dieser  Plan  von  Flaminius  ausgeführt  sei,  dafür  scheint 
ihm  der  Umstand  zu  sprechen,  dass  vor  seiner  Censur  die 
Tribus  bis  zu  35  vermehrt  waren,  welche  Zahl  sie  nicht  wei- 
ter überschritten.  Denn  in  der  Zahl  von  350  Centurien,  die 
sich  ihm,  für  jede  der  fünf  Glassen  in  jeder  Tribus  2  Centu- 
rien seniorum  und  juniorum,  ergeben,  scheint  ihm  von  vorn 
herein  eine  bedeutsame  Analogie  mit  den  Tagen  des  Mond- 
jahres gelegen  zu  haben,  die  früher  gefehlt  haben  würde. 
Später  konnte  die  Einrichtung  nicht  fuglich  gesetzt  werden, 
da  sie  schon  in  dem  hannibalischen  Kriege  öfters  erwähnt 
wird.  Flaminius  aber  wird  der  Ruhm  derselben  noch  deshalb 
besonders  zugetheilt,  weil  Polybius  bei  Gelegenheit  der  galli- 
schen Aeckervertheilung  hinzufugt;  „reciov  ®Xccfiiriov  Tavvqv 
Tijv  dfiikaycnylav  slctj/tj^afi^pov  xal  noXvtklav"  (2, 21)  wo  aber 
offenbar  dtifiayayla  und  noXiveia  fast  synonym  gebraucht  sind, 
und  durchaus  kein  Grund  vorbanden  ist,  ihn  in  der  ganzen 
Stelle  an  etwas  anderes  als  Aeckervertheilungen  denken  zu 
lassen.  Der  circus  Flaminius,  die  via  Flaminia  und  die  Be- 
schränkung der  Libertinen  auf  die  tribus  urbanae  sind  aller- 
dings bedeutende  Züge  für  die  Stellung  des  Flaminius  gegen- 
über dem  Volke  und  jener  grossen  Partei,  die  ihn  im  Senate 
fortwährend  anfeindete,  aber  dennoch  gestehen  wir,  dass  diese 
eben  so  wenig  hinreichen  können  ihm  jene  Ehre  zu  vindici- 
ren  als  der  Name  des  Maximus  und  dieselbe  censorische 
Maassregel  Niebuhr  hätte  berechtigen  können,  dem  Fabius 
Bullianus  sie  zuzusprechen.  Die  Beschränkung  der  Freige- 
lassenen auf  die  vier  Tribus  wird  vor  und  nach  Flaminius 
zum  öfteren  erwähnt.    In  wie  weit  sie  aber  mit  der  Refor- 

• 

mation  der  Tribus  selbst  möglicher  Weise  zusammenhän- 
gen konnte,  um  darüber  etwas  zu  vermuthen,  möchte  es  nö- 
thig  sein,  die  verschiedenen  Nebenumstände  zu  betrafen, 
unter  denen  sie  wiederholt  ward.    Als  Fabius  Maximus  sie 

16* 


23*i  lieber  den  neuesten  Stand  der  Geschickte 

vornahm,  war  es  offenbar  die  so  oft  geschmähte  Censur  des 
Appius  Cäecus,  die  ihn  dazu  bewog,  das  gewaltsame  Auftre- 
ten jenes  Mannes,  der  von  neueren  und  alteren  Historikern 
als  ein  Halbverrückter  bis  zu  dem  Augenblicke  dargestellt 
wird,  wo  er  gegen  Pyrrhus  als  der  einzige  und  letzte  Pfeiler 
des  römischen  Stolzes  dasteht  und  aushält. 

Es  sei  uns  gestattet  bei  ihm  etwas  länger  zu  verweilen; 
für  die  Vergleichung  des  Fabius  und  Flaminius,  der  Niebubr'- 
schen  und  Göttling'schen  Ansicht  kann  es  uns  nur  forderlich 
sein.     Wie  gesagt,  die  Censur  des  Appius  trieb  ohne  Zwei- 
fel den  Fabius  zu  dem,  was  er  nur  in  seiner  Censur  durch- 
gesetzt haben  mag.    Hier  fragt  es  sich  aber,  was  denn  war 
der  Plan  des  Appius,  den  sein  Nachfolger  zu  vereiteln  trach- 
tete.   Er  Hess  die  Söhne  der  Libertinen  in  den  Senat,  die 
Libertinen  durch  alle  Tribus,  er  verbot  der  Pfeiferzunft  ih- 
ren Festschmaus  im  Tempel  der  Ceres  und  liess  die  Potitier 
ihr  Familiensacrum  auf  dem  Palatin  abkaufen,  endlich  baute 
er  die  Strasse  und  Wasserleitung,  die  seinen  Namen  führten. 
Niebuhr  meint,  ausser  der  löblichen  Absicht,  die  geschwächte 
Bürgerschaft  zu  stärken,  müsse  bei  ihm  noch  der  Plan  im 
Hintergrunde  gelegen  haben,  die  Plebs  gegenüber  dem  wan- 
kenden Patriciate  herunterzudrücken  oder  als  Demagoge  die 
Tyrannis  zu  erringen.    Es  ist  ein  gehässiges  Geschick,  was 
die  Claudier  bis  jetzt  in  den  bösen  Ruf  übelgesinnten  Hoch- 
muthes  gebracht  hat,  von  dem  doch  des  Tiberius  Gracchus 
Schwiegervater  stets  namentlich  ausgenommen  werden  sollte; 
Wir, zweifeln  selbst,  ob  ihn  der  Blinde  verdiente.   Allerdings 
er  wollte  die  Plebs  umformen,  eben  diese  Plebs,  die  trotz 
der  licinischen  Gesetze  den  Schuldgesetzen  fast  erlag.    Für 
sie  gab  es  verschiedene  Wege  zu  einer  besseren  Stellung; 
der  Grundbesitz  und  Landbau  hatten  von  jeher  im  römischen 
Verkehr  obenan  gestanden  und  jede  Eroberung  musste  ihn 
durch  neue  Erwerbungen  beleben.    Dass  aber  das  (Jeberge- 
wicht  der  Reichen  auf  dem  ager  publicus  schon  damals  den 
freien  Bauer  drückte,  und  durch  die  lex  Licinia  keineswegs 
vertat  war,  ist  bekannt.    Wie  weit  der  römische  Handel  da- 
mals reichte,  davon  darf  man  nach  den  Verträgen  mit  Carthago 


der  römischen  Republik.  233 

sieb  keine  zu  geringe" Vorstellung  machen.  Die  Freigelasse- 
nen haben  von  je  in  Rom  als  Handwerker,  Künstler  und 
Kaufleute  den  Verkehr  des  Marktes  fast  in  Händen  gehabt. 
Damals  war  die  nähere  Verbindung  mit  Gapua  noch  neu, 
nicht  zu  neu,  als  dass  nicht  durch  den  Verkehr  mit  dieser 
grössten  Handelsstadt  Westitaliens  auch  der  römische  Handel 
einen  neuen  Schwung  erhalten.  Appius,  der  seine  Strasse 
nach  Gampanien  führte,  musste  die  Bedeutung  dieser  neuen 
Verbindung  wohl  erkannt  haben.  Wenn  er  nun  den  alten 
Zünften,  wie  der  der  Tibicines,  sich  feindselig  erzeigte  und 
sie  nicht  minder  als  die  Verbindungen  der  Gentilen  von  dem 
öffentlichen  Gultus  zu  verdrängen  trachtete,  wenn  er  Gneius 
Flavius  seinen  Kalender  veröffentlichen  liess,  konnte  er  dann 
nicht  in  all  diesem  beabsichtigen,  durch  Unterdrückung  der  alten 
gewiss  unbehülfiiehen  Zünfte  den  Verkehr  zu  heben  und  durch 
Aufhebung  hemmender  und  verhasster  Privilegien  den  Frei- 
gelassenen den  vollen  Verkehr  zu  eröffnen,  damit  sie  ihm  jene 
neue  Richtung  gäben,  die  an  die  Stelle  einer  gedrückten  Bau- 
ernplebs eine  wohlhabende  Handwerkergemeinde  setzen  sollte? 
Ein  solcher  Plan  scheint  mir  allein  des  Redners  gegen  Ci- 
nea's  Anträge  würdig,  um  so  möglicher  zu  einer  Zeit,  wo  die 
städtischen  Gemeinden  fast  überall  nur  in  Handel  und  Ge- 
werbe stark  waren,  100  Jahre  nachdem  Dionys  die  Bürger- 
rollen von  Syrakus  mit  Freigelassenen  angefüllt  hatte.  Dass 
sich  Fabius  und  die  senatorische  Majorität  widersetzte  war 
natürlich,  aber  ob  es  ganz  richtig  war,  wagen  wir  nicht  zu 
entscheiden.  Fast  100  Jahre  darnach  aber  scheint  die  Stellung 
der  Parteien  umgekehrt  zu  sein  "und  wenn  man  gegen  Appius 
Lan<ft>au  und  Grundbesitz  unter  Fabius  Führung  vertheidigte, 
so  wurde  von  Flaminjus  eben  die  ackerbauende  Plebs,  das 
Uebergewicht  des  Grundbesitzes  gegen  die  senatorischen  Kauf- 
herren in  Schutz  genommen.  Wir  dürfen  uns  hier  nicht  zu 
weit  verlieren;  bemerken  wir  nur,  dass  Flaminius  es  war,  der 
nach  seiner  lex  agraria  die  Freigelassenen  in  die  vier  Tribus 
zurückdrängte  und  dass  derselbe  einen  Claudier  allein  im  gan- 
zen Senate  bei  einer  Rogation  unterstützte,  welche  die  Schiffe 
der  Senatoren  auf  eine  Tonnenlast  beschränkte,  wie  sie  nur 


234  Ueber  den  neuesten  Stand  der  Geschichte 

zum  Hausbedarf  hinreichte.  Der  erste  punische  Krieg,  gegen 
den  Willen  des  Senates  begonnen,  hatte  durch  die  Eroberung 
der  Provinz  Sicilien  den  römischen  Handel  unendlich  geho- 
ben. Die  nächstfolgenden  Expeditionen  geschahen  zur  Be- 
festigung der  römischen  Seeherrschall;  um  ihre  Vollendung 
ward  der  Krieg  gegen  Hannibal  gewagt,  von  Anfang  fast  bis 
zu  Ende  mit  entschiedenem  Widerwillen  des  Volkes.  Man 
sieht  leicht,  dass  Flaminius  und  Fabius,  so  ähnlich  ihrer  bei- 
der Pläne  sich  waren,  doch  aus  ganz  verschiedener  Stellung 
auf  ihr  Ziel  losgingen  und  dass  bei  der  Frage,  wer  von  ih- 
nen die  Genturienverfassung  reformiren  konnte,  es  sieh  zu- 
erst darum  handle,  aus  wessen  Stellung  und  bei  gleichen 
Zwecken,  eine  solche  Veränderung  notbwendig  erschien.  Wir 
wollen  also  hier  bei  Seite  lassen,  dass  die  von  Gottling  an- 
geführte Stelle  des  Polybius  offenbar  gegen  seine  Ansicht  strei- 
tet», in  sofern  der  Historiker  bei  seiner  ungeheuchelten  Be- 
wunderung der  römischen  Verfassung  denjenigen  ganz  unge- 
reimt als  den  ersten  Demagogen  und  Volksverderber  genannt 
haben  würde,  der  nach  Gottling  durch  seine  Anordnung  der 
Volksversammlung  die  Gestalt  gab,  in  der  sie  wenigstens  schon 
zu  Hannibal's  Zeit  bestand.  Es  bandelt  sich  hier  darum,  aus 
welchen  Gründen  Flaminius  oder  Fabius  sich  bewogen  (Üb- 
len konnte,  in  dieser  Form  dem  Grundbesitze  und  dem  Bauer 
eine  Stellung  zu  sichern,  darin  er  dem  wachsenden  An- 
sehen des  Handels  und  des  Handwerkes  Stand  halten  konnte. 
Nach  dem,  was  wir  bisher  vorgebracht,  könnte  man  wirklich 
zweifeln,  ob  überhaupt  nach  solchen  Prämissen  die  Frage 
sich  entscheiden  lasse.  Während  wir  nun  aber  weiter  ver- 
gleichen, durch  welche  Entwicklung  die  beiden  erwähnten 
Verfasser  ihre  Ansicht  zu  begründen  suchen,  so  finden  wir 
Niebuhr's  tief  durchdachter  Darlegung  gegenüber  bei  Gottling 
die  allgemeine  Bemerkung,  dass  die  Demokratisirung  der  Cen- 
turiatcomitien  und  die  Aristokratisirung  der  Tribuscomitten 
die  Aufgabe  des  Flaminius  gewesen  sei.  Weiterhin  nimmt 
eine  dreifache  Erklärung  über  das  Fragment  der  sept*  Julia 
aus  dem  capitolinischen  Stadtplane  den  grössteo  Theil  der 
Erörterung  ein,  merkwürdig  genug  für  ein  Werk,  das  sieb 


der  römischen  Republik.  235 

die  ganze  Verfassungsgeschichte  Rom's  bis  auf  Cäsar's  Tod 
zur  Aufgabe  stellte  I 

Das  freilich  geht  aliein  aus  der  Verschiedenheit  der  Zei- 
ten hervor,  in  die  beide  Schriftsteller  diese  Veränderung  setz- 
ten, dass  Göttling  sie  gleichsam  als  den  todten  Endpunkt  ei-» 
ner  lebendigen  Entwicklung  betrachtet,  welche  Niebuhr  im 
Gegentheile  eben  durch   sie  gefördert  und  gestärkt  glaubt 
Eben  dass  die  Zahl  der  Tribus  damals  geschlossen  ward,  fuhrt 
jener  als  Grund  für  seine  Ansicht  an,  während  dieser  die  Re- 
formation nur  in  der  Aussicht  durchgeführt  glaubt,  dass  immer 
neue  Tribus  hinzugefügt  werden  und  wo  möglich  zuletzt  die 
ganze  Kraft  der  italischen  Stämme  umfassen  sollte.    Wenn 
wir  es  oben  wagten,  Appius  gegen  die  Darstellung  Niebuhr's 
in  Schutz  zu  nehmen  und  ihn  gegen  Fabius  anders  zu  stel- 
len als  er  bei  ihm  dasteht,  so  können  wir  dennoch  uns  auf 
seine  weitere  Ansicht  berufen.    Der  Unterschied  würde  nur 
der  sein,*  dass  nach  unserer  Vermuthung  sie  beide  Lobens- 
wertes gewollt  und  in  der  Wahl  der  Mittel  allein  einander 
opponirt  hätten.    Es  war  nach  Niebuhr  die  beständige  Ver« 
grösserung  der  Gemeinde  durch  neue  Tribus,  durch  häufige 
Verkeilung  der  Sympolitie,  es  war  die  veränderte  Stellung 
der  Patricier,  die  Veränderung  des  Grundbesitzes  durch  die 
lex  Poetelia,  die  seit  Servius  Tullius  eingetretene  Steigerung 
der  Durchschnittspreise,  es  waren  diese  Gründe  hauptsäch- 
lich, die  eine  Veränderung  des  Wahlgesetzes  namentlich  zu 
Fabius'  Zeit  wünschenswert  machen  mussten.    Es  ist  frei- 
lich bei  dieser  Entwicklung  manches  als  entschieden  genom- 
men, was  bis  jetzt  noch  vielfachem  Zweifel  unterliegt;  den- 
noch steht  es  wohl  fest,  dass  die  durchaus  veränderte  Lage 
der  Patricier  und  dass  die  immer  zuwachsende  Menge  der 
manieipes,  dass  endlich  des  Appius  Gensur,  des  Flavius  Wahl 
und  die  früher  erwähnten  Wahlintriguen  adeliger  Factionen 
eine  Reform  der  Wahlversammlungen  wünschenswerte  machte. 
Wie  dagegen  war  der  Stand  der  Dinge  bei  Flaminius?  Censur 
i»d  was  konnte  ihn  damals  bewegen,  eine  Reform  des  Wahl- 
gesetzes vorzunehmen,  wie  Göttling  sie  ihm  zuschreibt?  Dass 
der  Gegensatz  zwischen  Ackerbau  und  Handel  damals  nicht 


236  Ueber  den  neuesten  Stand  der  Geschickte 

minder  als  zu  Fabius'  Zeiten  herrsehte,  das  haben  wir  erwähnt; 
wenn  er  indessen  von  Appius  absichtlich  hervorgerufen  ward, 
so  war  er  nach  dem  ersten  puniscben  Kriege  durch  den  Drang 
der  Verhältnisse  immer  gewaltiger  geworden,  der  Handel  und 
Verkehr,  der  nach  der  Eroberung  Sicilien's  die  Edeln  beschäf- 
tigte und  bereicherte,  hatte  nach  Appius'  Plan  in  den  niede- 


ren Glasscn  erstarken  sollen.  Es  war  nicht  das  Patriciat, 
Flaminius  bekämpfte,  sondern  die  Nobilität  in  den  ersten,  le- 
bendigen Anfängen  ihrer  Geldaristokratie.  In  dem  gallischen 
Kriege,  darin  er  sich  seinen  ersten  Triumph  erfochten,  den 
sein  Ackergesetz  veranlasst  hatte,  hatten  alle  Völker  Italiens 
mit  der  unwandelbarsten  Treue  den  Krieg  für  Rom  geführt, 
den  der  Senat  umsonst  zu  hintertreiben  gesucht  hatte.  Es 
war  derselbe  Garvilius,  der  zu  seinem  Ackergesetee  als  Con- 
sul  billigend  still  geschwiegen  und  der  später  die  Latinen  in 
den  Senat  bringen  wollte.  Aber  nach  Götlling  sollte  gerade 
in  der  Reform  des  Flaminius  die  Zahl  der  tribus  geschlossen 
sein  und  somit  absichtlich  jene  Ausschliessung  der  Rundes- 
genossen festgesetzt,  die  später  den  marsiscben  Krieg  her- 
beiführte. Nach  Göttling  sollte  er,  der  im  beständigen  Kampfe 
mit  der  Geldaristokratie  wahrlich  zeigte,  dass  ihn  alte  For- 
men nicht  schreckten,  die  alte  Glasseneintheilung  festgehalten 
haben,  indem  er  zugleich  es  wagte,  die  Rildung  neuer  Tri- 
bus für  die  Zukunft  zu  untersagen.  Ja  diese  Beibehaltung 
der  Glassen  sollte  er  in  der  Weise  durchgeführt  haben,  dass 
für  die  Volksversammlung  die  Geldaristokratie  der  ersten 
Glasse  jetzt  in  den  einzelnen  Tribus  die  unteren  Glassen  be- 
herrschen konnte,  deren  Gesammtmasse  sie  sonst  bei  den 
Abstimmungen  entweder  in  den  Tribus  haltlos  unterlag  oder 
in  den  Genturiatcomitien  geschieden  und  deshalb  weniger 
mächtig  gegenüber  stand.  Wir  können  hier  nicht  die  Frage 
entscheiden,  ob  die  neue  Form  der  Tribus  und  Genturien 
von  Pantagath  oder  Faure,  von  Göttling  oder  Niebuhr  richtig 
erkannt  ist,  nur  scheint  unleugbar,  dass  mit  jeder  weiteren 
Zergliederung  der  Gensusverhältnisse  die  Macht  des  Geldes 
steigen  musste  und  dass  nach  dem  ganzen  Charakter  des  rö- 
mischen Volkes   die  erste  Censusclasse ,  wenn  sie  in  jeder 


der  römischen  Republik.  237 

Tribus  die  erste  Stimme  hatte,  viel  mächtiger  sein  musste  ah 
sie  es  bei  dem  numerischen  Uebergewichte  gewesen,  das  sie 
bei  dieser  Veränderung  jedenfalls  aufgab.  / 

Niebuhr  selbst  hielt  es  für  unleugbar,  dass  die  Glassen 
des  Servius  noch  lange  nach  der  Reform  des  Wahlgesetzes 
bestanden,  weshalb  ihm  Böckh  mit  Unrecht  vorwarf,  (MetroL 
Untersuchungen  S.  430)  dass  er  bei  Polyb.  6,  23  eine  Bezie- 
hung auf  die  Glassen  durchaus  leugne,  nur  insofern  wollte  er 
diese  Stelle  nicht  gelten  lassen,  als  man  in  ihr  ein  Zeugniss 
des  Bestehens  der  alten  Glasseneintheilung  daraus  für  die 
Comitien  entnehmen  möchte.  -  Wie  er  aber  weiter  seine  An- 
sicht vertheidigt,  das  wäre  unnütz  hier  zu  wiederholen,  uns 
genügt  zu  zeigen,  wie  haltlos  die  Göttling'scbe  Ansicht  von 
dieser  wichtigen  Reform  überhaupt  und  Niebuhr  gegenüber 
erscheint.  Wenn  es  dabei  auffallen  musste,  dass  Göttling 
seine  Ansicht  nur  mit  einem  zum  Thcil  sehr  allgemeinen  Rä- 
sonnement  begründet,  während  Niebuhr  nach  Jahre  langer 
Ueberlegung  in  einer  trefflich  detaillirten  Entwicklung  zeigt, 
wie  ihn  diese  Frage  in  ihrer  ganzen  Wichtigkeit  ergriffen, 
so  tritt  uns  dabei  eine  zweite  Darstellung  der  Sache  nahe, 
in  der  dieselbe  nach  der  ganzen  Bedeutung  ihrer  Wichtigkeit 
aufgefasst,  aber  nicht  weniger  abweichend  von  der  Niebuhr  - 
sehen  Ansicht  beantwortet  ist. 

Wir  erwähnten  Peter's  „Epochen  der  Verfassungsge- 
schichte" schon  oben.  Der  Verf.  hat  es  sich  zur  Aufgabe  ge- 
stellt, eine  Entwicklung  der  römischen  Verfassung  auf  mög- 
lichst sicheren  Grundlagen  zu  geben.  Seine  Schrift  soll  zu 
einem  Schulbuche  dienen,  aber  dabei  ist  es  sein  höchst  lö~ 
benswerthes  Bemühen,  nur  Data  zu  geben,  die  er  selbst  aus 
der  Flutb  von  Hypothesen  und  verschiedenen  Ansichten  als 
sichere  ausgewählt,  selbst  geprüft,  zum  Theil  selbst  gefunden 
und  hier  zusammengestellt  hat.  Gewiss  eine  würdige  und 
schwierige  Aufgabe.  Der  Verf.  beschränkt  sich  auf  die  re- 
publicanischen  Zeiten,  nur  die  Verfassung  des  Servius  Tullius 
musste  er  mit  in  seine  Darstellung  aufnehmen,  um  die  Ge- 
schichte der  Republik  bis  zur  Zeit  des  Decemvirats  verstand- 
lich zu  machen.    Den  Decemvirn  nämlich  vindicirt  er  die 


2S8  lieber  den  neuesten  Stand  der  Geschickte 

Wahlreform,  die  Niebuhr  dem  Fabius,  Göttling  dem  Flami- 
nius  zuschrieb,  so  dass  wir  von  dem  letzteren  als  dem  einen 
zu  dem  Verf.  als  dem  anderen  Extrem  hinübertreteo.  Denn 
weder  später  als  jener  noch  früher  als  dieser  wird  man  das 
Factum  setzen  können.  Der  Gang  der  Untersuchung  ist  aber 
bei  Peter  dieser,  dass  er  zuerst  vor  allen  der  Ansicht  Nie- 
bubr's  widerspricht,  dass  die  Glassen  des  Servius  Tullius  nur 
aus  den  Plebejern  bestanden.  Er  glaubt  in  der  ganzen  Ge- 
schichte der  Republik  bis  auf  das  Decemvirat  den  entschie- 
denen Gegenbeweis  zu  finden.  Die  fortwährende  Unterdriik- 
kung  der  Plebs  scheint  ihm  bei  Niebuhr's  Annahme  unmög- 
lich. Erst  nach  dem  Decemvirate  hätten  die  Plebejer,  die 
bis  dahin  in  den  Classen  gegen  die  Patricier  zurückgestan- 
den, an  einen  wirklich  nachhaltigen  Widerstand  denken  kön- 
nen. Er  sei  möglich  gemacht  durch  eben  jene  Reform  der 
Genturien  und  Tribus.  Es  ist  hier  nicht  unsere  Absieht,  die 
ganze  Schrift  des  Verfs.  Schritt  vor  Schritt  zu  verfolgen,  ob- 
wohl er  sich  wiederholt  auf  das  Ganze  seiner  Entwicklung 
als  den  bündigsten  Reweis  für  seine  Ansicht  beruft.  Es  sei 
uns  erlaubt,  bei  diesem  Anfange  stehen  zu  bleiben  und  den 
Verf.  auf  die  einfache,  gewiss  unleugbare  Thalsache  aufmerk- 
sam zu  machen,  dass  die  Legionen  seit  dem  Anfange  der  Re* 
publik  bis  zum  Decemvirate  von  der  Plebs  allein  gebildet  wer- 
den. Der  Verf.  erinnert  $.  3  daran,  dass  vor  Servius  ein  pa- 
tricisches  Heer  von  1200  Rittern  und  12000  Fusssoldalen 
bestand  und  fragt  §.  9  verwundert,  wo  denn  bei  ganz  plebe- 
jischen Glassen  diese  Streitmacht  geblieben  sei?  Wir  wissen 
nicht,  wie  er  es  mit  den  Zahlenangaben  aus  dieser  ersten 
Zeit  Rom's  hält,  aber  das.  scheint  uns  sicher,  dass  die  Patri- 
cier im  Besitze  einer  solchen  ihnen  ergebenen  Armee  bei 
allen  Dienstweigerungen  der  Plebejer  die  Kriege  der  ersten 
Jahrhunderte  hätten  auf  ihre  eigene  Hand  ausfechten  können. 
V^arum.  hätten  sie  dann  sich  so  oft  der  Gefahr  ausgesetit, 
eine  Armee  aufzubieten,  in  der  aus  gehorsamen  Bürgern  auf- 
rührerische Soldaten  würden?  warum  ferner  hätten  sie  ein 
solches  Aufgebot  noch  als  den  Jeiebtesten  Weg  Ruhe  zu  er- 
zwingen angesehen,  wenn  sie  in  einer  Volksversammlung  selbst 


der  römischen  Republik.  ?39 

schon  das  Uebergewicht  gehabt  hätten,  deren  Beschlüsse  nach 
des  Verfs.  Ansicht  einer  zweimaligen  Bestätigung  von  ihrer 
Seite  bedurften  $.  12.  Es  wird  nicht  nöthig  sein,  diese  Ein- 
würfe mit  Stellen  zu  belegen.  Des  Verfs.  Absicht,  auf  siche- 
ren Daten  sich  selbst  einen  schmalen  aber  festen  Weg  durch 
die  Irrgänge  dieser  Forschungen  zu  bahnen,  verdient  gewiss 
Anerkennung,  aber  bei  näherer  Betrachtung  drängt  sich  dann 
doch  gleich  die  Frage  auf,  ist  eine  lebendige  Anschauung  des 
Gegenstandes  möglich,  wenn  man  die  einzelnen  Daten  nach 
ihrer  streng  kritischen  Beglaubigung  wählt  oder  noch  mehr, 
wo  liegen  die  Grenzen  dieser  Kritik? 

Der  Verf.  lässt  bei  seiner  Entwicklung  die  agrarischen 
Verhältnisse  im  Anfange  wenigstens  ganz  unberücksichtigt, 
obgleich  er  hier  gerade  sehr  guten  Aufscbluss  darüber  finden 
konnte,  wo  denn  die  Patricier  ihre  dienten  lassen  moch- 
ten, wenn  der  Fussdienst  auf  den  Plebejern  lastete.    Wäh- 
rend er  dagegen  bis  zum  Decemvirate  die  einzelnen  Ereig- 
nisse durchgeht,  um  aus  ihnen  ein  patriciccbes  (Jebergewicht 
nachzuweisen,  beabsichtigt  er  die  Gesetzgebung  der  Decem- 
virn  als  die  Vereinigung  eines  Staates  darzustellen,  dessen 
Theile  durch  die  grössere  Selbstständigkeit  des  Tribunats  na- 
mentlich aus  einander  getrieben  wurden.   Und  so  wird  denn 
für  diese  Vereinigung  die  Reform  der  Genturien  als  ein  Haupt- 
mittel hervorgehoben,  so  dass  wir  hier. zur  Aussöhnung  der 
alten  Plebs  mit  dem  alten  Patriciate  dieselbe  Form  im  An- 
lange der  Republik  angewandt  sehen,  die  bei  Göttling  am 
Ende  des  lebendig  republicanischen  Staatslebens  die  Nobile 
tat  und  eine  vielfach  schon  verderbte  Plebs  gegen  einander 
ausgleichen  sollte.    Peter  bemerkt,  dass  seine  Ansicht  aller-* 
dings  nicht  neu  sei,  dass  aber  ihre  Durchführung  und  Be-r 
gründung  im  ganzen  Gange  der  Verfassung  zuerst  von  ihm 
versucht  werde.    Er  scheidet  von  vorn  berein  die  neue  An-* 
Ordnung  der  Genturien  von  der  neuen  Art  der  Abstimmung 
mit  erlooseter  Praerogativa  und  setzt  deren  Einführung  zwi- 
schen 292  und  218  vor*  Chr.  Und  allerdings  würde  die  Beibe- 
haltung der  alten  Abstimmung  eine  so  frühe  Reform  wenig- 
stens erklärlich  machen,  wenn  nicht  eine  solche  Veränderung 


240  lieber  den  neuesten  Stand  der  Geschichte 

unter  den  Decemvirn  überhaupt  unstatthaft  erschiene.  Der 
Verf.  meint,  dass  diese  Veränderung  und  die  ihr  vorherge- 
henden Kampfe  selbst  in  den  Auszügen  des  Livius  nicht  hät- 
ten unerwähnt  bleiben  können.  Aber  die  Veränderung  blieb 
doch  unerwähnt,  sonst  brauchte  es  all  dieser  Beweise  nicht; 
und  Spannungen,  Streitigkeiten  gingen  nicht  allein  des  Fa- 
bius  und  Flaminius  Gensur  eben  sowohl  vorher  als  dem  De- 
cemvirate,  sie  haben  nie  fast  aufgehört,  nur  dass  die  Geschieht- 
scbreiber  sie  zum  öfteren  als  unebrenvoll  für  einen  oder  den 
anderen  Stand  übergingen.  Gesteht  der  Verf.  %  8  doch  selbst 
ein,  dass  auch  nach  dem  Decemvirate  Vorfalle  sich  finden, 
wie  er  sie  vor  demselben  brauchte,  um  die  nachtheilige  Stel- 
lung der  Plebejer  daraus  zu  beweisen.  Und  zugegeben,  dass 
diese  Stellung  früher  eine  solche  war,  was  war  der  Plebs 
damit  geholfen,  dass  die  Genturienzahl  der  ersten  Classe  ver- 
mindert ward,  wenn  die  plebejische  Armuth  wirklich  so  gross 
war,  dass  nicht  die  Selbstsucht  ihrer  Reichen,  sondern  die 
fast  allgemeine  Hülflosigkeit  des  Standes  sie  den  Patriciern 
in  den  Genturien  unterthan  machte  (?,  3)?  dass  jetzt  wie  wir 
schon  erwähnten  die  Tribus  'sich  gewöhnten  auch  in  diesen 
echtplebejischen  Gemeinschaften  den  grossen  Besitz  mit  dem 
Vorrechte  der  ersten  Stimme  vertreten  zu  sehen?  Ja  man 
würde  den  Verf.  leicht  überfuhren  können,  dass  diese  Reform, 
wäre  sie  damals  in  seinem  Sinne  vollfuhrt,  doch  eine  Ver- 
stärkung der  Tributcomitien  unnöthig  gemacht  haben  würde, 
wie  sie  gleich  nachher  in  den  leges  Horatiae  Valeriae  gege- 
ben ward.  Das  bat  der  Verf.  offenbar  selbst  gefühlt  und 
deshalb  stellt  er  die  beiden  Volksfreunde  im  grossten  Ein- 
verständnisse mit  der  Decemviralgesetzgebung  dar,  so  „dass 
die  Grundlagen  der  Reform  von  den  Decemvirn  herrühren 
und  dass  die  Gonsuln  des  ersten  Jahres  nachher  nichts  tha- 
ten,  als  dass  sie  die  durch  jene  gemachten  wesentlichen  Ver- 
änderungen der  Verfassung  den  alten  Formen  derselben  an- 
passten"  (S.  75).  Er  nennt  diese  Ansicht  nur  „sehr  wahr- 
scheinlich, denn  über  die  Wahrscheinlichkeit  hinaus  lässt  sich 
der  Beweis  bei  der  Unzulänglichkeit  der  Quellen  nicht  stei- 
gern."  Aber,  wie  gesagt,  ohne  diese  auf  unzulängliche  Quel- 


der  römischen  Republik.  241 

Jen  gestutzte  Wahrscheinlichkeit  verliert  seine  Ansicht,  von 
vorn  herein  aus  einer  sehr  unwahrscheinlichen  Entwicklung 
abgeleitet,  den  letzten  Halt  und  uns  wenigstens  scheint  es 
sehr  zweifelhaft,  ob  sie  überhaupt  irgend  mehr  Glaub  Wür- 
digkeit ansprechen  könne  als  Niebuhr's  Hypothese  über  die 
eben  damals  neu  eingefürhte  Ordnung  der  Magistrate. 

Es  sind  die  beiden  neuesten  Ansichten  über  eine  für  die 
ganze  Verfassungsgeschichte  so  wichtige  Reform,  die  wir  hier 
zu  besprechen  wagten.  So  sehr  die  beiden  Verf.  wenigstens 
darüber  differiren,  zu  welcher  Zeit  sie  vor  sich  gegangen,  so 
stimmen  sie  eben  darin  wieder  überein,  dass  sie  sich  nach 
verschiedenen  Seiten  gleich  weit  von  Niebuhr  entfernen.  Mit 
welchem  Rechte,  das  haben  wir  anzudeuten  versucht,  ohne 
dass  wir  darauf  eingehen  wollten,  Niebuhr's  vortreffliche  Dar- 
legung seiner  Ansicht  nochmals  zu  wiederholen.  Ein  Ver- 
such, wobei  sie  nur  verlieren  würde.  Wenn  es  aber  bis  jetzt 
noch  möglich  ist,  dass  die  neueren  Arbeiten  auf  diesem  Feldö 
zu  so  verschiedenen  Resultaten  führen,  wenn  die  Nachfolger 
Niebuhr's  uns  noch  nicht  weiter  gefördert  haben,  so  musste 
man  natürlich  mit  grossen  Erwartungen  ein  Werk  begriis- 
sen,  das  besonnener  als  alle  vorhergehenden  die  Aufgabe  von 
Neuem  und  von  vorn  wieder  vorzunehmen  versprach.  Wir 
meinen  Rubino  „Ueber  den  Entwicklungsgang  der  römischen 
Verfassung  bis  zum  Höhepunkte  der  Republik." 

Es  ist  bekannt,  wie  Niebuhr  zuerst  von  seinen  Unter-* 
suebungen  aber  die  Agrimensoren  zu  den  weiteren  Forschun- 
gen in  römischer  Geschichte  überging.  Indem  ihn  die  Ver- 
bältnisse des  ager  publicus  zu  den  grossen  Entdeckungen 
weiter  führten,  die  ihn  im  Inneren  des  römischen  Staates 
Patriciat  und  Plebs  nach  ihrer  wahren  Redeutung  scheiden 
Hessen,  so  sab  er  doch  auch  in  dem  Institute  jener  Aecker- 
vertheilungen  etwas  allgemein  Altitalisches  und  das  ganze  Le- 
ben seiner  Anschauungen  und  Untersuchungen  gewann  eben 
durch  die  Rücksicht,  die  er  auf  die  alten  vorrömischen  Ver- 
hältnisse Italien's  nahm,  wie  ihm  denn  Rom  selbst  aus  einer 
wunderbaren  Vereinigung  solcher  Stammverschiedenheiten  er- 
stand.   Vielleicht  hat  er  auf  diesem  Felde  seiner  Forschung 


1 


242  Ueber  den  neuesten  Stand  der  Geschickte 

segensreichere  Nachfolge  gefunden  als  auf  dem  der  eigentlich 
römischen  Verfassungsgeschichte.  Indem  er  in  seiner  Ge- 
schichte beide  Richtungen  verfolgte,  konnte  er  natürlich  schon 
in  sofern  den  römischen  Geschicbtscbreibern  keine  unbedingte 
Glaubwürdigkeit  zugestehen,  als  sie  allein  die  Thaten  der 
Sieger  beschreiben,  während  ihn  der  muthvolle  Widerstand 
der  Unterliegenden  aufforderte,  ihren  Verhaltnissen  nachzu- 
forschen, auch  nachdem  Rom's  Verfassung,  aus  ihnen  hervor- 
gegangen, sie  zu  beherrschen  begann.  Und  diese  römische 
Gescbichtscbreibung,  welche  in  Rom  gegenüber  dem  übrigen 
Italien,  ja  der  ganzen  Erde  nur  das  siegreiche  Recht  von  An- 
fang an  anerkannte,  wurde  durch  die  Literatur  des  besiegten 
Griechenlands  aus  ihren  eigentümlichen  Bahnen  herausge- 
führt, durch  die  heillosen  Zerrüttungen  des  eigenen  Volkes 
von  der  Vorzeit  getrennt  bis  sie  in  den  letzten  Zeiten  der 
Republik,  als  diese  zur  Monarchie  heranreifte,  die  alten  Völ- 
ker, die  man  nicht  mehr  bekämpfte,  die  alte  Verfassung, 
nach  der  man  nicht  mehr  lebte,  in  ihrer  stilistischen  Ausbil- 
dung, bei  trockenem  Sammlerfleisse  nicht  mehr  verstand.  Mit 
dieser  Anschauung  von  dem  Werthe  unserer  Quellen  war 
natürlich  eine  höbe  kritische  Aufgabe  gestellt,  es  galt  jetzt 
zu  unterscheiden ,  was  trotz  dieser  Lage  uns  an  reinem  und 
sicherem  Thatbestande  mehr  überkommen  als  überliefert  sei 
Eine  tiefe,  lebendige  Veranschaulichung  des  altrömischen  Staa- 
tes konnte  hierbei  nur  einem  wahrhaft  politisch  gebildeten 
Genie  gelingen.  Durch  seine  Geschichte  bewies  Niebuhr  sich 
als  ein  so  hoch  Regabter.  Im  Allgemeinen  wurden  seine 
Entdeckungen  zuerst  freudig  anerkannt,  man  hörte  nicht  auf 
den  Einwurf,  dass  doch  Livius  und  Cicero  trotz  aller  Miss- 
gunst ihrer  Zeiten  den  Staat  ihrer  Ahnen  wenigstens  ebenso 
deutlich  erkannt  haben  mussten  als  wir.  War  nicht,  was 
dem  widersprach,  eben  das  Gefühl,  dass  unsere  Zeit,  ergrif- 
fen von  dem  Gedanken  des  öffentlichen  Rechtes,  dadurch  ge- 
rade dem  Zeitalter  August's  überlegen  sei,  in  dem  dieser  Ge- 
danke furchtbar  erblasste?  Seit  der  Herausgabe  des  Niebuhr'- 
schen  Werkes  ist  bei  uns  Vieles  anders  geworden,  mit  dem 
Verf.  selbst  ist  mancher  andere  schon  dahin  gegangen,  den 


der  römkehm  Republik  243 

die  damalige  Begeisterung  gebildet  und  gehoben  hatte.  Wie 
schwankend  die  Meinungen  auf  diesem  Gebiete  der  Forschung 
sich  hin  und  her  bewegen,  sahen  wir.  Ist  es  im  öffentlichen 
Leben  anders? 

In  der  Rathlosigkeit  dieses  wissenschaftlichen  Zustandet 
erscheinen  Rubino's  Untersuchungen.  Wir  glauben  schon  in 
diesem  ersten  Bande,  den  er  bis  jetzt  veröffentlichte,  seine 
Meinung  erkennen  zu  können,  obgleich  sehr  bedeutende  Er- 
örterungen noch  zu  erwarten  stehen.  Sehen  wir  zuerst,  was 
er  über  die  eigene  Stellung  in  der  Vorrede  allgemein  be- 
merkt Er  erkennt  (V.)  an,  dass  die  Kritik  nur  auf  dem  Wege 
das  Zerstörte  aufbauen  könne,  den  Niebuhr  geöffnet,  d.  h. 
durch  das  Eindringen  in  die  Natur  der  vorhandenen  Heber- 
lieferungen,  durch  die  Sonderung  derselben  je  nach  ihrem 
Ursprünge  und  durch  die  Verknüpfung  der  so  gewonnenen 
Resultate. 

lieber  diese  Natur  und  den  Ursprung  der  Ueberlieferun- 
gen  spricht  er  sich  nun  sogleich  hier  von  vorn  herein  dahin 
aus,  dass  er  sie  in  zwei  Glassen  scheidet,  deren  eine  die 
auswärtigen,  die  andere  die  inneren  Verhältnisse  umfasst, 
oder  vielmehr  deren  eine  „die  Traditionen  über  die  Verfas- 
sung," die  andere  „mehr  eigentlich  historischer  Natur,  Er- 
zählungen von  Kriegen,  von  auswärtigen  Verhältnissen  zu 
den  benachbarten  Völkern,  von  Schicksalen  berühmter  Per- 
sonen" und  überhaupt  das  interessante  Detail  der  Geschichte 
umfasst  Den  „Traditionen  über  die  Verfassung"  wird  eine 
weit  höhere  Glaubwürdigkeit  zugesprochen  als  diesen  Ein- 
zelnheiten. Sie  wurden  „schon  frühe  zum  Theil  schriftlich 
aufgezeichnet,  knüpften  sich  auch  da,  wo  sie  durch  blos  münd- 
liche Lehre  überliefert  wurden,  an  bestehende  Institutionen 
an,"  während  jene  andere  Glasse  „lange  Zeit  der  Volkssage 
überlassen  und  den  Ausschmückungen  der  Phantasie  und  der 
Entstellung  durch  nationale  wie  durch  Familieneitelkeit  aus- 
gesetzt war."  Man  könnte  zweifelhaft  sein,  wie  denn  diese 
Theilung  eigentlich  recht  zu  verstehen  sei,  denn  wir  meinen, 
dass  die  Einzelnheiten,  dass  jene  Ueberlieferungen  „mehr  ei- 
gentlich historischer  Natur"  nicht  allein,  wie  der  Verf.  meint. 


244  lieber  den  neuesten  Stand  der  Geschichte 

der  Geschichte  „Lebendigkeit  und  Reiz"  sondern  dass  sie  al- 
lein ihr  Lebendigkeit  und  Wahrheit  verleihen.  Aber  er  hat 
von  vorn  herein  Tür  eine  Darstellung  „keine  Reihe  von  ein- 
zelnen Tbatsachen"  sondern  nur  eine  „Reihe  gesicherter 
Hauptereignisse  und  Hauptverhältnisse"  möglich  gehalten.  Ist 
diese  nur  erst  gewonnen,  so  hofft  er  auch,  dass  für  jene  an- 
dere Glasse  von  Ueberlieferungen  daraus  mehr  Sicherheit  sich 
ergeben  werde.  Es  kommt  also  Alles  darauf  an,  wie  aus  je* 
nen  Traditionen  sich  die  Reihe  gesicherter  Hauptereignisse 
und  Hauptverhältnisse  herstellen  lasse,  ja  es  könnte  uns  fast 
bedünken,  als  sollte  hier  einmal  das  gewöhnliche  Verfahren 
der  historischen  Kritik  umgekehrt  werden:  als  sollten  die  Fa- 
cta eines  Staatslebens  aus  seinen  Zustanden  beurtheilt  wer- 
den, statt  dass  man  sonst  aus  den  einzelnen  Tbatsachen  die 
allgemeinen  Zustände  abzuleiten  pflegt.  Doch  suchen  wir  an 
einzelnen  Beispielen  es  uns  klar  zu  machen,  wie  der  Verf. 
sich  jene  Traditionen  denkt.  „Die  römischen  Aiterthumsfor- 
scher"  sagt  er  S.  1 17  „wussten  sehr  gut,  dass  von  der  Vor- 
zeit her  in  den  latinischen  Städten  ein  Adel,  ein  Senat,  Prie- 
sterschaften und  vieles  Aehnliche  bestanden  hatte,  was  der 
frühesten  Organisation  ihres  Staates  zu  Grunde  lag.  —  Diese 
Kenntniss  verschwindet  aber  häufig  wieder,  wenn  sie  —  blos 
der  einbeimischen  Ueberlieferung  folgen.  —  Was  nun  auch 
die  historische  Kritik  bei  einer  solchen-Tradition  zu  bemer- 
ken haben  kann,  man  muss  ihr  —  das  Recht  widerfahren  Jas- 
Gen,  dass  sie  die  nationalen  Vorstellungen  wiedergiebt,  welche 
dafür  zeugen,  dass  die  Könige  und  sie  allein  die'constituirende 
Gewalt  besessen."  Ebenso  war  nach  S.  121  die  Ansicht  von 
dem  Königthume  als  einziger  Rechtsquelle  „in  materieller 
Hinsicht  durchaus  unrichtig.  Die  ursprünglichen  Recbtsbe- 
griffe  der  Römer  konnten  unmöglich  andere  sein  als  diejeni- 
gen, welche  in  dem  Gerichtsgebrauche  und  in  den  Sitten  der 

Stämme  lagen,  aus  welchen  das  Volk  hervorging. — 

Formeil  aber  war  der  Satz  eben  so  wahr,  als  er  eine  grosse 
practische  Bedeutung  hatte/4  Sehr  merkwürdig  ferner  ist  die 
Weise,  mit  der  S.  144  die  Abhandlung  über  Senat  und  Pa- 
tticiat  eingeleitet  wird.   Der  Verf.  sieht  zwei  Wege  vor  sich. 


der  römischen  Republik.  245 

„Man  kann  nämlich  entweder  von  der  Aristokratie  als  einer 
Classe  von  Personen  und  Familien  ausgehen,  welche  sich  bei 
der  Entstehung  Born 's  vorfand,  deren  Gesammtheit  durch  sich 
gewisse  Rechte  und   eine  bestimmte  Stellung  in  Anspruch 
nehmen  konnte."     Die   Dunkelheit  aber  der   vorrömischen 
Stammgeschichten,  der  fest  verschlungene  Organismus   des 
römischen  Staates  und  der  Umstand,  dass  bei  der  Erörterung 
des  Patriciates  immer  auf  den  Senat  verwiesen,  dass  Genti- 
litat  und  Patronat  passender  (?)  später  abgehandelt  wird,  dies 
alles  bewegt  den  Verf.,  „den   von   den   römischen  Quellen 
selbst  angezeigten  Gang  einzuschlagen  und  von  dem  Senate 
—  auszugehen."  Wir  könnten  noch  mehr  Stellen  anführen  — 
namentlich  S.  183  ff.,  —  wo  der  Verf.  es  entschieden  ablehnt 
von  den  vorrömischen  Zustünden,  soweit  noch  deren  Spur 
uns  überliefert  ist,  auszugehen  und  es  dagegen  vorzieht,  aus 
dem  römischen  Staatsorganismus  heraus  ihn  selbst  zu  betrach- 
ten. Das  lebendige  Bewusstsein  aber  dieses  Organismus  wor- 
aus schöpft  er  es?  oder  wo  findet  er  nun  jene  Traditionen, 
auf  die  wir  ihn  oben  sich  berufen  sahen?  Er  scheidet  be- 
stimmt „den  Sprachgebrauch  des  Staatsrechtes  der  Kenner" 
von  der  populären  Rede  späterer  Schriftsteller  {S.  15  ff.),  er 
setzt  S.  30  ff.  der  gewöhnlichen  Volkssage  späterer  Zeit  die 
Auctorität  der  „Annalisten"  entgegen.   „Bei  der  Entwicklung 
der  politischen  Begriffe  der  Römer"  bemerkt  er  S.  112  N.  2 
„kommt  es  blos  auf  den  Charakter  ihrer  Stiftungssage  an, 
nicht  auf  den  Grad  der  Glaubwürdigkeit."    Dabei  gesteht  er 
S.  110  N.  1  aber  selbst  ein,  dass  er  die  Darstellung  dieser 
Sage  bei  Cassius  Hemina  verwerfen  müsse,  um  sich  in  einem 
wesentlichen  Punkte  der  Darstellung  des  Plutarch  und  Zo* 
naras  anzuschliessen.    Freilich  haben  ja  auch  diese  ihre  alten 
Quellen  benutzt,  aber  dessohnerachtet  lässt  sich  hier  der  Punkt 
nicht  übersehen,  auf  den  es  bei  der  Methode  des  Verf.  haupt- 
sächlich  anzukommen  scheint.    So   sehr  er  von  vorn  her- 
ein von  der  Stetigkeit  und  ununterbrochenen  Lieberlieferung 
der  Verfassungsprincipe  überzeugt  ist,  so  muss  dennoch  die 
Frage  sich  vor  allen  aufdrängen,   welcher  Glaubwürdigkeit 
zeigten  sich  denn  nun  jene  Kenner  des  Staatsrechtes,  jene 

Zeitschrift  f.  Getrhiektsw.  IV.    1843.  17 


246  lieber  den  neuesten  Stand  der  Geschichte 

Annalisten,  die  das  Princip  festhielten  und  fortpflanzten,  wür- 
dig. Die  Erörterung  über  den  Werth  der  Quellen  wird  um 
so  dringender,  da  der  Verf.  von  vorn  herein  Born  aus  sieh 
selbst  erklären  will  und  also  wenigstens  vorläufig  demjenigen 
Kriterium  entsagt,  das  aus  der  Vergleichung  mit  den  Nach- 
barvölkern für  die  Thatsacben  der  römischen  Verfassungsge- 
scbicbte  entspringt;  sie  wird  um  so  nöthiger  bei  der  oben 
erwähnten  Ansicht  von  den  hierher  gehörigen  Ueberlieferun- 
gen,  die  in  so  eigenthümlicher  Entschiedenheit  vor  ihm  noch 
nicht  ausgesprochen  ward.  In  der  Vorrede  (S.  XII.  ff.)  er* 
klärt  er  das  Zeitalter  Gicero's  für  dasjenige,  „worin  sich  mit 
dem  wissenschaftlichen  Interesse  für  die  staatsrechtlichen  In- 
stitute die  Triebfeder  des  practischen  vielleicht  wirksamer  als 
jemals  verband."  Mit  dieser  Ansicht  ist  doch  der  Verf.  ge- 
wiss nicht  gewillt  sich  der  Meinung  Cicero's  anzuschliessen, 
nach  der  eigentlich  erst  in  seinem  Zeitalter  eine  wahrhaft 
würdige  Literatur  in  Rom  erstand.  Jene  älteren,  fest  ver- 
achteten Autoren  haben  für  ihn  denselben  Werth  als  die  des 
Ciceronianiscben  Zeitalters,  da  sie  diesem  die  Anschauungen 
altrömischen  Staatslebens  überliefert  haben  sollen,  die  uns 
jetzt  von  Cicero  und  Livius  erhalten  sind«  Wir  erwähnten 
aber  schon  oben ,  dass  gewiss  und  anerkannter  Afaassen  die 
herrschenden  Ideen  bei  den  römischen  Alterthumsforschern 
nicht  immer  dieselben  waren.  '  Der  Verf.  rechnet  S.  320  den 
Junius  Gracchanus  zu  einer  Schule,  „welche  geneigt  sein 
musste,  den  Grundsatz  der  Volkssouveränität  auch  historisch 
in  jeder  nur  scheinbaren  Spur  zu  erkennen."  Diese  Schale 
war  damals  sehr  bedeutend  und  wir  können  selbst  den  Po- 
lybius  dahin  zählen.  Der  Verf.  hierüber  durchaus  anderer 
Ansicht  bemerkt  hierbei,  dass  des  Junius  Untersuchung  eine 
gelehrte  war  und  hierbei  „die  ersten  Versuche  der  Schrift- 
stellerei  offenbar  im  Nachtheile  gegen  die  späteren,  welche 
immer  mehr  Quellen  an  das  Licht  ziehen/'  lins  hat  immer 
geschienen,  als  habe  das  Zeitalter  der  Scipionen  und  des  Po- 
lybius  an  praktischem  Sinne  und  gelehrter  Bildung  wohl  nicht 
hinter  Cicero  und  Varro  zurückgestanden,  nur  dass  zwischen 
beiden  die  wüsten  Zeiten  des  Bundesgenossen*»  und  der  Bär- 


der  römischen  Republik.  247 

gerkriege  lagen,  die  für  die  Quellenforschung  manch  kostba- 
res Monument  zerstört  haben  mochten.  Bei  der  eben  ange- 
rührten Bemerkung  aber  gesteht  der  Verf.  jedenfalls  ein,  dass 
seine  „Kenner  des  Staatsrechtes"  dem  Zeitgeiste  nicht  unzu- 
gänglich blieben.  Sein  Bemühen  geht  in  diesem  ersten  Bande 
gerade  darauf  hinaus,  zu  beweisen,  dass  jene  Volkssouverä- 
nität  in  den  Zeiten  der  Könige  nicht  bestand,  es  sind  na- 
mentlich Cicero  und  Livius,  aus  denen  der  Verf.  im  Gegen- 
satze gegen  die  Volkssoge  (S.  351)  eine  Theokratie  im  älte- 
sten Born  zu  erweisen  sucht.  Der  erste  Abschnitt  seiner 
Untersuchung  allein  steigt  bis  in  die  letzten  Zeiten  der  Re- 
publik hinunter,  um  den  Begriff  des  dem  Magistrate  von  Kö- 
nig Romulus  her  vererbten  Imperiums  festzustellen.  Der  Ge- 
danke, „dass  der  Besitz  der  Staatsgewalt  eine  Weihe  sei, 
welche  nicht  von  dem  profanen  und  damit  nicht  begabten 
Volke  ertheilt  werden  könne",  soll  im  Staatsrechte  festgehal- 
ten seift  bis  auf  die  letzte  Zeit  der  Bepublik  S.  13. 

Die  berühmte  Stelle  des  Polybius  VI.  14:  rifnjg  ydq  i<rtt 

xal  rifuoqiag  ip  vfr  nohxetq  fiovoc  6  djjfioc  xvQiog xql- 

vs*  p£p  ovp  6  dijpog  xal  diacföqov  TtoXXdxig &avdxov 

di  xqipsi  popog.  —  —  xal  jmjp  zag  cr^ga?  6  dijfiog  didtotii 
wie  diioiCj  kann  doch  unmöglich  etwa  mit  der  Bemerkung 
verworfen  werden,  dass  dieser  Achäer  die  Grundsätze  des 
Staatsrechtes  nicht  gekannt,  um  so  weniger,  da  derselbe  eben 
die  römische  derfidaifiopk*  ebd.  56  Tür  einen  Hauptpfeiler  des 
römischen  Staates  erklärt  und  deren  Bedeutung  für  die  Ver- 
leihung des  Magistrates  gewiss  nicht  übergangen  hätte,  wäre 
sie  ihm  wirklich  so  schlagend  entgegen  getreten.  Wir  geste- 
hen, dass  die  Auffassung  des  Polybius  für  uns  mehr  Gewicht 
hat»  denn  alle  altannalistischen  Spuren  bei  Livius  oder  Cicero x 
oder  Dionys,  deren  Ausscheidung  immer  doch  nur  auf  einer 
höchst  unsicheren  Kritik  beruht.  Dass  aber  auch  selbst  die 
von  diesen  Späteren  überlieferten  Gesetze  meist  verstümmelt 
und  verkümmert  auf  uns  gekommen,  ist  ebenso  anerkannt: 
uod,  soll  denü  Polybius  nicht  voll  gelten,  so  mögen  wir  wei- 
ter nur  die  wirklich  unversehrten  Trümmer  alter  Urkunden 
zuerst  und  als  die  unumgänglichen  Grundlagen  betrachten, 


248  Ueber  den  neunten  Stand  der  Geschickte 

auf  denen  die  Untersuchung  der  staatsrechtlieben  Grundsitze 
höher  hinaufsteigt    Dahin  gehören  doch  ohne  allen  Zweifel 
jene  Verträge,  die  Polybius  abschrieb  und  übersetzte  und  jene 
Formeln,  die  uns  bei  Livius  (I.  '24,  ?6,  32,  38)  in  der  ganzen 
poetischen  Fülle  eines  uralten  Rechtes  enthalten  sind.    Po- 
lybius 3,  22  ff.  1,  62  ff.  giebt  uns  vier  Verträge,  von  Brutus 
und  Horatius  bis  auf  Lutatius  Catulus,  nur  bei  dem  letzten 
wird  die  Bestätigung  durch  die  Comitien  erwähnt,  der  nächst 
vorhergehende  ward  bei  Mars  und  Qnirinus,  zur  Zeit  des 
Pyrrhus,  der  älteste  beim  Jupiter  Lapis  beschworen.    Dass 
nur  der  jüngste  von  der  Volksversammlung  bestätigt  wurde, 
konnte  darin  liegen,   dass  der  Consul  von  Rom  fern  war, 
während  die  früheren  wahrscheinlich  in  der  Stadt  selbst  nach 
vorhergegangenen  Debatten  zu  Stande  kamen.    Vergleichen 
wir  nun  aber,  wie  dem  auch  sei,  nyt  diesen  Actenstücken 
die  alten  Formeln  des  Livius:  „Foedera  alia  aliis  legibus,  ce- 
terum  eodem  modo  omnia  fluni.  Tum  ita  factum  aeeepimus, 
nee  ullius  vetustior  foederis  memoria  est.*'   Mit  diesen  merk* 
würdigen  Worten  leitet  er  die  Erzählung  des  foedus  zwischen 
Rom  und  Alba  ein.    Erstens  sind  ihm  die  leges  nicht  etwa 
Formeln,  die  wechseln  könnten,  sondern  er  kennt  nur  eine 
Schwurformel  für  ein  foedus,  die  er  9,  5  wiederholt.   Zweitens 
aber  ist  ihm  dies  foedus  hier  das  älteste,  das  er  kennt,  da  er 
doch  1, 13  das  zwischen  Romulus  und  Titus  Tatius  ausdrück- 
lich erwähnte.  Jener  alte  Schwur  beim  Jupiter  Lapis,  der  bis 
in  die  spätesten  Zeiten  Rom's  bekannt  und  bei  Privatvertra- 
gen gebraucht  war  (Plut.  Sulla  10.  Cic.  ad  f.  7,  12.  Gel).  1, 
21),  wurde  also  schon  nicht  mehr  gebraucht  zu  jener  Zeit, 
als  die  Geschichte  des  Tullus  Hostilius  so  niedergeschrieben 
wurde,  wie  Livius  sie  nacherzählt   Anderer  Seits  aber  wurde 
sie  so  verfasst,  bevor  der  spätere  Schwur  bei  Mars  und  Qui- 
rihus  aufkam,  jedenfalls  vor  Pyrrhus.    Darnach  also  sehen 
wir  in  der  ältesten  Schwurformel  der  römischen  Staatsver- 
trage den  Fluch  des  Bundesbruches  allein  auf  das  Haupt  des 
Fetialen  geladen,  der  da  sagte:  „dem  ehrlichen  Schwüre  möge 
es  gut  gehen;  so  ich  aber  anders  dächte  oder  tbäte,  mögen 
alle  übrigen  bleiben  in  ihrer  Heimatb,  ihrem  Gesetze,  bei  ih- 


der  römischen  Republik.  249 

rem  Gut,  Heerd  und  Grabesstätte  und  ich  allein  herausge- 
worfen werden,  wie  dieser  Stein  jetzt."  Diese  war  die  staats- 
rechtliche unter  dem  ersten  Consulate,  die  zweite  dagegen 
(Liv.  1,  24)  erwähnt  den  vorher  aufgezeichneten  Vertrag  und 
ruft  für  den  Fall  eines  Bundesbruches  die  Strafe  Jupiter's 
auf  den  gesammten  populus  Romanus,  den  er  so  treffen  möge, 
„wie  ich"  schwört  der  Fetial  „dieses  Schwein  hier  heute 
treffe."  Die  dritte  endlich  bei  Mars  und  Quirinus  können 
wir  sicher  nur  bis  Pyrrhus  citiren,  also  15  Jahre  vor  dem 
ersten  punischen  Kriege,  der  allein  durch  Volksbeschluss  be- 
gonnen, bei  dessen  Schlüsse  ausdrücklich  die  Genehmigung 
der  Volksversammlung  vorbehalten  wurde. 

Und  was  ergiebt  sich  nun  aus  dieser  Betrachtung  der 
einzig  sicheren  Urkunden?  Zunächst,  dass  die  Formel  der 
Verträge  sich  änderte  und  daher  diese  Form  nicht  ohne  Be- 
deutung für  die  Entwicklung  der  staatsrechtlichen  Begriffe 
war,  dass  darnach  vor  der  Zeit  des  Pyrrhus  der  populus  als 
der  verpflichtete  und  abschliessende  Theil  betrachtet  wurde, 
nicht  etwa  der  Magistrat.  Rubino  S.  274  ff.  betrachtet  da- 
gegen den  caudinischen  Frieden  als  den  Zeitpunkt,  von  dem 
an  die  Bestätigung  der  Gomitien  bei  jedem  Vertrage  not- 
wendig ward.  Sehen  wir  dagegen  von  diesem  einzelnen  Fa- 
ctum ab,  das  von  den  Alten  so  total  verschieden  erzählt  wird 
und  kehren  nochmals  zu  den  Formeln  bei  Livius  zurück,  de- 
ren eine  wir  bis  jetzt  nur  beachteten.  Es  sind  noch  zwei 
völkerrechtliche,  die  der  Kriegserklärung  S.  32,  die  der  De- 
dition  38,  endlich  als  dritte  die  der  provocatio  26.  In  der 
Kriegserklärung  wird  Jupiter,  Juno,  Quirinus  ausdrücklich  er- 
wähnt, eben  jener  Quirinus,  den  erst  die  späteren  foedera 
kennen,  derselbe,  den  Livius  8,  9  in  der  Todesweihe  des  De- 
cius  mit  verzeichnet  fan3,  während  anderer  Seits  die  Formel 
„patriae  compotem  me  nunquam  siris  esse"  32  lebhaft  an 
Pol.  3,  25  erinnert.  Alle  diese  Formeln  aber  zeigen  den  po- 
pulus Romanus  oder  Collatinus  oder  die  populi  priscorum 
Latinorum  als  den,  der  die  Fetialen  und  Gesandten,  ja  den 
König  zu  seiner  Vertretung  ordnet,  um  Krieg,  Uebergabe, 


250  leber  den  neuesten  Stand  der  Geschichte 

Oberhoheit  auszusprechen,  an  welchen  von  den  duumviris 
des  rex  die  Provocation  freisteht. 

Wir  haben  schon  vermuthet,  dass  der  erste  Verfasser 
dieser  Erzählung  die  Geschichte  des  ftomulus  so  unvollkom- 
men kannte,  dass  er  den  Vertrag  des  Titus  Tatius  nicht 
kannte  und  Livins  ihn  also  aus  einer  anderen  Quelle  nahm. 
Aus  der  Geschichte  der  Könige  nach  Numa  tritt  uns  nun 
aber  die  übereinstimmende  Fassung  jener  Staats*  und  völ- 
kerrechtlichen Formeln  um  so  schlagender  entgegen,  von  de* 
nen  die  einen  noch  den  alten  Schwur  bei  Jupiter  Lapis,  die 
anderen  schon  den  Quirinus  aufführen,  in  welchen  allen  aber 
der  populus  ohne  oder  über  den  majores  natu,  dem  senatus 
32,  der  rex  nur  als  Magistrat  des  Volkes  erscheint.  Wird 
durch  jene  verschiedenen  Gottheiten  eine  Periode  angedeutet, 
die  zwischen  der  Zeit  des  Pyrrhus  und  der  ältesten  Repu- 
blik lag,  so  erscheint  zugleich  in  dieser  Periode  die  Bedeu- 
tung des  populus  viel  ausgebildeter,  als  Rubino  sie  überhaupt 
für  das  frühere  römische  Staatsrecht  anerkennt. 

Worauf  aber  gründet  sich  diese  seifte  Ansicht?  Er  er- 
kennt S.  169  an,  dass  die  Befragung  des  Senates  in  diesen 
Formeln  gesetzlich  ausgesprochen  war,  aber  S.  170  tritt  ihm 
in  der  Formel  des  Vertrages  „der  monarchische  Grundge- 
danke der  römischen  Verfassung"  wieder  hervor,  und  er  sucht 
die  Bedeutung  der  widersprechenden  Formeln  S.  234  ff.  2U 

s 

schwächen  durch  Anführungen  aus  den  verschiedensten  Zei- 
ten der  Republik,  wo  denn  doch  gerade  die  „aus  den  demo- 
kratischen Zeiten  der  Republik"  S.  235,  4  beweisen,  dass 
der  populus  Romanus,  selbst  bei  Senatsbeschlüssen  mit  auf- 
geführt, eben  durch  diese  Formel  seine  Souveränität  anerkannt 
sehen  wollte,  wo  es  auch  zunächst  nicht  auf  seine  suffragia 
ankam.  Was  endlich  die  Provocation  betrifft,  so  geht  doch 
Livius  nicht,  wie  von  den  alten  Schriftstellern  S.  431  behaup- 
tet wird,  „von  der  Vorstellung  aus,  dass  unter  den  beiden 
ersten  Königen  noch  kein  Fall  der  Provocation  vorgekommen, 
dass  sie  vielmehr  eine  unter  Tullus  Hostilius  entstandene 
Neuerung  sei,"  sondern  er  erzählt  diesen  Process  so  einfach 
seinen  alten  Quellen  nach  wie  das  foedus  der  Albaner  und 


der  römischen  Republik.  281 

Römer,  als  das  „älteste"  von. dem  noch  eine  Erinnerung  übrig. 
Aber  Rubino  verirrt  sich  noch  weiter,  so  offenbar  hier  bei 
der  Provocation  des  Horatius  eine  alte,  gediegene  Relation 
auch  zu  Grunde  liegt,  so  offenbar  diese  den  Fall  nirgend  als 
den  ersten  hervorhebt,  er  halt  sich  doch  an  des  Dionys  Be- 
hauptung, sie  sei  die  erste  gewesen  ß.  447  und  schliesst  nun 
weiter,  war  sie  die  erste,  so  war  das  Gerichtsverfahren  frü- 
her und  überhaupt  unter  den  Königen  ein  anderes,  beim  rex 
und  seinem  consilium  die  höchste  Justiz.  Die  Beispiele  da- 
für sind  Liv.  1,  49,  Dion  2,  56,  wo  die  Historiker  den  Sturz 
des  Tarquinius,  die  Ermordung  des  Romulus  in  spater  prag- 
matisirender  Weise  zu  erklaren  versuchen.  Diese  Geschichts- 
klitterungen  und  Flickerejgn  einer  offenbar  spaten  Zeit  stellt 
Rubino  den  alten  poetischen  Formeln,  wie  sie  Livius  im  Wi- 
derspruche mit  sich  selbst  aber  feinen  Geistes  wiedergab, 
nicht  allein  gleich,  sondern  er  schlägt  mit  jener  Gelehrsam- 
keit des  Dionys  und  Livius  das  Bild  von  dem  alten  populus 
Romanus,  wie  es  in  jenen  Formeln  sich  selbst  überlebte,  nach 
Kräften  in  Trümrtier. 

Stellen  wir  das  Resultat  dieser  Betrachtung  noch  einmal 
kurz  zusammen.  Wir  hielten  uns  nur  an  die  Urkunden  bei 
Polybius,  an  die  wenigen  Formeln  bei  Livius.  Daraus  ergab 
sich  1)  die  ältesten  römischen  Staatsverträge  wurden  bei  Ju- 
piter Lapis  beschworen  und  die  Strafe  des  Bruches  nur  auf 
das  Haupt  des  Schwörenden  herabgerufen,  2)  dagegen  zur 
Zeit  des  Pyrrhus  bei  Mars  und  Quirin  und  kaum  35  Jahre 
darauf  nur  mit  Beistimmung  der  Comitien,  3)  aber  liegt  zwi- 
schen diesen  beiden  Zeiten  natürlich  die,  wo  zum  Theil  die 
Schwurformel  des  Jupiter  Lapis  noch  vorkommt,  Quirinus 
schon  bekannt,  für  das  foedus  aber  noch  nicht  angerufen  ist. 
Aus  dieser  Zeit  stammen  die  Formeln,  die  in  der  römischen 
Königsgeschichte  nach  Numa  bei  Livius  vorkommen.  Die 
Urquelle,  der  Livius  oder  sein  Gewährsmann  nacherzählte, , 
kannte  das  Sabinische  Bündniss  des  Romulus  nicht,  wie  ja 
auch  Demetrius,  der  Städtebelagerer,  die  Römer  nicht  als 
Trojaner,  sondern  als  Griechen  ansah.  Dieselbe  Quelle  er- 
zählte  die  Provocation  des  Horatius  nicht  als  den  Anfang, 


252  lieber  den  neuesten  Stand  der  Geschickte 

sondern  als  ein  glänzendes  Beispiel  der  Volksjustiz.  In  dieser 
alten  Ueberlieferung  nun  wird  der  populus  überall  als  der- 
jenige gezeigt,  der  Krieg  und  Frieden  scbliesst  und  bescbliesst, 
für  welchen  nur  der  König  die  Dedition  annimmt,  wie  die 
legati  sie  für  ihn  aussprechen.  Diese  selbst  in  der  veränder- 
ten Schwurformel  ausgesprochene  Bedeutung  des  populus  ist 
keine  etwa  dem  „Staatsprincipe"  widersprechende  Anmaas- 
sung,  sondern  ist  wirklich  gewesen,  sonst  wäre  der  Eid  nicht 
verändert,  und  ist  lebendig  gewesen  vor  den  Zeiten  des  Pyrrhus, 
in  der  Zeit  grösster  Krall  des  Staates. 

Dies  ist  für  uns  das  Ergebniss  aus  den  einzigen,  unum- 
stösslich  sicheren  Quellen,  wogegen  die  dürren  Aufzeichnun- 
gen der  ältesten  Annalisten,  die  ^ivius  ausschrieb  und  die 
breiten  pragmatischen  Ausfuhrungen  aus  Cicero's  und  Livius' 
Zeit  gleich  ohnmächtig  erscheinen.  Jenes  sind  die  Grundla- 
gen, von  denen  man  zu  diesen  binantreten  kann,  aber  nicht 
sollen  umgekehrt  mit  den  matten  Erklärungen,  Umschreibun- 
gen, Auslassungen  der  Späteren  diese  altehrwürdigen  For- 
meln, diese  Urkunden  umgangen  oder  verschoben  werden,  in 
denen  jeder  Buchstabe  von  Fetialen  und  Pontifices  verbärgt 
und  von  dem  Geiste  der  alten  Bepublik  dictirt  ist 

Wir  sehen  sehr  wohl,  dass  mit  diesem  ersten  Anfange 
die  Untersuchung  kaum  begonnen.  Denn  wenn  der  Cartha- 
gische  Vertrag  aus  dem  ersten  Jahre  der  Bepublik  nur  auf 
das  Haupt  des  Fetialen  beschworen  ward,  so  liegt  damit  die 
ganze  Königszeit  noch  dunkel  vor  uns.  Die  livianischen  For- 
meln können  dafür  nicht  angezogen  werden,  da  wir  sie  erst 
aus  den  besten  Zeiten  der  Bepublik  datiren  und  so  hätte  fiu- 
bino  am  Ende  in  seiner  Auffassung  des  Imperium  regium 
Becht.  Wir  haben  auch  darüber  nicht  mit  ihm  rechten,  son- 
dern nur  seine  Quellenbehandlung  beurtheilen  wollen.  Je- 
denfalls werden  wir  jetzt  noch  viel  weniger  daran  glauben* 
dass  sich  aus  den  staatsrechtlichen  Begriffen  Cicero 's  etwa 
die  der  Königszeit  darstellen  lassen,  nachdem  wir  gesehen; 
dass  zwischen  diesen  beiden  Perioden  die  Macht  des  populus 
in  staatsrechtlichen  Urkunden  so  stark  hervortritt,  wie  sie 
weder  Cicero  noch  Rubjno  anerkennt,  dass  also  jene  Souve- 


der  römischen  Republik.  253 

ränität  des  Volkes  nicht  aus  der  Zeit  der  Gracchen,  sondern 
noch  viel  früher  datirl.  Aber  einige  Bemerkungen  dürfen  wir 
uns  noch  erlauben,  in  Bezug  auf  die  Darstellung  des  Livius, 
von  der  wir  wiederholt  ausgingen.  Er  stellt  die  Auguren 
schon  als  vorhanden  dar,  ehe  Numa  nach  Rom  kommt  und 
weiss  Nichts  von  ihrer  Einsetzung  durch  diesen  oder  Romu- 
lus,  er  erzählt  nur  von  einem  Pontifex,  den  Numa  einsetzte 
1, 20,  und  auch  weiter  kennt  er  wahrend  der  Königszeit  nur 
einen  i9  32,  ja  wenn  auch  die  Auguren  früh  erscheinen,  so 
wird  die  grössere  Bedeutung  der  Auspicien  erst  von  Attus 
Navius  1,  36  datirt.  Erst  später,  4,  5  steht  in  der  Rede  des 
Canulejus,  die  Auguren  und  Pontifices  seien  von  König  Numa 
eingesetzt,  ein  Ausspruch,  der  also  in  zweierlei  Punkten  der 
früheren  Darstellung  widerspricht,  wenn  man  nicht  annimmt, 
dass  Livius  seinem  Sprecher  eine  rednerische  Unwahrheit  ab- 
sichtlich in  den  Mund  legte.  Jedenfalls  wird  es  unsere  höchste 
Beachtung  verdienen,  dass  in  dem  ersten  Buche  des  Livius 
das  Augurat  nicht  von  den  Königen  eingesetzt,  sondern  als 
uraltes  Institut  erscheint,  welches  durch  das  Wunder  des  At- 
tus zu  seinem  spateren  Ansehen  'gelangte.  Diese  Ansicht 
verdiente  um  so  mehr  Beachtung,  je  reiner  und  sorgfältiger 
offenbar  namentlich  die  Geschichte  der  letzten  fünf  Könige 
von  Livius  aus  alten  und  guten  Quellen  bearbeitet  ward.  Da 
es  nun  Rubino  darauf  ankommt,  das  Verhältniss  der  Magi- 
strate zu  den  Auguren  sich  klar  zu  machen  und  er  dies  zu- 
erst „geschichtlich"  versucht  S.  48,  so  kommt  es,  sollte  man 
denken,  darauf  an,  die  Darstellung  der  verschiedenen  Anna- 
listen möglichst  zu  sondern  und  zuzusehen,  welche  die  älte- 
ste. S.  60  A.  1  stellt  er  die  Relationen  des  Dionys,  Cicero 
und  Livips  über  die  Gründung  des  Gollegiums  zusammen. 
„Wahrscheinlich"  heisst  es  „wurde  die  Stiftung  des  Gollegi- 
ums schon  d  m  Numa  zugeschrieben.  Bestimmt  giebt  dieses 
Dionysius  an  2,  64,  er  sagt  aber  zu  viel  Falsches  über  die 
römischen  Priesterthümer,  als  dass  man  ihn  für  ein  treues 
Organ  ihrer  Ueberlieferungen  halten  könnte.  Indessen  scheint 
doch  auch  Cicero  dasselbe  anzudeuten  de  rep.  ?,  14."  Spa- 
ter aber  S.  60  beruht  die  Befugniss  der  Magistrate,  die  Au- 


254  lieber  den  neuesten  Stand  der  Geschichte 

spicien  auch  allein  zu  beobachten,  „schon  auf  dem  histori- 
schen Principe,  dass  die  Könige  —  anfangs  selbst  das  Au- 
gurat  besassen  und  daher  eine  von  ihnen  ausgegangene  Fun- 
ction noch  immer  so  bei  ihnen  zurückgeblieben  sein  mussle, 
dass  sie  dieselbe  in  gewissen  Fällen  allein  ausüben  konnten." 
Die  Function  war  von  ihnen  aber  ausgegangen,  nur  wenn  das 
collegium  der  augures  von  ihnen  gegründet  war,  nur  bei  die- 
ser Ansicht  erschienen  die  Auspicien  durch  das  erste  „augu- 
stum  augurium"  zuerst  dem  Romulus  und  von  ihm  allen  fol- 
genden Magistraten  verliehen  S.  82.  Darauf  aber  beruht  die 
ganz  eigenthümliche  Stellung,  die  der  Verf.  ihnen  dem  Volke 
und  Senate  gegenüber  zuschreibt. 

So  mögen  wir  denn  zuletzt  noch  die  verschiedenen  Re- 
lationen der  Alten  über  Numa  als  den  „wahrscheinlichen" 
Stifter  des  Augurats  vergleichen.  Beim  Anlange  seiner  Dar- 
stellung beruft  sich  Dionys  2,  61  auf  die  „einheimischen  For- 
schungen, Cicero  I.  I.  scbliesst  seine  Darstellung  mit  einer 
Berufung  auf  Polybius.  Beide  wie  auch  Livius  und  Plutarch 
kannten  die  Sage  von  seiner  Ausbildung  durch  Pythagoras, 
die,  wie  schon  Niebuhr  1,  244  sab,  im  Samniterkriege  schon 
bekannt  sein  musste.  Dass  er  die  flamines  des  Mars  und 
Quirinus  eingerührt,  konnte  nur  erzählt  werden,  seitdem  diese 
beiden  Götter  so  vereint  im  römischen  Cultus  erschienen  wie 
sich  dies  seit  dem  ersten  Gonsulate  bis  Pyrrhus  allmäblig  aus- 
bildete (s.  oben).  Dies  und  ausserdem  die  Einsetzung  der 
Salier,  Vestalinnen  wird  ihm  von  allen  vier  Schriftstellern 
nachgesagt,  die  Erbauung  des  Janustempels,  die  Einfuhrung 
(fes  Mondjahres  nur  von  Cicero  fibergangen.  Dagegen  stimmen 
Cicero,  Dionysius  und  Plutarch  dem  Livius  gegenüber  darin 
überein,  dass  sie  eine  Aeckervertheilung  des  Numa  kennen  (de 
rep.  1. 1.  Dionys.  2,  62.  Plut.  Numa  16),  dass  sie  ihm  nicht  die 
Ernennung  Eines  pontifex,  sondern  des  ganzen  Collegiums 
(Plut  9.  Dionys.  73)  und  endlich  entweder  die  Vergrösserung 
oder  Stiftung  des  Augurencollegiums  zuschreiben.  Und  wenn 
nun  ausserdem  die  der  Fetialen  und  fast  aller  Priesterthömer 
dem  Numa  zugeschrieben  wird,  lässt  Livius  i,  32  auch  an- 
dere Könige  noch  benachbarte  Culte  aufnehmen.    Tritt  nun 


der  römischen  Republik.  Q55 

hier  schon  sehr  klar  hervor,  wie  sich  der  Begriff  des  Numa 
als  Stifters  alles  römischen  Gottesdienstes  immer  breiter  ent- 
wickelte, so  ist  für  die  Geschichte  dieser  Ueberlieferungen 
höchst  interessant,  was  Dionys  1,  65  über  die  Einwürfe  mel- 
det, mit  denen  man  die  Gründung  des  Yestacultes  durch  Numa 
bestritt.     Wir  sahen,  dass  diese  offenbar  mit  zuerst  und  am 
ältesten  dem  Numa  zugeschrieben  wurde,  eben  so  früh  als 
Mars  und  Quirinus.     Erst  als  Quirinus  in  den  vergötterten 
Romulus,  den  Sohn  des  Mars  von  einer  Vestalin  umgedeutet 
war,  konnte  man  sich  wundern,  wie  er  diesen  seinen  genti- 
licischen  Cult  nicht  schon  vor  Numa  gegründet  haben  solle. 
Und  wenigstens  ebenso  spät  mochte  die  Behauptung  aufkom- 
men, dass  der  Gründer  der  Stadt  und  Gemeinde  auch  den 
Altar  der  Vesta  gegründet  haben  müsse.   Allerdings  sehen  wir 
aus  diesen  Widersprüchen,  dass  wenigstens  später  auf  die 
Darstellung  solcher  Angaben —  „welche  das  Wesen  der  Ver- 
fassungsinstitute bezeichneten,  besondere  Sorgfalt  gewendet 
wurde"  (Rubino  S.  108).    Vertraten  diese  Angaben  aber  die 
Stelle  von  „Principien  und  Fundamentalsätzen"  so  wird  man 
doch  bekennen  müssen,  dass  diese  Principien  erst  sehr  spät 
zur  Cebereinstimmung  gebracht  wurden.    Denn  überschauen 
wir  die  Sage  von  Numa  nur  kurz  von  den  letzten  Zeiten  der 
Republik  aufwärts.    Dionys  macht  darauf  aufmerksam,  dats 
der  Vestatempel  ausserhalb  der  Roma  quadrata  lag,  eine  Be- 
merkung, die  man  nicht  gemacht,  als  man  sich  über  Numa 
den  Gründer  des  Vestacultes  zu  verwundern  und  darüber  seine 
Zweifel  zu  äussern  anfing.   Diese  Zweifel  beruhten  eben  auf 
dem  ausgebildeten  Begriffe  eines  conditor  urbis,  als  des  Grün- 
ders zugleich  der  Staatsreligion  und  der  Staatsculte.    Dieser 
Begriff  —  den  Rubino  nach  allen  Seiten  hin  ausgebeutet  hat 
—  konnte  aber  damals  noch  nicht  lebendig  sein,  als  die  Grün- 
dung der  römischen  Gülte  auf  Numa,  den  zweiten  König 
gehäuft  wurde.     Dies  konnte  nur  aus  zwei  Absichten  ge- 
schehen, um  eine   thatenlose  Periode  des  ältesten   König- 
thums  auszufüllen,  zugleich  aber  um  den  verachteten  Prie- 
sterthümern  durch  den  Namen  eines  solchen  Gründers  eine 
neue  Weihe  zu  geben.    Der  keckste  Versuch  dieser  Art  war 


256  Ueber  den  neuesten  Stand  der  Geschichte 

• 

offenbar  jene  Auffindung  der  Leiche  und  Bücher  des  Kö- 
nigs Numa  (Liv.  40,  29),  wenige  Jahre  nach  Entdeckung  der 
Bacchanalien,  die  die  heimischen  Gülte  in  ihrem  alten  An- 
sehen  so  gewaltig  bedrohten.  Damals  wies  der  Senat  diese 
ganze  Mystification  zurück,  merkwürdig  genug  ohne  irgend 
die  priesterlichen  Autoritäten  zu  befragen.  Der  ganze  Vor- 
fall aber  zeigt  einerseits,  dass  der  Glaube  an  Numa  als  Grün- 
der der  römischen  Gülte  schon  lebendig,  andererseits,  dass 
seine  Institute  noch  nicht  so  bestimmt,  in  solcher  Ausdeh- 
nung bezeichnet  wurden,  als  man  später  annahm.  Sonst  hätte 
es  sehr  nahe  gelegen,  aus  den  Archiven  der  Priesterschaften 
die  ganze  Sache  als  Fälschung  zu  überführen.  So  mochte 
denn  in  den  nächst  vorhergehenden  Jahrhunderten  Numa,  der 
in  den  Samniterkriegen  vielleicht  zum  Schüler  des  Pytbago- 
ras  ward,  in  der  Gestalt  bekannt  und  gefeiert  sein,  wie  ihn 
Livius  darstellt,  nicht  Augur,  sondern  königlicher  Flamen  des 
Jupiter,  der  die  Vestalinnen,  die  Salier,  die  Flamines  des  Mars 
und  Quirinus  und  einen  Pontifex  einsetzte.  Die  Vermutbung 
liegt  nahe,  dass  diese  Priesterschaften,  als  die  Sage  in  dieser 
Form  entstand,  gerade  diejenigen  waren,  welche  noch  im  Be- 
sitze der  Patricier  geblieben,  nachdem  die  Wahl  der  Ponli- 
fices  und  Augurn  durch  die  lex  Ogulnia  auch  auf  die  Plebe- 
jer ausgedehnt  war.  Erst  später  wurde  ja  auch  die  Würde 
des  pontifex  maximus  ihnen  zugänglich.  Dass  er  den  Tem- 
pel des  Janus  gebaut  und  dieser  während  seiner  Zeit  immer 
geschlossen,  dieser  Zug  konnte  so  entschieden  nach  dem  er- 
sten punischen  Kriege  hinzukommen,  als  wirklich  zum  Zei- 
chen des  Friedens  er  zum  ersten  Male  verschlossen  ward. 

Und  so  könnten  wir'  mit  einiger  Gewissheit  die  Periode 
bezeichnen,  in  der  die  Sage  Vftn  Numa  sich  bildete,  wie  sie 
Livius  überliefert,  nämlich  die  Zeit  vom  Schlüsse  des  ersten 
punischen  Krieges  bis  zum  Anfange  des  zweiten  etwa,  da 
schon  540  (Liv.  25,  5)  die  Wahl  des  pontifex  maximus  er- 
wähnt Wird. 

Weiter  hinauf  wollen  und,  können  Wir  hier  die  histori- 
schen Ueberlieferungen  und  in  ihnen  zugleich  die  der  Staats- 
prineipien  nicht  verfolgen.    Wir  wollten  nur  nachzuweisen 


der  römischen  Republik  257 

versuchen,  dass  Rubino  sich  auf  jene  mythischen  Ueberliefe- 
rungen  nicht  in  der  Weise  berufen  durfte,  wie  er  es  in  sei- 
nem ganzen  Werke  thut,  da  1)  zwischen  den  Ueberlieferun- 
gen  des  Livius,  Dionys,  Cicero  u.  s>w.  wesentliche  Grundver- 
schiedenheiten sieb  zeigen,  2)  aber  diese  Grundverschieden- 
heiten, soweit  wir  sehen,  nicht  aus  der  Individualitat  jener 
Späteren  herstammen,  sondern  von  der  verschiedenen  Auf- 
fassung, die  in  den  auf  einander  folgenden  Perioden  der  Ge- 
schichtschreibung bei  den  Annalisten  ja  selbst  in  den  Urkun- 
den, also  im  Staatsrechte  selbst  über  die  höchsten  Principien 
walteten. 

•  Also  nicht  auf  der  Auflassung  des  Cassius  Hemina  oder 
Junius  Gracchanus  oder  Livius  oder  Cicero  als  einzelner  Par- 
teimänner beruhen  die  Widersprüche  über  jene  Staatsrecht- 
principien,  sondern  die  Zeit,  in  der  die  Sage  von  Numa  die 
Geschichte  des  Tullus  Hostilius  gefasst  wurde,  wie  sie  Livius 
und  seine  Quellen  erzählten,  war  dpreh  Jahrzehnte  und  Jahr- 
hunderte, aber  auch  durch  eine  andere  Grundansicht  des 
Staatsrechtes  durchaus  geschieden  von  der,  aus  welcher  etwa 
Dionys  seine  Darstellung  nahm. 

Diese  Meinung  liegt  neuerdings  in  der  einleitenden  Vor- 
lesung Niebuhr's  zu  seinen  römischen  Alterthümern  (Kleine 
Schriften.  2.  Sammlung  S.  13  ff.)  wiederum  ausgesprochen 
vor.  Er  ist  von  dieser  Ansicht  ausgegangen,  weil  er  von  ihr 
durchdrungen  und  von  Herzen  überzeugt  war.  Wir  gestehen 
sehr  gern  zu,  dass  die  Freiheit,  mit  der  Niebuhr  in  diesem 
Bewusstsein  die  Quellen  behandelte,  höchstens  nur  ihm  ver- 
ziehen werden  konnte,  aber  dagegen  muss  auch  von  jedem 
anderen,  der  nun  diese  Quellenbehandlung  und  ihre  Resul- 
tate anficht,  verlangt  werden,  dass  er  „das  erhöhte  Vertrauen 
auf  die  Quellen "  gleich  von  vorn  herein  etwas  vollständiger 
begründe,  als  dies  von  Rubino  von  S.  XII— XIV  geschehen 
konnte.  Die  Resultate  seines  Buches  sind  so  allgemein  an- 
erkannt und  willkommen  geheissen,  aber  uns  scheinen  sie 
doch  des  wahren  Grundes  zu  entbehren,  so  lange  der  Verf. 
nicht  den  Zeitpunkt  angiebt,  in  welchem  jene  Urprincipien 
entstanden,  aus  welchen  das  Zeitalter  Cicero's  die  Geschichte 


258  lieber  den  neuesten  Stand  der  Geschichte 

und  das  Recht  des  römischen  Staates  auffasste,  über  die  sie 
mit  den  frühesten  Zeiten  der  Republik  einverstanden  waren. 
Rubino*s  Untersuchung  wird  die  Geschichte  der  ganzen 
Verfassung  bis  zum  Höhepunkte  der  Republik  umfassen.  Wir 
haben  zu  zeigen  versucht,  dass  und  worin  das  ganze  Verfah- 
ren des  Verfs.  uns  mangelhaft  erscheine,  und  die  ununterbro- 
chene Continuität  staatsrechtlicher  Ueberlieferungen,  wie  er 
sie  annimmt,  geleugnet  Für  diese  Frage  nun  ist  neuerdings 
ein  überaus  schätzenswerther  Beitrag  geliefert  worden  in  der 
Schrift  von  Th.  Mommsen,  die  römischen  Tribus  in  admini- 
strativer Beziehung,  Altona  1844,  eine  durch  und  durch  scharf- 
sinnige Geschichte  der  Tribus  von  ihren  Anfangen  bis  zu  ih- 
ren letzten  Spuren  unter  den  Kaisern.  Hatte  Rubino  es  mit 
Begriffen  und  Principien  zu  thun,  so  gilt  es  hier  zunächst  die 
gleichsam  äusseren  Formen  der  römischen  Bürgerschaft  zu 
verfolgen  und  in  ihrer  Entwicklung  darzustellen.  Die  Entste- 
hung, Ausbildung  der  Tribus,  ihr  Zusammenhang  und  ihre 
Combination  mit  den  Centurien  zeigt  uns  die  Grundgliederung 
des  Staates  in  ihrer  Fortbildung;  handelt  es  sich  dfeeh  dabei 
nicht  um  die  Stimmen  der  Gomitien  allein,  sondern  auch  um 
die  Eintheilung  des  Heeres*und  um  den  Zusammenhang  zwi- 
schen Heer  und  Bürgerschaft  Die  Untersuchung  unseres 
Freundes  ist  über  dies  alles  so  scharf,  geht  so  rasch  und  ent- 
schieden auf  die  verschiedenen  Verhältnisse  ein,  ist  so  über- 
aus reich  an  Belehrung,  dass  es  schwer  sein  würde  den  In- 
halt des  dünnen  Buches  (232  S.)  in  irgend  genügender  Weise 
kurz  darzulegen.  Uns  scheinen  die  Hauptsätze  der  Untersu- 
chung folgende  zu  sein:  König  Servius. gründete  nur  4  Tri- 
bus, die  urbanae,  die  auch  das  erste  Stadtgebiet  Rom's  um- 
schlossen. Diese  vier  Tribus  standen  mit  dem  exercitus  ci- 
vilis und  militaris  im  engsten  Verhaltnisse.  Dieses  Verhältniss 
wurde  fortwährend  fest  gehalten,  auch  bei  der  Vermehrung 
der  Tribus  bis  zur  vollen  Zahl  von  35,  die  bedeutsam  genug 
mit  der  Quirina  schloss.  Nach  dieser  Schliessung  der  Tri- 
bus, vom  Jahre  513  bis  zum  Anfange  der  dritten  Decade  des 
Livius  muss  die  Reform  der  Tribus  erfolgt  sein,  denn  Liviüs 
würde  sie  nicht  übergangen  haben.   Sie  trifft  darnach  zusam- 


der  römischen  Republik.  269 

men  mit  der  Reduction  der  Gensussatze,  die  Böckh  zwischen 
510  und  513  nachgewiesen  hat.  Durch  sie  wurde  die  Ein- 
teilung in  seniores  und  juniores  nicht  für  die  Tribus  einge- 
führt, sondern  beibehalten,  aber  die  Eintheilung  in  die  5  Gas- 
sen der  Locupltites  und  in  die  3  der  proletarii  classiarii  und 
capite  censi  auf  jede  dieser  Halbtribus  übertragen.  Diese  Ein- 
theilung bestand  von  da  an  bis  in  die  späteste  Kaiserzeit,  wo 
die  Tribus  in  Rom  herabsanken  zu  einer  Armeneintheilung 
für  die  öffentlichen  Getreidespenden.  Für  die  Heerverfassung 
aber  hatten  die  Tribus  ältester  Zeit  schon  bestanden,  insofern 
jede  Tribus  für  jede  der  vier  Legionen  zu  4200  Mann  ein 
gleich  grosses  Gontingent  stellte,  ja  indem  jede  Centurie  aus 
jeder  Tribus  gleich  viel  Mannszahl  enthielt  Wie  denn  auch 
das  tributum,  eine  Staatsanleihe  bei  den  Familien  zur  Unter- 
haltung der  Feldlegionen,  nach  den  tribus  erhoben  wurde,  so 
dass  jede  tribus  Tür  ihr  Contingent  zugleich  dem  Aerar  die 
Verpflegungsgelder  vorschoss.  „Das  Princip  der  servianischen 
Verfassung  war  in  dem  Stimm-  und  Kriegsheer  jede  kleinste 
Abtheilung  aus  allen  Tribus  zusammenzusetzen,  woher  denn 
auch  die  Centurie,  die  Legion  und  das  Heer  aus  allen  Tri- 
bus zu  gleichen  Tribus  gebildet  waren.  Die  wichtigste  Aen- 
derung,  welche  die  reformirte  Verfassung  hierin  hervorrief, 
bestand  in  der  Differencirung  des  Stimm-  und  des  Kriegs- 
heeres" S.  143.  „Die  militärischen  Legionen,  welche  die  sechste 
Classe  ein-  und  die  civilen,'  die  dieselbe,  ausschlössen,  kön- 
nen sich  nicht  länger  entsprochen  haben"  S.  144.  Da  in  den 
5  Glassen  350  Tribuscenturien  enthalten  waren,  so  bestand 
das  ganze  Heer  aus  350  x  120 «  42000  Mann  oder  aus  10 
politischen  Legionen,  wie  sie  die  Römer  nicht  anders  kann- 
ten von  4200  Mann.  „An  der  Bildung  jeder  (Feld)  Legion 
nahmen  alle  Classencenturien  der  Jüngeren  =  175  nebst  den 
Genturien  der  Jüngeren  aus  der  sechsten  Ordnung  =  35  Theil, 
indem  jede  dieser  210  Centurien  20  Mann  stellte.  Wir  dür- 
fen" schliesst  der  Verf.  S.  146  „dies  Resultat  als  den  Prüf-« 
und  Schlussstein  unserer  ganzen  Untersuchung  bezeichnen/4 
Und  in  der  That  diese  Zahlencombinationen  sind  so  schla- 
gend, fügen  sich  so  überraschend  in  einander,  dass  man  das 


260  lieber  den  neuesten  Stand  der  Geschickte 

Vorurtheil  fallen  lassen  möchte,  was  man  jetzt  endlich  auf 
diesen  Gebieten  gerade  gegen  solche  Beweise  gefasst  haben 
könnte.  Wenn  aber  der  Verf.  fiir  dieses  beständig  fest  ge- 
haltene Yerhältniss  zwischen  der  Stimm-  und  Feldlegion  die 
Hauptkraft  seiner  Beweise  verwendete,  so  wird  auch  hier  der 
Punkt  sein,  wo  die  Haltbarkeit  seiner  Resultate  zunächst  ge- 
prüft werden  muss.  Sollte  hier  die  Continuität  dieser  Ver- 
hältnisse sich  nicht  als  unumstößlich  herausstellen,  so  litte 
die  ganze  Untersuchung  einen  Bruch  und  wir  dürften  auch 
hier  bei  unserer  Behauptung  bleiben,  dass  die  Principien  rö- 
mischer Staatsverfassung  keinesweges  so  zähe  fest  gehalten 
seien,  als  man  neuerdings  angenommen  bat  Sehen  wir  zu! 
„Das  römische  Heer"  heisst  es  S.  132  „wurde  aus  den 
Tribus  durch  Aushebung  einer  gleichen  Anzahl  Soldaten  aus 
jeder  gebildet"  Ob  dies  wirklieb  aus  Polyb.  6,  20  hervor« 
gehe,  ob  man  dort  ersehen  könne,  dass  die  tribus  wirklich 
jede  herangezogen  wurden,  bis  zd  nqo*$lfievov  nXjj&og  aus- 
gehoben war,  darüber  wollen  wir  uns  nicht  entscheiden.  In 
der  Stelle  selbst  scheint  uns  keine  Entscheidung  enthalten. 
„Was  hier  in  voller  Anschaulichkeit  hervortritt,  das  bestätigen 
andere  Stellen."  Die  Berichte  Varro's  über  die  Ronaulische, 
des  Dionys  über  die  Servianische  Legion  können  doch  hier 
kaum  als  Zeugnisse  gelten.  Aber  eine  besondere  Bestätigung 
soll  in  dem  Ausnahmefall  bei  Livius  liegen  4,  26,  wo  non  ex 
toto  passim  populo  ausgehoben  wird,  das  war  also  sonst  die 
Sitte,  sondern  man  10  tribus  erboste,  aus  welchen  die  ju- 
niores ausgehoben  und  in's  Feld  geführt  wurden.  Was  aus 
dieser  Ausnahme  für  die  vom  Verf.  aus  Polybius  angenonn 
mene  Begel  sich  ergebe,  ist  uns  nicht  klar.  Zudem  ist  das 
ex  toto  passim  populo  nach  dem  Sprachgebrauch  des  Livius 
sehr  schlecht  gewählt,  wenn  damit  eine  geordnet  gleichmäs- 
sige  Aushebung  bezeichnet  werden  sollte  (Kreyssig  lex  Liv. 
s.  v«),  am  allerwenigsten  geht  daraus  hervor,  dass  die  Aushe- 
bung nach  tribus  uralt  war,  wofür  noch  die  Geschichte  bei 
Val.  Max.  6,  3,  4  noch  „besonders  wichtig"  genannt  wird. 
Der  Fall  war  der,  dass  als  bei  einer  Aushebung  im  J.  479 
sich  Niemand  stellte,  der  Consul  Gurius  „conjeetis  in  softem 


der  römischen  Republik.  261 

omnibus  tribubus  Polliae,  quae  primum  exierat,  primüm  rio- 
meh  citari  jussit"  und  als  der  Aufgerufene  nicht  zugegen  war, 
also  nicht  antwortete  ihn,  und  sein  Gut  öffentlich  versteigerte. 
Dies  nun  allerdings  ist  ja  wirklich  ein  Ausnahmefall  und  das 
Verfahren  des  Gonsuls  wird  als  ein  ausserordentliches  be- 
zeichnet.   Der  Epitomator  des  Livius  14  fand  dieselbe  Ge- 
schichte und  notirte  „Curius  Dentatus  —  eius,  qui  citatus 
non  responderat,  bona  primus  vendidit."  Diese  Strafe  konnte 
ja  aber  nur  bei  der  Voraussetzung  statt  finden,  dass  alle  Bür- 
ger bei  der  Aushebung  zugegen,  um  auf  den  Aufruf  zu  ant-* 
Worten.     Diese  Vorstellung  ward  ausgesprochen   durch  die 
Ausloosung  aus  allen  Tribus  und  so  scheint  uns  der  natür- 
lichste Schluss  aus  der  angeführten  Stelle,  dass  vor  Dentatus 
gewöhnlich  der  delectus  ex  toto  passim  populo  ohne  Berück- 
sichtigung der  einzelnen  tribus  statt  fand,  dass  dann  das  Bei- 
spiel von   der  Ausloosung  jener  10  tribus,  und  endlich  das 
des  Dentatus,  der  alle  Tribus  von  vorn  herein  zur  Loosung 
zog,  die  spätere  Sitte  verbreitete,  nach  welcher  regelmässig 
die  tribus  durch's  Loos  zum  delectus  aufgerufen  wurden.   Und 
dass  nun  diese  Ausloosung  aus  allen  tribus,  wo  nach  der 
Entscheidung  des  Looses  jede  Weigerung  ungesetzlich  war/) 
dass  die  förmlich  ausgesprochene  Anziehung  aller  tribus  frü- 
her nicht  statt  fand,  das  schliessen  wir  schon  deshalb,  weil 
bei  dieser  Art  der  Aushebung  ihre  Verhinderung,  wie  sie  in 
den  ersten  Zeiten  der  Bepublik  so  oft  von  den  Tribunen  ge- 
braucht wurde,  undenkbar  wäre.    Warum  hören  wir  in  Zei- 
ten, wo  die  Erloosung  bestand  und  das  Volk  die  langen  Kriege, 
wie  den  spanischen,  verwünschte;  wo  die  Tribunen  unauf- 
hörlich Senat  und  Consuln  bekämpften,  nie  von  einem  de- 
lectus impeditus?   Weil  die  Consuln,   sagt  Polybius  6,  12, 
7teql  nokifiov  xccTccGxevijg  Gxsiov  ccvtöxqcctoqcc  Ttjv  i^ovolav 
fyovöiv.    Aber  diese  besassen  sie  früher  auch,  während  da- 

*)  Liv.  epit,  55:  tribuni  pl.  quia  non  impetrarent,  ut  sibi  denos, 
quos  vellent  milites  eximere  liceret  etc.  Eine  eigentliche  Verwei- 
gerung des  delectus  war  bei  dieser  Form  der  Aushebung  nicht 
möglich,  daher  die  lolUten  vacationes  ausgedacht  und  vorgebracht 
wurden.    Pol.  34,  4. 

Zeitschrift  f.  tiescbicLtsvr.  jy#  1845,  18 


26?  Veber  den  neuesten  Stand  der  Geschichte 

mals  die  iribonicia  potestas  noch  nicht  so  gewaltig  war,  wie 
später.  Seit  der  Erloosung  bei  der  Aushebung  war  offenbar 
die  suffragii  latio  in  den  Comitien  der  nominis  datio  vor  den 
Kriegstribunen  ganz  analog.  In  den  Comitien  war  eine  Wei- 
gerung der  suffragia  unerhört  und  unmöglich,  doch  hatten  die 
Tribunen  die  intercessio,  die  Magistrate  das  jus  avocandi,  die 
aber  beide  beim  delectus  wegfielen,  sobald  hier  durch  die 
Entscheidung  des  Looses  die  tribus  gleichsam  zum  Dienst  der 
Republik  aufgerufen  waren,  wie  in  den  Comitien,  aber  von 
dem  höchsten  imperium,  Tor  dem  kein  anderes  Stand  hielt 
und  keine  Intercession  galt  Diese  konnte  nur  gelten,  auch 
bei  dem  delectus,  wie  es  der  Fall  war  in  früheren  Zeiten, 
wenn  die  sortitio  nach  tribus  und  dadurch  der  förmliche  Auf- 
ruf nicht  statt  fand,  wenn  e  toto  passim  populo  die  Aushe- 
bung erfolgte,  also  kein  Tribul  als  solcher  verpflichtet  war, 
zur  Stelle  zu  sein  und  jeder  einzelne  daher  das  auxiiium  des 
Tribunen  anrufen  konnte,  wie  ja  der  Schutz  des  Tribunen 
für  den  Einzelnen  das  Aeltere  und  ihre  amtliche  Stellung  ta 
den  Gesammttribus  das  Spätere  war.  Gegen  diesen  tribuni- 
cischen  Schutz  führte  Curius  Dentatus  die  sortitio  tribuum 
auch  für  den  delectus  und  die  Subhastation  für  denjenigen  ein, 
der  ohne  vacatio  non  respondit!  Wäre  die  sortitio  schon  vor 
ihm  Sitte  gewesen,  so  hätte  er  nicht,  als  bei  dem  gewöhnlichen 
Verfahren  Niemand  sich  stellte,  darnach  erst  sie  vorzuneh- 
men brauchen. 

Wir  sind  über  diese  Stelle  ausführlicher  gewesen,  weil 
wir  auf  sie  um  so  mehr  Gewicht  legen  mussten,  je  weniger 
neben  ihnen  Varro  und  Dionys  mit  ihren  Darstellungen  der 
ältesten  Zeiten  Beachtung  verdienen.  Dass  diese  unsere  Er- 
klärung Mommsen's  scharfsinniger  Zablencombination  gegen- 
über vielen  ohne  Gewicht  scheinen  kann-,  wissen  wir  wohl. 
Zeigte  er  ja  doch ,  dass  Livius  selbst  oder  seine  Quellen  sich 
dieses  älteren  Zusammenbanges  bewusst  waren.  Freilich  beisst 
es  ja  i,  43:  neque  eae  tribus  ad  centuriarum  distributionem 
oumerumque  quicquam  pertinuere.  Gewiss  ein  starker  Aus- 
druck und  verwunderlich  in  dieser  Entschiedenheit,  wenn  der 
Historiker  dennoch  aus  der  wachsenden  Zahl  der  Tribus  im- 


der  römischen  Republik.  $63 

mcr  diejenigen  Zahlen  bestimmt  bezeichnete,  die  in  den  al- 
ten Centurienbestand  aufgingen,  so  dass  nicht  allein  das  Heer, 
sondern  jede  einzelne  Legion,  ja  jede  einzelne  Centime  bus 
jeder  Tribus  gleich  viel  Stimmen  und  Soldaten  enthielt  S. 
139  ff.  Wenn  also  wirklich  „die  Centuriatverfassung  dag 
Resultat  der  Tribusverfassung,  die  Centurien  das  aus  den  Tri» 
bus  gebildete  Heer  ist,"  so  sind  jene  einfachen  Worte  des 
Livius  uns  wenigstens  total  unerklärlich.  Der  Verf.  interpre- 
tirt  freilich  die  Stelle  S.  41,  indem  er  Livius'  Gedankengang 
sich  so  vorstellt:  „Servius  machte  193  Centurien,  eine  Zahl 
die  zu  den  35  Tribus  nicht  stimmt,  wie  es  die  spätere  Gen- 
turienzahl  thut  Allein  damals  gab  es  einmal  keine  35  Tri« 
bus,  sondern  nur  vier  und  auch  diese  hatten  mit  den  193 
Centurien  kein  Verhältnis»."  Freilich  nicht  mit  den  193,  aber 
wohl  mit  den  170  und  dies  Verhältniss  kannte  Livius,  nach 
dem  Verf.  so  gut»  dass  er  eben  erzählte,  wie  Servius  nur  4 
Tribus  machte,  diese  später  auf  einmal  auf  20  gesetzt  wur- 
den (Liv.  20, 21  emendirt  der  Verf.  Romae  tribus  factae  S.  8), 
wie  dann  25»  und  darnach  erst  wieder  35  Tribus  als  tribuum 
numerus  expletus*)  d.  h.  geschlossene  Tribuszahl  betrachtet 
wurde,  weil  nur  bei  diesen  Zahlen  die  Tribuscontingente  ganz 
gleich  in  die  Legionen  aufgingen. 

Was  zuerst  jene  4  Tribus  betrifft,  so  kommt  die  Stelle 
des  Dionyft  4,  14  ff.  besonders  in  Betracht,  da  wir  hier  die 
Darstellung  älterer  Historiker  vorliegen  haben  und  mit  den 
späteren  vergleichen  können.  Die  Behauptungen  der  ver- 
schiedenen Historiker  scheinen  mir  diese  zu  sein!  1)  Fabius 
erzählte  c*  15  von  der  Gründung  von  26  ländlichen  Phyleri 
durch  Servius  und,  indem  er  die  4  schon  erwähnten  Stadt** 
theile  hinzuzählt,  nannte  er  diese  als  die  30  römischen  Phy- 
len.  Dass  Fabius  die  tribus  urbanae  nicht  von  Servius  bil- 
den Hess,  geht  aus  dem  Gegensatze  hervor,  wenn  2)  Gato  alle 

diese  Phyton**},  also  städtische  und  ländliche  unter  Servius 

~ ■*-** —-  —■  —    - 

•)  Liv.  6,  5  epit.  6   1,  43. 

**)  Das  tovtoüv  rag  ndaug  ist  dem  TQidxovra  tpvXdg  äfitpoxi- 
Qtop  ganz  entsprechend,  und  ich  möchte  deshalb  nicht  mit  Momm- 
sen  S.  5  das  äfiportQwv  nach  *ot;zw  stellen. 

18* 


1 


2f>4  Veber  den  neuesten  Stand  der  Geschichte 

entstehen  Hess,  ohne  ihre  Zahl  bestimmt  anzugeben,  3}  Ven- 
nonius  folgte  der  Meinung,  dass  sie  alle  unter  Servius  entstan- 
den, dachte  aber  dabei  schon  an  die  35  späteren.  Wir  können 
wenigstens  aus  der  Stelle  wie  sie  selbst  nach  den  Emendatio- 
nen  Niebuhr's  und  Mommscn's  vorliegt,  keinen  anderen  Sinn 
entnehmen,  am  allerwenigsten  aber  das  daraus  schliessen,  dass 
die  Darstellung  der  pagi  von  Gato  entlehnt  sei,  eine  ebenso 
'  kühne  Hypothese,  als  die,  dass  Fabius  unter  seinen  26  tribus 
doch  nur  pagi  dachte,  warum?  Weil  Varro  „der  von  einer 
Eintheilung  des  Landes  in  26  regiones  spricht,  also  obgleich 
er  dieselbe  Notiz,  wie  Fabius  mittbeilt,  doch  das  Wort  tri- 
bus vermeidet,  weil  er  von  den  ländlichen  Districten  allein, 
nicht  wie  Fabius  von  diesen  und  den  städtischen  zusammen 
spricht."  Aber,  wir  müssen  dies  wiederholen,  Fabius  sagte 
nach  Dionys,  dass  Servius  das  Land  in  26  Phylen  theilte  und 
nannte  dann,  die  4  städtischen  hinzufügend,  alle  die  30  Phy- 
len d.  h.  Tribus.  Dass  also  Servius  nur  die  4  städtischen 
tribus  eingerichtet  liegt  nicht  darin,  während  Gato  ausdrück- 
lich die  Phyleneintheilung  von  Stadt  und  Land  von  ihm  da- 
tirte  ohne  bestimmte  Zahl.  Der  Jrrthum  des  Vennonius  konnte 
aus  der  unbestimmten  Angabe  Cato's  entspringen,  er  verdient 
aber  in  sofern  Beachtung,  da  auch  bei  ihm  vorauszusetzen 
ist,  dass  Servius  nicht  nur  als  der  Gründer  der  tribus  urba- 
nae,  sondern  auch  der  rusticae  betrachtet  ward.    So  scheint 

denn  doch  aus  den  Stellen  bei  Livius,  Aurelius  Victor,  der  aus 

» 

einer  Ackervertheilung  eine  Getreidespende  macht,  und  Dionys 
sich  eben  nicht  „die  einstimmige  Tradition  der  Alten"  con- 
statiren  zu  lassen,  „dass  Servius  nur  vier  Tribus  gemacht 
hat."    S.  4. 

Die  weitere  Entwicklung  der  Tribuszahlen  wollen  wir 
hier  lieber  unerörtert  lassen,  da  es  für  den  Hauptzweck  die- 
ser ganzen  Betrachtung  förderlicher  sein  wird,  gerade  die 
Nachrichten  von  den  Einrichtungen  des  Königs  Servius  etwas 
weiter  zu  verfolgen.  Dass  Tribus  bei  dem  delectus  auch 
schon  während  der. Servianischen  Verfassung  die  Grundlage 
gebildet,  musste  uns  höchst  zweifelhaft  erscheinen.  Durch 
diesen  Zweifel  wird  aber  der  Zusammenhang  der  ganzen  Un- 


der  römischen  Republik.  265 

(ersuchung  erschüttert.  Die  beiden  grossen  Perioden  in  der 
Geschichte  der  Tribus  vor  und  nach  der  Reform  würden  durch 
ihn  den  vom  Verf.  gesetzten  Schlussstein  verlieren.  Für  die 
früheren  konnten  wir  den  Widerspruch  zwischen  Liv.  1,  43 
am  Ende  und  der  übrigen  Darstellung  des  Historikers,  wie 
der  Verf.  sie  ihm  zuschreibt,  nicht  recht  verstehen,  endlich 
aber  mussten  wir  uns  gegen  eine  einstimmige  Tradition  von 
4  Tribus  des  Servius  erklären. 

Auf  diese  Verfassung  des  Servius  kommt  nun  der  Verf. 
wiederholt  zurück,  um  so  mehr,  da  nach  ihm  die  Classen- 
eintheilung  auch  für  die  Gomitien  immer  beibehalten  wurde. 

ßöckh  hat  neuerdings  die  römische  Geschichte  durch  die 
Entdeckung  vielfach  aufgeklärt,  dass  der  Uncialfuss  bis  in  die 
letzten  Zeiten  des  ersten  punischen  Krieges  bestand  und  mit 
der  damals  erfolgten  Reduction  die  Erhöhung  der  Gensus- 
sätze im  engsten  Zusammenhange  stand.  Dabei  eben  hat  er 
darauf  schon  aufmerksam  gemacht,  dass  Livius  und  Dionys 
wahrscheinlich  dieselbe  Quelle  benutzten,  wie  sie  denn  in 
der  einleitenden  Betrachtung  und  den  Sätzen  der  ersten  Glasse 
wesentlich  übereinstimmen.  Dass  sie  dennoch  in  manchem 
Detail  divergiren,  wie  in  der  Vertheilung  der  centuriae  fabrum 
et  tibicinum,  im  Gensus  der  untersten  Glasse,  ist  eben  nur 
so  zu  erklären,  dass  jene  gemeinsame  Quelle  ihnen  für  die 
Darstellung  nicht  genug  Detail  bot  und  sie  die  Ergänzungen 
späteren  Darstellungen  entnahmen.  Ich  sage  späteren,  weil 
der  Gensus  der  fünften  Glasse  bei  Dionys  4,  17  offenbar  in 
einer  Periode  verzeichnet  wurde,  in  welcher  der  Gensus  ge- 
stiegen und  auch  die  prima  classis  von  der  ersten  Erhöhung 
auf  110000  zu  125000  gestiegen  war,  denen  für  die  fünfte  Glasse 
12500  des  Dionys  entsprechen,  wie  die  11 000  des  Livius  den 
110000  des  Plinius. 

Fassen  wir  diese  Bemerkungen  zusammen,  so  ergiebt 
sich  1)  dass  die  Quellen  über  die  ursprüngliche  Servianiscbe 
Verfassung,  aus  der  unsere  Kunde  geschöpft  wird,  nicht  über 
die  letzten  Jahre  des  zweiten  punischen  Krieges  zurückreich- 
ten, 2).  dass  die  älteste,  aus  der  Dionys  und  Livius  den  An- 
fang ihrer  Darstellung  nahmen,  nur  100000  As  als  Gensus 


866  lieber  den  neuesten  Stand  der  Getchichte 

erster  Classe  kannte,  also  Polybius  gleichzeitig  sein  konnte, 
3)  dass  zur  Ergänzung  dieser  Darstellung  eine  spätere  aus- 
führlichere von  JLivius,  eine  noch  spätere  von  Dionys  benotet 
wurde«  Jene  unsere  älteste  Quelle  theilte  höchstens  die  Glas- 
sensätze  bis  zur  vierten  Classe  mit,  sie  schwieg  über  die  Ver- 
keilung der  centuriae  fabrum  etc,  denn  über  dies  und  die 
fünfte  Classe  differiren  die  beiden  Späteren.  Sie  war  aber 
Fabius  und  Cato  ungefähr  gleichzeitig  und  wie  bei  jenen  die 
Nachrichten  von  der  Tribuseintbeilung  schwankten  und  nur 
die  der  ländlichen  Tribus  entschieden  dem  König  Servius  zu- 
fiel, so  blieb  sie  ebenso  nur  bei  den  grossen  Zügen  der  Gas- 
seneintheilung  stehen.  Die  Späteren  blieben  ebenso  beschränkt 
in  ihrer  Kenntniss,  indem  sie  immer  des  gegenwärtigen  Ccn- 
sussatz  König  Servius  zuschrieben,  anderer  Seits  aber  wurde 
Sinn  und  Bedeutung  der  Verfassung  vielfach  gedeutelt  Bei 
Liviua  ist  es  die  Prärogative  der  ersten  Classe»  worauf  das 
Ganze  beruht;  „war  die  Entscheidung  in  der  ersten  Classe 
unentschieden,  so  brachten  die  Stimmen  der  zweiten  sie,  sel- 
ten kam's  bis  zur  letzten."  Eben  dass  nicht  viritim  promi- 
scue  sondern  nach  gradus  gestimmt  ward,  ist  ihm  das  Beden* 
tende.  Man  sieht  leicht,  dass  hier  einfach  die  alte  Bedeutung 
der  praerogativa  dem  Schriftsteller  noch  lebendig  war.  Dio- 
nys ist  nicht  allein  breiter,  seine  Vorstellung  ist  auch  we- 
sentlich schon  verschieden.  „Die  Reichen"  sagt  er  4,  i9  ft» 
„waren  an  Zahl  geringer  als  die  Aermeren,  aber  in  mehr  Cen- 
timen vertheilt,  wurden  sie  zum  Kriegsdienst  häufiger  enge** 
zogen  und  deshalb  mit  der  absoluten  Majorität  der  Centurien 
begabt"  Von  diesem  Uebergewichte  der  Minorität  übet  die 
Majorität  ist  bei  LTvius  nicht  die  Rede,  während  es  bei  Ci- 
cero endlich  ekelhaft  übertrieben  wird,  wenn  es  heisst  ^illa- 
rum  sex  et  nonaginta  centuriarum  in  una  centuria  tu»  qut- 
dem  plures  censebantur,  quam  paene  in  prima  classe  tota" 
de  rep.  2,  22.  Mit  dieser  Veränderung  der  alten  Giundan- 
sicht,  mit  der  Ausbildung  neuer  hing  aber  natürlich  auch  die 
Darstellung  der  Verfassung  zusammen.  Livius  oder  seine 
Quelle  vielmehr,  der  das  Gewicht  der  Servianisehen  Verfas- 
sung in  der  praesogatnra  lag,  stellt  die  grosse  Majorität  der 


der  römischen  Republik.  267 

Kittercf nturien ,  der  ersten  Classe  und  der  beiden  centuriae 
fabrum  einfach  den  übrigen  90  oder  mit  der  letzten  91  Cen- 
timen gegenüber.     Dionys,  der  sich  die  der  ersten  Classe 
schon  viel  schwächer  dachte,  verschiebt  diese  Ordnung  und 
stellt  den  90  der  Bitter  und  ersten  Classe  95  der  übrigen 
entgegen,  so  dass  in  nur  drei  überzähligen  das  Princip  der 
absoluten  Majorität  desto  schlagender  hervortritt.  Bei  Cicero 
endlich  finden  wir  die  Centurien  erster  Classe  so  unverhält- 
nissmassig  klein,  dass  er  selbst  oder  seine  Quelle  ihr  Ueber- 
gewicht  schon  gross  genug  glaubte,  wenn  sie  sich  nur  auf 
70  beliefen  und  sie  mit  einer  der  fabri  und  den  Rittercentu- 
rien  nur  noch  8  der  zweiten  Classe  zu  absoluter  Majorität 
brauchten.  Bei  aller  Yerderbtbeit  der  berühmten  Stelle  scheint 
uns  diese  Betrachtung  der  Quellen  die  nächstliegende  Erklä- 
rung zu  bieten.   Man  bat  so  viel  über  die  Widersprüche  die- 
ser verschiedenen  Darstellungen   gestritten   und   vennuthet, 
dass  schon  darin  der  Beweis  liegt,   sie   seien  unvereinbar. 
Aber  liegen  ihre  Unterschiede  und  die  Veränderung  einer  er- 
sten Ueberlieferung  so  klar  vor  Tür  die  Classen,  so  scbliessen 
wir  daraus,  dass  1)  die  Classensätze  für  die  Abstimmung  nicht 
mehr  bestehen  konnten  zu  einer  Zeit,  wo  das  Verhältniss 
derselben  von  den  Schriftstellern  so  übersehen  und  verkannt 
wurde,  dass  namentlich  aber,  so  lange  man  in  der  Serviani- 
schen  Verlassung  das  Recht  der  praerogativa  als  Schwerpunkt 
ansah,  wie  eben  die  Quellen  des  Livius,  durch  die  Uebertra- 
gupg  der  Classeneintheilung  auf  die  Tribus  am  alten  Princip 
gar  Nichts  geändert  worden  wäre,  2}  aber  und  für  die  vor- 
liegende Untersuchung  ist  es  das  Wichtigere,  dass  bei  diesem 
Schwanken  der  Quellen  über  die  Classen,  die  Nachrichten 
über  die  Servianischen  oder  späteren  Proletarier  mit  gleicher 
Behutsamkeit  zu  behandeln  sind.     „Der  höchst  auflallende 
Umstand44  sagt  Jtfommsen  am  Schlüsse  einer  höchst  scharfsin- 
nigen Erörterung  S.  116  ff.  „dass  unsere  Berichterstatter  über 
die  Servianische  Volkseinlheilung  die  zwischen  11000  und  1500 
As  Geschätzten  ganz  vergessen  erklärt  sich  nur  sehr  einfach 
aus  der  von  Böckh  unwiderleglich  nachgewiesenen  Vermi- 
schung früherer  und  späterer  Verbältnisse  in  ihren  Angaben. 


208  lieber  den  neuesten  Stand  der  Geschichte 

Die  fiinfüasscn  und  die  Proletarier  sind  servianiscb;  wie  auf 
jene  Fälschlich  die  neuen  Gensussatze  übertrug  man  auf  diese, 
die  nach  Servius  gar  keinen  Gensus  hatten,  noch  verkehrter 
theils  den  damaligen  Proletariercensus,  theils  die  neue  Nor- 
mirung  der  Immunitat,  wobei  denn  freilich  die  letzten  Legio- 
narier und  die  Flottensoldaten  ganz  ausfielen."*)  Allerdings 
jene  erste  Quelle,  die  Livius  und  Dionys  gemeinsame,  schwieg 
gewiss  von  den  Proletariern  wie  von  der  fünften  Glasse.  Li- 
vius fand  über  sie  nur,  dass  aus  der  Menge  unter  dem  letz- 
ten Gensus  Eine  Genturie  gebildet  sei,  frei  vom  Kriegsdienst, 
Dionys  weiss  schon,  dass  diese  Eine  zahlreicher  war  als  alle 
übrigen  zusammen  1,  18.  Cicero,  wie  er  die  erste  Glasse  auf 
70  Genturien  beschränkte,  drängt  die  proletarii  unter  1500 
As  hinunter  und  erhält  dadurch  zwischen  diesen  beiden  als 
den  eigentlichen  stimmfähigen  Mittelstand  die  -ganze  Bürger- 
schaft von  1500  As  bis  zum  Gensus  erster  Glasse,  die  in  101 
Genturien  scheinbar  die  Majorität  hatte.  Es  fragt  sich,  wo- 
her er  diesen  Satz  für  die  Proletarier  hatte?  Polybius  rechnet 
die  Dienstpflichtigkeit  bis  4000  As,  die  Aermeren  in  die  Ma- 
rinerollen, Gicero  rechnet  alle  Proletarier  von  1500  As  bis  zu 
gar  keinem  Gensus,  Gellius  die  Proletarier  unter  1500,  die 
capite  censi  unter  375  As.  Daraus  bildet  der  Verf.  die  oben 
erwähnten  Glassen  (s.  A.)  der  letzten  Legionarier  (11000  bis 
4000),  Flottensoldaten  (4000—1500),  Proletarier  (1500—375). 
Diese  Glassen  entstanden  mit  der  Genturienreform  und  fan- 
den sich  wie  die  5  Glassen  in  jeder  Halbtribus.  Aus  dieser 
Eintheilung  nahm  Polybius  seine  Bemerkung  für  die  Militär- 
verfassung, aber  hieraus  auch  Gicero  die  Proletarier  des  Ser- 
vius Tullius. 

Die  Verwirrung  einer  solchen  Quellenbenutsung  wie. sie 
hier  dem  Gicero  Schuld  gegeben  wird,  ist  so  heillos,  dass 
dies  gewiss  eine  ganz  andere  „ Sudelei "  gewesen,  als  wenn 
Livius  die  Verfassungsreform  überging.    Aber  mit  der  Qucl- 

*)  Der  Verf.  findet  unterhalb  der  fünften  Classe  nach  der  spä- 
teren Verfassung  noch  folgende  3  Censussätze:  letzte  Legionarier 
—  4000,  Classiarier  —  1500,  Proletarier,  frei  vou  ordentlichem 
Dienst  —  375  A$. 


der  römischen  Republik.  269 

lenbehandlung,  wie  sie  hier,  wie  sie  bei  Rubino  sich  findet, 
stürzt  man  immer  aus  einer  Verlegenheit  in  die  andere  und 
beschuldigt  Cicero  der  elendesten  Faselei  um  nicht  Livius  der 
Vergesslichkeit  zu  zeihen. 

Wie  aber  entstanden  denn  diese  Darstellungen  des  Ser- 
vianischen Gensus?  Wir  müssen  uns  zum  Schlüsse  kurz  fassen. 

Wie  gesagt,  die  ältesten  uns  kaum  sichtbaren  Quellen 
waren  sehr  kurz,  sie  sprachen  von  den  5  Classen,  doch  ohne 
deren  untere  Grenze  anzugeben.  War  die  spätere  Genturiat- 
verfassung,  wie  Niebuhr  sie  annimmt,  entstand  sie  zu  der 
Zeit,  wo  er  sie  vermuthete,  so  war  1)  die  Classeneintheilung 
am  Ende  des  ersten  punischen  Krieges  schon  so  lange  aus 
den  Comitien  verschwunden,  dass  es  trotz  ihres  Bestehens 
in  den  Censuslisten  nicht  eben  leicht  war,  sich  das  Bild  der 
alten  Verfassung  zurückzurufen.  Die  Bürger  zerfielen  in  die 
prima  et  secunda  classis,  die  tribus  ruslicae  et  urbanae  und  alle 
Bürger  bis  4000  As  waren  kriegspflichtig  und  stimmberech- 
tigt 2)  aber  im  letzten  Jahrhunderte  der  Bepublik  wurden 
die  capite  censi  wie  früher  zum  Seedienst,  auch  zum  Land- 
dienst angezogen.  Dadurch  sank  die  Kriegspflichtigkeit  auf 
1500  As,  während  von  den  Gensoren  die  Gensussätze  ge- 
steigert wurden  bis  zu  125000  As  für  die  erste  Glasse.  In 
den  Volksversammlungen  endlich  verlor  die  pracrogativa  immer 
mehr  an  Bedeutung  und  es  kam  auf  die  Kopfzahl  der  Stim- 
menden an.  Und  so  kam  es  denn  3)  dass  jetzt,  wo  man  sich 
in  ausführlicher  Darstellung  der  Urzeiten  immer  mehr  gefiel, 
diese  durchaus  sich  veränderte.  Gicero  oder  seine  Quelle 
mochte  den  besten  Willen  haben,  die  Verfassung  des  Servius 
treu  darzustellen,  aber  es  fehlte  an  sicheren  Urkunden.  So 
entstand  seine  wundersame  Darstellung.  Das  Volk  des  Ser- 
vius zerfiel  ihm  in  eine  kleine,  gar  dünne  Schaar'von  Rei- 
chen, in  die  grosse  Masse  des  Mittelstandes  und  die  ganz  Ar- 
men. Dies  Verhältniss  entsprach  wesentlich  dem  seiner  Zeit, 
wo  die  wenigen  Optimaten  mit  Pompejus  unterlagen,  der 
wohlhabende  Mittelstand  dem  Gäsar  geduldig  entgegen  ging 
und  Rom's  arme  Bevölkerung  nur  verächtlich  war.  Konnte 
er  sich  auf  Quellen  verlasset),  die  die  Censussätze  ihrer  Zeit 


270  Heber  den  neuesten  Stand  der  Geschichte 

auf  Senrius  übertrugen?  Er  entwarf  sich  folgendes  Bild.  Wie 
jetzt  die  ganze  Bürgerschaft  stimmten  damals  die  Optimaten 
in  70  Centarien,  dazu  die  18  der  Ritter,  die  übrigen  102  um- 
schlossen die  grosse  Masse  der  jetzigen  stimmfähigen  Bür- 
gerschaft. 

War  aber  eine  solche  Darstellung  nicht  eben  so  leicht- 
sinnig wie  jene,  die  ihm  Mommsen  zuschreibt?  Der  grosse 
Unterschied  zwischen  beiden  scheint  uns  der  zu  sein,  dass 
hier  nicht  eine  althergebrachte  Darstellung,  die  schon  von 
vorn  herein  liisstrauen  verdiente,  durch  berübergenomraene 
Stücke  aus  der  gegenwärtigen  Verfassung  nachlässig  ausge- 
bessert ward,  sondern  dass  man  aus  der  sicheren  Ueberceu- 
gung,  die  Gründer  des  Staates  seien  echte  und  wahre  Opti- 
maten gewesen,  in  ihnen  die  optimatischen  Principien  voa 
vorn  herein  vermuthete  und  sie  in  ihren  Werken  nach  Heber- 
zeugung  auffand.  Jene  Kritik  der  Quellen,  wie  die  heutige 
Geschichtsforschung  sie  fordert,  war  den  Alten  unbekannt 
und  Cicero,  ohne  ihre  Leitung,  stellte  hier  seine  Vorstellung 
vom  optimatischen  Staate  des  Senrius  ebenso  bin,  wie  etwa 
bei  Mouimsen's  Untersuchung  der  Gedanke  zu  Grunde  liegt, 
dass  der  Servianische  Census  sich  auf  Grundbesitz  gründete 
oder  wie  Rubino  von  einem  gleich  vorausgesetzten  Staate- 
princip  ausgeht 

Mit  dieser  Vergleichung  glauben  wir  den  beiden  For- 
schern nicht  zu  nahe  zu  treten.  Ihre  Untersuchungen  sind 
überaus  reich  an  Belehrung  im  Einzelnen,  die  bei  fkubmo's 
Werk  nicht  mehr  hervorgehoben  zu  werden  braucht.  In 
Mommsen's  Buch  ist  namentlich  unter  vielen  anderen  die  Er- 
örterung über  Sold  und  Tributum  hervorzuheben.  Bei  einer 
blossen  Anzeige  und  Beurtheitung  würde  es  unsere  Pflicht 
gewesen  sein,  auch  diese  Einzelnbeiten  genau  zu  verzeichnen, 
so  wie  ebenfalls  der  weiteren  Untersuchung  zu  folgen  und 
die  wichtigen  Inschriften  vor  allen,  nach  welchen  Hommsen 
die  Geschichte  der  Tribus  bis  in  die  spateste  Kaiserzeit  ver- 
folgt, xu  beurtheilen,  Da  es  aber  nur  darauf  abgesehen  war, 
den   allgemeinen  Stand  römischer  Gescbichtschreibung  und 


der  römischen  Republik.  271 

die  jetzige  Lage  der  Qucllenfrage  vorzulegen,  glauben  wir 
hier  abbrechen  zu  können. 

Unser  Resultat  ist  dies,  dass  man  der  Niebuhr'schen 
Grundansicbt  gegenüber  vor  allen  die  Geschichte  unserer 
Quellen  neu  und  von  Grund  aus  erörtern  müsse,  und  dass 
erst  nach  Vollendung  dieser  bis  jetzt  nicht  geleisteten  Arbeit 
die  grossen  und  jetzt  noch  festen  Grundlagen,  wie  Niebuhr 
sie  aufgerichtet,  umgestossen  werden  können.  Der  Anblick 
des  bisherigen  Kampfes  zwischen  jenen  festen  Anschauungen 
eines  philologisch  und  politisch  gleich  hoch  gebildeten  Gei- 
stes und  den  durch  und  durch  gelehrten  Erörterungen  juri- 
stischen und  philologischen  Scharfsinnes  ist  erfreulich,  denn 
er  zeugt  vom  Leben,  aber  hoffnungslos,  so  lange  man  jene 
Vermittlung  bei  Seite  lässt  Hoffentlich  wird  dies  Gefühl  bei 
Vielen  lebendig  sein  und  der  Unterzeichnete,  wenn  er  es  un- 
umwunden aussprach,  von  ihnen  verstanden  werden.  Möchte 
denn  diese  Aufgabe,  für  welche  auf  dem  Gebiete  deutscher 
Geschichte  so  Viele  wirken,  auch  auf  dem  der  römischen  bald 
den  Mann  finden,  der  ihr  ganz  gewachsen  wäre.  — 

KieL 

K.  W.  Nitzsch. 


Allgemeine  Uteraturbericlitc. 


Deutschland  und  die  Schweiz. 

Klippel:  Historische  Forschungen  und  Darstellungen,  Erster  Band. 
Auch  unter  dem  Titel:  Johann  Friedrich  Falcke  und  das  Chronicon  Cor- 
bejense.     Bremen  4  843. 

Nachdem  die  von  Stenzel  zuerst  angeregte  Skepsis  gegen  das 
Wedekindsche  Chronicon  Corbcjense  sich  bis  zur  ganzlichen  Ver- 
werfung desselben  in  den  Schriften  von  Hirsch  und  Waitz, 
Schaumann,  Wigand*)  entwickelt  hat,  unternimmt  Herr  Klip- 
pel den  Nachweis  vollkommener  Echtheit  mit  solcher  Sicherheit, 
dass  er  sich  zur  Hoffnung  berechtigt  glaubt,  dem  Chronicon  einen 
Platz  in  den  Monumentis  Germaniae  historicis  vorbereitet  zu  haben« 

Hirsch  und  Waitz,  deren  Arbeit  unseres  Bedünkens  unter  allen 
die  Streitfrage  verhandelnden  überhaupt  die  tüchtigste  und  gründ- 
lichste ist,  haben  auch  in  dem  ersten  Capitel  ihres  Buchs  den 
todllichslen  Streich  gegen  das  Chronicon  geführt.  Ohne  diesen 
würde  fast  alles  Andere,  das  man  wider  dasselbe  vorgebracht, 
zwar  immer  im  Stande  sein,  Zweifel  und  Bedenken  zu  erregen, 
für  sich  aber  keines  weges,  die  Lüge  bis  zur  Evidenz  aufzu- 
decken. Es  kann  uns  demuach  hier  nicht  an  einer  Prüfung  des 
von  Klippel  gegen  die  allgemeinern  und  nur  aggravirend  hinzu- 
kommenden Bemerkungen  sehr  umständlich  geführten  Gegenbewei- 
ses gelegen  sein,  sondern  vornehmlich  daran,  ob  es  ihm,  wie 
er  sich  das  Ansehn  giebt,  gelungen  sei,  jenen  Hauptangriff  zu 
entkräften. 

Dieser  gestaltet  sich  in  kurzer  Andeutung  folgender  Art:  Das 
vier  Jahrhunderte  berührende  Chronicon  bietet  sich  überall  durch 
Berufung  auf  mündliche  und  briefliche,  den  Ereignissen  wie  dem 
Schreiber  gleichzeitige,  Nachrichten  als  Originalquelle.  Durchweg 
ist  aber  nicht  blos  an  Inhalt,  sondern  auch  an  Worten,  Redensar- 
ten und  Wendungen  die  auffallendste  (in  der  Abhandlung  nachge- 
wiesene) Uebereinslimmung  des  Chronicons  mit  den  andern,  unbe- 
strittenen echten  Quellen  dieser  vier  Jahrhunderte  zu  erkennen: 
mit  der  Translatio  S.  Viti,  der  Vita  S.  Adalhardi,  den  Annales  Ein- 
hardi,  (den  Annales  Fuldenses),  der  Vita  S.  Anskarit,  Vita  S.  Rim- 
berti,  dem  Adamus  Bremensis,    Widukind,   Thielmar,  Lamberlus 


*)  Die  Corveyschen  GcSchichtsquellen.  Ein  Nachtrag  zur  kritischen 
Prüfung  des  Chron.  Corbejeuse.  Herausg.  von  Dr.  Paul  Wigand.  Leipzig, 
Brockhaus,  4  841. 


Allgemeine  Literaturberichte.  273 

Aschaffenburgensis,  AnnalLsta  Saxo,  zu  denen  Referent  übrigens  noch 
Helniold  treten  hissen  kann.1)  Jede  der  genannten  Quellen  hat 
ihre  besondern  Parallelstellen  in  dem  Chronicon,  so  dass,  wenn 
ihnen  eine  Benutzung  des  Letztern  supponirt  wird,  eine  jede  von 
ihnen  gerade  diejenigen  Theile  desselben  aufgenommen  haben 
müsste,  dereu  alle  übrigen  sich  enthalten.  Dazu  kommt,  dass  diese 
gleichlautenden  Stellen  nicht  immer  nur  hintereinander  im  Chro- 
nicon anzutreffen  sind,  sondern  z.  B.  unter  622  so  durcheinander 
gemischt  und  verflochten,  dass  die  hierbei  in  Betracht  kommen- 
de Translalio  S.  Viti  und  die  Vita  S.  Adalhardi  einen  förmlich 
chemischen  Process  mit  ihm  hatten  vornehmen  müssen,  damit  nur 
jede  einen  eigenen,  von  der  andern  unberührt  gelassenen  Stoff 
sich  zueignen  konnte.  Das  nämliche  Verhaltniss  zum  Chronicon 
haben  die  Annales  Fuldenses  und  die  Annales  Einhardi,  wobei 
aber  noch  der  merkwürdige  Umstand  auflallt,  dass,  da  von  den 
Ann.  Fuid.  die  Ann.  Einh.  benutzt  sind,  auch  die  Abweichungen 
der  Ersleren  von  den  Letzteren  in  ihm  sich  wiederfinden.  Hier- 
hin gehört  noch  die  Stellung  Widukinds  zur  Chronik,  in  welcher 
sich  unter  932  und  933  eine  von  Keinem  in  Abrede  gestellte 
Nachbildung  Julius  Caesar 's  vorfindet,  während  bei  Widuk.  alle 
casarianisclicn  Reminiscenzen  vermieden  sind.  —  Als  höchst  wich- 
tig ist  ferner  hervorzuheben,  dass  mehrere  der  genannten  Quel- 
len gerade  da,  wo  eine  Parallelität  mit  dem  Chron.  vorliegt,  sich 
auf  andere  Berichte  berufen;  ausserdem  einige  von  ihnen  (wie 
die  Vit.  S.  Ansk.  u.  Widuk.)  doch  trotz  ihrer  Uebereinstimmung 
derartige  Abweichungen  enthalten,  dass  diese,  eine  Benutzung  des 
Chron  icons  vorausgesetzt,  als  offenbare  Entstellungen  erschei- 
nen müssten;  endlich  aber,  dass  alle  insgesammt  in  dem  Bestre- 
ben hätten  Eins  gewesen  sein  müssen,  die  aus  der  Chronik  em- 
pfangenen Stellen  mit  Beibehaltung  einzelner  Wörter,  und  Redens- 
arten, auf  dieselbe  Weise  umzugestalten. 

Wer  fühlt  sich  nach  alle  dem  nicht  gedrungen,  statt  einer  Zu- 
lassung dieser  ganzen  Reihe  von  ün Wahrscheinlichkeiten ,  ja  Un- 
möglichkeiten, dem  Chronicon  eine  absichtliche,  von  Einem  Ver- 
fasser nach  Einem  Plane  vollbrachte  Fälschung  zuzuerkennen? 
Man  muss  vielmehr  gestehen,  das  Chronicon  befinde  sich  der  Menge 
der  übrigen  glaubwürdigen  Quellen  gegenüber  in  der  Lage  jenes 
Wahnsinnigen,  der  seine  ganze  Umgebung  derselben  Geisteszer- 
rüttung beschuldigt,  die  sie  ihm  zum  Vorwurf  macht. 

Nichtsdestoweniger  wird  das  Chronicon  von  Herrn  Klippel  in 
Schutz  genommen.    Er  theilt  mit  den  grössten  Geistern  das  Schick- 


')  Vergl.  meine   Geschichte    des  deutschen  Reiches  unter 
Conrad  dem  Dritten.  S.  2SW.  38. 


274  Allgemeine  Literaturberickte. 

s&l,  eingewurzelten  und  allgemein  anerkannten  Üeberzeugungen 
auf  überraschende  Weise  entgegenzutreten  and  wirft  in  einem 
entscheidenden  Satz  ein  bis  dato  für  untrüglich  gehaltenes  Haupt- 
kriterium nahen  Zusammenhanges  scheinbar  verschiedener  Auf- 
zeichnungen total  zu  Boden.  Der  fulminante  Ausspruch  lautet  (&. 
76):  „Es  wird  nicht  leicht  jemand  zugestehen,  dass  die  Ueberein- 
stimmung  einzelner  Worte,  oder  selbst  ganzer  Sätze  genüge, 
um  daraus  mit  Sicherheit  den  Schluss  zu  ziehen,  dass  Eins  aus 
dem  Andern  abgeschrieben  sei.  Solche  Uebereinstimmung  ist  ent- 
weder zufällig,  oder  rührt  von  der  so  zu  sagen  stehend  ge- 
wordenen Ausdrucksweise  in  den  Klöstern  her." 

Zur  Begründung  seiner  neuen  Wahrheit  bringt  Herr  Klippel 
aus  einer  langen  Reihe  von  schlagenden  Beispielen,  „die  er  an- 
führen könnte'4,  mit  vieler  Selbstgenügsamkeit  eins  der  hervor« 
ragendsten  bei.  Auf  fast  vier  Seiten  lässt  er  die  von  Pertz  aus 
dem  Original  roitgetheilte  Brille  Papst  Nicolaus  des  I.  über  die 
Stiftung  des  Klosters  Rameslo  vom  1.  Juni  864  neben  mehreren 
Stücken  aus  der  nach  dem  3.  Febr.  865  von  Rimbert  geschrie* 
benen  Vit  S.  Anskarii  abdrucken.  Die  Uebereinstimmung  ist  in 
der  That  handgreiflich,  oft  zu  6  bis  7  Reiben  vollständig  Wort 
für  Wort. 

Ein  arges  Dilemma  y  in  das  uns  Herr  Klippel  versetzen  will, 
entweder  der  von  Pertz  als  original  ausgegebenen  Urkunde  die 
Originalität  abzusprechen,  oder  Rtmberts  Selbstständigkeit  zu  ne- 
giren.  Schade  nur,  dass  wir  uns  weder  2U  dem  einen  noch  zn 
dem  andern  Schlüsse  genötfaigt  finden.  Da  nämlich  die  Urkunde 
auf  Betrieb  des  heiligen  Ansgars  ausgefertigt  ist,  so  möchte  es 
doch  wohl  das  Natürlichste  sein,  dass  der  darin  enthaltenen 
Erzählung  mehrerer  seiner  Lebensbegegnisse  ein  Bericht  aus  Ans- 
gars Umgebung  zu  Grunde  gelegen.  Wober  sollte  man  denn 
sonst  in  Rom  so  specielle  Kennlniss  davon  gehabt  nahen?  und 
wenn  nun  Rimbert  selbst  entweder  am  päpstlichen  Hofe  gewe- 
sen ist,  oder  auch  nur  jenen  Bericht  verfasst  hat?  —  Das  scheint 
uns  die  leichte  Lösung  des  gewichtvollen  Knotens,  bei  der  die 
Urkunde  ihre  Originalität  und  Rimbert  seine  Selbstständigkeit  be- 
hält ungeachtet  des  engen  Verhältnisses  beider»  Denn  zur  ent* 
gegengesetzten  Folgerung,  dass  zwei  von  einander  unabhängige 
Berichterstatter  in  langen  Perioden  *)  wörtlich  mit  einander  übet* 
einstimmen  können,  ohne  dass  Einer  den  Andern  benutzt  und  ab 


')  Z.  B.  in  Folgendem  (s.  p.  78):  Sed  impellentibns  paganis  et  civl- 
tate  jam  obsessa,  cum  eis  resisti  non  posse  conspexit,  quomodo  pignora 
sanctaram  retiqniaram  asportarentur  praeparavit;  sicqae  ipseeterids  suis 
nuc  Ulucque  fuga  dispersis  etiara  sine  cappa^la  v«  evasit. 


Allgemeine  Liier&turberichU.  275 

geschrieben  habe,  wird  uns  Herr  Klippel  wahrlich  nicht  einmal 
anter  der  Voraussetzung  einer  chinesischen  Erziehung  der  Schrei- 
ber bewegen  können« 

Nach  Beleuchtung  dieses  schlagenden  Beispiels,  aus  dem 
Herr  Klippel  das  Fundameutalargument  seiner  Kritik  der  gegne- 
rischen Meinungen  fliessen  Jässt,  wird  man  es  uns  hoffentlich  gern 
erlassen,  seinen  weiteren  Ausführungen  zu  folgen,  und  die  Be- 
hauptung für  nicht  allzugewagt  ausgeben,  dass  der  Pfad,  den  er 
dem  Chronicon  Corbejense  in  die  Möhumenta  Germaniae  historica 
geebnet  haben  will,  doch  immer  noch  etwas  steil  und  unsicher 
geblieben  ist,  — 

In  Kürze  mag  noch  erwiiluit  werden,  dass  der  Verfasser  ge- 
mäss der  vertbeidigteu  Echtheit  des  Cbronicons  naturlich  weder 
Falcke  noch  Pauliini,  auf  welchen  Letztem  Wigand  bekanntlich 
einen  grossen  Verdacht  hingelenkt  hat,  als  trügerischen  Compilator 
gelten  lassen  kann.  Falckes  Rechtfertigung  findet  vielmehr  fast  auf 
jeder  Seite  des  Buches  einen  Platz.  Ist  es  aber  nicht  über- 
raschend und  ergötzlich,  wenn  gerade  der  Anwalt  die  überzeu« 
gendsten  Beweise  gegen  seinen  Client en  sich  entschlüpfen  lasst? 
Und  so  lesen  wir  auf  Seile  249  des  Klippeischen  Buches  in  einem 
beigebrachten  Briefe  Harenbergs  folgende  Stelle :  „Der  berühmte 
£.  L,  Storch  hatte  mit  dem  sei.  Falken  im  Briefwechsel  gestanden 
and  diesem  einen  ziemlichen  Vorrath  abgeschriebener  Urkunden 
zugesendet,  nahm  es  jedoch  nachher  diesem  sehr  übe),  dass  die- 
ser darinnen  nach  Gutdünken  verschiedenes  geändert 
hatte.  Herr  Storch  beschwerte  sieb  bei  mir  in  einem  Briefe  von 
1757,  4teo  März,  dass  in  dem  Falkeschen  Werke  S.  746  die  Origi- 
ginalworte  in  pago  Nieherses  in  die  Worte  Ithergo  und  S.  747 
die  Originalworte  in  pago  Arpesfeld  in  die  Worte  in  pago 
Aike^feld  verkehrt  würden."  Ph,  Jaffe. 

Kaiser  Friedrich  II.  Ein  Beitrag  zur  Berichtigung  der  Ansichten  Über 
den  Sturz  der  Honenstaufen,  Mit  Benutzung  handschriftlicher  Quellen  der 
Bibliotheken  zu  Rom,  Paris,  Wien  und  München,  verfasst  von  Dr.  Constan- 
tin  Höfler,  ordentlichem  öffentlichen  Professor  der  Geschichte  an  der  Lud- 
wig-Maximilians-Universität, ordentlichem  Mitglied  der  Königl.  Akademie  der 
Wissenschaften  etc.   München,  Verl.  der  literarisch-artistischen  Anstalt,  4844. 

Das  hier  zur  Besprechung  vorliegende  Buch  *)  bietet  2  war  eine 
Seite  dar,  die  man  mit  Dank  anerkennen  muss.  Es  ist  nämlich 
dem  Verf.  durch  mühevolle  Anstrengungen  und  in  Folge  seiner 
mannfchfaKigen  Verbindungen  möglich  geworden,  mancherlei  bis- 
her unbeachtet  oder  ganz  unbekannt  Gebliebenes  aus  handschrift- 
lichen Nachrichten,  wie  auch  der  Titel  besagt,  beizubringen.  Was 
jedoch  die  andere  Seite  betrifft,  die  Art  und  Weise,  wie  der  ge- 


*)  Wir  gedenken  auf  dasselbe  noch  einmal  zurückzukommen.       Red. 


276  Allgemeine  Literaturberichte 

gebene  Stoff  aufgefasst  und  behandelt  worden,  so  durfte  in  die* 
ser  Beziehung  kaum  eine  Beistimmung,  am  wenigsten  von  Seiten 
der  Gelehrten  Norddeutschlands,  zu  erwarten  sein.  Mit  grosser 
Bestimmtheit  spricht  sich  im  ganzen  Werk  die  auch  schon  in  der 
Vorrede  (S.  VIII.)  angedeutete  Ansicht  aus,  dass  wenigstens  dem 
Begriffe  des  Mittelalters  gemäss  alle  Gewalt,  wenn  sie  rechtlich  sein 
sollte,  eine  gegebene  sei.  Ohne  das  hierdurch  gesetzte  Princtp 
anfechten  zu  wollen,  wird  man  doch  bei  dem  Durchlesen  des 
vorliegenden  Buches  unwillkührlich  auf  die  Bemerkung  geführt, 
dass  es  wünschenswerth  gewesen  wäre,  Herr  Höfler  hätte  sieh 
bestimmter  und  schärfer  in  kurzen  Worten  darüber  äussern  mö-. 
gen,  ob  es  seine  Ansicht  sei,  dass  dem  allgemein  herrschenden 
Begriffe  der  Zeit,  dereu  Geschichte  er  behandelt,  gemäss  alle  Ueber- 
tragung  der  von  Gott  abgeleiteten  weltlichen  Gewalt  rechtlich  nur 
durch  den  Papst  habe  geschehen  können,  als  den  Statthalter  Got- 
tes auf  Erden,  der  im  Verhäitniss  zu  den  Fürsten,  oder  wenig- 
stens zu  dem  Kaiser  als  Oberlehnsherr  geachtet  worden  wäre. 
Gerade  diese  Frage  ist  es,  die  innerlieh  dem  Principe  und  ausser- 
lieh  dem  positiven  Rechte  nach  vor  Allem  zu  behandeln  ist,  ehe 
man  an  die  Betrachtung  des  grossen  Kampfes  geht,  der  im  Mit- 
telalter zwischen  geistlicher  und  weltlicher  Macht  geführt  ward. 
Der  Kampf  selbst  ward  um  die  Lösung  des  Priocips,  auf  die  die 
Frage  sich  bezieht,  geführt.  Kein  deutscher  König  und  römischer 
Kaiser  hat  jemals  geleugnet,  dass  seine  Gewalt  eine  ihm  von  Gott 
verliehene  sei  und  dass  er  über  die  Ausübung  dieser  Gewalt  vor 
Gott  Rechenschaft  abzulegen  verpflichtet  sei.  In  Rücksicht  auf  die 
Frage  bei  dem  Kampfe  der  weltlichen  mit  der  geistlichen  Macht 
im  Mittelalter,  kam  es  der  Hauptsache  nach  auf  die  Entscheidung 
darüber  an,  ob  den  Päpsten  .kraft  der  ihnen  von  Gott  verliehenen 
Machtvollkommenheit  das  Recht  zustehe,  das  weltliche  Schwert 
als  solches  zu  übertragen  und  dem  rechtmässig  erwählten  deut- 
schen Könige  die  Anerkennung  zu  versagen  und  die  Debergabe 
der  römischen  Kaiserkrone  zu  verweigern.  Die  Päpste  haben  dies 
vielfach  behaupten  wollen;  es  ist  ihnen  aber  niemals  gelungen, 
ihr  Princip  in  dieser  Rücksicht  zu  allgemeiner  Anerkennung  auch 
nur  in  dem  Bewusstsein  eines  einzelnen  Zeitalters  zu  brin- 
gen. Von  positivem  Rechte  oder  von  dem,  was  in  dieser  Rück- 
sicht dem  Rechtsbegriffe  der  damaligen  Zeit  gemäss  gewesen  wäre, 
kann  daher  auch  für  den  Zweck  der  Rechtfertigung  der  Päpste  die 
Rede  nicht  sein. 

Kirchliche  und  politische  Verhältnisse  hatten  sich  zur  Zeit  der 
Herrschaft  der  Kaiser  aus  dem  Herzoglich  Fränkischen  Hause  ver- 
wirrt. Um  in  diese/  Verwirrung  Ordnung  herzustellen,  war  das 
Calixlinische  Concordat  nach  Principien  abgeschlossen,  die  den 


Allgemeine   Literaturberichte.  277 

übertriebenen  Forderungen  der  Päpste  keinesweges  Vorschub  lei* 
steten,  denen  zufolge  jedoch  die  Verhältnisse  der  Kirche  zum  Reich 
in  einer  dem  herrschenden  Rechtsbewusstsein  der  damaligen  Zeit 
im  Allgemeinen  wenigstens  entsprechenden  Weise  festgestellt  wa- 
ren. Hätten  die  Päpste  die  Linie,  die  ihnen  durch  das  Calixtinische 
Concordat  vorgezeichnet  war,  verfolgt,  so  würden  sie  in  ihrem 
Rechte  geblieben  sein.  Nach  den  Principien  ober,  nach  welchen 
es  abgeschlossen  ward,  gebührte  es  ihnen  nicht  über  das  welt- 
liche Schwert  zu  verfügen.  Sie  wollte^  jedoch  einmal  in  den  Mit- 
telpunkt aller  Macht  und  Gewalt  auf  Erden  treten,  und  eben  die- 
sem ihrem  übermüthigen  Streben  entgegenzuwirken,  erschien  zum 
Heil  der  Menschheit  das  Geschlecht  der  Hobenstaufen.  Zwar  meint 
Herr  Höfler:  „Es  kann  darüber  kein  Zweifel  mehr  obwalten,  die 
Herrschaft  der  Hohenstaufen  war  ursprünglich  eine  Parteiherrschaft, 
selbst  mehr  durch  Hinterlist  und  die  Befriedigung  eigennütziger 
Interessen,  als  durch  einen  glänzenden  Sieg  begründet,  der  das 
Haupt  der  Weifen,  Heinrich  den  Stolzen  von  Bayern,  zu  Boden 
warf  (S.  1.).  —  Unter  den  Zeitgenossen  Friedrichs  I.  gab  es  je- 
doch, wie  Herr  H.  selbst  (S.  3.)  zugiebt,  mächtige  Kirchenfürsten, 
die  die  Rechte  des  deutschen  Königlhums,  an  welches  unwider- 
sprechlich  damals  das  römische  Kaiserthum  geknüpft  war,  aner- 
kannten und  zu  vertheidigeh  wusslen.,  Mit  Bedauern  muss  Herr 
H.  (S.  3.)  es  gestehen,  dass  der  Erzbischof  von  Mailand  auf  den 
Roncalischen  Feldern  erklärt  habe,  dass  des  Kaisers  Wille  Gesetz 
sei,  und  es  hatten  auch  schon  früher  die  deutschen  Bischöfe  bei 
der  ersten  Controverse  Friedrichs  I.  mit  Papst  Adrian  den  Aus- 
spruch gethan,  die  Krone  ihres  Reichs  sei  nur  einer  göttlichen 
Woblthat  zuzuschreiben.  Es  erhellt  doch  aus  diesem  von  dem 
Verf.  selbst  Beigebrachten  ganz  bestimmt,  dass  nicht  alle  Zeitge- 
nossen der  Hohenstaufen  und  besonders  weder  alle  Geistliche  noch 
die  deutsche  Geistlichkeit  der  Ansicht  gewesen  wären,  dass  dem 
Papste  die  Verwaltung  der  welllichen  Angelegenheiten  und  die  Ver- 
fügung über  den  Besitz  des  weltlichen  Schwertes  dem  in  der  Zeit 
herrschenden  Rechtsbewusstsein  nach  gebührt  hätten.  Gewiss  auch 
sind  so  wenig,  wie  alle  Genossen  der  heutigen  Zeit  es  sein  wer- 
den, alle  Genossen  der  damaligen  der  Meinung  gewesen,  dass  der 
Verlust  von  Jerusalem,  der  unglückliche  Ausgang  des  von  Frie- 
drich I.  unternommenen  Kreuzzuges  und  der  zu  früh  erfolgte  Un- 
tergang des  Hohenstaußscben  Hauses  als  göttliche  Strafe  wegen 
dessen  zu  achten  sei ,  dass  jener  Kaiser  seine  Hand  nach  Sicilien 
ausgestreckt  und  die  Schuld  einer  gewaltsamen  Verrückung  der 
dem  deutschen  Volke  gewordenen  Aufgabe  auf  das  Kaiserhaus  ge- 
laden habe  (Vergl.  S.  6.  7.)- 

Die  Absichten  der  Vorsehung  mögen  hier  bei  Seite  gesetzt, 

Zeitschrift  f.  Geschieht**.   IV.  1845.  19 


278  Allgemeine  Literaturberickte. 

dagegen  einige  Bemerkungen  über  die  Stellang  der  Hohenstaufischen 
Kaiser  beigebracht  werden.     Richtig  ist  allerdings,  dass  das  rö- 
mische Kaiserthum  ein  bei  weitem  grösseres  Bereich  von  Völker- 
Verhältnissen  umfasste,  als  das  deutsche  Königthum,  und  dass  in 
Folge  dessen,  inwiefern  das  römische  Kaiserthum  mit  dein  deufr 
sehen  Königthum  unzertrennlich  verknüpft  war,  die  Stellung  des 
deutschen  Volks,  wie  man  im  gewissen. Sinne  sagen  kann,  eine 
Verschiebung  erlitten  hat.    Je  mehr  im  Mittelalter  von  der  occi* 
dentalischen  Christenheit  aijs  der  BHck  auf  den  Orient  sich  wandte, 
um  so  weiter  auch  eröffneten  sich  die  Grenzen,  die  man  wenigstens 
dem  Gedanken  nach  dem  Reiche  steckte,  in  welchem  zu  waiiea 
die  Aufgabe  der  obersten  Fürsten  in  der  Christenheit  sei.     Als 
solche  sahen  sich  nun  von  Seiten  der  weltlichen  Herrschaft  be- 
trachtet die  Kaiser  an,  und  wenn  es  überhaupt  ein  Verbrechen 
ist,  so  beruht  das  der  flohenstaufen  darin  ganz  allein,  dass  sie  die 
durch  jene  Aufgabe  (ihnen  angewiesene  Stellung  den  Ansprüchen 
des  päpstlichen  Hofes  gegenüber  aufzugeben  nicht  gesonnen  wa» 
ren.    In  Beziehung  auf  das  Wesen  des  römischen  Kaiserthums  iat 
Mittelalter  kann  von  deutschem  Volksthum  kaum  die  Rede  sein, 
und  ohne  Zweifel  würde  die  Aufgabe  des  deutschen  Volks  noch 
weit  mehr,  als  es  durch  die  Hohenslaufen  geschehen  sein  mag, 
verrückt  worden  sein,  wenn  sie,  wie  jener  fromme  Pfsflenkönig 
Heinrich  Raspe,  der  sich  nicht  langer  weigerte,  im  Geiste  des  ech- 
ten Ritterthums  und  in  Kraft  des  christlichen  Gehorsams  (VergL 
S.  183.)  auf  Befehl  des  Papstes  Innocenz  IV.  die  schwere  Last  der 
Krone  zu  übernehmen,  sich  demüthig  und  in  frommer  Hingebung 
au  die  Kirche  gebeugt  hatten.    Das  Wesen  and  die  Machtvollkom- 
menheit des  römischen  Kaiserthums  würde  alsdann  der  geistlichen 
Macht  des  Papstes  zugefallen  sein  und  der  deutsche  König  wäre 
alsdann  als  THular-Kaiser  Vogt  der  römischen  Kirche  geworden. 

Einem  solchen  Geschicke  entgegenzuarbeiten,  und  somit  die 
geschichtliche  Entwicklung  der  Aufgabe  des  deutschen  Volks  für 
die  Zukunft  vorzubereiten,  darin  bestand  das,  wofür  die  Hohen* 
slaufen  kräftigst  gekämpft  haben.  Gegen  diese  Behauptung  mag 
nun  vielleicht  Herr  H.  die  Worte  seiner  Vorrede  (S.  Vit)  richten, 
wonach  er  einen  Principieukampf ,  wie  es  scheint,  hat  vermeiden 
wollen.  Denn  er  sagt:  „Die  Geschichte  Friedrichs  IL  bleibt  für 
alle  Zeiten  von  dem  höchsten  Interesse,  weil  der  Wendepunkt  des 
Mittelalters  in  sie  fallt.  So  grosse  Schwierigkeiten  hierbei  der  Ge» 
gensland  darbietet,  so  liegen  doch  die  bedeutenderen  in  den  An« 
forderungen  der  Leser,  indem  die  meisten  von  dem  Verfasser  gera* 
dezu  verlangen,  er  solle  sich  entweder  lobend  oder  tadelnd  über 
das  Recht  der  Päpste,  die  Könige  abzusetzen ,  und  die  Pflicht  der 
letzteren,  der  Hierarchie  zu  widerstehen,  aussprechen.  Je  nachdem 


Allgemeine  Literaturberichle.  £79 

dies  geschehen,  wird  ihm  aucfi  Anerkennung  oder  Verwerfung 
zu  Theii  werden.  Mit  Absicht  hat  jedoch  der  Verfasser  darauf  gar 
keine  Rücksicht  genommen.  In  der  Geschichte  hat  man  es  nun 
einmal  nicht  mit  abstracten  Sätzen,  sondern  mit  particulären  Ver? 
haltnissen  zu  thun." 

Will  hiernach  der  Herr  Verfasser  nicht  um  abstracte  Satze  har 
dem,  so  wäre  er  ohne  Zweifel  um  so  mehr  verpflichtet  gewesen, 
die  Linie  einer  strengen  und  scharfen,  einer  besonnenen  und  vor- 
urteilsfreien historischen  Kritik  einzuhalten.  Dass  er  dies  getban 
habe,  darf  man  aber  nicht  von  ihm  rühmen.  Fast  auf  jeder  Seite 
«eines  Buches  finden  sich  die  bestimmtesten  Beweise  darüber  vor, 
wie  er  sich  gar  nicht  die  Mühe  gegeben  hat,  die  verschieden  lau- 
tenden Berichte  der  mannigfaltigen  Parteischriftsteller  der  dama* 
ligen  Zeit  mit  Besonnenheit  und  Buhe,  ohne  Vorurtheil  und  Hass 
mit  einander  zn  vergleichen.  Ausgehend  von  der  einmal  gefassten 
Ansiebt,  dass  der  päpstliche  Hof  im  vollen  Rechte,  der  kaiserliehe 
aber  im  vollen  Unrechte  gewesen  sei,  ist  nicht  nur  Alles,  was  die 
Gegner  der  Hobeqstaufen  und  besonders  Friedrichs  II.  berichtet 
haben,  mit  ßegier  zusammengerafft,  und  in  einer  sehr  lebhaften 
Schreibart  vorgelegt,  sondern  es  werden  auch  weiüauflig*  Betrach- 
tungen über  die  von  den  Päpsten  ausgegangenen  Erlasse  hjnzuge*- 
fügt,  in  welchen  ausser  von  der  Richtigkeit  dessen,  was  darin  ge«. 
sagt  wird,  auch  von  der  Offenheit  und  Ehrlichkeit,  mit  welcher 
sie  abgefasst  seien,  geredet  wird.  In  allen  öffentlichen  Schriften 
dagegen,  die  von  den  Kaisern  ausgegangen  sind,  findet  Herr  Höfler 
nur  Trug,  Hinterlist  und  Lüge.  Am  unangenehmsten  wird  man 
berührt  durtb  die  Art  und  Weise  der  Beurteilung  der  Verhältnisse 
des  Concils  von  Lyon  und  der  Personen,  die  dabei  zunächst  her 
iheüigt  waren*  Um  indess  diesen  Gegenstand  näher  zu  beleuch- 
ten, dazu  würde  eine  Abhandlung  nötbig  sein,  die  hier  nicht  Raum 
finden  kann.  Pies  nur  darf  hervorgehoben  werden,  dass  in  der 
Schrift  die  Verurtheilung  Friedrichs  II.  durch  ein  ökumenisches 
Concil  ohne  alle  Einschränkung  aJs  eine  durchaus  rechtmässige 
Sache  angesehen  und  dann  noch  berichtet  wird,  in  seiner  Wuth 
sei  der  Kaiser,  als  er  von  dem  Ujtheile  Kenntniss  empfangen,  frü- 
her als  es  in  seiner  Absicht  gelegen  habe,  mit  dem  Geheimnisse 
seiner  Politik  hervorgetreten  (S.  173.  174.) 

Es  ist  hier  abermals  zu  bedauern,  dass  der  Herr  Verfasser  es 
flieht  för  angemessen  gehalten  bat,  bestimmt  und  mit  ausdrück- 
lichen Worten  seine  Meinung  auszusprechen.  So  wenig  wie  in 
solcher  Weise  er  sieh  hat  äussern  wollen  über  die  flechte  der 
geistliche»  und  weltlichen  Nacht,  eben  so  wenig  auch  ist  dies  ge- 
schehen in  Rücksicht  anf  die  Frage  über  das  eigentliche  Geh eiin- 
Di  ss  der  Politik  Friedrichs  iL   Andeutungen  jedoch  über  das,  was 

19* 


1 


28Q  Allgemeine  Literaturberickte.. 

eigeollich  gemeint  sei,  sind  gepug  gegeben,  theils  bin  und  wieder 
im  ganzen  Boche,  theils  auch  an  dem  schon  angeführten  Ort. 
Diesen  Andeutungen  nach  darf  man  behaupten,  dass  Herrn  B's. 
eigentliche  Meinung  die  sei,  es    habe   in  den  geheimen  Plänen 
Friedrichs  II.  gelegen ,   das  Reich  Gottes  auf  Erden  umzustürzen. 
Inwieweit  übrigens  Herr  Höfler  sich  an  den  Spruch  hält,   nach 
welchem  in  der  Stimme  des  Volks  die  Stimme  Gottes  sich  aus- 
sprechen solle,  ist  mir  nicht  bekannt    Dies  aber  kann  ich  bezeu- 
gen, dass  er  (S.  113  —  118)  eine  weitläufige  Auseinandersetzung 
über  die  Gründe  giebt,  die  dazu  Veranlassung  gaben,   dass  viele 
der  Zeitgenossen  Friedrich  II.  als  den  Abscheu  des  Menschenge- 
schlechts, als  das  apokalyptische  Ungeheuer  ansahen,  als  den  Vor* 
laufer  des  Antichrists,  dessen  wüthendes  Auftreten  den  nahen  Un- 
tergang der  Welt  verkünde. 

Würde  Alles,  meint  der  Verf.,  was  der  Kaiser  verschuldet  bat, 
„in  jener  Zeit  schon  so  klar  vor  Augen  gelegen  haben,  wie  jetzt 
denjenigen,  welche  die  Geschichte  jener  Zeit  mit  der  Absieht 
schreiben,  nichts  von  Bedeutung  zu  übergeben,  was  den  grossen 
Wendepunkt  der  Geschichte  des  Kaisertums  im  dreizehnten  Jahr* 
hundert  klar  zu  machen  vermag,  es  hätte  bereits  Papst  Gregor 
aus  der  nur  abwehrenden  Stellung,  die  er,  noch  immer  besorgt, 
nicht  zum  Aeussersten  zu  schreiten,  angenommen  hatte,  heraus- 
treten und  gleich  seinem  Nachfolger  zu  noch  stärkern  Schritten 
seine  Zuflucht  nehmen  müssen*.1  S.  118. 

„Selten  oder  nie/4  wird  (S.  280)  gesagt,  „besass  ein  Fürst  so 
ausgezeichnete  Fähigkeiten  mit  einer  so  glänzenden  äussern  Macht, 
als  Friedrich  IL;  selten  oder  nie  ward  ein  solcher  Verein  so  ganz* 
lieh  zu  selbstsüchtigen  Zwecken  missbraucht,  als  von  ihm.  Alle 
Gaben  des  Geistes  und  des  Herzens,  die  einem  Manne  die  Liebe 
und  Bewunderung  der  Seinigen  verleihen  können,  waren  über 
ihn  ausgegossen.  Er  war  Dichter  und  sehrieb  über  die  Vogeljagd; 
er  war  bewandert  in  den  Sprachen  des  Orients  wie  des  Occi- 
dents,  wusste  die  gelehrtesten  Männer  an  sich  zu  ziehen,  liebte 
und  schätzte  Künste  und  Wissenschaften.  Die  moslemischen  Für- 
sten beugten  sich  willig  vor  ihm.  Italien  gab  ihm  seine  Schätze, 
Deutschland  seine  starken  Söhne.  Alle  Kraft  seines  Geistes  und 
seines  Willens  vermochte  er  auf  Ein  Ziel  zu  verwenden,  dessen 
Erreichung  die  Aufgabe  seines  Lebens,  das  Endziel  des  Strebens 
seines  Hausses  war,  um  dessen  willen  er  alle  Kräfte  ansetzte,  über 
die  er  im  weiten  Umfange  seiner  Länder  mit  diesem  eigenthüm« 
liehen  Reichthume  von  Ideen  zu  verfügen  vermochte.  Was  er  also 
schuf,  was  er  als  das  Vermächtniss  seiner  Regierung  den  Völkern 
hinterliess,  das  war  seine  That,  es  war  sein  Werk,  sein  eigen;  ja 
man  kann  nicht  einmal  sagen,  er  habe,  die  letzteren  Jahre  seines 


Allgemeine  Lileraturberichte.  281 

Lebens  ausgenommen,  in  Ausführung  seiner  Absiebten  Hindernisse 
geiunden,  die  er  nicht  zu  überwältigen  vermocht  halte.  Was  das 
Haus  der  Hohenstaufen  wollte,  was  Friedrichs  Absicht  war,  konnte 
sieb  rücksichtsloser,  unumwundener  nie  zeigen,  wie  er  denn  auch 
einem  halben  Jahrhunderte  den  Stempel  seines  Wesens  aufzu- 
drücken vermochte.  Und  welch  hässlicbes  Gemälde  bietet  sich 
am  Abschluss  dieser  Periode  dar!'*  —  „Gewiss,"  heisst  es  (S.  285) 
weiter,  „es  war  nur  wenigen  Fürsten  in  dem  Maasse  gegeben,  auf 
ihre  Zeit  heilbringend  einzuwirken,  wie  Friedrich  IL  Ja,  was  viel- 
leicht nie  der  Fall  war,  war  ihm  anheimgestellt,  noch  in  der  Mitte 
seiner  Laufbahn  umzuwenden,  und  was  bereits  in  der  falschen 
Richtung  geschehen  war,  durch  Einlenkung  in  die  bessere  wieder 
gut  zu  machen.'4  —  Diese  Einlenkung,  meint  der  Verf.,  hätte  da- 
durch geschehen  können,  dass  der  Kaiser  sich  enge  an  die  from- 
men, religiösen  Regungen,  die  zu  jener  Zeit  die  Bettelmönche  her- 
vorriefen, angeschlossen  hätte.  Aber  statt  dessen  habe  er  den 
Elias,  der  nach  dem  Tode  des  heiligen  Franciscus  an  dessen  Stelle 
getreten,  das  Ansehen,  welches  ihm  seine  Stelle  verlieh,  in  Hoch- 
muth  gemissbraucht  und  zugleich  in  seiner  Hinneigung  zu  Auf- 
wand und  einem  bequemen  Leben  es  verschuldet  habe,  dass  die 
alle  Strenge  aus  dem  Orden  gewichen  wäre,  an  sich  gezogen.  Es 
wird  die  Vermuthung  geäussert,  dass  Friedrich  dies  bios  darum 
getban  habe,  um  sich  bei  seinem  unverhohlen  ausgesprochenen  Plane, 
den  Clerus  zu  stürzen,  des  vom  Papste  abgesetzten  Ordensgene- 
rals, zu  bedienen,  um  ein  Schisma  in  die  Kirche  zu  bringen  (S.  985  — 
290).  So  soll  der  Kaiser  die  dargebotene  Gelegenheit  zur  Einlen- 
kung in  die  von  der  Kirche  vorgeschriebene  Bahn  verscherzt 
haben. 

Herr  H.  weiss  in  seiner  Beurtheilung  Alles  zum  Nachtheile  des 
Kaisers  zu  wenden.  Er  geht  in  diesem  seinem  Bestreben  auf  eine 
unbegreifliche  Weise  selbst  so  weit,  dass  er  ihm,  den  er  als  einen 
Todfeind  der  Kirche  und  als  einen  solchen  bezeichnet,  der  offen 
mit  der  Absiebt  umgegangen  wäre,  den  Clerus  auszurotten,  den 
Erlass  seiner  Constitution  gegen  die  Ketzer  zum  Verbrechen  macht, 
in  Folge  dessen  in  Kraft  seiner  Blutsentenzen  durch  eine  ironi- 
sche Fügung  des  Geschicks  der  Sturz  seiner  Partei  nach  wenigen 
Jahrzehnten  vollendet  worden  wäre.  Denn  durch  die  weitere 
Ausbildung,  die  Friedrichs  Ketzeredicte  durch  die  Verordnungen 
des  Papstes  Innocenz  IV«  erhielten,  wären  nun  Tausende  von 
Scheiterhaufen  aufgelodert,  in  deren  Flammen  die  Gegner  der 
Kirche,  die  Ueberbleibsel  der  hohenstaufiseben  Partei,  ihr  Leben 
hätten  büssen  müssen  (S.  297,  298,  306.). 

Aber  auch  in  der  Rücksicht  widerspricht  sich  der  Verf.,  wenn 
er  behauptet,  dass  das,  was  er  die  hohenstaufische  Partei  nennt, 


n 


282  Allgemeine  Literaturberichte. 

von  den  Flammen  der  von  Seiten  der  päpstlich  Gesinnten  errich- 
teten Scheiterhaufen  verzehrt  worden  ward.  Ihm  selbst  ja  er- 
scheint nicht  ohne  Grund  der  Sturz  Friedrichs  und  seines  Ge- 
schlechts als  ein  Hauptwendepunct  in  der  Geschichte,  und  er  sieht 
dies  geschichtliche  Moment  nicht  anders  an,  denn  als  eine  grosse 
Revolution,  die  eine  grosse  weitverzweigte  Partei  getroffen,  und 
ihre  Folgen  noch  lange  geäussert  habe,  nachdem  angeblich  die 
eigentliche  Ursache  längst  verschollen  gewesen  (S>  995.)*  Was  die 
Hohenstaufen  nach  der  Absicht  des  Verf.  vorzubereiten  bestrebt 
gewesen  sind,  kann  nach  eben  dieser  Ansicht  niöht  untergegangen 
sein;  denn  den  Worten  der  Vorrede  (S.  VIII.)  zufolge  wären  ja 
die  Hohenstaufen,  vor  allen  Friedrich  IL,  den  neueren  Zeiten  von 
angegangen  auf  deren  Bahn,  die  Freiheit  in  die  Willkür  zu  legen, 
so  dass  aufs  neue  herrschen  oftmals  nichts  anderes  heisse,  als  die 
Willkür  üben.  Der  Kampf  Friedrichs  II.  mit  dem  Clerus  soll  her- 
vorragend diesen  Charakter  getragen  haben,  da  der  Grundsatz  des 
Traditionellen  sich  nirgends  so  ausgedehnt  kund  gegeben  hatte, 
als  in  diesem  Stande.  Hiernach  und  nach  Allem,  was  die  Schrift 
enthalt^  muss  der  Berichterstatter  gestehen,  dass  ihm  völlig  un- 
verständlich im  Sinne  des  überall  als  streng  katholisch  auftreten* 
den  Verf.  folgende  Worte  (a*  a.  0.)  sind:  „Der  Kaiser  unterlag, 
aber  man  sieht,  welch'  schwere  Wunden  der  Sieg  der  Gegenpartei 
schlug  und  wie  der  unnatürliche  Zustand  gewaltsamer  Aufregung, 
selbst  von  denen,  die  nolhgedrungen  hierzu  ihre  Zuflucht  nahmen, 
immer  nur  als  ein  solcher  angesehen  werden  durfte,  dem  schnell 
ein  besserer,  auf  die  alte  wahre  Grundlage  des  Kaiserthnms  ge 
stellter  folgen  musste.  Dieser  Kampf  erhielt  aber  in  der  vorlie- 
genden Schrift  eine  neue  Berücksichtigung,  da  er  nicht  nur  dem 
Papste  und  Clerus  gegenüber,  sondern  insbesondere  in  seiner  Be- 
ziehung zu  dem  Laienstande  verfolgt  ward,  welcher  gleichsam 
Erbe  des  gewaltigen  Streites  zwischen  dem  Priester«  und  König- 
thum,  von  nun  an  eine  Stellung  in  der  christlichen  Welt  ein- 
nimmt, die  mit  jedem  Jahrhundert  von  grösserer  Bedeutung  wird/* 
Diesen  Worten  mögen  zum  Beweise  dafür,  dass  Herr  H.  bei 
aller  Subjectivität  in  Beurtheilung  des  im  Mittelalter  waltenden 
grossen  Kampfes  zwischen  geistlicher  und  weltlicher  Macht  den- 
noch im  gewissen  Sinne  historische  Objektivität  anerkennt,  rbi-  . 
gende  Schlussworte  der  ganzen  Schrift  hinzugefügt  werden:  „Di* 
ungeheuren  Anstrengungen,  zu  welchen  unter  Innocehz  die  Kirche 
genöthigt  worden  war,  hatten  dieselbe  in  einen  so  unnatürlichen 
Zustand  versetzt,  dass  Jahrzehnte  vergingen,  bis  sie  aus  dem 
Schwanken  wieder  zur  Ruhe  gebracht  werden  konnte.  Innocenz 
hatte  von  Anfang  an  nach  Frieden  gestrebt;  allein  die  Unmöglich. 
keitv  einen  solchen    ohne  die  unverantwortlichste  Verfettung  sej- 


Allgemeine  Literaturberichte.  283 

ner  Pflichten  zu  schliessen,  halte  ihn  zu  den  äusserten  Sehritten 
vermocht,  welche  sein  Pontificat  mit  dem  Hasse  der  Ghibellinea 
erfüllten.  Als  er  schnell  nach  dem  Sturze  des  Kaisers  wieder  ein- 
zulenken versuchte,  mussle  er  die  Erfahrung  machen,  wie  die 
Aufregung  derParteien  ein  selbständiges  Leben  zu  gewinnen  vermöge, 
auch  wenn  die  Ursache  derselben  langst  weggefallen  war.  Dafür, 
konnte  ihn  aber  das  Bewusstsein  trösten,  in  der  äussersten  Be- 
drängniss  nur  dasjenige  gethan  zu  haben,  was  zum  Heile  der 
Kirche  menschliche  Weisheit  für  unumgänglich  erachtete.  Es  blieb 
einem  höheren  Ermessen  überlassen,  im  Laufe  der  Weltgeschichte 
die  Ursache  klar  zu  machen,  warum  die  alte  Verbindung  zwischen 
Papstlhum  und  Kaisertbum  gelöst,  das  Abendland  der  Zerrüttung, 
das  christliche  Morgenland  dem  Untergange  preisgegeben  werden 
sollte.  Die  Saat,  die  seit  Heinrich  IV.  unablässig  ausgestreut  wor- 
den, war  endlich  aufgegangen;  sie  hatte  ihre  Früchte  gebracht 
und  vergeblich  mochte  jetzt  die  Welt  misskennen,  was  nur  die 
natürliche  Folge  vorausgegangener  entsetzlicher  Ursachen  war. 
Entrinuen  konnte  sie  den  Uebelständen  derselben  nicht  mehr; 
dann  erntete  sie  auch  die  besseren  Früchte." 

Schliesslich  muss  der  Berichterstatter  gestehen,  dass  er  weder 
die  römisch-katholische  Weihe,  noch  den  römisch-katholischen 
Segen  im  Geiste  empfangen  habe*  Daran  mag  es  liegen,  dass  ihm 
bauCg  sehr .  Vieles  in  den  Schriften  katholischer  Geschichtschreiber 
völlig  unklar  bleibt.  Seinem  unerleuchteten  Geiste  will  es  oft  be- 
danken, dass  das,  was  ihm  in  Beziehung  auf  den  Geist  eines  be- 
stimmten Zeitalters  klar  vor  Augen  steht,  ihm  wieder  verdunkelt 
wird  dadurch,  dass  es  ihm  nach  seiner  Auffassung  dessen,  was 
ihm  der  katholische  Historiker  bringt,  scheint,  er  habe  nur  als  ein 
Relatives,  nach  Zeit  und  Umstanden  Bedingtes  verstanden,  was 
jener  als  ein  Absolutes  setzt;  So  entsteht  sehr  häufig  ein  Zweifel 
darüber,  wie  eigentlich  das  Zeitalter  Gregors  VII.  aufzufassen  sei. 
Dass  in  seiner  Zeit  und  unter  den  Verhältnissen,  in  denen  er 
lebte,  Gregor  VII.  eine  grosse  historische  Persönlichkeit  darstellte, 
wird  Niemand  leugnen  wollen;  aber  unverständlich  bleibt  uns 
Laien. alles  das,  was  den  Schein  darbietet,  als  ob  noch  irgendwo 
im  19ten  Jahrhundert  ein  Streben  vorhanden  wäre,  das  Ideal  der 
Päpste  des  eilften  Jahrhunderts  herzustellen,  wenn  auch  immerhin 
dabei  anerkannt  wird,  dass  die  Zeit  und  die  Umstände,  in  die  man 
sich  zu  fügen  habe,  sowie  die  geistige  Bildung  in  der  Christenheit 
nach  Gottes  Rath  auf  die  mannigfaltigste  Weise  sich  umgestaltet 
ballen.  Schwer  wird  es,  die  Hoffnung  auf  eine  wiedereintretende 
Herstellung  der  römisch-katholischen  Kirche  in  deren  allem  Glänze 
und  Blülhe  zu  theiien.  Den  Gelehrten  aber  berührt  eben  deshalb 
auf  eine  unangenehme  Weise  jedes  Streben,  auf  wissenschaftli- 


284  Allgemeine  Literaturberichte. 

ehern  Wege  die  entgegengesetztesten  Elemente  der  Entwickelan- 
gen im  Leben  der  Menschheit  bis  auf  die  heutigen  Zeiten,  inwie- 
fern sie  nicht  zur  Seite  geschoben  werden  dürfen,  sondern  un- 
mittelbar durch  die  Macht  des  Lebens  eine  objeetive  Anerkennung 
sich  erringen,  mit  den  Forderungen  der  römischen  Kirche  in  eine 
gewisse  Art  von  Uebereinstimmung  zu  bringen.     P.  F.  Stuhr. 

R. Freiherr  Stillfrled-Battonitz:  die  Burggrafen  von  Nürnberg  Im 
XII.  und  XIII.  Jahrhundert.  Mit  2  tob.  Ansichten«  Görützt  G.  Heinz©  & 
Co,  4844.     8vo.    S.  404. 

Die  so  lange  Zeit  vernachlässigte  älteste  Geschichte  des  in 
Preussen  regierenden  Hauses  verdankt  dem  Verfasser,  welcher 
auch  ein  Urkundenbuch  und  andere  treffliche  Werke  zur  Erläute- 
rung derselben  herausgegeben  hat,  vielfache  Aufklärung.  Wie  un- 
zuverlässig und  unbrauchbar  Otters  Geschichte  der  Burggrafen 
von  Nürnberg  sei,  ist  allgemein  bekannt,  und. doch  ist  diese  noch 
um  vieles  besser  als  fast  sämmtlicbe  neue,  die  älteste  Geschichte 
der  Zollern  behandelnde  Schriften,  welche  auf  unhistorischem  Bo- 
den fussend,  mit  geringen  Ausnahmen  nur  irrige  Nachrichten  und 
selbst  alberne  Mährchen  miUbeilen. 

Mit  grosser  Freude  erkennen  wir  aus  dem  vorliegenden  Werke, 
wie  der  Verf.  durch  neue,  mit  Glück  aufgefundene  und  mit  gründ- 
licher Kritik  benutzte  Documente,  auf  klare  und  anspruchslose 
Weise  die  ältesten  Nachrichten  über  die  Zollersche  Familie  zu- 
sammengestellt hat.  Er  hat  sich  in  dieser  Schrift  hauptsächlich 
mit  den  drei  Fragen  beschäftigt:  1)  welchem  Stamme  gehörten  die 
älteren  Burggrafen  von  Nürnberg  an?  2)  wann  und  wie  gelangt 
das  Burggrafen thum  Nürnberg  an  die  ihrem  Ursprünge  nach 
schwäbischen  Grafen  von  Zollern?  3)  welches  sind  die  nachweis- 
lichen Stammältern  der  Zollerschen  Burggrafen  von  Nürnberg  and 
wie  ist  das  Entstehen  einer  schwäbischen  und  fränkischen  Linie 
dieses  Hauses  im  13ten  Jahrh.  zu  erklären? 

Was  die  erste  Frage  betrifft,  so  hat  Hr.  v.  S.  nachgewiesen, 
dass  die  Vorgänger  der  Zollern  im  Burggrafenthum  Nürnberg  die 
Grafen  von  Retz  in  Oesterreich  gewesen  sind.  Dieses  mächtige 
Grafengeschlecht  stammte  von  den  Babenbergern  her,  und  führte 
den  Löwen  im  Wappen,  welcher  durch  sie  auf  das  Burggrafen* 
thum  Nürnberg  überging.  Graf  Gottfried  der  Aellere  von  Retz  und 
sein  Sohn  Conrad,  Vasalien  des  Markgrafen  Leopold  von  Oester- 
reich, erhielten  im  Jahre  1103  die  Burghut  von  Nürnberg  von 
Kaiser  Heinrich  IV.,  und  behaupteten  sie  gegen  den  seinen  eignen 
Vater  bekämpfenden  Heinrich  V. 

Der  Verf.  beweist,  wie  das  Burggrafenthum  bei  dieser  Familie 
bis  zu  ihrem  Ausslerben  verblieben,  und  wie  eine  Urkunde  vom 
Jähre   1138,  welche  einem  Grafen  Gottfried  von  Hohenlohe  das 


Allgemeine  Literaturberichte.  283 

Burggrafenthum  zuschreiben  will,  entweder  verfälscht  öder  ganz 
erdichtet  ist.  Der  letzte  Graf  von  Retz  und  Burggraf  von  Nürn- 
berg aus  dieser  Familie  war  Conrad,  welcher  ohne  männliche 
Erben  nach  1198  starb.  Wie  wir  aus  freundschaftlicher  Mittbei- 
lung  des  Hrn.  Verf.  kürzlich  erfahren  haben,  ist  es  demselben  ge* 
Jungen  4  durch  Auffindung  einer  höchst  wichtigen  Urkunde  dieses 
Conrad  vom  Jahre  1198  jeden  Zweifel  an  der  erwähnten  Darstel- 
lung zu  heben.  In  dieser  Urkunde  wird  Conrad:  Praefectus  de 
Nurenberch  „Rakeze",  also  Retz  genannt,  eine  Thatsache,  durch 
welche  demnach  auch  die  vor  wenigen  Monaten  von  Hrn.  Oechsle 
in  Stuttgart  in  den  Heidelberger  Jahrbüchern  ausgesprochene 
Meinung,  dass  die  alteren  Burggrafen  vielleicht  doch  zum  Theil 
noch  dem  Hohenlohiscben  Geschlecht  angehört  hätten,  vollständig 
beseitigt  wird« 

Die  einzige  Tochter  dieses  Conrad,  Sophia,  war  an  Graf  Frie- 
drich von  Zollern,  den  ersten  Burggrafen  von  Nürnberg  aus  dieser 
Familie,  vermählt,  und  hatte  ihm,  ausser  bedeutenden  Gütern  in 
Oesterreich,  welche  zum  Theil  noch  bis  zum  Teschener  Frieden 
im  Besitz  des  Zollerschen  Hauses  waren,  auch  das  Burggrafenthum 
zugebracht.  Die  Grafschaft  Retz  verkaufte  sie  mit  Hinzuziehung 
ihres  Sohnes  Friedrich  (II.)  schon  im1  Jahre  1218  an  Herzog  Leo- 
pold VII.  von  Oesterreicb;  das  Burggrafenthum  blieb  aber  in  der 
Zollerschen  Familie. 

Bei  der  Behandlung  der  dritten  Frage  beschäftigt  sich  Hr.  v. 
S.  zuerst  mit  dem  Namen  Zollern  und  zeigt,  dass  derselbe  ein 
nicht  ungewöhnlicher  Name  für  Freie  und  Unfreie  war.  Der  äl- 
teste Sitz  der  Grafen  von  Zollern  war  die  Bertholdesbaar  in  Schwa- 
ben, wo  auch  die  um  das  Jahr  1000  gegründete  Stammfeste  lag; 
der  Berg  heisst  noch  jetzt  der  Zollerberg.  Ein  stammverwandter 
Zweig-  der  Zollerschen  Grafen  waren  die  Hohenberge,  was  der 
Verf.  durch  alte  Zeugnisse  nachweist.  Aus  diesem  Geschlechte  der 
Zollerschen  Grafen  von  Hohenberg-Haigerloch ,  deren  vollständige 
Genealogie  mitgetheilt  wird,  stammte  auch  Anna,  die  Gemahlin 
Kaiser  Rudolphs  von  Habsburg. 

Urkundlich  kommt  der  Name  Graf  von  Zolre  im  Jahre  1031  vor, 
wahrscheinlich  aber  von  einer  spätem  Hand  hinzugefügt:  dann 
werden  beim  Jahre  1061  die  Grafen  Burkhard  und  Wezel  genannt, 
über  welche  jedoch  keine  näheren  Nachrichten  vorhanden  sind. 
Sicherere  Nachrichten  hat  Hr.  v.  S.  über  die  später  erscheinenden 
Mitglieder  dieser  Familie  gegeben:  sie  sind  mit  Fleiss  und  Kritik 
zusammengestellt,  und  zeigen  einerseits  die  Macht  dieses  alten 
Geschlechts,  andrerseits  auch,  wie  dasselbe  mit  fast  allen  mächti- 
gen süddeutschen  Fürstengeschlechtern  vielfach  verschwägert  war. 
Ein  solches   verwandtschaftliches  Veihältniss  bestand  namentlich 


286  Allgemeine  Literaturberickte. 

mit  den  Grafen  von  Urach,  mit  den  Hohenstaufen,  mit  Kaiser  Ru- 
dolph von  Habsburg  u.  s.  w. 

Einen  bedeutenden  Zuwachs  erhielt  das  Zollersche  Gebiet 
durch  die  Erwerbung  der  Grafschaft  Abenberg,  welche  die  Erb* 
tochter  des  letzten  Grafen  ihrem  Gemahl,  Burggraf.  Friedrich  IL 
zubrachte.  Auch  über  die  alten  Grafen  von  Abenberg  hat  Hr.  v. 
S.  vortreffliche  Notizen  beigebracht:  der  erste  urkundlich  bekannte 
Graf  dieses  Geschlechts  ist  Rapoto,  der  im  Jahre  1132  das  Kloster 
Heilsbronn  beschenkte.  —  Während  der  Kampfe  der  Hohenstaufen 
mit  ihren  Gegen königen  finden  wir  die  Burggrafen  auf  Seite  der 
letzteren,  da  sie  den  Hohenstaufen,  weiche  ihnen  den  Besitz  der 
Grafschaft  ßurgund  streitig  machten,  zürnten.  Von  dieser  Graf- 
schaft erhielt  das  Haus  Zollern  nach  langem  Streite,  in  welchem 
es  der  Uebermacht  weichen  musste,  nur  die  Schirmvoigtei  von 
Besangon  und  eine  Geldentschädigung.  Dagegen  waren  die  Burg- 
grafen in  dem  Streite,  welcher  über  die  literarische  Erbschaft  in 
Franken  entstand,  glücklicher:  sie  erhielten  Kadoizburz ,-  Baireutb, 
Creusen  und  Hof:  dazu  wurde  später  noch  der  Antbeil  der  Grafin 
Beatrix  von  Orlamünde  erworben;  namentlich  Plassenburg, 
Culmbaoh  u.  s.  w.,  wodurch  das  burggräfliche  Haus  zu  einer  der 
bedeutendsten  fürstlichen  Machte  in  Deutschland  erwuchs. 

Herr  v.  S.  hat  mit  grossem  Fleiss  und  Geschick  die  vielfach 
zerstreuten,  und  zum  Theil  noch  unbekannten  historischen  Nach- 
richten über  die  einzelnen  Burggrafen  der  Zollerscben  Familie  ver- 
einigt. Wie  er  selbst  bemerkt,  hat  er  überall  ernst  und  nüchtern 
nur  das  Nöthige  gesagt,  und  stets  durch  specielle  Nachweisungea 
beglaubigt.  Er  schliesst  mit  der  Geschichte  Friedrichs  HL,  wel- 
cher am  15.  August  1297  starb. 

Wir  wünschen,  dass  bald  die  Forlsetzung  dieses  höchst  wich- 
tigen und  belehrenden  Werkes,  welches,  wie  wir  gehört  haben 
der  Verfasser  bis  auf  die  Erwerbung  der  Mark  Brandenburg  fort« 
zuführen  gedenkt,  erscheinen  möge.  B.  Köhne. 

Die  freie  Reichsstadt  Speier  vor  ihrer  Zerstörung,  nach  urkundlichen 
Quellen  örtlich  geschildert  von  Prof.  Dr.  Zeuss.  Hit  altem  Plane  und 
alten  Ansichten  der  Stadt,  Speier,  f,  C,  Neidhard's  Buchhandlung  1843. 
4.  34  S. 

Die  alte  Kaiserstadt,  berühmt  durch  Treue  und  wackeren  Muth 
ihrer  Bürger,  fiel  in  den  vandalischen  llaubzügen  Ludwig  XIV.  mit 
all  ihren  Alterthümern  in  Trümmer;  nur  das  papierne  Document, 
dauernder  als  Erz  und  Steiu,  bewahrte  die  Erinnerung  an  ehe- 
malige Pracht,  aus  der  morganenhaft  der  Forscher  die  alte  Stadt 
mit  ihren  Thürmen  und  Kirchen,  Strassen  und  Plätzen  wieder  auf- 
tauchen lasst. 

Es  ist  das  ein  nicht  minder  nützliches  als  vergnügliches  Ge« 


Allgemeine  Literaturberichte.  287 

schüft;  man  ruht  sich  aüa  von  den  Bewegungen  der  That  und  des 
Lebetft,  indem  man  den  Raum  derselben  beschaut;  die  Stadt  selbst 
ist  uns  ein  treues  Bild  des  beweglichen  Wirkens  und  Denkens 
der  Städter..  Urkunden  haben  die  Farben  zu  dem  Gemaide  gelie- 
fert und  die  Gelehrsamkeit  die  Stelle  der  Phantasie  eingenommen, 
um  den  Pinsei  mit  getreuer  Hand  zu  fübreu.  Prof.  Zeuss  hat  sich 
durch  die  kleine  Schrift  ein  grosses  Verdienst  um  die  Stadt  Speyer 
erworben;  er  erinnert  sie  selbst  an  etwas,  was  sie  nicht  mehr 
Wusste  und  nicht  in  ihrem  Lehmann  las,  nicht  blos  was  sie,  son- 
dern auch  wie  sie  gewesen,  und  indem  er  zugleich  dem  Namen 
eines  alten  Bürgers  der  Stadt,  Wolfg.  Baur,  Gerechtigkeit  gewährt, 
erfüllt  er  das  schöne  Amt  des  Geschichtsforschers,  das  Unrecht 
aufzuheben,  indem  er  zwischen  Originalen  und  Nachtretern  Recht  ' 
spricht, 

Ueber  den  Namen  Nemetes  hatte  man  gern  noch  etwas  von 
dem  gelehrten  und  sonst  auch  hypothesenreichen  Forscher  ver- 
nommen» Da6  Wort  ist  wahrscheinlich  keltisch  und  zwar  nach 
Radioff  (Neue  Unters,  des  Keltenthums.  Bonn  1832.  tp.  399.)  von 
dem  griechischen  vc{iog  Hain  gebildet.  (Nun  die  Spire  das  Flüss 
chen  bat  ja  auch  den  Namen  von  den  umwachsenden  Bäumen  cf. 
Zeuss  pag.  4)  Eine  ältere  Hypothese  hat  es  identisch  mit  dem 
slawischen  Namen  für  Deutschland  Nemez,  Nemcy  gemacht.  Aven* 
tin  (Annal.  fiojor.  Frankf.  1637.  p.  6.  v.  58.)  leitete  dieses  Wort 
von  Nomades  ab  und  Lehmann  (Chronik  der  Stadt  Speyer  p.  1. 
Frankf.  a.  M.  1603  4}  nimmt  davon  Gelegenheit,  Nemetes  von 
vtfta)  weiden  abzuleiten.  Interessanter  wird  diese  Muthmassung 
durch  ihre  Benutzung  in  der  siebenbürgisch-deutschen  Geschichte. 
Don  wird  zum  Beweis,  dass  deutsche  Colonien  schon  so  zeitig 
(unter  Carl  dem  Grossen)  nach  Ungarn  und  Siebenbürgen  versetzt 
seien ,  der  Name  Nemet  für  Deutschland  angeführt,  den  diese  Co« 
lonisten  mitgebracht  hätten  (cf.  Kelp.  Natal.  Saxon.  Transilv.  Lips. 
1684  4.  p.  14  und  d'Anville,  dessen  Aufsatz  aus  dem  30.  Band  der 
Mem.  de  l'Acad»  des  inscript.  etc.  in  der  siebenbürgischen  Quar- 
lalschrift  übersetzt  ist.  (I.  309 ). 

Mögen  un6  von  allen  Städten  vergangener  Herrlichkeit  der- 
gleichen Bilder  entworfen  werden! 

Die  Waldslätte  vor  dem  ewigen  Bunde  .von  4  294  und  ihr  Verhätniss 
zum  Hause  Habsburg.  Von  Reraigius  Meyer  V.  D.  M.  Hauptlehrer  am 
Gymnasium.     Basel,  Schweighäusarsche  Buchhandlung  4844.  8.  54   S. 

Seit  einem  Jahrzehent  kämpft  man  in  der  Schweiz  auch  um 
die  Ehre  der  Vergangenheit.  Das,  was  durch  Tschudi  und  Johan- 
nes Müller  aller  Welt  überliefert  war,  dass  freie  Männer  in  den 
Waldstatleii  gedrangt  und  bedroht  in  ihrer  Freiheit,  für  diese  mit 
Recht  das  Schwert  erhoben  und  in  dem  Kampfe  für  dieses  Recht 


288  Allgemeine  Literaturberichte. 

unsterblichen  Rohm  erworben,  war  von  Lucern  aus  durch  den 
Professor  Kopp*)  bestritten  worden;  die  freien  Männer  wurden 
Rebellen,  der  Kampf  ein  strafbares  Auflehnen  gegen  eine  gerechte 
Oberherrschaft  genannt.  Und  weil  diese  Ansicht  mit  Urkunden 
bewiesen  zu  sein  schien,  traten  Hisely**)  und  de  Gingins  ia-  Sar- 
ray»«*), beide  in  der  Schweiz,  derselben  bei;  Lichnowski  nahm 
das  Koppische  Resultat  gänzlich  auf  und  in  seiner  Geschiebte  des 
Hauses  Oestreich  ist  der  sogenannte  Freiheitskampf  als  ein  unge- 
höriger Aufstand  von  Hörigen  gegen  die  habsburgisebe  Herrschaft 
dargestellt.  Nach  Heussler,  der  Uri's  Freiheit  zu  schützen  unter- 
nahm, ist  Meyer  der  erste,  der  diese  östreichische  Meinung  zu 
widerlegen  versucht,  und  wie  aus  der  fleissigen,  ruhigen. und  ge- 
rechten Forschung  hervorgeht,  nicht  ohne  Erfojg.  Wir  können  frei- 
lich, eben  weil  uns  Zeit  und  Raum  mangeln,  jedes  einzelne  von 
Herrn  Meyer  Vorgebrachte  im  Verbaltniss  zu  dem  von  seinen  Geg- 
nern Gelieferten  zu  prüfen,  kein  anderes  Urtheil  fällen;  nur  das 
können  wir  gewiss  behaupten,  dass  ^  auf  solche  Weise  für  Vater- 
land und  Vergangenheit  zu  kämpfen,  in  der  That  ein  Verdienst 
ist,  und  der  Ernst  und  die  Wahrheit,  die  in  dem  ganzen  Werkeben 
herrschen,  ein  Zeugniss  geben  von  der  wahren  Freiheit,  die  er, 
„der  dankbare  Enkel  für  die  Stifter  dieser  Freiheit  im  Herzen 
trägt."  (p,  51.) 

Nur  eine  diplomatische  Bemerkung,  sei  uns  erlaubt  Herr 
Meyer  will  eine  lang  bestrittene  Urkunde  retten  (pag.  9.  n.  19).  Die 
Jahreszahl  ist  unleserlich.  Man  macht  aus  1003  1063.  Dielndiction 
fehlt;]  zuletzt  steht  anno  regni  ejusdem  imperatoris  IX.  Also  ist, 
wenn  auch  1063  gelesen  wird,  auch  dies  falsch»  Und  nun  soll  der 
Umstand,  dass  ßrinkmeier  auf  Zurlauben  gestützt,  von  Heinrich  IV. 
sagt,  dass  er  die  Jahre  seines  imperii  zuweilen  schon  von  der  or- 
dinatio  an  zählt,  das  alles  wieder  gut  machen,  obsebon  doch  das 
auch  die  Zahl  9  nicht  verbesserte.  Es  ist  etwas  bekanntes,  dass 
die  Kaiser  aus  fränkischem  Hause  sehr  genau  in  ihren  Titeln  wa- 
ren und  sehr  wohl  den  rex  und  imperator  unterschieden;  es 
war  eben  die  Wichtigkeit  der  Kaiserkrönung  in  dieser  Zeit,  die 
diese]  Genauigkeit  hervorbrachte  und  Urkunde  und  Chronik  wa- 
ren die  Zeugnisse  der  Berechtigung  zu  dem  einen  oder  ande- 


*)  Urkunden  zur  Geschichte  der  eidgenössischen  Bünde,  Herausge- 
geben und  erläutert  von  J.  E.  Kopp,  Prof.   Lucern  bei  Xaver  Meyer  4835. 

**)  Essai  sur  l'origine  et  le  developpement  des  libertes  des  Wald- 
»tetten  in  den  memoires  et  documens  publ.  par  la  soc,  d'hist.  de  la  Suisse 
Romande  4839,  t.  II. 

***)  Essai  sur  l'etat  des  personnes  et  la  condition  des  terres  dans  le 
pays  d'Uri,    Im  Archiv  für  schweizerische  Geschichte,    Zürich  4843, 


Allgemeine  Literaturberichte.  289 

ren  Titel  So  sagen  z.  B.  cKe  Annales  Bosovienses  (Eccard  cor- 
pus med:  aevi.  1.  1007.  zu  1125.)  deutlich:  Henricus  quarlus  Im- 
perator hujus  nominis  et  quintus  rex.  cf.  Dodechin  ad  1125  etc., 
wahrend  dies  zahlreiche  Urkunden  eben  so  gut  beweisen;  gleich- 
wohl haben  wir  Beispiele  genug  nicht  blos  bei  Heinrich  IV.,  son- 
dern auch  bei  dem  zweiten  und  dritten  und  fünften,  aber  na- 
mentlich nur  in  Urkunden,  die  die  Kaiser  nicht  selbst  ausgestellt, 
sondern  in  denen  sie  blos  als  die  Regenten  erwähnt  werden,  dass 
diese  Genauigkeit  nicht  beobachtet  und  statt  der  richtigen  Zahl 
falsche,  oft  ganz  widersinnige,  geschrieben  sind.  So  heisst  Hein- 
rich IV.  tertius  rex  statt  Imperator  hei  Margarin.  Bullar.  Cassinense 

II.  106.  Leukfeld  Antiquit.  Poeldenses  app.  4.  p.  279.  Lang  Regest.  1. 
29.  und  quartus  imperator  statt  quartus  rex  wieder  bei  Margarin.  1. 

III.  In  einem  Schomburgeschen  Diplom  bei  Menken  1.  394  liest 
man  von  Heinpich  IV.:  „Henrico  V.  imperante  augusto."  Hein« 
rieh  V.  beisst  quarlus  rex  bei  Zapf  aneed.  p.  465.  bis.  Er  nennt 
sich  den  3.  im  Diplom.  Monaster.  Oldesleb.  bei  Menken  1.  614.  cf. 
Muratori  antiquit.  med.  aevi  (Medio!.  1738.)  V.  948.  Andere  Bei- 
spiele siebe  Schulles  historische  Schriften  p.  29.  Lupus  Cod.  dipl. 
Berg.  II.  706.  Annales  Gernrod.  ap.  Meibom,  ss.  rer.  Germ.  II. 
411.  Muratori  antiqq.  med.  aev.  3.  225.  Savioli  Annal.  Bologn.  1. 
b.  93.  etc.  etc.  Das  kommt  theils  auf  Rechnung  der  unwissenden 
und  nachlässigen  Aussteller  oder  Herausgeber,  wie  man  das  von 
Mangarin  z,  B.  mit  Recht  vermuthen  kann.  Einen  Beweis  darauf 
zu  gründen,  wo  alles  andere  widerspricht,  ist  daher  nicht  recht; 
es  ist  überhaupt  schlimm,  wenn  man  Ausnahmen  zu  historischen 
Beweisen  brauchen  muss.  Und  es  sind,  wenn  man  falschen  Ab- 
druck und  andere  kalligraphische  und  typographische  Schwierig- 
keiten abzieht,  durchaus  nur  wenige  Ausnahmen,  in  denen  die  Ur- 
kunden, die  die  Kaiser  selbst  ausgestellt,  ungenau  sind.  Sie  sind 
genauer  als  wir;  obschon  wir  wissen,  dass  der  Titel  immer  auch 
einen  Anspruch  verbirgt,  wir  schreiben  immer  Heinrich  IV.  V., 
obschon  es  falsch  ist.  Die  jüngsten  Geschichtschreiber  Lothars 
Gervais  und  Jaffa  haben  sich  nicht  einmal  in  den  interessanten 
Streit  eingelassen,  welches  der  rechtmässige  Titel  dieses  Kaisers 
sei.  So  geht  es  oft.  Die  Zeit  der  genauesten  Forschung  reisst  von 
der  Gewohnheit  nicht  los. 

Die  Feldzüge  Karls  des  Kühnen,  Herzogs  von  Burgtmd  und  seiner  Er- 
ben. Mit  besonderem  Bezug  auf  die  Tbeilnahme  der  Schweizer  an  den- 
selben. Ton  Emanuel  v.  Rodt,  vormals  des  Souveränen  Rains  und  des 
Appellationsgerichts  der  Stadt  und  Republik  Bern,  Mitglied  der  schweizeri- 
schen geschichtsforschendeu  Gesellschaft.  Erster  Band.  Mit  Karten  und 
Pinnen.     SchafThausen ,  Hurter'sche  Buchhandlung  4843.  8.  602  S. 

Die  letzte  Hälfte  des  15.  Jahrhunderts  ist  ein  gewaltiger  Ab- 
schnitt der  Weltgeschichte,    üeberall  wogt  es  in  den  Ereignissen, 


290  Allgemeine  Literaturberichte 

und  die  Flulh  steigt  und  fallt.  Im  Norden  und  Süden  Europas-* 
Umgestaltungen  der  Dinge;  Spanien  concentrirt  sich  zur  Einheit, 
politisch  und  religiös;  Frankreich  hat  endlich  für  viele  Herren 
Einen;  die  alte  Byzanz  wird  zur  Stsmbul,  und  der  Orient  im  We- 
sten mit  Feuer  und  Blut  herausgedrängt,  setzt  sich  gewaltiger  am 
Bosporus  fest,  und  an  —  der  Amstel.  Der  slawische  Iwan  wird 
der  Erste  der  weithingebietenden  Czaren;  in  dem  Hunyaden  Ma- 
thias spiegelt  sich  der  Glanz  des  Magyarenthums,  wie  hell  auch  — 
zum  letzten  Mal»  Deutschlands  Genius  wohnt  zwar  nicht  in  sei* 
nem  Herrscher,  aber  in  seinen  Bürgern;  die  Buchdruckerkunst  hat 
weiter  als  die  deutschen  Kaiser  zu  regieren  gelernt  und  vermocht. 
—  In  diesen  Tagen  scheint  der  Kampf  eines  Fürsten  mit  einem 
Volke,  der  sich  um  lokale  Interessen  und  subjeetive  Schwachen 
dreht,  beinahe  nur  ein  untergeordnetes  Ereigniss.  Den  Krieg  Karig 
des  Kühnen  mit  den  Schweizern  haben  nicht  die  Schlachten,  sondern 
der  Tod  des  Herzogs  erfolgreich  gemacht;  nicht  die  Siege  der  Schwer 
zer,  das  herrenlose  Erbe  war  es,  das  Frankreich,  Deutschland  und 
Italien  noch  das  künftige  Jahrhundert  aufregte.  Karl  der  Kühne 
war  der  letzte  der  grossen  Vasallen,  die  mächtiger  als  der  Lehns- 
herr diesen  in  der  Furcht  die  List  lehren 5  wie  mit  Warwick  das 
englische,  mit  Sickingen  das  deutsche,  stürzt  mit  ihm  das  franzö- 
sisch-mittelalterliche Ritter*  und  Vasallenthum ;  vergeblich  hatte  er 
damit  den  modernen  Glanz  und  die  moderne  Sitte  zu  verschmel- 
zen gesucht.  Für  Friedrich  IH.  war  er  im  Westen  das,  was  Ma- 
thias im  Osten  war;  der  einfache,  ruheliebende  Kaiser  stand  zwi* 
sehen  zwei  bell  lodernden  Feuern.  Karl  ist  aber  nicht  der  Genius, 
der  sich  neben  der  verständigen  Prosa  eines  Louis  XI.  zu  erbat' 
ten  vermag;  das  wilde,  ungezügelte  Element  verzehrt  sich  neben 
dem  wohlberechneten,  kaltblütigen;  nicht  Gransee  und  Märten, 
der  fromme  Betrüger  in  Fontainebleau  gruben  in  Nancy  das  Grab. 

Emanuel  v.  Rodt,  der,  wie  wir  aus  p.  23,  n.  f.  ersehen,  eine 
Geschichte  des  Berner  Kriegswesens  geschrieben,  erzählt  die  Kriege 
Karls  des  Kühnen  und  seiner  Erben  in  drei  Theilen,  deren  erster 
mit  dem  Tode  Philipps  des  Guten  beginnt,  und  mit  der  Eroberung 
von  Lothringen  1476  schliesst  (ein  Zeitraum  von  9  Jahren),  deren 
zweiter  den  Schweizerkrieg  von  1476—77  umfassen,  und  denen  driU 
ter  das  Schicksal  des  burgundischen  Erbes  bis  zum  Friedensschkss 
von  Senlis  1494  betrachten  soll. 

Wir  haben  blos  von  dem  Eindruck  Rechenschaft  zu  geben; 
den  der  erste  —  auf  uns  gemacht  hat,  welcher  nahe  an  39  Druck- 
bogen stark  ist;  sollen  wir  dabei  aufrichtig  sein,  so  müssen  wir 
gestehen,  dass  das  allzugrosse  Detail  nicht  selten  lästig  wird,  da 
es  nieht  pikant  genug  vorgetragen  ist,  und  der  Fleiss  un4  die  Ge- 
lehrsamkeit nur  für  den  Geschichtsforscher,,  nicht  den  Geschichte« 


Allgemeine  Literaturberichte»  201 

Schreiber,  allein  normgebend  sind.  Mit  Recht  sagt  der  Verf.  schon  in 
der  Vorrede  p.  VIII,  dass  die  strategische  Natur  in  der  Behandlung 
auffallen  werde;  der  alten  kriegerischen  Neigung  ist  er  wirklich 
zu  sehr  gefolgt.  Es  sind  handschriftliche  Nachrichten  benutzt,  die 
Literatur  ist  ganz  gekannt  und  wohl  auch  genannt,  aber  eine  Kri- 
tik, die  etwas  tiefer  geht,  die  den  Autoren  in's  Herz  und  Auge 
sieht,  die  hat  man  nicht,  man  kann  das  schon  an  dem  einen  Bei- 
spiel von  Commines  sehen,  den  -er  oft  benutzt,  ohne  sich  an 
Ranke's  jetzt  schon  21jahriges  Urtheil  zu  erinnern  (Kritik  der  neue- 
ren Geschichtschreiber  p.  159  etc.).  Auch  hat  der  ungeheure  Stoß 
specieller  Dinge  den  Verfasser  bewältigt,  man  geht  nicht  immer 
mit  klarem  Blick ;  durch  die  Erzählung,  und  slösst  auf  Dinge,  die 
man  als  hierher  ungehörig,  mit  Recht  hinweg  wünscht.  Dem  Buch 
geht  die  Form  der  Geschichtsforschung,  aber  auch  die  der  Ge- 
schichtschreibung ab.  Für  die  erstere  fehlt  ihm  die  Kritik  der 
Quellen,  die  Genauigkeit  der  Nachweisungen.  Weshalb  Autoren 
unter  ihre  Arbeiten  Citate  stellen,  und  zwar  aus  grossen,  bande- 
reichen Werken,  ohne  sich  zu  der  genaueren  Angabe  von  Band 
und  Seite  bequemen  zu  wollen,  hat  uns  immer  gewundert.  Liegt 
Jemanden  daran,  sich  vor  Anderen  als  einen  ehrlichen  Mann  zu 
legjtirairen,  so  muss  er  die  Beweise  ihnen  in's  Haus  bringen,  nicht 
verlangen,  dass  man  ihm  nachlaufe;  wir  vermissen  lieber  alle  Nach- 
weisungen, als  dass  wir  die  legere  Citation,  die  es  sich  auf  Kosten 
der  Leser  bequem  macht,  ungerügt  lassen;  die  Genauigkeit  ist  der 
Begriff  des  Citates.  Redt  ist  bald  genau  bald  bequem,  doch  letz- 
teres haußger.  Wenn  er  Commines,  l'art  de  verifier  les  dates, 
Meyer  Annal.  FLandr,  blos  nennt,  so  weiss  ich  nicht,  wozu  er 
überhaupt  citirl;  den  Kennern  des  Gegenstandes  sind  audh  die 
Quellen  bekannt;  kann  jeder  Andere  aber  dem  Verfasser  so  genau 
nacharbeiten  ? 

Es  fehlt  ihm  aber  auch  die  edle  Form  der  Geschichtschrei- 
bung. Dass  diese  eine  Kunst  sei,  deren  Jünger  jeder  Geschichts- 
freund werden  sollte,  dass  die  Form,  in  die  der  Geschichtschrei- 
ber die  Tbatsachen  giesst,  die  Höhe  des  Idealen  erreichen,  dass 
Inhalt  und  Gefäss  sich  congruent  sein  müssen,  ist  selten  beachtet 
worden.  Selbst  das  Aeusserlichste,  der  Styl  ist  in  diesem  Buche 
vernachlässigt;  die  Satzbildung  unangenehm  und  schleppend,  Wort- 
formationen wie  „Begründetheit"  (p.  39)  unzulässig,  und  beinahe 
komisch  macht  sich  der  Ausdruck  (p.  175)  „selbst  den  hohen 
Augen  des  stolz  einherreitenden  Herzogs  vermochte  sie  einen 
freundlichen  Blick  des  Wohlgefallens  abzulocken  (die  Gestalt  Ma- 
ximilians), wozu  in  der  Note  23  bemerkt  ist:  „ein  altteslament- 
licher,  hier  passend  scheinender  Ausdruck"!!  (wahrscheinlich  nach 


292  Allgemeine  Literaturberichte. 

Psalm  101,  5,  oder  Sprüche  21,  4,  wo  von  stoben  hochmütbigen 
Blicken  die  Rede  ist). 

Wenn  man  vou  den  Anzeigenden  nicht  Eobhudelei  und  Cano- 
nisirong  erwartet,  so  wird  man  es  billig  finden,  dass  wir  das  Man' 
gelhafte  des  Buches  hervorgehoben,  mag  es  auch  sonst  durch 
Fleiss  und  Unparteilichkeit  schätzenswerth  sein,  und  der  Müsse  des 
kriegerisch  gesinnten  Mannes  Ehre  machen.  Selig  Cassel. 


Zitltse  n  der  Abhudlug  über  „Maietfco  tid  die  Hndutem- 

Periode."  (Bd.  IL) 

I.    Zu  Abschn.  L  Cap.  11: 

Bei  der  Erwägung  der  Zeit,  in  welcher  Manetho  lebte, 
habe  ich  die  entscheidende  Erzählung  des  Plutarch  de  Iside 
et  Osiride  Cap.  28  übersehen,  aus  welcher  mit  Sicherheit 
hervorgeht,  dass  Manetho  schon  zur  Zeit  des  Ptolemäos  des 
Sohnes  des  Lagos  in  Ansehen  stand.  Plutarch  erzählt 
nämlich  daselbst,  wie  unter  den)  ersten  Ptolemaeos  der  be- 
kannte Koloss  aus  Sinope  nach  Alexandrien  gekommen,  und 
fährt  dann  fort:  *Eml  ob  xopiG&elc  coip&ijj  tivpßaXovreq  ol 
iuqI  Tiftoteop  top  i^f/ym^p  (über  diesen  vergl.  Tac.  Bist.  IV, 
83.  Corp.  Inscr.  Gr.  Bd.  I.  S.  446  b)  xal  Mavi&wpa  top 
JSeßevpihqv  IJlovrwvog  6p  äyakfia^  r«  KsQß^QCp  tsxjicuqo- 
fi€VO&  xal  zw  dqaxovrtj  mi&ovift  xov  fltofefuxZov.  wg  St£qov 
S-evov  ovdevog  akka  SaQamdog  iönv.  Es  ist  daner  keinem 
Bedenken  unterworfen,  wenn  Manetho  unter  Philadelphos 
gesetzt  wird,  und  sein  Zeitalter  steht  völlig  fest 

IL    Zu  Abschn.  I.  Gap.  15. 

Asklepiades,  säet  Suidas  in  dem  Artikel  Vqai^xog,  tfvy- 
YQCt<fih>  eyQcapsp  AtyvmiaplQyvylaw  7tQccytuxta  it£Qi&%owto& 
ovx  iXcctrÖPtoP  ivßp  ij  tqhZv  (iVQiadtop,  äila  nksiovmv  oXiyto. 
Dies  stimmt  auffallend  mit  unserer  Berechnung  der  Äfane- 
thonischen  Zeiten,  welche  bis  zum  Ende  der  30.  Dynastie 
30,203  Jahre  ergiebt  Aber  freilich  ist  dieser  Asklepiades  sehr 
jung:  denn  er  ist  der  Aegyptische  Neuplatoniker,  onngeiahrer 
Zeitgenosse  des  Heraiskos  und  des  Proklos  des  Diadocben. 
Man  sehe  den  Auszug  des  Photios  Bibl.  242.  aus  des  Damas- 
kios  Leben  Isidof's;  aus  dieser  Schrift  des  Damaslcios  hat  Suidas 
den  Artikel  'Hocttoxog  abgeschrieben,  in  welchem  die  eben 
angeführten  Worte  über  Asklepiades  vorkommen. 

Bockh. 


Wir  glauben  hier  noch  nachträglich  bemerken  zu  müssen,  dass  der 
Torstehende  Aufsatz  über  den  zweiten  Kreuzzug  schon  geraume  Zelt  vor 
dem  Erscheinen  von  Jaße's  Conrad  111.  uns  eingeliefert  worden  ist.    Red. 


Ueber  Pombal, 

insbesondere  seine  Refonnen  in  der  Verwaltung.*) 


1  olitische  Revolutionen  gehören  unstreitig  zu  den  anziehend- 
sten Gegenständen  der  Geschichte;  sie  sind  es  an  sich,  selbst 
wenn  ihrq,  Folgen  weniger  wichtig  erscheinen.    Das  drama- 
tische Leben,  mit  dem  sie  sich  entfalten,  die  Raschheit,  wo- 
mit Begebenheiten  und  Thaten  wechseln,  der  mächtige  Puls- 
schlag  in  den  Individuen  und  Massen,  die  vom  Strudel  er- 
griffen sind,  reizen  und   fesseln  den  Geist  und  regen   die 
Phantasie  auf.  Die  Geschichtsblätter,  welche  sie  füllen,  wer- 
den ein  Lehrbuch  der  Menschen-  und  Weltkenntniss,  wie 
der  Politik.    Weniger  fesselnd  sind  dagegen  langsame  Um- 
wandlungen in  den  inneren  Zuständen  eines  Volkes,  geistige, 
technische  und  materielle  Entfaltungen  desselben,  auf  dem 
Wege  friedlicher  Förderung  durch  Gesetzgebung  und  gün- 
stige Umstände;  aber  sie  sind  in  anderer  Beziehung  lehrrei- 
cher, um  so  mehr,  je  weniger  hier  der  Zufall  und  die  Macht 
der  Ereignisse  walten  und  jemehr  menschlicher  Wille,  mensch- 
liche Einsichten  und  Bestrebungen  wirken.    Kein  anziehen- 
deres und  erhebenderes  Schauspiel  für  den  sinnigen  und  den- 
kenden Betrachter  als  der  Anblick  eines  Volkes,  das  aus  ei- 
nem gesunkenen  Zustande  der  Bildung,  aus  dem  Druck  der 
Armuth  und  Abhängigkeit  auf  eine  hohe  Stufe  der  Gultur, 

*)  Mil  besonderer  Rücksicht  auf  die  „Memoirs  of  the  Marquis 
of  Pombal;  with  extracts  frora  his  writings,  and  from  desp&tches 
in  the  State  paper  office,  never  before  published.  By  John  Smilh, 
Esq.  private  Secretary  lo  (he  Marshai  Marquis  de  Saldanha.  In 
Iwo  volumes.   London,  1843.  Vol.  I.  XXVHF.  343.  Vol.  II.  XII.  388." 

Zeitschrift  f.  GetchicfcUw.  IV.   194».  20 


294  Heber  Pombdt, 

Wohlfahrt  und  Selbstständigkeit  steigt,  hauptsächlich  geho- 
ben durch  die  Wirksamkeit  zweckmässiger  Gesetze  und  An- 
stalten. Ist  der  Zeitraum,  worin  diese  Umwandlung  erfolgt, 
ein  kürzerer,  so  steigt  das  Interesse  des  Beobachters  in  dem 
Maasse,  als  sich  die  Gegenstände  in  dem  Bilde  zusammen- 
drängen und  den  Lieberblick  erleichtern.  Mögen  auch  solche 
Reformen  durch  mehre  Generationen  gehen  und  selbst  von 
Zeit  zu  Zeit  Störungen  erleiden,  das  Auge  des  Beobachters 
wird  ihnen  immer  mit  ungeschwächter  Theitnahme  folgen. 
Leichter  freilich  und  mit  grösserer  Spannung  folgt  es,  wenn 
in  der  Regierungszeit  eines  Fürsten  mehre  treffliche  Staats- 
männer hintereinander  das  schöne  Werk  fortbauen,  wie  un- 
ter Carl  HI.  in  Spanien,  Squillace,  Aranda  mit  Campomanes, 
und  Florida  Bianca.  Die  lebhafteste  Theilnahme  aber  würde 
das  Schauspiel  gewähren,  das  der  Umschwung  aller  Verhält- 
nisse und  Zustände  eines  Volkes  darbietet,  seine  Erhebung 
aus  einer  langen  Lethargie,  vornehmlich  auf  den  Ruf  eines 
einzigen  Mannes,  der  mit  seltener  Geistes«  und  Willensenergie 
sein  Volk  an  allen  Seiten,  den  Staat  in  allen  Fugen  erfasst 
und  beide  aus  ihrem  niederen  Stande  auf  eine  hohe  Stufe 
der  Geistesbildung,  der  inneren  Wohlfahrt  und  des  Ansehns 
mich  aussen  emporzurichten  strebt,  hauptsächlich  mit  dem 
Hebel  einer  Gesetzgebung,  die,  aus  einem  Geist  erzeugt, 
wie  aus  einem  Goss  erscheint  Nur  die  Persönlichkeit  eines 
solchen  Mannes  könnte  an  Interesse  dem  seiner  Schöpfung 
gleichkommen.  Lassen  wir  Pombal  vorläufig  als  einen  sol- 
chen Mann  gelten  und  sehen  wir  hier  von  dem  Werth  oder 
Unwerth  seiner  legislativen  Maassregeln  und  deren  Wirkun- 
gen, von  der  Art  der  von  ibrp  gebrauchten  Mittel  und  seiner 
Verfabrungs weise  ab,  so  bleibt  das  gewiss,  dass  weder  das 
grosse,  furchtbare  Naturereigniss,  das  Lissabon  in  Trümmer 
stürzte,  noch  das  weltgeschichtliche  Ereignis*  der  Aufhebung 
des  Ordens  der  Jesuiten,  Ereignisse,  die  in  seine  Verwaltung 
fallen,  durch  ihre  imposante  Grösse  und  Bedeutung  seine 
Person  in  den  Hintergrund  zu  stellen  vermögen,  wenn  er 
unter  den  Trümmern  von  Lissabon  wehrhaft  als  ein  retten- 
der Genius,  als  ein  Tröster  der  Unglücklichen,  ein  Beschützer 


insbesondere  seine  Reformen  in  der  Verwaltung.     293 

der  Half  losen  gegen  Raub  and  Mord  erscheint,  die  Schrecken 
des  Naturereignisses  mit  menschlicher  Hand  mildernd,  wenn 
er  später,  er  zuerst,  die  Axt  an  den  machtigen  Baum  legt, 
der  seine  Aeste  und  Zweige  über  die  ganze  bewohnte  Erde 
ausbreitete. 

Das  vorliegende  Werk  hat  das  Leben,  Streben  und  Wir- 
ken dieses  Mannes  zum  Gegenstande.  Sein  Verfasser  mochte 
fühlen,  dass  die  Biographie  ein  zu  enger  Rahmen  für  das 
umfangreiche  Gemälde  wäre,  und  des  Lesers  Auge,  das  hier 
so  oft  und  lange  auf  den  Staat  in  seinen  wichtigsten  Bezie* 
hangen  und  in  seinem  Verhältniss  zu  andern  Staaten  gelenkt 
und  dadurch  so  sehr  erweitert  werden  musste,  bisweilen  sich 
ungern  und  schwer  zusammenziehen  werde,  um  das  Persön- 
liche eines  Menschen  ganz  in  der  Nähe  zu  betrachten.  Er 
wählte  die  bequemere  Form  von  Denkwürdigkeiten,  die  ihm 
eine  freiere  Bewegung  und  das  kunstlose  Nebeneinanderstel- 
len des  Mannigfaltigsten  und  Verschiedenartigsten  gestattete, 
wiewohl  auch  diese  Form,  wenn  ihre  Eigenthümlichkeit  ge- 
wahrt werden  sollte,  vielen  Gegenständen,  die  hier  zur  Sprache 
kommen,  keineswegs  zusagt.  Der  Verfasser  bemerkt  dies  selbst, 
indem  er  noch  auf  andere  Incoiwenienzen,  die  ihm  entgegen 
traten,  hinweist  Gonsiderable  delaj  intervened  between  the 
antbor's  opportunities  of  Consulting  these  distinct  and  distant 
authorities,  rendcring  it  impossible  to  preserve  any  consistent 
train  of  tbought  upon  the  majority  of  the  events  there  re- 
corded.  If,  tberefore,  it  be  found  tbat  incidents  are  occasio- 
nally  introduced  with  too  little  preparation,  or  dismissed  more 
abruptly  tban  their  importance  would  seem  to  demand,  it  is 
hoped  the  reader  will  not  entirely  forget  the  Jabour  and  dif- 
ficulty  of  framing  and  connecting  a  variety  of  widely  scatter- 
ed,  and  sometimes  contradictory  materials,  into  one  conti- 
nuoos  narrative  etc.  Am  fühlbarsten  wird  dies  demjenigen, 
der  den  Ertrag  dieses  Werkes  in  übersichtlicher  Kürze  dem 
Leser  vorzulegen  beabsichtigt  Eine  gedrängte  Angabe  seines 
Inhalts  in  der  vorliegenden  Form  und  Reihefolge  würde  mehr 
einem  Aggregat  von  disparaten  Notizen,  als  einer  zusammen- 
hängenden Uebersicht  des  Wichtigsten  aus  dem  Leben  und 

20* 


296  lieber  Pombal, 

Wirken  PombaPs  gleichen.  Wir  verlassen  deshalb  hier  die 
Anordnung  des  Verfassers,  stellen  die  gleichartigen  Einzel- 
heiten, die  in  den  Memoire  grösstenteils  zerstreut  sind,  in 
grössere  Gruppen  zusammen  und  fassen  sie,  so  viel  als  mög- 
lich, unter  allgemeine  Gesichtspunkte. 

Von  der  früheren  Lebenszeit  Pombal's  bis  zu  seinem  Ein- 
tritt in  das  Ministerium  müssen  wir  seinen  Aufenthalt  in 
England  und  Wien  als  die  cinflussreichsten  Momente  hervor- 
heben. Nachdem  sich  Pombal  schon  früher  mit  dem  Studium 
der  Geschichte,  Politik  und  Gesetzgebung  beschäftigt  hatte 
(vol.  I.  p.  41)  und  im  Jahre  1733  Mitglied  der  1720  gestifteten 
König!.  Akademie  der  Geschichte  in  Lissabon  geworden  war, 
widmete  er  sich  während  seines  Aufenthalts  in  London  als 
Geschäftsbetrauter  Portugals  ähnlichen  Studien«  In  einer  band- 
schriftlichen Notiz  von  ihm  (I.  44)  bedauert  er,  dass  die  grosse 
Mannigfaltigkeit  von  Studien,  die  er  zu  machen  nöthig  finde, 
um  mit  der  Geschichte,  Verfassung  und  Gesetzgebung  Eng- 
lands bekannt  zu  werden,  verbunden  mit  seiner  meist  schlech- 
ten Gesundheit,  ihn  hindere  die  Kenntniss  der  englischen 
Sprache  zu  erwerben.  Er  hatte  in  seiner  dortigen  Stellung 
nicht  allein  öfteren  Anlass  die  staatsrechtlichen  Verhältnisse 
«eines  Vaterlandes  zu  Grossbritamen,  die  politischen  Bechte 
der  Portugiesen  in  England  und  der  Engländer  in  Portugal 
scharf  ins  Auge  zu  fassen  ( 1.  43)  und  zum  Gegenstande  sei- 
nes Nachdenkens  zu  machen;  noch  weit  mehr  Veranlassung 
bot  sich  dar,  den  Flor  der  Gewerbe  und  Manufacturen,  des 
Handels  und  der  Seemacht  in  England  zu  bewundern,  den 
tiefen  Stand  dieser  Dinge  in  seinem  Vaterlande  zu  beklagen 
und  auf  Mittel  zu  sinnen,  wie  das  zu  erreichen  wäre,  was 
seine  Vaterlandsliebe  ihm  wünschenswerth  machte.  Sein  Auf- 
enthalt  in  Wien,  wohin  er  gesandt  wurde,  um  einen  kirch- 
lichen Zwist  zwischen  den  Höfen  von  Rom  und  Wien  wegen 
der  Aufhebung  des  Patriarchats  von  Aquileja  zu  vermitteln, 
war  ihm  in  einer  andern  Bücksicht,  die  ihm  einst  so  bedeu- 
tungsvoll werden  sollte,  wichtig.  Kamen  hierbei  die  Princi- 
pien  über  die  Grenzen  der  kirchlichen  und  weltlichen  Gewalt 
im  Staat  und  in  dessen  Beziehung  zum  Papst  vielleicht  auch 


insbesondere  seine  Reformen  in  der  Verwaltung.     2ü7 

nicht  zur  Sprache,  so  kamen  sie  doch  in  Erwägung  und 
mussten  Pombal's  Nachdenken  vielfach  beschäftigen.  Sein 
Auftrag  führte  ihn  in  das  Intrikate  dieser  Frage  und  seine 
diplomatischen  Verhandlungen  mussten  ihn  über  das  Beste- 
hende, über  viele  betreffende  Dinge  und  betheiligte  Perso- 
nen aufklären.  Er  kannte  die  Allmacht  der  Geistlichkeit  in 
Portugal  und  ihre  Abhängigkeit  von  Rom.  Seine  Sendung 
in  Wien  —  er  legte  den  Zwist  zur  Zufriedenheit  bei  —  war 
für  ihn  eine  Schule,  aus  welcher  er  wohl  unterrichtet  trat. 
Der  Orden  der  Jesuiten  und  der  römische  Hof  erfuhren  dies 
bald  genug. 

Im  Jahre  1750  verliess  Pombal  Wien  und  kehrte  nach 
Lissabon  zurück.  Noch  in  demselben  Jahre  starb  Johann  V.  und 
König  Joseph  bestieg  den  Thron.  An  der  Spitze  der  Regie- 
rungsgesebäfte  stand  noch  Pedro  de  Motta,  allein  seine  da- 
hinschwindende Kraft  und  Gesundheit  Hessen  ihn  nicht  den 
thatigen  Aniheil  an  der  Verwaltung  nehmen,  zu  dem  ihn  seine 
Stellung  verpflichtete.  Von  dieser  Zeit  an  können  alle  Ge- 
setze und  Verfügungen,  die  von  dem  Cabinct  des  Königs  aus- 
gingen, als  von  Pombal  ausgegangen  betrachtet  werden;  denn 
König  Joseph  ergriff  keine  Maassregel,  ohne  Pombal  vorher  zu 
Rathe  zu  ziehen.  Die  ersten  fünf  Jahre  der  Regierung  Joseph's 
wurden  darauf  verwendet,  wirksame  Mittel  zur  Verbesserung 
der  Verwaltung  des  Landes  aufzufinden  und  in  Kraft  zu  setzen, 
und  die  Finanzplane  des  Ministers  festzustellen  (I,  64).  Smith 
führt  eine  Reihe  Reformen  auf  und  weist  mittelbar  und  un- 
mittelbar auf  den  elenden  Zustand  hin,  in  welchem  sich  bei 
Joseph's  Regierungsantritt  fast  alle  Zweige  der  Verwaltung 
befanden  und  welche  durchgreifende  Verbesserungen  dringend 
nöthig  machten.  Wir  heben  hier  namentlich  Pombal's  Re- 
form der  Finanzverwaltung  hervor  (I.  71, 72).  Selbst  auf  die 
Einzelheiten  des  königlichen  Hauses  in  den  kleinsten  Zwei- 
gen richtete  er  seine  Aufmerksamkeit,  und  die  Einschrän- 
kungen und  Ersparnisse,  die  er  hier  eintreten  liess,  mit  Zu- 
stimmung des  Königs,  machen  dem  guten  Willen  des  letzten 
ebenso  viel  Ehre,  als  dorn  Muthc  des  Reformators  (I.  73). 
Nachdem  die  augenfälligsten  Missbräuche  im  Mutterlande  ab- 


298  Ueber  Pombal, 

gestellt  waren,  wandte  Pombal  seinen  Blick  auf  die  schlech- 
ten Zustände  der  Colonien.  Ein  allbekannter  Missbrauch 
war,  dass  junge  Mädchen  von  Stand  und  Vermögen  aus  Bra- 
silien nach  Portugal,  unter  dem  Vorwande  hier  erzogen  zu 
werden,  geschickt,  nur  zu  oft  aber  für  ihre  übrige  Lebens- 
zeit in  die  Mauern  eines  Klosters  eingeschlossen  wurden. 
Ein  Deeret  verbot  dies  ausdrücklich.  Pombal's  Maassregeln 
in  Bezug  auf  den  Handel  der  Colonien  wird  später  gedacht 
werden* 

Ein  grauenvolles  Naturereigniss,  das  Erdbeben  am  1.  No- 
vember 1755  (trefflich  geschildert  von  Smith  I.  87—91)  un- 
terbrach Pombal's  Beformen,  und  führte  ihn  auf  einen  Schau- 
platz, auf  dem,  je  tiefer  und  dunkler  die  Schatten  waren, 
welche  Bestürzung  und  Verzweiflung,  Verbrechen  und  Elend 
auf  denselben  warfen,  Pombal's  Charakter  und  rastlose  Tä- 
tigkeit um  so  schöner  glänzen. 

Als  die  Katastrophe  eintrat,  befand  sich  die  königliche 
Familie  glücklicher  Weise  in  dem  kleinen  Palast  von  Belem 
in  der  Vorstadt  von  Lissabon.  Ihre  Bestürzung  war  gross, 
der  ganze  Hof  in  Thränen.  Der  König  sah  schweigend  rund 
umher  auf  seine  zitternde  Umgebung  und  wandte  sich  an 
Pombal,  der  (eilepd,  um  in  dem  schrecklichen  Augenblicke, 
so  viel  er  konnte,  Beistand  und  Trost  zu  bringen)  eben  in 
den  Palast  getreten  war.  „Was  ist  zu  thun,  rief  Joseph,  um 
dieser  Strafe  der  göttlichen  Gerechtigkeit  zu  begegnen?"  „Die 
Todten  ?u  begraben  und  für  die  Lebenden  zu  sorgen"  (Sen- 
ator, enterrar  os  mortos,  e  cuidar  nos  vivos),  war  die  ruhige 
und  unmittelbare  Antwort  Pombal's,  dessen  edele  Gestalt 
und  besonnenes  Benehmen,  ipdem  er  diese  concise  Erwiede- 
rung aussprach,  die  Bewunderung  Aller,  die  ihn  umgaben, 
gebot.  Von  dieser  Zeit  an,  sagt  man,  sah  König  Joseph  sei- 
nen Minister  als  einen  Sterblichen  höherer  Art  an. 

In  der  That  erregt  Pombal  wahre  Bewunderung,  wenn 
man  einen  unbefangenen  Blick  auf  den  Mutb,  die  Geistesge- 
genwart und  Umsicht,  die  Thätigkeit  und  Energie  wirft  (mit 
lebendigen  Zügen,  im  Einklänge  mit  den  Berichten  der  Eng- 
länder in  Lissabon,  von  Smith  geschildert  I.  92  —  96  und 


insbesondere  seine  Reformen  in  der  Verwaltung.     ?99 

App.  101  —  104),  die  er  in  diesen  schrecklichen  Tagen  und 
Machten  entwickelte.  In  einem  unglaublich  kurzen  Zeitraum 
würden  zweihundert  Verfügungen  in  Beiug  auf  Erhaltung  der 
Ordnung,  Unterschaffung  des  Volkes,  Yertheilung  von  Le- 
bensmitteln und  Verbrennung  der  Todten  erlassen.  In  die- 
sen Verfügungen  ging  Potnbal  in  die  kleinsten  Einzelheiten 
ein,  und  so  gfosd  war  die  Raschheit,  womit  sie  abgefasst  und 
veröffentlicht  wurden,  dass  er  viele  auf  seinem  Knie  mit  Blei- 
stift schrieb,  und  ohne  abgeschrieben  zu  Sein,  eilig  an  ihre 
Bestimmung  erliess.  „Die  Verwundeten  wurden  entfernt  Und 
ihre  Wunden  verbunden,  die  Obdachlosen  versammelt  und 
in  temporaren  Hütten  untergebracht,  Lebensmittel  aus  allen 
Quartieren  beigebracht  und  unter  die  Armen  vertheilt*  Mo- 
nopole aller  Art  verboten,  Truppen  aus^den  Provinzen  gezo- 
gen, um  die.  Ordnung  zu  erbalten,  die  zerstreuten  Nonnen 
versammelt,  die  Trümmer  weggeräumt,  die  Todten  verbrannt, 
der  öffentliche  Gottesdienst  hergestellt/*  Smith  sagt  nicht  zu 
viel  mit  den  Worten:  Like  a  superior  being,  he  was  present 
evcry  where;  encourfiging  the  timid,  comforting  the  desolate, 
awing  the  wicked,  festraining  the  reckless,  soothing  the  woun- 
ded,  and  pouring  the  baltn  of  peace  and  consolation  into  the 
bosoms  of  the  despairing  and  the  afflicted.  He  was  the  all 
in  all-  the  üpholder,  regenerator  and  genius  of  the  natiqn, 
Unstreitig  war  Pombal's  Benehmen  und  Wirken  bei  diesem 
grossen  Unglücke,  das  sein  Vaterland  traf,  die  glänzendste' 
und  reinste  Seite  seiner  öffentlichen  Thätigkeit,  und  man 
hätte  sie  bei  seinen  späteren  Handlungen  und  Maassregeln 
der  Verwaltung,  die  —  mit  Recht  oder  Unrecht  —  so  schwer 
getadelt  worden,  nie  vergessen  sollen, 

Nächst  dieser  Seite  ist  seine  Gesetzgebung  in  fast  alles 
Zweigen  des  Staatswesens  Gegenstand  des  Lobes  gewesen, 
—  noch  öfter  aber  des  Tadels,  des  letzteren  weit  mehr  als 
des  ersteren  aus  Unkenntnis^  der  inneren  Zustände  von  Por«- 
tugal  in  jener  Zeit  und  der  einzelnen  Verordnungen  von  Pom- 
bal  mit  ihren  Anlässen  und  Motiven,  und  ihres  Zusammen- 
hange» mit  anderen  bezüglichen  Verhältnissen.  Da  Smitb's 
Werk  die  Gesetzgebung  und  Verwaltungsöiaa&sregelu  Pom- 


300  Ueber  Pambal, 

bal's  in  einem  grösseren  Umfange  und  mit  einem  genaueren 
Eingehen  ins  Einzelne,  als  es  bisher  geschehen,  behandelt,  so 
verweilt  auch  Becensent  bei  diesem  Gegenstande  der  Memoirs 
länger,  wobei  ihn  die  ihm  vorliegende  Sammlung  der  portu- 
giesischen Gesetze  und  Verordnungen  von  den  Jahren  1750 
bis  1777  in  Stand  setzt,  den  Arbeiten  des  Verfs.  auf  diesem 
Felde  Schritt  für  Schritt  zu  folgen  und  sich  der  Gewissen- 
haftigkeit, womit  derselbe  die  Gesetze  und  öffentliche  Urkun- 
den benutzt  und  nicht  selten  das  Wesentliche  aus  ihnen  mit- 
theilt, zu  versichern. 

Zur  Erleichterung  der  (Jebersicht  von  Pombal's  Gesetz- 
gebung, soweit  sie  in  den  Memoirs  behandelt  wird,  stellt  Be- 
censent hier  zusammen,  was  vereinzelt  durch  beide  Bände 
zerstreut  ist,  und  verknüpft  es  einigermaassen  zu  einem  Gan- 
zen, dem  er  an  geeigneter  Stelle  seine  Bemerkungen  einwebt 
Becensent  sagt,  soweit  Pombal's  Gesetzgebung  in  den  Me- 
moirs behandelt  wird;  denn  sie  vollständig  und  genügend 
darzustellen,  konnte  und  sollte,  bei  dem  Zwecke  seines  Wer- 
kes, nicht  die  Aufgabe  des  Yerfs.  sein.  Wollte  man,  bemerkt 
Smith,  die  Schritte  aufzählen,  welche  Pombal  gethan  hat,  um 
sein  Land  zu  bereichern  und  zu  civilisiren,  so  würde  man 
damit  mehre  Bände  füllen.  Jedes  einzelne  Gesetz  würde  ei- 
nige Seiten  fordern,  um  uns  mit  den  Missbräuchen  bekannt 
zu  machen,  welche  seine  Erlassung  hervorriefen,  wahrend 
noch  mehre  nöthig  wären,  um  seine  wohlthätigen  Wirkun- 
gen zu  erläutern.  Solche  Einzelheiten  gehören  mehr  einer 
Geschichte  der  portugiesischen  Gesetzgebung  an.  Ich  stehe 
deshalb  von  einem  solchen  Unternehmen  ab  und  begnüge 
mich,  zur  Kenntnissnabme  flir  Wissbegierige,  welche  weitere 
Forschungen  zu  machen  geneigt  sind,  mit  der  Angabe  einiger 
der  merkwürdigsten  Edicte  und  Gesetze,  die  auf  die  Regie- 
rung Joseph 's  und  die  Verwaltung  Pombal's  ein  Licht  werfen. 

Indem  wir  diese  Ansicht  des  Yerfs.,  womit  er  die  In- 
haltsangabe einiger  von  Pombal  gegebenen  Gesetze  befür- 
wortet (IL  250),  vollkommen  theilen,  nehmen  wir  sie  für  uns 
ganz  besonders  in  Anspruch.  Von  einer  Aufzählung  einzel- 
ner Gesetze  und  Verordnungen  Pombal's  kapn  hier  noch  we<- 


insbesondere  sehte  Reformen  in  der  Verwaltung.     301 

niger  die  Bede  sein;  unser  Augenmerk  rouss  zunächst  auf 
die  leitenden  Ansichten  und  Grundsatze  seiner  Gesetzgebung 
gerichtet  werden,  die  wir  daher  vor  Allem  hervorheben. 

Wir  finden  jedoch  nöthig,  noch  vorher  zu  bemerken, 
dass  wir  die  Reformen,  nur  wie  sie  in  den  Gesetzen  und 
Verordnungen  erziel  t  worden,  im  Auge  haben,  von  der  Weise 
aber,  wie  sie  ins  Leben  eingeführt  wurden,  hier  überall  ab- 
sehen. Der  gegen  PombaPs  Gesetzgebung  vielfach  ausgespro- 
chene Tadel  trifft  ihn  vornehmlich  in  letzter  Hinsicht.    Man 
hat  aber  seine  Verdienste  in  erster  Hinsicht  gemeinlich  über- 
sehen und  verkannt,  die  Gründe  und  Umstände,  die  in  letz- 
ter Hinsicht  zu  seinen  Gunsten  sprachen,  nicht  gekannt  oder 
beachtet,  die  Härte,  die  er  sich  bei  der  Vollziehung  einzel- 
ner Reformen  zu  Schulden  kommen  Hess,  als  sein  regel- 
mässiges Verfahren  betrachtet  und  getadelt   Wir  sind  weit 
davon  entfernt,  die  Bewunderung,  welche  der  Verf.  der  Me- 
moire an  vielen  Stellen  Pombal  als  Gesetzgeber  zollt,  zu  thei- 
len;  aber  wir  bewundern  nicht  selten  sein  legislatives  Genie 
während  wir  seinen  legislativen  Charakter  tadeln,  seine  le- 
gislative Praxis  wohl  selbst  verabscheuen.    Wir  vergessen 
nie,  dass  Pombal,  als  er  die  Verwaltung  übernahm,  sein  fünf- 
zigstes Lebensjahr  überschritten  hatte,  und  dieser  Umstand 
allein  uns  im  Urtheil  über  die  Rascbheit  oder  Uebereilung 
in  seinem  Verfahren  vorsichtig  machen  sollte;  vergessen  nie, 
dass  seine  Verwaltung  sieben  und  zwanzig  Jahre,  über  ein 
Viertel -Jahrhundert,   ununterbrochen  und   uneingeschränkt 
dauerte,  ein  Zeitraum,  worin  ein  Mann  von  Pombal's  unge- 
wöhnlicher Thätigkeit  und  Energie  unendlich  viel  zu  unter- 
nehmen und  zu  leisten  vermag;  vergessen  nie  den  kläglichen 
Zustand  des  Landes  und  Volkes,  die  in  vielen  Dingen  hinter 
anderen  Ländern  und  Völkern  zurückgeblieben  waren  und 
eine  gewaltige,  aus  ihrer  Lethargie  sie  herausreissende  An- 
strengung nöthig  machten;   vergessen   nicht  die   besondere 
Lage  Pombal's,  in  welcher  er  bei  den  löblichsten  Absichten 
und  zweckmässigsten  Reformen   überall  auf  den   heftigsten 
Widerstand  des  Adels  und  der  Geistlichkeit  stiess,  zu  gewalt- 
samen Maassregcln  hingedrängt  wurde,  und,  im  Kampfe  mit 


302  lieber  Pombal, 

diesen  hochprivilegirten  und  allvermögenden  Ständen,  in  der 
Entfaltung  eines  energischen  Willens  und  einer  gewaltigen 
Tbatkraft  die  Humanität  des  Menschen  nicht  selten  hintan- 
setzte. Spittler's  richtiger  Blick  zeigt  sich  auch  hier  bewährt, 
gleichsam  an  beiden  Endpunkten  der  Beurtheilung:  „Ein 
strenger  durchgreifender  Reformator  war  für  Portugal  not- 
wendig; aber  selbst  die  grösste  Strenge  hat  doch  Vorschrif- 
ten des  Rechtes  und  Gesetze  der  Menschlichkeit  zu  ehren." 
(Entwurf  der  Geschichte  der  europäischen  Staaten  I.  127.) 

Treten  wir  nun  Pombal's  legislativen  Grundsätzen  näher, 
so  dürfte  Lesern,  welche  ihm  gerade  Neuerungssucbt,  scho- 
nungsloses Verletzen  herrschender  Ansichten,  Vorurtheile  und 
Lieblingsneigungen,  allzu  raschen  Umsturz  .des  Bestehenden 
und  tief  Eingewurzelten  zum  Vorwurf  machen,  Smith's  An- 
sicht irrig  scheinen.  Während  Pombal,  bemerkt  derselbe, 
keine  Reformen  als  solche  machte,  die  er  für  das  Wohl  des 
Landes  nöthig  erachtete,  hob  er  keinen  Gebrauch  auf,  der 
sich  wohlthätig  in  seinen  Wirkungen  zeigte,  wenn  gleich  der- 
selbe nach  Pombal's  Theorie  wenig  vernünftig  war.  Pombal 
war  in  dieser  Hinsicht  der  grosse  Gesetzgeber  —  der  grosse 
conservative  Gesetzgeber — der  wusste,  dass  die  Schwierig- 
keit einer  Verbesserung  nicht  im  Beschliessen  von  dem  was 
eingeführt,  sondern  im  Auswählen  von  dem  was  aufgehoben 
werden  soll,  liegt.  Die  Verbältnisse  einer  jeden  Institution 
müssen  durch  eine  Menge  Umstände  modificirt  werden,  die 
so  sehr  von  der  Natur  des  Landes,  den  Anlagen  und  Voror- 
theilen des  Volkes  abhängen,  dass  es  kaum  möglich  ist,  eine 
Reform  einzuführen  oder  einen  Missbrauch  einer  bestehen- 
den Verwaltung  abzustellen,  ohne  dem  ganzen  Gebäude  einen 
Nachtheil  zuzufügen.    (IL  124.) 

.  Ob  sich  Pombal  von  diesen  Grundsätzen  bei  seiner  Ge- 
setzgebung überall  leiten  liess,  wollen  wir  dahin  gestellt  sein 
lassen.  Allein  sicherlich  wusste  er,  wie  bei  dem  Ausrotten 
des  Veralteten  oder  Missbräuchlicben ,  leicht  auch  das  Gute, 
das  in  ihm  verhüllt  schlummert  oder  keimt,  ausgerissen  wird; 
wie  die  reinste,  beste  legislative  Idee  bei  ihrer  Einfügung  in 
die  Wirklichkeit  viel  eiobüsst,  dass  sie  dem  mangelhaft  Gu- 


insbesondere  seine  Reformeti  in  der  Verwaltung.     303 

ten  in  dem  Bestehenden  weit  nachsteht — „Mögen  sie  flie- 
hen/' schliesst  Pombal  seine  trefflichen  Bemerkungen,  die 
er  bei  Gelegenheit  der  Inauguration  der  Reiterstatue  des  Kö- 
nigs Ioseph  am  6.  Juni  1776  schrieb,  indem  er  seine  Nach- 
folger im  Ministerium  im  Auge  hat,  „mögen  sie  fliehen  jene 
Neuerungen,  mit  welchen  unpraktische  Männer  dasjenige  zu 
verbessern  suchen,  was  gut  ist,  in  der  Hoffnung  es  besser  zu 
machen,  da  die  Erfahrung  gezeigt  hat,  dass  sie  durch  solche 
Neuerungen,  statt  die  Zwecke  zu  erreichen,  die  sie  Tür  die 
wünschenswertesten  halten,  in  der  That  das  Gute  verlieren, 
das  sie  einst  besassen,  zum  unersetzlichen  Schaden  der  Krone,, 
der  sie  dienen,  und  der  Unterthanen,  die  sie  regieren."  (IL  212.) 

Seine  volkswirtschaftlichen  Ansichten  und  Grundsätze 
hat  Pombal,  ausser  in  den  bezüglichen  Gesetzen,  aus  denen 
sie  gefolgert  werden  können,  ausdrücklich  ausgesprochen. 
„Wenn  der  Ackerbau  blüht,  so  sind  die  wirksamsten  Mittel, 
ein  Reich  zum  Wohlstand  zu  bringen,  die  Einführung  von 
Manufacturen  und  die  Beförderung  des  Handels,  indem  sie 
das  Volk  bereichern  und  civilisiren  und  folglich  den  Staat 
mächtig  machen.  Der  Handel  besteht  seinem  Wesen  nach  im 
Kauf  oder  Tausch  von  Producten  und  in  der  wechselseitigen 
Communication  der  Nationen;  aus  dem  ersten  erwächst  Nut- 
zen und  Reichthum,  aus  dem  letzten  gewinnen  wir  Humani- 
tät und  Civilisation."  —  „Die  Seele  des  Handels"  fügt  Pom- 
bal hinzu  „ist  die  Freiheit  des  Volkes."  (I.  304.) 

Wir  können  Smith  nicht  ganz  beistimmen,  wenn  er  bei 
dieser  Veranlassung  darauf  hinweist,  wie  genau  Pombal  hierin 
den  Fusstapfen  Sully's  folgte.  Diesem  waren  le  labour  et  le 
paturage  les  deux  mamelles  de  l'ätat;  den  Manufacturen  da* 
gegen  war  Sully  bekanntlich  keinesweges  hold.  Die  damalige 
Lage  Frankreichs  und  die  Ansichten  jener  Zeit  empfahlen 
vorzugsweise  die  Landwirtbschaft,  und  erklären  und  recht- 
fertigen diese  Vorliebe  Sully's.  Pombal  sah  in  der  Blüthe 
•des  Ackerbaues  die  Vorbedingung  des  Wohlstandes  einer  Na- 
tion, den  er  dann  durch  Manufacturen  und  Handel  gefördert 
wissen  wollte.  Auf  der  anderen  Seite  wich  er  darin  von 
Colbert  ab,  der  im  Geiste  seiner  Zeit  und  die  eigenthümii- 


304  Ueber  Pombal, 

eben  Neigungen  und  Fähigkeiten  seines  Volkes  beachtend, 
jenem  weniger  Bedeutung  beimäass  und  weniger  Sorgfalt 
schenkte,  als  den  Gewerben  und  dem  Handel,  welche  ihm 
die  mamelles  de  F6tat  waren.  Pombal  steht  in  der  Mitte 
zwischen  beiden,  insofern  über  beiden,  als  er  die  Einsei- 
tigkeit des  einen  und  des  anderen  zu  vermeiden  suchte.  Er 
konnte  ihre  Erfahrungen  und  die  Aufklarung  seines  Jahr- 
hunderts nützen,  und  theilte  in  jener  Hinsicht  die  Grundan- 
sichten  Filangieri's:  „l'agricoltura,  le  arti,  il  commercio,  que- 
ste  sono  le  tre  sorgenti  universale  delle  ricchezze,"  wahrschein- 
lich ohne  den  edlen  Neapolitaner  zu  kennen.  Er  hatte  in 
Engfand,  wo  er  die  staatswirthsebaftlichen  Schriften  der  Fran- 
zosen studirte,  sicherlich  einen  tiefen  Blick  getban  in  die 
englische  Volksthätigkeit,  die  landwirtschaftliche  wie  die  ge- 
werbliche, ihr  gegenseitiges  Yerhältniss,  ihre  Licht-  und  Kehr- 
seiten. Pombal  stieg  noch  eine  Stufe,  eine  bedeutende  Stufe 
höher;  ihm  war  der  Handel  nicht  blos  eine  Quelle  des  Reich- 
thums  und  des  äusseren  Wohlstandes  des  Volkes;  er  sah  im 
Handelsverkehr  der  Nationen  ein  Mittel,  sie  zur  Humanität 
und  Civil isation  zu  leiten.  Er  stand  hoch  genug,  um  die 
geistigen  Bedürfnisse  und  Interessen  eines  Volkes  wahrzu- 
nehmen, und  indem  er  in  der  Freiheit  desselben  die  Seele 
des  Handels  sah,  konnten  dessen  geistige  und  höhere  Wir- 
kungen seinem  Scharfblick  nicht  entgehen. 

Pombal  fand  die  Landwirtschaft  in  Portugal  in  ei- 
nem traurigen  Zustande,  als  er  diesem  Zweige  der  National- 
thätigkeit  seine  Aufmerksamkeit  mit  Nachdruck  zuwandte. 
Jener  Zustand  mochte  ihm  wohl  schon  länger  bekannt  sein, 
allein  erst  spät,  nach  einer  vieljährigen  Verwaltung  und  in 
vorgerücktem  Lebensalter  schritt  er  zu  einer  durchgreifenden 
Maassregel ,  die  wie  ein  Act  jugendlicher  Hast  und  ein  ge- 
waltsamer Eingriff  in  den  Kreis  persönlicher  Freiheit  und 
selbstgewählter  Thätigkeit  getadelt  worden  ist.  Während 
Pombal  zur  Gultur  der  Weinrebe  auf  einem  ihrem  Wachs-« 
thume  günstigen  Boden  ermunterte,  war  er  zugleich  bemüht, 
Portugal  von  dem  Bedürfnisse  ausländischen  Getreides  zu  be- 
freien.   Einige  der  besten  Ländereien,  die  für  den  Weinbau 


imbesondere  Meine  Reformen  in  der  Verwaltung.     30$ 

ganz  angeeignet  waren,  fand  er  mit  Reben  bepflanzt,  die  nur 
einen  sehr  schlechten  Wein  lieferten.  Um  dieser  Übeln  An- 
wendung eines  vortrefflichen  Ackerlandes  entgegenzuwirken 
und  dasselbe  seiner  ursprünglichen  Benützung  zurückzuge- 
ben, suchte  er  ein  altes  Gesetz  vom  Jahre  1691  hervor,  das 
alles  Land  am  Ufer  des  Tajo  und  den  auf  beiden  Seiten  sich 
ausbreitenden  Landstrich  zu  besäen  und  zu  bepflanzen  em- 
pfahl. Die  Landbauer  aber  hatten  das  Gesetz  umgangen,  und 
das  sonst  so  ergiebige  Land  war  durch  eine  verkehrte  Be- 
wirthung  fast  unfruchtbar  geworden.  Nun  erliess  Pombal 
sein  vielbesprochenes  Decrct  vom  26.  October  1765,  demge- 
mäss  viele  Weinberge  in  Zeit  von  drei  Monaten  ausgerottet 
und  der  Boden  mit  Korn  besäet  werden  sollten.  Es  ist  na- 
türlich, sagt  Smith  II.  36,  dass  ein  scheinbar  so  willkürli- 
cher und  zwingender  Act,  wenn  man  PombaFs  Beweggründe 
nicht  naher  untersuchte,  nicht  ohne  scharfe  Bemerkungen 
und  ohne  Tadel  bleiben  konnte.  Und  in  der  That  erfolgten 
zahlreiche  Angriffe  und  häufige  Beschwerden  gegen  den  Mi- 
nister. Smith  vertheidigt  Pombal  in  dieser  Beziehung  mit 
Sachkennlniss  und  nicht  ohne  Erfolg  II.  37,  38,  und  hebt  zu- 
gleich hervor,  was  er  für  den  Landbau  in  Alemtejo  that 
Jedenfalls  wird  der  unbefangene  Leser  dem  Verf.  beipflich- 
ten, wenn  er  bei  einem  anderen  Anlasse,  I.  68,  darauf  auf- 
merksam macht,  wie  gut  Pombal  die  natürlichen  Hülfsquel- 
len  und  Erzeugnisse  des  Landes  kannte,  und  wie  er  bei  der 
Ermunterung  der  Industrie  und  der  Anwendung  der  Capita- 
lien  desselben  sichtlich  von  einer  vollkommenen  Kenntniss 
des  Glimas,  der  Hülfsmittel  und  Lage  Portugal's  in  Bezug  auf 
das  übrige  Europa  geleitet  wurde. 

Um  die  inländische  Industrie  anzuregen  und  aus  den 
Fortschritten  anderer  Nationen  Vortheil  zu  ziehen,  wurde 
Ausländern  die  Erlaubniss  gegeben,  neue  Erfindungen  und 
Arbeiten  von  anerkanntem  Nutzen  in  Portugal  einzuführen, 
und  zugleich  versucht,  fremde  Gewerbsleute  und  Künstler  in 
den  Dienst  von  Portugal  zu  ziehen  (IL  99).  Daneben  ermun- 
terte nicht  allein,  sondern  unterstützte  Pombal  inländische 
Manufactur-Unternehmungen,  nicht  dadurch,  dass  er  fremde 


306  Veber  Pombal, 

Concurrenz  ausschloss  und  die  ganze  Nation  nöthigte,  um 
einen  theuern  Preis  die  im  Lande  verfertigten  Waaren  zu 
kaufen,  welche  wohlfeiler  vom  Auslande  bezogen  werden, 
sondern  indem  er  unternehmenden  Speculanten,  die,  auf  ihre 
eigene  Industrie  und  Geschicklichkeit  bauend,  mit  auswärti- 
gen Manufacturen  in  Güte  und  Wohlfeilheit  der  Waaren 
wetteiferten,  angemessene  Darlehen  bewilligte  (II.  255).  Ihm 
war  es  wohl  bekannt,  dass  der  Vorschuss  von  2000  Livres, 
den  Colbert  jedem  Erbauer  eines  Seidenstuhles  bewilligte, 
erwünschte  Früchte  getragen  hatte.  Smith  giebt  eine  (Jeber- 
sicht  der  Vorschüsse,  welche  die  portugiesische  Regierung 
von  Zeit  zu  Zeit  zu  diesem  Behufe  machte  (II.  256).  Pom- 
bal's  Sorge  für  Emporbringung  von  Manufacturen  und  Fabri- 
ken tritt  häufig  genug  hervor.  Schon  im  Jahre  1751  errich- 
tete er  eine  Zucker-Raffinerie,  welcher  er  verschiedene  Pri- 
vilegien bewilligte  (I.  67),  stellte  1757  die  königliche  Seiden- 
manufactur  her  (I.  300,  vergl.  die  Estatutos  da  Real  Fabrica 
das  sedas  vom  6.  Aug.  1757  in  der  Gesetzsammlung),  hob 
1759  wieder  die  fast  eingegangenen  Wollenmanufacturen  in 
Beira  (I.  306).  Besonders  war  es  der  Seidenbau,  auf  den 
Pombal  sein  Augenmerk  richtete.  Im  Jahre  1771  wurden 
19,996  Maulbeerbäume  aus  Frankreich  in  der  Nachbarschaft 
von  Lissabon  gepflanzt  (sie  kosteten  der  Regierung  5}  Con~ 
tos);  weitere  19,361  Stück  im  folgenden  Jahre,  mit  5000  für 
Pombal's  Privatanlagen  in  Oeyras,  wo  er  zum  Aufziehen  von 
Seidenraupen  ein  geräumiges  Gebäude  auffuhren  liess.  So 
stieg  der  Ertrag  der  rohen  Seide  lur  die  königliche  Manufa- 
ctur,  der  vor  dem  Jahre  1770  nicht  über  16,000  Pfd.  betra- 
gen hatte,  in  einem  Jahre  auf  40,000  Pfd.  und  im  folgenden 
auf  44,000  Pfd.  Smith  theilt  II.  255  einen  officiellen  Reriebt 
über  die  Seidenwaaren  mit,  die  von  1769  —  1774  geliefert 
wurden  und  von  1482  auf  2485  stiegen. 

Nicht  minder  thätig  zeigte  sieh  Pombal  für  Belebung  dea 
Handels.  Während  der  langen  und  ruhmlosen  Regierung 
Johann's  V<  kümmerten  alle  Handelsunternebmungen  oder 
waren  gänzlich  unterblieben«  Es  war,  wie  Pombal  einsah, 
nicht  leicht  jene  zu  wecken  und  im  Schoosse  des  Kaufmanns* 


imbesondere  seine  Reformen  tri  der  Vertealiung.     307 

Standes,  der  so  lange  in  UnthStigkeit  versunken  war,  heilsame 
Specolationen  hervorzurufen.  Um  zur  Tbätigkeit  anzuregen 
und  die  Capitalien  des  Landes  in  productive  Bahnen  zu  lei- 
ten, fasste  Pombal  den  Gedanken,  grosse  Handelscompagnien 
zu  gründen,  —  ein  Mittel,  sagt  Smith,  neue  Zweige  des  Handels 
zu  schaffen,  oder  Unternehmungen,  welche  grosse  Gapitalien 
heischen,  zu  fördern,  das  nicht  allein  damals  ergriffen,  son- 
dern auch  in  folgenden  Zeiten  mit  Erfolg  nachgeahmt  wurde. 
Denn  wir  sehen,  dass  alle  grosse  und  hervorragend  glückli- 
che Unternehmungen  sowohl  in  Portugal,  Frankreich  und 
England,  als  in  anderen  europäischen  Staaten  durch  Compa- 
gnien  angefangen  und  mit  Erfolg  fortgeführt  worden  sind. 

Es  kann  hier  nicht  die  Aufgabe  sein,  die  Zweckmässig- 
keit oder  Unzweckmässigkeit  der  Handelscompagnien  nach- 
zuweisen; aber  es  darf  auch  nicht  unerwähnt  bleiben,  wenn 
über  Pombai's  Wirksamkeit  in  dieser  Hinsicht  ein  Urtheil  ge- 
lallt werden  soll,  dass  die  Allgemeinheit,  in  welcher  in  obi- 
ger Stelle  die  Handelscompagnien  genommen  werden,  z.  B. 
ohne  Rücksicht  darauf,  ob  sie  mit  Monopolen  oder  ohne  Mo- 
nopole ausgestattet  waren  u.  s.  w.,  leicht  zu  einem  ganz  un- 
richtigen Urtheile  fahren  möchte.  Der  Verf.  seihst  lässt  eine 
Beschränkung  eintreten,  indem  er  gleich  darauf  von  dem  Ver- 
eine von  Kauf  leuten  spricht,  der  unter  dem  Namen  „Olden- 
burg-Compagnie"  in  jener  Zeit  wohl  bekannt  war,  und  des 
Monopols  wegen  seinem  Urheber  vielen  Tadel  und  manche 
Feinde  zuzog.  Er  fügt  sehr  verstandig  hinzu:  Doubtless  there 
is  a  term  at  which  the  monopolies  which  compagnies  enjoy 
beeome  a  bürden  on,  and  a  partial  injustice  to,  the  nation  at 
large;  and  probably  at  this  moment  tbey  ought  to  give  up 
their  privileges,  and  cease  to  exist,  and  the  trade  should  be 
thrown  open  to  the  competition  of  the  whole  nation,  I.  71k 
Ungleich  wichtiger  war  die  Gründung  der  berühmten  Porto- 
wein~Compagnie  (wir  erwähnen  sie  hier,  weil  sie  für  den 
Handel  noch  wichtiger  war  als  für  die  Landwirthscbaft),  die, 
ein  Hauptgegenstand  des  Tadels,  den  Pombal  von  seinen  Geg- 
nern erfuhr,  von  Smith  mit  der  Ausführlichkeit  behandelt 
worden  ist,  welche  ihre  Wichtigkeit  in  Pombai's  Verwaltung 


308  Heber  Pombal, 

erfordert.  Die  vornehmsten  Weinbauer  am  unteren  Douro 
stellten  im  Aug.  1756  der  Regierung  (unter  Anderem)  vor, 
wie  dieser  Zweig  der  Landwirtschaft  in  den  drei  Provinzen 
ßeira,  Minho  und  Traz-os-Montes  so  herabgekommen  sei, 
dass  der  Ertrag  nicht  mehr  die  Kosten  der  Cultur  decke,  der 
Nutzen  allein  in  den  Händen  der  zahllosen  Weinschenker  in 
Porto  sei,  die  den  Wein  in  einem  unglaublichen  Grade,  der 
ihn  der  Gesundheit  gefährlich  mache  und  in  allgemeinen  Miss- 
credit  bringe,  verfälschten,  und  dass  die  Errichtung  einer  Com- 
pagnie  das  einzige  Mittel  sei,  den  mannigfaltigen  Hebeln  die- 
ses Zustandes  zu  begegnen.  Pombal  überzeugte  sich  von  der 
Notwendigkeit  des  Einschreitens  der  Regierung  und  vermit- 
telte ein  Decret  vom  10.  Sept.  1756,  wodurch  die  „Gom- 
panbia  geral  da  Agricultura  das  vinhas  do  Alto  Douro"  ge- 
bildet wurde.  Die  uns  vorliegenden  Statuten  derselben  ent- 
halten 53  Paragraphen.  Die  Hauptaufgabe  der  Gesellschaft 
war,  die  gute  Qualität  und  den  Ruf  des  Weines  zu  erhalten, 
den  Weinbau  durch  einen  geregelten  Preis  und  durch  Be- 
freiung von  den  Intriguen  der  Monopolisten  zu  fördern  (Nä- 
heres s.  in  $.  10  der  Statuten).  Die  Gompagnie  fand  heftige 
Gegner,  zunächst  unter  den  kleinen  Weinschenkern,  die  sich 
durch  die  Schranken,  die  ihren  bisherigen  Unterschleifen  und 
Kunstgriffen  entgegengestellt  wurden,  belästigt  fanden.  Ver- 
einigt mit  der  niederen  Volksciasse,  die  ihre  Schenken  be- 
suchte, erregten  sie  häufige  Aufstände  in  Porto.  Bei  dieser 
Gelegenheit  wurde  das  Haus  des  Directors  der  Gompagnie 
erbrochen  und  ausgeplündert,  er  selbst  gemisshandelt.  Damit 
nicht  zufrieden  griff  der  Pöbel  das  Militär  an;  der  Aufruhr 
wurde  sehr  ernstlich  und  kostete  mehren  Menschen  das  Le- 
ben. Auf  die  Nachricht  davon  sandte  Pombal  frische  Trup- 
pen nach  Porto;  die  Rädelsführer  wurden  mit  Strenge  be- 
straft (über  die  Hingerichteten  s.  bei  Smith  die  Note  I.  155). 
Es  fand  sich,  dass  hauptsächlich  die  Jesuiten  in  Porto,  die 
bittersten  Feinde  Pombal's,  das  Volk  anreizten  und  dessen 
Leidenschaften  entzündeten.  Von  allen  diesen  Vorgängen  giebt 
uns  Pombal  selbst  einen  Rericht,  den  er  nach  seiner  Zurück* 
Ziehung  aus  dem  Ministerium  im  Jahre  1777  niederschrieb 


insbesondere  seine  Reformen  in  der  Verwaltung.     309 

(von  Smith  mitgetheilt  1.  142—154),  aus  dem  wir  sehen,  mit 
welcher  Umsicht  und  Berücksichtigung  aller  Umstände  Pom- 
bal  zur  Bildung  der  Compagnie  geschritten  war,  wie  die  Je- 
suiten in  ihren  religiösen  Versammlungen  und  selbst  im  Beicht- 
stuhle dem  Volke  einbliesen,  „dass  der  Wein  der  neuen  Com-» 
pagnie  sich  nicht  zur  Feier  der  Messe  (zum  Nachtmahlweine) 
eigene";  wie  die  englischen  Kaufleute  in  Porto  mit  den  Wein- 
schenkern im  Einverständnisse  standen  und  sich  zum  Schaden 
der  Compagnie  alle  Betrügereien  erlaubten  (S.  148).  Die  Eng- 
länder, sagt  Pombal,  als  sie  diesen  wichtigen  Handelszweig 
aus  ihren  Händen  gerissen  und  in  Alto  Douro  jetzt  sich  selbst 
abhangig  sahen  von  jenen  Weinbauern,  die  von  ihnen  bisher 
wie  Sklaven  behandelt  worden  und  deren  Besitzungen  ganz 
in  ihren  Händen  gewesen  waren,  Hessen  keinen  Vorwand 
oder  Grund,  den  sie  auffinden  konnten,  unbenutzt,  um  die 
Compagnie  unmittelbar  oder  mittelbar  zu  Grunde  zu  richten, 
und  wurden  in  diesen  Bemühungen  durch  die  verfänglichen 
und  dringlichen  Noten  der  britischen  Gesandten  in  Lissabon, 
Edward  Hay,  Lord  Kinnoul,  W.  H.  Lyttelton  und  Robert 
Walpole,  unterstützt.  Stellen  aus  den  Berichten  der  engli- 
schen Gesandten,  welche  Smith  I.  156,  157  mittheilt,  zeigen 
uns,  wie  sehr  Pombal's  durchgreifende  Maassregeln  in  dieser 
Hinsicht  die  englische  Diplomatie  in  Bewegung  setzten  und 
in  die  Interessen  Grossbritaniens  eingriffen;  sie  zeigen  uns 
zugleich  Pombal  als  den  einsichtsvollen  und  muthigen,  ebenso 
entschiedenen  als  hartnäckigen  Verfechter  der  Unabhängigkeit 
seines  Vaterlandes  und  des  königlichen  Thrones,  einer  Macht 
gegenüber,  mit  welcher  er  vor  allen  anderen  Mächten  Euro- 
pa^ in  gutem  Vernehmen  zu  stehen  bemüht  war.  Wir  wer- 
den später  das  letztere  Verhältnis*  näher  ins  Auge  fassen. 

Kurz  nach  der  Veröffentlichung  der  Statuten  der  Porto  wein- 
Compagnie  wurde  die  Meza  dos  homens  de  negocio,  die  sich 
Missbräuche  hatte  zu  Schulden  kommen  lassen,  durch  ein  De- 
cret  vom  30.  September  1756  aufgehoben,  und  Pombal  mit 
dem  Desembagador  Ignacio  Ferreira  Souto  beauftragt,  eine 
neue  Behörde  für  die  Förderung  des  Handels  zu  gründen. 
So  entstand  die  Junta  do  Commercio,  durch  welche  „combi- 

ZeiUehrift  f.  GeschicbUw.  IT.  1845.  21 


310  lieber  Pombal, 

riando  ö  systema  das  Leis  destes  Reinos,  com  as  maiimas 
commuas  a  todas  as  Na^oGs  da  Europa "  die  nöthigen  Tor- 
träge über  die  Mittel,  den  Handel  zu  bewahren  und  zu  ver- 
mehren, gemacht  werden  sollten.  Die  Statuten,  die  in  der 
uns  vorliegenden  Gesetzsammlung  24  Seiten  lullen  und  aus 
denen  Smith  I.  298  einige  wesentliche  Punkte  hervorhebt, 
wurden  durch  ein  königliches  Decret  vom  16.  December  1756 
bestätigt 

Im  Anfange  des  folgenden  Jahres,  5.  Januar  1757,  wurde 
den  Adeligen  erlaubt,  an  der  Companhia  Gera!  do  Grao 
Part,  e  Maranhäo  Tbeil  zu  nehmen.  „Da  sie  zur  Aufgabe 
habe,  im  Reiche  den  Handel  blühend  zu  machen,  von  dem 
nicht  nur  der  Nutzen  jedes  Einzelnen  im  Besonderen,  son- 
dern der  des  Gemeinwohls  des  Staates  abhänge,  so  sei  es 
nicht  allein  gleichgültig,  sondern  geziemend  (decoroso)  fiir  alle 
Personen,  selbst  solche  von  höherem  Range,  sich  bei  ihm  zu 
betheiligen  u.  s.  w."  Die  Bemerkungen,  welche  Smith  an  die- 
ses Gesetz  mit  Rücksicht  auf  den  heutigen  Adel  Portugals, 
dem  der  Stolz  die  Benutzung  dieser  Erwerbsquelle  verbietet, 
knüpft,  zeigen,  wie  wohl  er  die  Ursachen  der  Verarmung  die- 
ses Standes  in  Portugal  kennt  und  geben  demselben  eine  gute 
Lehre  (I.  299). 

Von  ausgebreitetem  und  tiefeingreifendem  Einflüsse  war 
die  Errichtung  einer  Handelsschule,  Aula  do  Commercio,  die 
der  Aufsicht  der  Junta  do  Commercio  untergeben  wurde, 
durch  ein  Decret  vom  19.  Mai  1759  (s.  die  Statuten  dersel- 
ben vom  19.  April  1759  in  der  Gesetzsammlung).  Die  Früchte 
dieser  Unterrichtsanstalt  fiir  junge  Kaufleüte  zeigten  sich  na- 
mentlich im  Jahre  (775,  wo  zweihundert  Zöglinge  in  Gegen- 
wart der  Minister  und  anderer  höherer  Beamten  öffentlich 
geprüft  wurden  und  ihre  Fortschritte  in  allen  Zweigen  des 
Rechnungs-  und  Handelswesens,  in  3er  ScbiffTahrtskunde  und 
in  verwandten  Kenntnissen  ihnen  selbst,  der  Anstalt  und  dem 
Gründer  derselben  Ehre  brachten  (I.  305). 

Erfreulicher  noch  und  lohnender  musste  dem  Schöpfer 
dieses  Institutes  und  aller  der  Einrichtungen  und  Verordnun- 
gen, die  er  zur  Förderung  des  Handels  ins  Leben  gerufen 


insbesondere  seine  Reformen  in  der  Verwaltung.     311 

hatte,  der  Blick  auf  das  Gedeihen  und  die  Blüthe  des  See- 
handeis  seines  Vaterlandes  sein,  wenn  er  aus  den  Registern 
in  Lissabon  entnahm,  dass  im  Jahre  1774  im  Tajo  104  por- 
tugiesische, 348  englische  und  193  andere  fremde  Schiffe,  im 
Jahre  1775  121  portugiesische»  371  englische  und  168  aus- 
wärtige Schiffe  eingelaufen  waren.  Diese  Periode,  fugt  Smith 
hinzu,  kann  als  das  goldene  Zeitalter  der  portugiesischen  In- 
dustrie in  jedem  Zweige  des  Handels  und  Verkehrs  betrach- 
tet werden  (II.  254). 

Die  königliche  Flotte  war,  nachdem  ein  Decret  vom 
10.  September  1765  einen  neuen  Anstoss  zu  Seeunterneh- 
mungen gegeben  hatte,  später  in  einen  blühenden  Zustand, 
und,  mit  anderen  Seemächten  verglichen,  auf  einen  respecta- 
blen  Fuss  gebracht  worden.  Portugal  gebot  in  jener  Zeit 
über  dreizehn  Linienschiffe  und  sechs  Fregatten  (II.  105). 

Sie  lenken  unseren  Blick,  wie  von  selbst,  auf  Portugal'* 
Colonien,  nachdem  Pombal  den  seinigen  sehr  früh  auf  sie 
gerichtet  hatte.  Es  wurden  eingerissene  Missbräuche  abge- 
stellt (L  73),  den  übelen  Zustand  der  Colonien  verbessernde 
Anordnungen  getroffen,  die  Indianer  in  den  Provinzen  Ma- 
ranh&o  und  Grand  Parä  in  Amerika  für  frei  erklärt  (schon 
durch  ein  Decret  vom  8.  Juni  1755),  auf  alle  mögliche  Mittel 
gedacht,  um  die  Indianer  aufzumuntern  und  zu  civilisiren, 
den  Portugiesen,  die  in  ihre  Familien  heiratheten,  gewisse 
Vorrechte  ertheilt,  der  Handel  und  Verkehr  zwischen  ihnen 
und  dem  Mutterlande  von  belästigenden  Beschränkungen  be- 
freit (1. 76,  77).  Die  vortrefflichen,  humanen  Gesetze,  welche 
Pombal  zur  Civilisation  der  Indianer  in  den  Jahren  1757  und 
1758  erliess,  gereichen  ihm,  sagt  mit  Recht  der  Verf.,  zum 
grössten  Lobe  und  werfen  einen  ehrenden  Glanz  auf  Pom- 
bal's  Humanität  und  Weisheit  Sie  sind  fortwährend  ein  Mu- 
ster für  alle  künftigen  Versuche  der  Civilisation  wilder  Völ- 
kerschaften. Die  vorzüglichsten  Anordnungen  zum  Wohle 
der  Colonien  enthält  das  Decret  vom  3.  Mai  1757.  Seine  erste 
Bestimmung  ist,  dass  der  Gebrauch  der  portugiesischen  Spra- 
che unter  den  Eingeborenen  das  erste  und  sicherste  von  allen 
Mitteln  sei,  sie  zu  civilisiren,  ihre  Neigung  zu  gewinnen  und 

21* 


3t2  lieber  Pombal, 

ihren  Gehorsam  zu  sichern.  Zu  diesem  Zwecke  sollten  in 
jedem  Dorfe  zwei.  Schulen  errichtet  werden,  eine  für  Kna- 
ben, um  sie  in  den  Hauptlehren  der  christlichen  Religion,  im 
Lesen,  Schreiben  und  Rechnen  zu  unterrichten;  eine  andere 
für  Mädchen,  worin  diese,  ausser  jenem,  noch  im  Nähen,  Spin- 
nen und  in  anderen  weiblichen  Arbeiten  unterwiesen  wür- 
den. Weitere  Anordnungen  der  zweckmäßigsten  Art  s.  I. 
302.  Rrasilien  wurde  ein  Hauptgegenstand  der  Aufmerksam- 
keit und  Sorge  Pombal's.  Auch  ohne  seinen  tiefen  Blick  sah 
jeder  ein,  dass  der  Besitz  dieses  Landes,  statt  der  grossen 
Vortheile,  die  er  Portugal  bringen  könnte,  durch  verkehrte 
Ansicht  und  Benutzung  vielmehr  eine  Hauptursache  des  Ver- 
falles von  Portugal  geworden  war,  weil  man  in  seinen  Gold- 
minen eine  unerschöpfliche  Quelle  des  Reichthums  sah,  statt 
darin  nur  ein  Zeichen  desselben  zu  sehen,  und  darüber  in 
Brasilien  wie  in  Portugal  jedes  Mittel,  den  Wohlstand  auf 
bessere  Grundlagen  als  auf  Erz  zu  bauen,  versäumte.  Nach- 
dem Smith  Brasiliens  Einiluss  auf  das  Mutterland  in  dieser 
Beziehung  bereits  (I.  8)  berührt  hat,  bespricht  er  ihn  weiter 
(1. 109)  und  theilt  Pombal's  Ansicht  davon  mit  seinen  eigenen 
Worten  mit.  Der  Anbau  des  Landes  und  die  Betreibung  der 
Mahufacturen  wurde  über  die  täuschende  Ausbeute  der  Berg- 
werke vernachlässigt.  Pombal  war  überzeugt,  das«  dieser  ver- 
derbliche Irrthum,  in  den  seine  Vorgänger  in  der  Verwaltung 
gefallen  waren,  und  dass  die  Manie  nach  Erz  zu  graben,  eine 
der  Hauptursachen  der  Verarmung  des  Landes  und  der  Zer- 
rüttung der  Finanzen  geworden  war.  „Die  Felder,  sagt  Pom- 
bal, wurden  unergiebig  und  werthlos.  Die  Zahl  der  Arbei- 
ter, eine  Volksciässe,  in  welcher  die  Stärke  der  Regierung 
besteht,  verminderte  sich  täglich.  Landbauer  gaben  die  Be- 
bauung ihrer  Grundstücke  auf;  die  Ernte  fiel  mager  und  un- 
zureichend aus,  und  der  Wohlstand  wich  aus  ihren  Staa- 
ten" (I.  110). 

So  geriethen  die  Portugiesen  in  Abhängigkeit  von  der 
Industrie  anderer  Nationen  in  Absicht  auf  Lebensmittel  und 
Manufacturwaaren,  die  sie  früher  selbst  erzeugt  hatten,  und 
man  schldss  den  bekannten  Methueh- Vertrag  zwischen  Por- 


insbesondere  seine  Reformen  in  der  Verwaltung.     313 

tugal  und  England  ab  (27.  Dcc.  1703).    Er  war  indess,  sagt 
Smith,  eine  Folge,  nicht  die  Ursache  des  fast  gänzlichen  Ver- 
Schwindens  der  landwirtschaftlichen  Thätigkeit  und  Manu- 
facturunternehmungen.    Hiervon  ausgehend  nimmt  der  Ver- 
fasser Anlass,  den  Met huen -Vertrag  zu  vcrtbeidigen  und  zu 
rechtfertigen.     Wir  können  und  wollen   ihm  hier  nicht  ins 
Einzelne  folgen,  um  seine  Ansichten  einer  Prüfung  zu  unter- 
ziehen, die  mit  strenger  Unparteilichkeit  und  umsichtiger  Er- 
wägung aller  Verhältnisse  angestellt,  leicht  manche  Modifi- 
cation  der  vom  Verfasser  aufgestellten  Sätze  nöthig  machen 
dürfte.     Näher  liegt  unserer  Aufgabe  und   von   besonderer 
Wichtigkeit  ist  uns  PombaPs  eigene  Ansicht  von  PortugaPs 
Verhältniss   zu  England,   so  wie  die  Stellung,  die  er 
selbst  diesem  gegenüber  nahm.    Er  kannte  vollkommen  die 
schmähliche   Abhängigkeit   seines  Vaterlandes   von   England 
und  zeichnet  sie  uns  selbst  mit   der  ihm   eigentümlichen 
Schärfe  und  Entschiedenheit.    „Im  Jahre  1754,  sagt  er,  er- 
zeugte Portugal  kaum  Etwas  zu  seinem  eigenen   Unterhalt. 
Zwei  Drittel   seiner  physischen  Bedürfnisse  wurden   durch 
England  befriedigt.   Ein  Land,  das  hinsichtlieh  seines  Unter- 
halts von  einem  andern  abhängt,  wird  bald  dessen-  Sklave 
und  ohne  Schwertstreich  leicht  erobert.    Zur  vollkommenen 
Abhängigkeit  fehlt  nichts  als   der  wirkliche  Besitz  (I.  114). 
Jedes  Kleidungsstück,  sagt  er  weiter  unten  (I.  1 17),  das  diese 
Nation  brauehte,  wurde  aus  England  gebracht,   und  diese 
Einfuhr  stieg  auf  20  Millionen  Cruzados  jährlich.    Eine  Na- 
tion, die  durch  eine  andere  gekleidet  wird,  ist  nicht  weniger 
abhängig  als  jene,  welche  die  ersten  Artikel  des  physischen 
Bedarfs  von  aussen  empfängt,  da  Eins  so  wesentlich  ist  für 
die  Existenz  der  Europäer  als  das  Andere.    England  versi- 
cherte sich  dieses  Königreichs  durch  diese  beiden  Mittel,  die 
wie  zwei  Anker  erscheinen,  welche  diese  Republikaner  in 
das  Land  geworfen  haben."    Wie  P.  hier  in  Ansehung  der 
Landwirtschaft  und  Manufacturen  die  Abhängigkeit  des  Lan- 
des nachweist,  so  im  Folgenden  in  Ansehung  des  portugie- 
sischen Handels  in  jener  Zeit.    „England  ist  Herr  des  gan- 
zen Handels  ton  Portugal  geworden  und  aller  Verkehr  des 


314  lieber  Pombal, 

Landes  wird  durch  seine  Agenten  betrieben.  Die  Engländer 
waren  zu  gleicher  Zeit  die  Versorger  und  Kleinhändler  mit 
allen  Bedürfnissen  des  Lebens,  welche  dieses  Land  verlangt. 
Da  es  ein  Monopol  in  allen  Gegenständen  besitzt,  so  wird 
jedes  Geschäft  nur  durch  seine  Hände  geführt.  Nachdem  der 
Hof  von  St.  James  das  Uebergewicht  über  den  von  Lissabon 
erlangt,  und  Grossbritanien  sich,  so  zu  sagen,  in  dieses  Kö- 
nigreich ausgedehnt  hatte,  so  waren  die  Portugiesen  nicht 
länger  etwas  anderes  als  die  müssigen  Zeugen  des  ausge- 
breiteten Handels,  der  unter  ihnen  getrieben  wurde.  Portu- 
gal war  ihnen  ein  weites  Amphitheater,  in  das  die  Portugie- 
sen als  ruhige  Zuschauer  gestellt  waren,  ohne  jedoch  an  den 
Unternehmungen  Theil  nehmen  zu  dürfen."  —  „Der  Englän- 
der kam  nach  Lissabon,  um  selbst  den  Handel  Brasilien^  als 
Monopol  zu  haben.  Die  ganze  Ladung  der  Schiffe,  die  dahin 
geschickt  wurden,  und  folglich  die  Reichthümer,  die  dafür 
zurückkamen,  gehörten  ihnen.  Nur  der  Name  war  portugie- 
sisch; während  inmitten  dieses  scheinbar  Ungeheuern  Han- 
dels, der  das  Land  zu  bereichern  schien,  Portugals  Kraft  hin- 
wegschwand, weil  die  Engländer  allein  des  Yortheils  sich 
erfreuten.  Diese  Fremdlinge,  nachdem  sie  unennessltehe 
Reichthümer  erworben,  verschwanden  plötzlich,  die  Sehätze 
des  Landes  mit  sich  führend."  Wir  überlassen  dem  Leser 
die  weiteren  eben  so  richtigen  als  geistreichen  Betrachtungen 
PombaPs  über  diesen  Gegenstand  und  dessen  vielfache  Be- 
ziehungen in  dem  Werke  selbst  (I.  115—126)  .zu  lesen« 

Sein  Vaterland  vom  Joch  der  Abhängigkeit,  so  weit  dies 
möglich,  frei  zu  machen,  hatte  sich  Pombal  zu  einer  seiner 
Hauptaufgaben  gesetzt  (Beweise  dafür  finden  sich  in  den  von 
Smith  mitgetheilten  Depeschen  der  englischen  Gesandten  in 
Lissabon  an  den  Staatssecretär  IL  46 — 48,  50),  und  die  un- 
erschütterliche Festigkeit,  mit  der  er  die  Gegenvorstellungen 
der  englischen  Gesandten  zurückwies  und  dief  so  lange  er 
das  Staatsrüder  führte,  keine  Nachgiebigkeit  hoffen  Hess,  die 
stolze  Haltung,  die  er  den  Repräsentanten  dieser  imposanten 
Macht  gegenüber  nahm,  und  die  wahre  Hochachtung,  die  er 
der  englischen  Regierung  abnöthigte,  sind  die  Lichtseiten  sei* 


insbesondere  seine  Reformen  in  der  Verwaltung.      3 15 

nes  Charakters  als  Staatsmannes  und  Patrioten.   Gleichwohl 
hielt  er  Grossbritanien  für  denjenigen  Staat,  an  welchen  sich 
Portugal  am  natürlichsten  anlehne  und  mit  dem  in  innigeren 
Beziehungen   zu  stehen   Portugal   am   vorteilhaftesten   sei. 
„Many  of  these  establishments ,  schreibt  der  britische  Ge- 
sandte Hay,  are  hurtful  even  to  the  subjeets,  but  he  is  so 
steady  to  his  point,  that  he  will  persist  in  them  to  the  last. 
He  is  equally  firm  in  bis  political  System.  He  has  often  told 
nie  that  he  is  sensible  Portugal  cannot  supply  the  Brazils; 
tberefore  they  must  have  recourse  to  some  foreign  nation,  and 
no  nation  more  proper  than  Great  Britain,  which  has  always 
been  the  natural  ally  of  Portugal,  and  has  an  interest  in  sup- 
porting  tbat  alliance,  which  other  nations  have  not"  (11,50). 
„P.  endete,  führt  Hay  weiter  an,  mit  der  Bemerkung,  dass 
England  und  Portugal  wie  Mann  und  Weib  seien,  welche 
kleine  häusliche  Streitigkeiten  mit  einander  haben   mögen, 
aber  wenn  irgend  ein  Anderer  den  Familienfrieden  zu  stören 
kommt,  so  mögen  sie  sich  vereinigen,  um  ihn  zu  vertheidi- 
gen"  (IL  51).    Die  Achtung,  welche  Hay  in  einer  Depesche 
an  seine  Regierung  dem   portugiesischen  Minister  mit  den 
Worten  bezeigt:  „er  bewahrt  das  vollkommene  Zutrauen  sei- 
nes königlichen  Herrn,  und,  die  Wahrheit  zu  sagen,  mit  all 
seinen  Fehlern  ist  er  der  einzige  Mann  in  diesem  Königreich, 
der  fähig  ist  an  der  Spitze  der  Geschäfte  zu  stehen"  (II.  52). 
—  Diese  Achtung  bewies  ihm  durch   die  That  der   grosse 
Chatbam,  als  er  auf  eine  energische  Remonstration  Pombal's 
den  Lord  Kinnoul,  um  sich  zu  rechtfertigen,  nach  Lissabon 
sandte  (I.  310.  Vergl.  die  Adresse,  die  im  Namen  seines  Kö- 
nigs.der  englische  Gesandte  dem  König  von  Portugal  über- 
reichte I.  313—315). 

Schwieriger  noch  war  Portugal's  Stellung  gegen- 
über Spanien;  aber  auch  nach  dieser  Seite  wusste  Pom- 
bal  seinem  Vaterlande  eine  ehrenhafte  und  geschätzte  Hal- 
tung zu  geben.  Er  betrachtete,  sagt  Smith  II,  239,  Spanien 
stets  als  den  natürlichen  Feind  Portugal's  und  war  daher  ei- 
ner engen  Verbindung  mit  diesem  Lande  abgeneigt,  über- 
zeugt; dass  die  spanische  Politik  immer  darauf  ausging,  Por- 


316  Ueber  Pombal, 

tugal  zum  zweitenmal  zu  erobern.  Dies  offenbarte  sein  1762 
erlassenes  Manifest,  das  Portugals  König  so  energisch  er- 
w iederte.  So  sehr  Pombal  den  Frieden  mit  Spanien  zu  er- 
halten wünschen  mochte,  der  ihm  zur  Ausführung  seiner 
Reformen  nöthig  war,  so  wenig  konnte  doch  Portugal  den 
Anforderungen  der  Mächte,  die  den  Familienpact  geschlossen 
hatten,  Folge  geben,  und  im  Weigerungsfall  den  Drohungen 
gleichgültige  Ruhe,  den  Gefahren  das  Bewusstsein  nachhal- 
tiger Widerstandsmittel  entgegenstellen.  Als  Pombal  die  Ver- 
waltung übernahm,  forderte  sicherlich  kein  Zweig  des  Staats- 
wesens durchgreifendere  Reformen  als  das  Heer.  Acht  oder 
höchstens  zehntausend  Mann  schlecht  disciplinirte  Truppen 
waren  die  ganze  Mannschaft,  welche  das  Land  zusammen- 
bringen konnte,  um  einen  feindlichen  Einfall  abzuwehren  oder 
einen  Feind  zu  züchtigen,  während  die  Fortificationen  in  ei- 
nem Zustande  waren,  der  sie  ganz  nutzlos  machte  (I.  319). 
Die  letzteren  hatte  Pombal  nach  einiger  Zeit  in  einem  ge- 
wissen Umfang  herstellen  lassen  (s.  den  ersten  von  ihm  un- 
terzeichneten Alvara  vom  7.  Febr.  1752  in  der  Gesetzsamm- 
lung), allein  die  unglücklichen  Ereignisse  in  den  ersten  Jah- 
ren der  Regierung  Joseph's  hinderten  Pombal  seine  Thätig- 
keit  und  die  Hülfsmittel  des  Landes  auf  die  Organisation  des 
Heerwesens  zu  richten.  Aber  schon  während  der  ersten  Ver- 
handlungen mit  Spanien  (von  Smith  gut  erörtert  I.  323—328), 
deren  Ausgang  ungewiss  war,  zeigte  sich  P.  thaiig,  die  nö- 
thigsten  Vertheidigungsmittel  vorzubereiten  (sie  finden  sich 
I.  328).  Bei  dieser  Gelegenheit  sagte  P.:  „wenn  die  Spanier 
bei  diesen  Vorbereitungen  Argwohn  hegen,  so  wird  dies  nur 
ein  stärkerer  Beweis  ihrer  schlimmen  Absichten  sein;  denn 
einen  Nachbar,  der  sich  beleidigt  fühlt,  weil  ich  meine  Thür 
verschliesse,  mag  mit  Recht  der  Verdacht  treffen,  dass  er  die 
Absicht  habe,  mich  zu  berauben."  Der  Krieg  brach  indess 
schneller  aus,  als  man  portugiesischer  Seits  besorgt  hatte, 
und  Portugal  war  noch  keineswegs  in  der  Lage  den  Angriff 
mit  Nachdruck  zurückzuweisen;  nur  die  ungemeine  Regsam- 
keit und  Thatkraft  Pombal's  vermochten  so  grosse  Schwie- 
rigkeiten zu  überwinden.  Mit  unglaublicher  Schnelligkeit  wur- 


insbesondere  seine  Reformen  in  der  Vericaltung.     317 

den  36000  Mann  Fussvolk  und  6000  Pferde,  ausser  der  Miliz 
ausgehoben  und  gut  ausgerüstet,  5000  Mann  zur  Bildung  der 
Artillerie  hinzugefügt  Der  Graf  von  Schaumburg-Lippe  schrieb 
eine  Woche  nach  seiner  Ankunft  in  Lissabon,  3.  Juli  176?, 
an  die  englische  Regierung:  I  found  most  things  surpass,  by 
much,  my  expectations,  and  particularly  the  manufacture  of 
muskets.  There  is  powder,  cannon,  bullets,  and  founderies. 
These  things  only  want  order.  Er  fand  vornehmlich  „in  Lis- 
sabon die  militärischen  Rüstungen  lebhafter,  wo  sie  unter 
den  Augen  des  Grafen  Oeyras  mit  mehr  Kraft,  Eifer  und  Thä- 
tigkeit  betrieben  würden"  (I.  341].  Der  Graf  von  Schaumburg- 
Lippe  blieb  nach  dem  Frieden  von  Fontainebleau  (1763)  noch 
einige  Zeit  in  Portugal,  um  P.  in  seinem  Bemühen,  die  Trup- 
pen zu  discipliniren  und  die  Festungen  des  Königreichs  in 
Vertheidigungsstand  zu  setzen,  beizustehen  (I.  333,  341). 

Zugleich  richtete  P.  sein  Augenmerk  auf  Portugals  See- 
macht, die  vor  ihrer  Reorganisation  in  einem  noch  bekla- 
genswerteren Zustande  war  als  das  Heer;  denn,  auf  zwei 
Schiffe  herabgesunken,  war  sie  so  verachtet,  dass  algierische 
Corsaren  an  den  portugiesischen  Küsten  zu  landen  und  die 
Einwohner  zu  plündern  pflegten,  die  Handelsschiffe  aber  den 
Hafen  nicht  zu  verlassen  wagten.  Unter  diesen  Umstanden 
stellte  P.  mehr  als  dreihundert  englische  Schiffszimmerleute 
an,  um  auf  den  Werften  und  im  Arsenal  in  Lisboa  zu  ar- 
beiten. Die  Raschheit  und  Stetigkeit,  womit  dies  geschab, 
war  so  gross,  dass  in  wenigen  Jahren  die  Seemacht  auf  zehn 
Linienschiffe  und  eine  verhältnissmässige  Zahl  Fregatten  ver- 
mehrt wurde.  Und  damit  die  Colonien  gleich  dem  Mutter- 
lande Schutzmittel  erhielten,  schickte  P.  Schiffe  mit  Werkmei- 
stern, Handwerkern  und  Materialien  nach  Mozambique  und 
Brasilien,  um  in  diesen  Besitzungen  die  nöthigen  Forts  an- 
zulegen (L  334). 

Nach  dem  Friedensschluss  mit  Spanien  im  J.  1763  wurde 
das  Heer  reducirt  und  auf  30000  Mann  wirkliche  Truppen 
festgesetzt,  manche  im  Heer  eingeschlichene  Missbräuche 
wurden  abgestellt.  Der  englische  Gesandte  Hay  bemerkt  in 
einer  um  jene  Zeit  geschriebenen  Depesche,  „dass  die  mei- 


318  üeber  Pombal, 

sten  Regimenter  iu  Fuss  gut  disciplinirt  seien  und  einen 
schönen  Anblick  gewährten.  Alle  Anordnungen  in  Betreff  der 
Armee  rühren  vom  Grafen  von  Oeyras  her,  und  die  Generale 
und  Olficiere  in  ihren  verschiedenen  dienstlichen  Kreisen 
wenden  sich  hauptsächlich  an  ihn"  (IL  101.  Ueber  den  fol- 
genden Krieg  mit  Spanien  s.  IL  217  ff.). 

So  war  Pombal  eifrigst  thätig,  Landwirtschaft,  Gewerbe, 
Handel  und  Verkehr  iu  fördern,  die  verfallene  Seemacht  her- 
zustellen, das  Heerwesen  und  die  Landesverteidigung,  die 
gänzlich  im  Argen  lagen,  in  einen  respectablen  Stand  zu  set- 
zen, und  erfreute  sich  eines  guten  Erfolges  in  den  meisten 
dieser  Verwaltungszweige.  Wohl  würde  Pombal,  hätte  er 
seine  Thätigkeit  blos  auf  diese  Gegenstände  beschränkt,  den 
Vorwurf  einer  blos  materiellen  Ansicht  vom  Staate  und  des- 
sen Zwecken,  welcher  ihm  von  deutschen  Schriftstellern  ge- 
macht worden  ist,  verdienen;  allein  dem  widerspricht  seine 
unläugbare,  nicht  minder  thätige  Sorge  für  die  geistigen  In- 
teressen des  Volkes,  für  Bildungs-Anstalten  und  -Mittel. 
Was  er,  wie  bereits  oben  angeführt  worden,  für  den  Unter- 
richt und  die  Civilisation  der  gebornen  Indianer  in  den  Colonien 
Portugals  that,  reicht  hin,  ihn  in  dieser  Beziehung  über  man- 
chen gepriesenen  Fürsten  des  achtzehnten  Jahrhunderts  zu 
setzen.  (Dass  diese  und  ähnliche  Anordnungen  in  den  Co- 
lonien und  im  Mutterlande  nach  seinem  Tode  zerfielen  oder 
unausgeführt  blieben,  wird  man  doch  Pombal  nicht  zur  Last 
legen  wollen?)  „Zu  Hause  (d.i.  im  Mutterlande),  sagtSmitb, 
verdienen  seine  Bemühungen  eine  ausgedehntere  Kenntniss- 
nahme;  denn  vielleicht  bat  kein  Minister  irgend  einer  Zeit 
oder  eines  Landes  energischere  Maassregeh  zur  Verbreitung 
einer  liberalen  Erziehung  aller  Glassen  seiner  Landsleute  er- 
griffen/4 Die  nähere  Darlegung  dieser  Maassregeln,  die  zur 
richtigen  Würdigung  dieses  Urtheils  nöthig  ist,  würde  den 
hier  gestatteten  Raum  weit  überschreiten,  und  wir  beschrän- 
ken uns  zur  Bezeichnung  der  Leistungen  PombaPs  in  dieser 
Beziehung  auf  wenige  Andeutungen.  Die  Grundansicht  Pom- 
baPs mögen  seine  eigenen  Worte  bezeichnen:  „das  Studium 
der  humanen  Wissenschaften  (Letras  Humanas)  ist  die  Grund- 


insbesondere  seine  Reformen  in  der  Verwaltung.     319 

läge  aller  Wissenschaften  und  yon  der  Venrollkomnung  die- 
ser bangt  der  Ruf  und  das  Gedeihen  der  Staaten  ab"  (De- 
cret  vom  28.  Juni  1759»  bei  Smith  I.  306  nicht  richtig  aus« 
gedrückt).  In  diesem  Beeret  beklagt  er  den  traurigen  Zustand 
der  Wissenschaften  in  Portugal  und  schreibt  ihn  dem  fehler- 
haften und  verderblichen  Unterrichtssysteme  zu,  das  von  den 
Jesuiten  angenommen  worden,  während  sie  den  Unterricht 
leiteten.  Das  Decret  bestimmt  dann  die  Lehrer  für  die  ver- 
schiedenen Unterrichtsgegenstände,  die  Lehrbücher,  die  Me- 
thode iL  s.w.  Smith  theilt  das  Wichtigste  mit  (I.  308)  und 
fügt  hinzu:  „In  einer  Depesche  des  portugiesischen  Gesandten 
am  Wiener  Hofe,  die  im  Gesandtschaftsarchive  aufbewahrt 
wird  und  vom  3.  November  1759  datirt  ist,  finden  wir  fol- 
gendes schmeichelhaftes  Zeugniss  des  weit  verbreiteten  Rufes 
Pombal's  und  seiner  Reformen  im  Unterrichtswesen:  die  neue 
Methode,  die  man  in  den  lateinischen  und  griechischen  Gas- 
sen in  Portugal  eingeführt  hat,  ist  hier  gebilligt  worden  und 
der  Präsident  des  Hofrathes  hat  den  Wunsch  ausgedrückt, 
dieselbe  Methode  in  dem  Reiche  angewendet  zu  sehen.4' 
(Weiteres  darüber  s.  I.  309).  Wichtiger  und  besonderer  Be- 
achtung werth  ist,  was  Pombal  für  den  Unterricht  in  der 
Landessprache  that,  unseres  Wissens,  ohne  ein  Vorbild 
in  einem  anderen  neueren  Staate  zu  haben ,  ja  vielmehr  als 
nachahmungswerthes,  leider  aber  nicht  nachgeahmtes  Vorbild 
für  andere  sonst  vorgeschrittene  Staaten  seiner  Zeit,  in  denen 
der  Öffentliche  Unterricht  in  der  Muttersprache  noch  nicht 
Gegenstand  der  Gesetzgebung  war,  über  die  Pflege  der  tod- 
ten  Sprachen  diese  vergessen  wurde,  und  man,  die  vaterlän- 
dische Sprache  verschmähend  und  damit  nicht  selten  den  va- 
terländischen Geist  verläugnend,  in  welscher  Zunge  seine  in- 
dividuellsten Gefühle  und  Gedanken  auszusprechen  vergebens 
sich  abmühte.  Wir  bedauern,  das  merkwürdige  Gesetz,  das 
mit  den  Worten  beginnt:  „Da  die  Verbesserung  der  Natio- 
nalsprache eins  der  beachtenswerthesten  Mittel  der  Gultur  der 
civilisirten  Völker  ist,  weil  von  ihr  die  Klarheit,  Kraft  und 
Majestät  abhängt,  womit  die  Gesetze  geschrieben,  die  Wahr- 
heit der  Religion  überzeugend  gelehrt  und  die  Schriften  nütz- 


320  Veber  Pombal, 

lieb  und  angenehm  gemacht  werden  sollen"  u.  s.  w.,  nicht  in 
seinem  ganzen  Umfange  hier  mittbeilen  zu  können,  und  ver- 
weisen  den  Leser  auf  Smith  II.  131,  der  das  Wichtigste  aus 
dem  Gesetze  vom  30.  September  1770  anfährt. 

Im  Jahre  1772,  6.  November,  wurden  nicht  weniger  als 
887  Professoren  und  Lehrer  für  den  unentgeltichen  öffentli- 
chen Unterricht  angestellt,  von  denen  94  für  die  Inseln  und 
Colonien  bestimmt  wurden.  Jeder  Professor  war  angewie- 
sen, einen  jährlichen  Bericht  über  die  Fortschritte  seiner  Schü- 
ler einzusenden.  479  Lehrer  sollten  den  Unterricht  im  Lesen 
und  Schreiben  ertheilen;  236  waren  für  die  lateinischen  und 
88  für  die  griechischen  Classen  bestimmt  Dazu  kamen  49 
Schulen  für  Rhetorik,  und  30  für  Philosophie. .  Eine  geringe 
Abgabe,  unter  dem  Namen  „literarisches  Subsidium"  erhoben, 
wurde  auf  verschiedene  Artikel  der  allgemeinen  Gonsumtion 
gelegt,  um  die  Besoldungen  dieser  Lehrer  zu  bezahlen  (IL 
174).  Endlich  richtete  Pombal  in  demselben  Jahre  sein  Au- 
genmerk auf  den  Mittelpunkt  der  wissenschaftlichen  Thätig- 
keit  und  des  höheren  Unterrichtes,  auf  die  alte  Hochschule 
in  Coimbra.  Die  in  diesem  Institute  eingerissenen  Miss- 
bräuche waren  so  offenkundig,  dass  der  König  im  August 
1772  Pombal  zu  „seinem  Plenipotenciario  und  Lugar-Tenente 
der  Universität"  ernannte,  und  ihm  befahl,  sich  nach  Goimbra 
zu  begeben,  um  die  Reformen,  die  er  Air  nöthig  erachten 
werde,  vorzunehmen  (II.  165,  s.  die  Carta  Regia  dirigida  ao . . . 
Senhor  Marquez  de  Pombal  vom  28.  August  1772  in  der  Ge- 
setzsammlung). Seine  erste  Handlung  war,  dass  er  einen  Be- 
richt über  die  Universität  in  jenem  Zeiträume,  in  welchem 
sich  die  Jesuiten  in  sie  eindrängten  und  alle  Macht  an  sich 
zogen,  veröffentlichte,  und  klar  und  bestimmt  nachwies,  dass 
von  diesem  Zeitpunkte  an  der  schnelle  Verfall  der  Literatur, 
Wissenschaft  und  Philosophie  in  Portugal  begann.  Wir  kön- 
nen den  einzelnen  Mängeln  der  Universität  und  ihren  Refor- 
men durch  Pombal  in  der  Darstellung  nicht  folgen,  aber  wir 
dürfen  auch  hier  den  gesunden  und  hellen  Blick  nicht  uner- 
wähnt lassen,  den  Pombal  in  diesen,  seiner  Stellung  und 
Kenntniss  keinesweges  nahe  liegenden  Regionen  bewies.   Eid 


insbesondere  seine  Reformen  in  der  Verwaltung.     321 

Schreiben  desselben  an  den  Rector  der  Universität  Goimbra 
über  die  Anlegung  des  botanischen  Gartens,  das  Smith  IL 
168—171  mittheilt,  zeigt,  wie  dieser  richtig  bemerkt,  wie  ge- 
nau Pombal  zu  unterscheiden  wusste,  was  nöthig  und  nütz- 
lich und  was  nutzlos  und  blos  prunkend  sei.  Nachdem  Pom- 
bal seine  wichtige  Aufgabe  gelöst  hatte,  nahm  er  in  einer 
öffentlichen  Bede  (Smith  IL  171—174)  am  22.  October  Ab- 
schied von  der  Universität  Bevor  dasselbe  der  Verf.  that, 
wäre  wünschenswerth  gewesen,  dass  er  die  neuen  Statuten 
der  Hochschule  näher  ins  Auge  gefasst,  ihren  Geist  und  ihre 
Richtung,  ihr  Verhältniss  zur  Aufklärung,  Bildung  und  Wis- 
senschaft des  Zeitalters  überhaupt  wenigstens  angedeutet  hätte. 
Die  von  ihm  gewählte  Form  der  Memoiren  überhob  ihn  die- 
ser Aufgabe;  aber  es  zeigt  sich  auch  hier,  dass  sie  nicht  ge- 
eignet ist,  Pombal's  gesammte  Wirksamkeit  ins  volle  Licht  zu 
setzen  und  eine  gründliche  und  allseitige  Beurtheilung  der- 
selben möglich  zu  machen. 

Vier  Jahre  früher  (1768)  war  eins  der  Haupthindernisse 
einer  freien  wissenschaftlichen  Thäligkeit  beseitigt  worden, 
durch  die  Abschaffung  des  Index  Expurgatorius  (Oecret  vom 
2.  April  1768  in  der  Gesetzsammlung)  —  one  of  the  last  re- 
mains  of  ecclesiastical  bigotry,  fugt  Smith  hinzu  (IL  115).  Ein 
neues  Tribunal  zurCensur  aller  Bücher,  welche  die  Förde- 
rung der  Wissenschaften  und  nützlicher  Belehrung  bezweck- 
ten, die  Real  Mesa  Gensoria,  aus  einem  Präsidenten,  sieben 
ordentlichen  und  zehn  ausserordentlichen  Depulirten  zusam- 
mengesetzt, ward  errichtet  (Gesetz  vom  5.  April  1768). 

Es  war  dies  eine  der  Maassnahmen,  welche  Pombal  er- 
griff, um  die  überwiegende  Gewalt  der  Geistlichkeit  zu 
brechen.  Unter  der  elenden  Regierung  Johann's  V.  war  das 
Land  in  solche  Abhängigkeit  von  der  Kirche  gesunken ,  dass 
man  für  unerläßlich  nöthig  erachtete,  ein  Decret  zu  erlassen, 
durch  welches  des  Königs  Prärogativ,  ohne  geistliche  Erlaub- 
niss  Kirchen  in  seinen  eigenen  Ländern  zu  errichten,  be- 
hauptet und  vertheidigt  wurde!  (I.  300.)  Bald  nach  Pombal's 
Beförderung  zum  Minister  war  bereits  die  Macht  der  Inqui- 
sition beschränkt,  der  Gebrauch  der  Auto -da- fe's  abgeschafft ' 


322  lieber  Pombal, 

worden  (I.  65;  II.  123).  Ein  im  Jahre  1768  publicirtes  Ge- 
setz beschränkte  die  Fähigkeit  der  portugiesischen  Untertha- 
nen,  all  ihr  Vermögen,  zum  Nachtheile  ihrer  Familien  und 
Verwandten,  an  Klöster  und  Ordenshäuser  zu  vermachen  (IL 
1 15  vergl.  auch  IL  252).  Zur  Verminderung  der  Klöster  gaben 
die  in  der  vorigen  Regierung  eingerissenen  oder  ruchbar  ge- 
wordenen Missbräuche  Grund  und  Aufforderung  genug;  Pom- 
bal hob  die  Hälfte  der  Frauenklöster  auf,  und  verbot  allen 
religiösen  Orden,  männlichen  wie  weiblichen,  Novizen  vor  ih- 
rem fünf  und  zwanzigsten  Lebensjahre  und  ohne  ausdrück- 
liche Erlaubniss  des  Königs  in  Zukunft  aufzunehmen  (L  311). 
Er  erwirkte  im  Jahre  1771  vom  Papste  ein  Breve,  durch  das 
neun  Klöster  regulärer  Augustiner  aufgehoben  wurden  und 
ihre  Einkünfte  an  das  Kloster  von  Mafra,  das  zur  Bildnngs-  und 
Unterrichtsftnstalt  dieses  Ordens  bestimmt  wurde,  übergingen 
(IL  245).  Für  solche  und  ähnliche  Beschränkungen  rächte 
sich  ein  Tbeil  der  Geistlichen,  der  Bischof  von  Coimbra  an 
der  Spitze,  indem  sie  in  Schriften  und  Reden  Pombal  einen 
Engländer,  nicht  allein  in  der  Politik,  sondern  auch  in  der 
Religion  nannten  und  sein  Herz  von  Ketzerei  angesteckt  er- 
klärten (IL  139);  selbst  die  Recbtgläubigkeit  des  Königs  wurde 
verdächtigt.  Pombal,  auf  seinen  guten  Ruf  in  dieser  Hinsicht 
eifersüchtig,  rechtfertigte  sich  (IL  140, 141);  den  Bischof  fahr- 
ten seine  aufrührerischen  Schritte  ins  Gefängniss.  In  jener 
Zeit  liess  Pombal  den  Tartufe  von  Moliire  ins  Portugiesische 
übersetzen  und  auf  dem  Nationaltbeater  vor  dem  Könige  und 
der  ganzen  königlichen  Familie  aufführen.  Der  Tartufe  er- 
schien im  Jesuitenrocke  und  das  Stück  wurde  in  verschiede- 
nen Zeiten  wiederholt  unter  grossem  Beifalle  der  vollgedräng- 
ten Zuschauermenge  gegeben  (IL  145). 

Dies  führt  uns  zu  PombaFs  Verfahren  gegen  die  Je- 
suiten und  ihrer  Vertreibung  aus  Portugal  und  seinen  Co- 
lonien.  Wie  es  die  Wichtigkeit  des  Gegenstandes  erheischt, 
widmet  Smith  der  Geschichte  des  Ordens  der  Jesuiten  in  Por- 
tugal einen  grösseren  Raum  und  besondere  Sorgfalt  Er  schil- 
dert zunächst  ihr  erstes  Auftreten  im  Lande  unter  Johann  HL, 
"ihren  Einfluss  am  Hofe  Johann'*  V.,  ihr  Treiben  und  Herr- . 


insbesondere  seine  Reformen  in  der  Verwaltung.     323 

sehen  in  Paraguay,  ihr  erstes  Zusammentreffen  mit  Pombal's 
Verwaltung,  die  ersten  Maassregeln  desselben,  seine  Schritte 
am  papstlichen  Hofe,  und  schildert  dies  alles  mit  Sachkennt- 
niss  in  anziehender  Weise  (I.  161 — 179).  Darauf  folgt  die 
Erzählung  des  Mordversuches  gegen  den  König  Joseph  am 
3.  September  1758  (1.  cap.  VIII.  185  —  214).  Wir  können 
nicht  sagen,  dass  uns  der  Verf.  neuen  Aufschluss  über  die- 
ses verhangnissvolle  Ereigniss  gegeben,  oder  auch  nur  eine 
dunkle  Seite  desselben  durch  neue  Thatsachen  aufgeheilt,  oder 
die  bekannten  durch  neue  Belege  bestätigt  habe.  Selbst  die 
mitgetheilten  Berichte  des  englischen  Gesandten  am  Lissabo- 
ner Hofe,  Hay's  (I.  209  und  ff.),  bieten  weder  wesentlich 
Nenes  dar,  noch  gewähren  sie  in  der  Aeusserlichkeit,  womit 
sie  das  Ereigniss  beschreiben,  den  gewünschten  Aufschluss 
über  den  inneren  Zusammenhang  des  Attentats;  sie  sind  viel- 
mehr ein  Beweis,  dass  der  englische  Gesandte  über  mehre 
wichtige  Punkte  nicht  besser  unterrichtet  war,  als  alle  die- 
jenigen, die  vor  dem  Vorhange  standen.  Neben  dem  Herzoge 
von  Aveiro,  dem  erwiesenen  Urheber  des  Mordversuches,  wer- 
den von  Smith  der  Marquis  und  besonders  die  Marquise  von 
Tavöra,  ihre  Söhne  und  Schwiegersohn  u. s.w.  als  Mitver- 
schworene mit  einer  Bestimmtheit  angeführt,  welche  die  bis 
jetat  bekannten  und  erwiesenen  Umstände  noch  keinesweges 
zulassen.  Selbst  dass  die  Jesuiten  unmittelbar  in  die  Ver- 
schwörung verwickelt  waren,  wie  der  Verf.  unbedenklich  an- 
nimmt (amongst  the  many  Jesuits  implicated  in  the  conspi- 
raey  were  Malagrida  etc.  I.  206),  ermangelt  bekanntlich  noch 
des  historischen  Beweises.  Und  so  ist  diese  Darstellung  des 
wichtigen  Ereignisses,  weit  entfernt,  der  Bearbeitung  dessel- 
ben Gegenstandes  von  einem  Deutschen,  von  Olfers  in  den 
Abhandlungen  der  königlichen  Akademie  der  Wissenschaften 
in  Berlin  vom  Jahre  1838  S.  273  und  ff.,  an  gründlicher  For- 
schung und  Gediegenheit  gleich  zu  kommen,  hinter  der  tüch-. 
tigen  deutschen  Bearbeitung  beträchtlich  zurückgeblieben. 

Das  folgende  Capitel,  IX.,  enthält  die  Geschichte  der  Ver- 
treibung des  Ordens  aus  Portugal  und  den  Colonien,  und  die 
Einziehung  ihrer  Güter,  die  Verhandlungen  und  Streitigkeiten 


324  lieber  Pombal, 

des  lissaboner  Hofes  mit  dem  römischen,  worauf  dann  im 
zehnten  Capitel  das  Manifest,  in  welchem  der  König  von  Por- 
tugal seine  Beschwerden  über  den  römischen  Hof  einzeln  und 
umständlich  darlegt,  der  Länge  nach  im  Texte  mitgetheilt 
wird  (I.  229 — 283).  Vorgänge  der  neuesten  Zeit,  welche  ein 
näheres  Interesse  für  den  Inhalt  des  Manifestes  erregen  dürf- 
ten (at  a  moment  like  the  present,  when  we  see  the  courts 
of  Rome  and  Madrid  are  at  variance,  in  a  manner  that  pro- 
mises  utile  hope  for  the  integrity  of  the  Roman  Catholic 
Church  in  Spain),  rechtfertigen  in  den  Augen  des  Verfs.  die 
vollständige  Mittheilung  desselben;  indessen  möchten  auch 
dazu  die  wesentlichsten  Punkte  in  gedrängter  Kürze  Einrei- 
chend gewesen  sein.  Der  völlige  Bruch  des  Gabinets  von 
Lissabon  mit  dem  päpstlichen  Hofe,  und  ein  merkwürdiger 
Privatbrief  über  die  Aeusserungen  des  Cardinais  Acciajuoli  in 
Betreff  des  Königs  Joseph  und  seines  Ministers,  wie  derTheil- 
nahme  der  Jesuiten  an  dem  Mordversuche  gegen  den  ersten, 
schliesst  diesen  Abschnitt.  Im  zweiten  Bande  widmet  der 
Verf.  dem  Jesuiten  Malagrida  ein  ganzes  Capitel  (XIV.  13  bis 
23)  voll  interessanter  Einzelheiten,  ohne  uns  mit  dem  Urhe- 
ber des  schauderhaften  Todes  dieses  Schwärmers  versöhnen 
zu  können,  nimmt  im  siebenzehnten  Capitel  die  Streitigkeiten 
zwischen  dem  portugiesischen  Hofe  und  der  römischen  Curie 
von  neuem  auf,  schildert  die  Ränke  der  Jesuiten  nach  ihrem 
Falle  in  Portugal,  bei  welcher  Gelegenheit  Smith  Auszüge 
aus  den  Berichten  des  portugiesischen  Gesandten  in  Wien 
über  die  Jesuiten  mittheilt  (these  extracts  —  serve  to  show 
how  general  was  the  opinion  of  the  Society's  misconduct, 
and  how  indispensable  the  reform  or  the  suppression  of 
the  Order  had  become),  verfolgt  die  neue  Wendung,  welche 
die  kirchlichen  Angelegenheiten  Portugal's  mit  der  Stuhl- 
besteigung Clemens'  XIV.  nahmen,  bis  zur  Aussöhnung  bei- 
der Höfe  d.  h.  des  heiligen  Vaters  mit  dem  Grafen  von 
Oeyras.  „Dies  gebührt,  sagte  Seine  Heiligkeit,  unserem  theu-» 
ren  Sohne,  dem  edlen  Grafen  von  Oeyras,  Staatssecretar 
Seiner  allergetreuesten  Majestät,  der  unter  anderen  Tugen- 
den bei  dieser  Gelegenheit  so  ausgezeichnet  seine  Anhäng- 


insbesondere  seine  Reformen  in  der  Verwaltung.     325 

lichkeit  an  den  heiligen  Stuhl,  und  seinen  Eifer  und  seine 
Treue  gegen  seinfen  Sou verain,  bewiesen  hat  u.  s.  w."  Wir 
übergehen  die  weiteren  Zeichen  der  Versöhnung  II.  89.  Die 
Darstellung  der  Verhältnisse  Lissabons  zu  Rom  bietet  bei 
Smith  manches  Neue  dar  und  gehört  zu  den  gelungensten 
Abschnitten  des  Werkes.  Dabei  tritt  überall,  auch  bei  den 
wichtigsten  Ereignissen,  die  erzählt  werden,  Pombal's  Bezie- 
hung zu  denselben  klar  hervor,  und  sein  Antheil  erweist  sich 
grösser,  als  man  gemeinlich  angenommen  hat.  We  bave  al- 
reardy  seen  the  successfull  result  of  Pombal's  negotiations  with 
the  Court  of  Borne  for  the  abolition  of  the  J^suits.  The  Court 
of  Portugal  was  the  first  tbat  discovered  the  mischievous  and 
wicked  intrigues  of  these  men;  and  from  the  beginning  to 

the  end  acted  wholly  and  solely  by  itself. Pombal  was 

justiy  proud  of  the  work  he  had  accomplished,  seeing  as  he 
did,  his  measures  finally  sanctioned  by  the  papal  authority. 
The  English  Minister  was  not  wanting  in  bis  tribute  of  praise 

oq  this  great  and  important  occasion „especially,  sagt 

Walpole,  as  he  must  be  allowed  the  merit  of  being  the  first 
in  this  Century  who  has  ventured  openly  to  attack  this 
Society,  which  has  had  so  much  influence  in  many  courts, 
and  particularly  in  this,  tili  the  acccssion  of  his  present  Most 
Faitbful  Majesty." 

Papst  Clemens  XIV.  überlebte  nicht  lange  dieses  Ereig- 
niss.  Die  folgenden  Auszüge  aus  Walpole 's  Depeschen  (II. 
155—175)  zeigen  Pombal's  Theilnahme  an  der  Wahl  eines 
neuen  Kirchenoberhauptes,  und  die  Energie,  womit  er  die 
bezüglichen  Plane  verfolgte.  Als  bald  darauf  die  Nachricht 
von  der  Wahl  des  neuen  Papstes  ankam,  bemerkte  Pombal 
scherzend  dem  päpstlichen  Nuntius:  wäre  die  Wahl  auf  eine 
der  Jesuitenpartei  als  günstig  bekannte  Person  gefallen,  so 
Würde  er  gesehen  haben,  wie  er  (Pombal)  Lutheraner  ge- 
worden wäre. 

Wir  brechen  hier  ab,  nachdem  wir  vielleicht  schon  die 
Grenzen  des  Baumes,  den  uns  der  Zweck  dieser  Zeitschrift 
und  unsere  besondere  Aufgabe  vorzeichnen,  überschritten  ha- 
ben. Mit  des  Königs  Tode  sank  auch  des  Ministers  Macht  und 

Zeitschrift  f.  Geschichten-,  IT.  1843.  22 


326  lieber  Pombal, 

Einfluss  dahin.  Vergebens  bat  er  in  einem  Schreiben  an  die 
Königin  Maria  (II.  378—383  in  portugiesischer  Sprache)  aufs 
dringendste,  einen  Nachfolger  in  seinem  Amte  zu  ernennen, 
dem  er,  ohne  selbst  fernerhin  eine  Stelle  bekleiden  zu  wol- 
len, mit  seinen  „praktischen  Kenntnissen  und  alten  Erfah- 
rungen" zum  Wohl  des  Landes  sich  nützlich  machten  köune 
und  wolle,  „principalmente  quando  se  trata  de  humas  funda- 
$oens  täo  novas,  que  estio  em  pouco  mais  do  quc  nos  seus 
principios."  Die  Königin,  von  Pombal's  Feinden  umgeben, 
folgte  den  Eingebungen  und  Einflüsterungen  der  Adligen  und 
Geistlichen,  die  wieder  ihre  vorige  Gewalt  gewannen.  Was 
von  Pombal  herrührte,  war  ihnen  verhasst,  wie  er  selbst 
Eben  dieser  Hass  seiner  einflussreichen  Gegner,  der  sich  in 
Portugal  in  Handlungen,  im  Ausland  in  Schriften  gegen  ihn 
kundgab  und  verbreitete,  hat  das  Urtheil  über  ihn  vielfach 
irregeleitet.  Mit  Recht  sagt  Smith  (Pref.  VII) :  History  scarcely 
furnishes  the  parallel  of  another  genius,  whose  tarne  has  been 
so  foully  tarnished  by  the  prejudice  and  malignity  of  his  en- 
emies.  Dass  nach  seinem  Sturze  sein  Werk  grossentheils  zer- 
stört, von  denselben  zerstört  wurde,  die  seinen  Beformen 
grade  den  heftigsten  Widerstand  entgegengesetzt  hatten,  scha- 
dete Pombal's  Namen  vielleicht  noch  mehr,  als  die  gegen  ihn 
gerichteten  Schriften.  Wie  ganz  anders  würde  über  seine 
Verwaltung  geurtheilt  werden,  wenn  ein  tüchtiger  Fürst  oder 
Minister  sein  begonnenes  Werk  fortgebaut  hätte,  mit  leichter 
Mühe,  nachdem  der  erste  gewaltige  Widerstand  von  ihm  über- 
wunden worden  war?  Von  diesen  Einflüssen  hat  sich  die 
Geschichte  nicht  frei  machen  können.  Mehr  als  alle  bishe- 
rigen Bearbeiter  hat  nun  Smith  zur  Aufhellung  und  richti- 
geren Beurtbeilung  der  Verwaltung  Pombal's,  dieser  wich- 
tigsten Periode  der  neueren  Geschichte  Portugals  und  einer 
der  merkwürdigsten  Erscheinungen  der  neueren  Geschichte 
überhaupt,  beigetragen.  Ihm  boten  das  Archiv  der  portugie- 
sischen Gesandtschaft  in  Wien  und  die  Depeschen  im  briti- 
schen State  Paper  Office  manche  noch  unbenutzte  schätzbare 
Hülfsmittel  dar,  und  selbst  seine  persönlichen  Verhältnisse 
(II.  373)  scheinen  ihm  einzelne  Aufschlüsse  gewahrt  zu  haben. 


insbesondere  seine  Reformen  in  der  Verwaltung.     327 

Ob  aber  eben  diese  persönlichen  Verhältnisse  des  Verfassers 
auf  das  zu  günstige  Licht,  in  welchem  er  hier  und  dort  Pom- 
bal  und  seine  Maassregeln  darstellt,  eingewirkt  haben,  ver- 
mögen wir  nicht  zu  beurtheilen,  dürfen  diesen  Umstand  aber 
auch  nicht  unbeachtet  lassen.  Des  Verfassers  individuelle  An- 
sicht ist  indessen  leicht  zu  erkennen  und  ihre  Richtigkeit  zu 
prüfen;  da  die  in  den  Memoirs  mitgetheilten  zahlreichen  Stel- 
len aus  Urkunden,  Briefen,  Erlassen,  Gesetzen  u.  s.  w.,  so* 
wie  viele  constatirte  Thatsachen  hinreichende  Mittel  dazu  und 
zur  Bildung  eines  eigenen  selbstständigen  Urtheils  gewähren. 
Das  Werk  behält  dadurch  einen  bleibenden  Werth,  wie  auch 
die  Urtheile  über  Pombal  und   seine  Verwaltung  ausfallen 

mögen. 

Dr.  Schäfer,  in  Giessen. 


Die  Fürstin  MargaretJhe  von  Anhalt, 

geborne  Harkgräfln  von  Brandenburg. 

Aus    archivali  sehen    Quellen. 


Wohl  nie  hat  eine  Fürstin  einem  so  schweren  Missgeschick 
unterliegen  müssen,  wie  Margarethe  von  Anhalt,  obgleich  sie 
einem  Fürstenhause  entsprossen  war,  welches  zu  den  ersten 
und  hervorragendsten  in  Deutschland  gezählt  wurde.  Eine 
Tochter  des  Kurfürsten  Joachim  I.  von  Brandenburg,  gebo- 
ren im  Jahre  1511,  war  sie  in  ihrer  schönsten  jungfräulichen 
Blüthe,  in  ihrem  neunzehnten  Jahre  (1530)  mit  Herzog  Georg 
von  Pommern  vermählt,  jedoch  nach  Verlauf  eines  Jahres 
schon  Wittwe  geworden.  Erst  nach  ihres  Gemahls  Tode  (er 
starb  am  9.  Mai  1531)  gebar  sie  eine  Tochter,  Georgia,  die 
Nacbgeborene  genannt.  Kaum  aber  hatte  sie  ein  Jahr  im 
Wittwenstande  hingebracht,  als  der  Fürst  Johann  von  Anhalt, 
mit  dem  Kurfürsten  von  Brandenburg  längst  befreundet,  um 
ihre  Hand  warb.   Sie  wurde  im  Jahre  1532  seine  Gemahlin.*) 


*)  Die  Vermählungsfeier  setzen  einige  erst  ins  Jahr  1533. 

22* 


328  Die  Fürstin  Margarethe  von  Anhalt, 

Um  dieselbe  Zeit  geschah  es  auch,  dass  die  Fürsten  von  An- 
halt, Wolfgang  zu  Köthen,  Georg  III.  von  Plötzkau,  Joachim 
yon  Dessau  und  ebenso  Margarethe's  Gemahl  Johann  von 
Zerbst,  trotz  der  Abmahnungen  und  Warnungen  der  befreun- 
deten Fürsten  von  Brandenburg  und  Sachsen,  besonders  des 
Herzogs  Georg  von  Sachsen,  sich  entschieden  und  öffentlich  der 
Lehre  Luthers  zuwandten  und  ihr  in  ihren  Landen  freie  Bahn 
eröffneten.  Am  längsten  halte  Fürst  Johann,  ohne  Zweifel  ans 
Rücksicht  auf  seinen  Schwiegervater,  den  Kurfürsten,  Beden- 
ken getragen,  öffentlich  als  Bekenner  und  Beschützer  der  neuen 
Lehre  aufzutreten.  Luther  indess  wusste  so  kräftig  und  ein- 
dringlich auf  ihn  einzuwirken,  dass  endlich  auch  er,  Yon  der  Kraft 
der  Wahrheit  besiegt,  alle  äusseren  Rücksichten  hintanstellte. 
Wohl  mochten  diese  Verhältnisse  die  freundschaftlichen 
Banden,  welche  früher  zwischen  den  Anhaltischen  Fürsten 
und  den  benachbarten  katholischen  Fürstenhäusern  von  Bran- 
denburg und  Sachsen  geknüpft  worden  waren,  einigermaassen 
gelöst  haben.  Auf  die  verwandtschaftliche  Stellung  zwischen 
dem  Kurfürsten  Joachim  und  dem  Fürsten  Johann  hatten  sie 
jedoch,  wie  es  scheint,  keinen  merklichen  Einfluss.  Wir  fin- 
den beide  in  dem  Jahre  1534  mit  vielfachen  Verhandlungen 
beschäftigt,  um  die  Fürstin  Margarethe  in  Rücksicht  ihres 
künftigen  Unterhalts  und  der  ihr  gebührenden  Leibzucht  auf 
jede  Weise  sicher  zu  stellen.  Da  der  Kurfürst  seiner  Toch- 
ter bei  ihrer  Verheirathung  mit  dem  Herzog  Georg  von  Pom- 
mern ein  Heiratbsgeld  von  20000  Gulden  mitgegeben  hatte 
und  damals  in  der  Heirathsverschreibung  bestimmt  worden 
war,  dass  diese  Summe,  wenn  Herzog  Georg  früher  sterben 
und  seine  Gemahlin  sich  wieder  verehelichen  würde,  nacb 
Rückgabe  ihres  verschriebenen  Leibgedings  mit  einem  Wi- 
derlegungsgeld von  20000  Gulden  an  den  Kurfürsten  zurück- 
gezahlt werden  sollte,  so  glich  sich  dieser  zunächst  über  diese 
Bestimmung  mit  dem  Herzog  Philipp,  dem  Sohne  Georgs  aus 
erster  Ehe,  dahin  aus,  dass  das  erwähnte  Heirathsgeld  an 
den  Kurfürsten  zurückgezahlt  werden,  das  Widerlegungsgeld 
aber  vorerst  noch  dem  Herzog  verbleiben  sollte,  indem  die- 
ser es  jährlich  mit  1200  Gulden  zu  verzinsen  versprach.  Die- 


geborne  Markgräfin  von  Brandenburg.  329 

ses  Zinsgeld  sollte  der  Fürstin  Margarethe  für  ihre  ganze 
Lebenszeit  zufallen.  Diese  Bestimmung  genehmigte  auch  der 
Fürst  Johann  von  Anhalt  in  einem  mit  dem  Kurfürsten  in 
Betreff  der  einstigen  Erbschaft  seiner  Gemahlin  getroffenen 
Vergleich,  worin  sie  sich  verständigten,  wie  es  mit  der  Ver- 
keilung des  Widerlegungsgeldes  zwischen  Margarethe's  Toch- 
ter Georgia  und  ihren  Kindern  aus  zweiter  Ehe  mit  dem 
Fürsten  Johann  gehalten  werden  solle/) 

Was  den  künftigen  Unterhalt  Margarethe's  und  im  Falle 
sie  Wittwe  werde,  ihre  gebührende  Leibzucht  anlangte,  so 
war.  ihr  in  dem  zwischen  ihrem  Vater  und  dem  Fürsten  Jo- 
hann geschlossenen  Heirathsvertrage  „zur  Widerlegung  ihres 
eingebrachten  Heirathsguts  von  20000  Gulden  ein  jährliches 
Zins-  und  Renten-Einkommen  von  4000  Gulden  nebst  einer 
fürstlichen  Wohnung  als  künftiger  Wittwensitz  zugesichert 
worden.  Der  Kurfürst  hatte  jedoch  späterhin  nachgegeben, 
dass  diese  Summe  auf  vierthalbtausend  Gulden  ermässigt  sein 
sollte.  Zu  fester  Versicherung  dieses  Leibgedings  verschrieb 
der  Fürst  Johann  im  September  des  Jahres  1534  die  sämmt- 
lichen  Einkünfte  von  zwölf  Dörfern  nebst  dem  Städtchen  und 
Amt  Rosslau  und  wies  ihr  zugleich  das  dortige  Schioss  zu 
ihrem  einstigen  Wittwensitz  an.  Dieses  Vermächtniss  an 
Schioss,  Amt  und  Dörfern  sollte  der  Fürstin  ohne  alle  Ver- 
hinderung und  Gefährdung  auf  Lebenszeit  verbleiben.  „Wir, 
unsere  Erben,  Erbnehmer  und  Nachkommen,  hiess  es  aus- 
drücklich, sollen  und  wollen  unserer  Gemahlin  das  alles  und 
jedes,  wie  wir  es  angeschlagen,  gewähren,  dass  es  anderswo 
unversetzt,  unverkümmert  und  vor  aller  Ansprache  sicher  sey, 
sie  auch  dagegen  in  allen  Rechten  vertreten,  wie  Landesrecht 
und  Gewohnheit  ist."  Der  Fürst  erklärte  zugleich:  er  habe 
sich  mit  dem  Kurfürsten  Joachim  auch  darüber  vereinigt,  dass, 
wenn  seine  Gemahlin  nach  seinem  Tode  sich  wieder  ver- 
eheliche, es  in  seiner  Erben  Macht  und  Gefallen  stehen  solle, 
sie  von  ihrem  Vermächtniss,  ihrer  Leibzucht  und  Morgengabe 


*)  Dus  darüber  vom  Fürsten  Johann  ausgestellte  Document  ist 
datirt:  Am  Mittwoch  in  der  Osterwoche  1534. 


330  Die  Füritin  Margarethe  ton  Anhalt, 

mit  der  in  der  Heirathsverschreibung  bestimmten  Geldsumme 
abzulösen,  doch  sollten  ihr  dann  ihr  Silbergerätb,  Kleinode, 
Schmuck  und  Kastengeräthe  und  alles,  was  zu  ihrem  fürst- 
lichen Stande  gehöre,  frei  und  ungehindert  verbleiben/) 

Auf  diese  Weise  schien  der  Fürstin  für  die  Zukunft  ein 
völlig  sorgenfreies  Leben  gesichert,  denn  auch  Johann's  beide 
Brüder  Georg,  Dompropst  zu  Magdeburg,  und  Joachim  von 
Dessau  erklärten  nicht  nur  ihre  Einwilligung  in  die  getrof-? 
fenen  Bestimmungen,  sondern  verbürgten  sich  auch  dafür, 
dass  sie  stets  und  unverbrüchlich  aufrecht  erhalten  werden 
sollten.  Und  doch  gestaltete  sich  nachmals  alles  ganz  anders, 
als  man  es  damals  erwartete.  Margarethe  lebte  mit  ihrem 
Gemahl  in  keiner  glücklichen  Ehe.  Sie  hatte  ihm  zwar  noch 
vor  dem  Tode  ihres  Vaters  einen  Sohn  gebracht;  allein  zwi- 
schen den  Anhaltischen  Fürsten  und  dem  Bruder  der  Für- 
stin Joachim  IL,  der  seinem  Vater  im  J.  1535  gefolgt  war, 
herrschte  keineswegs  freundschaftliche  Gesinnung.  Sie  Hes- 
sen diese  Missstimmung  auch  selbst  den  Vetter  des  Kurfür- 
sten, den  Herzog  Albrecht  von  Preussen  entgelten,  indem  sie 
diesem  bei  einer  Reise,  die  er  im  Frühling  des  J.  1537  nach 
Deutschland  unternehmen  wollte,  das  von  ihm  erbetene  Ge- 
leit versagten  oder  doch  wegen  der  gegen  ihn  verfugten  Acht 
deshalb  allerlei  Schwierigkeiten  in  den  Weg  legten.  Dar- 
über kam  auch  die  Fürstin  Margarethe  mit  dem  Herzog  zu- 
erst in  Briefwechsel,  indem  sie  ihn  dringend  einlud,  auch 
ohne  Geleit  zu  ihr  nach  Dessau  in  ihre  „arme  Behausung" 
zu  kommen.  In  einer  Antwort  auf  ein  Schreiben  des  Her- 
zogs,  worin  er  sie  zu  Gevatter  gebeten  hatte,  sprach  sie  sich 
auch  über  ihre  unglücklichen  Verhältnisse  aus.  Die  Einla- 
dung des  Herzogs,  schrieb  sie  diesem,  werde  ihr  die  höchste 
Freude  sein,  wenn  sie  solche  nur  annehmen  könne;  allein  ihr 
Gemahl  werde  ihr,  das  wisse  sie  gewiss,  die  Erlaubniss  da- 
zu nicht  ertheilen;  er  lasse  sie  ja  nicht  einmal  zu  ihrem  Bru- 
der ziehen.    „Gott  weiss  meine  Freude,  fügte  sie  hinzu,  die 


*)  Diese  Leibzuchtsverschreibung  des  Fürsten  Johann  ist  da- 
tirt:  Dessau  Donnerstag  nach  Nativitat.  Maria  1534. 


geborne  Markgräfin  von  Brandenburg.  331 

ich  hier  seit  drei  Jahren  gehabt  habe  und  noch  habe;  ich 
kann  Grosses 'davon  sagen;  aber  es  ist  das  Kreuz,  das  mir 
Gott  auferlegt  hat."  Sie  bittet  zugleich  den  Herzog  um  et- 
was Bernstein,  Einhorn,  Elendsklauen  und  um  „eine  rechte 
Otterzunge",  „denn  ich  fürchte,  sagt  sie,  ich  habe  von  bö- 
sen Leuten  einen  bösen  Trank  bekommen."  Diesem  Umstand 
schrieb  sie  auch  eine  Krankheit  zu,  an  der  sie  vor  der  Ge- 
burt ihres  zweiten  Sohnes  Joachim  Ernst  (der,  wie  sie  selbst 
sagt,  bei  der  Geburt  so  schwach  war,  dass  er  sogleich  ge- 
tauft werden  musste)*)  zwanzig  Wochen  lang  schwer  dar- 
nieder gelegen  hatte.**) 

Das  Gerächt,  dass  Margarethe  mit  ihrem  Gemahl  nicht 
im  Frieden  und  von  ihm  getrennt  lebe,  gelangte  auch  bald 
bis  nach  Preussen.  Auf  die  Bitte  des  Herzogs,  ihm  über  die- 
ses Verhaltniss  näheren  Aufschluss  zu  geben,  erwiederte  ihm 
die  Fürstin:  es  sei  an  dem  Gerücht  nur  so  viel  wahr,  dass 
ihr  Gemahl  mit  Einwilligung  seiner  Brüder  ihr  das  Schloss 
Rosslau,  welches  ihr  zum  Leibgut  vermacht  sei,  „aus  son- 
derlicher freundlicher  Liebe"  zugestellt  habe;  getrennt  aber 
habe  sie  sich  von  ihm  dadurch  keineswegs.  Dass  indess  al- 
lerlei üble  Nachrichten  über  sie  umherliefen,  giebt  sie  selbst 
in  den  eigenhändig  von  ihr  hinzugefügten  Worten  zu  erken- 
nen: „Ew.  Liebden  wollen  nicht  allen  unnützen  Leuten  Glau- 
ben geben;  ein  armes  Weib  leidet  oft  mit  Unschuld.  Böse 
Leute  findet  man  in  der  Welt  leider  genug;  man  spricht:  in 
Nöthen  soll  man  erkennen,  wer  Freund  und  Feind  ist;  ich 
bin's  wohl  inne  geworden,  aber  Gott  wird  mir  noch  weiter 
helfen,  ich  bin  Gottlob  des  ehrlichen  Herkommens,  dass  ich 
niemals  etwas  anderes  in  meinen  Sinn  nehmen  und  anders 
handeln  werde,  als  ich  vor  Gott  und  aller  Welt  zu  Ehren 
will  bekannt  seyn.  Darum  bedarf's  des  harten  Ermahnens 
nicht,  denn  ob  Gott  will,  soll  mir  mit  Wahrheit  niemand  et- 


*)  Er  ist  bekanntlich  der  Stammvater  aller  heutigen  Fürsten 
von  Anhalt. 

**}  Schreiben  der  Fürstin  Margarethe,  datirt:  Dessau  Sonntag 
fo  den  Ostern  1537. 


332  Die  Fürstin  Margaretke  von  Anhalt, 

was  anders  nachzusagen  wissen,  als  was  meiner  fürstlichen 
Ehre  wohl  ansteht"*) 

Auf  diese  Missstimmung  der  Fürstin  mögen  anch  ihre 
ökonomischen  Verhältnisse  nicht  ohne  Einfluss  geblieben  sein. 
Dass  diese  nicht  die  günstigsten  waren,  dürfen  wir  schon 
daraus  entnehmen,  dass  es  ihr  Jahrelang  nicht  möglich  war, 
die  kleine  Summe  von  600  Gulden,  die  ihr  früher  die  Kor- 
fiirstin  Hedwig  vorgestreckt  hatte,  zurückzuzahlen,  da  sie,  wie 
sie  selbst  sagt,  bisher  „nichts  Eigenes  gehabt"  Sie  hoffie 
jetzt,  diese  Summe  von  ihren  Einkünften  aus  dem  ihr  zuge- 
wiesenen Theil  ihres  Leibgedings  zu  ersparen. 

Seit  dem  Jahre  1547  aber  wirkten  die  Kriegsstürme  auf 
die  Verhältnisse  des  Anhaltiscben  Fürstenhauses  höchst  un- 
glücklich ein.  Fürst  Wolfgang,  der  auf  der  Seite  der  Schmal- 
kaldischen  Bundesverwandten  stand,  wurde  in  die  Acht  er- 
klärt, und  musste,  nachdem  er  noch  in  der  unheilvollen  Schlacht 
bei  Mühlberg  mitgefochten,  die  Flucht  ergreifen,  da  kaiser- 
liches Kriegsvolk  in  Folge  des  Sieges  sein  Land  überzog. 
Während  er  verkleidet  im  Harzgebirge  umherirrte,  schenkte 
der  Kaiser  sein  Land  dem  Grafen  Sigismund  von  Ladron. 
Fürst  Johann  konnte  an  den  Kriegsereignissen,  zwar  keinen 
thätigen  Antheil  nehmen,  denn  schon  im  J.  1544  hatte  ihn 
auf  der  rechten  Seite  der  Schlag  gerührt  und  er  konnte,  ob- 
gleich ihm  der  Kurfürst  von  Brandenburg  seinen  geschickten 
Leibarzt  Christoph  Pfundstein  auf  einige  Zeit  zusandte,  nie  wie- 
der recht  genesen ;  allein  sein  Land  unterlag  dennoch  der  Plün- 
derung und  Verwüstung  durch  die  kaiserlichen  Kriegsvölker. 

Um  jedoch  dem  Hause  Anhalt  Wolfgang's  Landgebiete 
wo  möglich  noch  zu  erhalten,  gewannen  die  Fürsten  Wolf- 
gang's  Neffen,  den  Burggrafen  Heinrich  von  Meissen  Beuss 
von  Plauen,  der  durch  Gönner  am  Kaiserhofe  viel  Einfluss 
hatte,  zu  dem  Plane,  Wolfgang's  Lande  dem  Grafen  Ladron 
für  eine  Summe  von  32000  Thaler  wieder  abzukaufen;  dies 
Geld  wollten  ihm  die  drei  Brüder  zurückzahlen  und  dafür 


*)  Das  Schreiben  der  Fürstin,  dalirt:  Rosslau  Sonnabend  nach 
Aller  Heiliß,  1537. 


gehörnt  Markgräfin  von  Brandenburg.  333 

das  Land  wieder  an  das  Anhaltische  Haus  nehmen.  Dies 
ward  auch  wirklich  so  weit  durchgeführt,  dass  Graf  Ladron 
dem  Burggrafen  Heinrich  das  Land  für  die  erwähnte  Summe 
überliess,  denn  auch  der  Kaiser  gab  zu  dieser  Uebertragung 
der  Wolfgangischen  Besitzungen  seine  Zustimmung  und  wil- 
ligte endlich,  wiewohl  nur  mündlich  auch  ein,  dass  sie  mit 
dem  Hause  Anhalt  wieder  vereinigt  werden  könnten.  Allein 
der  Burggraf  besann  sich,  nachdem  die  Fürsten  die  Kauf- 
summe entrichtet,  bald  eines  andern.  Die  Gelegenheit  zur 
Vergrösserung  seiner  Herrschaft  schien  ihm  zu  günstig,  als 
dass  er  sich  hatte  überwinden  können,  den  Anhaltinern  sein 
gegebenes  Wort  zu  halten.  Er  Hess  sich  im  Jähe  1548  vom 
Kaiser  mit  Wolfgang's  Besitzungen  belehnen.*) 

So  irrte  Wolfgang,  ohne  Aussicht  je  wieder  als  Landes- 
fiirst  über  sein  Gebiet  herrschen  zu  können,  mehre  Jahre 
uns  tat  umher,  denn  vom  Kaiser,  der  den  Anhaltinern  zürnte, 
weil  sie  seine  Interimsformel  nicht  angenommen,  war  für 
ihn  keine  Gnade  zu  erwarten;  ebenso  wenig  vom  Böm.  Kö- 
nig Ferdinand,  der  ihm  persönlich  entgegen  war.  Noch  im 
Frühling  des  J.  1550  war  sein  Schicksal  so  traurig,  dass  Graf 
Georg  Ernst  von  Henneberg  dem  Herzog  Albrecht  von  Preus- 
sen  meldete:  Fürst  Wolfgang  sei  in  der  trostlosesten  Lage; 
wenn  es  mit  ihm  zum  Aeussersten  komme  und  er  alle  Hoff- 
nung aufgeben  müsse,  je  wieder  zum  Besitz  seines  Landes 
zu  gelangen,  so  sei  er  entschlossen,  sich  zu  ihm  nach  Preus- 
sen  zu  flüchten.  Herzog  Albrecht,  der  nie  einem  Verfolgten 
seine  Hülfe  versagte,  schrieb  alsbald  dem  Fürsten  Wolfgang 
selbst  und  lud  ihn,  wenn  er  nirgendwo  mehr  Friede  und  Ruhe 
finden  könne,  freundlich  zu  sich  ein,  indem  er  ihm  versicherte: 
„er  werde  zwar  an  ihm  einen  armen  Freund,  aber  doch  so  viel 
als  möglich  einen  guten,  freundlichen  Willen  bei  ihm  finden." 

So  war  um  diese  Zeit  die  Lage  der  Verhältnisse  in  den 
Anhaltischen  Landern,  als  im  Hause  des  Fürsten  Johann  das 
traurigste  Ungemach  seine  Seele  mit  Kummer  erfüllte.  Das 
Gerücht,  dass  seine  Gemahlin  Margarethe  mit  seinem  Leib- 


*)  Stenzel  Anhalt.  Geschichte  S.  181. 


334  Die  Fürstin  Margarethe  von  Anhalt, 

arzt  D.  Christoph  Böhmer  in  vertrautem  Umgänge  lebe,  Dun 
einen  Theil  ihres  Silbergeräthes  zum  Einschmelzen  überlie- 
fert und  auch  ihre  Kleinodien,  um  sie  in  Sicherheit  zu  brin- 
gen, übergeben  habe,  war  endlich  auchjhm  zugekommen  und 
nach  allem,  was  er  über  die  Sache  vernahm,  schien  sie  ihm 
sd  glaubhaft,  dass  er  nicht  nur  den  Leibarzt  festnehmen  und 
in  ein  tiefes,  finsteres  Gefiftngniss  setzen,  sondern  auch  seine 
Gemahlin  in  einen  Thurm  einsperren  liess.  Wie  weit  diese 
zu  so  strengem  Verfahren  ihres  Gemahls  Anlass  gegeben  ha- 
ben mag  und  was  an  dem  Gerüchte  wahr  sein  mochte,  kön- 
nen wir  aus  Mangel  näherer  Berichte  darüber  nicht  entschei- 
den; wir  hören  nur,  dass  man  sie  auch  sonst  noch  mehrer 
Unredlichkeiten  beschuldigte,  indem  man  sie  unter  andern 
auch  anklagte,  dass  sie  Kleinodien  ihres  Gemahls  sich  ange- 
maasst  und  solche  verpfändet  habe.  Auch  das  wiederholte  pein- 
liche Verhör  des  Leibarztes  brachte  keine  Gewissheit;  er  laug- 
nete  jeden  sträflichen  Umgang  mit  der  Fürstin  und  man  konnte 
ihn  mit  nichts  überführen.  Dennoch  war  es  doch  auch  weder 
ihm  noch  der  Fürstin  möglich,  ihre  Unschuld  so  klar  an  den 
Tag  zu  legen,  dass  sie  Befreiung  hätten  erlangen  können.  Erst 
nach  zwei  Jahren  erhielt  der  Leibarzt  durch  Verwendung  des 
Burggrafen  von  Dohna,  Landvogts  in  der  Oberlausitz,  bei  dem 
Kurfürsten  von  Sachsen  und  den  Fürsten  von  Anhalt  seine 
Freiheit  wieder.  Die  Fürstin  Margarethe  hatte  fast  drei  Mo- 
nate im  Gefängniss  zugebracht,  als  es  ihr  durch  Mithülfe  ih- 
res ältesten  Sohnes  Carl  gelang,  aus  ihrem  Kerker  zu  ent- 
fliehen. Mit  Lebensgefahr  sprang  sie  vier  Klafter  hoch  aus 
dem  Thurm  in  den  Graben  und  musste  sich  durch  einen 
tiefen  Morast  hindurcharbeiten.  Da  sie  durch  den  Fall  am 
Kopfe  beschädigt  und  in  Ohnmacht  gefallen  war,  so  konnte 
sie,  zumal  da  sie  nur  spärlich  bekleidet  war,  in  der  frosti- 
gen Jahreszeit  nur  mit  unsäglicher  Anstrengung  und  Mühe 
ihre  Flucht  fortsetzen.  Ein  Bettler,  der  sie  nicht  kannte,  soll 
sie  aus  Mitleid  eine   Zeitlang   begleitet  haben.4)    In  dieser 


*)  Möbsen,  Geschichte  der  Wissenschaften  in  der  Mark  Bran- 
denburg S.  528. 


geborne  Markgräfin  von  Brandenburg.  335 

höchst  traurigen  Lage  nahm  sie  ihre  Zuflucht  im  Januar  des 
J.  1551  zu  dem  ihr  naheverwandten  König  Christian  HI.  von 
Dänemark,  ihres  Vaters  Schwestersohn;  ihre  Mutter  Elisa- 
beth, die  damals  noch  lebte,  war  eine  dänische  Prinzessin, 
eine  Tochter  des  frühern  Königs  Johann  von  Dänemark.  Der 
König  nahm  sich  ihrer  freundlich  an,  stattete  sie  mit  neuer 
Kleidung  aus  und  wies  ihr  das  Kloster  Margebo  zu  ihrem 
Aufenthalt  an.  Hier  lebte  sie  in  stiller  Zurückgezogenheit 
sechsundzwanzig  Wochen  lang. 

Die  Zukunft  und  die  Welt  um  sie  her  lagen  ihr  traurig 
und  in  düsterem  Bilde  vor  Augen.  Ihr  Gemahl,  der  Fürst 
Johann,  war  unterdess  in  tiefem  Kummer  am  4.  Februar 
1551  gestorben.  An  ihren  Kindern  konnte  sie  keine  Stütze 
finden.  Von  ihren  drei  Töchtern  war  die  eine,  Margarethe, 
in  früher  Kindheit  gestorben,  die  beiden  andern,  Marie  und 
Elisabeth,  noch  zarte  Kinder.  Von  drei  Söhnen  zählte  der 
älteste  Carl  erst  siebzehn,  der  zweite  Joachim  Ernst  erst  fünf- 
zehn und  der  dritte  Bernhard  elf  Jahre.  Sie  wurden  der  Vor- 
mundschaft der  Kurfürsten  von  Brandenburg  und  Sachsen 
und  der  Fürsten  von  Anhalt  untergeben,  von  denen  Joachim 
von  Dessau  das  ihnen  zugefallene  Erbland  regierte.  Aber 
auch  an  diesen  Fürsten  konnte  die  verwittwete  Fürstin  keine 
Hülfe  und  keinen  Halt  finden  zu  können  hoffen.  Selbst  zu 
ihren  Brüdern,  dem  Kurfürsten  Joachim  IL  von  Branden- 
burg und  dem  Markgrafen  Johann  von  Küstrin  durfte  sie  un- 
ter den  obwaltenden  Umständen  kein  Vertrauen  fassen,  zu- 
mal da  das  Verhältniss  zwischen  diesen  Fürsten  und  ihrem 
Gemahl  nie  besonders  freundlich  gewesen  war.  Ausser  dem 
Könige  von  Dänemark  war  nur  ein  Fürst  ihres  angestamm- 
ten Fürstenhauses,  auf  den  sie,  wenn  zuweilen  in  ihr  noch 
eine  Hofihung  der  Errettung  aus  ihrer  traurigen  Lage  er- 
wachte, mit  Zuversicht  hinsah;  es  war  der  Herzog  Albrecht 
von  Preussen,  der  sie  schon  mehrmals  theilnehmend  über 
das,  was  sie  ihm  als  Kreuz  und  Leid  geklagt,  zu  trösten  ge- 
sucht hatte.  Sie  sandte  noch  im  Verlauf  des  J.  1551  einen 
Diener  Paul  Goltz  an  ihn,  um  ihn  von  ihrer  unglücklichen 
Lage  zu  unterrichten.  Zugleich  liess  sie  ihm  folgendes  Schrei- 


336  Die  Fürstin  Margarethe  von  Anhalt > 

ben  von  ihr  überbringen,  um  ihm  darin  die  ganze  Schwere 
ihres  Schicksals  vorzustellen. 

Freundlicher,  herzliebster  Herr  und  Vetter.  Ich  arme, 
betrübte  Fürstin  kann  Ew.  Liebden  nicht  bergen,  wie  man 
tyrannisch  und  mörderisch  mit  mir  armen,  betrübten  Fürstin 
umgegangen  ist,  dass  es  sein  Lebtage  nicht  erhört  worden 
ist,  dass  man  mit  einer  Fürstin,  die  so  hohes  Stammes  ge- 
wesen, umgegangen  wäre,  als  mit  mir  armen  Frau.  Ich  bitte 
Ew.  Liebden  um  Gottes  willen,  weil  Ew.  Liebden  auch  mei- 
nes Fleisches  und  Geblüt«  sind,  auch  ein  geborener  Markgraf 
von  Brandenburg,  und  ich  so  gar  verlassen  bin  von  aller  mei- 
ner angeborenen  Freundschaft,  Ew.  Liebden  wollen  sich  doch 
über  mich  erbarmen,  denn  Gott  weiss,  dass  ich  nicht  mehr 
habe,  als  was  mir  fromme  Leute  zuwerfen  und  bin  auch  so 
gar  elendiglich  in  unsers  lieben  Herrn  und  Vetters,  den  Kö- 
niges zu  Danemark  Land  angekommen,  dass  ich  Ew.  Liebden 
nicht  davon  schreiben  darL  So  hat  sich  seine  königl.  Maje- 
stät über  mich  arme,  betrübte  Fürstin  erbarmt  und  mich  in 
ein  Kloster  gethan,  darin  ich  nun  verharrt  habe  bis  in  die 
26  Wochen.  Auch  kann  ich  Ew.  Liebden  nicht  verhalten, 
dass  seine  königl.  Majestät  mir  armen,  betrübten  Fürstin  zwei 
Böcke  hat  machen  lassen  und  ein  Stück  Kammertuch  ge- 
schenkt, dass  ich  wieder  bekleidet  worden  bin,  dafür  ich  sei- 
ner königl.  Majestät  nimmer  genugsam  danken  kann.  Ich 
bitte  Ew.  Liebden  um  Gottes  willen,  Ew.  Liebden  wollen 
mich  arme,  betrübte  Fürstin  jetzt  in  meiner  höchsten  Be- 
trübniss  und  Elend  auch  nicht  verlassen;  das  bin  ich  arme 
und  elende  Fürstin  gegen  Ew.  Liebden  erbötig  zu  verdienen, 
denn  Gott  weiss,  dass  ich  so  gar  verlassen  bin,  dass,  die  sich 
meiner  sollten  annehmen,  ich  für  meine  grössten  Feinde  muss 
achten,  und  will  Ew.  Liebden  und  deren  Gemahlin  und  Toch- 
ter hiemit  dem  allmächtigen  Gott  befehlen.  Dat.  in  königl* 
Majestät  in  Dänemark  Kloster  Margebo  Sonnlag  nach  Jo- 
hannis  1551.*) 


*)  Das  Schreiben  im  Original  liegt  im  geheim.  Archiv  zu  Kö- 
nigsberg. 


geborne  Markgräfin  von  Brandenburg.  337 

Herzog  Albrecht  nahm  an  dem  traurigen  Schicksal  der 
Fürstin  um  so  mehr  innigen  Antheil,  da  nach  des  erwähn- 
ten Dieners  mündlicher  Mittheilung  sie  ihm  ihr  unglückliches 
Loos  nicht  verschuldet  zu  haben  schien.  Er  bezeugte  ihr  in 
einem  Antwortschreiben  sein  aufrichtiges  Mitleid  über  die 
ihr  angetbanen  Widerwärtigkeiten,  sprach  ihr  Trost  und  Muth 
zu,  das  was  ihr  Gott  in  Kreuz  und  Leid  zugesandt,  als  Chri- 
stin mit  Geduld  zu  ertragen  und  sich  mit  der  Hoffnung  zu 
stärken,  dass  Gott  sie  zu  rechter  Zeit  auch  erhören  und  er- 
lösen werde.  Ueberdies  gab  er  ihr  die  Zusicherung,  er  werde 
sich  bei  ihren  Brüdern  mit  einer  Fürbitte  für  sie  verwenden 
und  diese  ersuchen,  sich  gegen  sie  als  Christen  und  Brüder 
zu  beweisen  und  auf  Mittel  und  Wege  zu  denken,  um  sie 
aus  ihrer  unglücklichen  Lage  zu  retten. 

Albrecht  versäumte  keinen  Tag,  was  er  der  Fürstin  ver- 
sprochen, sofort  auszuführen.  In  zwei  Schreiben  am  13.  Au- 
gust (1551)  stellte  er  dem  Kurfürsten  Joachim  und  dessen 
Bruder  dem  Markgrafen  Johann  das  traurige  Schicksal  ihrer 
Schwester  vor,  wie  sie  von  aller  Hülfe  entblösst,  jetzt  in  klö- 
sterlicher Einsamkeit  in  der  Welt  dastehe.  Durch  nähere  Er- 
kundigung über  Anlass  und  Ursache  ihrer  Entfernung  aus 
den  Anbaltischen  Landen  habe  er  von  dem  ihm  zugesandten 
Diener  nur  so  viel  erfahren,  dass  man  sie  mehrer  Vergehun- 
gen bezüchtigt  habe,  an  denen  sie  aber  ganz  unschuldig  sei, 
namentlich  in  Betreif  der  gefänglichen  Einziehung  und  un- 
freundlichen Behandlung  durch  ihren  verstorbenen  Gemahl, 
ans  welchem  Gcfängniss  sie  sich  mit  Ratb,  Wissen  und  Hülfe 
ihres  Sohnes  geholfen,  woraus  gleichfalls  ihre  Unschuld  her- 
vorgehe. Auch  von  Wegsendung  verschiedener  Kleinodien  sei 
gesprochen  worden;  allein  auch  diese  Sache  erscheine  in  ei- 
nem andern  Licht,  als  man  sie  in  böser  Gesinnung  gegen  die 
Fürstin  darstelle,  denn  dazu  sei  sie  dadurch  gedrungen  wor- 
den, dass  man  ihr  nicht  einmal  Geld  zu  ihrem  täglichen  und 
notdürftigen  Unterhalt  gegeben,  so  dass  sie  aus  Hunger  und 
Noth  die  Kleinodien  habe  versetzen  müssen,  worüber  auch 
ausdrückliche  schriftliche  Beweise  vorhanden  sein  sollten. 
Der  Herzog  schlägt  den  beiden  Fürsten  vor,  zunächst  mit 


338  Die  Fürstin  Margarethe  von  Anhalt, 

dem  ältesten  Sohne  der  Fürstin  in  Verhandlung  zn  treten 
da  zu  hoffen  sei,  dass  dieser  sich  gegen  die  Mutter,  wie  ei 
auch  schon  in  der- höchsten  Noth  gethan,*viel  freundlichei 
und  kindlicher  auf  der  Fürsten  Verwenden  erzeigen  werde; 
aber  wenn  er  sich  auch  weigere,  etwas  zu  thun,  so  müsse 
doch  in  aller  Weise  auf  eine  billige  Ausgleichung  gedacht 
werden,  „damit,  wie  er  sagt,  Ihre  Liebden  nicht  genöthigt 
sey,  sich  uns  allen  Markgrafen  zu  Spott  und  Schimpf  an  frem- 
den Orten  aufzuhalten."  Endlich  bittet  Albrecht  die  beiden 
Fürsten,  sie  möchten,  wenn  von  der  Schwester  wirklich  et- 
was verbrochen  sein  sollte,  ihr  als  Christen  und  treue  Brü- 
der verzeihen,  die  jetzigen  Umstände  derselben  erwägen  und 
auf  Mittel  denken,  sie  aus  ihrem  drückenden  Elend  zu  retten. 

Der  Herzog  aber  Hess  es  nicht  bei  blossen  Trostworten 
an  die  Fürstin  und  bei  diesen  Aufforderungen  an  ihre  Brü- 
der bewenden.  Um  wenigstens  die  augenblickliche  Noth  Mar- 
garethe's  einigermaassen  xu  lindern,  wies  er  ihr  durch  Kauf- 
leute eine  Summe  von  hundert  Gulden  an.  Er  erhielt  jedoch 
von  diesen  im  Frühling  des  J.  1552  die  Nachricht:  das  Geld 
habe  an  die  Fürstin  nicht  entrichtet  werden  können,  weil 
sie  an  dem  vom  Herzog  bezeichneten  Orte  nicht  mehr  an- 
zutreffen gewesen  sei.  Albrecht  sandte  daher  die  erwähnte 
Summe  ihrer  Schwester  der  Herzogin  Elisabeth  von  Münden, 
Gemahlin  des  Grafen  Poppo  von  Henneberg,  mit  der  Bitte, 
sie  ihr  bei  erster  Gelegenheit  zukommen  zu  lassen  und  ihm 
möglichst  bald  zu  melden,  wo  sich  die  unglückliche  Fürstin 
jetzt  aufhalte. 

Mittlerweile  entwarfen  auch  die  beiden  Brüder  einen 
Plan,  um  ihre  Schwester  aus  ihrer  trostlosen  Lage  zu  ret- 
ten. Sie  machten  zuerst  ihrer  ältesten  Schwester  Anna,  die 
mit  dem  Herzog  Albrecbt  VI.  von  Mecklenburg  vermählt  war 
und  zu  der  sich  Margarethe  von  ihrem  Kloster  aus  geflüch- 
tet hatte,  den  Vorschlag:  sie  möge  die  Schwester  bei  sieb 
behalten  und  ihr  eins  der  zwei  Schlösser,  die  sie  in  Meck- 
lenburg habe,  einräumen.  Was  sie  dadurch  vielleicht  einbüsse 
und  der  Unterhalt  der  Schwester  koste,  solle  von  deren  Leib- 
gut im  Fürstenthum  Anhalt  und  von  dem,  was  ihr  überdies 


geborne  Markgräfin  von  Brandenburg.  339 

von  ihrem  ersten  Gemahl  in  Pommern  vermacht  sei  und  ihr 
jährlich  zukomme,  bestritten  und  gedeckt  werden.  Die  Her* 
zogin  Anna  erklärte  sich  zwar  bereit,  die  Schwester  bis  ge- 
gen Ostern  noch  bei  sich  behalten  zu  wollen;  da  sie  sich 
aber,  vielleicht  weil  sie  sich  scheute,  mit  ihrer  Schwester  in 
das  erwähnte  Verhältniss  zu  treten,  auf  Weiteres  nicht  ein- 
lassen wollte  und  an  eine  Rückkehr  Margarethe's  auf  ihr 
Leibgeding  im  Fürstenthum  Anhalt  aus  gegründeten  Ursachen 
gar  nicht  zu  denken  war,  so  beschlossen  die  beiden  Brüder 
in  Berathung  mit  ihrer  Mutter,  der  alten  Kurfürstin  Elisa- 
beth, mit  den  Söhnen  Margarethe's  ein  Uebereinkommen  zu 
treffen,  wonach  sie  ihrer  Mutter  alles,  was  ihr  im  Fürsten- 
thum Anhalt  an  Einkommen  jährlich  zufalle,  von  dorther  in 
Geld  erlegen  sollten  und  diese  dann  ihren  Aufenthalt  irgend- 
wo, wo  sie  wolle,  nehmen  könne.  Die  alte  Kurfürstin  sollte 
ihr  vorschlagen,  ob  sie  auf  einem  Schlosse,  welches  ihr  der 
Kurfürst  einräumen  werde,  oder  lieber  in  der  Stadt  Bran- 
denburg in  einer  Wohnung  ihres  Vaters  von  ihren  jährlichen 
Einkünften  aus  Pommern  und  Anhalt  leben  wolle/)  Die  Kur- 
fürstin forderte  sofort  ihre  Tochter  auch  auf,  sich  hierüber 
zu  erklären,  indem  sie  ihr  versicherte,  ihre  Brüder  würden 
alles  aufbieten,  um  ihr  in  ihren  Bedrängnissen  mit  Rath  und 
Hülfe  beizustehen. 

Margarethe  aber  ging  auf  diesen  Vorschlag  nicht  ein;  sie 
begab  sich  im  September  zu  ihrer  Schwester,  der  Herzogin 
Elisabeth,  nach  Münden.  In  welchem  Zustand  sie  bei  dieser 
ankam,  erfahren  wir  durch  die  Herzogin  selbst,  denn  sie 
schrieb  darüber  dem  Herzog  Albrecht  von  Preussen  am  10. 
October  1552:  „Ew.  Liebden  sollen  wissen,  dass  meine  Schwe- 
ster von  Anhalt  vor  fünf  Wochen  allhier  angekommen  ist  auf 
einem  Bauerwagen,  vor  dem  Ihre  Liebden  nur  zwei  Pferde 
hatte.  Der  Wagen  war  unverdeckt.  Sie  hatte  nur  eine  Magd 
bei  sich,  die  mochte  zwölf  Jahre  alt  sein,  und  einen  Bereiter. 
Wiewohl  ich  Ihre  Liebden  gern  sah  und  froh  war,  so  ward 


*)  Schreiben  des  Markgrafen  Johann  von  Brandenburg  an  die 
Gräfin  Elisabeth  von  Henneberg,  dat.  Küstrin  Mont.  nach  Lätare  1552. 


340  Die  Fürstin  Margarethe  von  Anhalt, 

ich  doch  so  erschreckt,  als  sie  so  höhnlich  allhier  durch  die 
Stadt  ungewamt  gefahren  kam,  dass  ich  glaube,  ich  sei  krank 
davon  geworden,  denn  sie  hatte  zu  Lüneburg  unter  Weges 
zwei  Nächte  gelegen,  und  wenn  der  Rath  nicht  gethan,  so 
wäre  sie  zu  Fuss  hergekommen.  Was  uns  allen  das  für  ein 
Geschrei  ist,  haben  Ew.  Liebden  leicht  zu  erachten/4  Die 
Herzogin  meldet  dann:  sie  habe  einige  Bevollmächtigte  an 
ihren  Bruder,  den  Kurfürsten,  abgesandt,  um  durch  diesen 
die  Sache  ihrer  Schwester  mit  Ernst  und  Eifer  zu  fördern; 
sie  habe  jedoch  nicht  grosse  Hoffnung,  „denn,  sagt  sie,  der 
Herzog  von  Pommern  hält  sich  gar  unfreundlich  und  giebt 
immer  nur  vcrzögliche  Antwort  Darauf  stehen  auch  die  von 
Anhalt  und  behelfen  sich  damit,  was  jener  thut,  wollet)  sie 
auch  thun.  In  Summa  sie  sind  dess  eins,  dass  sie  Beide  mit 
Willen  nicht  viel  geben  wollen."  Sie  bittet  daher  den  Her- 
zog, er  möge  sich  doch  ebenfalls  bei  den  genannten  Fürsten 
mit  einer  "Fürbitte  für  ihre  Schwester  verwenden,  denn  je 
mehr  solche  Fürbitten  an  jene  gelangten,  um  so  eher  wür- 
den „sie  sich  zulefot  aus  Scham  noch  bewegen  lassen  und 
mit  Billigkeit  gegen  die  Schwester  verfahren."  Elisabeth  zeigt 
dann  dem  Herzog  auch  an,  dass  sie  der  Schwester  die  über- 
sandten hundert  Gulden  eingehändigt  habe,  fügt  aber  hinzu: 
„Ew.  Liebden  haben  damit  ein  ganz  gutes  Werk  gethan,  denn 
Ihre  Liebden  gingen  so  zerrissen,  dass  ich  mich  davor  schämte. 
Sie  ist  sehr  jämmerlich,  hat  sich  so  sefcr  verweint,  dass  sie 
ganz  alt  und  ungestaltet  worden  ist.  Ich  hätte  sie  kaum  ge- 
kannt; sie  ist  so  zugerichtet,  dass  mich  wundert,  dass  sie 
noch  bei  Vernunft  und  am  Leben  ist  Ich  kann  nichts  anders 
von  ihr  erfahren,  als  dass  sie  mit  hober  Betheuerung  ihre 
Unschuld  anzeugt.  Es  ist  ihr  Unrecht  geschehen;  wie  ich 
hoffe,  so  rächet  es  Gott,  wie  er  denn  auch  bereits  an  ihren 
Feinden  angehoben  und  derselben  neun  mit  der  Pestilenz  und 
geschwindem  Tod  weggerafft  hat" 

Elisabeth  hatte  dem  Herzog  früher  den  Vorschlag  ge- 
macht, er  möge  Margarethen  entweder  an  seinen  Hof  neh- 
men oder  ihr  ein  Eigenthum  an  Landbesitz  in  seinem  Für- 
stentum anweisen.    Diesen  Rath  aber  nahm  sie  jetzt,  nach- 


geborne  Markgräfin  von  Brandenburg.  341 

dem  sie  ihre  Schwester  fünf  Wochen  lang  beobachtet  und 
näher  kennen  gelernt,  wie  sie  sagt,  aus  Liebe  zum  Herzog 
und  dessen  Gemahlin  (die  Elisabeths  Tochter  war)  wieder 
zurück,  „denn,  schreibt  sie,  es  ist  erstlich  noch  ungewiss,  ob 
Ihre  Liebden  einen  Pfennig  kriegen  wird  und  es  würde  nur 
mit  grosser  Mühe  etwas  zu  erlangen  seyn;  zum  andern  ist 
sie  nicht  alle  Zeit  bei  sich  selbst,  nimmt  viel  vor,  was  Ew. 
Liebden  nicht  gefallen  würde  und  in  Summa  sie  dient  nicht 
bei  Ew.  Liebden  und  würden  Ew.  Liebden  wohl  nur  mit  ihr 
geplagt  seyn  und  sich  mit  ihrem  guten  Willen  selbst  Undank 
und  mehr  Kreuz  machen,  als  Ew.  Liebden  schon  haben,  denn 
meine  Schwester  ist  ganz  unbeständig,  kann  sich  mit  nie- 
mand vertragen,  und  ob  Ew.  Liebden  auch  wohl  zufrieden 
seyn  und  es  christlich  dulden  wollten,  so  wissen  doch  E.  L., 
wie  die  junge  Welt  gesinnt  ist.  Zudem  bat  mir  auch  Her- 
zog Hans  Albrecht  (von  Mecklenburg)  geschrieben  mit  diesen 
Worten:  „Ich  sehe  für  gut  an  und  bitte,  Ew.  Liebden  wol- 
len nicht  eilen,,  die  von  Anhalt  nach  Preussen  zu  schicken, 
denn  es  möchte  uns  allen  etwas  schimpflich  seyn,  sondern 
Ew.  Liebden  fördere  die  Sachen  bei  ihren  Brüdern,  desglei- 
chen will  ich  auch  thun,  damit  Ihre  Liebden  zu  dem  Ihrigen 
kommen  möchte."  Elisabeth  ersucht  daher  den  Herzog,  für 
Margarethe's  Sache  sich  bei  ihren  Brüdern,  dem  Herzog  von 
Pommern  und  den  Fürsten  von  Anhalt  mit  möglichstem  Ei- 
fer zu  verwenden.  Am  Schlüsse  ihres  Briefes  bemerkt  sie 
noch,  dass  die  Schwester  sich  gern  wieder  verheirathen 
möchte.  „Sie  giebt  auch  immer  Freien  vor.  Aber  wenn  ich 
Ihrer  Liebden  recht  und  wohl  rathen  soll,  so  wollte  ich  ra- 
then,  sie  bliebe,  wie  sie  wäre,  denn  sie  ist  also  wunderlich 
geworden,  dass  ich  besorge,  sie  würde  sich  mit  einem  Herrn 
nicht  vertragen  oder  sich  unter  seinen  Gehorsam  begeben 
können,  daraus  nur  mehr  Unruhe  ihr  und  uns  allen  entste- 
hen möchte.  Ihre  Liebden  haben  mich  gebeten,  Ew.  Liebden 
wollten  das  Beste  thun  mit  dem  alten  Herzog  in  Schlesien} 
soll  ein  Herzog  von  der  Liegnitz  seyn,  da  er  Haus  hält  Ich 
besorge  aber,  Ew.  Liebden  und  ich  werden  mit  unserem 
Freien  nicht  grossen  Dank  verdienen,  denn  Ihre  Liebden  ist 

Zeitschrift  f.  Geschichte*.  IT.   1845.  23 


342  Die  Fürstin  Margarethe  von  Anhalt, 

gar  zu  wunderlich.  So  vermerke  ich  nicht,  dass  sie  einen 
Grafen  nehmen  wolle.  Sie  hatte  mich  selbst  auf  den  Weg 
gebracht,  dass  ich  ihr  einen  Grafen  von  Waldeck  freien  sollte. 
Da  ich  nun  meinte,  es  wäre  was,  da  liefen  Ihre  Liebden 
wieder  ganz  zurück  und  solches  will  sich  in  solchen  Sachen 
nicht  wohl  reimen,  wie  Ew.  Liebden  als  ein  verständiger 
Fürst  wohl  zu  ermessen  haben." 

Es  war  für  den  Herzog  Albrecht  gewiss  von  grosser 
Wichtigkeit,  auf  diese  Weise  über  Margarethe's  Charakter 
und  Lebensweise  näheren  Aufschluss  erhalten  zu  haben,  denn 
was  er  erfahren,  diente  ihm  nun  zur  Richtschnur  seines  künf- 
tigen Verhaltens  gegen  die  Fürstin.  Wir  wissen  zwar  nicht, 
was  für  Unterbandlungen  nunmehr  zwischen  den  Fürsten  von 
Brandenburg  und  denen  von  Anhalt  und  Pommern  stattge- 
funden haben  mögen;  sie  hatten  aber  wenigstens  nieht  den 
erwünschten  Erfolg  gehabt,  denn  am  20.  December  (1552) 
wandte  sich  auch  Herzog  Albrecht  von  Preussen  mit  einer 
Vorstellung  an  die  Fürsten  von  Anhalt  „Wir  sind  anlangst 
in  Erfahrung  gekommen,  achrieb  er  ihnen,  in  welchem  Elend 
und  Trübsal  die  verwittwete  Fürstin  Margarethe  zu  Anhalt 
jetzund  seyn  soll,  und  dabei  berichtet  worden,  dass  Ihrer 
Liebden  laut  der  besiegelten  Leibzucht  und  Vermächtnisse 
die  Nutzung  derselben  aammt  ihren  Kleidern  und  Kleinodien 
nicht  verabfolgt  worden,  wodurch  Ihre  Liebden  uns  allen, 
den  Markgrafen  von  Brandenburg,  ja  auch  Ihrer  Liebden  et- 
genen  Kindern  zu  nicht  geringer  Nachrede,  Schimpf  und  Hohn 
jämmerlich  verlassen  ist,  welches  alles  wir  als  Blutsfreoad 
ganz  ungern  und  beschwerlich  vernommen  haben  und  billig 
mit  Ihrer  Liebden  ein  herzliches  Mitleid  tragen.  Nun  ist  kein 
Zweifel,  Ew.  Liebden  werden  bei  sieh  erachten,  mit  welche« 
Fug  Ew.  Liebden  das  vorenthalten,  was  denselben  in  der 
Ehestiftuog  nach  Abslerben  ihres  Herrn  zu  verfolgen  und  zu 
reichen  versprochen  und  zugesagt  ist,  auch  so  es  (da  Gott 
vor  sey)  zu  rechtlicher  Erörterung  kommen  sollte»  wie  die 
Rechtssprüche  nach  Ordnung  der  Rechte  gehen  und  wem  sie 
am  beschwerlichsten  fallen  möchten.  Da  es  aber  löbKober 
ist,  durch  billige,  freundUehe  Revicfctuug  das  auf  im*  zu  a«k» 


gebarne  Markgräfin  von  Brandenburg.  343 

men,  dessen  man  sich  mit  Recht  und  Billigkeit  nicht  weigern 
kann,  so  gelangt  an  Ew.  Liebclen  unsere  freundliche  Bitte, 
Ew.  Liebden  wollen  sich  gegen  unsere  Muhme  laut  den  voll- 
zogenen Briefen,  Siegeln,  Vermächtnissen,  Leibzuchten  und 
anderem  also  schicken,  dass  Ihrer  Liebden  nicht  allein  hin- 
fort die  geordnete  Leibzucht  eingeräumt  und  verabfolgt,  son- 
dern auch  das  Versessene  erstattet,  desgleichen  ihr  auch  alle 
ihre  Kleider,  Kleinodien,  Silbergeschirre  und  was  dessen  mehr 
seyn  möchte,  was  Ihrer  Liebden  zuständig,  wie  billig  zuge- 
stellt und  überantwortet  werde,  damit  Ihre  Liebden  nicht 
allein  ihren  Kindern,  sondern  auch  uns  allen  Markgrafen  nicht 
zu  Schimpf  und  Spott  ins  Elend  Verstössen  würde.  Wo  aber 
nicht  und  wofern  es  ja  zu  Weiterungen  gelangen  sollte,  wie 
wir  nicht  hoffen,  so  müssten  wir  nebst  andern  unsern  Her- 
ren und  Vettern  Ihre  Liebden  mit  Bath,  Hülfe  und  Trost 
nicht  verlassen  und  die  Wege  suchen  helfen,  wodurch  Ihre 
Liebden  bei  dem  Ihrigen  erhalten  würden,  versehentlich  Ew. 
Liebden  werden  es  uns  alsdann  nicht  verdenken,  haben  aber 
zu  Ew.  Liebden  noch  die  tröstliche  Hoffnung,  sie  werden  es 
dazu  nicht  kommen  lassen ,  sondern  Brief  und  Siegel  erwä- 
gen, auch  darauf  gebührliches  Einsehen  haben  und  die  Bil- 
ligkeit verfugen." 

So  löblich  nahm  sich  Herzog  Albrecht  der  verlassenen 
Fürstin  an  und  so  viel  war  durch  ihn  geschehen,  um  ihr 
wenigstens  einen  ihrem  Stande  angemessenen  Unterhalt  zu  ver- 
schaffen, als  sie  ihn  unerwartet  mit  einem  Plane  überraschte, 
der  ihm  eine  Zeitlang  viele  Sorgen  machte.  Gutmüthig,  wie 
er  immer  war,  hatte  er  ihr  früher,  ehe  er  sie  näher  kannte, 
die  Zusicherung  gegeben,  sie  solle  jeder  Zeit  zu  ihm  ihre 
Zuflucht  haben  und  er  wolle  mit  ihr  gern  seine  Behausung 
nebst  Küche  und  Keller,  so  viel  er  vermöge,  tbeilen,  auch  sie 
mit  der  nöthigen  Bedienung  versehen.  Um  ihr  seine  freund- 
liche Gesinnung  zu  bethätigen,  hatte  er  ihr  einiges  zu  ihrer 
Bekleidung,  ein  Marderfutter  und  einen  damastenen  Ueberzug 
zu  einem  Pelze  als  Geschenke  übersandt.  In  einem  Schrei-* 
ben,  worin  sie  ihren  Dank  bezeugte,  griff  sie  jenes  Anerbie- 
ten des  Herzogs  auf,  rühmte  es  als  eine  überaus  grosse  und 

23* 


344  Die  Fürstin  Margarethe  von  Anhalt, 

fürstliche  Tugend,  dass  er  sich  „so  gar  freundlich  und  wohl- 
thätig,  mitleidig  und  tröstlich"  gegen  sie  als  eine  „arme,  be- 
trübte, elende,  trostlose,  verlassene  und  verachtete  Wittwe" 
in  ihrem  schweren  Kummer  und  ihrer  Verfolgung  erzeige. 
„Es  sey  ihr  ein  grosser  Trost,  schrieb  sie  ihm»  dass  sie  an 
ihm  doch  noch  Einen  Freund  finde,  der  sich  ihrer  annehmen 
wolle."  Allein  sie  fasste  des  Herzogs  Anerbieten  von  einer 
Seite  auf,  wie  es  dieser  nicht  erwartet  hatte.  Sie  schlug  ihm 
unter  dem  Vorgeben,  dass  sie  durch  ihre  schweren  Trübsale 
körperlich  sehr  schwach  geworden  sei,  kein  grosses  Gepränge 
um  sich  her  ertragen  könne  und  nur  Ruhe  und  Stille  wün- 
sche, den  Plan  vor:  er  solle  ihr  ein  eigenes  Haus  kaufen,  in 
welchem  sie  bequem  leben  könne.  Sie  bestimmte  zugleich 
auch  den  Hofstaat,  mit  welchem  sie  sich  versehen  wollte; 
sie  wollte  mit  sich  bringen  einen  eigenen  Prädicanten,  drei 
adelige  Jungfern,  einen  Hofmeister,  eine  Hofmeisterin,  zwei 
Mägde,  eine  Köchin,  drei  Edelknaben,  zwei  andere  Knaben, 
einen  Thürknecht,  einen  Jungfernknecht,  zwei  Laufboten,  aus- 
serdem acht  Wagenpferde,  drei  Zelter -u.  s.  w.  So  ungefähr, 
sagte  sie,  habe  sie  ihren  Hofstaat  angeschlagen.  Allein  mit 
diesen  Anforderungen  stimmten  die  Klagen,  mit  denen  sie  ihr 
Schreiben  anfüllte,  wenig  überein.  „Wo  soll  ich  hin,  schrieb 
sie  dabei,  ich  habe  leider  den  Schimpf  zu  erfahren,  wo  ich 
hin  komme,  wird  der  Wirth  des  Gastes  müde  und  da  thut 
man  mir  den  Stuhl  vor  die  Thüre  setzen.  Ich  muss  in  Wahr- 
heit* schreiben,  dass  ich  so  geängstigt,  beschwert  und  höch- 
lich betrübt  werde,  dass  wenn  Gott  mich  nicht  sonderlich 
erhalten  thät,  ich  wohl  verzagen  und  vor  Leid  sterben  möchte." 
Auch  mit  ihren  Kindern  gehe  es  ihr  nicht  gut;  ihre  Tochter 
in  Pommern,  jetzt  ein  Fräulein  von  zwanzig  Jahren,  sei  ihr 
„gar  absinnig"  geworden  und  ihr  mittlerer  Sohn  Joachim 
Ernst  habe  ein  Unglück  gehabt,  welches  ihm  schier  das  Le- 
ben gekostet.  Am  bittersten  beklagt  sie  sich  über  ihre  Brü- 
der, indem  sie  dieselben  beschuldigt,  sie  beim  Könige  von 
Dänemark  verleumdet  zu  haben.  „Sie,  mein  eigenes  Fleisch 
und  Blut,  speisen  und  tränken  meine  ärgsten  Feinde  und 
thun  ihnen  das  Liebste  und  Beste  an;  aber  mich  arme,  elende 


geborne  Markgräfin  von  Brandenburg.  345 

Fürstin  lässt  man  in  grossem  Elend,  Betrübniss  und  Armuth 
so  dahinten  stehen.  Man  hetzet  mich  wie  ein  Stück  Wild, 
das  man  gar  zerreissen  will.  So  haben  mich  meine  eigenen 
Brüder  beim  Könige  von  Dänemark  so  hoch  beschwert  und 
angegeben,  dass  ich  bald  wieder  in  Haft  gekommen  wäre, 
hätte  mir  nicht  ein  ehrlicher,  aufrichtiger  Geselle  geholfen, 
dass  ich  weggekommen  wäre,  denn  hätte  ich  noch  einen  Tag 
länger  mich  verzogen,  so  wäre  ich  wieder  ins  Gefängniss  ge- 
nommen worden.  Man  geht  mit  mir  um,  dass  es  Gott  er- 
barmen mag;  ich  bitte,  Ew.  Liebden  wolle  mich  nicht  ver- 
lassen und  auf  Wege  denken,  denn  man  lässt  mich  wohl 
ewig  so  sitzen,  während  andere  meine  Güter  brauchen  und 
im  Bosengarten  sitzen.  Erbarme  sich  doch  Gott  über  mich 
arme,  betrübte  Wittwe.  Meine  Brüder  sind  zu  lässig  in  al- 
len Sachen,  haben  auch  mit  sich  selbst  genugsam  zu  schaf- 
fen, so  dass  meiner  ganz  vergessen  wird.  Aus  meinen  beiden 
Leibzuchten  habe  ich  nicht  einen  Pfennig  überkommen;  so 
haben  die  Anhaltischen  alle  meine  Kleinodien  verkauft  und 
unter  einander  vertheilt,  dass  ich  fürchte,  ich  werde  gar  nichts 
wieder  bekommen.  Gott  weiss,  ich  bin  betrübt  bis  in  den 
Tod  und  so  Ew.  Liebden  mich  nun  verlassen,  so  weiss  ich 
dann  weiter  nirgends  wohin,  denn  meine  Schwester  von  Hen- 
neberg kann  mich  nicht  länger  erhalten;  die  Schulden  liegen 
ihr  zu  schwer  auf  dem  Halse."*) 

Bei  diesen  das  ganze  Mitleid  des  Herzogs  aufregenden 
Klagen  kostete  es  ihn  gewiss  einen  schweren  Kampf,  der 
trostlosen  Fürstin  ihre  Bitte  zu  versagen;  allein  unter  den 
obwaltenden  Umständen  konnte  er  nicht  umhin,  ihr  den  ge- 
fassten  Plan  aufs  entschiedenste  zu  widerrathen.  In  einem 
sehr  ausfuhrlichen  Schreiben  vom  2.  Januar  1553  setzte  er 
ihr  die  Gründe  auseinander,  die  ihrer  Aufnahme  bei  ihm  in 
der  Art,  wie  sie  wünsche,  entgegenständen.  Sein  früheres 
Anerbieten  habe  er  ihr,  wie  sie  wohl  wissen  werde,  nur  in 
der  Voraussetzung  gemacht,  dass  sie  zu  ihrem  Leibgedinge 


*)  Schreiben  der  Fürstin  Margarethe,  dat.  Münden  Sonnt  nach 
Martini  1552. 


346  Die  Fürstin  Margarethe  ton  Anhalt, 

und  was  ihr  sonst  gehöre,  kommen  werde.  Damals  habe  er 
ihr  auch  vorgeschlagen,  dass  sie  bei  ihm  am  Hofe  sein  und 
mit  seinem  Tische  vorlieb  nehmen  werde;  nach  ihrem  jetzi- 
gen Plane  aber  solle  alles  ganz  anders  sein.  Ein  Haus  für  sie 
zu  kaufen,  habe  er  viele  Bedenklichkeiten;  der  Hofstaat,  den 
sie  mit  sich  bringen  wolle,  werde  viele  Kosten  verursachen; 
solle  er  ihn  unterhalten,  so  werde  ihm  seine  Ausspeisung 
gewiss  so  hoch  kommen,  als  der  vierte  Theil  seines  eigenen 
Hofes;  wolle  sie  ihn  aber  selbst  erhalten,  so  möge  sie  doch 
bedenken,  dass  sie  bei  jetziger  Theuerung  die  Unterhaltung 
von  so  viel  Menschen  und  Pferden  nicht  unter  tausend  Gul- 
den werde  bestreiten  können,  denn  eine  Person  ein  Jahr  lang 
in  der  Kost  mit  Mittags-  und  Schlaftrunk  zu  unterhalten, 
könne  nicht  unter  30  Gulden  geschehen.  Wo  aber  wolle  sie 
dies  alles,  nebst  Kleidung  und  anderen  Bedürfnissen  herneh- 
men? Er  müsse  ihr  also  rathen,  ihren  Plan  nicht  eher  aus- 
zuführen, als  bis  sie  das  Ihrige  erbalten  habe,  wovon  sie  sich 
unterhalten  könne.  Da  er  überdies  vernommen  habe,  dass 
sie  wohl  Willens  sei,  sich  wieder  zu  verheirathen,  so  könne 
er  auch  aus  diesem  Grunde  ihr  nicht  rathen,  sich  zu  ihm  zu 
begeben.  Bei  ihm  werde  sie  dazu  keine  Gelegenheit  6nden. 
In  Polen  gebe  es  auch  keine  Fürsten,  sondern  nur  Herren 
und  Edelleute,  die  ihre  Weiber  mit  Schlafen  und  anderm  ganz 
anders  hielten  als  die  Deutschen.  In  Deutschland  werde  für 
sie  bei  Grafen  und  Fürsten  mehr  Gelegenheit  sein  und  dort 
werde  sie  als  eine  junge  Fürstin  wohl  eher  der  Lehre  Pauli 
folgen  können,  „der  den  geilen  Wittwen  rathen  thut,  dass 
sie  bald  heirathen  sollen  und  es  besser  sey  in  Ehren  als  in 
Schanden  zu  leben."  Finde  sich  kein  Fürst,  so  sei  ja  auch 
bei  ehrlichen  Fürstengrafen  und  andern  gut  beizuwohnen. 

Bei  diesen  Worten  ahnete  der  Herzog  freilich  nicht,  was 
in  dieser  Hinsicht  nach  wenigen  Monaten  erfolgen  werde. 
Margarethe  hatte  ihre  Schwester  in  Münden  bereits  wieder 
verlassen.  Seit  Ostern  des  Jahres  1553  wusste  Niemand,  wo 
sie  sich  hingewendet;  selbst  ihren  nächsten  Verwandten  war 
ihr  Aufenthalt  völlig  unbekannt.  Erst  im  September  klärte 
sich  ihr  Verschwinden  mit  einem  Male  auf.    Graf  Poppo  von 


geborne  Markgräfin  von  Brandenburg.  347 

Henneberg  nämlich,  der  Gemahl  Elisabeth's  von  Münden, 
hatte  beim  Herzoge  von  Preussen  einen  Besuch  gemacht 
Auf  der  Heimreise  kehrte  er  an  einem  Vormittage  in  Pom- 
mern in  einem  Wirthshause  ein,  um  einen  ermüdeten  Klep- 
per, den  er  nicht  weiter  mit  sich  führen  konnte,  bei  dem 
Wirthe  gegen  einen  anderen  zu  vertauschen.  Da  fand  er  im 
Wirthshause  ganz  unerwartet  und  nicht  ohne  grösstes  Be- 
fremden die  Fürstin  von  Anhalt,  wie  er  selbst  sagt,  „unge- 
schickter und  ungebührlicher  Weise  in  Begleitung  eines  Ge- 
sellen," der  sich  Hans  Jonas  von  Goltz  nannte.  Auf  des 
Grafen  Befragen:  wie  sie  hieher  gekommen  sei?  erwiederte 
sie:  sie  wolle  sich  zum  Herzoge  Albrecht  nach  Preussen  be- 
geben. Der  Graf  indess  erklärte  ihr:  er  könne  und  werde 
es  nicht  dulden,  dass  sie  mit  einem  solchen  losen  Buben  ih- 
ren Herren  Brüdern  und  Freunden  zu  Schimpf  und  Schande 
in  fremden  Landen  umherziehe.  Er  zwang  sie  daher,  mit 
ihm  bis  an  die  Grenze  der  Neumark  zurückzukehren,  wo  er 
sie  nebst  dem  Gesellen  an  einem  Orte  in  festen  Verwahrsam 
nehmen  liess.  Er  stattete  alsbald  ihren  Brüdern  von  allem, 
was  mit  ihr  geschehen  war,  Bericht  ab,  um  sie  über  ihr  fer- 
neres Schicksal  und  geeignete  Maassregeln  entscheiden  zu 
lassen.  Höchst  erzürnt  über  den  schimpflichen  Wandel  ihrer 
Schwester  entgegneten  sie  dem  Grafen  auf  seine  Erzählung: 
„Ihr  hättet  gatfz  anders  mit  ihr  verfahren  sollen." 

Ehe  indess  die  Brüder  zu  einem  Beschlüsse  kommen 
konnten,  was  jetzt  zu  thun  sei,  war  es  der  Fürstin  durch  ei- 
nen listigen  Anschlag  gelungen,  aus  ihrem  Verwahrsam  zu 
entkommen  und  in  Mannskleidern  mit  ihrem  Gesellen  zu  ent- 
fliehen. Sie  hatten,  wie  man  auskundschaftete,  wieder  den 
Weg  nach  Preussen  eingeschlagen.  Als  dies  Graf  Poppo  er- 
fuhr, gab  er  sofort  dem  Herzoge  Albrecht  von  dem  Vothaben 
der  Flüchtlinge  Nachricht.  „Wenn  sie,  fugte  er  hinzu,  bei 
Ew.  Liebden  ankommen  und  uns  oder  unsere  geliebte  Ge- 
mahlin bei  Ew.  Liebden  angeben  oder  verunglimpfen  wür- 
den, so  bitten  wir  ganz  freundlich,  Ew.  Liebden  wollen  ihr 
keinen  Glauben  oder  Beifall  geben,  denn  sie  treibt  viel  selt- 
same Worte,  da  nichts  hinter  ist,  sondern  sie  vielmehr  von 


348  Die  Fürstin  Margarethe  von  Anhalt, 

ihrem  bösen  Leben  abweisen.    Es  wäre  besser,  sie  wäre  an 
dem  Orte,  da  sie  es  nimmer  thäte  und  der  Bube,  der  mit 
ihr  umherzieht,  seine  Strafe  empfangen  hätte."*)  Auch  Poppo's 
Gemahlin  war  über  den  Lebenswandel  der  Schwester  aufs 
heftigste  erzürnt.    „Meine  Schwester,  schrieb  sie  dem  Her- 
zoge Yon  Preussen,  hat  abermals  eine  grosse  Thorheit  be- 
gangen und  mich  damit  aufs  neue  bis  auf  den  Tod  verwun- 
det.   Gott  vergebe  es  ihr.    Ich  wollte,  sie  wäre  dafür  todt" 
Auf  Herzog  Albrecbt,  der  sich  bisher  unter  allen  ihren 
Verwandten  der  Fürstin  immer  am  eifrigsten  angenommen, 
machten  diese  Nachrichten  den  tiefschmerzlichsten  Eindruck, 
denn  je  theilnehmender  er  sich  bis  jetzt  in  der  Ueberzeugung 
von  ihrer  Schuldlosigkeit  für  sie  bei  den  Fürsten  von  Anhalt 
und  bei  ihren  Brüdern  verwandt  hatte,  um  so  bitterer  fand 
er  sich  jetzt  getäuscht  und  um  so  mehr  bereute  er  nun,  was 
er  für  sie  gethan,  zumal  da  er  die  Ehre  seines  Hauses  durch 
Margarethe's  Lebenswandel  so  schwer  verletzt  sah.  „Es  geht 
uns,  —  so  sprach  er  sich  darüber  in  einem  Antwortschreiben 
an  den  Grafen  Poppo  aus  —  wie  billig  sehr  zu  Herzen,  dass 
der  von  Anhalt  Herren  und  Brüder,  ja  alle  ihre  Verwandten 
ihres  bösen  Wandels  Schande  und  Spott  haben  müssen.    Wir 
wollen  aber  Ew.  Liebden  nicht  bergen,  dass  sie  bei  uns  noch 
nicht  gewesen,  sind  auch  nicht  bedacht,  etwas  mit  ihr  oder 
ihren  Händeln,  nachdem  wir  eines  solchen  von  Ew.  Liebden 
berichtet  sind,  zu  schaffen  zu  haben,  denn  wenn  auch  Ew. 
Liebden  uns  darum  nicht  gebeten  hätten,  so  wissen  wir  doch 
zuvor,  wie  treulich  Ew.  Liebden  und  ihre  Gemahlin  e$  mit 
ihr  gemeint,  sie  nicht  allein  aufs  treulichste  selbst  gefördert, 
sondern  auch  uns,  wie  denn  vielleicht  auch  andere  dahin  ver- 
mocht haben,  dass  wir  für  unsere  Person' mit  Vorschriften 
und  in  anderer  Weise  das  gethan,  was  wir,  hätten  wir  so 
viel  wie  jetzt  gewusst,  wohl  unterlassen  haben  möchten.   Weil 
es  also  aber  geschehen  ist  und  sie  für  sich  selbst  das  lose, 
böse  Leben  statt  der  hohen  Ehre,  darein  sie  der  liebe  Gott 


#)  Schreiben  des  Grafen  Poppo  von  Henneberg,  dat.  Spandau 
15.  Sept.  1553« 


geborne  Markgräfin  ton  Brandenburg,  349 

als  eine  fürstliche  Person  verordnet,  auserwählt  hat,  wird  sie 
solches  und  daneben  die  Strafe  Gottes  vermutblich  am  här- 
testen und  schwersten  selbst  fühlen  müssen.  Der  Allerhöch- 
ste verleihe  ihr  nur  ein  bussfertiges  Herz,  damit  sie  neben 
der  zeitlichen  Ehre  nicht  auch  die  ewige  Seligkeit  verliere." 
So  schrieb  der  Herzog  dem  Grafen  am  15.  October  1553. 

Margarethe  war  also  um  diese  Zeit,  wie  aus  des  Her- 
zogs Schreiben  hervorgeht,  noch  nicht  bei  ihm  angelangt. 
Wo  sie  sich  im  Winter  darauf  aufgehalten  haben  mag,  ist 
unbekannt.  Im  Anfange  des  März  1554  befand  sie  sich  mit 
dem  sie  begleitenden  Gesellen  im  Dorfe  Krassen  in  Samai- 
ten,  wo  sie  ein  elendes  Bauernhaus  bewohnten.  Der  Herzog 
Albrecbt  hatte  damals  schon  Nachricht  von  ihrem  dortigen 
Aufenthalte.  Er  war  zwar  bemüht  gewesen,  die  eben  nicht 
ehrenhaften  Verhältnisse  der  ihm  verwandten  Fürstin  nicht 
weiter  bekannt  werden  zu  lassen.  Allein  in  Königsberg  war 
die  ganze  Sache  um  diese  Zeit  schon  kein  Geheimniss  mehr. 
In  einer  Gesellschaft  des  herzoglichen  Secretars  Gans  erzählte 
ein  Gast  die  ganze  Geschichte,  wie  es  der  Anhalterin  in  der 
Gegend  von  Stolpe  ergangen  sei. 

Der  Herzog  hatte  bereits  von  dem  allen  auch  der  Mutter 
Margarethe's,  der  alten  Kurfürstin  Elisabeth,  die  sich  damals 
in  Spandau  aufhielt,  Nachricht  gegeben.  Sie  war  aufs  schmerz- 
lichste darüber  betrübt.  Hören  wir,  wie  die  tiefgebeugte 
Mutter  ihren  Kummer  über  die  Verirrung  ihrer  Tochter  aus- 
spricht. „Was  mir,  schrieb  sie  dem  Herzoge  von  Preussen, 
der  Allmächtige  alles  Elend,  Schmerz  und  Herzleid  durch 
meine  ganz  übelgerathene  Tochter,  die  von  Anhalt,  zugefügt, 
ist  Ew.  Liebden,  Gott  sey  es  geklagt,  genugsam  wohl  bekannt, 
und  hätte  ich  mir  zu  derselben  solches  ganz  vergessliches 
Vornehmen,  wodurch  sie  nicht  allein  dem  Hause  Branden- 
burgisches Stammes  und  Herkommens  nicht  geringe  Verleu- 
mung,  Schimpf  und  Unglimpf  gestiftet,  sondern  vielmehr  auch 
mir  Hochbetrübten  als  der  Mutter  tödtlichen  Schmerz  und 
neugehabtes  Herzleid  zugerichtet,  nimmermehr  versehen.  Was 
aber  dasselbe  mir  in  meinem  abgelebten  Alter,  ja  in  meiner 
Grube  für  ein  durchschneidendes  Herzleid  wirket,  (das  stelle 


350  Die  Fürstin  Margaretke  von  Anhalt, 

ich  in  Ew.  Liebden  Selbstbedenken.  Gott  sey  es  geklagt,  dass 
ich  das  soll  und  muss  eriebt  haben.  Ich  and  meine  beiden 
Söhne  haben,  wie  wir  zuerst  ihr  Vornehmen  gehört,  ganz 
mütterlich  und  bruderlich  sie  vielmals  ermahnt  umf  ihr  ge- 
sagt, von  diesem  ihrem  unfuglichen  Vornehmen  abzustehen; 
so  hat  es  doch  nichts  helfen  wollen.-  Hatten  wir  uns  aber 
solcher  Weiterung  bei  ihr  versehen,  so  sollte  es  ihr  verboten 
und  nicht  dazu  gekommen  seyn."  Die  Kurfurstin  bittet  hier- 
auf den  Herzog  in  dieser  betrübten  Angelegenheit  um  seinen 
Rath  und  Beistand,  um  „dem  ungeschickten  Vornehmen  des 
Laufens  ihrer  elenden,  Gott  sey  es  geklagt,  ganz  übelgerathe- 
nen  Tochter"  ein  Ziel  zu  setzen;  sie  stellt  deshalb  anheim, 
ob  es  nicht  gerathen  sein  möchte,  sie  am  ersten  Orte,  wo 
man  sie  antreffe,  aufzugreifen,  zu  versperren  und  wohl  zu 
verwahren ,  sie  dann  durch  einen  frommen  Prediger  ermah- 
nen und  „zu  der  Beichte  der  Absolution  und  zum  Testamente 
Christi,  als  solle  sie  ihren  Abschied  von  dieser  Welt  nehmen, 
auf  das  härteste  erschüttern  zu  lassen,  in  der  Gestalt  und 
also  hart,  dass  sie  sich  nur  stracks  zum  Tode  anschicken 
sollte,  bis  sie  alsdann  bitten  werde:  man  wolle  sie  in  dem 
verschonen,  sie  wolle  ablassen  und  sich  bessern."  Die  Für- 
stin meint,  wenn  man  damit  sogleich  sehr  hart  in  sie  dringe 
und  ihr  mit  solcher  Drohung  zusetze,  so  werde  es  wohl 
möglich  sein,  sie  auf  diese  Weise  von  ihrem  bösen  Vorneh- 
men abzubringen.  Endlich  fugt  sie  hinzu:  „Damit  wir  aber 
des  elenden  Handels  für  weitern  Schimpf  und  Unglimpf  möch- 
ten befreit  werden,  so  flehen  und  bitten  wir  Ew.  Liebden 
zum  freundlichsten  und  höchsten  um  Gottes  willen,  Ew. 
Liebden  wollen  sich  doch  meiner  von  wegen  des  zugefügten 
grossen  Kreuzes  und  Herzleids  erbarmen  und  in  dieser  hoch- 
betrübten Sache  uns  mit  Trost,  Hülfe  und  Rath,  mit  söhnli- 
chem und  freundlichem  Mitleid  ja  nicht  verlassen,  und  damit 
sie  Beide  zu  Scheu  und  Abschrecken  ihres  bösen  Lebens  mögen 
gebracht  werden,  ja  keinen  Fleiss  sparen,  wie  wir  uns  denn 
dessen  zu  Ew.  Liebden  mütterlich  und  freundlich  versehen."*) 


*)  Das  Schreiben  der  Kurfurstin  ist  datirt:  am  Sonnabend  nach 


geborne  Markgräfin  von  Brandenburg,  351 

Die  Kurfurstin  hatte  dieses  ibr  eigenhändiges  Schreiben, 
bevor  sie  es  dem  Herzoge  von  Preussen  übersandte,  auch  ih- 
rem ältesten  Sohne,  dem  Kurfürsten  Joachim  zugeschickt  und 
es  alsdann,  da  auch  dieser  mit  seinem  Inhalte  übereinstimmte 
und  die  Angelegenheit  dem  Herzoge  auch  in  einem  besonde- 
ren Schreiben  sehr  dringend  ans  Herz  legte/)  mit  drei  Sie- 
geln befestigt,  diesem  überbringen  lassen.  Allein  es  erfreute 
sie  keine  tröstende  Nachricht  mehr.  Schmerz  und  tiefer  Kum- 
mer beugten  sie  so  schwer  darnieder,  dass  sie  bald  darauf  in 
eine  zehrende  Krankheit  fiel,  die  ihre  letzten  kummervollen 
Tage  verkürzte.    Sie  starb  schon  am  9.  Juni  des  Jahres  1555. 

Ueber  Margarethe's  weitere  Schicksale  blieb  lange  Zeit 
Alles  dunkel.  Weder  der  Herzog  von  Preussen  noch  ihre 
Brüder  kümmerten  sich  weiter  um  sie.  Nach  Yerlauf  von 
mehr  als  zehn  Jahren  finden  wir  sie  noch  in  dem  erwähnten 
Dorfe  in  Samaiten,  wo  sie  mit  dem  Manne,  mit  dem  sie  frü- 
her umhergezogen  war,  in  ehelicher  Verbindung,  als  Mutter 
einer  Tochter,  in  einer  elenden  Hütte  wohnend,  ibr  Brod 
kümmerlich  mit  ihren  eigenen  Händen  verdienen  musste.  Sie 
war  seitdem  durch  schwere  Leiden  hindurch  gegangen.  Durch 
ihre  höchst  traurige  Lage  tief  niedergedrückt,  wendet  sie  sich 
von  dort  an  den  damaligen  Kammersecretär  und  nachmaligen 
Hath  des  Herzogs  von  Preussen  Matthäus  Horst,  den  sie  wahr- 
scheinlich bei  irgend  einer  Veranlassung  persönlich  kennen 
gelernt  hatte,  schildert  ihm  ihr  schweres  Schicksal  und  ihre 
qualvolle  Armuth,  die  sie  bis  zum  tiefsten  Kummer  nieder- 
beuge und  in  der  sie  völlig  von  allen  Menschen  verlassen  und 
verachtet  dastehe.  Sie  bittet  ihn  daher  aufs  flehentlichste, 
beim  Herzoge  Albrecht  bei  nächster  Gelegenheit  ein  gutes 
Wort  für  sie  einzulegen,  dass  dieser  als  ein  christlich  den- 
kender Fürst  sie  „eine  arme,  elende,  verlassene  und  tiefbe- 
trübte Frau"  nicht  ganz  verlassen  und  bei  ihren  Söhnen,  den 

Fürsten  von  Anhalt  auswirken  möge,  ihr  doch  jährlich,  so 

— »«^ —  '    ■  ■ 

dem  heiligen  Cbristtage  1555,  nach  unserer  Zeitrechnung  noch  im 

Jahre  1554. 

*)  Schreiben  des  Kurfürsten  Joachim,  dat.  Cöln  an  der  Spree 
Dienstag  am  heil.  Christtage  1555. 


352  Die  Fürstin  Margarethe  von  Anhalt, 

lange  sie  noch  lebe,  eine  Hülfss teuer  zu  ihrem  Unterhalte  zu- 
kommen zu  lassen.  „Es  zwingt  mich  die  grosse  Armuth, 
schreibt  sie,  sonst  wollte  ich  Euch  gerne  mit  dieser  Mühe 
verschonen,  denn  ich  darf  Euch  in  Wahrheit  schreiben,  dass 
meine  Armuth  so  gross  ist  dass  ich  nicht  ein  Becherlein  oder 
Löffel  auf  meinem  Tische  zum  Brauch  habe,  wie  der  Haupt- 
mann zu  Rastenburg  und  Balthasar  Gans  (Secretär  des  Her- 
zogs), die  einigemal  zu  Krassen  in  Samaiten  in  meinem  ar- 
men Häuslein  gewesen ,  meine  Armuth  wohl  gesehen  haben. 
Ich  zweifele  nicht,  mein  Herr  der  Herzog  wird  sich  mit  Gna- 
den über  mich  hochbetrübte,  trostlose  Person  thun  erbarmen, 
die  rechtschaffen  betrübt  ist."  Sie  bittet  demüthig,  der  Her- 
zog möge  sich  doch  auch  ihrer  armen  Tochter  annehmen,  da- 
mit diese  nach  ihrem,  der  Mutter  Tode  nicht  in  der  Irre  um- 
hergehen dürfe.  „Gott  hat,  fügt  sie  endlich  hinzu,  seine  vä- 
terliche Hand  auf  mich  gelegt,  damit  muss  ich  zufrieden  seyn. 
Gott  weiss  ich  habe  keinen  treuen  Freund  auf  Erden  mehr 
denn  Gott  allein  und  bitte  ich  durch  Gott,  ihr  wollet  mich 
nicht  verlassen  und  das  Beste  bei  mir  thun,  denn  mein  Herz 
ist  so  voll  Jammer,  Angst  und  Noth,  dass  ich  es  euch  nicht 
anzeigen  kann"*). 

Wahrscheinlich  geschah  es  auf  Horst's  Ratb,  dass  Mar- 
garethe es  bald  darauf  wagte ,  sich  an  den  Herzog  selbst  zu 
wenden  und  ihn  um  Hülfe  anzusprechen.  Sie  schildert  ihm 
ihren  Kummer  und  ihre  drückende  Lage  mit  folgenden  Wor- 
ten: „Ew.  fürstlichen  Gnade  ist  unverborgen  mein  grosses, 
schmerzliches  Elend,  das  ich  viele  Jahre  gehabt  und  auch  nocb 
habe,  so  dass  ich  arme,  elende  Person  Armuths  halber  gar 
kümmerlich  zu  Zeiten  nur  das  liebe  trockene  Brot  zu  essen 
und  Wasser  zu  trinken  gehabt  habe  und  mich  mit  Armuth 
und  anderer  Arbeit  behelfen  müssen,  wie  ein  anderes  armes 
Weib,  damit  ich  mich  habe  elendiglich  ernähren  mögen  und 
oft  und  viel  auf  dem  Felde  thun  arbeiten,  damit  ich  mich 
des  Hungers  erwehre.  Da  ist  nichts  gewesen,  wovon  ich's 
hätte  nehmen  können.   Ich  habe  keinen  Trost  in  der  ganzen 


«pMa 


*)  Dieses  Schreiben  Margarethe's  ist  ohne  Datum. 


geborne  Markgräfin  von  Brandenburg.  353 

Welt  als  meinen  treuen  Gott.  Weil  denn  mein  himmlischer 
Vater  seine  väterliche  Hand  auf  mich  gelegt  und  mir  das 
Kreuz  zuertheilt  hat,  muss  ich  in  dem  zufrieden  seyn  und 
denken,  dass  ich's  wohl  verdient  habe  aus  der  Ursache,  dass 
ich  mich  mehr  auf  meine  fürstliche  Pracht  und  Gewalt  ver- 
lassen habe  als  auf  Gott,  deshalb  ich  mit  dieser  Buthe  zu- 
frieden seyn  muss  und  denken,  dassmir's  zu  meiner  Seelen 
Seligkeit  zum  Besten  geschiebt,  habe  aber  mein  Vertrauen 
auf  meinen  lieben  Gott  gestellt.  Lieber,  gnädiger  Fürst  und 
Herr,  weil  Ew.  fürstliche  Gnaden  meinem  Beichthume  wohl 
nachdenken  können,  so  bitte  ich  arme,  betrübte  Person,  Ew. 
fürstliche  Gnaden  wollen  als  ein  christlicher  Fürst  Erbarmung 
an  mir  erzeigen.  Was  aber  das  Land  Samaiten  anlangt,  so 
ist  mir  zum  ersten  am  höchsten  beschwerlich,  dass  man  das 
Wort  Gottes  nicht  bat,  zum  andern  das  Sacrament  nach  Ein- 
setzung Christi  nicht  und  gar  keinen  Trost  weiter.  So  kenne 
ich  auch  die  Sprache  nicht  und  habe  nicht  einen  Menschen, 
an  dem  ich  mich  einiges  Bathes  erholen  möchte.  Man  achtet 
einen  Menschen  viel  geringer  als  eines  Hundes." 

Margarethe  bittet  sodann  den  Herzog  aufs  dringendste, 
sich  ihrer  anzunehmen  und  für  sie  das  Beste  zu  rathen,  da- 
mit sie  ihren  Feinden  nicht  in  die  Hände  falle;  sie  bittet  fer- 
ner um  einen  Unterhalt  in  des  Herzogs  Land  so  lange  sie 
lebe,  damit  sie  ihr  armes  Kind,  welches  jetzt  zwölf  Jahre  alt 
sei,  nothdürftig  ernähren  und  zu  Gottes  Ehre  und  Zucht  er- 
ziehen könne.    Da  sie  schon  alt  sei  und  sich  als  Weibsbild 

allein  nicht  erhalten  könne,  so  möge  ihr  der  Herzog  in  sei- 

•i 

nem  Lande  irgend  ein  Oertchen  anweisen ;  sie  wolle  sich  dann 
daselbst  schon  einrichten  und  weil  ihr  Ehemann  noch  jung 
und  stark  sei,  so  werde  er  es  an  Fleiss  nicht  fehlen  lassen, 
damit  er  sie  ernähre;  sie  würden  sich  da  ganz  heimlich  hal- 
ten. Sie  stelle  jedoch  Alles  dem  Bathe  des  Herzogs  anheim; 
er  möge  für  sie  armes,  elendes  und  verlassenes  Weib  thun, 
was  er  wolle;  sie  wolle  ihm  in  Allem  gehorchen.  Den  Schluss 
des  Briefes  füllten  die  inständigsten  und  flehentlichsten  Bitten 
an  den  Herzog,  er  möge  sie  nicht  verlassen,  sich  ihrer  an- 
nehmen und  für  sie  sorgen.   „Lieber,  gnädiger  Fürst,  waren 


354  Die  Fürstin  Margarethe  von  Anhalt, 

ihre  letzten  Worte,  wenn  Ew.  fürstliche  Gnaden  mich  ver- 
lassen, so  weiss  ich  armes,  betrübtes  Mensch  nirgend  bin,  bin 
von  meinen  Kindern  und  allen  verlassen,  habe  mich  ihres  Le- 
bens so  viel  als  ihres  Todes  zu  trösten"*). 

Margarethe  begab  sich  nach  einiger  Zeit  selbst  nach  Kö- 
nigsberg, wo  sie  mit  Horst  viel  verhandelt  zu  haben  scheint 
Wahrscheinlich  hatte  sie  dazu  der  Umstand  veranlasst,  dass 
sie  völlig  abgebrannt  war  und  alle  ihre  wenige  Habe  dabei 
verloren  hatte.  Durch  Horst's  Vermittlung  stattete  der  Her- 
zog sie  wieder  mit  dem  nöthigen  Hausgeräthe  und  mit  eini- 
ger Kleidung  aus.  Sie  hatte  damals  auch  dem  beim  Herzoge 
sehr  hoch  angeschriebenen  fürstlichen  Rath  Magister  Johann 
Funk,  der,  wie  es  scheint,  mit  ihrem  Manne  in  Verwandt- 
schaft stand  (sie  nannten  sich  gegenseitig  Schwager)  ihre  trau- 
rigen Verhältnisse  geschildert  und  ihn  um  Fürsprache  beim 
Herzoge  gebeten.  Sic  wandte  sich  dann  an  diesen  nochmals 
selbst  Sie  schrieb  ihm  unter  andern:  „Ich  habe  mit  eigener 
Hand  an  den  Magister  Funk  geschrieben,  der  Ew.  fürstliche 
Gnaden  alle  meine  Umstände  berichten  wird;  es  ist  durch 
Gott  meine  ganz  demütbige,  unterthänige  Bitte,  Ew.  fürstli- 
che Gnaden  wollen  sich  als  ein  christlicher  Fürst  über  uns 
arme,  elende  Personen  erbarmen  und  unsern  grossen  Jammer, 
Armuth,  Elend,  Verlassenheit  und  Trübsal  in  Gnaden  beden- 
ken und  uns,  weil  wir  nirgends  Rath  noch  Trost  wissen,  in 
dieser  unserer  äussersten  Noth  mit  gutem  Rath  und  Hülfe 
nicht  verlassen.  Die  grosse  Angst  ist  bei  mir  so  heilig  ge- 
wesen, dass  ich  nicht  gewusst  habe,  wo  hinaus.  Weil  ich 
denn  aber  von  fremden  Leuten  Ew.  fürstlicher  Gnaden  Tu- 
jgend,  Gütigkeit  und  Barmherzigkeit,  die  Ew.  fürstliche  Gna- 
den ihnen  erzeigt,  habe  rühmen  hören,  so  bin  ich  arme,  be- 
trübte Frau  auch  Zweifels  frei,  Ew.  fürstliche  Gnaden  wer- 
den mich  meinen  Feinden  nicht  in  den  Tod  übergeben,  son- 
dern ja  bedenken,  dass  ich  armes  Weibsbild  ja  Ew.  fürstliche 
Gnaden  Fleisch  und  Blut  bin,  auch  dass  Ew.  fürstliche  Gna- 
den nachtlich  meines  Geblüts  an  ihrer  Seite  liegen  haben  und 


*)  Dieses  Schreiben  Margarethe's  ist  gleichfalls  ohne  Data». 


gehörnt  Markgräfin  von  Brandenburg.  355 

mich  und  meinen  armen  Mann  sammt  meiner  kleinen  Doro- 
thea, die  uns  der  alimächtige  Gott  ehelich  mit  einander  ge- 
geben hat,  in  diesen  unsern  betrübten  Tagen  in  gnädigem 
Befehle  halten  und  in  dieser  unserer  grossen  Leibesgefahr 
unser  aller  Vater  und  Vormünder  seyn.  Gott  weiss,  ich  bin 
übel  hierzu  gekommen  und  weiss  es  niemandem  zu  danken, 
denn  meinen  lieben  getreuen  Brüdern,  die  ihre  Treue  gar  an 
mir  vergessen  haben;  sie  haben  wider  mich  als  ihr  eigenes* 
Fleisch  und  Blut  helfen  Rath  und  That  geben,  mir  nicht  ein 
Sandkorn  gross  geholfen,  noch  gerettet  noch  geratben,  wie 
man's  ihnen  wohl  nachreden  wird,  wenn's  an  Tag  kommen 
sollte,  so  dass  billig  alle  christliche  Herzen  ein  Mitleid  und 
Erbarmen  mit  mir  armen  Frau  haben  werden,  die  wissen 
möchten,  wie  mit  mir  ist  gebandelt  worden." 

Margaretbe's  Schicksal  schien  bald  darauf  wirklich  eine 
etwas  günstigere  Wendung  zu  nehmen.  Matthäus  Horst  hatte 
es  beim  Herzoge  dahin  gebracht,  dass  mit  herzoglichem  Gelde 
ein  kleines  Landgut  Scbelwa  in  Litthauen  für  Margarethe  und 
ihren  Man»  angekauft  werden  sollte.  Auch  der  fürstliche 
Rath  Johann  Funk  suchte  die  Sache  zu  fördern;  er  schlug 
vor,  dieselbe  beim  Herzoge  in  der  Art  einzuleiten,  dass  Mar- 
garethe und  ihr  Gemahl  den  Niessbrauch  des  Gutes  auf  Le- 
benszeit haben  und  nach  ihrem  Tode  ihre  Tochter  Erbin  des- 
selben sein  solle.  Da  jedoch,  meinte  Funk,  zu  besorgen  sei, 
dass  die  Litthauer  es  ungern  sehen  würden,  wenn  der  Her- 
zog  ein  Gut  innerhalb  ihrer  Grenzen  erwerbe,  so  werde  es 
nöthig  sein,  dass  ein  anderer  das  Gut  auf  seinen  Namen  kaufe 
oder  dass  Margarethe  und  ihr  Mann  in  ihrem  Namen  als  Käu- 
fer aufträten ;  dann  müsse  aber  letzterer  eine  Obligation  aus- 
stellen, worin  der  Tochter  die  Erbschaft  fest  zugesichert  und 
zugleich  auch  bestimmt  werde,  dass  wenn  sie  ohne  Nachkom- 
men sterbe,  der  Herzog  alsdann  als  Erbe  eintrete*).  Mit  die- 
sen Verhandlungen  war  man  gegen  Pfingsten  des  Jahres 
1566  beschäftigt 


*)  Schreiben  des  Johann  Funk  an  Matthäus  Horst,  dat.  tertia 
peoteQostes  1,566 


356  Die  Fürstin  Margarethe  von  Anhalt, 

Es  bat  sich  der  Entwurf  oder  die  Abschrift  einer  solchen 
Obligation  des  Gemahls  Margarelhe's  wirklich  vorgefunden, 
wiewohl  sie,  wie  sie  vorliegt,  noch  nicht  als  vollzogen  be- 
trachtet werden  kann.  Der  Aussteller  erklärt  darin:  Er  habe 
schon  oft  an  den  Herzog  von  Preussen  seine  Bitte  gerichtet 
und  ihm  seine  und  seiner  Gemahlin  grosse  Armuth  vorge- 
stellt; er  sei  mit  letzterer,  „der  hochgeborenen  Fürstin  und 
Frau  Margarethe,  geborenen  MarkgräGn  zu  Brandenburg  und 
Fürstin  zu  Anhalt  in  göttlicher  und  christlicher  Ehe  verbun- 
den" und  habe  mit  ihr  nun  schon  vierzehn  Jahre  in  grosser 
und  schwerer  Armuth  gelebt.  Wohl  habe  er  mehrmals  des 
Herzogs  ungnadiges  Gemüth  darüber,  dass  er  seine  Gemah- 
lin, eine  so  hohe  Person,  nicht  so,  wie  es  sich  gebühre,  halte, 
aus  den  Mittheilungen  der  herzoglichen  Kammerrathe  erfah- 
ren; er  habe  sich  aber  für  unwürdig  erachtet,  sich  deshalb 
als  ein  Schuldiger  selbst  zu  verantworten,  bitte  jedoch,  der 
Herzog  möge  sich  darüber  bei  seiner  Gemahlin  Margarethe 
selbst  und  anderen  seinen  Unterthanen ,  auch  bei  seinen  ei- 
genen herzoglichen  Käthen,  die  er  bei  sich  in  seiner  Behau- 
sung beherbergt  und  seine  Armuth  selbst  gesehen  hätten, 
weiter  erkundigen;  werde  er  dann  wirklich  schuldig  befun- 
den, so  möge  der  Herzog  nach  seinem  Gefallen  Strafe  ver- 
hängen. „Ich  gelobe  aber,  beisst  es  dann,  bei  .meinem  höch- 
sten Eide,  den  ich  Gott  und  meiner  Ehegemahlin  geschwo- 
ren, auch  zu  leisten  schuldig  bin,  im  Falle,  wenn  gleich  et- 
was geschehen  wäre,  welches  mir  doch  unbewusst,  dass  ich 
dasselbige  alles,  was  seiner  fürstlichen  Durchlaucht  und  der- 
selben Zugethanen  und  Verwandten  zuwider  wäre,  da  mir 
es  von  seiner  fürstlichen  Durchlaucht  oder  derselben  verwand- 
ten Käthen  angezeigt  wird,  in  aller  Demuth  willig  und  gerne 
unterlassen  und  abstehen  will,  auch  ihre  Gnaden  als  meine 
Ehegemahlin  nach  meinem  armen  Vermögen  fernerhin  also 
unterhalten,  als  ich  es  gegen  Gott  und  seine  fürstliche  Durch- 
laucht verantworten  will,  und  wenn  seine  fürstliche  Durch- 
laucht auf  den  Antrag,  welchen  ihre  Gnaden  durch  den  Herrn 
Horst  von  wegen  des  Landguts  Schelwa  in  Litthauen  seiner 
fürstlichen  Durchlaucht  vorgeschlagen  hat,  gnädigst  willigen 


geborne  Markgräfin  von  Brandenburg.  357 

würden,  meine  Ehegemahlin  zu  besserer  Unterhaltung  damit 
zu  begnadigen,  so  sollte  dasselbe  nicht  zu  meiner  Person  Le- 
ben oder  Sterben,  sondern  ihrer  Gnaden  und  derselben  Toch- 
ter, die  uns  Gott  zu  beiden  Theilen  in  christlicher  Eft  ge- 
geben, so  lange  sie  Gott  in  diesem  Leben  erhält,  zu  ihrem 
Aufenthalte  nach  seiner  fürstlichen  Durchlaucht  von  mir  ge- 
macht, gebessert  und  verwaltet  werden."  Endlich  fügt  er  noch 
hinzu:  da  er  seiner  Gemahlin  durch  einen  Eid  angelobt  habe, 
nach  ihrem  Tode  sich  nicht  wieder  zu  verehelichen,  so  könne 
der  Herzog  nach  Absterben  der  Mutter  und  Tochter  sich  als 
Erbherr  des  Gutes  wieder  bemächtigen,  es  verkaufen  oder 
verschenken.  Auf  dies  alles  wolle  er  den  Herzog  mit  genü- 
gender Versicherung  und  Bürgschaft  glaubwürdig  verwahren.*) 

So  weit  finden  wir  die  Verhandlungen  über  Margarethe's 
Versorgung  durch  einen  ländlichen  Besitz  bis  in  den  Som- 
mer des  Jahres  1566  fortgeführt.  Seitdem  aber  entgehen  uns 
alle  weitere  Nachrichten  und  es  bleibt  sonach  ungewiss,  ob 
die  Sache  unter  den  unruhigen  Bewegungen,  die  in  dieser 
Zeit  in  Preussen  ausbrachen,  zu  einem  erwünschten  Schlüsse 
gediehen  sein  mag.  Margarethe  selbst  scheint  an  einem  gün- 
stigen Erfolge  gezweifelt  zu  haben. 

Seit  dem  Februar  nämlich  stand  sie  im  Briefwechsel  mit 
ihrer  ältesten  Tochter  Georgia,  die  bereits  an  einen  polni- 
schen Grafen  Stanislaus  zu  Labesens  auf  Schlochau  vermählt 
war.  Margarethe  hatte  sich,  obgleich  sie  früher  über  ihre 
Undankbarkeit  geklagt,  jetzt  in  ihrer  Noth  auch  an  sie  um 
Hülfe  gewandt.  Die  Tochter,  gerührt  durch  die  Bedräng- 
nisse der  Mutter,  lud  diese  in  einem  Schreiben  vom  7.  Fe- 
bruar 1566  zu  sich  nach  Schlochau  ein,  mit  der  Bitte,  ihr 
bei  ihrer  bevorstehenden  Entbindung  mit  Bath  und  That  bei- 
zustehen. Sie  solle,  schreibt  sie  ihr,  gewiss  eine  treue  und 
gehorsame  Tochter  an  ihr  finden;  sie  wolle  Alles  mit  ihr 
theilen,  was  in  ihrem  Vermögen  stehe.  Sie  bittet  die  Mutter 
zugleich,  auch  ihre  Tochter  Dorothea  mitzubringen ;  sie  wolle 
sich  dieser  selbst  wie  eine  Mutter  annehmen  und  dafür  sor- 


*)  Die  Abschrift  der  Obligation  ist  ohne  Datum. 

Zeitschrift  f.  Geschieht«*.  IT.  1845.  24 


358  Die  Fürstin  Margarethe  von  Anhalt, 

gen,  dass  sie  auch  in  feinen  weiblichen  Arbeiten  geübt  werde, 
„denn  es  stehe  einer  Jungfer  immer  wohl  an,  wenn  sie  wohl  nä- 
hen und  subtile  Arbeiten  machen  könne."  Georgia  aber  wollte, 
wie#vir  aus  dem  Briefe  ersehen,  ihren  Gemahl  nicht  gern 
wissen  lassen,  dass  Margarethe  ihre  Mutter  sei.  Sie  ersucht 
sie  daher,  wenn  sie  zu  ihr  käme,  „sich  nicht  namenkundig 
zu  geben";  sie  solle  sich  nur  für  eine  Edelfrau  ausgeben; 
dies  werde  gar  nicht  auffallen,  denn  solcher  Frauen  kämen 
oft  viele  zu  ihr.  Sie  giebt  ihr  auch  den  Rath,  sich  zuerst  zur 
Herzogin  von  Preussen  zu  begeben,  die  sie  gewiss  gern  mit 
Wagen  und  Pferden  weiter  befördern  werde.  Gefahr  habe 
sie  bei  ihr  weiter  nicht  zu  fürchten;  sie  könne  ja  wohl  auch 
ein  Schreiben  von  der  Herzogin  von  Preussen  mitbringen, 
worin  es  heisse,  dass  diese  Fürstin  aus  Blutsverwandtschaft 
ihr  wegen  ihrer  Schwangerschaft  eine  Edelfrau  zum  Beistand 
zusende;  diesen  Brief  der  Herzogin  werde  sie  alsdann  ihrem 
Gemahl  vorzeigen. 

Margarethe  nahm  diese  Einladung  an  und  wandte  sich 
sofort  an  den  Herzog  Albrecbt  und  dessen  Gemahlin  mit  der 
Bitte,  ihr  zur  Reise  nach  Schlochau  mit  Wagen  und  Pferden 
behülflich  zu  sein;  die  Herzogin  sagte  ihr  dies  auch  zu,  „ob- 
gleich sie,  wie  sie  hinzufugte,  in  dieser  Zeit  gerade  mit  vie- 
len Ausgaben  sehr  beladen  sey." 

Die  spätem  Lebensschicksale  Margarethe's  liegen  noch 
sehr  im  Dunkeln.  Der  Herzog  Albrecht  soll  ihr  in  seinem 
Testament  ein  Legat  von  3000  Gulden  vermacht  haben,  die- 
ses aber  nach  seinem  Tode  nicht  ausgezahlt  worden  sein.*) 
„Es  ist,  sagt  Möhsen,**)  noch  ein  rührendes  Schreiben  vor- 
handen, welches  Margarethe  im  sechsundsechszigsten  Jahre 
ihres  Alters  zu  Königsberg  Dienstags  nach  Andreas  1577  an 
Markgraf  Georg  Friedrich,  Administrator  in  Preussen,  abge- 
ben liess,  worin  sie  ihr  Elend  vorstellt  und  bittet,  sich  ihrer 
anzunehmen,  und  dass  sie  gern  bei  ihrer  Tochter,  der  Gräfin 
jpiisabetb,  Graf  Wolfgang's  zu  Rarby  Gemahlin  sich  begeben 

*)  So  Möhsen  a.  a.  0.  S.  529.  In  dem  noch  vorhandenen  Ori- 
ginal des  Testaments  ist  dieses  Legats  nicht  erwähnt. 
*•)  Am  a.  0.  S.  529. 


geborne  Markgräfin  vqn  Brandenburg.  359 

wollte,  wenn  sie  nur  von  ihrem  Sohne,  dem  regierenden  Für- 
sten von  Anhalt,  den  höchst  nöthigsten  Unterhalt  bekommen 
könnte.  Es  war  dieses  der  fromme  und  gottselige  Fürst  Joa- 
chim Ernst,  der  wegen  seiner  Frömmigkeit  und  Gottesfurcht 
von  seinen  Theologen  mit  vielem  Weibrauch  des  Lobes  be- 
räuchert worden,  weil  er  ihnen  in  allen  Stücken  sehr  erge- 
ben war,  ihren  Kathscblägen  blindlings  folgte  und  sie  mit 
reichlichem  Auskommen  versah,  zu  einer  Zeit,  da  er  seine 
leibliche  Mutter  in  Elend  und  Kummer  umkommen  Hess,  ohn- 
eracbtet  das  Glück  ihm  das  ganze  Fürstenthum  Anhalt  durch 
Erbschaft  beschert  hatte." 

Bis  zum  Jahre  1577  also  hatten ;  sich  die  Lebensumstände 
Margarethe's  noch  nicht  günstiger  gestaltet.  Es  ist  der  Nach- 
forschung, so  weit  sie  bis  jetzt  möglich  war,  noch  nicht  ge- 
langen, auszurnitteln,  wo  die  unglückliche  Fürstin  ihre  letz- 
ten Tage  und  unter  welchen  Verhältnissen  sie  dieselben  ver- 
lebt hat,  noch  wann  und  wo  sie  gestorben  sein  mag. 
Königsberg  i.  Pr.  Johannes  Voigt. 


Hordamerica  und  Europa. 

Eine  Bemerkung. 

üaumers  höchst  lehrreiches  und  gewichtiges  Werk  über 
Nordamerica  wird  ohne  Zweifel  Anlass  zu  neuen  Betrach- 
tungen und  Untersuchungen  über  das  Verhältniss  unseres 
Vaterlandes  und  ganzen  Erdtheils  zu  jenem  überaus  merk- 
würdigen Freistaate  geben.  Es  kann  nicht  anders,  als  die 
Frage  anregen,  ob  wir  etwas,  und  was  wir  gebrauchen 
könnten  von  den  Zuständen  und  Formen  desselben,  was 
uns  besonders  aneignen  von  der  nordamericanischen,  wenn 
ich  so  sagen  darf,  politischen  und  socialen  Methode,  von 
der  dortigen  Art,  dem  Notwendigen  klar,  ruhig,  fest 
und  sicher  ins  Gesicht  zu  sehen  und  ihm  entgegen- 
zutreten, und  das  Stockende  flüssig  zu  machen.  Raumer 
selbst   bat,    ohne   es    an   Seitenblicken    fehlen    zu  lassen, 

24* 


360  Nordamerica  und  Europa. 

eine  eigentliche  Parallele  zwischen  d$m  gesunden  America 
und  dem  kränkelnden  Europa  nicht  sowohl  vermieden,  als 
ihr  entsagt.  Er  hat  ohne  Zweifel  geglaubt,  der  Klarheit  und 
Schärfe  der  in  der  Schlussbetrachtung  hingestellten  Ergeb- 
nisse dadurch  mehr  zu  schaden,  als  förderlich  zu  sein. 

Dass  Europa  an  vielen  Hebeln  leidet,  welche  America 
zu  seinem  Glücke  nicht  kennt,  gegen  diese  Wahrheit  wird 
wohl  nicht  leicht  Jemand  die  Augen  verschliessen.  Aber  eben 
so  gewiss  ist,  dass  Europa,  wenn  Gott  ihm  gönnt,  die  Krank- 
heitsstoffe, die  es  bedrängen,  zu  überwinden  und  auszustossen, 
wieder  da  stehen  kann  mit  einer  Durchbildung,  einem  har- 
monischen Ineinandergreifen  aller  dem  Menschengeschlechte 
verliehenen  Kräfte  und  Gaben,  zu  welchen  America  nicht 
gelangen  kann,  wenn  nicht  zu  den  gegenwärtig  vorhandenen 
Erscheinungen  und  Elementen  neue  treten ,  deren  Ursprung 
ausserhalb  des  Kreises  der  menschlichen  Voraussicht  liegt 
Neue  Elemente  nämlich,  welche  die  Grundlage  bilden  könn- 
ten zu  einer  eigenthümlichen,  sich  aus  sich  selbst  entwik- 
kelnden,  gestaltenden,  verwandelnden  Lebensthätigkeit  auf 
dem  Gesammtgebiete  des  höhern  Geisteslebens.  Denn  ohne 
bezweifeln  zu  wollen,  dass  die  Angloamericaner  für  europäische 
Gultur  ein  mannigfaltiges,  bedeutendes,  zu  eigener  reger  Thä- 
tigkeit  spornendes  Interesse  haben,  dass  sie  den  ganzen  Werth 
ihrer  Fliege  erkennen  und  sie  mit  dem  löblichsten  Eifer 
betreiben,  ohne  auch  über  den  Werth  ihrer  eigenen  wissen- 
schaftlichen und  künstlerischen  Leistungen  im  Einzelnen  nur 
irgend  zu  streiten:  bleibt  doch  ausgemacht,  dass  die  letzte- 
ren Blüthen  und  Früchte  sind,  auf  Pfropfreisern  gewachsen, 
die,  von  ihren  natürlichen  Wurzeln  getrennt,  aus  diesen  un- 
mittelbar ihre  Lebensnahrung  nicht  saugen  können.  Im 
Alterthume  hat  das  Mutterland  den  Golonien  sein  ganzes 
Leben  mitgegeben,  in  den  griechischen  wurden  mit  den  übri- 
gen Göttern,  welche  die  Auswanderer  begleiteten,  die  Mu- 
sen heimisch,  wie  sie  es  in  Hellas  selbst  waren.  Vom  mo- 
dernen Europa  dagegen,  und  namentlich  von  England,  sind 
die  Grundlagen  zu  Entfaltungen  dieser  Art  nach  America 
nicht  mit  herüber  gebracht  worden.     Und  dieses  unterblieb 


Nordamerica  und  Europa.  361 

nicht  etwa  zufällig,  sondern  vermöge  der  Richtung  und  Ent- 
wickelungsstufe  der  Zeit.  Von  dieser  Erscheinung  muss 
der  Historiker  ausgehen,  wenn  er  den  Unterschied  zwischen 
Europa  und  Nordamerica  nach  seiner  geschichtlichen  Not- 
wendigkeit begreifen  und  klar  machen  will.  Hier  allein 
lässt  sich  auch  der  Streit  über  die  Befähigung  der  Nord- 
americaner  für  eine  eigentümlich  schöpferische  Thätigkeit 
auf  den  Gebieten  der  Wissenschaft  und  Kunst  schlichten. 
So  lange  man  nur  behauptet  oder  bestreitet,  dass  die  vor- 
herrschend materielle  Richtung  ihren  Sinn  dafür  abstumpft, 
bleibt  man  mit  der  Frage  auf  einem  niedern,  zu  ihrer  Lösung 
unzureichenden  Standpunkt. 

Das  siebzehnte  Jahrhundert,  in  welchem  die  Hauptbasis 
zu  den  englischen  Golonien  in  Nordamerica  gelegt  wurde, 
ist  nicht  nur  das  Jahrhundert  Ludwigs  XIV. ,  sondern  auch 
das  Gromwells.  Ist  jener  der  Repräsentant  des  monarchi- 
schen Absolutismus,  der,  aufgebläht  und  verblendet  durch 
seine  damals  nicht  mehr  bestrittenen  Erfolge,  ein  Gebäude 
für  die  Ewigkeit  aufgeführt  zu  haben  wähnt;  so  concentrirt 
sich  in  diesem,  in  dem  siegreich  zerstörenden,  noch  nicht 
wieder  aufzubauen  versuchenden  Theile  seiner  Laufbahn,  die 
ganze  Gewalt  der  scharfen,  zersetzenden  Reflexion,  welche 
zur  Grundlage  des  Staatslebens  und  zum  Richter  über  seine 
Einrichtungen  den  berechnenden ,  in  der  blos  logischen 
Sphäre  waltenden  Verstand  macht.  Aber  den  Gewalten, 
die  es  untergraben  und  vernichten  will,  gegenüber,  be- 
darf dieses  Streben  einer  Begeisterung,  welche  aus  jener 
kalt  zerlegenden,  nüchternen  Geistesthätigkeit  nicht  stammen 
kann.  Diese  Begeisterung  erwächst  ihm  auf  einem  anderen 
Gebiete.  Sie  erwächst  ihm  aus  den  Kräften,  welche  die  Re- 
formation entwickelt  und  den  Völkern  eingeflösst  hat.  Die- 
sen gewaltigen  Schwung  weiss  es  sich  dienstbar  zu  machen, 
mit  seiner  Hülfe  stürzt  es  den  Thron  und  bringt  in  der 
Kirche  eine  revolutionäre  Form  zur  Herrschaft. 

Es  ist  dies  die  eine  der  Richtungen,  welche  die  Refor- 
mation genommen  hatte;  denn  sie  war  von  Anfang  an  nicht 
blos  in  der  Kirche,  sondern  in  allen  grossen  Lebensgebilden 


362  Nordamerica  und  Europa. 

in  einer  doppelten  Gestalt  aufgetreten,  und  merkwürdiger 
Weise  bauen  sich  diese  beiden  Formen  auf  den  verschie- 
denen Geistesgebieten  nirgends  bestimmter  entwickelt,  als 
innerhalb  des  einen  grossbritannischen  Landes ;  nirgends 
waren  sie  daher  auch  in  einen  nähern  und  schärfern  Con- 
flict  getreten.  Die  eine  derselben  begnügte  sich  aus  der 
alte»  Kirche  das  schlechthin  unleidlich  Gewordene,  das 
Geistesknechtende ,  das  die  christlichen  Lebenselemente 
Hemmende  und  Verdunkelnde  zu  entfernen.  Am  Staatsge- 
bäude rüttelte  sie  nicht,  den  ganzen  geheimnissreichen  Ur- 
grund des  menschlichen  Daseins,  in  welchem  die  Kunst  im 
weitesten  Sinne  wurzelt,  tastete  sie  nicht  an.  Dies  ist  das 
England  der  Elisabeth.  Es  ruht  auf  einer  Vergangenheit, 
die  in  ununterbrochenem  Zusammenbange  steht  mit  der 
Welt  der  Sage,  der  Lieder,  der  Poesie  überhaupt.  Diese 
hilft  der  nationalen  Eigentümlichkeit  ihr  Gepräge  geben, 
aber  sie  mildert  zugleich  ihre  Schärfe,  und  verleiht  ihr  einen 
heitern  Glanz.  Auf  einem  solchen  Boden  des  ächtesten 
Volksgefühls,  das  noch  ganz  erfüllt  ist  mit  Erinnerungen  an 
eine  ahnungsreiche  poetische  Jugendzeit,  steht  Shakespeare; 
indem  er  diese  Elemente  durch  die  Frische  und  den  kühnen 
Gedankenschwung,  zu  welchem  der  freie  Geist  der  Reforma- 
tion führte,  neu  belebte,  erschuf  er  jene  Werke,  welche  als 
eine  einzige  Durchdringung  des  Geahneten  und  des  Erkann- 
ten die  höchste  Bewunderung  aller  Zeiten  bleiben  werden. 
Bis  zu  ungleich  schärfern  Gonsequenzen  und  Spitzen 
verfolgte  die  andere  Richtung  das  Reformationsprincip.  Das 
SchHftwort  liess  sie  als  unüberschreitbare,  den  Untersuchun- 
gen des  Verstandes  gesetzte  Grenze  stehen,  und  scheute  die 
grösste  Härte  bei  der  buchstäblichen  Auslegung  desselben 
nicht;  was  aber  diesseits  dieser  Grenze  lag,  zog  sie  vor  den 
alleinigen  Richterstuhl  des  reflectirenden  Verstandes,  mit 
dessen  Prihcip  sie  alle  ihre  Ordnungen  und  Einrichtungen 
erfüllte.  Dem  Köhigthurii  dienten  das  Ansehn  der  Jahrtau- 
sende, seine  bis  in  die  unerforschlicbe  Urzeit  zurückgehende 
Wurzeln  nicht  mehi*  zur  Stütze;  es  fiel  um  so  mehr,  weil 
die  socialen  Einrichtungen  der  Küche  auf  einen  ganz  demo- 


Nordamerica  und  Europa.  363 

kra tischen  Boden  gestellt  wurden.  Die  Kunst,  die  Poesie, 
die  sich  aus  sich  selbst  und  für  sich  selbst  frei  entfalten 
muss,  wichen  aus  einer  Welt,  in  der  kein  Raum  mehr  für 
sie  vorhanden  war,  welche  die  Wurzeln,  aus  der  sie  ihre 
Nahrung  saugen,  mit  grosser  Energie  und  Gonsequenz  ver- 
nichtet hatte. 

Diese  Grundsätze  und  Ueberzeugungen ,  diese  Geistes- 
und Gefiihlsrichtung  waren  bei  dem  bedeutendsten  Theile 
der  englischen  Auswanderer  nach  Nordamerica  im  siebzehn- 
ten Jahrhundert  die  herrschenden.  Sie  gingen  über  das 
Meer,  um  in  der  neuen  Heimath  sich  die  politische  und  re- 
ligiöse Freiheit,  die  ihnen  das  Mutterland  nicht  gewährte, 
zu  gründen,  und  die  Art  der  Freiheit,  die  sie  suchten,  war 
eben  jene,  dem  consequenten,  scharfen,  herben,  trocknen 
Verstandesprincip  huldigende.  Dieses  wurde  das  die  socia- 
len Einrichtungen  constituirende;  indem  es  sich  aber  auf 
das  engste  anschloss  an  die  religiösen  Ueberzeugungen  der 
Presbyterianer,  stand  auch  den  Forderungen  des  zerlegenden 
und  berechnenden  Verstandes  das  Wort  Gottes  in  der  Bibel 
gegenüber  als  ein  Positives,  an  dessen  Anwendung,  Erklä- 
rung ünid  Deutung  jener  seine  Kräfte  üben  mag,  welches  er 
aber  nie  wegzuläugnen  und  wegzuspotten  vermag.  Die  bis 
auf  den  heutigen  Tag  in  America  mächtige,  tiefe  und  starke 
Religiosität  zeigt,  wie  falsch  der  Glaube  an  ein  Zusammen- 
fallen politischer  und  religiöser  Unterwürfigkeit  ist;  dass 
vielmehr  der  Mensch,  je  freier  und  mündiger  er  sich  im 
Staate  fühlt,  desto  entschiedener  geführt  wird  zum  Bewusst- 
seiti  seiner  Abhängigkeit  vom  höchsten  Wesen.  Allerdings 
haben  die  Geistesrichtung  und  Lebenszwecke,  welche  das 
achtzehnte  Jahrhundert  zur  Vorherrschaft  brachte,  auf  die 
americanische  Entwickelung  einen  grossen  Einfluss  geübt, 
es  wäre  aber  kurzsichtig  und  oberflächlich,  sie  für  ihre  tie- 
fere Grundlage .  zu  halten.  Die  eigentlich  americanischen 
rationalistischesten  Secten  haben  noch  immer  einen  suprana- 
turalistischeren Kern  als  der  gemässigte  deutsche  Rationa- 
lismus;*) und  wenn  die  Demokratie  lange  vor  der  Lostren- 

')  M.  s,  die  Darstellung  des  Glaubens  der  Universalisten,  die 


364  Nordatnerica  und  Europa. 

nung  von  England  ihrem  Wesen  und  ihrem  das  Leben  ge- 
staltenden Princip  nach  vorhanden  war,  so  war  sie  es  nicht 
nach  Begriffen,  welche  in  der  Lehre  vom  L'rvertrage  wur- 
zeln, sondern  weil  sie  betrachtet  wurde  als  ein  durch  die 
Natur  gegebener  Zustand,  der  gegen  die  göttliche  Ordnung 
eben  so  wenig  verstösst,  wie  Monarchie  oder  Aristokratie. 

Mit  allem  diesem  soll  auf  keine  Weise  gesagt  sein,  dass 
eigentlich  puritanische  Principien  und  Ansichten  auf  allen 
Gebieten  die  Oberhand  behalten  haben.  Vielmehr  haben  die 
den  anderen  kirchlichen  Bekenntnissen,  namentlich  dem  ang- 
licanischen  zu  Grunde  liegenden  Richtungen  eine  grosse 
Rolle  gespielt.  Ja  sie  sind  es  gewesen,  die,  durch  die  Ent- 
wicklung, die  sie  in  America  erhielten,  eigenthümlich  mo 
dificirt  und  gestaltet,  der  puritanischen  Schärfe  und  Einsei- 
tigkeit die  Spitze  abgebrochen  haben;  ja  im  Staatsleben  ist 
Neuengland  zurückgedrängt  worden  durch  den  Einfluss  und 
das  Gewicht  des  Südens;  von  diesem  sind  die  Staatsmänner 
ausgegangen,  welche  America  in  die  Bahnen  gelenkt  haben, 
die  es  jetzt  verfolgt.  Was  aber  die  grosse  Erbschaft  be- 
trifft, die  Europa  aus  der  Periode  des  Instincts  und  der 
Gontemplation ,  wo  die  Kunst  geboren  wird,  herübergerettet 
hat  in  die  der  Reflexion ,  so  war  sie  auch  auf  diese  Coloni- 
sten  nicht  übergegangen,  jene  verbindenden  Fäden  waren 
auch  für  sie  gelös't,  der  Sinn  für  das  zwischen  der  Offen- 
barung und  der  Verstandesreflexion  in  der  Mitte  liegende 
Element  auch  für  sie  verdunkelt.  Darum  blieb  dem  ganzen 
Nordamerika  das  Kunstgebiet,  insofern  es  von  Wurzeln  aus- 
geht, die  sich  bis  in  das  innere  Volksbewusstsein  hinein 
erstrecken,  ein  eigentlich  fremdes  Element,  welches  es  sich 
wohl  von  aussen  aneignen,  in  das  es  sich  aber  nicht  eigent- 
lich hineinleben  konnte. 

Dagegen   hat  America  aber    auch  Auflehnungen   gegen 

sieb  von  der  orthodoxen  Dogmatik  am  weitesten  entfernen,  in 
Rupp,  An  original  history  of  the  religious  denominations  in  tbe 
united  s  tat  es,  Philad.  1844.  p.  719  sqq.  Dort  ist  z.  B.  von  der 
Rettung  der  Menschen  durch  Christus  von  dem  Tode,  der  durch 
Adams  Schuld  in  die  Welt  gekommen  ist,  die  Rede. 


Nordamerica  und  Europa.  365 

das,  was  es  als  natürliche  und  göttliche  Ordnung  festhält, 
von  der  Art,  wie  Europa  sie  taglich  erleben  muss,  nicht 
zu  erfahren.  Auch  das  gehört  zum  Glücke  jenes  Staates, 
dass  dort  kein  Louis  Blanc,  kein  Ledru-Rollin  und  wie  sie 
sonst  noch  heissen  mögen,  unter  allerlei  Schminken  und 
Bemäntelungen  die  Heiligkeit  des  Eigenthums,  als  der  uner- 
lasslich  nothwendigen  Grundlage  alles  Menschenthums  und 
aller  Bildung  angreift  und  zu  vernichten  unternimmt.  Und 
wenn  ein  europäischer  Zoilo-Thersites  wagen  sollte,  das 
Lied,  welches  er  in  seiner  Heimath  täglich  ertönen  lässt: 

Das  Tiefe  hoch,  das  Hohe  tief, 
Das  Schiefe  grad,  das  Grade  schief; 
Das  ganz  allein  macht  mich  gesund, 
So  will  ich's  auf  dem  Erdenrund. 

dem  nordamericanischen  Volke  vorzusingen,  würde  es  ihm 
schnell  die  gebührende  Gerechtigkeit  widerfahren  lassen. 

J.  W.  Loebell. 


Heinrich  Pfeifer  und  Thomas  Mttnzer  In 

Mtthlhausen« 

Eine  urkundliche  Mittheilung  aus  der  Mühlhäuser  Chronik 

von 

Dr.  F.  A.  Holzhausen. 


Das  Interesse,  welches  der  Bauernkrieg  gegenwärtig  findet,  hat 
darin  seinen  Grund,  dass  derselbe,  der  Form  nach  zwar  verwerf- 
lich, doch  wesentlich  in  der  geschichtlichen  Entwicklung  des  deut- 
schen Volkslebens  begründet  war.  Wir  glauben  daher  durch  nach- 
folgende Mittheilung  aus  einer  noch  unbenutzten  Quelle  eine  Lücke 
der  deutschen  Geschichte  zu  ergänzen.  Die  Darstellung  trägt  einen 
so  speciellen  Charakter  an  sich,  dass  sie  nur  von  einem  Zeitgenos- 
sen und  Augenzeugen  herrühren  kann.  Die  Chronik,  welche  sich 
auf  der  Universitätsbibliothek  zu  Göttingen  befindet,  reicht  von 
1030—1610,  und  ist  nach  der  Schrift  und  andereii  Umständen  zu 
schliessen  um  dieselbe  Zeit  geschrieben. 

1523.  In  diesem  Jahre  wurde  einem  Ehrb.  Rathe  ein  kaiserliches 
Mandat  informirt,  dass  sie  alle  lutherischen  Prediger  sollten  abschaffen, 


r 

366  Heinrich  Pfeifer  und  Thomas  Münzer 

In  diesem  Jahre  nach  Christi  Geburl  ist  einer,  Heinrich  Pfeifer, 
ein  ausgelaufener  Mönch,  sonst  Schwertfeger  genannt,  aus  dem  Klo- 
ster Rifenslein  nach  Mühlhausen  gekommen,   daselbst  sich  einen 
grossen  Anhang  allerlei  Volks  gemacht,  und  hin  und  wieder  von 
Mönchen  und  Pfaffen  in  der  .Stadt  geredet  und  gepredigt,  sonder- 
lich zu  S.  Nicolaus  die  Kirche  innegehabt.   Sonntag  post  septuage- 
simae  desselben  Jahres,  als  man  das  Kreuz  um  die  Kirchen  getra- 
gen, wie  damals  der  Gebrauch  gewesen  ist,  ist  der  Bierrufer  auf 
einen  hohen  Stein  gegen  der  Pfarre  zu  unserer  lieben  Frauen  auf 
dem  Kirchhofe  getreten,  und  hat  Wein  und  Bier  ausgerufen.   Dar- 
auf ist  dieser  Mönch  in  weltlichen  Kleidern  auf  denselben  Stein  ge- 
treten und  hat  gesagt:  Höret  zu,  ich  will  euch  ein  ander  Bier  ver- 
kündigen, hat  angefangen  von  dem  Evangelio  desselben  Sonntags 
zu  reden,  und  Pfaffen  und  Mönche  und  Nonnen  zu  schellen.    Da 
hat  jedermann  zugehört,  und  ist  ein  grosser  Zulauf  worden,  denn 
er  albereits  viel  Volks,  Fremde  und  Heimische  gehabt,  so  seiner 
Lehre  anhangig  gewesen.   Hat  auch  letztlich  gesagt,  wer  ihn  weiter 
hören  wollte,  der  sollte  des  andern  Tages  wiederkommen;  könnte 
er  nicht  in  die  Kirche  kommen,  so  wollte  er  daselbst  wieder  pre- 
digen.   Als  solches  ein  Ehrb.  Ralh  erfahren  hat,  haben  sie  ihn  auf 
folgenden  Montag  aufs  Rathhaus  fordern  lassen.    Darauf  er  gesagt, 
ja  er  wollte  erst  predigen,  darnach  wollte  er  aufs  Rathhaus  kom- 
men«   Da  er  nun  zu  Mittag  gepredigt  hatte,  ist  er  aufs  Rathhaus 
kommen  mit  vielen  Bürgern  und  Bauern  von  Eichsfelde  und  an- 
dern Oertern  mit  solcher  Ungestümigkeit,  dass  der  Rath  froh  war, 
dass  sie  ihn  mit  dem  Volke  mit  guten  Worten  abweisen  konnten. 
Haben  nichts  wider  ihn  vorgenommen,  denn  die  Gemeine  hing  an 
ihm,  und  hiess  ihn  predigen.   Und  dieses  war  der  erste  Auflauf  in 
der  Stadt  Mühlhausen.    Als  er  aber  immerfort  predigte  und  einen 
grossen  Anhang  kriegte,  liess  ihn  ein  Ehrb.  Rath  auf  den  Mittwochen 
nach  Palmarum   wiederum  aufs  Rathhaus   fordern.     Da    begehrte 
er  ein  sicher  Geleit;  als  ihm  das  ein  Ehrb.  Rath  weigerte,  da  trat 
er  auf  den  Predigtstuhl  und  sprach,  wer  bei  dem  Evangelio  sieben 
will,  der  recke  zwei  Pinger  auf.    Da  richteten  sie  die  Finger  auf 
alle  zugleich,  Mann  und  Weib,  jung  und  alt,  und  holten  ihre  besten 
Wehre,  kamen  auf  den  Kirchhof  Mariae  zusammen,  wähleten  acht 
Manu,  die  schickten  sie   zu    dem  Rathsmeister  Johann  Gödickeh, 
Heinrich  Pfeifern  ein  Geleite  Zu  erwerben;  aber  der  Gödicke  wollte 
sich  nicht  finden  lassen.    Da  gingen  sie  in  die  Germargasse  zum 
Rathsmeister  Fross,  der  wies  sie  auch  ab.    Da  blieb  es  also. 

Misericordias  domini  desselben  Jahres  kam  ein  Magister,  Hilde- 
brandt genannt ,  gen  Mühlhausen ,  eben  die  Zeit  als  Gnade  zu  S. 
Johannis  war,  und  begehrte  da  zu  predigen,  und  hatte  einen  gros- 
sen Haufen  an  sich  gehängt.    Da  fragten  ihn  die  Galanotes-Herren, 


in  Mühlhausen.  367 

was  er  mit  einem  solchen  Haufen  begehrte.  Als  er  sagte,  er  be- 
gehrte zu  predigen,  befragten  sie  sich  bei  dem  Rathsmeister  Gö- 
dicken,  der  sagte,  man  solle  ihn  nicht  predigen  lassen.  Da  predigte 
einer  in  der  Kirche,  der  war  ein  Pfarrer  in  Flercheim  gewesen« 
Als  der  aufhörte  zu  predigen,  sprach  Magister  Hildebrandt,  wer  ihn 
hören  wollte,  der  sollte  folgen,  er  wallte  auf  dem  Blobech  predigen. 
Da  stieg  er  in  Caspar  Ferbers  Haus,  und  predigte  zum  Giebel  her- 
aus, verlachte  die  Gnade,  verglich  sie  einer  grindigen  Sau,  und  viel 
Leute  hörten  ihm  gern  zu.  Pfeifer  aber  der  predigte  immerfort  in 
seiner  Kirche  zu  S.  Nicolaus,  und  auch  ein  Mönch  von  Aldisleben, 
Matthäus  genannt,  schalten  die  Bischoffe,  Pfaffen,  Mönche  und  Non- 
nen. Das  hörte  die  Gemeine  gern,  und  obwohl  etliche  im  Rathe 
dawider  waren,  so  sprachen  doch  die  anderen,  es  ginge  den  Rath 
nichts  an.  Nur  allein  die  Pfaffen  und  Mönche  waren  in  Angst, 
welche  mit  ihrem  Bann  und  Gnade  sich  das  Volk  sehr  gehässig  ge- 
macht hatten.  Und  es  war  der  Missbrauch  sehr  am  Tage.  Vier- 
zehn Tage  vor  Maria  Heimsuchung  mitten  in  der  Nacht  war  ein 
Auflauf  auf  dem  Obermarkte.  Da  schrien  etliche  Bürger,  sie  woll- 
ten etliche  richten,  und  ihnen  durch  die  Häuser  laufen  und  sie 
stürmen.  Dessen  erschracken  viele  Bürger  und  Pfaffen,  und  wichen 
des  Morgens  aus  der  Stadt,  und  hielten  sich  draussen,  bis  sie  mit 
den  Fürsten  einzogen;  deren  Namen  hier  unten  verzeichnet  wer- 
den sollen.  Es  hatte  der  Haufe  bereits  also  zugenommen,  dass  ihm 
der  Rath  die  Lange  nicht  mehr  wehren  konnte. 

Dienstag's  nach  Visitalio  Mariae  desselben  1523.  Jahres  haben 
etliche  Bürger  die  Sturmglocke  zu  S.  Jacobi  am  Mittag,  als  ein  Ehrb. 
Rath  auf  dem  Ralhhause  bei  einander  war,  gelautet  oder  gestürmet 
aus  Angaben  des  Mönchs  Matthäus  von  Aldisleben.  Da  sind  die 
Bürger  und  viele  Fremde,  Eichsfelder,  so  dem  Pfeifer  angehangen, 
mit  ihrer  besten  Wehr  vor  das  Rathhaus  gelaufen,  haben  die  Her- 
ren erschlagen  wollen,  und  sind  etliche  Schüsse  auf  und  ab  ge- 
schossen worden,  haben  wohl  vier  Stunden  davor  gelegen.  Aber 
man  hat  so  viel  mit  ihnen  geredet  und  gehandelt  und  ein  Ehrb. 
Rath  gebeten,  und  ihnen  zugesagt,  dass  ihrer  etliche  abgezogen. 
Aber  etliche  sind  geblieben.  Die  haben  die  acht  Mann  heissen  in  das 
Barfüsserkloster  gehen,  bis  so  lange  sie  mit  einem  Ehrb.  Rathe  eins 
würden.  Da  sind  sie  in  alle  Klöster  gelaufen  und  in  beide  Pfarr- 
häuser, haben  dieselben  geplündert,  Fenster  und  Oefen  eingeschla- 
gen. Desgleichen  haben  sie  gethan  auf  dem  Brückenhofe.  Darauf 
hat  die  Gemeine  einem  Ehrb.  Rathe  etliche  Artikel  vorgetragen,  auf 
welche  er  sich  um  Friedens  willen  mit  ihnen  auf  den  Freitag  nach 
Visitationis  Mariae  vergleichen  und  dieselben  versiegeln  müssen.. 

um  das  Fest  Philippi  Jacobi  ungefähr  ist  die  Gemeine  zu  Mühl- 
hausen in  der  Stadt,  in  den  vier  Kirspeln  oder  Vorstädten,  iti  Un- 


368  Heinrich  Pfeifer  und  Thomas  Münzer 

ser  lieben  Frauenkirche  zusammengefordert  worden,  und  hat  etli- 
che Artikel  beralhschlagt,  und  sich  des  vereinigt,  dass  sie  aus  jeg- 
lichem Viertel  dieser  Stadt  Mühlhausen  12  Personen,  und  aus  jeg- 
lichem Kirspel  12  Personen  nehmen  wollten,  um  neue  Ordnung 
Rath  und  Rathen  vorzutragen ,  dergestalt  und  Meinung  solches  zu 
bewilligen  und  zuzusagen,  hinfort  so  zu  halten.  Darauf  sind  diese 
56  Personen  den  13.  Maji,  war  auf  Himmel  fahrte -Abend,  vor  Ratb 
und  Rathen  erschienen  und  haben  dieselben  bedachten  Artikel, 
angelangen  lassen.  Darauf  hat  Rath  und  Rätbe  etliche  Artikel  als- 
bald bewilligt  und  zugesagt  zu  halten,  und  auf  die  andern  Artikel, 
die  mit  diesen  Puncten  unten  verzeichnet  sind,  eine  Bedenkzeit  ge- 
beten, dass  solch  neues  Fürnehmeu  und  Ordnung  vom  Regiment 
der  gemeinen  Stadt  nicht  Anfechtung  oder  Schaden  verursachen 
möchten,  und  gegen  unsere  Obrigkeit  und  einen  Jeden  zu  verant- 
worten waren. 

Darauf  die  Gemeldeten  geantwortet,  eine  Gemeine  habe  die  Ar- 
tikel so  beschlossen  zu  hallen,  und  wolle  das  also  nicht  anders  ge- 
halten haben.  Dies  hat  also  geschwebt  bis  auf  den  dritten  Tag  des 
Heumonats,  das  war  Freitag's  nach  Visitationis  Mariae,  alsdann  ist 
es  von  den  56  Mann  wieder  vor  dem  Rathe  angeregt  worden. 

Darauf  sich  Rath  und  Rathe  haben  hören  lassen  und  abermals 
gebeten,  dass  diese  Sache  einen  Anstand  haben  möchte  bis  dass 
man  die  Erforschung  haben  könnte,  ob  zu  Nürnberg  auf  dem 
Reichstage  von  solchen  Sachen  zum  Theil  auch  gebandelt  und  be- 
rathschlagt  würde;  wessen  sich  dann  die  andern  Städte  und  Herr- 
schaften und  Reichsstädte,  um  diese  Stadt  liegend,  gehielten;  das 
wollten  sie  sich  auch  wissen  zu  halten.  Dieses  gute  Bedenken  des 
Regiments  wollten  die  von  der  Gemeine  nicht  bewilligen,  und  auf  ein 
Gespräch  aus  der  Rathsstube  dem  ehesten  entweichen.  Da  ward 
zu  S.  Jacob  an  die  Glocke  geschlagen  und  gestürmet,  und  von  et- 
lichen auf  der  Strasse  gerufen,  wer  bei  der  Gemeine  stehen  wolle, 
der  solle  mit  seiner  besten  Wehr  kommen  vor  das  Rathhaus ;  dass 
also  des  Tages  ein  grosser  Aufruhr  vor  dem  Ratbhause  worden 
von  Bürgern  und  Bauern  dieses  Gerüchts,  Rath  und  Rathe  sollten 
ihre  angegebenen  Artikel  'alle  bewilligen  und  ballen ,  und  um  der 
Sache  einen  Schein  zu  geben  mit  der  Stadt  Siegel  bekräftigen.  Also 
wurden  bemeldete  Artikel  von  Rath  und  Rathen  mit  sammt  den 
Gemeinen  zum  Besten  bedacht  und  für  gut  angesehen,  und  ein- 
trächtig beschlossen  hinfort  so  zu  halten,  und  obs  von  jemand  an- 
gefochten würde,  dass  Ratb  und  Räthe  dasselbe  mit  verantworten 
wollten,  nach  weiter  vermeldeten  nachfolgenden  Artikeln.  Dieses 
haben  die  Räthe  so  bewilligen  und  zulassen  müssen ,  und  hat  also 
vermittelst  göttlicher  Gnade  diese  Zwietracht  ohne  Blulvergiessen 
sich  wieder  geschieden,  und  haben  das  Rathhaus  wieder  verlassen. 


in  Mühlhausen.  369 

In  dem  Auflauf  sind  sie  gelaufen  in  die  zwei  Pfarren  und  in  die 
drei  Klöster  dieser  Sladt,  und  darinnen  geöffnet  Speisekammer  und 
Keller,  und  an  denselbigen  Ueberflüssigkeit  von  Gewalt  begangen, 
und  mit  vieler  Ueberflüssigkeit  gegen  die  Kloslerjungfrauen  sich  er- 
zeiget und  sich  hören  lassen  beide  Manns-  und  Weibspersonen, 
und  darüber  etliche  zu  mehrem  Ueberfluss  Speise  und  Trank  mit 
aus  dem  Kloster  getragen,  und  durch  solche  freventliche  Thaten 
die  Klosterjungfrauen  Furcht  halber  bewegt  und  verursacht  worden, 
dass  ihrer  bei  14  oder  15  aus  den  Klöstern  wichen  und  zu  ihren 
Freunden  gingen,  und  darum  etliche  haussen  blieben  und  sich  in 
die  Weltlichkeit  begaben.  Desgleichen  aus  den  beiden  Mönchsklöstern 
viele  Priester  und  andere  Brüder  gegangen  und  Weiber  genommen. 

Dies  sind  die  acht  Männer  von  der  Gemeine  gewesen:  Michael 
Koch,  Dietrich  Weissmaler,  Hans  Schmidt,  Claus  Kreuter,  Karsten 
Vill,  Claus  Fullstich,  Selant  Agny,  Hans  Töpfer. 

Die  Artikel,  die  eine  Gemeine  den  Räthen  hat  vorgetragen: 

1.  Dass  alle  Retardat  an  Geschoss,  Zinsen  und  an  denn  Unge- 
nannten zu  gemeiner  Stadt  Nutzen  gewandt,  und  die  Kämmerer, 
ehe  dieses  geschehen,  ihres  Amtes  nicht  entlassen  werden  sollen. 

2.  So  jemand  seinen  Geschoss  oder  andere  Pflicht  in  vier 
Wochen  nicht  geben  würde,  nach  Unserer  Lieben  Frauen  Tag 
Purificationis  und  S.  Johannistag,  derselbe  solle  in  den  Gehorsam 
gelegt  werden,  und  nicht  daraus  kommen,  er  habe  denn  seiner  Pflicht 
darum  er  verhaftet,  Bezahlung  gethan.  Und  wo  einer  aus  dem 
Gehorsam  ginge,  der  solle  für  einen  Ungehorsamen  gehalten  wer- 
den.    Und  sollte  der  vierte  Pfennig  und  Geldzoll  abgethan  seyn. 

3.  So  jemand  der  Stadt  hinfort  einen  einigen  Schaden  zufü- 
gen oder  dazu  Ursache  seyn  und  geben  würde,  der  solle  auch  nach 
Gestalt  der  Sache  und  Rechtes  seinen  verdienten  Lohn  bekommen. 

4.  Die  Personen  der  vier  Rälhe  sollen  an  Anzahl  mit  demsel- 
ben Rathe  gemindert  werden.  Wenn  einer  von  Handwerks  wegen 
fehlt  oder  mangelt,  soll  die  Stätte  nicht  mit  einem  gemeinen  Manne 
ersetzt  werden,  wie  bisher  geschehen  der  Willkühr  zuwider,  dass 
die  Gleichheit  in  der  Wahl  eines  von  der  Gemeine  und  eines  von 
den  Handwerkern  gehalten  werde. 

5.  Dass  acht  Mann  aus  den  Räthen  aus  jedem  zwei  sollen  ge- 
wählt werden,  welche  in  schweren  Sachen  bei  dem  Rathe  sitzen, 
upd  dieselben  an  die  Gemeine  bringen  können  allerlei  Nachtheil 
zu  vermeiden. 

6.  Dass  alle  privilegia  der  Gemeine  geöffnet  und  gemeine  Stadt 
dabei  erhalten  werden  solle. 

7.  Man  soll  nach  laut  der  Willkühr  und  bürgerlicher  Freiheit 
keinem  Bürger  zu  Leib  und  Gut  greifen,  er  sey  denn  laut  der  Will- 
kühr 2—3  mal  verklagt. 


370  Heinrich  Pfeifer  und  Thomas  Münzer 

8.  Ob  ein  Bürger  eine  Busse  verwirkte  mit  Worten  oder  Wer- 
ken, die  er  geben  könnte,  den  soll  man  nicht  ins  Gefängniss,  son- 
dern in  den  Gehorsam  legen. 

9.  Das  Gericht  in  der  Stadt  Nühlhausen  in  gute  rechtmässige 
Ordnung  zu  bringen,  und  mit  tauglichen  Rednern  zu  versehen  und 
bestellen,  damit  einem  jeglichen  in  seinem  Rechte  nicht  zu  kurz 
geschehe. 

10.  Ob  ein  Bürger  ohngefähr  am  Gerichte  sich  vergesse,  dass 
dann  nicht  sobald  ein  Pfund  gelheilt,  doch  dass  er  es  auf  einen 
Eid  erhalte,  dass  er  solches  nicht  gefährlich  gethan  habe. 

11.  Helfgeld  soll  man  nicht  eher  nehmen,  es  scy  denn  wirk- 
lich geholfen  oder  gütlich  vorgetragen. 

12.  Dass  man  hinfort  niemand  gestehen  soll  um  Erbzins  ohne 
Gericht  und  Rälhe  zu  pfänden. 

13.  Wer  peinlich  klagen  will  soll  sich  bei  den  Beklagten  setzen. 

14.  Dass  man  niemand  so  leichtlich  in  die  Acht  thue,  wie  bis- 
her geschehen  ist,  wiewohl  die  Willkühr  fast  scharf  darauf  dringet, 
denn  viel  Cnratlis  und  Schadens  daraus  erwachsen.  Es  soll  aber 
der,  der  einen  Andern  geschlagen  oder  verwundet,  und  sich  eine 
Busse  damit  verwirkt,  dem  Verwundeten  auch  gebührlichen  Ab- 
trag thun  nach  Erkenntniss.  Hiermit  soll  es  nicht  erledigt  werden, 
sondern  die  Wunde  soll  durch  eines  Ehrb.  Raths  Verordnete  zu- 
sammt  der  Stadlärzle  besichtigt  werden,  ob  die  ächtig  oder  ü ber- 
echtig seyj  auch  soll  man  den  Thäter  zur  Antwort  kommen  lassen. 

15.  Dass  niemand,  er  sey  geistlich  oder  weltlich,  eigeue  Vieh- 
triften, Schäferei  oder  Uuth  in  dem  Gebiete  der  Stadt  Mühlhausen 
haben  solle,  er  sey  denn  damit  befreiet  und  mit  Briefen  dasselbe 
zu  beweisen  genugsam  im  Stande. 

16.  Dass  niemand  gestattet  werde  eigene  Weide,  Fischerei 
oder  Wildbahn  zu  machen,  die  zuvor  gemein  gewesen  sind. 

17.  Dass  die  freien  Höfe  und  Geistlichen  sowohl  als  andere 
der  Stadt  Bürden  tragen  helfen,  dieweil  sie  Wasser  und  Wind  ge- 
brauchen. 

18.  Alle  Zünfte  sollen  bei  ihren  Freiheiten,  Briefen  und  Siegeln 
gelassen  werden. 

19.  Dass  die  Bürger  sicher  zulaufen  mögen,  wenn  in  der  Stadt 
Aufruhr  oder  Schaden  entsteht. 

20.  Dass  ein  jeder  vor  Puriflcalionis  seine  Länderei  schossbar 
machen  lasse,  und  eine  Landsuchung  geschehe,  das  Uebrige  an 
gemeine  Stadt  genommen  werde. 

21.  Verfallne  Güter  sollen  die  bauen,  so  Zinsen  daran  haben, 
oder  der  Rath  soll  sie  bauen. 

22.  Nach  der  Mark  soll  einer  schössen,  und  soll  jedem  sein 
Erbe   und  fahrende  Habe  gerechtfertigt  werden.    Und  was  einer 


in  Mühlhausen.  371 

nicht  hat,  dess  soll  er  sich  mit  einem  Eide  entledigen,  und  es  soll 
keine  Geld -Zahl  oder  4  Pf.  gegeben  werden. 

23.  Dass  man  keinen  Auslandischen  oder  die  da  arbeiten  kön- 
nen die  Pfründen  in  Spitalen  verkaufen  soll,  welche  allein  für 
Arme  und  Einlandische  gestiftet  sind. 

24.  Die  Männer  im  Gerichte  sollen  des  Weggeldes  verscho- 
net seyn. 

25.  Die  Geistlichen  und  Weltlichen,  so  in  diesem  Gebiete  sind, 
sollen  Mahlzeichen  geben. 

26.  Alle  die  Garten  oder  Häuser  in  den  Kirspeln  haben,  sol- 
len ihr  Wachgeld  geben,  auch  die  abgebrochene;)  Häuser  wie- 
der bauen. 

27.  Alle  Fehdebriefe,  sobald  sie  dem  Ralhe  zukommen,  sollen 
der  Gemeine  geöffnet  werden. 

28.  So  man  jaget  soll  ein  Bürger  nach  dem  andern  nach  der 
Reigirung  gefordert  werden. 

29.  Hinfort  sollen  auf  das  Pfund  Geld  und  Schillinge  nicht 
mehr  denn  8  Pfennige  für  einen  Schilling  gegeben  werden. 

30.  Wiederkäufliche  Zinsen  mit  Stadtbriefen  befestigt  soll  man 
25  sh.  mit  einem  verzinsen,  und  mit  25  sh.  einen  ablösen. 

31.  Jeglichen  Schilling,  item  eine  Gans,  2  Hühner  soll  man 
mit  £  sh.  ablösen. 

32.  Die  Zinsen  von  wüsten  Kirchen  sollen  zu  gemeinem 
Nutzen  verwendet  werden. 

33.  Der  Lindenwall  soll  wiederum  geöffnet  werden,  alle  Stadt- 
graben sollen  zu  gemeinem  Nutzen  gebraucht  werden,  es  sey 
denn  einer  derselben  mit  Brief  und  Siegel  befreiet. 

34.  Es  soll  kein  Kämmerer  einen  sonderlichen  Acker  Holz 
nehmen,  sondern  so  gross  und  klein,  als  andere  auch  abgemessen 
werden,  auch  kein  Förster  Staltesotteln  haben,  denn  allein  ihr 
Anweisegeld. 

35.  Ein  jeder  des  Rathes  soll  sein  Amt  selber  verrichten, 
und  keinen  andern  für  sich  haben  oder  darstellen,  doch  da  er 
es  vermag. 

36.  Es  soll  hinfort  kein  Priester  zum  Sladlschreiber  angenom- 
men werden,  sondern  man  soll  einen  Weltlichen  annehmen. 

37.  Es  soll  auch  der  Stadtschreiber  der  Stadt  Secrct  ferner 
mehr  nicht  bei  ihm  haben,  sondern  dasselbe  soll  dem  Ralhsmei- 
ster  befohlen  seyn. 

38.  Ob  jemand  einig  Getreide  auf  Wiederkauf  kaufen  würde, 
und  ein  Bürger  dess  bedürftig  wäre,  so  soll  er  das  von  Stunde 
an  um  gleich  erkauft  Geld  demselben  Bürger  wieder  lassen. 

39.  Die  so  Ackerwerk  gebrauchen  und  nicht  rechte  Acker- 
leute sind,  sollen  gleich  sehr  nach  eines  Ehrb.  Rathes  Ordnung  dienen. 


372  Heinrich  Pfeifer  und  Thomas  Münzer 

40.  Und  ob  sich  Bürger  zweieteo  und  es  Ratb  und  Rätben 
nicht  wissen  lassen  wollten,  die  sollen  in  Gehorsam  gehen,  bis  sie 
die  Sache  vertragen. 

41.  Dass  die  Ehebrecher  nicht  gelitten  werden  sollen,  son- 
dern verweiset  werden,  wie  denn  ein  Ehrb.  Rath  hat  angefangen. 

42.  Mit  den  teutschen  Herrn  soll  geredet  werden,  dass  die 
Pfarrkirchen  und  Kapellen  mit  evangelischen  Predigern  bestellt  wer- 
den; geschieht  es  nicht,  so  soll  es  die  Gemeine  mit  einem  Ehrb. 
Rathe  bestellen. 

43.  Es  soll  auch  sonst  das  Evangelium  zu  predigen  nicht  ge- 
wehret werden. 

44.  Der  Acker  zu  Widensee  und  das  Rind  zum  Eichen  soll 
wieder  an  gemeinen  Nutz  gewandt  werden. 

45.  Abzug  und  Miststätte  sollen  gereiniget  werden,  dass  der 
Unflath  nicht  ins  Wasser  laufe. 

46.  Dass  man  keinen  Bürger  oder  Einwohner  in  keinem  Kir- 
spel  aufnehme,  er  habe  denn  erstlich  Brief  und  Siegel  bracht,  wie 
und  welchermassen  er  von  seiner  Obrigkeit  abgeschieden  wäre. 
Das  sollen  die  $  Mann  oder  Kirspelsvormünder  jedes  Vierteljahr 
dem  Rathe  bewähren  oder  einbringen. 

47.  Mönchen  und  Nonnen  soll  freistehen  aus  dem  Kloster  zu 
gehen  mit  ihren  eingebrachten  Gütern. 

48.  Ob  sich  jemand  beklaget,  dass  ihm  Recht  geweigert,  und 
sich  auf  die  Viertelsmänner  berufet,  sollen  dieselben  die  Sache 
neben  dem  Rathe  verhören. 

49.  Der  acht  Mann  sollen  zwei  in  der  Kämmerei  und  einer 
in  der  Zinsmeisterei  sitzen. 

50.  Der  Rath  soll  einen  Schlüssel  zu  dem  grossen  Siegel  ha- 
ben und  damit  siegeln. 

51.  Die  acht  Mann  sollen  zur  Gemeine  beeydet  werden. 

52.  Den  Armen  und  zur  Erhaltung  des  Wortes  Gottes  soll 
ein  Kasten  in  die  Kirche  gesetzt  werden. 

53.  Rath  und  Rälhe  sollen  vermöge  der  Privilegien  zu  ent- 
setzen und  zu  setzen  haben  nach  der  Stadt  Nutzen. 

Und  also  liaben  Rath  und  Rathe,  Vierieismänner  und  die  ganze 
Gemeine  einträchtig  bewilliget  und  beschlossen,  dass  in  dieser 
Sache  aller  Unwille  zwischen  Rath  und  Räthen  und  ganzer  Ge- 
meine, so  daraus  erwachsen  wäre,  gar  todt  seyn  solle,  dass  nie- 
mand, er  sey  Rath  oder  Rathe  oder  ganze  Gemeine,  sich  beklagen 
soll  bei  Kaiser,  Königen,  Fürsten  oder  anderswo,  sondern  sie  hier- 
mit gänzlich  in  Einigkeit  und  Gehorsam  solle  vertragen  seyn.  Wo 
aber  darüber  einer  zum  andern  etwas  zu  besprechen  hätte,  so 
solle  es  geschehen  alhier  zu  Mühlhausen,  und  wolle  man  hinfort 
in  Einigkeit  und  Gehorsam  gegen  einander  solches  stät  und  fest 


in  Mühlhausen.  373 

halten.  So  haben  das  zu  mehrerer  Sicherheit  Ralh  und  Räthe  den 
Gemeine  gelobt,  und  wiederum  die  Gemeine  gleichmässig  Rath 
und  Ralhen.  Und  hat  ganze  Gemeine  ihrerseits  ihr  grosses  Insie* 
gel  wissentlich  an  diesen  Brief  thun  hängen,  der  gegeben  ist  nach 
Christi  Geburt  im  1523  Jahre  auf  den  Freitag  nach  Unserer  lieben 
Frauen  Tag.  Visitationis  Mariae  genannt. 

Nachdem  von  dem  allen  zum  Besten  ist  bedacht  worden,  als 
die  Willkühr  anzeigt  und  vermeldet,  dass  30  Mann  in  einem  Rath 
seyn  sollen,  und  also  bisher  gewesen,  das  ist  Martini  1523  auf 
Vorbringen  der  Gemeine  geändert  worden,  und  ist  gesetzt  auf 
24  Personen,  und  haben  in  die  Kämmerei  und  Zinsmeisterei  von 
der  Gemeine  auch  etliche  Personen  oder  Beisitzer  wollen  haben, 
als  in  beschriebenen  Artikeln  ist  berührt,  und  von  den  Rathen  hat 
müssen  zugelassen  werden. 

Montags  nach  Jacobi  1523  wurden  etliche  Briefe  am  Markte 
und  an  der  Pfarrkirche  angeschlagen,  darin  stand:  der  Pfarrer  hat 
einen  Stall  voll  Esel,  die  können  nicht  predigen  das  Wort  Gottes 
rein  und  lauter.  Er  lasse  sie  es  predigen,  oder  wir  wollen  ihm 
einen  rothen  Hahn  auf  das  Haus  setzen.  Der  Pfarrer  klagte  es 
dem  Rathe,  aber  niemand  konnte  wissen,  wer  der  Thäler  wäre. 
Diese  Zeit  wurden  die  Pfarrhäuser  alle  geplündert.  Ein  Ehrb.  Rath 
lasst  gebieten,  es  solle  ein  jeder  wiedergeben,  was  er  bekommen 
hätte  in  den  Pfarrhäusern. 

1524  Bartholomaei  bittet  der  Ralh  die  Gemeine,  dass  sie  wil- 
lige, nicht  dass  man  dem  Worte  Gottes  und  der  Predigt  entgegen 
sey,  sondern  zu  vermeiden  gross  Unglück  und  Gefahr,  dass  sie 
Heinrich  Pfeifer  und  Matthäus  den  Mönch  aus  der  Stadt  wiesen; 
das  geschah  also. 

In  diesem  Jahr  als  er  anfängt  zu  predigen,  am  Tage  Johannis 
Evangelistä,  haben  die  Weiber  den  Pfarrer  zu  S.  Kilian  stürmen 
wollen,  und  ihn  von  S.  Kilian  gejagt  bis  zur  S.  Blasiuskirche.  Da 
hat  er  sich  verkriechen  müssen.  Da  sind  sie  in  die  Pfarr  gelau- 
fen, beide,  Frauen  Jungfrauen  und  Männer.  Was  darin  zu  essen 
gewesen  ist  haben  sie  mitgenommen.  Pfeifer  ist  wieder  in  die 
Stadt  eingeschlichen  ohne  des  Rathes  Vorwissen,  und  hat  darin 
wie  zuvor  gepredigt,  und  einen  grossen  Anhang  gehabt.  Auf  den 
Sonntag  Judica  war  ein  Auflauf  wegen  eines  Augustinermönchs 
von  Salza.  Der  predigt  zu  Unserer  lieben  Frauen,  und  sagt  unter 
anderm,  die  Bürger  wären  gute  Mörder,  diebisch.  Den  hätten  die 
Bürger  erschlagen ,  aber  ein  Ehrb.  Rath  geleitet  ihn  aus  der  Sa- 
cristei,  darein  er  gewichen  war,  und  geleitet  ihn  in  seine  Herberge, 
dass  er  also  davon  kam. 

Bald  hernach  unterstanden  sich  etliche  Bürger,  als  Hans  Kula, 
Volkmar  Müller,  Erhart  Köler  und  Barthel  Götze,  und  brachen  die 

Zeitschrift  f.  Geschichte.    IV.  1845.  05 


374  Heinrich  Pfeifer  und  Thomas  Munter 

Predigerkirche  bei  der  Nacbt  auf,  warfen  den  Hobulfen  bei  der 
Orgel  hernieder,  und  zerschlugen  etliche  Bilder.  Des  Morgens 
wichen  sie  und  schrieben  an  den  Rath  und  an  die  S  Mann ,  dass 
sie  solches  aus  christlichem  Eifer  gethan  hätten,  und  nicht  Auf- 
ruhr zu  erregen,  denn  es  wäre  em  Abgott  gewesen. 

In  diesem  Jahre  wich  der  Rathsmeister  Probst.  Da  ward  Mat- 
tbaus Wolfbeim  an  seine  Statt  gesetzt.  Der  starb  bald  desselbigen 
Jahres  1524.  Da  erwählet  man  an  seiner  Statt  Bastian  Rodemann 
und  Wettich  zum  Kumppan. 

Diese  Zeit  hat  Doclor  Marlinus  Lutherus  an  einen  Ehrb.  Rath 
geschrieben  und  ihn  vor  Münzern  gewarnt,  aber  er  war  schon  in 
der  Stadt. 

Sonnabends  nach  Bartholomaei  schreibt  der  Rath  an  M.  Wolf- 
gang, wie  dass  sich  Thomas  Müuzer,  der  vor  Zeiten  zu  Allstedt 
predigte,  in  kurzen  Tagen  in  die  Stadt  Mühlhausen  begeben  hätte 
und  zu  predigen  unterstünde,  und  hange  das  Volk  sehr  an  ihm. 
Bitten  derohalben  berichtet  zu  werden,  ob  er  auch  von  den  Herrn 
und  Herzögen  zu  Sachsen  mit  Güte  abgeschieden  wäre. 

Allstedter  oder  Münzer  gesellet  sich  sobald  zu  Pfeifern  und 
kriegen  beide  einen  grossen  Anhang  von  allerlei  Volk,  also  dass 
ihnen  ein  Ehrb.  Rath  auch  nicht  mehr  wehren  konnte. 

Montags  nach  Lamberti  war  eine  Hochzeit  zum  Sterne  gegen 
den  Obermarkt  in  Valentin  Oehmens  Hause.  Da  hatte  sein  Sohn 
Wirthschaft.  Da  war  einer,  Caspar  der  Kirchner  zu  S.  Jacob  und 
Gericbtsschreiber.  Als  nun  das  Geschenk  geschehen  war,  über- 
gab er  den  Rathsmeister  Rodemann,  schalt  ihn  an  seiner  Ehre. 
Da  sprach  der  Rathsmeister  Rodemann  zu  den  Stadtknechten,  füh- 
ret ihn  hin,  da  er  hingehört.  Da  fübreten  sie  ihn  in  den  grossen 
Keller.  Da  kamen  die  Achtmänner  mit  ihrem  Anhange  vor  das 
Rathhaus,  und  langeten  ihn  wieder  aus  dem  Keller,  und  führten 
ihn  wieder  zur  Hochzeit.  Und  sobald  sie  da  des  Rathsmeisters 
Rodemanns  ansichtig  wurden,  zwangen  sie  ihn,  dass  er  vor  ihnen 
hingehen  rousste  aufs  Rathhaus  die  Rathsgasse  hinunter.  Desglei- 
chen liefen  sie  dem  Rathsmeister  Wittich  mit  gewappneter  Hand 
vor  sein  Haus,  forderten,  sagten  sie  hätten  etwas  mit  ihm  zu  re- 
den; wolle  er  in  Güte  zu  ihnen  kommen,  so  hätte  es  seinen  Weg, 
wolle  er  aber  nicht ,  so  solle  er  es  in  Ungute  thun ,  denn  es  be- 
langte die  Gemeine  an.  Da  kam  er,  und  sie  zwangen  ihn  auch 
mit  aufs  Rathhaus  zu  gehen.  Da  mussten  die  beiden  den  AcM- 
männern  versprechen,  dass  sie  sich  den  andern  Tag  wieder  ein- 
stelle» wollten.  Und  Hessen  den  Rath  fordern.  Da  mussten  sie 
zum  andermale  den  Viertelsherrn,  Michel  Koch  und  andern,  an- 
geloben,  ihre  Sache  hinauszuführen.    Aber  des  Morgens  früh  zo- 

dte  beide,  Rodemann  und  Wittich,  zum  Thor  hinaus  gen  Salsa. 


in  Mühlhausen.  375 

Die  beiden  Burgermeister,  Rodemann  und  Witlich,  hatten  bei  sich 
das- schwarze  Fähnlein  der  Stadt,  darin  der  Stadt  Wappen  stehet, 
und  das  silberne  Stadtsecret  an  dem  Kettlein,  und  etliche  Schlüs- 
sel. Die  brachten  sie  ungefähr  um  Michaelis  des  1524  Jahres  gen 
Erfurt  in  eines  Bürgers  Haus,  Caspar  Retzel  genannt,  der  die  Zeit 
ein  Domherr  Mariae  war,  aber  hernach  im  Stift  Waltsachsen  ein 
Diener.  Bei  demselben  deponirten  sie  solche  Stücke  in  einem 
kleinen  Schreinlein ,  und  musste  er,  der  Retzel ,  und  Jacob  Wach- 
tebrücke, Hans  Storck,  und  Hans  Funke  von  Wiehe  dasselbe  ver- 
petschiren.  Das  blieb  bei  ihnen  bis  auf  folgende  Pfingsten.  Da 
haben  sie  es  wieder  gefordert  und  bekommen. 

Darnach  aber  war  ein  Auflauf;  da  liefen  etliche  vor  das  Rath- 
baus,  und  etliche  vor  das  Felchtathor  mit  gewappneter  Hand,  und 
wehrte  bis  an  den  dritten  Tag,  aber  es  ward  nichts  ausgerichtet. 

Auf  dem  Mittwoch  nach  Lamperti  in  der  Fasten  waren  die 
Bürger  in  ihrem  Viertel  beisammen,  und  beratschlagten  sich  wie 
sie  es  mit  einem  Ehrb.  Rathe  machen  wollten,  aber  sie  wurden  in 
nichts  einig. 

Auf  dem  Montage  hernach  zu  6  Uhr  brannte  es  zu  Bolstedt. 
Da  wollten  die  Herrn  zum  Feuer  schicken.  Da  kam  ihnen  eine 
Botschaft,  dass  sie  alle  Thore  zuschlössen.  Und  Hessen  ausrufen, 
wer  bei  den  Herrn  stehen  wolle,  der  solle  auf  das  Rathhaus  kom- 
men. Da  richteten  die  zu  S  Nicolaus  ein  Crucifix  auf,  das  man 
pfleget  bei  dem  Begräbniss  zu  haben,  und  trugen  es  in  der  Stadt 
herum,  und  Hessen  ausrufen,  wer  bei  dem  Leiden  und  Sterben 
und  Worte  Gottes  stehen  wolle,  der  solle  nach  S.  Nicolaus  kom- 
men. Da  legten  sich  die  von  S.  Nicolaus  und  die  es  mit  ihnen 
hielten,  in  das  Felchtathor  mit  gewappneter  Hand,  und  "vermeinten 
das  Thor  mit  aller  Macht  offen  zu  halten,  denn  die  andern  waren 
alle  verschlossen.  Dieweil  nun  ein  Ehrb.  Rath  hierbevor  allen 
Bürgern  in  der  Stadt  und  den  Männern  auf  den  Dörfern  verboten 
hatte,  Heinrich  Pfeifern  einzunehmen  oder  zu  hausen,  und  der 
aufrührerische  Haufe  zu  S.  Nicolaus  sich  so  heftig  mit  dem  Hein- 
rich Pfeifer  wider  einen  Ehrb.  Rath  legte,  gedachte  er  dieselben 
mit  seinen  Bürgern  und  Unterthanen  hinwegzulreiben.  Darauf  be- 
fahl ein  Ehrb.  Rath  seinem  Ausreuter,  Kersten  Babst,  der  hatte  an 
die  200  Mann  von  den  Dörfern  gebracht.  Aber  ein  Ehrb.  Rath  be- 
sorgte, wenn  die  Männer  von  den  Dörfern  in  der  Stadt  seyen, 
dass  die  Dörfer  möchten  Schaden  nehmen.  Und  haben  bei  60  Mann 
in  der  Stadt  behalten,  und  die  andern  wieder  heimziehen  lassen. 
Und  sie  haben  das  Felchtathor  auch  zugeschlossen,  und  einen  Tag 
zugelassen.  Und  haben  die  Herrn  zwei  neue  Rathsmeister  erwählt 
an  Rodemanns  und  Wittichs  Statt,  als  Hans  Linssen  und  Claus 
Beissele.     Den  andern  Tag   haben  sie  das  Thor  wieder  geöffnet. 

25* 


376  Heinrich  Pfeifer  und  Thomas  Münzer 

Da  ist  Pfeifer  wieder  in  die  Stadt  kommen,  und  haben  die  Bor- 
ger, auch  etliche  von  S.  Nicolans  Gehorsam  gelhan.  Des  Abends 
aber  wollten  sie  das  Thor  nicht  schliessen  lassen.  Da  wollte  ein 
Ehrb.  Rath  mit  Karnbüchsen  davor  rücken.  Da  sagten  sie,  es 
sollte  in  Friede  stehen,  sie  wollten  den  Morgen  alle  Gehorsam  tbun. 

Dienstags  frühe  sind  die  Bürger  mit  der  besten  Wehre 
aufs  Rathhaus  gefordert  worden.  Da  hat  ein  Ehrb.  Rath  auf  dem 
Barfüsser  Kirchhofe  den  Gehorsam  von  denen  genommen,  die  ihn 
zuvor  nicht  gelobt  hatten.  Und  sobald  hat  man  in  den  Kirspeln 
und  Vierteln  umgefragt  und  ist  beschlossen,  dass  Pfeifer  und  All- 
stedter die  Stadt  räumen  sollten.  Und  sobald  es  angekündigt  wor- 
den, da  gingen  viel  Bürger  mit  ihnen,  und  es  ward  ein  Friede 
ausgerufen,  dass  niemand  den  andern  mit  Worten  oder  Werken 
beleidigen  solle  bei  Leibesstrafe.  Unterdess  predigten  in  der  Stadt 
etliche  Mönche,  welche  aus  den  Klöstern  gelaufen  waren  und  die 
Kappe  hingelegt  hatten,  als  Rothmeier,  Köler  und  er  Johann  Lauwe, 
der  zuvor  ein  Teutschpriester  gewesen  war.  Die  waren  aber 
nicht  so  böse  als  Allstedter  und  Pfeifer.  Es  war  auch  Johann 
Lauwe  nicht  mit  in  ihrem  Bündniss.  Sie  wurden  auch  alle  drei 
ehlichen  Standes,  und  das  Volk  hörte  sie  gern. 

In  diesem  1524  Jahre  am  Tage  Luciae  sind  die  beide,  Allsted- 
ter und  Pfeifer,  wiederum  in  die  Stadt  kommen  ohne  der  from- 
men Bürger  Wissen  und  Willen.  Und  ist  ihr  Anbang  noch  grösser 
worden  von  Bürgern  und  Bauern,  Heimischen  und  Fremden,  also 
dass  ein  Ehrb.  Rath  nicht  mehr  steuern  konnte  und  die  Thore 
verschliessen.  Und  gingen  die  Herrn  mit  gewappneter  Hand  aufs 
Rathhaus  und  Hessen  die  Bürger  fragen,  wer  bei  einem  Ehrb.  Rath 
stehen  wollte  oder  nicht.  Da  sprachen  sie  des  mehren  Theils,  sie 
wollten  bei  einem  Ehrb.  Rath  Leib  und  Gut  lassen,  bis  etliche, 
etwa  bei  110  Mann,  die  wollten  bei  Pfeifern  stehen.  Da  biess  sie 
ein  Ehrb.  Rath  auf  den  Barfüsser  Kirchhof  gehen.  Da  liefen  sie 
vor  das  Felcbtathor  zu  Pfeifern.  Da  rausste  ein  Ehrb.  Rath  mit 
ihnen  in  Güte  handeln ,  auf  dass  kein  Todscblag  in  der  Stadt  ge- 
schähe. Und  stunden  die  Thore  drei  Tage  zu.  Da  liess  man  die 
Viertelsherrn  oder  Achtmänner  vor  jedes  Thor  ein  eigenes  Schloss 
legen,  auf  dass  ein  Ehrb.  Rath  die  Thore  nicht  allein  schliessen 
könnte.  Allstedter  der  war  in  der  Stadt  und  predigte  und  hatte 
einen  grossen  Anhang  oder  Zulauf.  Wo  er  auch  auf  der  Strasse 
von  jemand  gefragt  ward,  so  hatte  er  auch  sein  Buch  bei  sieb, 
setzte  sich  nieder  und  lehrte  öffentlich,  also  dass  sehr  viel  Volkes 
ihm  allenthalben  nachlief.  Seine  Lehre  war  von  der  ausser  liehen 
Freiheit  wider  die  Obrigkeit  und  den  Adel.  Verteutschte  die  la- 
teinischen Responsorien ,   Messe  und  andere  Gesänge,   liess  auch 


in  Mühlhausen.  377 

teutsche  Messbücher  schreiben  und  drucken,  wie  ihrer  alhier  noch 
etliche  vorhanden  gewesen  sind  vor  wenig  Jahren. 

Donnerstag  nach  Luciae  früh  predigte  Pfeifer  zu  S.  Nicolaus. 
Da  liefen  viele  Bürger  hinaus.  Da  Hess  ein  Ehrb.  Rath  ausrufen, 
es  sollte  ein  jeder  Bürger  in  die  Meissnergasse  kommen  bei  Ge- 
horsam und  darin  bleiben  bis  ein  Ehrb.  Rath  komme.  Da  ist  ein 
Ehrb.  Rath  umgegangen  und  Befehl  gethan,  dass  die  Bürger  aufs 
Rathhaus  gingen,  und  hat  die  Thore  zuschliessen  lassen,  also  dass 
viel  Bürger  und  Bürgerinnen,  so  zur  Predigt  gegangen  waren,  die 
mussten  den  Tag  vor  dem  Thore  bleiben.  Und  die  andern  Bür- 
ger waren  auf  dem  Ralhhause  bis  auf  den  Freitag  zu  Abend.  Da 
zogen  sie  mit  3  Karren  Büchsen  zum  Frauenthore  hinaus,  machten 
Ordnung  auf  den  ßlobach,  aber  sie  wurden  unter  einander  uneins, 
und  kehreten  wieder  um  in  die  Stadt,  und  richteten  nichts  aus. 

Dieselbige  Nacht  um  1  Uhr  forderte  man  die  Bürger  wieder 
mit  der  besten  Wehre  aufs  Ralhhaus.  Da  berathschlagte  ein  Ehrb. 
Rath  die  Sache,  und  ward  ein  Rath  gefunden,  dass  man  dGn  Sonn- 
abend früh  den  Hauptmann  Eberhart  von  Bodungen  zu  dem  Hau- 
fen in  die  Vorstadt  zu  S.  Nicolaus  reiten  liesse.  Der  brachte  ein 
Geleit  aus,  und  ward  die  Sache  in  Handlung  genommen. 

Als  r.un  ein  Ehrb.  Rath  in  solcher  Gefahr  stand,  und  der 
Haufe  so  gross  und  gewaltig  worden  war,  der  dem  Pfeifer  und 
Allstedter  anhing,  dass  sie  nichts  wider  sie  vornehmen  durften, 
besorgte  sich  derselbe,  es  würde  zuletzt  übel  abgehen.  Denn 
die  Viertelsmänner  waren  mächtig,  und  die  ganze  Gemeine  hing 
ihnen  an  wider  den  Rath.  Darum  auch  nicht  allein  die  beiden 
Rathsmeister,  Rodemann  und  Wittich,  sondern  viel  mehr  Raths- 
herrn  und  Bürger  von  Tag  zu  Tag  aus  der  Stadt  wichen,  welchen 
zum  Theil  die  aufrührerischen  Räthe  vor  die  Häuser  gelaufen,  und 
die  Kinder  und  Weiber  nachgejagt.  Haben  derohalben  für  not- 
wendig bei  sich  erachtet  um  Rath  und  Hülfe  anzusuchen.  Haben 
derowegen  den  Rathsmeister  Barbet  Probst  an  den  Römischen 
Kaiserlichen  Statthalter  im  Reiche,  Ferdinandum,  hernachraals  an 
den  Römischen  Kaiser  und  König  abgefertigt,  solcher  gemeiner 
Stadt  Beschwerung  wegen,  welche  sie  wegen  der  Prediger  hatten 
müssen  leiden,  welche  sie  hier  bevor  Anno  1522  auf  Kaiserlicher 
Majestät  Befehl  aus  der  Stadt  geschafft,  und  sich  dieselben  ohne 
ihr  Wissen  und  Willen  nun  zum  andernmale  mit  einem  grossen 
Anhange  wieder  eingeschlichen.  Können  Ihrer  Kaiserlichen  Maje- 
stät zu  klagen,  Hülfe  und  Schutz  zu  bitten  keinen  Umgang  haben. 
Welcher  Rathsmeister  Probst  auch  etliche  Wochen  aussen  gewe- 
sen. Als  er  aber  an  den  Ort  kommen  ist,  dahin  er  Befehl  gehabt, 
und  der  Herr  Statthalter  aufgebrochen  und  ausser  dem  Lande 
verreiset  war,  ist  er  wieder  umgekehrt  und  unverrichteter  Sache 


378  Heinrick  Pfeifer  und  Thomas 

wieder  zu  Hause  gekommen,  da  es  ihm  auch  an  Gelde  gemangelt 
halle,  und  hat  nichts  ausgerichtet.  Dass  die  Herrn  des  Rathes, 
dieweil  die  Sacheu  immer  arger  geworden  waren,  gar  sehr  er- 
schrocken, und  des  äuserslen  Verderben  gewarten  müssen. 

1525-  In  den  Weibnachtsfeiertagen  im  Anfange  des  1535  Jah- 
res hat  der  aufrührerische  Haufe  die  Mönchs-  und  Nonnenklöster 
gestürmt,  die  Personen  herausgejagt,  zerschlagen  und  zerschmis- 
sen was  darinn  geweseu  ist,  und  daraus  genommen,  was  sie  darin 
funden.  Doch  hat  ein  Ehrb.  Rath  erwehret  mit  einem  Viertel,  dass 
das  Nonnenkloster  nicht  geplündert  worden  ist.  Und  hat  ein  Ehrb. 
Rath  viel  Geschmeide  daraus  aufs  Rathhaus  genommen,  und  welche 
Jungfrauen  gewollt,  die  bat  mau  bleiben  lassen,  und  im  Rebenthur 
versorget  mit  Essen  und  Trinken,  dass  sie  daselbst  beten  sollten, 
in  der  Kirche  aber  sollten  sie  gar  nichts  zu  thun  haben. 

Circumcisionis  haben  sie  die  Altäre  in  der  Kirche  Blasii  und 
in  den  Klöstern  eingerissen,  und  zu  S.  Blasii  einen  Altar  vor  das 
Chor  gesetzt,  welches  als  es  ein  Teutschherr  Caspar  Rudolf  ge- 
stritten und  einen  Tisch  haben  wollte,  nach  den  Worten  des  Tex- 
tes, darauf  man  das  Abendmal  solle  halten,  bat  er  weichen  müs- 
sen und  nicht  mehr  predigen  dürfen. 

Im  Predigerkloster  haben  sie  auch  die  Stühle  des  Hauptmanns 
Wenzel  Wolf  und  anderer  mehr  sammt  dem  Gewölbe  Böber  und 
dem  Chor  eingerissen  und  zerschlagen. 

Am  Tage  tri  um  Regum  rissen  sie  die  Rüder  und  den  Altar 
Unserer  lieben  Frauen  nieder  und  zerschlugen  sie.  Und  Herr  Jo- 
bann  Lauwe,  der  ein  Teutschherr  gewesen  war,  der  nahm  etliche 
Rüder  und  verbrannte  sie,  und  das  schöne  Vesperbild.  Da  ward 
in  der  Kirche  ein  Altar,  gleichwie  zu  S.  Blasii,  vor  das  Chor 
gesetzt. 

Sonnabends  nach  trium  Regum  warfen  sie  die  Schilde  und 
Helme  zum  Barfüsser  alle  nieder. 

Sonntags  nach  trium  Regum  predigte  einer  zu  S.  Blasii.  Da 
kamen  bei  60  Mann  von  S.  Nicolaus,  und  warfen  das  Marien- 
bild mit  dem  Engel  nieder.  Der  Prediger  musste  von  der  Kan- 
zel gehen. 

Dienstags  hernach  führte  man  die  Stühlchen  aus  dem  ßarfüs- 
serkloster  in  Unserer  lieben  Frauen  Kirche,  und- setzte  sie  darein, 
wie  sie  jetzund  darin  stehen.  Aber  sie  wurden  nach  Eroberung 
der  Stadt  wieder  ins  Kloster  geschafft,  und  hernach  bei  Justo 
Menio  anno  1542  wiederum  in  Unserer  lieben  Frauen  Kirche 
gesetzt. 

Vor  Fastnacht  ohngefähr  warfen  sie  Thomas  Münzer  zum  Pre- 
diger auf  zu  Unserer  lieben  Frauen.  Da  zog  er  auf  die  Pfarre. 
Da  mussten  die  Teulschherrn  weichen,  denn  es  hatte  ein  Ehrb. 


in  Mühlkauten.  379 

Rath  zuvor  neben  den  Achtmännern  viel  an  den  Landcommentur 
geschrieben  und  begehrt,  die  Kirche  mit  tauglichen,  christlichen 
Prädicanten  zu  versehen,  aber  der  Landcommentur  that  nichts  da« 
bei.  Der  Rath  und  die  Gemeine  wussten  hiervon  nichts,  denn 
die  von  S.  Nicolaus,  Peter  und  S.  Jörgen,  die  machten  den  Mün- 
zer zum  Pfarrer. 

Bald  in  der  Fasten  zogen  die  Bürger,  auch  der  Hauptmann 
mit  den  Reisigen  auf  das  Wendewerk.  Da  musterte  man  die  Bür- 
ger, und  Münzer  predigte  daselbst.  Darnach  liefen  sie  in  das 
Nonnenkloster,  zerschlugen  die  Zellen,  frassen  und  söffen,  und 
führten  ein  Fass  Bier  nach  dem  andern  zu  S.  Nicolaus. 

Diese  Zeit  waren  Ralhsmeister  er  Heinrich  Baumgarle  und  Jo- 
hann Heyge.  Da  begehrten  die  bei  Münzer  und  Pfeifer  waren, 
dass  sie  mit  zu  Regiment  sitzen  wollten,  und  suchten  sonst  viele 
andere  ungereimte  Dinge  mehr.  Darum  ein  Ehrb.  Rath  fast  drei 
ganze  Tage  mit  ihnen  in  der  Aller  Heiligen  Kirche  handelte.  Als 
ihnen  aber  ein  Ehrb.  Rath  solches  nicht  willigen  wollte  oder  konnte, 
haben  sie  begehrt  ein  ander  Regiment  zu  wählen.  Darauf  sind 
alle  Bürger  neben  dem  Rathe  auf  Donnerstag  nach  Reminiscere  in 
Unserer  lieben  Frauen  Kirche  gefordert  worden.  Da  ist  Pfeifer 
auf  den  Predigtsluhl  getreten  und  hat  gesagt:,  Es  hat  der  alte  Rath 
bewilligt,  man  solle  einen  neuen  Rath  wählen.  Darauf  ein  Bürger, 
Conrad  Peter,  den  Ralhsmeister  Heinrich  Baumgarten  auf  die  Ach- 
sel geschlagen  und  gesagt,  was  sagt  ihr  dazu.  Als  hat  der  Bür- 
germeister wider  Pfeifern  gesagt,  Herr,  der  Rath  hats  nicht  ge- 
willigt, sondern  wir  haben  gesagt,  da  es  eine  Gemeine  ja  so  haben 
wolle,  müssen  wir  es  geschehen  lassen.  Darauf  hat  man  einen 
jeden  insonderheit  gefragt,  ob  er  es  mit  dem  alten  Rathe  und  sei- 
nen Sachen  halten  wolle,  oder  ob  er  es  mit  einem  neuen  halten 
wolle.  Als  haben  viele  Bürger  und  der  grösste  Theit  aus  Unwis- 
senheit und  Bedrohung  den  neuen  Rath  bewilligt.  Etliche  aber 
haben  bei  dem  alten  Rathe  bleiben  wollen.  Da  nun  durch  4  Schrei- 
ber eines  jeden  Stimme  angezeigt,  ist  Pfeifer  auf  die  Kanzel  wie- 
der getreten,  und  hat  die  Namen  gelesen  und  gesagt,  man  befin- 
det, dass  wohl  dreimal  so  viel  sind,  die  zum  neuen  Rathe  willigen, 
als  die  zum  alten.  Und  sind  also  wieder  von  einander  gegangen. 
Man  sagt,  dass  der,  so  den  neuen  Rath  gewilligt,  sollen  elf  Schock 
seyn,  und  derer,  so  den  alten  Rath  bewilligt,  3  Schock  und  24  Per- 
sonen gewesen  seyen. 

Vom  ewigen  Rathe.    1525. 

Freitags  nach  Reminiscere  früh  sind  sie  aufs  Rathhaus  gegan- 
gen. Daselbst  haben  sie  den  alten  Rath  seiner  Aemter  entsetzt, 
die  ein  jeder  hat  müssen  den  zweien,  Münzern  und  Pfeifern  und 


380  Heinrich  Pfeifer  und  Thomas  Münzer 

den  Achtmännern  übergeben.  Und  haben  einen  neuen  Rath  der» 
massen  erwählet,  dass  der  ewig  seyn  und  heissen  sollte,  und  stets 
für  und  für  regieren  sollte,  und  keiner  daraus  erlassen  werden, 
er  sterbe  denn,  der  doch  nicht  ein  Vierteljahr  regiert  bat  und  sehr 
übel.  Denn  Null  um  violentum  perpetuum  esse  potest.  Und  sind 
folgende  die  Personen  desselben  gewesen,  welche  einestheils  Un- 
danks gewollet,  und  dazu  gedrungen  worden  sind. 

Montags  nach  Laetare  und  dieselbe  ganze  Woche  haben  sie 
in  dem  Barfüsserkloster  die  Messge wände,  Sammet,  Seide,  Perlen 
und  anderes  verkauft. 

Dieses  sind  die  Herrn  des  ewigen  Raths  gewesen:  Sebastian 
Künemundt,  Heinrich  Baumgart  der  jüngere,  beide  Ratbsmeister, 
Reinhard  Lamhart,  Johann  Belstedt,  Hans  Helmbold,  Claus  Tuch- 
scheerer,  Daniel  Beyer,  Härtung  Werten,  Heinrich  Ludewig,  Hein- 
rich Bernhard,  Simeon  Volckenandt,  Lips  Götzigerodt,  Curt  Griss- 
bach,  Ludewig  Sänne,  Cyliax  Wida,  Hans  Ruppel. 

Sobald  nun  der  neue  ewige  Rath  gewählet  worden  ist,  hat 
man  ausgerufen,  dass  jederman,  auch  Aller  Gesinde  demselben 
Gehorsam  thun  müsse,  und  hat  darauf  angefangen  und  teutscbe 
Messe  in  beiden  Kirchen  gebalten. 

Da  hat  Doctor  Johann  de  Otlera  öffentlich  gesagt,  er  hätte  die 
Gewaltigen  vom  Stuhle  gestossen  und  die  Niedrigen  erhöhet.  Welch 
ein  wunderbarlicher  Gott  ist  das!  Und  dieser  war  der  Schreiber 
einer,  der  die  Namen  verzeichnet,  welchen  Rath  ein  jeder  wäh- 
le te,  denn  es  waren  vier.  Und  viele  Namen  wurden  verzeichnet, 
als  hätten  sie  den  neuen  Rath  gewählt,  die  es  nicht  gethan  hatten. 
Und  der  Doctor  war  die  Zeit  und  zuvor  der  Stadt  Syndicus. 

Montags  nach  Quasimodogeniti  ist  ein  Bauer  von  Nordhausen 
in  Unserer  lieben  Frauen  Kirche  vor  allem  Volke  mit  Münzern 
und  Pfeifern  zum  Disputiren  kommen  über  die  Frage  von  dem 
Coinelio  in  Actis,  ob  ein  jeglicher  Mensch  damals  den  heiligen 
Geist  empfangen,  und  ob  auch  jetzo  ein  jeder  den  heiligen  Geist 
habe  oder  nicht.  Und  diese  Disputation  hat  gedauert  von  11  Uhr 
bis  zu  3  Uhr.  Etliche  haben  des  Bauern  gelacht,  etliche  haben  es 
mit  ihm  gehalten.  Aber  endlich  haben  sie  ihn  müssen  zur  Kirche 
hinausbringen,  sonst  wäre  er  mit  dem  Leben  von  dem  Haufen 
nicht  kommen.  Er  ist  den  Steinweg  hinabgegangen  nach  dem  Thore. 

Mittwoch  nach  Quasimodogeniti  zogen  Münzer  und  Pfeifer  aus 
der  Stadt  Mühlhausen  mit  400  Mann  allerlei  Volks  ohngefähr,  mit 
einem  weissen  Fähnlein,  darin  stand  ein  Regenbogen.  Sagten,  sie 
wollten  mustern.  Als  ihnen  aber  angezeigt  wird,  dass  zu  Salza  ein 
Auflauf  seyn  sollte,  zogen  sie  nach  Salza,  und  erboten  sich  den 
christlichen  Brüdern  zu  Hülfe  zu  kommen.  Aber  die  von  Salza 
dankten  ihnen,  und  verehrten  sie  mit  zwei  Fass  Bier;  die  tranken 


in  Mühlhausen.  381 

sie  auf  dem  Ritte  nach  Gottern,  und  blieben  die  Nacht  zu  Gon- 
ge da.  Donnerstag  nach  Quasimodogeniti  sind  sie  nach  Germar  ge- 
zogen, haben  daselbst  ein  Lager  auf  dem  Kirchhofe  gemacht,  und 
blieben  die  Nacht  alda. 

Freitags  früh  nach  Quasimodogeniti  zogen  sie  gen  Schlotheim. 
Da  liefen  viel  Buben  zu.  Da  stürmten  sie  das  Jungfraukloster,  dar- 
nach das  Junkernhaus.  Da  war  die  Edelfrau  im  Kindbette.  Die 
schütten  sie  aus  den  Tüchern,  nahmen  alle  Kleinodien,  und  was 
ihnen  diente,  und  zogen  fort  gen  Volckeroda,  thaten  auch  also,  und 
führten  den  Raub  gen  Germar.  Da  hatten  sie  eine  Küche  aufge- 
schlagen und  zwei  Zelte.  Als  sie  daselbst  die  Beute  auslheilen 
wollten,  sind  die  Eichsfelder  sehr  stark  auch  mit  acht  oder  neun 
Wagen  kommen,  darauf  gewesen  Speck,  Glocken,  Hausrath  und 
Geschmeide,  und  haben  angezeigt,  dass  sie  solches  auf  dem  Eichs- 
felde aus  den  Klöstern  genommen.  Da  hat  sie  der  Münzer  empfan- 
gen und  als  christliche  Brüder  gelobt,  und  zu  seinen  Brüdern  an- 
genommen. Und  ist  er  der  Münzer  sobald  auf  ein  Pferd  gesessen, 
und  hat  im  Felde  eine  Predigt  gethan,  und  nach  der  Predigt  den 
Raub  gleich  unter  die  Buben  von  Mühlhausen  und  dem  Eichsfelde 
ausgetheiit. 

Bei  diesem  Haufen  und  Zuge  sind  wenige  Bürger,  kein  Raths- 
herr  von  Mühlhausen  gewesen,  allein  einer,  Jost  Henneberg  genannt, 
der  zuvor  des  Rathes  Ausreuler  gewesen  ist.  Der  halte  auf  einem 
Morgen  vor  dem  Hauptmanne  hergeritten,  und  Hess  sich  einen 
Hauptmann  schelten.  Die  andern  sind  allerlei  zusammengelaufenes 
Volk  gewesen,  welches  dem  Pfeifer  und  Münzer  gefolgt,  und  auch 
zum  Theil  in  der  Stadt  bei  ihnen  gewesen. 

Er  Johann  Lauwe  ist  nicht  mit  diesen  Zweien  einig  gewesen, 
darum  ist  er  in  der  Stadt  blieben  und  hat  gepredigt,  aber  doch 
letztlich  aus  Furcht  aus  der  Stadt  kommen.  Aber  er  ist  wieder 
nach  der  Empörung  gefangen. 

Sonnabends  früh  sind  Pfeifer  und  Münzer  mit  ihrem  Volke, 
auch  der  Eichsfeldische  Haufe,  der  mit  einer  gelben  und  grünen 
Fahne  zu  ihnen  aufm  Ritte  zu  Germar  kommen  war,  nach  Ebe- 
leben  gezogen,  haben  daselbst  das  Schloss  geplündert,  zerrissen 
und  zerschlagen  was  sie  konnten,  den  Wein  ausgesoffen,  das  Korn 
auf  dem  Felde  aus  den  Gruben  gelangt,  die  Teiche  gefischet,  auch 
zu  Sussra  die  Nonnen  gestürmet,  geplündert,  item  das  Schloss  zu 
Almenhausen  und  andere  mehr.  Schickten  den  Raub  gen  Mühlhau- 
sen in  die  niedere  Pfarre,  viel  Wagen  voll  und  grosse  Haufen.  Da 
bat  der  neue  Rath  die  Bürger  gezwungen,  dem  Haufen  Bier  und 
Proviant  nachzufahren,  wohin  sie  zogen. 

Als  nun  der  Haufe  von  Ebeleben  wieder  auf  seyn  wollte,  haben 
sie  die  Gemeine  gehalten,  und  der  hat  Münzer  im  Ringe  angezeigt, 


382  Heinrich  Pfeifer  und  Themas  Münzer 

dass  sie  nach  Heiderungen  ins  Mansfeldische  Land  ziehen  wollten. 
Da  sind  etliche  Eichsfelder,  als  Hans  M  eh  aussen,  Hans  Stein,  Hans 
Kirchworbis  und  andere  mehr  hervorgetreten,  und  haben  um  Got- 
tes willen  gebeten,  man  wolle  mit  ihnen  auf  das  Eichsfeld  ziehen, 
und  sie  zuvor  von  der  bösen  Obrigkeit  erretten.  Denn  die  Edel- 
leute  waren  schon  in  Dingelstedt  gefallen ,  und  wollten  alle  armen 
Leute  ermorden,  wie  sie  ihnen  al bereit  viel  zu  Leide  gelhan  hat* 
ten.  Darum  wolle  man  ihnen  zu  Hülfe  kommen  und  sie  rächen. 
Denn  ehe  man  wieder  von  Heiderungen  käme,  waren  sie  alle  ver- 
loren. Damit  sie  Münzern  und  Pfeifern  bewegten,  dass  sie  die 
Spitzen  gewandt  nach  dem  Eichsfelde.  Dabei  haben  auch  etliche 
Grafen  und  Edelleute  gehalten,  welche  sie  auch  zu  Brüdern  ange- 
nommen haben. 

Dess  sind  sie  auf  Kula  und  folgends  auf  Orsel  gezogen.  Da 
sind  die  ältesten  Bauern  aus  Orsel  kommen  und  haben  sie  zu  Ga- 
ste gebeten ;  denn  sie  hatten  den  Edetleuten  und  den  Klöstern  alle 
Teiche  abgestochen,  und  die  firaupfanne  genommen,  und  dieselbe 
voll  Fische  gesotten,  dass  jederman  Fische  genug  hatte. 

Von  Orsel  nun  schrieben  Münzer  und  Pfeifer  nach  Heiligen- 
stadt, man  solle  ihnen  alle  Pfaffen  und  Edelleute,  die  sie  SiboUs- 
und  Nimrods  Geschlecht  nannten,  aus  der  Stadt  geben.  Da  schickte 
der  Rath  vier  Personen  zu  ihnen,  die  um  Bedenkzeit  baten,  aber 
sie  konnten  keine  erlangen,  sondern  zogen  mit  dem  Haufen  vor 
die  Stadt.  Da  wurden  die  Prädicanten  vor  den  Rath  gelassen. 
Und  begehrten  Münzer  und  Pfeifer  eine'Öration  zu  thun.  Die  ist 
ihm  gestaltet  worden,  in  der  Kirche  Mariae  zu  predigen.  Und  bat 
der  Rath  sie  mil  Bitten  und  Flehen  auch  erbeten,  dass  sie  die  ver- 
wirkte Strafe  sollten  erlassen  bekommen. 

Vor  diesem  Zuge  gen  Heiligenstadt  waren  die  Klöster  und 
Schlösser  als  Zella,  Beuern,  Anroda,  Teustenburg,  Worbis,  Scbar- 
fenstein,  Horburg,  Rifenstein  albereits  geplündert  und  verwüstet 
von  den  Eichsfeldern  und  ihren  Bauern.  Wie  auch  einer  das  Klo- 
ster Rifenstein,  Michael  Zimmermann  genannt,  angesteckt,  und 
das  Feuer  zu  Bortlof  dazu  geholt  hatte.  Als  aber  dieser  Haufe 
nichts  darin  fand,  steckten  sie  die  Gebäude  vollends  an,  hier  zehn 
dort  zehn,  allerlei  Volk,  wie  sie  unter  den  Haufen  waren. 

Darnach  zogen  sie  nach  Duderstadt.  Die  machten  auch  einen 
Bund  mit  ihnen,  dass  sie  wieder  abzogen. 

Dienstags  nach  Misericordias  sprach  Münzer  zu  dem  Haufen, 
ihm  wäre  im  Traume  angezeigt  er  sollte  nach  Aufgang  der  Sonne 
ziehen.  Da  verliefen  etliche  Hessen  und  Eichsfelder.  Er  aber  mit 
den  Andern  zog  wieder  nach  Mühlhausen,  und  ruhte  alda  einen  Tag. 

Auf  den  Donnerstag  früh  Hess  Münzer  die  Trommein  in  der 
Stadt  schlagen  und  ausrufen,  wer  mit  wollte  ziehen,  der  sollte  sich 


in  Mühlhausen.  383 

rüsten.  Aber  die  Bürger  wollten  nicht  mit  ihm,  ausser  etlicher),  die 
zogen  mit  ihm  mit  dem  Haufen  vor  Frankenhausen.  Da  lagerten  sie  sich 
in  das  Feld,  und  beratschlagten  sich  wie  sie  es  anfangen  wollten. 

Unter  der  Weile  dass  diese  vor  Frankenhausen  lagen,  zogen 
Hans  von  Berlepsch  von  Sebach  und  er  Apels  von  Ebeleben  Sohn 
vor  die  Stadt  Mühlhausen,  nahmen  ihnen  das  Vieh  in  dem  Felde. 
Da  folgten  die  Bürger  mit  Geschütz  nach  Sebach,  und  nah  mens 
ihnen  wieder,  und  wurden  zwei  von  Mühlhausen  und  drei  von  Se- 
bach erschlagen.  Beide  Junker  sammt  ihren  Dienern  und  Mannen 
ungefähr  in  die  dreissig  Person  wurden  gefänglich  in  die  Stadt  ge- 
führt und  darin  behalten,  bis  die  Fürsten  hineinzogen.  Hans  Koch, 
Hans  Axt  und  zwei  edle  Spiessbuben  wurden  auch  mit  gefangen. 

Als  nun  eben  die  Zeit  der  aufrührerischen  Buben  halben  der 
Landgraf  zu  Hessen,  auch  die  beiden  Chur-  und  Fürsten  zu  Sach- 
sen Gevattern  ihr  Kriegsvolk  zusammengehabt,  sind  sie  damit  auch 
nach  Frankenhausen  gezogen.  Alda  ist  der  Herzog  von  Braunschweig 
auch  zu  ihnen  gekommen,  haben  daselbst  auf  den  Montag  nach 
Cantaie  den  Münzerischen  Haufen  angegriffen,  unter  sie  geschossen 
und  denselben  Haufen  geschlagen,  also  dass  bei  700  auf  der  Wahl- 
statt blieben.  Und  haben  die  Stadt  Frankenhausen  eingenommen, 
und  haben  den  Münzer  darin  gefunden  und  gefangen  genommen, 
und  mit  sich  gen  Schlolheim  ins  Lager  geführt. 

Diese  und  die  folgenden  Tage  stürmte  man  heftig  in  der  Stadt 
Mühlhausen,  hütete  an  den  Thoren  und  wachte  auf  den  Thürmen. 
Denn  der  Fürsten  Reuter  ritten  im  Felde,  steckten  das  Dorf  Am- 
mera  an,  verbrannten  alle  Hauser  unter  der  Brücke,  nahmen  den 
von  Rissern  ihr  Vieh,  führte ns  ins  Lager  bei  Schlotheim.  Da  ge- 
schahen viele  Schüsse  von  den  Thürmen  und  Mauern. 

Die  ausgewichenen  beiden  Bürgermeister  Rodermann  und  Wit- 
tich waren  im  Lager  bei  den  Chur-  und  Fürsten,  alles,  wie  es  in 
der  Stadt  ergangen,  berichtend.  Darum  zogen  sie  mit  alle  ihrem 
Volke  von  Schlotheim  weg,  und  zogen  bei  Germar,  und  forderten 
von  der  Stadt  Mühlhausen  die  Aufrührer,  die  noch  darin  wären, 
auch  alles  derselben  Habe  und  Gut  zu  ihren  Händen,  doch  mit  Er- 
bietung dass  sie  der  Unschuldigen  Gut  und  Blut  nicht  begehrten, 
sondern  allein  die  Aufrührerischen,  derer  sie  in  der  Stadt  mächtig, 
strafen,  und  ein  Ehrb.  Regiment  wiederum  bestätigen  wollten. 

Darauf  wurden  Viele  in  der  Stadt  gewarnet,  und  ward  des 
Nachts  ein  Thor  geöffnet.  Da  machten  sich  viele  Bürger  mit  dem 
Pfeifer  und  andern  Pradicanten  in  der  Nacht  hinweg.  Meinelen 
sie  wollten  davon  kommen,  aber  sie  liefen  den  Feinden  mehren* 
theils  in  die  Hände.  Ihrer  waren  300.  Wurden  viele  zu  Eisenach 
mit  Pfeifern  gefangen  und  ins  Lager  bei  Germar  geführt.  Und  ih- 
rer wenige  kamen  davon. 


384  Heinrich  Pfeifer  und  Thomas  Münzer 

Des  Morgens  in  vigilia  ascensionis  hiess  man  alle  Bürger  auf 
den  Barfüsser  Kirchhof  kommen.  Da  Hess  man  ausrufen  durch 
Doclor  Johann  de  Ottera,  wer  mit  vor  Ebeleben  oder  anderswo 
unbezwungen  gewesen  wäre,  oder  anderswo  was  gethan,  das  er 
nicht  verantworten  könnte,  der  möchte  seines  Besten  gedenken,  da 
er  das  Leben  behalten  wolle.  Denn  es  wären  die  Fürsten  da,  die 
begehrten  dass  man  ihnen  die  Stadt  wollte  aussgeben.  Darum 
könnte  ein  Ehrb.  Rath  nicht  gut  seyn  vor  Schaden.  Wie  aber  der 
Doctor  solches  redete,  fing  einer  an,  Thilla  Gotter  genannt,  wie  aber 
die,  so  bei  Gehorsam  sind  geheissen  worden  etwas  zu  thun,  miU 
zuführen  und  anderes.  Als  der  Thilla  Gotter  diese  Worte  redete, 
sprach  einer  darauf,  da  kommt  er.  Da  meinten  sie  der  Haufe  käme, 
und  ward  ein  solch  Laufen,  dass  viele  die  Schuhe  und  Hüthe  da- 
liessen. Da  ward  ein  grosser  Auflauf  in  der  Stadt,  aber  die  Ur- 
heber waren  des  mehren  Theils  die  Nacht  zuvor  gewichen. 

Darnach  beschlossen  die  Herrn  in  grosser  Noth  und  Angst,  und 
Iie3sen  allen  Weibern  und  Jungfrauen  anzeigen,  dass  sie  sich  schick- 
ten, die  Jungfrauen  mit  Wermuthen-  Kränzlein  und  die  Frauen  in 
dem iith igen  Kleidern,  als  wenn  man  um  jemand  bitten  wollte.  Und 
sie  kamen  alle  zusammen  an  die  1200  Frauen  und  bei  300  Jung- 
frauen. Den  zeigte  man  an,  dass  sie  mit  einem  Bolen  in  der  Für- 
sten Lager  gehen,  und  mit  gefalteten  Händen  um  Gnade  bitten 
sollten.  Wie  dann  eine,  die  Urbachen  genannt,  der  ist  Befehl  ge- 
schehen das  Wort  zu  thun.  Nach  derselben  sollten  sie  sich  alle 
richten  und  halten.  Da  sind  sie  also  mit  grossem  erbärmlichem 
Zittern  des  Tages  Ascensionis  domini  in  das  Lager  kommen,  haben 
einen  Fussfall  gethan  und  um  Gnade  gebeten. 

Gleichergestalt  sind  auch  alle  Mannspersonen  jung  und  alt,  die 
nur  haben  gehen  können,  mit  blossen  Häuptern  und  barfuss  und 
mit  gefalteten  Händen  den  Fürsten  entgegen  gegangen  in  das  Feld, 
und  haben  um  Gnade  gebeten,  welche  alle  die  Reisigen  um  sie  ge- 
stellt und  alles  Geschütz  aufgerichtet,  aber  ihnen  doch  bald  mit 
glimpflicher  Antwort  begeguet,  und  sie  etwas  getröstet  haben.  Und 
als  der  Herzog  von  Braunschweig  bei  sie  reitet  und  sagt,  gebet 
doch  Platz,  da  fielen  sie  alle  auf  die  Knie  und  platzten  alle  mit 
den  Händen. 

Und  also  haben  sie  aus  Vertröstung  ihrer  Unschuld  sich,  ihre 
Weiber  und  Kinder,  Stadt  und  Habe  und  Gut  ihnen  den  Chur-  und 
Fürstlichen  Gnaden  und  Ungnaden  ergeben,  auch  das  man  von  ih- 
nen begehrt  nochmals  gewilligt,  allein  des  heiligen  Reiches  Gerech- 
tigkeit an  der  Stadt  vorbehalten.   Da  ward  der  Sühnebrief  gewilligt 

Darauf  sind  die  Chur-  und  Fürsten  am  Tage  Ascensionis  son- 
derlich auf  die  Zusage,  dass  sie  nur  die  Schuldigen  strafen  wollten, 
in  die  Stadt  Mühlhausen  hineingezogen.     Und   ein  grosser  Haufe 


in  Mühlhausen.  385 

Kriegesvolk,  sonderlich  die  Reisigen,  die  folgten  den  Fürsten  nach, 
und  lagerten  sich  in  die  besten  Bürgerhäuser.  Da  sind  die  Burger, 
die  znvor  entwichen  waren,  mit  den  Fürsten  eingezogen. 

Diese  sind  wieder  von  Chur-  und  Fürsten  in  ihre  Güter  ge- 
setzt, und  ist  jeder  man  geboten  sich  freundlich  gegen  sie  zu  hal- 
ten :  Christian  Rodemann,  Johann  Wiltich,  beide  Rathsmeister,  Curt 
Fleischhauwer,  Sebastian  Reis,  Heinrich  Helmsdorf,  Herrmann  Reiss, 
Hans  Hemsdorf,  Hans  Rukerodt,  Beriet  Probst,  Heinrich  Mohr,  Franz 
Spon,  Cyliax  Hunger,  Lorenz  Helmsdorf,  Curt  Sammann,  Assmus 
Ziegeler,  Johann  Rodemann,  Heinrich  Probst,  Herrmann  Hasse,  Mel- 
chior Ziegeler,  Hans  Dangsdorf,  Magister  Bartholomäus  Woltheim, 
Priester,  er  Johann  Fleischhauwer.  er  Bernhard  Rodemann,  er  Mi- 
chel Müller. 

Auf  den  Freitag  nach  Ascensionis  Hessen  die  Chur-  und  Für- 
sten ausrufen  in  der  Stadt  und  gebieten,  dass  ein  jeder  seine 
Wehre  auf  das  Ralhhaus  bringen  sollte,  wie  denn  Abends  zuvor 
auch  geboten  bei  Leibesstrafe.  Denn  wer  es  nicht  tbäte,  der 
sollte  Leib  und  Gut  verloren  haben.  Da  trug  ein  jeder  seinen 
Harnisch  und  Wehre  hinauf.  Das  Beste  nahm  der  Fürsten  Ge- 
sinde, das  Andere  blieb  zum  Tlieil  auf  dem  Ralhhause,  zum  Theil 
ward  es  den  Bürgern  wiedergegeben.  Desselbigen  Tages  um 
4  Uhr  gegen  Abend  Hessen  die  Fürsten  den  Schuster,  Jacob 
Schütze  genannt,  mit  dem  Schwerte  richten  auf  dem  Obermarkte. 
Auf  den  Sonnabend  Hessen  sie  alle  Bürger  auf  den  Obermarkt 
fordern  und  zeigeten  ihnen  an  der  Fürsten  Befehl. 

Sonntags  Exaudi  hielt  man  wieder  lateinische  Messe  in  der 
Stadt,  da  war  kein  Rath  in  der  Stadt. 

Montags  nach  Exaudi  gingen  die  Fürsten  alle  in  Unserer  lie- 
ben Frauen  Kirche.  Und  alle  Bürger,  so  in  der  Stadt  waren, 
und  die  Bauern,  so  auch  noch  in  der  Stadt  waren,  mussten  alle  in 
die  Kirche  gehen.  Da  Hessen  die  Fürsten  den  Vertrag  laut  des 
Sühnebriefes  ausrufen.  Darauf  mussten  sie  den  Fürsten  alle 
schwören.  Und  man  rief  bald  darauf  aus,  wer  etwas  zur  Beute 
von  Ebeleben  oder  anderswo,  auch  aus  den  Klöstern  bekommen 
hätte,  oder  gekauft,  der  solle  es  wiedergeben  bei  seinem  Eide. 

Es  folget  der  Eid  des  neuen  Ralhes.     , 

Den  durchlauchtigsten ,  hochgebornen  Fürsten  und  Herrn, 
Herrn  N.  N.,  unsern  gnädigsten  Herrn,  als  unsern  rechten  Schutz- 
herrn, geloben  und  schwören  wir  in  Römischer  Kaiserlicher  Ma- 
jestät und  Ihren  Churfürstlichen  Gnaden,  alle  und  jede  Sache  der 
Stadt  Mühlhausen,  die  einem  Rathe  daselbst  auszurichten  gebührt, 
zufördersl  Kaiserlicher  Majestät,  dem  heiligen  Reiche  und  Ihren 
Fürstlichen  Gnaden,  als  unsern  Erbschutzherrn,  und  der  Stadt 
Mühlhausen  zu  ihrem  Nutzen  und  Guten,  treulich  und  fleissig  nach 


386  Heinrich  Pfeifer  und  Thomas  Münzer 

unserm  besten  Verstandniss  verwahren,   förseyn  und  ausrichten 
zu  wollen.     Darin  keine  Gabe,  Freundschaft,  Liebe,  Gunst,  Vor- 
wandniss  oder  einiger  ungewöhnlicher  Vorlheil ,   noch  nichts  an- 
sehen) suchen,  ganz  in  keinem  Wege.    Dass  wir  auch  wollen  allem 
und  jedem  Kaiserlicher  Majestät,  Chur-  und  Fürsten  Gnaden  Ge- 
bot und    Verbot   gehorsam    und   gewärtig  seyn,    und    uns  daran 
nichts  hindern  lassen,  so  uns  auch  in  rechtlichen  Sachen  zu  han- 
deln gebührt,  dass  wir  alsdann  darin  nach  unserm  höchsten  Ver- 
standniss und  Gewissen  nach  beschriebenen  kaiserlichen   Rechten 
und  dieser  Stadt  löblichen  Statuten  und  Gewohnheiten  recht  ur- 
theilen  dem  Reichen  als  dem  Armen.     Und  ob  jemand  wäre,  der 
in  dieser  Stadt  einige  Empörung  fürnehme  oder  suchte,  oder  för- 
derte ,  dass  wir  denselben  oder  dieselben  von  Stunde  an  gefan- 
gen  nehmen    und  solche  Empörung  nach  unserm  höchsten  Ver- 
mögen  zerstören   und   trennen   wollen.     Und  ob  uns  solches  zn 
schwer    wäre,    an   die  Kaiserliche  Majestät  oder  an  unsern  Erb- 
schutzherrn dasselbe  gelangen  zu  lassen,  und  uns  alsdann  nach  der- 
selben Bescheid  halten  wollen,  treulich   und  ohne  alle  Gefährde, 
als  uns  Gott  helfe  und  sein  heiliges  Evangelium. 

Darauf  ist  auch  sobald  der  Gemeine  geboten,  dem  Rathe  von 
wegen  der  Chur-  und  Fürsten  bürgerliche  Pflichten  zu  thun  und 
Gehorsam  zu  leisten,  und  alles  zu  geben,  was  sie  von  Alters  vor 
dieser  Empörung  gegeben  haben.  Dafür  sie  sich  in  diesem  Auf- 
rühre gefreiet  und  mit  dem  vermeinten  ewigen  Rathe  vereiniget, 
ist  gänzlich  für  nichtig  und  aufgehoben  erklärt  worden. 

Auch  setzen  die  Chur-  und  Fürsten  sobald  einen  neuen  Schult- 
heissen,  Doctor  Johann  de  Ottera,  auf  den  Montag  nach  Trinitatis. 
Der  musste  ihnen  auch  sobald  schwören,  von  wegen  der  Chur- 
und  Fürsten  jederman  ewiglich  Recht  widerfahren  zu  lassen. 

Demnach  liessen  sie  4  Mann  mit  dem  Schwerte  auf  dem 
Obermarkte  richten,  mit  Namen  Herrmann  Holzapfel,  einen  Feld- 
hauplmann  von  Eisenach  und  einen  alten  Mann,  war  von  Allstedt, 
und  Kurt  Knieriem,  war  von  S.  Nicolaus.  Auch  liessen  sie  des 
Tages  die  beiden  Bürgermeister  des  ewigen  Rathes  greifen,  Ba- 
stian Künemund  und  Heinrich  Baumgarte  den  jüngeren.  Da  ward 
Künemund  um  Vesperzeit  auf  dem  Obermarkte  mit  dem  Schwerte 
gerichtet,  und  neben  den  andern  4  Mann  auf  dem  Kirchhofe  Un- 
serer lieben  Frauen  begraben.  Heinrich  Baumgarte  junior  ward 
gefänglich  gen  Rochlitz  geführt,  aber  doch  wieder  gen  Mühlhausen 
geschickt.  Da  musste  er  in  seinem  Hause  bis  an  seinen  Tod  ein 
Lager  halten. 

Im  Lager  bei  dem  Dorfe  Germar  sind  von  den  Gefangenen 
261  Personen  mit  dem  Schwerte  gerichtet  worden.  Dessgleichen 
süid!  aäch  Mlrazer   und  Pfeifer  dieselbe  Zeit  mü  dem  Schwerte 


in  Mühlhausen.  387 

gerichtet  worden ,  und  hernachends  gespiesset.  Und  ist  Münzer 
auf  den  Schadeberg  auf  die  Höhe  zur  linken  Hand,  wenn  man 
hinaufgehen  will,  und  Pfeifer  an  den  hohlen  Weg,  wenn  man 
hinunter  nach  Bolstadt  gehen  will,  gesetzt  worden. 

Dieselbe  Zeit  haben  die  Chuf-  und  Fürsten  auch  aller  gemei- 
ner Stadt  Silbergeschirr,  Vorralh  von  Getreide  zu  sich  genommen. 
Und  haben  ihnen  den  Chur  und  Fürsten  die  von  iMühlhausen  die 
aufgewandten  Kriegeskosten  und  den  Klöstern  und  denen  vom 
Adel  ihren  erlittenen  Schaden  erlegen  und  bezahlen  müssen.  Hier- 
über haben  auch  die  Chur-  und  Fürsten  die  Gerichte  der  Dörfer, 
die  zur  Stadt  gehörig,  mit  allem  ihrem  Einkommen  und  die  Be- 
stätigung des  Regiments  Alles  an  sich  genommen,  welches  auch  im 
selben  1525.  Jahre  Mittwochen  am  Abend  Ascensionis  domini  und 
die  folgenden  Tage  geschehen  ist. 

Da  nun  solches  Alles  geschehen,  liessen  die  Chur-  und  Für- 
sten durch  einen  von  Schönburg  in  der  ganzen  Stadt  ausrufen 
einen  öffentlichen  Frieden  und  Sicherheit  allen  Bürgern  und  Un- 
terthanen. 

Darauf  dann  viele  Unterthanen  von  den  Dörfern  mit  demjeni- 
gen, was  sie  in  die  Stadt  geflüchtet,  wiederum  zu  Hause  gezogen. 
Denselben  wurden  auch  Friedebriefe  gegeben,  darin  der  Fürsten 
Wappen  gemalet.  Die  schlugen  sie  öffentlich  an  ihre  Thore  an 
den  Vorhöfen.  Sie  wollten  also  ferner  unbeschädigt  bleiben. 
Aber  diesem  allen  ungeachtet  haben  die  Eichsfetdischen  Edelleute 
und  andere,  so  auf  dem  Schlosse  Rüste  gelegen,  derer  Hauptmann 
Hans  von  Nungeroda  gewesen,  und  mit  ihm  der  Vogt  Matthäus 
Huneborn  und  der  Probst  zu  Amroda,  Arnold. Luckant,  auch  der 
geistliche  Mönch  und  Daniel  der  schwarze  Mönch,  Matthias  zu 
Rifenstein  den  armen  Leuten  ihren  Jammer  gemehrt,  und  grossen 
Muthwülen  mit  ihnen  gelrieben.  Denn  erstlich  haben  sie  einem 
Ehrb.  Rathe  zu  Mühlhausen  zwei  Warten,  als  den  Ziegenrain  und 
den  Eichel  ausgebrannt  und  zerstört. 

Darnach  haben  sie  das  Vieh  zu  Dörna,  Holmbach  und  Leng 
feld  alle  genommen  und  hinweggetrieben,  die  Kirchen  beraubt 
und  die  Häuser  geplündert.  Letztlich  haben  sie  das  Dorf  ange- 
zündet und  dergestalt  erbärmlich  verbrannt,  dass  zuletzt  zu  Dörna 
nicht  mehr  als  zwei  Häuser  blieben  Zu  Holmbach  brannten  sie 
die  Kirche  hinweg,  blieben  auch  gar  wenige  Häuser  daselbst. 
Der  Vogt  Matthäus  Huneborn  auf  dem  Scharfenstein  sagte  zu 
Lengefeld  zu  den  armen  Leuten,  als  sie  auf  dem  Kirchhofe  sassen, 
seid  ihr  noch  Martinisch?  Wir  wollen  euch  lutherischen  Buben 
jetzt  lehren.  Darauf  ist  er  in  die  Kirche  gefallen,  hat  dieselbe  be- 
raubt und  das  Dorf  angesteckt. 

Dieser  Schade,  welcher  von  den  Eichsfeldern  geschehen  ist, 


388  Heinrich  Pfeifer  und  Thomas  Münzer 

ist  an  21000  R.  allein  geachtet  worden.  So  bat  zuvor  Karsten  von 
Schmalslieg  und  der  von  Bauerbing  mit  dem  einen  Auge  und  die 
Hessischen  das  Dorf  Eurcden  geplündert,  und  gar  in  Grund  hin- 
weggebrannt, dass  nicht  ein  Haus  daselbst  geblieben  ist. 

Als  nun  die  letzten  Feuer  zu  «Dörna,  Lengefeld  und  Holmbach 
von  den  Thürmen  in  der  Stadt  gemeldet  worden,  und  es  die  im 
Lager  gesehen,  haben  sie  etliche  Reuter  zu  den  Eichsfeldern  ab- 
gefertigt, die  ihnen  angezeigt,  es  wäre  im  Frieden  bedinget,  sie 
sollten  nicht  brennen.  Darauf  sie  mit  einander  ins  Lager  geritten. 
Da  nun  die  armen  Leute  solchen  grossen  Schaden,  der  ihnen  im 
Friedstande  zugefüget,  beweinten  und  dem  Herzoge  von  Braun- 
schweig klagten,  thal  dieser  eine  gnädige  Fürbitte  für  sie  gegen 
die  Einspänniger ,  dass  sie  ihnen  einen  Theil  ihres  Viehes  sollten 
wiedergeben. 

Unterdessen  haben  die  Chur-  und  Fürsten  in  der  Stadt  mit 
den  betrübten  Leuten  die  Dinge,  im  Sühnebriefe  bewilligt,  vor  die 
Hand  genommen,  und  versprochen,  demselben  Folge  zu  thuo. 
Und  ist  die  Summe  und  der  Inhalt  desselbeu  Sühnebriefes,  dar- 
über der  Ralh  einen  Revers  hat  geben  müssen,  ohngefähr  dieser 
folgenden  Gestalt  gewesen. 

Es  waren  darin  die  von  Mühlhausen  beschuldigt,  dass  sie 
aller  Empörung  und  Aufwiegelung  im  Lande  zu  Thüringen  Ursache 
gegeben,  dass  sie  andere  an  sich  gehangen,  Kirchen,  Klöster, 
Dörfer,  Städte,  Edelleute  beraubt,  geplündert,  verbrannt  hätten, 
mit  800  Mann  zu  Felde  gezogen  seyen,  alle  Obrigkeit  hätten  ver- 
treiben wollen,  alles  in  vermeintem,  bösem,  evangelischem  Schein, 
wider  die  Kaiserliche  Majestät  und  des  heiligen  Reiches  Landfrie- 
den, alles  Recht  und  Billigkeit,  dadurch  sie  sich  aus  dem  Frieden 
in  Unfrieden  gesetzt,  Leib  und  Gut  verwirkt  hätten.  Dadurch  sie 
die  Chur-  und  Fürsten  bewegt,  mit  Heereskraft  sie  zu  überziehen 
und  zu  strafen.  Jedoch  hätten  sie  dieselben  durch  ihr  Bekennt- 
niss  und  Bitten  sje,  ihren  Leib,  Habe  und  Gut  zu  Gnaden  und 
Ungnaden  aufzunehmen  bewegt,  und  ferner  ihrem  Verdienst 
nach  zu  strafen. 

Erstlich  soll  der  Kaiserlichen  Majestät  und  dem  heiligen  Reiche 
an  ihrer  Hoheit  und  Obrigkeit  nichts  entzogen,  noch  sie  aus  den 
Reichspflichten  gedrungen  sein. 

2.  Es  sollen  von  denen  von  Mühlhausen  alle  Klöster  und 
Pfarrkirchen  Ziemlichermassen  auf  Herzog  Georgs,  dem  das  erste 
Jahr  die  Verwaltung  gewilligt,  Befehl  wiederum  angerichtet  werden. 

3.  Es  sollen  auch  alle  Güter, so  aus  fremden  Dörfern,  Klöstern  und 
Häusern  in  die  Stadt  gebracht  worden  sind ,  deu  Chur-  und  Fürsten  zu- 
gestellt werden,  um  dieselben  ihren  Eigenthümern  zurück  zu  geben. 

4.  Sie  sollen  auch,  um  Gottes  Zorn  zu  versöhnen,  ein  Hospi- 


in  Mühlhausen.  389 

tal  für  12  arme  alte  Leute  aufrichten,  und  dasselbe  für  ewige 
Zeiten  unterhalten.  Die  Fürsten  wollen  einen  Hospitalsmeisler  dar- 
über setzen. 

5.  Ein  jeder  vom  Adel  soll  was  er  verloren  verzeichnet  über- 
geben. Dasselbe  soll  in  der  Stadt  gesucht  werden,  und  wenn  es 
gefunden  wird,  einem  jeden  zugestellt  werden,  dem  es  gebührt. 
Wenn  es  aber  nicht  gefunden  wird,  soll  es  auf  Weisung  der 
Chur-  und  Fürstenräthe  von  denen  von  Mühlhausen  bezahlt  wer- 
den. Jedoch  weil  die  von  Mühlhausen  nicht  alles  bezahlen  kön- 
nen, so  soll  der  Adel  von  seinen  eigenen  Dörfern,  die  ihn  haben 
beschädigen  helfen,  für  seinen  Schaden  Abtrag  nehmen.  Was 
ihnen  alsdann  mangelt,  sollen  die  zu  Mühlhausen  bezahlen,  jedoch 
dass  die  vom  Adel  wegen  ihres  Schadens  den  Richtern  Macht 
geben. 

6.  Es  sollen  die  Gewichenen  und  welche  bei  den  aufrühreri- 
schen Haufen  nicht  haben  seyn  wollen,  wieder  fn  die  Stadt  auf- 
genommen, und  ihnen  das  Ihre  wiedererstattet  werden,  und  sie 
sollen  unbelastigt  geduldet  werden. 

7.  Es  sollen  die  Dörfer  derer  von  Mühlhausen  den  Chur  -  und 
Fürsten  für  die  Kriegeskosten  wiederkaufsweise  eingeräumt  wer- 
den, dass  sie  dieselben  für  8000  fl.  wieder  lösen  mögen,  jedoch 
sollen  ihnen  die  Stadt  und  die  Dörfer  nichts  weniger  mit  Schutz- 
geld folgen,  zur  Oeffnung  und  Hülfe  ewiglich  verpflichtet  seyn. 

8.  Es  sollen  auch  den  Weibern  der  Männer,  welche  in  diesem 
Heerzuge  entlaufen,  gewichen  oder  losgegeben  sind,  aus  Gnade 
die  Güter,  welche  sie  von  ihren  Männern  oder  ihren  Aeltern  ha- 
ben, sammt  ihren  Kindern  zur  Hälfte  bleiben.  Die  andere  Hälfte 
soll  den  Fürsten  und  den  vom  Adel,  sofern  sie  hinreichen,  zur 
Befriedigung  ihres  Schadens,  zugestellt  werden.  Die  Weiber  aber 
der  Männer,  welche  entwichen,  aber  nicht  gefangen  und  gerichtet 
worden  sind,  sollen,  um  künftigem  Unrath  zuvorzukommen,  aus 
der  Stadt  gewiesen,  und  ohne  der  Fürsten  Wissen  nicht  darin 
gelassen  werden. 

9.  Es  sollen  auch  die  Festungen  an  der  Stadt,  damit  sich  die 
Fürsten  nicht  Uebels  davon  ferner  zu  versehen  haben,  zerbrochen 
werden,  und  ohne  ihre  Bewilligung  nicht  wieder  aufgebauet 
werden. 

10.  Es  soll  der  ewige  Rath  entsetzt  werden,  und  ein  anderer 
Rath  aus  den  Personen,  welche  der  Aufrührerischen  halber  gewi- 
chen sind,  erwählt.  Auch  soll  ein  neuer  Schullheiss  geordnet 
werden,  welcher  in  der  Römischen  Kaiserlichen  Majestät  und  der 
Fürsten  Namen  alle  Gerichte  und  Rechte  verwahren  soll  nach 
ewigem  Stadtrechte. 

11.  Es  soll  alle  Jahre  der  Rath  durch  der  Fürsten  einen  be- 

26 


390  Heinrich  Pfeifer  und  Thomas  Münzer 

slätigt  werden,  auch  gute  Ordnung  nach  allem  Herkommen  and 
der  Fürsten  Gefallen  gemacht  werden. 

12.  Es  sollen  in  beschwerlichen  vorfallenden  Sachen  die  Rä- 
the  aller  drei  Fürsten  zusammen  sich  berathen  und  dieselben  ent- 
scheiden. 

13.  Es  soll  auch  der  Rath  alle  Gefalle  in  der  Stadt  und  in  dem 
Weichbilde  ausser  dem  Gebiete  der  Stadt,  in  den  Dörfern  hl  Zeit 
des  Wiederkaufes  einnehmen  und  die  Stadt  davon  erhalten. 

14.  Es  soll  ein  Ehtb.  Rath  alle  Jahre  ewiglich  jedem  der  drei 
Fürsten  300  fl.  Schutzgeld  geben  auf  Weihnachten. 

15.  Es  soll  ein  Ehrb.  Rath  die  Rathschläge  des  Reichs,  wo  sie 
nicht  erbeten  sind,  für  sich  allein  geben. 

16.  Es  sollen  die  von  Mühlhausen  den  Fürsten  mit  höchster 
Macht  auf  ihr  Erfordern  dienen,  Hülfe,  Rath  und  Beistand  auf  ihre 
Kosten  thun,  auch  soll  die  Oeffnung  der  Fürsten  in  allen  Nöthen 
wider  jedermann,  die  Kaiserliche  Majestät  ausgenommen,  freistehen. 

Hierauf  haben  die  Chur-  und  Fürsten  die  von  Mühlhausen  in 
ihren  Schulz  und  ihre  Verlheidigung  genommen,  ewiglich  darin 
zu  bleiben,  sich  davon  keinerlei  Weise  absolviren  zu  lassen,  und 
diesen  Sühnebrief,  so  oft  ein  Fürst  an  das  Regiment  treten  würde, 
zu  beschwören.    Gegeben  den  Montag  nach  Exaudi  1525  im  Felde. 

Ueber  diess  hat  ein  Ehrb.  Rath  die  Plünderung,  damit  die 
Bürger  davon  verschonet  blieben,  mit  40000  fl.  abgekauft,  und 
sich  gegen  die  Chur-  und  Fürsten  verschrieben,  denselben  zehn 
Tausend  auf  Trinitatis,  zehn  Tausend  auf  Weihnachten  und  die 
folgenden  vier  Jahre  jedes  zu  Weihnachten  vier  Tausend  zu  be- 
zahlen. Dazu  sollten  auch  die  Dörfer,  die  mit  der  Stadt  gewesen, 
nach  der  Leute  Vermögen,  beitragen.  Zugleich  sollten  sie,  bis  im 
Jahre  1531  die  40000  fl.  bezahlt  seyen,  auch  die  900  fl.  Schutzgeld 
geben.  Und  diese  Verschreibung  bat  der  Rath  Montags  nach  Ex- 
audi auch  geben  müssen. 

Ueber  diess  Alles  haben  die  Chur-  und  Fürsten  folgenden  Ta- 
ges alle  das  Geschütz  der  Stadt  mit  und  ohne  Radern,  welches 
von  einem  grossen  Werthe  war,  mit  aller  Zugehörung  und  Muni- 
tion (die  eine  Büchse  war  so  gross,  dass  ein  Kind  von  12  Jahren 
darin  sitzen  konnte)  aus  der  Sladt  hin  wegfahren  lassen  sammt  der 
Bürger  Büchsen. 

Auch  Hessen  sie  der  Stadt  heimliches  verborgenes  Gemach 
öffnen,  nahmen  alle  verborgenen  Schätze  von  Kleinod,  Silber,  Gold 
und  baarem  Gelde,  item  allen  Vorrath  an  Getraide,  Wein  und 
Bier,  und  die  Wildgarne,  und  alle  die  Pferde  aus  dem  Marslalle, 
und  allen  Vorrath.  Darnach  haben  sie  dem  Rathe  den  Wall  und 
die  Festung  eingerissen  mit  der  Bauern  Hülfe,  und  befohlen,  dass 
es  noch  vor  Trinitatis  geschehen  sollte. 


in  Mühlhausen.  391 

Aber  diesem  allem  ungeachtet  haben  die  vom  Adel,  welche 
mit  den  Fürsten  in  die  Stadt  gekommen  waren,  viele  der  statt- 
lichsten und  reichsten  Bürger,  derselben  Kinder  als  unschuldige 
Leute,  über  alles  Bedrangniss,  so  sie  ihnen  in  der  Stadt  in  ihren 
Häusern  zugefügt,  noch  gefänglich  angenommen,  mit  sich  aus  der 
Stadt  geführt  und  zum  höchsten  geschätzt,  auch  etliche  im  Ge- 
fängnisse sterben  lassen. 

Als  nun  solches  Alles  also  in  der  Stadt  verrichtet  ward,  zo- 
gen die  Fürsten  wieder,  ab.  Bald  hernach  schickten  die  Fürsten 
40  Landsknechte  in  die  Stadt  zurück,  und  Hessen  demBathe,  den 
sie  bestätigt  hatten,  anzeigen,  dass  sie  Donnerstags  nach  Pfingsten 
etliche  Bürger  gefänglich  annehmen  würden.  Die  sassen  bis  auf 
den  Freitag  nach  corporis  Christi.  Da  führte  man  ihrer  zwanzig 
auf  zwei  Wagen  hinter  Höngeda.  Daselbst  liess  sie  der  Haupt- 
mann von  Salza,  Hans  von  ßerlepscb  alle  enthaupten,  und  liess 
sie  in  Höngeda  begraben.  Es  waren  aber  diese  armen  Menschen 
zum  Theil  gar  einfältige  Leute.  Die  Namen  der  Enthaupteten  sind: 
Lips  Görzingerodt,  Barlhel  Olleutter,  Daniel  Beyer,  Ludwig  Kule, 
Karsten  Schickel,  Claus  Fulstich,  Hans  Widemiiller,  Heinz  Schu- 
chart,  Claus  Heyger,  Curt  Schmid ,  Herrmann  Gera,  Curt  Kiste- 
macher, Hans  Spon,  Ernst  Stutzer,  Claus  Ackermann,  Barlhel  Detzel, 
Vitt  Becke,  Hans  Heimknecht,  ein  Bauer  von  Heilingen  und  noch 
einer.    Golt  sey  ihnen  allen  gnädig  1 

Es  hatten  auch  die  Fürsten  dem  Bathe  die  Gnade  gelhan, 
laut  des  Sühnebriefes,  dass  ihnen  die  Dörfer  und  auch  dieVogtei, 
dieweil  die  Männer  in  der  Vogtei  ja  so  aufrührerisch  gewesen  als 
andere,  zur  Erlegung  der  40000  fl.  beisteuern  sollten.  Es  haben 
sich  aber  dabei  nicht  allein  die  Vogteier,  sondern  auch  die  Män- 
ner im  Gerichte,  welche  den  wenigsten  Schaden  erlitten  hatten, 
etwas  dazu  zu  geben  einem  Ehrb  Bathe,  weil  sie  nun  unter  die 
Fürsten  gekommen,  ganz  widersetzig  erzeigt,  bis  sie  durch  der 
Fürsten  ernsten  Befehl  dazu  gezwungen  wurden. 

Nachdem  etliche  vom  Adel,  so  hier  unten  benannt,  auf  Scha- 
denersatz bestanden  haben,  ohne  dass  ihr  Habe  und  Gut  in  der 
nächsten  Empörung  von  denen  zu  Mühlhausen  und  ihren.  Helfern 
beschädigt  worden  wäre,  haben  doch  die  von  Mühlhausen  den- 
selben zu  leisten  bewilligt  auf  Weisung  der  durchlauchtigen  und 
hochgebornen  Fürsten  und  Herrn,  Herrn  Johann  Friedrich  Chur- 
fürsten  und  Herrn  Jörge,  Gevatter,  Herzog  zu  Sachsen  und  des 
Landgrafen  in  Hessen  und  Markgrafen  zu  Katzenellenbogen,  Ditz, 
Ziegenhain,  Nidda,  oder  allerseits  ihrer  churfürstlichen  Gnaden 
Rathe  in  Salza  und  in  Gestalt  des  aufgerichteten  Sühnebriefes. 
Hierauf  dieselbigen  von  Adel  den  empfangenen  Schaden  vermit- 
telst ihres  Eides  sämmtlich  auf  63444  fl.  angegeben  haben,  und 

26* 


392  Heinrich  Pfeifer  und  Thomas  Münzer 

zu  Unterhändlern  die  gnädigen  Herrn  Friedrich  von  Tonna,  Ritter 
Johann  von  der  Sachsen,  Doctor  Christofel  von  Taubenheim,  Amt- 
mann zu  Freiburg,  Doctor  Jörge  von  Breitenbach,  und  Ordinarius 
Jacob  von  Taubenheim,    und  Jacob  von  Grünberg,   Landvoigt  an 
der  Warra,   bestellt.     Nach   raanchfaltiger  Unterhandlung  mit  ge- 
dachten vom  Adel  haben  die  von  Mühlhausen  erbalten,   dass  feie 
für  allen  zugefügten  Schaden,  für  ihre  Kinder  und  Gesinde,  über 
das  sie  von  ihren  Leuten  bekommen  möchten,  sämmtlich  24458  0. 
zu  nehmen  bewilligt.     Demnach  haben  Bürgermeister,   Rath  und 
Käthe  und  die  ganze  Gemeinde  der  Stadt  Mühlhausen  für  sich  und 
ihre  Nachkommen  zugesagt  und  versprochen,  den  vom  Adel  solche 
24458  fl.  zu  entrichten  wie  folgt:  Apeln  und  Jörgen  von  E beleben 
5416  fl.,  Rudolf  von  Hopfgarten  2300  fl.,  Hans  von  Berlepscb  2108  0., 
Melchior  von  Schlotheim  3077  fl.,   Johann    von  Kotzleben  186%  fl.» 
Erhart  von  Kotzleben  6414  fl. ,  Jörge  von  Kotzleben  517  fl.,  Jost's 
von  Kotzleben  Wittwe  293%  fl,  Eichsfeldern -Siefert  von  Bulsings- 
leben  500  fl.,  der  Frau  von  Winzigerode  150  fl.,  Rudolf  von  Bol- 
singsieben  der  allere  500  fl.,  Heinrich  von  Bulsingsleben  dem  altera 
200  fl.,  Heinrich  und  Rudolf  von  Bulsingsleben  den  jungem  1000  fl., 
Friedrich    und  Jörge   von  Winzigerode   und  Heinrichs  gelassenen 
Erben  2039  fl.,  Jobsts  von  Böneburg  Weibe  50  fl.,  Ernst  und  Hans 
Wiudolt  1002  fl,  Nickelheisen  30  fl.,  Hans  von  Gutzenborg  360 fl., 
Hans  von  Haine  1518  fl.,   Thilla  von  Westerhagen  105  fl.,   Arnold 
von  Westerhagen   56%  fl.,   der  Knorn  250  fl.,   Bernhard  von  We- 
sterhagen 70  fl.,  Allen  vom  Hause  Westerhagen  1200  fl.,  Ernst  von 
Westerhagen  1030  fl.,    Heinrich  Meisse  200  fl.,   item  330  fl.,   Otto 
von  Westerhagen  15  fl.     Weiches  alles  thut  in  Summa  24458  fl. 

Solche  Summe  Geldes  sollen  und  wollen  die  von  Mühlhausen 
Obgedachten  von  Adel  oder  ihren  Erben  auf  vier  Tageszeiten  er- 
legen, nämlich  allewege  den  vierten  Theil  jeglichem  nach  seiner 
Vorschreibung  der  Summe,  und  auf  nächstes  Martini  damit  anhe- 
ben ,  und  die  folgenden  Jahre  zu  Martini  fortfahren  bis  gemeldete 
Summe  ohne  Verzug,  Eintrag,  Schaden,  Verhinderniss  alhier  zu 
Mühlhausen  in  guter  Fürstenmünze,  21  Gr.  für  den  Gulden,  be- 
zahlt und  entrichtet  ist.  Begäbe  sichs  aber,  dass  die  von  Mühl- 
hausen an  solcher  Summe  oder  Bezahlung  säumig  würden,  so 
sie  bewilligt  die  Busse  vor  hochgedachten  unsern  gnädigsten  und 
ungnädigsten  Herrn,  welcher  unter  ihren  churfürstlicben  Gnaden 
auf  die  Zeit  das  Regiment  haben  würde,  über  die  vorige  und  un- 
bezahlte Summe  zu  gedulden,  inmassen  sie  ohnediess  solches  zu 
thun  schuldig.  Welches  von  allen  Theilen  also  bewilligt  und  an- 
genommen, auch  stets  und  fest  zu  halten  zugesagt.  Dessen  zu 
Urkunde  haben  wir  obgenannte  Rath  und  Räthe  die  Schuldbriefe 
mit  unserm  angebornen  Pitscbaft  besiegelt,  und  wir  Bürgermeister 


in  Mühlhausen.  393 

und  Rath  und  Käthe  und  ganze  Gemeine  zu  Mühlhausen  haben 
mit  Wissen  und  Willen  gemeines  Stadtsiegel  hier  an  diesen  Brief 
hangen  lassen.  Geschehen  zu  Mühlhausen  Freitags  nach  Oculi, 
nach  Christi  unseres  lieben  Herrn  Geburt  im  Jahre  1526. 

Der  Prediger  Johann  Lauwe  und  die  Vornehmsten  der  acht 
Mann,  Dietrich  Weissmaler  und  Michel  Koch  und  viele  der  Haupt, 
urheber  waren  davon  gekommen,  und  hielten  sich  hin  und  wieder 
heimlich.  Darum  schrieb  ein  Ehrb.  Rath  an  viele  Oerler,  ob  man 
sie  zu  Gefängniss  bringen  könnte,  wie  dann  auch  an  vielen  Or- 
ten geschah. 

Auf  Catharinae  1526  ist  der  aufrührerische  Prediger  Johann 
Lauwe  und  des  Pfeifers  Bruder  zu  Erfurt  gefänglich  eingezogen 
worden.  Aber  der  Rath  zu  Erfurt  hat  sich  gar  unfreundlich  gegen 
den  Rath  zu  Mühlhausen  erzeigt,  bis  die  Fürsten  geschrieben  und 
die  Tortur  erlangt  haben,  darin  sie  folgendes  Bekenntniss  gelhan 
im  Beiseyn  Sittich  von  Berlepsch,  Amtmanns  zu  Salza  und  Fabian 
Löwen,  Schöffers  zu  Gotha,  neben  eines  Ehrb.  Raths  alliier  gege- 
benen Commissarien  Donnerstags  vor  Trium  regum. 

Bekenntniss  des  Johann  Lauwe.  Johann  Lauwe  sagte,  er  habe 
gepredigt,  die  Fürsten  und  Herrn  seyen  G'änselöffel,  Thilltappen, 
Schindhunde;  darum  solle  man  ihnen  nicht  gehorsam  seyn.  Und 
das  habe  er  darum  gethan,  weil  er  gesehen  dass  das  Volk  einen 
Gefalleu  daran  hatte.  —  Die  Bilder  habe  er  heissen  zerschlagen, 
dieweil  die  heilige  Schrift  verbiete  die  Bilder  anzurufen.  —  Er  habe 
gepredigt,  dass  alle  Güter  gemein  wären,  denn  er  hoffte  auch  et- 
was davon  zu  bekommen,  jedoch  habe  er  solches  nicht  vom  Be- 
sitz verstanden,  denn  Gott  habe  Abraham  ein  Land,  Jacob  das  an- 
dere zu  besitzen  gegeben.  —  Er  habe  gepredigt,  dass  er  drei  gute 
Werke  zu  Mühlhausen  ausgerichtet  habe,  dass  er  die  teufelische 
Messe  abgeschafft,  die  Bilder  zerschlagen  heissen,  und  das  Frauen- 
haus zugethan  habe.  —  Er  habe  gesagt,  man  solle  den  Reichen  die 
Heiligen  aus  den  Kasten  langen,  weil  er  hoffte  auch  etwas  davon 
zu  bekommen.  —  Er  sagte,  er  sey  in  Münzers  Verbindnisse  nicht 
mit  gewesen.  —  Er  sey  darum  gewichen,  weil  er  besorgt  habe, 
man  würde  sein  Antworten  nicht  hören. 

Bekenntniss  Jörge  Pfeifers. 

Jörge  Pfeifer  bat  bekannt,  dass  er  auf  das  Fest  der  Wurzel- 
weibe einen  Busch  von  Disteln  und  Dornen  in  der  Kirche  gelragen 
habe,  als  das  Volk  sey  zum  Nachtmale  gegangen.  —  Er  habe  das 
alte  Regiment  helfen  absetzen.  —Er  habe  zu  Ebeleben  und  in  der 
Umgegend  wider  die  Messbilder  und  die  heimliche  Ohrenbeichle  ge- 
predigt; das  sey  ihm  von  Apeln  zu  Ebeleben  verboten  worden.  — 
Er  habe  gelehrt,  man  solle  weder  Zins  noch  Rente  der  Obrigkeit 


394  Allgemeine  Literaturberichte. 

geben,  denn  sein  Bruder,  Heinrich  Pfeifer,  habe  es  ihm  geheissen. 
Er  wisse  wohl,  ob  es  gut  oder  böse  sey. 

Dieweil  aber  zu  Erfurt  viele  Bürger  waren,  die  ihm  anhingen, 
kam  es  dahin,  dass  der  Lauwe  von  Herzog  Jörgen  gen  Eckarts- 
bergen geschickt  ward,  wo  er  aus  dem  Gefängniss  brach;  aber  der 
andere  Jörge  Pfeifer  ward  wieder  losgegeben. 


Allgemeine  Literaturberichte. 


Deutschland. 

Denkmale  des  Landes  Paderborn  (Monumenta  Paderbomensia)  an  Per. 
dinand  Freiherrn  von  Fürstenberg,  Fürstbischof  von  Paderborn  und  Mün- 
ster. Aus  dem  Lateinischen  übersetzt  und  mit  einer  Biographie  des  Ver- 
fassers, mit  Erläuterungen,  Zusätzen,  Berichtigungen  und  biographischen 
Skizzen  versehen  von  Franz  Joseph  Micus,  Gymnasial- Oberlehrer,  Mit- 
glied des  Vereins  für  Geschichte  und  Alterthumskunde  Westphalens.  Mit 
sechs  Stahlstichen  und  einer  Karte,  Paderborn.  Junf erman'sche  Bach- 
handlung und  Buchdruckerei  4844.     8,     594.  S. 

Auch  in  der  Wissenschaft  herrscht  leider  das  aristokratische 
Luxuselement;  die  Verschwendung  wohnt  neben  der  Entbehrung; 
während  hier  die  edelsten  Kräfte  zu  Flitter  und  unnützem  Glänze 
vergeudet  werden,  fehlen  dort,  wo  sie  nötbig  sind,  nicht  nur 
Kräfte,  sondern  auch  Aufmunterungen.  Die  Bemerkung  Jacob 
Grimms,  dass  wir  im  grössten  Ueberfluss  oft  Mangel  leiden,  be- 
währt uns  die  Bibliographie  jedes  Jahres;  tausende  von  Büchern 
erscheinen,  elegant,  prachtvoll,  bebildert,  alle  wollen  nothwendig 
sein  und  demjenigen,  der  etwas  tiefer  in  das  Wesen  der  Wissen- 
schaft sieht,  fehlt  überall  das  Rechte,  und  nur  der  Laie  sieht  'in 
den  gewaltigen  Schichten  der  Bibliotheken  die  Lücken  nicht,  die 
so  wenige  Auserwählte  zu  verstopfen  streben. 

Obiges  Buch  gehört  gewiss  nicht  zu  den  auserwählten;  bei 
aller  Eleganz,  die  es  schmückt,  trägt  es  das  Gepräge  der  Unnöthig- 
keit,  und  eben  die  Eleganz,  die  Voluminösität  lässt  uns  diese  Un- 
nöthigkeit  bedauern.  Ferdinand  Fürstbischof  von  Paderborn  und 
Münster  (geboren  1626.  Bischof  von  Paderborn  1661.  von  Mün- 
ster 1678.  f  1683.)  ein  gelehrter,  friedensliebender  Mann,  dessen 
Friedensliebe  freilich  während  der  Kriege  Ludwig  XIV.  nicht  vie- 
len Segen  über  Deutschland  gebracht,  hat  ein  Werk,  die  monu- 
menta Paderbomensia  ausgearbeitet,  das  verschiedene  archäolo- 
gische Punkte  der  ältesten  Geschichte  Deutschlands  behandelt  und 
natürlich  jetzt  veraltet  ist.  Dieses  Werk  hat  mehrere  Auflagen  er- 
lebt, zwei  beim  Leben  des  Verfassers,  zwei  nach  seinem  Tode 


Allgemeine   Literaturberichte.  395 

(cf.  p.  153—155)  und  Herr  Micus  unternahm  es,  das  Werk  jetzt 
zum  fünften  Mal,  und  zwar  deutsch  herauszugeben.  Zu  welchem 
Zwecke  das?  Zugegeben,  der  Fürstbischof  war  ein  gelehrter  edler 
Mann  und  Herr  Micus  ist  von  Verehrung  für  ihn  durchdrungen: 
reichen  denn  die  Ausgaben,  die  wir  haben,  nicht  mehr  hin,  dem- 
jenigen  Aufschluss  zu  geben,  der  sich  für  die  Geschichte  der  ar- 
chäologischen Studien  in  Deutschland  interessirt?  was  würden  wir 
mit  dem  Bücherschwall  anfangen,  wenn  wir  alle  gelehrten  Werke 
des  16.  und  17.  Jahrhunderts  noch  einmal  herausgeben  und  sie  am 
Ende  noch  ins  Deutsche  übersetzen  wollten?  Und  am  Ende,  sollten 
nicht  andere  seltenere  werthvollere  Werke  ebenso  gut  und  noch 
eher  eine  so  elegante  Verjüngung  verdienen? 

Eingeleitet  wird  diese  Uebersetzung  durch  eine  Biographie  des 
Fürsten,  die  144  Seiten  lang  ist,  und  ebensowenig  befriedigt  als 
es  alle  Panegyriken  thun,  die  nach  dem  Tode  der  Fürsten  erschei- 
nen und  mit  einer  beinahe  lächerlichen  Emsigkeit  jeden  einzelnen 
Charakterzug,  jede  einzelne  Anekdote  mit  einer  ungen>essbaren 
Breite  erzählen.  Was  soll  man  sagen,  wenn  man  p.  37  die  Anek- 
dote von  dem  Stieglitz  liest  „dass  er  den  hohen  Besitzer  mit 
seinem  Gesänge  erfreute"  oder  wenn  man  pag.  92  etc.  das  Capilel 
„Ferdinands  Humor1,  ansieht:  da  halte  ein  Jesuit  dem  Fürsten  einen 
Panegyrikus  zum  Neujahr  geschenkt  und  zwar  in  Versen;  Ferdi- 
nand schreibt  ihm  eine  freundliche  Antwort  und  schenkt  ihm  ein 
Fass  Moselwein,  weil  seine  Ader  durch  ein  so  grosses  Gedicht 
ausgetrocknet  sein  könnte,  und  auf  diese  Erzählung  lässt  Herr 
Micus  die  Worte  folgen:  „Eines  solchen  wohlthuenden  (das  war 
der  Moselwein  allerdings)  Humors  ist  nur  ein  erhabener  Geist 
fähig;  stolzen  und  engherzigen  Menschen  ist  er  ein  Geheimnisse 

Eine  einfache  Biographie,  das  Leben  und  die  Wirksamkeil  des 
Fürsten  schildernd,  seine  Verbindungen  mit  Fürsten  und  Gelehr- 
ten ohne  jedesmaligen  Wort-  und  Zeitungsenthusiasmus  auseinan- 
dersetzend, hätte,  wenn  auch  50  statt  150  Seiten  stark,  dem  wis- 
senschaftlichen Zwecke  besser  gedient. 

Herr  Micus  erinnert  im  Nachwort  p.  539,  dass  er  eigentlich 
mehr  geleistet  als  versprochen  habe,  unler  Andern  namentlich  das 
Werk  mit  vielen  biographischen  Noten  über  Theodor  v.  Niens, 
Gobelin,  Persona,  Conring,  Bälde,  Nihus,  Senaten  elc.  vermehrt 
habe;  allein  abgesehen  davon  dass  er  es  doch  eigentlich  auf  dem 
Titelblatt  versprochen,  ist  das  bibliographisch -literarische  Verhält- 
niss  wenig  berücksichtigt  und  auch  sonst  nichts  gegeben,  was  man 
niebt  schon  aus  andern  Büchern  halte  wissen  können. 

Wenn  es  schon  Schade  ist,  dass  die  Briefe,  welche  Ferdinand 
mit  den  Fürsten  wechselte,  nicht  lateinisch,  sondern  deutsch  ein- 
geschaltet worden  sind,  so  ist  die  deutsche  Uebersetzung  der  Ge- 


396  Allgemeine  Literaturberichte. 

dichte,  an  die  ein  grosser  Fleiss  gewandt  ist  (p.  150),  beinahe  ein 
Unglück;  da  wären  die  Originalien  gewiss  besser  gewesen, gewiss 
hallen  sie  ein  klareres  Bild  von  dem  Dichtertalent  des  Fürsten  ge- 
geben. Zum  Uebersetzen  gehört  ein  besonderes  Talent,  das  leider 
jeder  zu  besitzen  glaubt;  in  Herrn  Micus  aber  steckt  ein  Dichter- 
dämon,  den  er  mit  allzugrossem  Eifer  auszutreiben  sich  bemüht 
und  man  muss  ihm  beinahe  denselben  Vers  vorhalten,  von  dem 
Herr  Micus  sagt  p.  14,  er  sei  dem  Fürsten  vorgeworfen  worden: 
„Beider  Sprachen  mächtig;  aber  einen  Fehler 
Einen  grossen  Fehler  hat  er;  er  ist  —  Dichter." 

Selig  Cassel. 


M  1  s  c  e  1  1  e  n. 


2.    Das  Mainzer  Archiv  (s.  Bd.  in.  S.  547  f.). 

Ueber  das  Mainzer  Archiv  sind  mir  durch  die  Güte  des  Herrn  Biblio- 
thekars Dr.  Böhmer  in  Frankfurt  folgende  Notizen  zugekommen : 

Nicht  das  Archiv,  sondern  der  Archivar  Fischer  ist  nach  Moskau  ge- 
kommen. Derselbe  hat  schon  zur  französischen  Zeit  einen  grossen  Tbeü 
cassirt,  namentlich  Sachen  auf  Ochsenkopf  Papier,  also  aus  dem  44.  und 
4  5.  Jahrhundert.  Von  den  Mainzischen  Archiven  sind  jetzt  Trümmer  4) 
auf  der  Stadtbibliothek  zu  Mainz,  namentlich  stadtische  Privilegien,  einige 
Copialbücher,  varia  aus  Bodmann's  Nachlass;  2)  in  Sachsenhausen  in  Ki- 
sten verpackt  das  von  Oesterreich  an  sich  genommene  Reichsarchiv,  mit 
den  Mainzischen  erststiftischen  Reichssachen  vei mischt.  Friedrich  Schlegel 
hat  ein  schlechtes  Repertorium  darüber  gemacht,  welches  übrigens  Dr. 
Böhmer  nicht  selbst  gesehen  hat.  Es  soll  mit  dem  4  4.  Jahrhundert  be- 
ginnen, und  dürfte  Mehres  enthalten,  was  Sachverständigen  von  Wichtig- 
keit ist;  3)  in  Darmstadt  sind  einige  Urkunden  aus  Bodmann's  Nachlass, 
auch  sonstige  Urkunden  und  mehre  Copialbücher  einzelner  Stifter;  4)  in 
München  sind  die  an  Baiern  gekommenen  Original-Urkunden  bis  4  400,  die 
auch  in  den  regestis  boicis  aufgeführt  sind;  5)  in  Würzburg  ist  das  grosse 
erststiftische  Copialbuch  auf  Pergament  in  7  Foliobanden  höchst  schätzbar, 
ausserdem  eine  grosse  Menge  anderer  Copialbücher,  Acten  und  die  Urkun- 
den seit  4  404;  6)  in  Aschaffenburg,  wo  einst  das  Ganze  war,  sind  aucn 
noch  Beste.  Mehre  hundert  Centner  hat  die  bairische  Regierung  verkaufen 
lassen,  um  aus  dem  Erlös  den  Druck  der  regesta  boica  zu  bestreiten.  Ei* 
ntge  scheinen  auch  in  Aschaffenburg  gestohlen  worden  zu  sein.  Verbrannt 
ist  in  Mainz  Nichts  vom  Archiv,  wohl  aber  ist  die  Dombibliolhek  verbrannt, 
als  die  Preussen  im  Jahre  4  793  Mainz  beschossen. 

Klüpfel. 


Leben  und  Verdienste  des   Lau- 

rentius  Valla. 


Laurentius  Valla  wird  allgemein  als  einer  der  vorzüglich- 
sten unter  den  sogenannten  Wiederherstellern  der  Wissen- 
schaften im  15.  Jahrhundert  genannt. 

Wenn  man  jene  Epoche,  jenen  Umschwung  des  euro- 
päischen Geistes,  Wiederherstellung  der  Wissenschaften 
nennt,  so  drückt  man  das  eigentliche  Wesen  der  Sache  nicht 
aus  und  verkennt,  dass  die  Wissenschaden  einerseits  niemals 
ganz  untergegangen  waren,  anderseits  sich  nur  durch  vielfa- 
che Versuche  wiedergewinnen  lassen.  Der  Ausdruck  selbst 
ist  auch  nur  die  herkömmliche  aber  schiefe  Uebersetzung  des 
lateinischen  literae.  Nicht  den  Wissenschaften  galt  es,  son- 
dern einer  freien  Literatur.  Was  als  Ziel  erstrebt  wurde, 
aber  doch  nur  wenigen  universellen  Geistern  deutlich  vor- 
schwebte, war  die  Befreiung  des  menschlichen  Geistes  von 
den  Fesseln  des  Kirchenglaubens;  die  Neigung  und  die  Thä- 
tigkeit  der  hülfreichen  Menge  richtete  sich  zunächst  auf  die 
Schönheit  der  Rede,  den  richtigen  und  schönen  Stil.  Des- 
halb gelten  mit  Recht  Dante  als  der  Vorläufer,  und  Petrar- 
cha  und  Boccaccio  als  die  eigentlichen  Wiederhersteller 
nicht  sowohl  der  Wissenschaften,  als  vielmehr  einer  freien 
literarischen  Thätigkeit.  Sie  entzündeten  in  Italien  den  leb- 
haftesten Eifer  für  geschmackvolle  Darstellung  in  Versen  wie 
in  Prosa.  Der  Sache  nach  war  es  gleichgültig,  ob  es  in  la- 
teinischer od^r  gemeiner  Sprache  geschah:  Petrarcha  und 
Boccaccio  waren  in  beiden  zu  ihrer  Zeit  ausgezeichuete  Ken- 
ner und  Künstler.   In  der  Schrift  und  zu  gelehrten  Zwecken 

Z<h*c'..rift  f.  <3«*rhichteir.  IV.  1845.  27 


398  Leben  und  I  erdienste 

halte  man  sich  bisher  nur  der  lateinischen  bedient,  und  man 
blieb  noch  lange  Zeit  dem  Herkommen  treu,  zumal  da  die 
lateinische  Sprache  Tür  den  Italiener  keine  fremde  war.  Also 
war  es  natürlich,  dass  sich  der  lebhafteste  Eifer  auf  die  la- 
teinische Wohlredcnheit  warf.  Die  fehlerhafte  und  rohe  la- 
teinische  Ausdrucksweise,  die  auf  Kanzel  und  Katheder,  im 
Bureau  und  Gericht  herrschte,  sollte  verbessert  werden.  Des- 
halb suchte  man  die  Muster  antiker  lateinischer  Rede  aus  den 
Klosterbibliotheken  hervor,  wo  sie  in  den  letzten  Jahrhunder- 
ten ganz  unbenutzt  gelegen  hatten/)  Petrarcha  und  Boccaccio 
schrieben  mit  eigener  Hand  die  unbekannten  Werke  römi- 
scher Classiker  ab;  ihr  Studium  ging  gleich  in  stilistische 
Nachahmung  über;  sie  verkündigten  ihre  Freude  in  Circular- 
briefen,  die  zugleich  durch  ihren  eigenen  Stil  den  Beweis  ga- 
ben, was  man  aus  der  Lesung  der  entdeckten  Autoren  ler- 
nen könne. 

Stil  kann  nicht  ohne  Inhalt  sein.  Dieser  Inhalt  war  aber 
zunächst  entweder  der  blos  gesellige,  wie  ihn  Cicero's  Briefe, 
Petrarcha' s  Fund,  auszudrücken  lehrten,  oder  moral-philoso- 
phische  Betrachtung,  wie  sie  Petrarcha  aus  dem  doppelten 
Quell,  seinem  eigenen  erfahrungsreichen  Machdenken  und 
dann  ebenfalls  Lesung  des  Cicero  und  Seneca,  entwickelte, 
oder  endlich  Zusammenstellung  des  bei  verschiedenen  alten 
Autoren  Gelesenen,  in  welcher  Art  Boccaccio  seine  Gesealo- 
gia  deorum  schrieb. 

Dies  ist  der  Anfang  der  Wiederbelebung  des  elassiscben 
Studiums!  er  ist  entschieden  aus  dem  eigentümlichen  Drange 
der  Völker  des  neueren  Europa's,  namentlich  der  Italiener, 

*}  Es  ist  unglaublich,  wie  eng  und  dürftig  der  Kreis  lateinischer 
Autoren  war,  die  im  12.  und  13.  Jahrhundert  gelesen  wurden.  Nie- 
buh r  spricht  darüber  in  der  Vorrede  zu  dem  Fragment  von  Cice- 
ro's Rede  pro  Fontejo,  welches  er  in  der  Vaticana  entdeckt  hatte, 
p.  36.  Selbst  von  Cicero,  dessen  Name  doch  immer  noch  spruch- 
wörtlich als  der  des  grössten  Redners  gebraucht  wurde,  las  man 
nur  die  Bücher  de  offieiis,  de  senectute  und  de  amicitia,  die  klei- 
neren Reden,  die  Philippicae  und  einen  Theil  der  Verrinen.  Alles 
andere,  die  Briefe  und  die  übrigen  philosophischen  Schriften,  ext* 
stirte  nur  in  einzelnen  Exemplaren. 


des  Laurentxus  Valla.  399 

nach  Wohlredenbeit  hervorgegangen.  Jedes  Blatt  in  den 
Schriften  der  hervorgezogenen  römischen  Classiker  wies  auf 
die  griechischen  Quellen  der  Erkenntniss  und  der  Wohlreden- 
bett bin.  Man  suchte  also  auch  aus  diesen  zu  schöpfen.  Petrar- 
cha  hatte  eine  unendliche  "Sehnsucht  Homer  und  Plato  ken- 
nen zu  lernen.  Die  Mönche  der  griechischen  Klöster  in  Ca- 
labrien  boten  eine  Vermittlung  dar.  Petrarcha  nahm  noch 
rm  Alter  Unterricht  bei  einem  dieser  Mönche,  Barlam,  und 
Hess  sieb  von  ihm  einen  Theil  des  Homer  übersetzen.  Aber 
er  lernte  wenig  und  konnte  den  griechischen  Homer,  den  er 
sich  aus  Constantmopel  verschafft  hatte,  nur  als  Augenweide 
benutzen.  Boccaccio  kam  weiter:  er  hatte  drei  Jahr  Unter- 
richt bei  Leontius  Pilatus,  ebenfalls  einem  Galabresen:  er 
nahm  ihn  in  sein  Haus  auf,  ertrug  die  Widerwärtigkeit  des 
mürrischen  und  eigensinnigen  Mannes  und  brachte  mit  sei- 
ner Hülfe  die  Utas  und  Odyssee  lateinisch  zu  Papier  und 
schrieb  seine  Uebersetzung  für  Petrarcha  ab. 

Petrarcha  und  Boccaccio  stehen  im  14.  Jahrhundert  noch 
ganz  allein,  in  Italien  nicht  nur,  sondern  in  Europa.  Ihr 
Ruhm  war  unermesslich.  Petrarcha  war  der  Liebling  aller 
fürstlichen  Häuser  in  Italien,  Boccaccio  in  Florenz  sehr  an- 
gesehen. Ihre  ästhetischen  Bestrebungen  ergriffen  die  Gebil- 
deten ihrer  Nation.  Römische  Glassiker  zu  studiren  und  un- 
mittelbar in  Sprache  und  Schrift  nachzuahmen  war  das  Zei- 
chen und  die  Probe  feinerer  Bildung:  ein  Schritt  weiter,  auch 
Griechisch  zu  verstehen  und  mit  der  Kenntniss  dieser  Lite- 
ratur seinen  lateinischen  Stil  zu  befruchten,  wurde  schon  im 
nächsten  Jahrhundert  von  dem  wissenschaftlichen  Manne  ge- 
fordert. 

Die  Kenntniss  der  griechischen  Sprache  verbreitete  sich 
in  Italien  sehr  schnell.  Johannes  von  Bavenna,  Petrarcha's 
Zögling,  lernte  Griechisch  in  Galabrien  und  erklärte  in  Pa- 
dua  und  Florenz  gegen  das  Jahr  1400  als  angestellter  Lehrer 
der  Grammatik  niebt  nur  römische  Autoren,  sondern  auch 
Homer.  Leonardus  Aretinus,  Guarinus  von  Verona,  Pog- 
gius  sind  seine  Schüler.  Wer  weiter  im  Griechischen  kom- 
men wollte,  reiste  nach  Constantinopel,  wie  es  von  namhaf- 

27* 


400  Leben  und  Verdienste 

ten  Gelehrten  Aurispa,  Guarinus,  Philelphus  thaten.  Zurück- 
gekehrt lehrten  sie  dann  wieder  und  verbanden  die  Erklärung 
römischer  und  griechischer  Glassiker.  Der  Unterschied  zeigte 
sich  aber  sogleich,  dass  die  römischen  Studien  unmittelbar 
ins  Leben  übergingen,  die  Kenntniss.  der  griechischen  Kunst 
und  Wissenschaft  ihre  Vermittlung  mit  dem  Leben  erst  durch 
Uebertragung  ins  Lateinische  erhielt.  Daher  war  die  Aul^ 
gabe  aller  Griechisch-Gelehrten  im  15.  und  noch  in  der  er- 
sten Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  die,  treue  und  dabei  echt 
lateinische  Lebersetzungen  der  griechischen  Autoren  anzu- 
fertigen. 

Es  ist  eine  verbreitete  Unwahrheit,  dass  die  Unterwer- 
fung Griechenlands  durch  die  Osmanen  und  insbesondere  die 
Eroberung  Constantinopel's  die  Versetzung  der  griechischen 
Literatur  nach  Italien  bewirkt  habe.  Die  ersten  Lehrer  des 
Griechischen  in  Italien  waren  entweder  Galabresen,  in  wel- 
cher Provinz  sich  bekanntlich  der  Ritus  der  griechischen 
Kirche  noch  lange  nachher  behauptet  hat,  oder  Italiener,  die 
aus  Wissensdrang  selbst  nach  Griechenland  gereist  waren. 
Als  die  griechischen  Gesandten  und  Gelehrten  Hülfe  suchend 
nach  Italien  kamen,  Manuel  Chrysoloras  1393  und  1396,  und 
dann  nach  langem  Zwischenräume  Georgios  Trapezuntios  und 
Theodoros  Gaza  nach  dem  Jahre  1430,  war  in  Italien  schon 
alles  bereit  sie  aufzunehmen.  Die  beiden  letztgenanpten  muss- 
ten  selbst  erst  in  der  Schule  des  Vittorino  in  Mantua  Latei- 
nisch lernen,  um  mit  Erfolg  Griechisch  zu  lehren.  Ganz  ge- 
wiss beförderten  sie  die  gründlichere  und  genauere  Kenntniss 
des  Griechischen,  namentlich  Manuel  Chrysoloras;  aber  Ita- 
lien hatte  nicht  auf  die  Auswanderung  der  Griechen  gewar- 
tet um  sich  den  neuen  Quell  classischer  Literatur  anzueig- 
nen, und  auch  nachher  waren  nicht  die  geborenen  Griechen, 
sondern  die  griechisch  gelehrten  Italiener  die  eigentlichen  Be- 
gründer dieses  Studiums.  Die  Geldnoth  der  Griechen  er- 
leichterte den  Ankauf  der  griechischen  Handschriften,  die  in 
solchen  Massen  von  gelehrten  Aufkäufern  aus  Griechenland 
nach  Italien  ausgeführt  wurden,  dass  in  dein  Mutterlande  der 
Literatur  bald  eip  gänzlicher  Büchermangel  entstand. 


des  Laurenlius  Valla.  401 

Der  allgemeine  Einfluss  der  classischen  Studien  in  Ita- 
lien war  Anfangs  und  blieb  die  längste  Zeit  ein  blos  ästhe- 
tischer. Nachher,  als  die  italienische  Literatur  ihre  eignen 
anerkannten  Muster  gewonnen  hatte,  war  es  d&s  antiquari- 
sche Interesse,  was  die  Meisten  zu  den  Glassikern,  d.  h.  doch 
nur  zu  den  Römern  zog.  Ganz  anders  in  Deutschland,  wo 
der  Betrieb  der  classischen  Studien  sehr  bald  seine  Richtung 
auf  die  Theologie  nahm  und  erst  nach  langer  Zeit  auf  die 
Aestbetik  zurückkam.  Aber  den  italienischen  Philologen  möge 
daraus  kein  Vorwurf  erwachsen.  Sie  erkannten  ebenfalls,  dass 
die  classischen  Studien  einen  Einfluss  auf  die  Gestaltung  des 
Öffentlichen  Lebens  erhalten  müssten  Es  giebt  eine  Menge 
Erscheinungen,  welche  die  Absicht  der  italienischen  Philo- 
logen des  15.  und  16.  Jahrhunderts  bethätigen,  zuerst  auf 
die  Theologie,  dann  auf  das  Staatsleben,  zuletzt  auf  die  Phi- 
losophie der  gegenwärtigen  Zeit  durch  die  Ergebnisse  ihrer 
Forschungen  einzuwirken.  Aber  die  Hierarchie  trat  diesen 
Bestrebungen  hemmend,  strafend,  verfolgend  entgegen;  seit 
der  Mitte  des  sechzehnten  Jahrhunderts  bemächtigte  sich  der 
Jesuitenorden  aller  höheren  Lehranstalten  in  Italien,  und  fort- 
an bedurfte  es  nicht  einmal  der  Verfolgung:  die  classische 
Philologie  diente  nur  dem  speciellen  historisch-antiquarischen 
Interesse. 

Laurentius  Valla  lebte  in  jener  Zeit,  wo  die  wieder- 
erweckten classischen  Studien  in  Italien  mit  dem  grössten 
Eifer  betrieben  wurden,  in  der  ersten  Hälfte  des  fünfzehnten 
Jahrhunderts;  und  sein  Leben  giebt  das  beste  Zeugniss  für 
die  mannigfaltigen  Richtungen  dieser  Studien.  Es  muss  be- 
merkt werden,  dass  die  Buchdruckerkunst  noch  nicht  erfun- 
den war:  erst  mehre  Jahre  nach  Valla's  Tode  wurde  das 
erste  Buch  in  Rom  gedruckt.  Valla's  Schrillten  wurden  also 
vollkommen  wie  im  Alterthum  ausgearbeitet  und  durch  Ab- 
schrillen verbreitet:  aber  man  sieht  hiebet  recht  deutlich,  wie 
die  Buchdruckerkunst  zwar  ein  vortreffliches  Hülfsmittel,  aber 
keine  wesentliche  Bedingung  menschlicher  Cultur  ist.  Valla's 
Schriften  wurden  begierig  gelesen  und  rasch  verbreitet. 

Aber  es  ist  recht  schwer,  seine  Lebensumstände  und  die 


402  Leben  und  Verdienste 

Folge  seiner  Schriften  genau  nach  Jahren  tu  bestimmen.  Man 
muss  dabei  wie  bei  den  alten  Autoren  verfahren  und  die 
einzelnen  Aeusserungen  des  Schriftstellers  selbst  und  seiner 
Zeitgenossen  vergleichen.  Dies  ist  auch  wohl  der  Grund,  wes- 
halb wir  noch  keine  vollständige  Lebensbeschreibung  Valla's 
haben,  wie  sie  doch  von  so  vielen  viel  weniger  bedeutenden 
Gelehrten  existiren.  Die  besten  Nachrichten  über  ihn  haben 
Drakenborch  in  seiner  Vorrede  zum  Livius  (im  siebenten 
Bande  seiner  Ausgabe)  und  Tiraboschi  in  der  Geschichte 
der  italienischen  Literatur  gegeben.  Verdienstlich  durch  ei« 
nige  aus  Archiven  gezogene  Nachrichten  und  durch  die  Zu- 
sammenstellung der  Ausgaben  von  den  Schriften  Valla's  sind 
die  „Memorie  inlorno  alla  vita  e  agli  scritti  di  Lorenzo  Valla" 
von  Gristoforo  Poggiali,  Propst  und  Bibliothekar  zu  Pia- 
cenza,  welche  als  eine  Fortsetzung  der  beiden  ersten  Bände 
der  „Mernorie  per  la  storia  letteraria  Piacentina "  von  dem- 
selben Gelehrten  im  Jahre  1790  (176  Seiten  8.)  erschienen 
sind.  In  Bezug  auf  die  Prüfung  der  einzelnen  Umstände  und 
auf  den  Zusammenhang  der  literarischen  Thätigkeit  Valla's 
bleibt  aber  noch  genug  zu  thun  übrig. 


Der  Vater  des  Laurentius  Valla  war  Luca  della  Valle, 
aus  Piacenza  gebürtig,  Doctor  der  Bechte,  und  in  Born  alf 
päpstlicher  Consistorial-Advocat  angestellt. 

Lorenzo  war  im  Jahre  1406  oder  1407  in  Born  geboren* 
Gewöhnlich  wird  1415  als  sein  Geburtsjahr  angegeben,  und 
diese  Zahl  gründe!  sich  auf  einen  Beweis,  den  man  für  un- 
umstösslich  halten  sollte,  auf  seine  Grabesinschrift  in  der 
Kirche  San  Giovanni  im  Lateran,  wo  es  heisst,  er  habe  50 
Jahre  gelebt  und  sei  am  ersten  August  1465  gestorben.  Aber 
Drakenborch  beweist  gründlich  aus  Valla  selbst  und  aus 
den  Erwähnungen  seiner  Zeitgenossen,  dass  das  Jahr  seines 
Todes  unrichtig  angegeben  ist.  Valla  sagt,  er  sei  über  24  Jabr 
alt  gewesen,  als  der  Papst  Martin  V.  gestorben:  dies  geschah 
zu  Anfang  des  Jahres  1431:  der  15  Jahr  ältere  Antonius  Pa- 
normita  habe  seine  Vorlesungen  besucht;  und  dieser  war  1393 
geboren.    Ferner  erfahren  wir,  dass  der  König  Alfons  voa 


des  Laurentius  Valla.  403 

Aragonien  und  Sicilien  Valla'?  Uebersetzung  des  Herodot, 
wie  er  sie  bei  seinem  Tode  unvollendet  hinterlassen,  in  seine 
Privatbibliothek  bringen  liess.  Und  Alfons  starb  am  28.  Juni 
1458,  Valla  also  vor  ihm  in  dem  Jahre,  welches  der  Geschieht- 
Schreiber  Paulus  Jovius  angiebt,  1457.  Alles  dies  führt  auf 
Valla' s  Geburtsjahr  1406  oder  spätestens  1407.  Ob  die  falsche 
Angabe  auf  einem  Fehler  des  Steinmetz  oder  der  Abschrei- 
ber*) beruht,  ist  jetzt  nicht  mehr  zu  ermitteln,  da  nach  Bun- 
sen  Beschreib.  Roms  Hl.  1.  S.  536  der  Grabstein  schon  bei 
der  Ausbesserung  der  Kirche  zu  Anfang  des  17.  Jahrhunderts 
unter  Clemens  VIII.  weggenommen  wurde,  wobei  die  um 
das  Bild  umherlaufende  Inschrift  verloren  ging.  Den  Stein 
mit  dem  Bilde  sah  der  gelehrte  Beschreiber  der  Stadt  im  J. 
1821  im  Klosterhofe  unter  andern  Trümmern  liegen,  er  lugt 
aber  im  J.  1836  hinzu,  dass  der  Leichenstein  des  grossen 
Philologen  seitdem  durch  private  Veranstaltung  einen  neuen 
Ehrenplatz  in  der  Kapelle  des  Kreuzschiffes  der  Orgel  er« 
halten  habe. 

Lorenzo  hatte  noch  einen  Bruder  Michael,  der  früh  in 
den  geistlichen  Stand  trat,  und  als  Prior  eines  Klosters  in 
Salerno  noch  vor  Lorenzo  starb,**)  und  eine  Schwester  Mar- 
garetha,  die  an  den  apostolischen  Schreiber  und  Abbreviatore 
Ambrogio  Dardanoni  verheirathet  wurde.  Der  Vater  starb 
früh,  hinterliess  aber  die  erst  25jährige  Wittwe  mit  den  drei 
Kindern,***)  wie  es  scheint,  in  vermöglichen  Umständen. 

*)  In  der  ältesten  mir  bekannten  gedruckten  Nachricht,  in 
Georg  Fabricius'  aus  Chemnitz  descriptio  urbis  (die  im  Jahre  1540 
verfasst  ist)  lautet  die  Inschrift  so:  Laurentio  Vallae  harum  aedium 
sacra rum  canonico  Alfonsi  regis  et  Pontificis  maximi  secretario 
apostolicoque  scriplori  qui  sua  aetate  oraneis  eloquenlia  superavit 
Catharina  mater  filio  pienliss.  posuit.  Vixit  ann.  L.  obiit  anno  do- 
mini  MCCCCLXV.  Calendis  Aug.  Und  so  auch  mit  unerheblichen 
Abweichungen  bei  mehren  andern  Schriftstellern,  welche  Poggiali 
p.  88  nennt. 

')  Schon  um  das  Jahr  1435,  s.  Opera  edit.  Basil.  1540.  p.  273. 
')  Valla  schreibt  an  den  Papst  Eugen  IV.  Episl.  mundi  pro- 
cerum  p.  398:  sein  Bruder  Michael  sei  ihm  allein  von  0  Brüdern 
übrig  geblieben  (solum  mihi  ex  novem  fratribus  superslitem).  Wahr- 
scheinlich war  Valla's  Vater  schon  einmal  verheirathet  gewesen. 


404  Leben  und 

Lorenzo  machte  seine  jugendlichen  Studien  in  Rom.  Im 
lateinischen  Stil,  sagt  er  selbst,  verdankte  er  am  meisten  dem 
päpstlichen  Secretär  Leonardus  Aretinus,  der  seine  Aufsätze 
corrigirte.  Einigen  Unterricht  im  Griechischen  erhielt  er  von 
Rinucius,  der  Griechisch  und  Lateinisch  mit  gleicher  Fertig- 
keit sprach  and  auch  den  (nachherigen)  Papst  Eugen  IV.  im 
Griechischen  unterrichtet  hatte.  Leonardus  Rruni  aus  Arezzo, 
der  späterhin  seine  Anstellung  in  Rom  mit  der  Stelle  eines 
Kanzlers  von  Florenz  vertauschte,  ist  als  lateinischer  Stilist 
des  1.?.  Jahrhunderts  anerkannt,  von  Rinucius  existirt  im 
Druck  eine  Uebersetzung  von  100  Fabeln  des  Aesop,  Hailand 
1491/)  Anderwärts,  besonders  in  der  Vorrede  zum  zweiten 
Buch  der  Elegantiae,  nennt  Valla  den  Aurispa  als  seinen 
Lehrer  im  Griechischen,  dem  er  sehr  viel  verdanke:  und  in 
der  That  ist  Johannes  Aurispa  einer  der  ersten  Hellenisten 
Italiens.  Uni  mihi  legebat,  sagt  Valla:  also  hatte  er  ein  Pri- 
vatissimum  bei  Aurispa.  Wo  und  wann,  ist  zweifelhaft,  wenn 
Tiraboschi's  Behauptung  begründet  ist,  Aurispa  sei  erst  1440 
nach  Rom  gekommen,  zu  einer  Zeit,  als  Valla  noch  nicht 
wieder  seinen  Wohnsitz  in  Rom  genommen  hatte  und  selbst 
schon  ein  berühmter  Autor  war.  Wahrscheinlich  hatte  sich 
aber  Aurispa  schon  viel  früher  eine  Zeitlang  in  Rom  aufge- 
halten, wo  Valla  sein  Schüler  war,  wie  denn  die  Philologen 
des  15.  Jahrhunderts  sehr  unstätt  waren  und  sich  fast  im- 
mer auf  der  Wanderung  befanden. 

Valla  übte  sich  mit  allem  Eifer  im  lateinischen  Stil;  er 
schrieb  schon  als  Jüngling  in  Rom  ein  Buch  „de  compa- 
ratione  Ciceronis  et  Quintiliani"  und  sandte  es  an  Ca- 
rolins Aretinus  in  Florenz/*)  Quintilian  war  damals  ein  neuer 
Autor,  man  hatte  kein  vollständiges  Exemplar  der  Institutio- 
nes  oratoriac  ehe  Poggius  1413  ein  solches  in  St.  Gallen  ent- 
deckte und  nach  Italien  brachte.  Valla  bewunderte  dies  Werk0*) 
und  betrachtete  es  als  das  beste  Handbuch  lateinischer  Be- 
redsamkeit, indem  er  es  selbst  den  rhetorischen  Schriften  des 

°)  Poggiaii  Memor.  p.  157.  Rinucius  wird  in  Valla's  Werk  de 
voluplale,  wo  er  einer  der  Mitsprecher  ist,  immer  Rinukius  ge- 
schrieben.      ••)  S.  Opera  p.  719.       ***)  Opera  p.  621. 


des  Laurentius  Valla.  405 

Aristoteles  und  Cicero  vorzog.  Diese  Jugendarbeit  Valla's  ist 
verloren  gegangen;  auch  von  seinen  späteren  kritischen  und 
exegetischen  Arbeiten  über  Quintilian  sind  nur  Trümmer  er- 
halten. Dabei  aber  geht  im  nächsten  Zeitalter  der  Ruf  der- 
selben durch  die  Literatur,  so  dass,  wenn  jemand  etwas  Aus- 
gezeichnetes für  den  Quintilian  leistete,  die  Yermutbung  aus- 
gesprochen wird,  er  habe  Valla's  Arbeiten  benutzt,  wie  dies 
Badius  Ascensius  dem  Raphael  Regius,  dem  besten  der  äl- 
teren Gommentatoren  des  Quintüian,  vorwirft.  In  dem  Ka- 
talog der  Bibliothek  des  Thuanus  Tom.  II.  p.  465  wird  ein 
Codex  der  Institutiones  oratoriae  von  der  Hand  des  Lauren- 
tius Valla  und  mit  seinen  Verbesserungen  angeführt;  eine 
Ausgabe  des  Quintilian  Venedig  1494  verspricht  Valla's  Com- 
mentar,  aber  es  ist  nur  eine  triviale  Schulerklärung  zu  den 
beiden  ersten  Büchern. 

Mehre  Verwandte  Valla's  standen  im  Dienste  der  päpst- 
lichen Curie.  Ein  mütterlicher  Oheim  Melchior  Scribano  war 
apostolischer  Secretär.  Er  starb,  und  Laurentius  Valla  hielt 
im  Bewusstsein  seiner  Tüchtigkeit  bei  dem  Papst  Martin  V. 
um  die  erledigte  Stelle  an.  Er  war  damals  24  Jahre  alt.*) 
Der  Papst  schlug  sein  Gesuch  ab,  weil  er  zu  jung  sei,  im 
üebrigen  freundlich  und  vertröstend.  Poggius  war  einer  der 
apostolischen  Secretäre.  Seinen  Einflüsterungen  über  die  Ar- 
roganz des  jungen  Menschen  maass  Valla  späterbin  einigen 
Einfluss  auf,  den  ungünstigen  Bescheid  bei. 

Valla  verliess  Rom.  Er  ging  mit  Aufträgen  seiner  Fa- 
milie über  Venedig  nach  Piacenza,  woher  sein  Vater  und 
seine  Mutter  stammten,  und  nahm  Theil  an  der  Auseinan- 
dersetzung der  Erbschaft  des  mütterlichen  Oheims  und  des 
väterlichen  Grossvaters,  der  in  demselben  Jahre  gestorben 
war.  Während  dieser  Zeit  starb  Papst  Martin  V.  (am  20. 
Februar)  und  geschah  es,  dass  Eugen  IV.  (am  13.  März  1431) 
als  sein  Nachfolger  erwählt  ward.  In  Rom  waren  Zerwürf- 
nisse zwischen  Papst  und  Bürgerschaft.  Valla  begab  sieb  auf 
die  Mailändische  Universität  Pavia,  und  trat  dort  als  Lehrer 


>)  Oper.  p.  358. 


406  Leben  und  Verdienste 

der  Rhetorik  auf,  wofür  er  auch  einen  Gehalt  von  50  Ffo~ 
renen  bezog/) 

Näheres  über  den  Inhalt  der  Vorträge  Valla's  wissen  wir 
nicht.  Aber  wahrscheinlich  trug  er  als  Theorie  der  Bered- 
samkeit dasjenige  vor,  was  er  später  in  seinen  drei  Büchern 
„dialecticarum  disputationum"  ausarbeitete.  Antonius  Panor- 
mita  hörte  über  ein  Jahr  bei  ihm,  allerdings  mehr  aus  Freund- 
schaft, wie  Valla  sagt,"*)  als  des  Unterrichts  halber,  aber  es 
mussten  doch  neue  und  eigentümliche  Sachen  sein,  die  den 
15  Jahr  älteren  Mann,  der  denselben  Studien  obgelegen,  fes- 
seln konnten.  Im  Einzelnen  trug  Valla  die  Sprachbemerkun- 
gen, vor,  die  er  gleichfalls  später  in  den  „Elegantiae"  pubü- 
cirte:  Neigung  und  Beruf  trieben  ihn  an,  die  Fehlerhaftigkeit 
der  lateinischen  Sprache  seiner  Zeitgenossen  zu  verfolgen  und 
zu  verbessern. 

Dabei  schrieb  oder  vollendete  er  in  Pavia  sein  Werk 
„de  voluptate"  in  drei  Büchern.  Denn  es  scheint,  als  habe 
er  es  schon  früher,  in  Born  oder  in  Piacenza,  angelegt.***)  Es 
ist  dialogisch  nach  der  Art  von  Cicero's  Büchern  „de  finibus." 
Die  Scene  bildet  sich  so,  dass  die  vier  päpstlichen  Secretäre, 
unter  ihnen  Poggius  und  Melchior  Scribanus,  der  Oheim  Valla's, 
der  bei  der  Abfassung  der  Schrift  doch  schon  verstorben  war, 
in  ihrem  Lokal  versammelt  sind.  Es  kommen  zu  ihnen  Leo- 
nardus  Aretinus,  der  Historiker,  der  als  Gesandter  von  Flo- 
renz an  den  Papst  geschickt  ist,  Antonius  Panormita,  der 
Dichter;  ferner  Binukius,  des  Griechischen  kundig,  und  An- 
tonius Harena,  ein  gründlicher  Lehrer  der  Rhetorik;  zuletzt 
noch  der  Florentiner  Nicolo,  der  gepriesene  Beförderer  der 
classischen  Literatur.  Sie  bereden  sich  am  folgenden  freien 
Tage  Nachmittags  auf  dem  monte  Giordano  zu  einer  wissen- 


*)  Poggiali  p.  24  aus  dem  Stadtarchiv  von  Pavia.  Val.  Oper, 
p.  362.  ••)  Oper.  p.  624  In  Facium  libr.  IV.  ***)  Ich  vermutbe 
dies,  weil  es  mit  den  Studien,  die  Valla  in  Pavia  trieb,  wenig  ge- 
mein hatte,  weil  die  scenische  Grundlage  römisch  ist,  und  weil 
Valla  zur  Zeit,  als  er  die  Schrift  vollendet  von  Pavia  nach  Rom 
schickte,  noch  mit  Antonius  Panormita  vertraut  war  (Oper.  p.  621), 
welches  Verhältniss  sich  noch  in  Pavia  änderte. 


des  Laurentiu*  Valla.  407 

schädlichen  Unterhaltung  zusammenzukommen,  zu  der  auch 
unser  Lorenzo  von  seinem  Oheim  Scribano  mitgebracht  wird. 
Leonardus  beginnt  die  Disputation  mit  einer  Klage  über  die 
Verkehrtheit  der  Menschen,  die  weniger  nach  geistigen  und 
ewigen  Gütern,  als  nach  Befriedigung  der  Natur  in  sinnli- 
chen Genüssen  trachten.    Antonius  vertheidigt  die  Natürlich- 
keit   Der  Streit,  ob  die  Tugend  oder  der  Genuss  das  Ziel 
des  Lebens  sei,  erhebt  sich.    Antonius  führt  die  epikurische 
Ansieht  geschickt  durch;   er   tadelt  dabei  mit  erstaunlicher 
Freimütigkeit  das  Mönchswesen ,  und  stellt  die  blaspheme 
Behauptung  auf,  die  öffentlichen  Dirnen  bandelten  naturge- 
mässer  und  thaten  für  das  Gemeinwohl  mehr,  als  die  Non- 
nen, die  sich  und  andere  durch  das  Gelübde  der  Jungfrau«* 
iichkeit  marterten.    Zuletzt  spricht  der  ehrenwerthe  Nicelo; 
wenn  man  den  Streit  vom  irdischen  Standpunkte  betrachte,. 
so  habe  Antonius  Recht,  aber  beide  Ansichten,  die  stoische 
mit  ihrer  abstracten  Tugend,  und  die  epikurische  von  dem 
irdischen  Vergnügen,  seien  mangelhaft;  man  vergesse  dabei 
das  Leben  nach  dem  Tode;  die  christliche  Ansicht  sei  die 
allein  richtige,  das  Ziel  des  irdischen  Lebens  sei  die  ewige 
Seligkeit  zu  gewinnen.  Diese  wird  mit  solchem  christlich  poe- 
tischen Entzücken  beschrieben,  dass  die  Gesellschaft  in  Be- 
wunderung Nicolo's  ausbricht.  Das  Werk  ist  mit  grosser  Le- 
bendigkeit, gefälliger  Scenerie  und  passender  Anwendung  von 
Dichterstellen  und  historischen  Belegen  geschrieben  in  rich- 
tigem und  unverkünsleltem  Latein. 

Wir  besitzen  es  nach  der  ersten  Bearbeitung  gedruckt,  denn 
Valla  sagt  selbst,  er  habe  nach  dem  Treubruche  des  Anto- 
nius die  Sprecher  der  Schrift  geändert  und  die  Rolle  des 
Antonius  dem  Maphaus  Vegius  gegeben,  bei  dieser  zweiten 
Bearbeitung  die  Schrift  um  die  Hälfte  vergrössert  und  de 
vero  bono  statt  des  früheren  Titels  de  voluptate  benannt.*) 


*)  In  Facium  Hb.  IV.;  in  Poggium  antidot.  4  (Oper.  p.  0*21. 
342  und  351).  An  der  letzten  Stelle  sagt  Valla,  die  beiden  andern 
Hauptsprecher  (ich  denke  statt  Leonardus  und  Nicolo)  seien  in -der 
zweiten  Bearbeitung  Joseph  Brippius  papalis  regesti  praeses,  und 
Candidus,  collega  Poggii.    Ich  kann  über  diese  keine  Auskunft  gc- 


408  Lebern  und  VerüauU 

Valla  sandte  sein  Werk  an  Gnarinus  in  Ferrara,  Carolas 
und  Leonardas  Aretinus  in  Florenz,  und  an  Ambrosios,  den 
Camaldulenser,  und  alle  lobten  es,  besonders  in  Bezug  auf 
die  Darlegung  der  christlichen  Ansicht 

Zunächst  scheint  auf  die  Schrill  de  voluptate  oder,  wie 
sie  spater  hiess,  de  ?ero  bono,  die  Ausarbeitung  des  Buches 
de  libero  arbitrio  gefolgt  zu  sein.  Valla  selbst  giebt  die 
Verbindung  beider  Schriften  an,  indem  er  sagt,  durch  die 
Schrift  de  voluptate  habe  er  die  vier  ersten  Bücher  des  Boethius 
de  consolatione  philosopbiae  widerlegen  wollen,  durch  die  kleine 
Schrift  de  libero  arbitrio  bestreite  er  das  fünfte  Bach  dessel- 
ben Autors.  Er  erklärt  sich  überhaupt  gegen  die  Anmaassung 
der  Philosophie  von  ihrem  Standpunkte  aus  die  schwierigsten 
Fragen  des  religiösen  Bewusstseins  entscheiden  zu  wollen. 
Antonios  Harena  legt  dem  Valla  die  Frage  vor,  wie  die  Frei- 
heit des  menschlichen  Willens  mit  der  Allwissenheit  Gottes 
bestehen  könne.  Valla  beantwortet  sie  dahin,  dass  er  de- 
monstrirt  die  Allwissenheit  Gottes  habe  mit  der  Handlungs- 
weise des  Menschen  nichts  zu  thun,  dies  seien  verschiedene 
Gebiete.  Aber  wohl  könne  man  fragen,  warum  Gott  den 
Menschen  so  und  nicht  anders  geschaffen  habe,  oder  warum 
er  sich  des  einen  erbarme»  den  andern  verhärte.  Darauf  aber 
sei  die  biblische  Antwort,  Gott  wolle  nicht  den  Tod  des 
Sünders,  sondern  seine  Bekehrung  und  sein  Leben.  Gott 
wolle  nur  das  Gute,  aber  die  Wege  seiner  Führung  seien 
das  Geheimniss  seiner  Weisheit:  der  Mensch  müsse  ver- 
trauen; in  einem  künftigen  Leben  werde  alles  offenbar  wer- 
den. Der  Dialog  ist  mit  Kunst  geführt,  die  Sprache  gedrängt 
und  treffend. 


ben,  weiss  auch  nicht,  ob  die  Amisgenossenschaft  mit  Poggius  auf 
die  Stelle  geht,  welche  Poggius  in  Rom  oder  später  zur  Zeit  als 
Valla  seine  antidota  gegen  ihn  schrieb,  in  Florenz  bekleidete.  Ma- 
phaus Vegius  war  ein  angesehener  Dichter  und  Stilist  jener  Zeit, 
gleichen  Alters  mit  Valla,  Datarius  der  römischen  Curie,  ein  Mann 
von  ernstem  Character  und  Geistlicher,  für  den  die  Rolle  des  epi- 
kurischen Sprechers  in  der  That  weniger  geeignet  war  als  für  An- 
tonius Panormita.  Aber  man  sieht,  wie  wenig  die  historische  Wahr- 
heit der  Scenerie  bezweckt  wurde. 


des  Laurentim  Valla.  %   409 

Die  Anmaassung  der  Juristen  auf  der  Universität,  die 
Einbildung  dass  sie  allein  praktische  Einsicht  lehrten  und  da- 
bei die  unphilologische  Art,  wie  sie  die  Quellen  des  römi- 
schen Rechts  erklärten  und  ihr  barbarisches  Latein  reizten 
den  Aerger  Valla's.  Er  kritisirte  die  Schrift  des  gepriesenen 
aber  längst  verstorbenen  Monarchen  des  Rechts,  des  Barto- 
lus,  de  insigniis  et  armis,  von  dem  Titel  anfangend  mit 
bitterm  Spott  Horum  quos  dico  Jurisperitorum,  sagt  er  Op. 
p.  633  nemo  fere  est  qui  non  contemnendus  plane  ac  ridi- 
culus  videatur.  Ea  est  ineruditio  in  illis  omnium  doctrina- 
rum,  quae  sunt  libero  homine  dighae,  et  praesertim  eloquen- 
tiae,  cui  antiqui  omnes  Jurisconsulti  diligentissime  studue-> 
runt  et  sine  qua  ipsorum  libri  intelligi  non  possunt;  ea  he- 
betudo  ingenii,  ea  mentis  levitas  atque  stultitia,  ut  ipsius  juris 
civilis  doleam  vicem,  quod  paene  interpretibus  caret,  aut  quod 
bis,  quos  nunc  habet,  potius  non  caret.  Satius  est  non  scribere 
quam  bestias  habere  lectores,  qui  quod  tu  sapienter  exeogitasti, 
aut  non  intelligant  aut  insipienter  aliis  exponant.  Valla's  Un- 
willen geht  im  Wesentlichen  von  derselben  Ansicht  aus,  wo- 
durch 100  Jahre  später  in  Italien  von  Alciatus,  in  Frank- 
reich von  Budäus,  Duarenus  und  Gujacius  eine  gründliche 
Verbesserung  des  Rechtsstudiums  herbeigeführt  wurde,  von 
der  Notwendigkeit  die  Rechtsquellen  philologisch  zu  er- 
klären. Er  kleidete  seine  scharfe  Kritik  der  Schrift  des  Bar- 
tolus  in  einen  Brief  an  den  ihm  befreundeten  und  sprach- 
gewandten Juristen  Cato  Sancius,  wie  er  selbst  Oper.  p.  629 
sagt,  ein;  in  den  gedruckten  Ausgaben  ist  diesem  Freunde 
der  Mailänder  Candidus  Decembrius  substituirt,  wahrschein- 
lich weil  wir  die  Schrift  Vqlla's  in  einer  zweiten  Ausgabe 
besitzen. 

Es  erhob  sich  Valla's  halber  ein  Streit  der  Juristen  und 
Philosophen  auf  der  Universität  Pavia  unter  Anführung  ihrer 
Rectoren.  Wovon  er  ausging  und  was  die  Streitenden  be- 
zweckten, ist  aus  der  Erwähnung  der  Sache  bei  Valla  Oper, 
p.  630  nicht  klar.  Nämlich  späterhin  wurde  Valla'n  von  seinem 
Gegner  Facius  vorgehalten,  dass  die  Juristen  in  Pavia  ihn  zerris- 
sen haben  würden,  wenn  ihn  nicht  Antonius  Panormita's  Vor- 


410  Leben  und  Verdiensle 

mittelang  gerettet  bitte.  Valla  antwortet  hierauf,  eine  Ver- 
mittelung  durch  Antonius  habe  weder  stattgefunden,  weil 
ihm  Antonius  damals  schon  feind  gewesen,  noch  stattfinden 
können,  weil  Antonios  ohne  alle  Bedeutung  gewesen  wäre. 
Der  Streit  habe  zwischen  dem  Rector  der  Juristen  und  dem 
Rector  der  Philosophie  Studirenden  Statt  gefunden,  weil  die 
Philosophen  Valla  in  Schutz  nahmen  und  wegen  seines  An« 
griffe  auf  die  Juristen  zu  den  Ihrigen  rechneten,  obgleich  er 
sich  doch  vorher  auch  als  ein  Gegner  der  Philosophen  ge- 
zeigt habe.  Dies  kann  nur  auf  die  Aeusserungen  Valla's  in 
der  Schrift  de  libero  arbitrio  über  das  Unvermögen  der  Phi- 
losophie Freiheit  und  Notwendigkeit  zu  vereinigen,  und  auf 
seine  Verwerfung  des  Boöthius  gehen.  Das  Ende  des  Strei- 
tes war,  sagt  Valla,  dass  die  Juristen  ihren  Aerger  still  er- 
trugen und  die  Philosophen,  selbst  ohne  Genugthuung  von 
Seiten  Valla's,  laut  triumphirten,  d.  h.  ohne  dass  Valla  etwas 
von  dem  zurücknahm,  was  er  gegen  die  Philosophie  geäus- 
sert hatte  *). 

Ob  Valla  in  Paria,  oder  später  in  Neapel  oder  in  Rom 
Sallust's  Gatilina  erklärt  und  zu  diesem  Behuf  ein  Commen- 
tarium  niedergeschrieben  hat,  welches  sich  in  mehreren  al- 
ten Ausgaben  des  Sallust  unter  dem  Namen  Laurentius  Valla 
abgedruckt  findet  **),  ist  nicht  zu  bestimmen,  da  diese  Arbeit 
weder  Vorrede  noch  Dedication  hat.  Ja  es  scheint  mir  über- 
haupt zweifelhaft,  ob  diese  Noten  von  unserm  Laurentius 
Valla  sind.  Sie  sind  so  trivial,  so  sehr  blosse  Wortumschrei- 
bung ohne  alle    feineren  Unterscheidungen,  ohne  gramma- 

*)  Das  Verständniss  der  Stelle  im  4len  Buch  in  Facium  p.630 
ist  schwierig,  theils  weil  der  Grund,  weshalb  er  hostis  philosopho- 
rum  genannt  worden,  nicht  angegeben  wird,  theils  weil  Druckfeh- 
ler vorkommen.  Für  q u  am  diversam  factionem  scripsissem  lese  ich 
quoniam  —  scripsissem,  indem  Valla  auch  sonst  scribere  für  de- 
scribere,  persifliren,  gebraucht;  für  quod  a  se  transissem  muss  es 
heissen  ad  se. 

**)  Poggiali  citirt  als  die  älteste  Ausgabe,  worin  sich  diese  No* 
ten  mit-  dem  Namen  Laur.  Vallae  finden,  die  Venelianische  1491. 
Mir  liegt  dte  Ausgabe  Venet.  1506  zugleich  mit  den  ähnlichen  Wort- 
umschreibenden  Noten  des  Omnibonus  Leonicenus  vor. 


des  Laurentim  Valla.  411 

tische  Bemerkungen,  dass  man  auf  keine  Weise  den  Verfas- 
ser der  Elegantiae  darin  erkennt. 

Valla  trat  mit  dem  Scbluss  des  Studienjahrs  1432  von 
seinem  Lehramt  in  Pavia  ab,  und  dies  ward  von  dem  Her- 
zog von  Mailand  zweien  Bewerbern,  dem  Magister  Antonius 
aus  Palermo  und  dem  Magister  Antonius  aus  Asti  gemein- 
schaftlich und  dergestalt  übertragen,  dass  von  dem  Gebalte 
von  50  Florenen,  welches  Valla  bezogen  hatte,  30  Florenen 
dem  ersteren  und  20  dem  andern  angewiesen  wurden  *).  Ein 
gerichtliches  Instrument  vom  4tenMarz  1433,  wodurch  Valla 
seinen  Antheil  an  dem  väterlichen  Hause  in  Rom  seiner 
Schwester  Margaretha,  der  Verlobten  des  apostolischen  Schrei- 
bers und  Abbrewators  Ambrogio  Dardanoni  aus  Mailand,  ab- 
trat, ist  die  letzte  Spur  von  Vaila's  Aufenthalt  in  Pavia.  Er 
begab  sieh  nach  Mailand  legendi  gratia,  wie  er  selbst 
sagt;  aber  was  er  in  Mailand  vorgetragen  und  ob  er  ein« 
öffentliche  Anstellung  daselbst  gehabt  bat,  ist  aus  Mangel  an 
Nachrichten  nicht  zu  bestimmen. 

Valla  trat  darauf  in  die  Dienste  des  Königs  Alfons  von 
Aragonten  und  Sicilien  zur  Zeit  als  dieser  Fürst  noch  um 
den  Thron  von  Neapel  kämpfte.     Nämlich  am  2.  Februar 

1434  war  die  Königin  Johanna  von  Neapel  gestorben.  Sie 
hatte  Alfons  adoptirt  und  ihn  in  einem  Testamente  zum  Er- 
ben ihres  Reiches  eingesetzt.  Die  wankelmütbige  Frau  wi- 
derrief jedoch  diese  Bestimmung,  und  erkannte  Ludwig  von 
Anjou  als  rechtmässigen  Erben  an.  Dieser  vererbte,  da  er 
kurze  Zeit  vor  Johanna  starb,  sein  Recht  auf  seinen  Bruder 
Rena,  Herzog  von  Provence,  und  so  entbrannte  im  Jahre 

1435  der  Krieg  zwischen  dea  Kronprätendenten,  Alfons  von 
Aragonien  und  Ren6  aus  dem  Hause  Anjou;  er  nahm  erst 
1442  mit  der  Eroberung  Neapels  durch  Alfons  und  der  Flucht 
des  unglückliehen  Königs  Ren6  ein  Ende. 

Valla  muss  die  persönliche  Bekanntschaft  des  Königs 
Alfons  in  Mailand  gemacht  haben,  denn  Alfons  war  im  Som- 
mer 1435    bei    der   Belagerung  Gaetas   von  den   Genuesen 


*)  Poggiali  aus  dem  Archiv  von  Pavia,  p.  25« 


412  Leben  und  Verdienste 

zur  See  geschlagen  und  zum  Gefangeneligemacht  worden,  wor- 
auf ihn  die  Genuesen  ihrem  damaligen  Schulzherrn,  dem 
Herzog  von  Mailand  Philipp  Maria  Visconti,  überliefert  hat- 
ten. Was  ein  unermessliches  Unglück  für  Alfons  schien, 
schlug  zu  seinem  Glücke  aus:  er  wurde  in  Mailand  ehren- 
voll behandelt  und  erhielt  seine  Freiheit  zurück,  eine  Folge 
seiner  persönlichen  Liebenswürdigkeit  und  geheimer  Vertrage. 
Es  könnte  scheinen,  als  sei  Valla  zu  Mailand  selbst  1435  in 
Alfons  Dienste  getreten,  doch  ergiebt  sich  aus  dem  Briefe 
Valla's  an  den  Cardinal-Kammerer  Eugen's  IV.,  von  welchem 
Briefe  später  die  Rede  sein  wird,  dass  dies  erst  Ausgangs 
des  Jahres  1436  oder  zu  Anfang  1437  stattfand. 

Noch  vor  seiner  Reise  ins  Neapolitanische  machte  Valla  dem 
Papst  Eugen  IV.  seine  Aufwartung:  er  erinnert  den  Papst  daran 
in  einem  Briefe  *),  ja  er  sagt,  er  würde  sich  nicht  von  seiner 
Person  entfernt  haben,  wenn  er  nicht  seinen  Bruder,  den  er  in 
9  Jahren  nicht  gesehen,  im  Neapolitanischen  (Salerno)  hätte 
besuchen  wollen.  Er  verschweigt  dabei  seine  Anstellung  im 
Dienste  Alfons,  mit  dem  der  Papst  meist  in  Streit  war. 

Valla  wurde  des  Königs  Secretär.  So  heisst  er  auf  seinem 
Grabsteine  und  so  sagt  er  selbst  in  seinem  Briefe  **)  an  den 
Cardinal-Kammerer.  Auch  Antonius  Panormita  war  mit  dem 
Titel  eines  königlichen  Rathes,  wahrscheinlich  schon  einige 
Zeit  vor  Valla,  in  Alfons  Dienste  getreten,  und  in  etwas  un- 
tergeordneter Stellung,  wie  es  scheint,  leistete  Bartholomäus 
Facius  ähnliche  Dienste.  Ganz  unrichtig  "*)  sagt  Draken- 
boreb,  der  König  Alfons  habe  Valla  als  öffentlichen  Lehrer 
der  Rhetorik  angestellt.  Wo  sollte  Valla  auch  gelehrt  haben, 
da  Neapel  erst  144?  in  Alfons  Besitz  kam?    Valla  begleitete 


*)  Epislolae  regum,  prineipum,  rerumpublicarum  ac  sapientum 
virorum  etc,  oder  zufoige  der  inneren  Ueberschrifl  Epislolae  man- 
di  procerum,  Venedig  1574  durch  Hieron.  Donzellinus  herausgege- 
ben, dann  Argentioae  1593  abgedruckt,  welche  Ausgabe  ich  vor 
mir  habe,  pag.  336. 

**)  Ebendas.  p.  398. 

***)  Die  Stelle,  die  er  zur  Beglaubigung  citirt,  aus  Valla's  Hb.  IV. 
in  Faciura  p.  6*24  bezieht  sich  auf  Valla's  früheres  Lehramt  in  Pavia. 


des  Laurentius  Valla.  413 

den  König  mehrere  Jahre  hindurch  auf  seinen  Kriegszügen 
in  Unteritalien.  Alfons  war  ein  Freund  eleganter  Gelehr- 
samkeit: die  lateinische  Sprache  war  die  höhere  Geschäfts» 
spräche,  und  Alfons  wünschte  sie  richtiger  und  eleganter  zu 
sprechen,  als  er  sie  ohne  Zweifel  schon  sprach.  Er  war  so 
eifrig,  dass  er  sich  alle  Sprachbemerkungen,  die  Vaila  machte, 
selbst  aufzeichnete.  Fast  täglich  nach  Tische,  wenn  keine 
wichtigeren  Geschäfte  drängten,  liess  der  König  lateinisch 
vorlesen,  in  der  Regel  von  Antonius  Panormita.  Der  ganze 
Livius  ward  auf  diese  Weise  durchgelesen.  Der  König,  aber 
auch  andere  Anwesende,  fragten,  wenn  sie  etwas  nicht  ver- 
standen, und  ergingen  sich  auch  sonst  in  Gesprächen  über 
das  Gelesene.  Aus  diesen  Unterhaltungen  sind  dann  haupt- 
sächlich die  4  Bücher  de  dictis  et  factis  Allonsi  regis  hervor- 
gegangen, welche  Antonius  Panormita  verfasste  und  noch  bei 
Lebzeiten  des  Königs  herausgab.  Er  erklärt  in  der  Vorrede, 
er  wolle,  wie  Xenophon  die  Reden  des  Sokrates  sammelte, 
so  die  klugen  und  geistreichen  Thaten  und  Worte  des  Kö- 
nigs auf  die  Nachwelt  bringen.  Und  zu  dieser  Schrift  des 
Antonius  schrieb  Aeneas  Silvius  Piccolomini,  damals  Bischof, 
später  Papst  unter  dem  Namen  Pius  IL,  Randglossen  und 
Betrachtungen,  die  ebenfalls  gedruckt  sind  *).  Valla  hatte  bei 
seinem  Geschäft  doch  noch  Zeit  genug  zu  literarischen  Com- 
positionen  übrig.  Die  Geisteskraft  ist  zu  bewundern,  mit 
der  er  seine  Mussestunden  so  anzuwenden  verstand,  wie  er 
sie  anwandte.  Zuerst  vollendete  er  auf  Kriegszügen  in  der 
Begleitung  des  Königs,  unter  andern  Besorgungen  (wie  er 
selbst  in  der  Vorrede  zum  5ten  Buch  sagt),  seine  6  Bücher 
Elegantiarum.  Er  musste  eilen  sie  zu  publiciren,  weil 
schon  vieles  davon  durch  seine  Schüler  verbreitet  war,  und 
Andere  sich  seine  Entdeckungen  aneigneten.  Dies  Werk 
enthält  feine,  damals  durchaus  neue  Bemerkungen  über  la- 
teinische Grammatik,  Formenlehre  sowohl  als  Syntax,  über 
den  richtigen  Gebrauch  einzelner  Wörter  und  die  Synony- 
mik, im  6ten  Buch  Berichtigungen  sprachlicher  Bemerkungen 


*)  Unter  dem  Titel  Commentarium. 

Zeitschrift  f.  Geschichte*.  IV.   1845.  28 


414  Leben  tauf  Verdienste 

alter  Grammatiker  und  Commentatoren,  wie  Servhis,  Dona- 
tas,  Asconius  und  die  juristischen  Worterklärer.  Man  muss 
die  Belesenheit  Valla's ,  seine  scharfe  Beobachtung  und  die 
bündige  treffende  Art  des  Vortrags  bewundern.  Es  sind 
Sprachbemerkungen,  wie  sie  auch  heut  zu  Tage  noch  der 
sprachliche  Erklärer  eines  alten  Autors  in  Gollegien  vorträgt: 
trivial  ist  gar  nichts,  vielmehr  das  Meiste  von  der  Art,  dass 
es  gar  sehr  den  beutigen  Latinisten  wieder  in  Erinnerung 
gebracht  zu  werden  verdient  Man  muss  wünschen,  dass  es 
für  alle  Sprachen  ein  Handbuch  gebe,  welches  so  kurz  und 
treffend  auf  den  Sprachgebrauch  erlesener  Autoren  aufmerk- 
sam macht  Bei  den  Zeitgenossen  fanden  Valla's  Elegan- 
tiae  einen  solchen  Beifall,  dass  allein  in  der  zweiten  Hälfte 
des  15ten  Jahrhunderts  12  Ausgaben  derselben  im  Druck  er- 
schienen. 

Nach  diesem  Werke  gab  Valla  seine  3  Bücher  Diale- 
cticae  disputationes  heraus,  eine  Logik  der  Rhetorik.  Er 
habe  sie  schon  längst  herausgeben  wollen,  sagt  er  in  der 
Vorrede  des  3ten  Buchs  der  Elegantiae,  um  zu  zeigen,  dass 
die  Philosophen  deshalb  am  meisten  irren,  weil  es  ihnen  an 
Sprachfertigkeit  fehle:  nur  seine  Freunde  hätten  ihn  genö- 
thigt  zuvörderst  die  Elegantiae  herauszugeben.  Er  geht  auch 
in  diesem  Werke  seinen  eigenen  Weg,  indem  er  sich  von 
vorn  berein  gegen  Aristoteles  erklärt  und  dessen  10  Kate- 
gorien auf  3,  substantia,  qualitas  und  actio,  zurückfuhrt  Er 
sucht  die  ganze  Disciplin  zu  vereinfachen.  Im  ersten  Buch 
bandelt  er  von  ihren  Grundlagen,  im  zweiten  von  der  ver- 
borum  interpretatio,  im  dritten  von  der  argumentandi  ratio, 
alles  wo  möglich  mit  Beispielen  aus  der  klassischen  Literatur. 

Aus  einem  griechischen  Manuscript,  welches  ihm  ex 
praeda  navali  zugekommen,  übersetzte  Valla  33  Aesopische 
Fabeln  und  dedicirte  diese  schlichte  aber  gut  lateinische  Ue- 
bersetzung,  das  Werk  dreier  Tage,  unter  dem  Isten  Mai  1438 
aus  Cajeta  dem  Renaldus  Fonaledae.  *) 


*)  Ich  habe  vor  mir  Diversorum  authorum  et  interpretum  fa* 
bulae  excusae  Argentor.  1520.  4. 


des  Laurentius  Valla.  415 

Die  Livianiscben  Vorlesungen  am  Hofe  des  Königs  ga- 
ben dem  Valla  die  Veranlassung,  eine  Abhandlung  über  die 
Frage  zu  schreiben,  ob  Tarquinius  Superbus  der  Sohn  oder 
Enkel  des  Tarquinius  Priseus  gewesen.  Er  behauptet»  der 
Enkel:  siegreich,  wenn  diese  sagenhafte  Erzählung  auf  Fac- 
ticität  zurückzufuhren  ist  Er  vollendete  diese  Schrift  zu 
Neapel  am  6.  December  1442.  Am  6.  Juli  dieses  Jahres  war 
nämlich  Alfons  in  seine  endlich  unterworfene  Hauptstadt 
und  nunmehrige  Residenz  eingezogen. 

Aber  bei  weitem  die  merkwürdigste  Schrift,  mit  deren 
Ausarbeitung  Valla  in  der  Zeit  seines  Aufenthaltes  am  Hofe 
Alfons,  beschäftigt  war,  ist  die  declamatio  de  falso  credita  et 
ementita  Gonstantini  donatione,  womit  er  einen  der  heftig- 
sten Angriffe  auf  die  Hierarchie  machte.  Er  muss  sie  im 
Jahre  1439  geschrieben  haben  zufolge  der  Stelle  p.  793  Oper., 
wo  er  sagt:  „Romam  sexto  abhinc  anno  rebellasse,  cum  pa- 
cem  ab  Eugenio  obtinere  non  posset,  nee  pax  esset  ab  ho- 
stibus,  qui  eam  obsiderent."  Dieser  Aufstand  in  Rom  gegen 
Engen  IV.  geschah  nämlich  im  Jahre  1434.  Der  Papst  wurde 
von  den  Bürgern  gefangen  gehalten:  man  verlangte  von  ihm, 
er  solle  seiner  weltlichen  Herrschaft  entsagen;  er  entfloh  (am 
8.  Juli)  mit  Lebensgefahr  und  bekriegte  dann  seine  Haupt- 
stadt. 

Es  ist  eine  merkwürdige  Schrift  wegen  der  kecken  An- 
sicht, die  darin  ausgesprochen  und  begründet  wird,  dass  alle 
weltliche  Herrschaft  des  Papstes  und  der  Kirche  eine  Usur- 
pation über  den  Aberglauben  sei.  Valla  greift  ein  Palladium 
der  römischen  Kirche,  die  Schenkungsurkunde  Gonstantins 
an,  die  wirklich  in  der  Decretalensammlung  Isidors  steht  und 
in  das  kanonische  Recht  übergegangen  war,  wonach  Con- 
stantin  zum  Dank  für  die  empfangene  Taufe  dem  Papst  Sil- 
vester nicht  nur  die  Stadt  Rom  geschenkt,  sondern  auch  sein 
ganzes  Reich  verschrieben  haben  soll,  dergestalt  dass  er  selbst 
es  nur  als  Verwalter  des  Papstes  wieder  nahm.  Valla  zeigt  mit 
Kenntniss  der  römischen  Geschichte  und  Antiquitäten,  dass  die 
Sache  rein  unmöglich,  die  Urkunde  erlogen  und  erst  im 
9tcn  Jahrhundert  geschmiedet  sei.    Er  gebt  aber  noch  viel 

28* 


416  Leben  und  Verdienste 

weiter:  er  preist  die  Reinheit  der  alten  Kirche  und  leitet 
alle  Verderbniss  der  jetzigen,  allen  Krieg  and  alles  Unglück 
Italiens,  von  der  usurpirten  weltlichen  Herrschaft  des  Pap- 
stes ab.  Man  sage  schmählicher  Weise:  „die  Kirche  strei- 
tet gegen  Perugia,  gegen  Bologna.  Nein,  nicht  die  Kirche, 
sondern  der  Papst  in  seinem  weltlichen  Gelüste  bekriegt  die 
trefflichen  Städte.'4  Er  verlangt  am  Schluss,  der  Papst  solle 
seine  Unterthanen  frei  lassen,  ihnen  die  Wahl  einer  weltli- 
chen Regierung  anheim  geben.  „Ich  hoffe,  er  giebt  der 
Wahrheit  die  Ehre  und  wandert  von  selbst  aus  dem  frem- 
den Hause  in  das  eigene,  er  zieht  sich  aus  den  empörten 
Fluthen  in  den  sicheren  Hafen  «seines  eigentlichen  Berufes 
zurück.  Thut  er  es  aber  nicht,  so  werde  ich  mich  zu  einer 
zweiten  Rede  anschicken,  die  noch  viel  gewaltiger  als  diese 
sein  soll." 

Valla's  Gründe  gegen  die  Schenkung  Gonstantin's  sind 
so  einleuchtend,  dass  kein  noch  so  päpstlich  gesinnter  Ka- 
tholik in  neuerer  Zeit  an  der  Falschheit  der  Urkunde  zwei- 
felt; die  eifrigsten  behaupten  nur,  es  sei  eine  arglose  Erdich- 
tung, insofern  das  wirklich  Bestehende  auf  einen  Urheber, 
der  es  angeordnet  haben  sollte,  zurückgeführt  sei.  Auch  Ti- 
raboschi,  der  in  kirchlichen  Dingen  überaus  vorsichtig  und 
conservativ  gesinnt  ist,  tadelt  an  Valla's  Schrill  nur  die  Hef- 
tigkeit und  die  bemerkbare  Absicht  der  römischen  Gurie  wehe 
zu  thun.  Ganz  gewiss,  wer  heutiges  Tages  so  etwas  druk- 
ken  Hesse,  hätte,  wo  die  römische  Kirche  Macht  hat,  am  läng- 
sten das  Licht  der  Sonne  gesehen. 

Eine  äussere  Veranlassung  und  Aufforderung  hatte  Val- 
la's Angriff  durch  den  Streit  des  Baseler  Goncils  mit  Eugen  IV. 
Dieser  Papst  hatte  das  Goncil  im  Jahre  1438  aufgehoben  und 
nach  Ferrara  verlegt.  Das  Goncilium  gehorchte  nicht,  hielt 
sich  für  mehr  als  der  Papst,  setzte  Eugen  IV.  1439  ab  und 
wählte  den  ehemaligen  Herzog  von  Savoyen,  Felix  V.  Kö- 
nig Alfons  lebte  in  Unfrieden  mit  dem  römischen  Papste,  weil 
dieser  alles  anwandte,  dass  Neapel  nicht  mit  Sicilien  vereinigt 
würde:  er  erkannte  den  Gegenpapst  an.  Auch  der  Herzog 
von  Mailand  hatte  Streit  mit  Eugen  IV.  Es  könnte  demnach 


des  Laurentiu*  Valla.  417 

wohl  scheinen,  als  habe  Valla  für  eine  politische  Partei  und 
im  Auftrage  Alfons'  geschrieben.  Aber  hiervon  findet  sich 
keine  Spur,  und  man  kann  nicht  zweifeln,  dass  Valla  seine 
eigene  Gesinnung  ausdrückt,  womit  seine  späteren  reforma- 
torischen Versuche  in  Bezug  auf  den  Text  der  Vulgata  in  Ver- 
bindung stehen. 

Valla  schreibt  an  Guarinus  und  Aurispa  ohne  Hehl  und 
sich  rühmend  von  seiner  Schrift,  indem  er  sie  ihnen  zuzusen- 
den verspricht,  falls  sie  sie  noch  nicht  hätten/)  und  noch  spä- 
ter (1444)  erklärt  er  dem  Cardinal  Kämmerer  in  dem  oben 
angeführten  Briefe/*)  er  könne  weder  noch  wolle  er  sie  än- 
dern oder  unterdrücken,  sondern  müsse  mit  Gamaliel  sagen: 
„Ist  dies  Menschenwerk,  so  wird  es  untergeben,  ist  es  aber 
von  Gott,  so  könnt  ihr  es  nicht  zerstören."  Anderwärts  je- 
doch spricht  er  von  der  Schrift  so,  dass  er  ihre  Verbreitung 
nicht  sich,  sondern  der  Dummheit  seiner  Gegner  zuschreibt, 
wodurch  es  bewirkt  worden  sei,  dass  sie  nun  nicht  wieder 
zurückgenommen  werden  könne.***)  Sie  lief  im  Verborgenen 
um:  Anton  Gortese,  päpstlicher  Secretar,  schrieb  ein  Buch 
dagegen,  „Antivalla"  betitelt,  doch  wie  es  scheint,!)  erst  nach 
Valla's  Tode.  Es  gelang  der  römischen  Curie  sie  zu  unter- 
drücken, bis  sie  zur  Zeit  der  Beformation  in  Basel  gedruckt 
erschien  und  durch  alle  Welt  flog. 

Dieselbe  philologisch -historische  Gründlichkeit  oder  im 
Allgemeinen  diese  Freisinnigkeit  verwickelte  Valla  in  Neapel 
in  eigentlich  theologische  Händel.  Er  behauptete  gegen  ei- 
nige vornehme  Geistliche,  der  Brief  Christi  an  Abgarus  von 
Edcssa,  der  sich  zuerst  bei  Eusebius  Kirchengesch.  1,  13  fin- 
det, sei  unächt,   woran  jetzt  niemand  mehr-  zweifelt.     Ein 


*)    Epist.  raundi  procer.  p.  346  und  350. 
')    Epistolae  eaed.  p.  337. 
')    Antidot,  in  Poggium  lib.  IV.  p.  356. 
f)    Er  wirft  nämlich  dem  Valla  vor,  seine  Stellung  als  päpst- 
licher Secretar  gemissbraucht  zu  haben.    Valla  erhielt  diese  Stel- 
lung aber  erst  am  Ende  seines  Lebens:  es  ist  auch  nur  Unkunde, 
wahre  oder  erheuchelte,  des  Cortese,  wenn  er  annimmt,  dass  Valla 
seine  Schrift  in  Rom,  ein  undankbarer  Diener  des  Papstes,  abge- 
fasst  habe.    S.  die  Stelle  bei  Tiraboschi. 


418  Leben  und  Verdienste 

Mönch  Fra  Antonio  da  Bitonto  predigte  in  der  Fastenzeit 
über  das  apostolische  Symbolum  und  lehrte  es  sei  von  den 
zwölf  Aposteln  gemeinschaftlich  und  dergestalt  abgefasst  wor- 
den, dass  jeder  Apostel  einen  Artikel  desselben  lieferte.  Valla 
ging  mit  einem  Freunde  zu  ihm  in  das  Kloster  und  setzte 
ihn  zur  Rede,  wie  er  dies  beweisen  könne.  Der  Mönch  konnte 
keinen  alten  Kirchenvater  dafür  anführen,  wies  aber  den  Ein- 
spruch eines  Laien  geringschätzig  ab  und  predigte  von  neuem, 
Valla  als  einen  Ungläubigen  und  Zweifelsüchtigen  bezeich- 
nend. Valla  dagegen  kündigte  eine  öffentliche  Disputation  in 
Neapel  an,  worin  er  die  Unrichtigkeit  jener  Entstehung  des 
sogenannten  apostolischen  Symbolums  gegen  jedermann  be- 
haupten wolle.  Er  würde  auch  wohl  noch  weiter  gegangen 
sein  und  überhaupt  die  Existenz  eines  Symbolums  vor  dem 
Nicänischen  geläugnet  haben,  wie  sich  dies  aus  pag.  360  sei- 
nes vierten  Antidoton's  gegen  Poggius  zu  ergeben  scheint 
Der  König  Alfons  hinderte  die  Disputation  auf  eine  für  Valla 
ehrenvolle  Weise.  Aber  die  Gegner  verklagten  den  kecken 
Philologen  bei  dem  erzbischöflichen  Amte,  und  obgleich  Valla 
immer  die  Erklärung  wiederholte,  er  nähme  alles  an  was  die 
Mutter  Kirche  annehme,  so  stand  er  doch  in  Gefahr  als  Ket- 
zer verurtheilt  zu  werden,  bis  ihn  der  König  unmittelbar  in 
Schutz  nahm  und  ernstlich  befahl,  die  geistlichen  Richter  soll- 
ten sich  an  jener  Erklärung  genügen  lassen. 

Schon  damals  beschäftigte  sich  Valla  eifrigst  mit  der 
Durchmusterung  der  lateinischen  Vulgata  des  neuen  Testa- 
ments. Er  hatte  schon  in  den  Elegantiae  viele  sprachliche 
Unrichtigkeiten  in  derselben  getadelt*):  dies  anfänglich  nar 

*)  Die  Elegantiae  sind  wirklich  in  den  Index  der  vom  Triden- 
ter  Conciliuai  verbotenen  Bücher  gesetzt  worden,  jedoch  nur 
bis  die  Stelle  VI.  34  corrigirt  würde,  s.  Poggiali  p.  131.  In  dieser 
Stelle  erklärt  sich  Valla  polemisch  gegen  die  Definition  des  Boe- 
ihius  von  persona  und  spricht  sich  über  den  unrömischen  Ge- 
brauch dieses  Wortes  zur  Bezeichnung  einer  Substanz,  nicht  einer 
Qualität,  tadelnd  aus.  Valla  hatte  damit  nichts  Theologisches  oder 
Dogmatisches  gemeint,  aber  ein  eifriger  Latinist  konnte  allerdings 
daraus  eine  Argumentation  gegen  die  kirchliche  Bestimmung  von 
den  drei  Personen  Gottes  ziehen. 


de*  Laurentius  Valla.  419 

* 

stilistische  Interesse  führte  ihn  weiter.  Daneben  arbeitete 
er  an  einer  Uebersetzung  der  llias  in  lateinische  Prosa:  er 
schreibt  ungefähr  um  diese  Zeit  an  Joh.  Aurispa/)  er  habe 
16  Bücher  fertig,  wolle  sie  aber  nicht  zuvor  publiciren,  ehe 
er  sie  nicht  Aurispa'n  vorgelegt  und  dessen  beifälliges  Lrtheil 
erhalten  habe.  Es  muss  ihm  nicht  versagt  worden  sein,  denn 
Valla's  Uebersetzung  der  llias  ist  vollständig  im  Druck  er- 
schienen Brixiae  1474. 

Trotz  des  Schutzes,  den  ihm  der  König  Alfons  ge- 
währte, wünschte  Valla  nach  Rom  zurückzukehren.  Was  ihm 
in  Neapel  missiiel,  ist  schwer  zu  sagen.  Man  kann  vermu- 
then,  der  Neid  seiner  gelehrten  Collegen  am  Hofe  des  Kö- 
nigs, was  von  einer  späteren  Zeit  gewiss  ist.  Ob  aber  diese 
Misshelligkeit  schon  damals  statt  fand,  ist  nicht  deutlich.  Er 
selbst  fuhrt  nur  den  Wunsch  an,  seine  Vaterstadt,  seine 
Verwandten  und  namentlich  seine  Mutter  wiederzusehen, 
König  Alfons  hatte  sich  mit  Eugen  IV.  ausgesöhnt;  er  hatte 
ihn  in  dem  am  14.  Juli  1443  geschlossenen  Frieden  als  Papst 
anerkannt,  wogegen  der  Papst  ihn,  den  bisherigen  Gegner,  mit 
dem  Königreiche  Neapel  belehnte.  Drei  Briefe  Valla's  aus 
Neapel  in  der  schon  früher  genannten  Sammlung  Epistolae 
mundi  procerum  beziehen  sich  auf  diese  gewünschte  Rück- 
kehr nach  Rom,  aber  alle  drei  sind  ohne  Jahreszahl.  In  dem 
ersten**)  vom  13.  Gal.  Dec.  an  den  Cardinal  Ludwig,  Käm- 
merer des  apostolischen  Stuhls,  wünscht  er  dringend  zu  wis- 
sen, ob  er  nach  Rom  kommen  dürfe  oder  nicht  Er  schreibt: 
„es  sei  ihm  gerathen  worden  mit  Empfehlungsbriefen  vom 
Könige  Alfons  an  den  Papst  und  mehrere  Gardinäie  in  Rom 
zu  erscheinen;  er  zöge  es  aber  vor  selber  an  den  Cardinal 
Kämmerer,  das  sei  so  gut  als  an  den  Papst,  zu  schreiben. 
Er  behauptet  den  Papst  Eugen  immer  geliebt  und  sich  nie- 
mals zu  seinen  Feinden  geschlagen  zu  haben,  in  der  Schrift 
von  der  Schenkung  Constantin's  habe  er  nur  die  Wahrheit 
vor  Augen  gehabt  und  keine   persönliche  Kränkung   dieses 


*)  Epist.  mundi  procerum  p.  347  sqq. 
**)  Epist.  mundi  proc.  p.  336  sqq. 


120  Leben  und  Verdunste 

Papstes  bezweckt"  Zur  Bestimmung  des  fehlenden  Jahres  ge- 
reicht die  Bezeichnung  zu  Anfang  des  Briefes,  er  sei  vierzehn 
Jahre  von  Rom  abwesend  und  acht  Jahre  als  Secretar  im 
Dienste  des  Königs  Alfons.  Danach  ist,  wenn  1431  als  das 
erste  Jahr  der  Abwesenheit  gerechnet  wird,  der  Brief  im 
Jahre  1444  geschrieben.  In  einem  anderen  Briefe  vom  12. 
Gal.  Febr.  bittet  er  den  Cardinal  Gerardus  fiir  ihn  den  so- 
genannten salvi  conductus  zu  erwirken.  *)  Endlich  in  einem 
Schreiben  an  den  Papst  (welches  in  der  Ausgabe  fälschlich 
Vallae  Oratio  ad  summum  pontificem  überschrieben  ist)**) 
vom  Tage  prid.  id.  Mart  (1445)  bittet  Valla  förmlich  um  Auf- 
nahme in  den  päpstlichen  Dienst;  er  betheuert  seine  bestän- 
dige Verehrung  fiir  den  Papst,  bittet  um  Verzeihung  dessen, 
was  er  theils  auf  fremde  Eingebung,  theils  aus  Ruhm-  und 
Streitsucht  gethan  habe,  und  verspricht  für's  Künftige  ein 
treuer  und  tapferer  Streiter  für  das  päpstliche  Interesse  zu  sein. 
So  reiste  er  dann  nach  Rom,  wahrscheinlich  ohne  irgend 
eine  feste  Zusicherung  erhalten  zu  haben.  Er  wohnte  bei 
seiner  Schwester  Margareta,  die  mit  dem  päpstlichen  Secre- 
tar Ambrosius  Dardanus  verheirathet  war.  Aber  sein  Auf- 
enthalt in  Rom  war  nicht  von  Dauer.  Man  fing  an  gegen 
ihn  zu  inquiriren.  Dieselben  Personen,  die  ihn  in  Neapel 
verfolgt  hatten,  schadeten  ihm  auch  in  Rom.***)  Er  musste 
furchten  vom  Pöbel,  den  man  gegen  ihn  aufwiegelte,  umge- 
bracht zu  werden.  Schon  im  zweiten  Monat  nach  seiner 
Ankunft  floh  er  wieder  aus  Rom  über  Ostia  nach  Neapel. 
Poggius  schrieb:  bis  Barcellona.  Aber  dies  ist  nicht  zu  er- 
klären, wenn  es  nicht  deshalb  geschah,  weil  König  Alfons 
sich  etwa  damals   in  Barcellona  aufhielt;   und  dann  ist  es 

*)  S.  Op.  p.  341.  Um  den  Cardinal  zu  gewinnen,  verheisst  er 
seine  neuen  philologischen  Arbeiten.  Si  istuc  veniam,  feram  XVI. 
libros  Homeri  prosa  translatos,  itemque  octo  libros  super  novutn 
testamentum,  praeterea  Elegantias  meas  cum  compendiariis  glossis 
ipso  opere  paene  ulilioribus. 

**)  S.  Op.  p.  397—405.  Poggiali  pag.  67  hält  deshalb  den  Brief 
irriger  Weise  für  den  zweiten  Theil  der  nachher  zu  erwähnenden 
Apologia. 

***)  S.  Opera  p.  362. 


des  Laurentius  Valla.  42  i 

wiederum  gleichgültig,  da  das  Ziel  der  Flucht  der  Hof  des 
Königs  war.  Alfons  gewährte  ihm  seinen  Schutz,  und  Nea- 
pel wurde  abermals  Valla's  Aufenthalt.  *) 

Von  dort  aus  sandte  er  an  den  Papst  Eugen  IV.  eine 
Apologia  adversus  calumniatores  suos,  die  in  den  Werken 
gedruckt  ist  -  Er  vertheidigt  sich  darin  gegen  Anklagen,  die 
man  aus  seiner  Schrift  de  vero  bono  abgeleitet  habe,  was 
ihm  nicht  schwer  fallen  konnte,  ferner  gegen  Verleumdungen 
in  Betreff  seiner  Zweifel  an  dem  Symbolum  apostolicum,  in- 
dem er  behauptet,  er  habe  nur  einen  gerechten  Zweifel  an 
der  vorgegebenen  rohen  Entstehungsart  des  apostolischen 
Symbolums  ausgedrückt.  Von  seiner  Schrift  de  donatione 
Gonstantini  schweigt  er  ganz,  obgleich  doch  ohne  Zweifel 
hierüber  vorzüglich  inquirirt  worden  war.  Entweder  sah  er 
ein,  dass  eine  Verteidigung  derselben  Eugen  IV.  gegenüber 
überhaupt  nicht  möglich  war,  oder  er  behielt  sich  noch  eine 
Art  der  Rechtfertigung  vor,  indem  er  seine  Apologia  als 
erstes  Stück  bezeichnete.  Aber  Eugen  IV.  bewahrte  seine 
Abneigung  gegen  Valla,  und  so  lange  er  lebte,  durfte  Valla 
nicht  mehr  daran  denken  nach  Rom  zurückzukehren. 

Es  ist  möglich,  dass  Valla  fortan  in  Neapel  wirklich  Vor- 
lesungen hielt,  denn  Joh.  Ant.  Campanus  wird  sein  Schüler 
genannt")  Aber  was  Poggiali  anfuhrt,***)  dass  Valla  sich 
auch  einen  Grundbesitz  bei  Neapel,  eine  Villa  bei  der  Mergel- 
Jina,  erwarb,  ist  nicht  bewiesen.  Er  gründet  diese  Notiz  auf 
einen  Brief  des  philologischen  Arztes  Antonius  Galateus  an 
Sannazar,  worin  eine  scherzhafte  Beschreibung  von  der  Klein- 
heit der  Villa  des  Laurentius  Valla  gegeben  wird.    Der  Brief 


*)  Drakenborch  übergeht  diesen  ersten  Versuch  Valla's  seinen 
Aufenthalt  wieder  in  Rom  zu  nehmen  ganz  und  gar,  und  spricht 
nur  von  derjenigen  Verlegung  seines  Wohnsitzes  von  Neapel  nach 
Rom,  die  nach  dem  Tode  Eugens  IV.  statt  fand. 

**)  S.  Poggiali  p.  44  aus  Apostolo  Zeno  disserl.  Vossian.  Tom.  I. 
p.  197.  Aber  wenn  Poggiali  auch  3en  Pomponius  Laetus  als  Schü- 
ler des  Valla  anführt,  so  bemerkt  er  nicht,  dass  Pomp,  den  Valla 
in  Rom,  nicht  in  Neapel,  hörte. 

***)  Poggiali  p.  73. 


492  Leben  und  Verdienste 

findet  sich  abgedruckt  am  Schluss  des  interessanten  Buches 
de  situ  Iapygiae  von  demselben  Verfasser.  *)  Jedoch  der  dort 
genannte  Laurentius  Valla  kann  nicht  unser  römischer  Valla 
sein :  die  Zeitbestimmungen  widersprechen.  Gaiateus  spricht 
von  dem  Besitzer  der  Villa  als  von  einem  noch  lebenden 
Zeitgenossen;  er  selbst  lebte  von  1444  bis  1517  und  schrieb 
jenen  Brief  etwa  im  Jahre  1500,  d.  h.  beinah  ein  halbes  Jahr- 
hundert nach  unsers  Valla  Tode.  Dem  Besitzer  der  Villa  hatte 
tuus  (Sannazarii)  meusque  beros  Fridericus  einen  Zugang 
zur  Villa  per  mediam  Mergellinam  gegeben,  und  dieser  Fri- 
dericus ist  der  Enkel  Alphons  1.  Also  bezieht  sich  diese 
ganze  Notiz  auf  einen  andern  zwar  gleichnamigen  aber  viel 
späteren  und  sonst  unbekannten  Valla  in  Neapel.**) 

Diese  Zeit  des  Aufenthalts  in  Neapel  wurde  Valla'n  durch 
gelehrte  Rivalitäten  und  empGndliche  Streitigkeiten  mit  ehe* 
maligen  Freunden  verbittert  Die  lateinischen  Vorlesungen 
bei  Hofe  waren  wieder  aufgenommen  worden.  Dabei  be- 
währte Valla  Scharfsinn  und  Gelehrsamkeit  in  weit  höherem 
Grade  als  Antonius  Panormita.  Wenn  in  der  Handschrift, 
aus  welcher  vorgelesen  wurde,  eine  sinn-  oder  sprachwidrige 
Stelle  war,  so  gab  Valla  eine  leichte  und  sichere  Emendation 
an,  worüber  der  König  laut  seine  Freude  äusserte.  Ans 
diesen  Beratbungen  sind  Valla's  Emendationes  Livianae  über 
die  dritte  Decade  der  Geschichtsbücher  hervorgegangen,  die 
einen  Theil  seiner  Streitschrift  gegen  Facius  ausmachen  und 
die  in  hohem  Grade  der  vorteilhaften  Vorstellung,  die  man 
schon  sonst  von  Valla's  philologischer  Schärfe  haben  muss, 


*)  Basel  155S.  8.  Auch  Niceron  im  Leben  des  Gaiateus  (Theil  9. 
S.  254  der  deutschen  Uebersetzung)  gründet  auf  diesen  Brief  die 
Angabe,  dass  Gaiateus  sich  bei  Laur.  Valla  aufgehalten. 

**)  Der  gelehrte  Akademiker  zu  Neapel,  Hr.  Agostino  Gervasio, 
den  ich  brieflich  um  Aufklärung  über  die  Person  des  von  Galateo 
genannten  Valla  befragte,  ist  mit  mir  der  Ueberzeugung ,  dass  es 
nicht  Laurentius  Valla  aus  Rom  sei.  Er  halt  sogar  den  Vornamen 
Laurentius  für  einen  falschen  Zusatz  des  Herausgebers  der  Schrif- 
ten Galateo's,  und  glaubt,  dass  der  im  Brief  Genannte  Pietro  Sal- 
vator  Valla  ist,  an  welchen  Ponlanus  einen  vom  1.  Januar  1460 
datirten  Brief  Opera  edtL  Basil.  1556  Tom.  3  p«  2597  gerichtet  bat. 


des  Laurenüus  Valla.  423 

entsprechen.  Durch  diese  (Jeberlegenheit  Valla's  fühlte  sich 
Antonius  gekränkt,  er  stand  sonst  in  hoher  Gunst  bei  Alfons 
und  wurde  in  wichtigen  Staatsgeschäften  gebraucht,  er  wollte 
aber  auch  als  Gelehrter  und  als  lateinischer  Stilist  der  erste 
sein  und  Valla's  Ruf  herabdrücken.  Jedoch  als  ein  feiner 
JMann  hielt  er  sich  hinter  den  Goulissen.  Er  sandte  seinen 
dienten  Facius,  einen  lateinischen  Stilisten,  der  uns  sonst 
nicht  unvortheilbaft  als  Historiograph  des  Königs  Alfons  be- 
kannt ist,  zum  Angriff  auf  Valla  vor.  Valla  erzählt  die  In- 
trigue  folgendermaassen:  *)  Der  König  hatte  Valla  den  Auf- 
trag gegeben,  das  Leben  seines  Vaters,  Ferdinand  L  von 
Aragonien,  zu  schreiben.  Valla  vollzog  den  Auftrag  und 
überreichte  das  Buch  in  der  Handschrift,  aber  noch  unaus- 
gefeilt,  dem  Könige,  damit  er  seine  sachlichen  Ausstellungen 
und  Zusätze  machen  möchte.  Alfons  war  dermalen  durch 
Geschäfte  behindert  und  gab  das  Buch  seinem  Bibliothekar. 
Von  diesem  erhielten  es  die  Gegner,  die  es  für  ihren  Zweck 
ausbeuteten.  Sie  fanden  einige  sachliche  Anslössigkeiten, 
wie  z.  B.  was  Valla  von  der  Corpulenz  des  Königs  Martin 
erzahlte,  wodurch  es  diesem  Vorgänger  Ferdinands  I.  **)  trotz 
aller  Veranstaltungen  unmöglich  war  ein  Kind  zu  erzielen. 
Die  Stelle  findet  sich  wirklich  im  zweiten  Buch  von  Valla's 
drei  Büchern  historiarum  Ferdinandi  Aragonum  et  Siculorum 
regis.***)  Ausserdem  spürten  Antonius  und  Facius  500  Sprach- 
fehler in  Valla's  Arbeit  auf.  Sie  stellten  ein  Buch  darüber 
zusammen  und  versandten  es  überall  hin  um  Valla's  Buf  zu 
schaden,  gerade  zur  Zeit  als  Valla  von  Neapel  nach  Born 
gereist  war.  f)    Valla  erhielt  bei  seiner  Bückkehr  Kunde  von 


*)  Lib.  1  in  Facium  p.  464  sq.  der  Opera. 

**)  Martin,  welcher  1410  starb,  war  der  Bruder  der  Königin 
von  Castilien  Eleonora  und  diese  die  Mutter  Ferdinands. 

***)  Diese  Schrift  Valla's  ist  nicht  in  die  Opera  Basil.  1540  auf- 
genommen, obgleich  *sie  schon  Paris  1521  zweimal  bei  Rob.  Stepba- 
nus  und  bei  Simon  Colinäus  erschienen  war.  In  Deutschland  be- 
förderte sie  Johann  Lang,  damals  Pastor  zu  Neisse,  aus  einer 
Handschrift  zum  Druck,  Vratislav.  1546,  in  Octav  ohne  Seitenzahlen. 

f )  Vall.  in  Facium  lib.  I.  Oper.  p.  465  cum  ipsi  me  propediem 


424  Leben  und  Verdienste 

dem  Angriff;  lange  konnte  er  sieb  das  Bach  nicht  verschaffen, 
endlich  erhielt  er  eine  Abschrift  des  an  Poggias  nach  Rom 
gesandten  Exemplars,  und  nun  schrieb  er  4  starke  Bücher 
Recriminationes  in  Facium,  worin  er  nicht  nur  sich  selbst 
gegen  alle  Ausstellungen  vertheidigte,  sondern  auch  seine 
beiden  Gegner  durch  die  Darlegung  ihrer  Intrigue  an  den 
Pranger  stellte.  Den  Facius,  den  er  meist  Fatuus  nennt, 
vernichtete  er  ausserdem  durch  die  Aufzählung  viel  ärgerer 
und  gar  nicht  zu  entschuldigender  Fehler,  die  derselbe  in 
seiner  Schrift  de  vitae  felicitate  begangen  hatte.  Valla's  Wahl- 
spruch war:  Turpe  quidem  contendere  erit,  sed  cedere  visum 
turpius.  Nichts  auf  sich  sitzen  zu  lassen  verlangte  damals 
und  noch  späterhin  die  Ehre  eines  Gelehrten,  während  es 
doch  bei  der  unendlichen  Masse  literarischer  Productionen 
sicherer  ist,  das  Falsche  seiner  Vergänglichkeit  zu  überlassen. 
Nur  durch  Valla's  Verteidigung  sind  die  Angriffe  der  Gegner 
im  Gedächtniss  geblieben,  ihre  Schrift  ist  nie  gedruckt  wor- 
den. Valla's  Recriminationes  enthalten  aber  sehr  viele  schätz- 
bare Sprachbemerkungen,  und  im  vierten  Buche  die  oben 
erwähnten  Emendationes  Livianae.  Wir  entschuldigen  auch 
seine  Heftigkeit,  wenn  wir  die  hämische  und  ungerechte  An- 
klage bedenken,  denn  in  der  That  zerfallen  alle  stilistischen 
Ausstellungen,  die  an  seinerSchrift  gemacht  wurden,  in  Nichts. 
Die  beiden  Gelehrten  hätten  sich  in  Acht  nehmen  sollen 
Valla's  grammatische  Kritik  zu  reizen.  Denn  er  hatte  eine 
Zeitlang  vorher  (ehe  er  die  Reise  nach  Rom  unternahm)  einen 
andern  Beweis  heftiger  Empfindlichkeit  und  unerbittlicher 
Strenge  gegeben.  Der  Mönch  Fra  Antonio  da  Rö  (lateinisch 
Antonius  Raudensis)  hatte  in  Mailand  ein  Buch  de  imitatione 
betitelt,  ähnlichen  Inhalts  wie  Valla's  Elegantiae,  nur  in  al- 
phabetischer Ordnung,  geschrieben  und  es  an  den  König  Al- 
fons  nach  Neapel  gesandt.  Er  hatte  darin  Valla  unverschämt 
geplündert,  ihn  aber  noch  dadurch  besonders  beleidigt,  dass 
er  unter  dem  Worte  omnis  eine  Bemerkung  Valla's  über 


ire  Romain  cum  summo  pontifice  collocuturum  conslitaisse  scirent 
et  non  reversurum  sperarent. 


des  Laurentius  Valla.  4'25 

den  Gebrauch  von  quisque  bei  Adjectivis  mit  dem  Ausdruck 
getadelt  hatte:  „Wer  dies  sagt,  der  soll  in  der  Schule  zu 
Unterst  sitzen, "  recumbet  in  ludi  novissimo  loco.*) 
Hierüber  gerieth  Valla  in  Harnisch;  er  setzte  seine  Anmer- 
kungen über  Antonius'  Schrillt  auf  und  wies  ihm  seine  Un- 
kenntniss  der  feineren  Latinitat  in  einer  grossen  Reibe  von 
Verstössen  nach.  Valla's  annotationes  in  Antonium  Räuden- 
sem  sind  gewöhnlich  als  Anhang  zu  den  Elegantiae  gedruckt; 
sie  sind  sehr  lehrreich  und  als  grammatische  Streitschrift 
musterhaft,  indem  zuerst  des  Gegners  Behauptung  mit  den 
eignen  Worten  desselben  aufgestellt  und  dann  haarscharf 
widerlegt  wird;  nur  das  kann  bezweifelt  werden,  ob  Valla 
gegen  einen  alien  Bekannten,  den  er  einmal  geehrt  und 
Freund  genannt,  nicht  mehr  Schonung  hatte  beweisen  müs- 
sen. Man  erkennt  aus  diesen  Streitigkeiten,  mit  welchem 
Interesse  damals  die  Fragen  nach  Richtigkeit  und  Feinheit 
des  lateinischen  Ausdrucks  behandelt  wurden,  zugleich  aber 
auch  wie  vieles  beachtet  und  gewusst  wurde,  was  jetzt  ent- 
weder nicht  beachtet  oder  nicht  gewusst  wird. 

Obgleich  Valla  in  seinem  Streit  mit  den  beiden  andern 
Hofphilologen  gesiegt  hatte  und  König  Alfons  sein  Gönner 
blieb,  so  hegte  er  doch  das  Verlangen  nach  Rom  zurückzu- 
kehren. Seine  Stellung  bei  Hofe  war  eine  unstäte,  unruhige. 
Er  begleitete  1446  und  1447  den  König  als  Vorleser  und 
Lehrer  auf  seinem  Zuge  durch  den  Kirchenstaat  (über  Tibur) 
nach  Toscana.  Dort  verliess  er  den  König  im  Lager  vor 
Monte  (ad  montem  Gastellum)  im  Herbst  1447  um  mit  seiner 
Erlaubniss  nach  Neapel  zurückzukehren.  Und  von  Neapel 
zog  er  mit  seiner  Habe  nach  Rom.  Nämlich  der  Papst 
Eugen  IV.  war  im  Februar  dieses  Jahres  1447  zur  Zeit  als 
sich  Valla  mit  dem  König  bei  Tibur  befand,  gestorben.  Sein 
Nachfolger  wurde  Nicolaus  V.,  selbst  ein  eifriger  Philologe 
und  freigebiger  Gönner  der  Philologen.  „Sogleich  als  er  er- 
wählt war,  bewilligte  er  Valla'n  Verzeihung  und  berief  ihn 


•# 


)  Vall.  Oper.  p.  412. 
)  S.  Opera  p.  355. 


426  Leben  und 

nach  Rom/4  so  sagt  Antonio  Cortese  in  seinem  Antivalla,*) 
„was  jenen  aber  doch,"  setzt  er  hinzu,  „nicht  abhielt  im 
Geheimen  sein  Buch  gegen  die  Schenkung  Constantins  aus- 
zuarbeiten und  gegen  Nicolaus  zu  richten,  was  gegen  Eugen 
bestimmt  war."  Dies  ist  eine  boshafte  Unwahrheit  Die 
Schrift  de  donatione  Constantini  war  längst  verfertigt  und  so 
verbreitet,  dass  Valla  selbst  eine  Aenderung  derselben  für 
unmöglich  hielt  Valla  verehrt  den  Papst  Nicolaus,  der  nichts 
weniger  als  ein  geistlicher  Zelot  war  und  der  während  seiner 
kurzen  Regierung  einen  unerhörten  Eifer  auf  die  Beförderung 
der  Gelehrsamkeit,  vornehmlich  der  klassischen  Literatur, 
wandte. 

Valla  hatte  Anfangs  keine  Anstellung  in  Rom:  erst  ein 
Jahr  nach  seiner  Uebersiedelung  von  Neapel  erhielt  er  die 
Stelle  eines  Scriptor  apostolicus,  von  der  er  am  10.  Novem- 
ber 1448  Besitz  nahm.**)  Zunächst  hatte  er  vom  Papst  nur 
den  Auftrag  erbalten  den  Thucydides  ins  Lateinische  zu 
übersetzen.  Es  war  der  erste  Versuch  diesen  schwierigen 
noch  nicht  durchweg  zu  periodischer  Klarheit  entwickelten 
Autor  zu  übersetzen.  Ihn  kunstgetreu  mit  Beibehaltung  sei- 
ner stilistischen  Eigentümlichkeit  ins  Lateinische  zu  über« 
tragen,  ist  eine  sich  kaum  verlohnende  Arbeit,  wenigstens 
war  dazu  eine  Hingebung  erforderlich,  die  von  demjenigen 
am  wenigsten  erwartet  werden  konnte,  der  seinen  eignen 
Stil  schon  ausgebildet  hatte.  Valla  schwankt  zwischen  Treue 
und  Latinität,  daher  ist  seine  [Übersetzung  sehr  ungleich: 
ferner  übersetzte  er  aus  der  Handschrift,  und  viele  Fehler 
mögen  dieser  und  dem  noch  nicht  angebahnten  Verständnis* 
zur  Last  fallen.  Seine  Arbeit  scheint  ihm  sauer  geworden 
zu  sein,  sie  war  im  Jahre  1452  vollendet;  er  überreichte  sie 
dem  Papst,  der  ihn  dafür  mit  500  Scudi  d'oto  beschenkte.  "*) 
Valla  machte  sich  nachher  daran  den  Herodot  zu  über- 
setzen.   Der  König  Alfons  soll  ihm  diesen  Auftrag  gegeben 

*)  Bei  Tiraboschi  storia  della  letler.  ItaL  Tom.  6  p.  2.  pag.  310. 
**)  Nachweisung  aus  Marini  Rcgistr.  Vatican.  bei  Poggiali  p.  76. 
••*)  Vall.  Oper.  p.  335  quingentos  aureos  papales.    Drafcen- 
borch  schreibt  unrichtig  quinquaginta. 


des  Laurentim  Valla.  427 

haben,  als  Valla  von  Rom  ans  einen  Besuch  in  Neapel  machte; 
ja  er  soll  ihm  schon  eine  ansehnliche  Summe  auf  Abschlag 
des  zu  erwartenden  Ehrensoldes  gegeben  haben.*)  Diese 
Uebersetzung  gelang  Vaila'n  sehr  viel  besser,  als  die  Latini- 
sirung  des  Thucydides,  so  dass  sie  nicht  nur  in  der  nächsten 
Zeit  ungetheilten  Beifall  erhielt,  sondern  auch  jetzt  noch  mit 
einigen  Gorrecturen  den  griechischen  Text  begleitet.  Reiz 
wenigstens  gesteht,  dass  er  bei  dem  Versuch  einer  neuen 
Uebersetzung  vieles  unverändert  von  Valla  herüber  nehmen 
müsse,  da  es  nicht  besser  übersetzt  werden  könne.  Mit  dieser 
Arbeit  war  Valla  noch  am  Ende  seines  Lebens  beschäftigt. 

Inzwischen  wünschte  Valla  noch  eine  andere  praktische 
Beschäftigung,  wie  sie  seinem  bisherigen  Hauptfache,  der 
lateinischen  Stilistik,  angemessen  war.  Professor  der  Rhe- 
torik in  Rom  war  der  Grieche  Georgius  Trapezuntius,  zu- 
gleich apostolischer  Secretar.  Er  hatte  zwar  ganz  gut  La- 
teinisch gelernt,  aber  es  fehlte  ihm  Talent  und  Neigung  für 
die  lateinische  Beredsamkeit.  Er  verachtete  den  Quintilian, 
den  Valla  überaus  hoch  schätzte.  Der  Papst  Nicolaus  wollte 
den  Georgius  nicht  kranken,  aber  Valla  setzte  es  doch  mit 
Beihülfe  einiger  Gardinäle  durch,  dass  ihm  neben  Georgius 
die  Professur  der  Rhetorik  mit  einem  gleichen  Gehalte  über- 
tragen wurde.  **)  Dies  geschah  drei  Jahr  nach  seiner  An- 
kunft in  Rom;  also  nehmen  wir  an,  dass  er  seine  lange  ge- 
wünschte Lehrtätigkeit  mit  dem  Wintercursus  1450  eröffnete. 
Ein  halbes  Jahr  las  er  neben  Georgius,  bis  dieser  von  dem 
Wetteifer  abstand.***)  Es  lässt  sich  erwarten,  dass  Valla 
in  diesem  seinem  eigentümlichen  Berufe  durch  mündlichen 
Vortrag  viel  leistete.  Es  scheint,  dass  er  den  Quintilian  zur 
Grundlage  seines  systematischen  Vortrags  nahm  und  daneben 
schriftliche  Ausarbeitungen  seiner  Schüler  leitete  und  be- 
richtigte. Er  gab  zu  diesem  Behuf  eine  neue  Bearbeitung 
seiner  Elegantiae  heraus  und  widmete  sie  dem  Kämmerer 

*)  Ersleres  meldet  Jovian.  Pontanus  Oper.   edit.  Venet.  1508 
pag.  298;  das  Zweite  Facius,  s.  Poggiali  pag.  87. 
•*)  S.  Anlid.  in  Pogg.  IV.  Oper.  p.  348. 
•»*)  Vall.  Antidot,  in  Pogg.  Üb.  4.  p.  335. 


428  Leben  und  Verdienste 

und  Studiengenossen  des  Papstes  Nicolaus  Job.  Tortellius 
„als  Vergeltung  für  das  viele,  was  er  ihm  verdanke.44  Das 
nützliche  und  den  Stilisten  dieser  Zeit  (Valla  selbst  mit  ein- 
geschlossen) höchst  nothwendige  Büchlein  über  den  richtigen 
Gebrauch  des  Beciprocums  se  und  suus  ist  ebenfalls  mit 
einer  neuen  Yorrede  an  denselben  Gönner  versehen.  <>  Wenn 
aber  Valla  in  dieser  neuen  Bearbeitung  eine  Vermehrung 
der  Elegantiae  um  das  Doppelte,  von  6  Büchern  auf  12,  ver- 
heisst,  so  weiss  ich  nicht  was  darüber  zu  urtheilen.  Ge- 
druckt sind  nur  sechs.  Liegen  also  die  andern  sechs  noch 
handschriftlich  in  der  päpstlichen  Bibliothek,  der  das  ganze 
Werk  nach  Valla's  Wunsch  einverleibt  werden  sollte,  oder 
hat  Valla  versprochen,  was  er  nicht  gehalten? 

Durch  seine  grammatisch -rhetorische  Thätigkeit  wurde 
Valla  wiederum  in  eine  Streitigkeit  verwickelt,  die  heftiger 
als  alle  früheren  geführt  wurde.  Poggius  der  Florentiner, 
wie  er  sich  nannte,  (eigentlich  Podius  Bracciolini  aus  Terra- 
nova  bei  Arezzo,)  konnte  damals  für  den  ersten  lateinischen 
Stilisten  gelten,  und  er  verdient  seinen  Buf  durch  den  Fluss 
und  die  Lebendigkeit  seines  Ausdrucks,  obgleich  er  durch 
viele  Verstösse  im  Einzelnen  beweisst,  dass  er  die  Sprache 
nicht  philologisch  gründlich  studirt  hatte.  Er  war  lange  apo- 
stolischer Secretar  gewesen,  bis  er  im  Jahre  1452  (schon  72 
Jahr  alt)  einem  sehr  vorteilhaften  Bufe  als  Kanzler  der  Re- 
publik nach  Florenz  folgte.  Er  hatte  bisher  Beden  und  mo- 
ral-philosophische  Aufsatze  und  eine  Sammlung  seiner  Briefe 
in  10  Büchern  herausgegeben.  Ein  junger  Mann,  Valla's 
Schüler,  strich  in  diesen  eine  Menge  Fehler  an  und  bezeich- 
nete sie  auf  dem  Bande  mit  soloecismus,  barbarismus 
und  dergleichen  Warnungszeichen.  Die  Handschrift  gehörte 
ihm:  warum  sollte  er  es  nicht  thun?  Das  so  misshandelte 
Buch  kam  vor  Poggius  Augen;  er  schrieb  die  Ausstellungen 
dem  Valla  selber  zu  und  publicirte  von  Florenz  aus  (wie  ich 
glaube,  denn  eine  ganz  genaue  Zeitbestimmung  .findet  sich 
nicht,)  eine  wahre  Catilinari'sche  Invectiva  gegen  Valla,*) 


*)  In  Poggii  Florentini  Opera  fiasil.  1538.  fo).  p.  138  sqq. 


des  Laurentius  Valla.  4?9 

worin  er  zuerst  die  als  unrichtig  angestrichenen  Stellen  sei- 
ner Briefe  zu  rechtfertigen  suchte,  dann  aber  den  Valla  nach 
Aeusserungen  in  den  Elegantiae  und  in  anderen  Schrillen  als 
einen  dummdreisten  Tadler  alter  und  ehrwürdiger  Autoren, 
als  einen  Ketzer,  Zänker  und  Bösewicht  darstellte. 

Valla  durfte  nicht  schweigen:  er  setzte  der  Invectiva  des 
Poggius  ein  Antidoton  in  drei  Büchern  entgegen  *).  Im 
ersten  rechtfertigt  er  sich  vollkommen  gegen  die  Vorwürfe, 
die  ihm  aus  seinen  eigenen  Schrillen  gemacht  waren:  er  zeigt, 
dass  der  von  ihm  in  den  Elegantiae  ausgesprochene  Tadel 
theils  nicht  die  Autoren  selbst,  sondern  nur  ihre  Redeweise 
treffe,  oder  dass  er  sehr  vorsichtig  ausgedrückt  ist,  oder  dass 
die  wohlbegründeten  Bemerkungen  von  Poggius  ganz  miss- 
verstanden sind.  Im  zweiten  Buche  beweist  er  zur  Genüge, 
dass  Poggius  toll  und  blind  ihm  zur  Last  lege,  was  er  gar 
nicht  gethan  haben  könne,  da  der  junge  Mensch,  den  es 
angeht,  in  mehreren  Stellen  aus  Missverständniss  von  Valla's 
Elegantiae  abweiche,  ferner  dass  dies  zugleich  diejenigen 
Stellen  sind,  wo  Poggius  in  seiner  Verteidigung  Recht  habe, 
dass  aber  die  Mehrzahl  der  angestrichenen  Stellen  ganz  rich- 
tig getadelt  sei  und  von  Poggius  vergeblich  vertheidigt  werde. 
Im  dritten  Buche  endlich  tritt  nun  Valla  selbst  gegen  Pog- 
gius auf  und  feiert,  wie  er  sagt,  seinen  Triumph,  indem  er 
Poggius'  10  Bücher  Briefe  durchgeht  und  ihm  seine  Fehler 
gegen  Sprache  und  richtigen  Ausdruck  nachweist.  Er  fugte 
dem  Antidoton  noch  zwei  dialogisch  abgefasste  Schriften 
hinzu  **),  in  denen  Poggius  und  Valla  vor  Guarinus  von  Ve- 
rona, als  ihrem  grammatischen  Meister  und  Schiedsrichter, 
erscheinen.  Im  ersten  Dialoge  werden  die  Briefe  des  Pog- 
gius an  den  Florentiner  Nicolo  gleichsam  in  einem  Schulex- 
amen durchgenommen,  indem  Guarinus  seine  Schüler  und 
Aufwärter  über  die  von  Valla  angestrichenen  Stellen  exami- 
nirt  und  sie  anhält  die  Fehler  nachzuweisen  und  zu  berich- 
tigen.   Im  zweiten  Dialog  greift  Valla  die  Gomposition  und 


*)  Vallae  Opera  p.  253.  sqq. 
•*)  Opera  pag.  368.  sqq. 

Zeitschrift  f.  Geschieht*  w.  IV.  1845.  09 


430  Leben  und  Verdienste 

den  Inhalt  von  Poggius'  letzter  Schrift  disceplationes 
convivales  an:  Poggius  sucht  sich  zu  vertbeidigen,  wird 
aber  überfuhrt  Das  Bittere  bei  dieser  Darstellung  ist,  dass 
Guarinus,  der  berühmteste  allgemein  anerkannte  Lehrer  des 
lateinischen  Stils,  der  damals  noch  einige  achtzig  Jahre  alt 
lebte,  mit  welchem  Poggius  selbst  Briefe  gewechselt  hatte, 
in  die  Sache  hineingezogen  wird  und  den  Poggius  verurtheilt, 
worüber  sich  wohl  Guarinus  nicht  weniger  gewundert  ha- 
ben wird,  als  einst  Sokrates  nach  der  bekannten  Erzählung, 
da  er  sich  in  Plato's  Dialogen  las. 

Valla  hatte  mit  seinem  Antidoton  und  den  beiden  An- 
hängen des  alten  Poggius  Invective  scharf  und  bitter  gerächt, 
sich  dabei  aber  immer  noch  auf  dem  wissenschaftlichen  Felde 
gehalten.  Der  rüstige  Siebziger  wurde  durch  die  Vernich- 
tung seines  stilistischen  Rufs  zur  Wuth  entflammt;  er  sprühte 
eine  zweite,  dritte,  vierte  und  fünfte  Invective  hinter  einan- 
der gegen  Valla  aus,  worin  er  nun  nicht  mehr  eine  philolo- 
gische Anklage  oder  Vertbeidigung  bezweckte,  sondern  Val- 
la's  Leben  und  sittlichen  Charakter  wütbend  und  unbändig 
angriff,  ihn  als  Betrüger,  Dieb,  Fälscher,  Säufer,  Päderast, 
Verführer  einer  Dienstmagd  im  Hause  seiner  Schwester,  end- 
lich auch  als  gefährlichen  Ketzer  mit  den  härtesten  Schimpf- 
reden anklagte.  (Die  vierte  Invective  ist  verloren  gegangen 
oder  wenigstens  nicht  gedruckt)  Heut  zu  Tage  würde  die 
Censur  solche  Ausbrüche  unterdrücken  oder  unzweifelhaft 
eine  Injurienklage  angestellt  werden.  Aber  ich  lese  nicht, 
dass  sich  etwa  der  Papst  Nicolaus  in 's  Mittel  gelegt  hätte. 
Nur  Philelpbus,  der  selbst  arge  Streitschriften  mit  Poggius 
gewechselt  hatte,  richtete  ein  abmahnendes  Schreiben  an 
beide  Kämpfer  *).  Aber  Valla  musste  durchaus  antworten. 
Er  tbat  dies  gegen  die  zweite  Invective  durch  sein  viertes 
Antidoton  mit  siegreicher  Vertbeidigung  und  scharfer  Ver- 
geltung, indem  er  ebenfalls  in  das  häusliche  Leben  des  Pog- 
gius hinabstieg,  aber  sich  keineswegs  so  roh,  wie  sein  un- 


♦)  S.  Phileiphi  Episl.  lib.  X.  Nr.  52  aus  Mailand  dalirl  vom  2. 
März  1453. 


des  Laurentiu*  Valla.  431 

bandiger  Gegner  äusserte.  Valla  schreibt  in  keinem  Buche 
so  schön,  klar  und  überzeugend,  auch  witzig,  als  in  diesem 
vierten  Antidoten.  In  der  That  scheint  der  Streit  sein  na- 
türlicher Beruf  zu  sein,  der  ihn  stachelt,  aber  nicht  aus  sei- 
ner selbstbewussten  Sicherheit  bringt.  Er  hatte  viel  aufge- 
regter gegen  Facius  geschrieben,  gegen  den  Klopffechter 
Poggius  ist  er  ein  geschickter  sich  vollkommen  seiner  Ueber- 
legeoheit  bewusster  Fechter.  Selbst  was  er  einräumt,  dass 
er  mit  einem  Mädchen  aus  dem  Hause  seiner  Schwester  zu 
vertraulichen  Umgang  gepflogen,  erklärt  er  unbefangen  als 
eine  ganz  rechtmässige  Sache.  Er  verwahrt  sich  zumeist 
nur  gegen  die  Aufstellung  des  Poggius,  dass  es  eine  Dienst- 
magd gewesen.  Dann  weist  er  die  Entschuldigung,  die  ihm 
dein  Gegner  selbst  darbietet,  „nox,  vinum,  consuetudo,  fre- 
quens  visus,"  von  sich;  weder  Leidenschaft,  noch  Verführung 
habe  statt  gefunden;  er  habe  sein  Geschlecht  erhalten  müs- 
sen, da  seine  Schwester  kinderlos  sei;  zu  heirathen  sei  nie 
seine  Absicht  gewesen,  weil  er  in  den  geistlichen  Stand  habe 
treten  wollen:  aber  er  habe  für  Mutter  und  Kinder  bestens 
gesorgt  und  werde  ferner  für  sie  sorgen.  Man  wird  bei 
dieser  Rechtfertigung  freilich  die  Sitte  der  Zeit  und  die  Nach- 
sicht berücksichtigen  müssen,  welche  selbst  gegen  Geistliche 
wegen  solcher  Verbindungen  vor  ihrem  Eintritt  in  den  geist- 
lichen Stand  geübt  wurde.  Valla  richtet  seine  Schriften  ge- 
gen Poggius  mit  merkwürdiger  Unbefangenheit  an  den  Papst 
selbst,  und  ganz  gewiss  hatte  Poggius  kein  Recht  seinem 
Gegner  solche  Versündigungen  vorzuwerfen,  da  er  selbst  erst 
im  54.  Lebensjahre  heirathete,  nachdem  er  mit  einer  anderen 
Person  3  Kinder  ausser  der  Ehe  erzeugt  hatte. 

Einen  letzten  Streit  hatte  Valla  zu  führen  gegen  den 
Bologneser  Notar  Benedict  Morandus,  der  ihn  wegen  sei- 
ner Behauptung,  der  letzte  Tarquinius  sei  der  Enkel,  nicht 
der  Sohn  des  Priscus  Tarquinius  gewesen,  heftig  angriff  und 
sogar  die  päpstliche  Macht  zur  Unterdrückung  solcher  Blas- 
phemie gegen  Livius  anrief.  Valla  setzte  ihm  eine  sehr  ge- 
messene Gonfutatio  entgegen,  und  da  der  Bologneser  den 
Angriff  erneuerte,  eine  altera  confutatio,  worin  er  den  Arzt 

29* 


432  Leben  und  Verdiensie 

Bauerius  anredet  und  seinen  Gegner  nach  kurzer  sachlicher 
Widerlegung  als  einen  Kranken  gebührender  Weise  ärztlicher 
Kur  empfiehlt.  Papst  Nicolaus  V.  wird  als  kürzlich  verstor- 
ben erwähnt  *),  sein  Nachfolger  Callistus  III.  hatte  seine  Re- 
gierung angetreten,  also  fallt  dieser  Schriftwechsel  in  das 
Jahr  1455. 

Wichtiger  als  diese  Streitschriften  sind  Valla's  Arbeiten 
über  das  neueTestament,  womit  er,  wie  es  scheint, auch 
noch  zuletzt  beschäftigt  war,  nachdem  er  sie  schon  in  Neapel 
begonnen  hatte.  Poggius  wirft  dem  Valla  öfters  vor,  dass  er 
ein  Buch  über  die  lrrthümer  des  Hieronymus  bei  der  Ueber- 
setzungder  heiligenSchrift  aufgesetzt  habe  und  es  vielen 
Leuten  zeige.  Er  fordert  ihn  auf  es  herauszugeben  und  fragt 
ihn,  ob  er  etwa  den  Scheiterhaufen  furchte.  Valla  antwor- 
tet auf  diesen  Punkt  nicht;  die  Sache  betreffend  hatte  er 
schon  im  ersten  Antidoten  erklärt,  die  heilige  Schrift  sei  der 
Urtext  der  Bibel  und  eine  richtige  Uebersetzung  dessel- 
ben; wenn  er  die  Vulgata  berichtige,  so  sei  er  deshalb  nicht 
ein  Verächter  des  heiligen  Hieronymus,  der  ja  nur  vorhan- 
dene Uebersetzungen  zusammengestellt  habe.  Dass  er  sich 
mit  einer  durchgreifenden  Kritik  und  Berichtigung  der  Vul- 
gata des  neuen  Testaments  beschäftigte,  darauf  geht  er  wei- 
ter nicht  ein.  Er  hielt  seine  Arbeit  geheim  oder  theilte  sie 
nur  Männern  von  zuverlässiger  Gesinnung  mit  Doch  ist 
diese  Arbeit  die  erste  Frucht  der  philologischen  Studien  für 
die  exegetische  Theologie.  Valla  ging  dabei  dem  Anscheine 
nach  blos  von  grammatischen  und  stilistischen  Bücksichten 
aus;  er  notirte  die  Fehler,  die  sich  ihm  aus  der  Vergleichung 
mit  dem  griechischen  Text  ergaben  und  begründete  kurz 
aber  lehrreich,  warum  es  ein  Fehler  sei  und  wie  er  verbes- 
sert werden  müsse.  Traurig  genug,  dass  er  diese  Arbeit 
geheim  halten  musstel  Sie  blieb  noch  50  Jahre  verborgen. 
Erst  im  Jahre  1504  fiel  sie  dem  Erasmus  von  Rotterdam 
zufällig,  wie  er  sagt,  beim  Durchsuchen  einer  alten  Biblio- 
thek in  Belgien  in  die  Hände;  er  war  überrascht  und  hoch 


*)  Vall.  Op.  p.  455. 


des  Laurentius  Valla.  433 

erfreut  über  seinen  Fund.  Die  deutsche  Nation  genoss  da- 
mals unbezweifelt  eines  höheren  Grades  von  bürgerlicher  und 
religiöser  Freiheit  als  andere  Nationen.  Erasmus  wagte  es 
Valla's  Annotationes  in  novum  testamentum  Basel  1505  in 
den  Druck  zu  geben,  und  diese  Publication  wirkte  eben  so 
viel  als  die  in  demselben  Jahre  erschienene  erste  hebräische 
Grammatik  von  Beuchlin  für  die  Anregung  und  Begründung 
theologisch-exegetischer  Studien  in  Deutschland.  Man  kann 
es  als  ein  Zeichen  vermehrter  Geistesfreiheit  ansehen,  dass 
Erasmus'  schützende  Vorrede  sich  weniger  damit  beschäftigt 
die  Sache,  d.  h.  die  Prüfung  einer  hergebrachten  Autorität 
zu  entschuldigen,  als  Valla's  unruhigen  Charakter  in  Schutz 
zu  nehmen  und  ihn  gegen  den  Vorwurf  bissiger  Zanksucht 
zu  rechtfertigen.  „Wer  die  Wissenschaften  liebt,  sagt  Eras- 
mus, dem  wird  Valla's  Name  lieb  und  verehrungswürdig 
sein;  denn  aus  Eifer  den  Wissenschaften  zu  nützen  nahm 
er  absichtlich  und  wissentlich  den  Hass  der  Menge  auf  sich* 
Seine  Bissigkeit,  wenn  man  sie  so  nennen  will,  hat  der  Li- 
teratur mehr  genützt  als  die  einfältige  Gutherzigkeit  so  Vie- 
ler, die  alles  ohne  Unterschied  bewundern  und  sich  gegen- 
seitig Lob  spenden." 

Um  Reformator  zu  werden,  besass  Valla  nicht  genug 
praktisch -theologisches  Interesse.  Weltklugheit  lehrte  ihn 
Frieden  mit  der  römischen  Curie  zu  halten.  Er  hatte  mehr 
verbrochen  als  hundert  Andere,  die  auf  dem  Scheiterhaufen 
endeten,  aber  er  ward  zu  den  ansehnlichsten  Stellen  in  Rom 
befördert.  Er  wurde  vom  Papst  Callistus  III.  zum  Secreta- 
rius  apostolicus  ernannt:  am  dritten  Juli  1455  nahm  er  nach 
Ausweis  der  vaticanischen  Register  von  dieser  Stelle  Besitz. 
Wenige  Monate  darauf  erhielt  er  Canon icate  an  mehreren 
Kirchen,  endlich  am  21.  Sept.  desselben  Jahres  ein  Canoni- 
cat  an  der  Kirche  San  Giovanni  im  Lateran  *).  Der  Papst 
Callistus  (ein  geborner  Borgia)  war  in  früherer  Zeit  Secretär 
Alfons  V.  gewesen:  daher  wohl  seine  besondere  Zuneigung 
gegen  Valla.    Doch  genoss  dieser  sein  Glück  nicht  lange:  er 

*}  Poggiali  pag.  87.  aus  Marini  Registr.  Vatican. 


434  Deutschland  und  Gustav  Adolf. 

starb  am  1.  August  1457,  erst  50  Jahre  alt  Nähere  Nach- 
richten, wodurch  er  sich  ein  so  frühes  Ende  zugezogen  hatte, 
fehlen.  Aber  Valla  hatte  bei  der  erstaunlichen  Lebendigkeit 
seines  Geistes  sehr  viel  gearbeitet  Sein  Nachfolger  im  Lehr- 
amt war  sein  Schüler  Pomponius  Laetus.  Gegen  diesen  und 
die  Academia  Romana,  seine  Stiftung,  entlud  sich  unter 
Papst  Paul  II.  im  Jahre  1468  eine  Verfolgung,  die  ihren 
Grund  in  der  vorausgesetzten  alt -römischen  Gesinnung  der 
Schule  hatte.  Aber  es  konnte  den  Männern  nichts  Sträfliches 
bewiesen  werden,  und  der  Geburtstag  der  heidnischen  Stadt 
Rom  wird  noch  jetzt  im  christlichen  Rom  gefeiert 

G.  G.  Zumpt 


Deutschland  und  Gustav  Adolf« 

Eine   Kritik    der  neusten   Auffassungsweisen    des 

dreissigjährigen  Krieges. 


I.  Vorwort    Drei  Richtungen  der  heutigen  Geschichtschreibung. 

Der  Vorwurf  welcher  in  unsern  Tagen  von  den  verschieden- 
sten Seiten  gegen  die  deutsche  Wissenschaft  erhoben  und 
fast  bis  zum  Ueberdrusse  wiederholt  worden  ist,  sie  ziehe 
sich  selbstgenügsam  auf  ihren  abgeschlossenen  Kreis  zurück, 
und  habe  für  die  Gegenwart  weder  Gefühl  noch  Urtheil 
übrig,  scheint  keine  Seite  empfindlicher  zu  treffen  als  die 
Geschichte.  Kein  Vorwurf  kann  bitterer,  demüthigender 
sein,  wenn  er  wahr,  keiner  ungerechter,  kränkender,  wenn 
er  unwahr  ist.  Denn  keine  Wissenschaft  hat  dringendere 
Veranlassung  ihn  abzuweisen,  als  die  welche  sich  ihrer  Na- 
tur nach  nicht  systematisch  abschliessen  kann,  vielmehr  .die 
Seite  nach  der  Gegenwart  hin  immer  offen  erhalten,  und 
diese  als  einen  wesentlichen  Theil  ihrer  selbst  anerkennen 
muss.  Ihre  Vertreter  haben  das  wohl  gefühlt ,  und 
schwerlich  möchte  sich  Jemand  finden,  der  die  Richtigkeit 
der  Anklage  im  Allgemeinen  abzuleugnen  wagte.   Aber  zwi- 


Deutschland  und  Gustat  Adolf.  435 

sehen  Wort  und  Tbat  ist  eine  grosse  Kluft:  nur  mit  Mühe 
setzt  man  das  in  Thaten  um  was  mit  dem  Munde  zu  beken  - 
nen  so  leicht  ist  Auch  sind  die  Schwierigkeiten  nicht  ge- 
ring, die  es  hier  zu  überwinden  gilt;  weniger  von  Aussen 
stellen  sie  sich  entgegen,  die  bedeutendsten  erheben  sich 
vielmehr  vom  Grunde  der  Wissenschaft  selbst.  Nie  ist  es 
schwerer  sich  von  Einseitigkeiten  los  zu  reissen,  als  wenn 
man  sich  ihres  Prineips  deutlich  genug  bewusst  ist,  um  es 
in  allen  Entstellungen  wieder  zu  erkennen.  Und  so  könnte 
es  scheinen,  jener  Vorwurf  selbst  spreche  gerade  die  Auf- 
gabe der  Geschichte  aus;  mit  der  Vergangenheit  hat  sie 
es  zu  thun,  diese  zu  ergründen  ist  die  erste  Pflicht;  der 
richtigen  Erkenntniss  der  Vergangenheit  wird  die  der  Gegen- 
wart von  selbst  folgen.  Gewiss,  es  wäre  thöricht  das  leug- 
nen zu  wollen.  Aber  von  diesem  Grundsatze  aus  gehen  wir 
immer  tiefer  hinab  in  die  labyrinthischen  Gänge  des  Gesche- 
henen, um  desto  sicherer  den  Punkt  zu  finden,  wo  wir  den 
Faden  anknüpfen  können,  der  uns  in  die  Gegenwart  zurück- 
leiten Soll.  Und  wie  selten  gelingt  es  ihn  vollständig  wie- 
der aufzuwickeln,  wie  häufig  verlieren  wir  ihn  nicht  ganz 
und  gar  auf  den  verschlungenen  Wegen  der  Gelehrsamkeit 
Es  ist  hinreichend  bekannt  wie  viel  Ehrenwerthes,  ja  Gross- 
artiges deutsche  Gründlichkeit  in  der  Forschung  zu  leisten 
im  Stande  ist,  aber  dennoch  wird  man  auch  zugestehen,  dies 
ist  nicht  Alles,  es  ist  noch  nicht  das  Letzte.  Die  Geschichte 
steht  nicht  blos  in  Büchern,  sie  ist  auch  etwas  Lebendiges, 
in  ihr  athmen  wir;  so  wenig  als  gegen  die  Lebensluft  ist  es 
möglich  sich  gegen  sie  abzuschliessen.  Denn  nicht  allein 
in  der  Erinnerung  an  Gewesenes,  nicht  in  diesem  oder  je- 
nem Institute  lebt  sie  unter  uns  fort,  das  wäre  zuletzt  nur 
etwas  sehr  Dürftiges,  auch  nicht  in  der  Nationalität  allein, 
die  ganze  Summe  unseres  geistigen  Besitzes  ist  es,  was  Ge- 
genwart und  Vergangenheit  zusammenhält.  Was  im  Ge- 
fühle Aller  lebt,  das  soll  die  Wissenschaft  zum  Bewusstseia 
bringen,  sie  soll  die  Idee  in  ihren  Abwandlungen  auffassen, 
ihre  Erscheinungen  in  der  Zeit  verfolgen,  und  auf  das  hin- 
weisen was  dahinter  liegt,  was  zu  allen  Zeiten  das  wahrhaft 


436  Deutschland  und  Gustav  Adolf. 

• 

Gegenwärtige  war.  So  schliessen  beide  Tbeile  einander 
nicht  aus;  wissen  soll  man  in  der  Geschichte,  dass  man  mit 
der  Vergangenheit  unmittelbar  eins  sei,  und  sich  dennoch 
von  ihr  unterscheide;  denn  nicht  das  Besondere  in  ihr,  das 
Allgemeine  ist  es,  was  uns  mit  ihr  verbindet 

Also  kann  ebenso  wenig  jene  andere  Auffassung  die 
ausschliesslich  von  der  Seite  der  Gegenwart  die  Geschichte 
verstehen  will,  für  die  berechtigte  gelten.  Während  sich  die 
historische  Forschung  in  die  Masse  des  Stoffs  zu  versenken 
sucht,  wahrend  sie  selbst  niemals,  immer  nur  der  Gegen- 
stand sprechen  soll,  wird  hier  vorzugsweise  die  Ansicht,  die 
subjeetive  Gesinnung  in  die  Wagscbale  geworfen;  aus  dem 
Systeme  das  man  sich  über  die  Gegenwart  gemacht  hat,  will 
man  die  Vergangenheit  erkennen.  Nur  die  Gegenwart  ist 
das  Selbstständige;  das  Geschehene  ist  nichts  als  die  Einlei- 
tung dazu:  man  ist  mit  dem  Producte  zufrieden,  welches 
man  vor  sich  hat,  was  kommt  auf  seine  Factoren  an?  Es 
ist  bekannt  zu  welchen  Verkehrtheiten  dieser  Weg  hinfuhrt, 
man  weiss  welche  Zerrbilder  der  Geschichte  auf  diese 
Weise  entstanden  sind ,  wie  die  Gegenwart  eitel  genug  ist 
sich  überall  zu  bespiegeln  und  ihre  Schlagwörter  einer  Zeit 
aufzudrängen,  die  keine  Ahnung  davon  hatte. 

Wir  haben  kurz  die  beiden  Extreme  anzudeuten  gesucht 
um  auf  eine  dritte  Richtung  zu  kommen,  die  nicht  sowohl 
über,  als  zwischen  ihnen  zu  stehen  scheint  Es  ist  jene 
Art  die  sich  ihres  Stoffs  mit  den  Hülfsmitteln  der  Gelehr- 
samkeit und  des  Scharfsinns  zu  bemächtigen  weiss,  die  sehr 
wohl  das  gleiche  Recht  der  Vergangenheit  wie  der  Gegen- 
wart erkennt:  aber  sie  überträgt  aus  der  einen  in  die  andere, 
sie  gefällt  sich  im  Aufsuchen  und  Anhäufen  einzelner  Ana- 
logien, und  so  erhalten  ihre  Resultate  dennoch  eine  falsche 
Färbung.  Englische  Historiker  haben  bekanntlich  die  römi- 
sche Geschichte  und  ihre  Parteikämpfe  vom  Standpunkte 
des  Torysmus  oder  Whigismus  betrachtet  und  dargestellt; 
die  Analogie  der  Verhältnisse  wird  Niemand  verkennen,  aber 
immer  noch  grösser  bleibt  die  Verschiedenheit,  und  von  rö- 
mischen Torys  und  Whigs  sollte  Niemand  im  Ernste  sprechen. 


Deutschland  und  Gustav  Adolf.  437 

Oder  umgekehrt,  es  werden  auch  wohl  die  Pärteinarnen  der 
Vorzeit  in  die  Gegenwart  hineingezogen,  um  ein  Fach  werk 
aus  ihnen  zu  machen,  das  freilich  auf  allen  Seiten  zu  eng  ist; 
-wie  man  es  z.  B.  liebt  neue  kirchliche  oder  auch  wissen- 
schaftliche Richtungen  der  Kürze  halber  mit  Ketzernamen 
zu  bezeichnen,  die  aus  der  ältesten  Kirchengeschichte  her- 
geholt sind.  So  werden  Namen  und  Bezeichnungen,  die  aus 
ganz  eigentümlichen  Verhaltnissen  und  Persönlichkeiten  ent- 
standen sind  zu  Gattungsbegriffen  erhoben,  und  ihnen  eine 
Allgemeinheit  gegeben,  die  ihnen  in  keiner  Weise  zukommt. 
Man  meint  die  idealen  Gegensätze,  die  hinter  der  Erschei- 
nung liegen,  zu  fassen ,  und  hängt  sich  statt  dessen  an  die 
Person,  an  den  Buchstaben  in  dem  sie  auftrat;  das  macht 
man  zum  Entscheidenden.  Also  gerade  diese  Analogien, 
welche  auf  den  ersten  Blick  die  Auffassung  zu  erleichtern 
scheinen,  sie  sind  es,  die  zuletzt  nur  Missverstand  und  Ver- 
wirrung bringen;  man  identiGcirt  Erscheinungen,  die  durch- 
aus nicht  dieselben  sind,  mögen  sie  auch  noch  so  viel  Gleich- 
artiges bieten,  die  schon  dadurch  unendlich  von  einander 
verschieden  sind,  dass  sie  in  ganz  verschiedenen  welthistori- 
schen Stadien  auftreten. 

Es  liegt  in  der  Natur  der  Sache,  dergleichen  Ansichten 
müssen  sich  mehr  noch  als  auf  dem  Gebiete  der  Politik,  in 
der  religiösen  und  wissenschaftlichen  Entwicklung,  auf  dem 
confessionellen  Boden  geltend  machen.  Denn  nirgend  kom- 
men Gesinnung  und  Ueberzeugung  des  Einzelnen  mehr  ins 
Spiel,  und  eine  ruhige  Auffassung  historischer  Verhältnisse 
hat  auf  keiner  Seite  mit  grösseren  Schwierigkeiten  zu  käm- 
pfen als  hier.  Wir  ßnden  es  natürlich,  dass  jene  Männer, 
welche  die  Geschichte  der  Reformation  und  der  folgenden 
Kämpfe  im  Strome  der  Ereignisse,  unter  dem  Einflüsse  des 
Augenblicks  niederschrieben,  die  Thatsachen  auch  nur  unter 
dem  Gesichtspunkte  des  Augenblicks  ansahen:  wir  hoffen 
Genauigkeit  und  Schärfe  im  Einzelnen  werde  ersetzen,  was 
ihnen  an  Weite  des  Blicks  und  Uebersicht  abging.  Es  war 
ihre  Aufgabe,  den  Gegensatz  fortzupflanzen,  wie  er  auf  sie 
wirkte.   Aber  weniger  ruhig  dürfen  wir  es  hinnehmen,  wenn 


438  Deutschland  und  Gustav  Adolf. 

auch  neuere  Geschichlschreiber  ausgehend  von  jener  analo- 
gisirenden  Richtung,  diesen  Gegensatz  in  eben  der  Form 
mit  herübernehmen,  um  ihre  eigene  Leberzeugung  darin  zu 
geben,  wenn  sie  sich  mit  aller  Kraft  der  Gesinnung  in  Par- 
teien» die  wenigstens  in  dieser  Weise  nicht  mehr  eiistiren, 
hineinwerfen,  um  danach  Verhältnisse,  und  was  bedenklicher 
scheint,  auch  Personen  zu  beurtheilen.  Doch  treten  wir  der 
Sache  selbst  einen  Schritt  näher. 

Es  gab  eine  Zeit,  wo  eine#  beschränkte  Weisheit  das 
Ende  des  Kirchenthums  überhaupt  wähnte  vorhersagen  zu 
können:  die  letzten  Jahrzehende,  die  Gegenwart  selbst  haben 
uns  eines  Anderen  belehrt;  viel  mehr  als  wir  glaubten,  stehen 
wir  auch  jetzt  noch  unter  dem  Einflüsse  der  Reformation. 
Die  kirchlichen  Gegensätze  haben  sich  in  ihrer  schroffsten 
Form  wieder  geltend  gemacht,  aber  sie  beherrschen  in  die- 
ser Gestalt  die  Welt  nicht  mehr  ausschliesslich,  und  das  ist 
der  grosse  Unterschied  gegen  frühere  Zeiten;  sie  müssen 
neben  sich  eine  Reihe  anderer  geistiger  Elemente  dulden, 
die  sich  mitunter  jenen  Einwirkungen  zu  entziehen  und 
selbstständig  aufzutreten  suchen.  Im  Zusammenhange  mit 
jener  neugekräftigten,  confessionellen  Richtung  bat  man  auch 
auf  historischem  Gebiete  gegen  ältere  Ansichten  von  der  Re- 
formation ihre  Redeutung  rein  als  Verbesserung  der  Kirche 
mit  Entschiedenheit  hervorgehoben,  und  vor  Allem  nur  als 
Herstellung  des  Dogmas  in  seiner  Schriftgemässheit  und  ur- 
sprünglichen Reinheit,  wie  es  die  ersten  Jahrhunderte  be- 
sassen.  Gewiss,  es  wäre  eine  grosse  Unwissenheit  und 
Seichtheit,  diesen  Punkt  verkennen  oder  ihm  seine  tiefe  Be- 
deutung absprechen  zu  wollen,  aber  man  muss  sich  dagegen 
verwahren,  in  dieser  Ansicht  die  einzig  mögliche,  die  voll- 
kommen erschöpfende  Auffassung  der  Reformation  zu  finden. 
So  angesehen,  wird  diese  zum  ausschliesslichen  Eigenthum 
der  Kirche,  d.  b.  jener  Kirche,  die  in  bestimmten  Formen 
und  Persönlichkeiten  zur  Erscheinung  kommt  Man  isolirt 
die  Reformation  und  drängt  sie  auf  die  engeren  dogmati- 
schen Grenzen  zurück,  man  giebt  sie  also  in  letzter  Instanz 
den  Theologen  anheim,  während  sie  doch  neben  dem  theo* 


Deutschland  und  Gustav  Adolf.  439 

logischen,  einen  Allgemein  christlichen,  einen  welthistorischen 
Inhalt  hat,  der  sie  nicht  zur  Sache  einer  bestimmten  Zeit, 
sondern  aller  Zeiten  macht,  zum  Eigenthum  jener  unsicht- 
baren Kirche,  die  auf  den  innersten  Principien  des  Cbristen- 
thums  ruht,  die  mit  der  Menschheit  eins  werden  soll.  Es 
kann  nicht  oft  genug  wiederholt  werden,  der  Gegensatz  des 
Katholicismus  und  Protestantismus  ist  kein  nur  theologi- 
scher, kein  rein  confessioneller,  er  ist  ein  welthistorischer, 
und  gerade  auf  dieser  Seite^iegt  die  Stärke  des  Protestan- 
tismus. 

Man  kann  es,  glaube  ich,  nicht  übersehen,  dass  die  pro- 
testantischen Historiker,  die  den  Gegensatz  nur  confessionell 
auflassen,  um  des  wahren  Inhalts  der  Reformation  desto  ge- 
wisser zu  sein,  keinem  einen  grösseren  Dienst  erwiesen  ha- 
ben, als  der  katholischen  Anschauungsweise.  Sie  soll  zwar 
nicht  anerkannt  werden,  dennoch  aber  wird  ihr  ein  bedeu- 
tendes Zugeständniss  gemacht.  Oder  läge  darin  keine  still- 
schweigende Uebereinstimmung  mit  dem  Katholicismus,  wenn 
man  zwar  seine  eigentümlichen  Lehren  und  seine  Verfas- 
sung abweist,  dennoch  aber  jenen  Glauben,  der  die  Welt 
überwinden  soll,  nicht  frei  in  die  Welt  hinauslassen  will? 
wenn  man  zwar  die  Lehre  nicht  für  das  ausschliessliche 
Eigenthum  eines  Standes  erklärt,  diesem  aber  dennoch  ein 
Vorrecht  einräumt,  entschieden  genug  um  die  welche  ihm 
nicht  angehören,  als  Unwissende  hinaus  zu  weisen?  Gerade 
jener  Unterschied  von  Priestern  und  Laien,  den  der  Katholi- 
cismus dem  Christenthume  aufdrängen  wollte,  auf  dem  seine 
Macht  ruht,  dieser  Unterschied,  den  die  Reformation  aufhob, 
er  kehrt  hier  auf  ihrem  eigenen  Grund  und  Boden  wieder 
Wer  diese  Ansicht  festhält,  bedarf  nur  weniger  Schritte,  um 
auf  den  Punkt  zu  gelangen,  wo  er  in  das  Urtheil  der  katho- 
lischen Kirche  einstimmen,  und  die  Reformation  als  einen 
Abfall  verdammen  muss.  Denn  eben  jeneis  halbe,  nicht  ent- 
schiedene Lossagen  ist  der  Abfall,  er  kann  sich  nicht  völlig 
vom  alten  Boden  trennen,  und  erkennt  sich  selber  zum  Trotze 
die  alte  Macht  und  das  alte  Gesetz  noch  innerlich  an;  wo 
aber  eine  neue  Idee  zur  Erscheinung  kommt,  und  mit  ihr 


440  Deutschland  und  Gustav  Adolf. 

neue  Lebensgesetze,  wie  es  im  Christenthum  selbst  geschab, 
da  ist  volle  Berechtigung,  und  von  einem  Abfalle  kann  nicht 
die  Rede  sein. 

IL   Die  neuten  Gtschiehttcfereifcer  des  drdsstgflhrigei  Krieges. 

Jene  Ansicht  von  der  Reformation  musste  aber  auch 
nothwcndig  auf  die  Betrachtang  der  spätem  Religionswirren 
übergehen.  In  der  Geschichte  des  dreissigjährigen  Krieges 
betrat  sie  den  gunstigsten  Bodeqp  hier  beröhrte  sie  eine  Zeit, 
wo  der  Protestantismus  sich  entschieden  als  kirchlich-politi- 
sche Partei  festgesetzt  hatte,  um  sich  behaupten  zu  können; 
damit  hatte  er  freilich  selbst  die  Gehässigkeiten  des  Partei- 
wesens angenommen.  Die  Erbitterung,  mit  der  beide  Theile 
im  letzten  entscheidenden  Kampfe  zusammentrafen,  hatte  sich 
traditionell  auch  in  der  Geschichte  dieser  Bewegungen  er- 
halten. Der  kirchliche  wie  der  politische  Zustand  des  Reichs 
bis  in  seine  letzten  Tage  war  ein  Ergebniss  des  dreissig- 
jährigen Kriegs:  der  Kaiser  mit  dem  Katholicismus  auf  der 
einen,  eine  grosse  Zahl  der  Fürsten  mit  dem  Protestantismus 
und  ihren  Territorialinteressen  auf  der  anderen  Seite,  Alles 
erinnerte  noch  an  jene  blutigen  Kämpfe;  es  war  natürlich, 
dass  man  vom  nur  katholischen  und  nur  protestantischen 
Standpunkte  Begebenheiten  und  Personen  darstellte,  dass 
man  in  den  Himmel  erhob  oder  in  den  Abgrund  verdammte. 
Doch  den  spätem  politischen  Umwälzungen,  dem  Einflüsse  der 
zur  selbstbewussten  Macht  erwachsenen  Literatur  konnten  sich 
auch  diese  Ansichten  nicht  entziehen.  Schillers  Geschiebte 
des  dreissigjährigen  Kriegs,  freilich  kein  quellenmässiges  Bach, 
wirkte  hier  mit  dem  entschiedensten  Erfolge;  seine  rbetori- 
sirende  Darstellung,  vom  humanen,  literarisch -protestanti- 
schen Gesichtspunkte  ausgehend,  hat  im  Allgemeinen  die 
Auffassung  dieser  Verhältnisse  in  den  ersten  Jahrzehenden 
unseres  Jahrhunderts  bestimmt.  Auch  dieser  Seite,  wo  er 
nur  Hülfsmittel  suchte,  nur  gelegentlich,  mit  halber  Kraft 
arbeitete,  hat  Schiller  seinen  Stempel  aufgedrückt,  und  sein 
Buch  kann  für  den  Typus  jener  populären  Erzählungen  gelten, 
die  sich  in  den  Geschichten  des  deutschen  Volkes,  wie  des 


Deutschland  und  Gustav  Adolf.  441 

dreißigjährigen  Kriegs  bis  auf  den  heutigen  Tag  fortge- 
pflanzt haben,  aber  freilich  zum  Theil  zur  Fabrik waare 
herabgesunken  sind.  In  den  beiden  letzten  Jahrzehenden 
endlich  sind  die  oben  bezeichneten  Richtungen,  dem  einge- 
rosteten Schematismus,  der  sich  hier  festgesetzt  hatte,  mit 
grossem  Erfolge  entgegen  getreten,  gewiss  zum  Heile  der 
Sache  selbst,  denn  es  giebt  kaum  einen  grössern  Feind  der 
wahren  historischen  Auffassung  als  jenen. 

Verschiedenes  hatte  bei  diesem  Resultate  zusammenge- 
wirkt; das  neu  erwachte  Studium  der  vaterländischen  Ge- 
schichte, das  sich  mit  aller  Kraft  eines  jungen  Enthusiasmus 
auf  die  Zeiten  des  kaiserlichen  Glanzes  warf,  konnte  nicht 
ohne  Rückwirkung  auf  die  Darstellung  anderer  Perioden 
bleiben.  Je  mehr  sich  das  Nationalgefühl  an  der  Geschichte 
der  früheren  Kaiser  kräftigte,  desto  widerlicher  erschien  der 
spätere  Jammer,  die  kirchliche  und  nationale  Zerrissenheit 
Gleichzeitig  begannen  die  Grundsätze  der  Restaurationsperiode 
durchzudringen,  überall  suchte  man  die  wogenden  Bewegun- 
gen in  das  Enge  zusammen  zu  ziehen:  auch  die  Vergangen- 
heit musste  sich  diesem  Gesichtspunkte  fügen.  So  miss- 
trauiscb  sich  auch  diese  Richtung  zuerst  gegen  die  national- 
historische zeigte,  dennoch  gingen  sie  an  manchen  Stellen 
in  einander  über.  War  der  Kaiser  nicht  der  legitime  Ver- 
treter des  Reichs,  der  deutschen  Einheit?  die  Fürsten  ihm 
gegenüber,  die  ungehorsamen,  widersetzlichen  Stände?  End- 
lich erwachten  auch  die  confessionellen  Gegensätze  in  ihrer 
ganzen  Kraft;  es  war  keine  Frage,  alle  diese  gährenden  Ele- 
mente mussten,  wenn  sie  sich  auf  die  Geschichte  des  Re- 
ligionskrieges warfen,  eine  ganz  andere  Auffassung  des  Stoffs, 
zu  dem  sie  durch  manche  Analogien  hingezogen  wurden, 
hervorbringen.  So  brach  denn  der  dreissigjährige  Krieg,  ver- 
setzt mit  allen  Elementen  der  Gegenwart,  auf  dem  Gebiete 
der  Gescbichtscbreibung  von  Neuem  wieder  hervor;  zwie- 
fache und  dreifache  Spaltungen  traten  ein,  und  irre  ich  nicht, 
so  sind  wir  in  diesem  Stadium  noch  heutiges  Tages. 

Da  waren  zuerst  die  dynastischen  Historiker;  sie  traten 
an  die  Stelle  der  altern  Territorialisten;    in  der  Regel  mit 


442  Deutschland  und  Gustav  Adelf. 

einer  bedeutenden  Gelehrsamkeit  in  der  Landesgeschichte, 
wie  mit  archivalischen  Hülfsmitteln  ausgerüstet  Mit  diesen 
gewichtigen  Waffen  vertbeidigen  sie  die  Interessen  und  An- 
sprüche des  landesfürstlichen  Hauses,  dessen  gegenwärtiger 
Standpunkt  nicht  selten  ohne  Weiteres  mit  jenem  zur  Zeit 
des  dreissigjabrigen  Krieges  identificirt  wird.  Hier  ist  das 
eigentliche  Feld  für  Localstudien  und  Localpatriotismus.  Wie 
die  Dynastien  nach  den  Confessionen,  so  spalten  sich  die 
Historiker,  und  die  verschiedenen  Vorkämpfer  und  Partei- 
führer finden  ihre  Geschichtschreiber.  Es  forschten  und 
schrieben  auf  protestantischer  Seite  für  Sachsen -Weimar 
Rose  in  seinem  Herzog  Bernhard,  ')  für  das  hessische  Haas 
früher  Justi,*)  jetzt  Rommel  in  Monographien  und  Landes- 
geschichten, für  Braunschweig  von  der  Decken  in  seinem 
Herzog  Georg,  *)  für  Ghursachsen  K.  A.  Müller  in  seinem 
Johann  Georg  und  sein  Hof; 4)  und  auf  katholischer  Seite 
Aretin  für  Baiern,8)  Mailath  6)  für  Oestreich,  wo  die  Ge- 
schichte vom  Standpunkte  des  östreichischen  Territorial- 
und  Gonfessionsinteresses  betrachtet  wird.  Diesen  dynasti- 
schen Historikern  kann  man  auch  die  schwedischen  zuzählen, 
die  auf  der  entgegengesetzten  Seite  geschrieben  haben,  und 
noch  schreiben,  so  Lundblad,7)  Fryxell,*)  und  namentlich 
Geijer,  9)   dessen  treffliches  Buch   hinreichend   bekannt  ist. 


')  Herzog  Bernhard  der  Grosse  von  Sachsen- Weimar.  3  Bde. 
Weimar  18*28. 

')  Amalie  Elisabeth,  Landgräfin  von  Hessen.    Giessen  1811. 

*j  Herzog  Georg  von  Lüneburg.    Hannover  1833.    4  Bde. 

4)  Kurfürst  Johann  Georg  I.  seine  Familie  und  sein  Hof.  Dres- 
den 1838. 

•)  Chur fürst  Maximilian.    München  1844. 

6)  Geschichte  des  östreichischen  Kaiserstaats  3ter  Band.  Ham- 
burg 1842. 

7)  Schwedischer  Plutarch:  übers,  von  Schubert  Stralsund 
1826.    2  Bde. 

8)  Leben  Gustav  II.  Adolfs,  Königs  von  Schweden;  übers,  von 
Homberg.    Leipzig  1842. 

")  Geschichte  Schwedens,  übers,  von  Leffler.  3ter  Band.  Ham- 
burg 1830. 


Deutschland  und  Gustav  Adolf.  443 

Wir  sehen,  wie  eigentümlich  sich  hier  die  Gegensätze  ge- 
stalten, aber  dennoch  kann  man  die  Einseitigkeit  der  An- 
sicht bei  allen  sonstigen  Vorzügen  der  Bücher  nicht  ab- 
leugnen. Sie  liegt  entweder  in  der  Gesinnung  von  vorne 
herein,  oder  in  dem  gewählten  Standpunkte  der  Monographie, 
der  Landesgeschichte.  Es  ist  eine  atomistische  Richtung,  die 
nicht  aus  dem  Mittelpunkte  herauskommt,  umgekehrt  wird 
Einzelnes  als  Ganzes  gefasst,  und  so  sucht  man  zur  Mitte 
durchzudringen.  Dazu  nehme  man  noch  die  lebhaften  Streitig- 
keiten, die  durch  Wallensteins  Episode  veranlasst  worden 
sind,  und  weniger  das  protestantische  als  das  ständische 
Interesse  im  Allgemeinen  berühren,  man  bedenke,  wie  man 
sich  auch  hier  bald  auf  die  eine ,  bald  auf  die  andere  Seite 
gestellt  bat,  und  das  Bild  einer  allgemeinen  Zerrissenheit  ist 
vollständig. 

Dieser  Richtung  gegenüber  haben  sich  nun  auch  jene 
anderen  Auflassungen  festgestellt.  Im  Gegensatz  zu  dieser 
Beschränkung  auf  einzelne  Theile  gehen  sie  vom  Ganzen 
aus,  daher  wird  namentlich  die  Zerfallenheit  Deutschlands 
während  des  Kriegs  mit  Bitterkeit  hervorgehoben.  Sie  selbst 
sind  unter  sich  verschieden,  je  nachdem  sie  den  Begriff  der 
nationalen  Einheit,  wie  er  sich  im  Reiche  zeigt,  oder  den 
der  Kirche  an  die  Spitze  stellen,  oder  beides  mit  einander 
verbinden.  Es  wurde  wieder  auf  allgemeine  Principien  hin- 
gewiesen, es  war  eine  Rückwirkung  gegen  jene  Geschicht- 
schreiber, die  welthistorische  Probleme  in  dynastische  Fragen 
aufzulösen  drohten.  Als  einer  der  ersten  und  bedeutendsten 
Vertreter  muss  K.  A.  Menzel  genannt  werden.  Er  begann 
die  Herausgabe  seiner  neuern  Geschichte  der  Deutschen  im 
Jahre  1826,  und  mit  der  grössten  Beharrlichkeit  hat  er  sein 
umfassendes  Werk,  das  auf  den  ausgedehntesten  Studien 
ruht,  bis  in  das  18te  Jahrhundert  berabgefübrt.  Es  ist  den 
Meisten  noch  wohl  erinnerlich,  welches  Aufsehen,  welchen 
Widerspruch  Menzel's  Grundansicbt  damals  hervorrief.  Von 
der  nationalen  und  kirchlichen  Einheit  Deutschlands  ausge« 
hend,  machte  er  diese  als  das  natürliche  und  geistige  Band 
des  deutschen  Volkes  mit  Nachdruck  geltend.     Kaiserthum 


1 


444  Deutschland  und  Gustav  Adolf. 

und  Hierarchie  traten  als  die  geheiligten  Formen  des  Lebens 
mit  überwiegender  Schwere  in  den  Vordergrund;  damit  war 
eigentlich  dem  Protestantismus  das  Urtheil  schon  gesprochen, 
er  erscheint  als  der  vom  uralt  begründeten  Rechte  abfallende. 
Die  Katholiken  konnten  nur  Beifall  jauchzen,  wenn  sie  jene 
Worte  hörten:  „Die  Hierarchie  beharrt  auf  ihrem  Stand- 
punkte Ausdruck  der  ewigen  Ideen  des  Cbristenthums  zu 
sein,  unerschüttert  durch  den  Gedankenwechsel  der  Zeiten." 
Oder  wenn  von  den  Protestanten  gesagt  wird,  sie  hatten 
das  Reichsband  als  etwas  Feindliches  betrachtet.  *)  Mit 
Staunen  vernahmen  die  deutschen  Protestanten  zum  ersten 
Male  von  einem  ihrer  bedeutendsten  und  gelehrtesten  Ge- 
schieh tschreiber,  wenn  auch  nicht  das  Wort,  doch  die  An- 
deutung, dass  sie  im  Grunde  Revolutionäre  seien;  und 
man  weiss,  welchen  Klang  dieses  Wort  hat.  In  der  Ge- 
schichte des  dreissigjährigen  Kriegs,  der  den  sechsten  bis 
achten  Band  umfasst  (erschienen  1835 — 39),  ist  jedoch  diese 
Ansicht  nicht  ganz  mit  der  Schärfe  durchgeführt,  die  man 
erwarten  sollte.  Sie  mochte  sich  wirklich  gemildert  haben, 
oder  sie  erschien  doch  milder,  seit  sie  durch  leidenschaft- 
lichere Ausbrüche  von  anderer  Seite  her  überboten  wurde. 
Menzel  fasst  Ferdinand  II.  entschieden  in  seiner  Stellung 
als  Kaiser,  er  findet  ihn  bei  der  Erlassung  des  Restitutions- 
edicts  streng  im  Rechte,  wenn  auch  practisch  Vieles  dagegen 
zu  erinnern  sei;  der  Kaiser  ist  der  Vertreter  der  Einheit, 
das  Reich  wird  mit  neueren  Repräsentantenkammern  fast  in 
eine  Reihe  gesetzt.**)  Menzel  kann  es  nur  bedauern,  dass 
Ferdinand  den  grossen  Schicksalsmoment  nach  dem  Lübecker 
Frieden  und  vor  dem  Regensburger  Reichstage  nicht  zu  einer 
Herstellung  des  Reichs  im  monarchischen  Sinne  benutzte; 
dass  dies  unterblieb,  ist  ihm  kein  geringes  Zeichen  der 
Schwäche  des  Kaisers.  ***) 

Mit  doppelter  Stärke  brachen  bald  darauf  diese  Ansich- 
ten im  dritten  Bande  von  Leo's  Universalgeschichte  1838 
hervor,   in  einem  Lehrbuch,   das  für  die  weitesten  Kreise, 


*)  I,  484.  II,  18.    «)  VII,  172,  255.    ***)  VII,  228. 


Deutschland  und  Gustav  Adolf.  445 

für  den  Unterricht  berechnet  war.  Getragen  durch  die  nach- 
haltigste Ueberzeugung  hatten  sie  hier,  wie  ein  weiteres 
Feld,  so  auch  an  innerer  Kraft  gewonnen.  Auch  hier  die- 
selbe Verbindung  von  kirchlich-politischen  Richtungen,  aus- 
gehend von  der  nationalen  wie  religiösen  Einheit,  mit  dem 
entschiedensten  Bewusstsein  eines  polemischen  Nebenzwecks 
gegen  den  heillosen  »Liberalismus  und  die  Zuchtlosigkeit  der 
Geister.  Hier  wurde  offen  ausgesprochen,  was  vorher  nur 
angedeutet  worden  war;  Luther,  der  Reformator,  ist  ein 
Demagoge,  der  mit  gewaltiger  Faust  ein  Kunstwerk  zer- 
trümmert, von  dessen  Herrlichkeit  und  Tiefe  er  keine  Ah- 
nung hat  *)  Und  weiter,  der  dreissigjahrige  Krieg  ist  durch 
die  Böhmen  und  die  pfälzisch -ausländerische  Partei  muth- 
willig  herbeigeführt;  für  die,  welche  sich  den  Schweden  an- 
schlössen, hat  er  nur  die  eine  Bezeichnung  des  Reichs-  und 
Volksverrathes;  sie  haben,  wie  Magdeburg,  „im  Grunde  ihr 
Schicksal  verdient;"  dagegen  ist  Ferdinand  II.  der  milde,  der 
rechtsachtende  Kaiser,  der  seine  Pflicht  gegen  Raubhelden, 
wie  Mansfeld  und  andere,  beinahe  ganz  vergisst.  **) 

Endlich  im  Jahre  1842  erschien  Bartholds  Geschichte 
des  grossen  deutschen  Krieges,  ein  Buch,  das  man  als  die 
letzte  Stufe,  als  den  Schlussstein  in  dieser  Richtung  bezeich- 
nen möchte,  wenn  sich  anders  dergleichen  mit  Sicherheit 
vorhersagen  liesse;  wenigstens  sollte  man  meinen,  die  leiden- 
schaftliche Heftigkeit  müsste  dadurch  erschöpft  sein.  Dabei 
aber  unterscheidet  es  sich  wesentlich  von  jenen  frühern 
Werken.  Schon  die  Aufgabe,  und  die  Grenzen,  die  es  sich 
demnach  gesteckt  hat,  sind  ganz  andere.  Es  will  nicht  den 
ganzen  Krieg,  nur  einen  Theil  will  es  darstellen,  seinen 
Verlauf  seit  Gustav  Adolfs  Tode,  und  hier  vorzugsweise  die 
Heimtücke  der  französischen  Politik  aufdecken.  Aber  eine 
ausschliessliche  Beschränkung  war  nicht  durchzuführen,  auf 
die  frühere  Entwicklung  musste  man  immer  wieder  zurück- 
kommen. Das  kirchliche  Element,  das  bei  seinen  Vorgängern 
so   entschieden   hervortrat,   hat  der  Verfasser  beseitigt:    er 


*)  HI,  96.    ••)  III,  350.  375.  383.  396. 

Zeitschrift  f.  Geschicbtstr.  IV.  1815.  3Q 


446  Deutschland  und  Gustav  Adolf. 

sagt  es  selbst,  nicht  auf  den  Boden  der  bestimmten  Cou- 
fession,  auf  den  des  Christentums  im  Allgemeinen  will  er 
sich  stellen.  Mit  desto  rücksichtsloserer  Härte  bebt  er  da- 
gegen das  nationale  Element  hervor.  Was  der  Kaiser  tbat, 
geschah  aus  der  Machtbefugnis,  die  Friedrich  I.  und  Karl  V. 
ausübten;  einseitig  wird  es  gerechtfertigt,  wenn  er  sich 
über  die  hergebrachte  Verfassung  hinwegsetzt*)  Die  Für- 
sten sind  die  unersättlichen,  die  ländergierigen,  die  Söldner 
der  Fremden,  die  blinden  Gegner  ihres  eigenen  Landes/*) 
Aber  der  vollste  Zorn  trifft  Gustav  Adolf,  wenigstens  bei 
Leo  und  Barthold.  Denn  Menzels  Charakteristik  unterscheidet 
sich  hier  wesentlich,  des  Königs  edler  Persönlichkeit  Jässt 
er  volle  Gerechtigkeit  widerfahren,  er  findet  sein  Einschrei- 
ten im  Ganzen  in  den  Verhältnissen  begründet;  ja  er  be- 
freundet sich  sogar,  „ganz  unerwartet"  kann  man  auch  vod 
ihm  sagen,  wie  er  in  ähnlicher  Beziehung  von  Schiller,  mit 
dem  nur  gedachten  Plane  Gustav  Adolfs  ein  deutsch -prote- 
stantisches Kaiserthum  zu  errichten.  ***)  Ganz  anders  Leo; 
hören  wir  statt  vieler  Stellen  nur  diese:  „Gustav  Adolf, 
heisst  es  III.  410,  hatte  sich  allerdings  in  einer  Weise,  die, 
wenn  sie  in  Privatverhältnissen  geübt  würde,  man  unver- 
schämt  nennen  könnte,  in  deutsche  Verhältnisse  eingedrängt, 
und  er  hatte  diese  ohne  Achtung  vor  der  historisch  ent- 
wickelten Verfassung  des  Reichs  behandelt"  Ferner  III,  401: 
„Dann  kann  man  es  als  ganz  klug  gelten  lassen,  dass  Gustav 
das  religiöse  Interesse,  was  er  ohne  Zweifel  hatte,  zugleich 
zu  politischen  Zwecken  benutzte,  die  Religion,  auch  wo  es 
eben  nicht  nothwendig  war,  sie  einzumischen,  als  Mantel 
trug."  Und  endlich  zur  Beherzigung  für  die,  welche  anderer 
Meinung  sind  111,  395:  „In  der  That  aber  gehört  eine  gänz- 
liche Verkehrung  der  Begriffe,  ein  gänzlicher  Mangel  an  Sinn 
für  Recht  und  vaterländische  Ehre  dazu,  wenn  man  diesen 
Angriff  auf  und  die  Wegnahme  von  Frankfurt,  nicht  als  eine 
schmähliche  Action,  als  eine  empörende  Rechtsverletzung 
eines  unberufenen  Fremdlings,  die  nur  in  dessen  einseitigem 


*)  1,115.  258. 399.  II,  13.   **)  1,115.  II,  87, 254.   ***)  VII,  242. 330. 342. 


Deutschland  und  Gustav  Adolf.  447 

Interesse  begründet  war,  zu  erkennen  die  Fähigkeit  hat." 
Noch  heftiger  endlich  Barthold,  bei  dem  Gustav  Adolfs  per- 
sönliche Würde  ganz  und  gar  fällt:  er  ist  der  gemeine  Er* 
oberer,  der  das  Evangelium  im  Munde,  das  Schwert  in  der 
Faust  führt,  der  unter  dem  Deckmantel  der  Religion  einher- 
zieht, um  desto  ungestörter  rauben  zu  können.*) 

Soweit  die  Anklagen  gegen  Gustav  Adolf  und  die  in- 
nern  und  äussern  Gegner  der  nationalen  Einheit  Deutsch- 
lands. Ich  weiss  nicht  ob  es  erlaubt  ist,  noch  eine  Vermu- 
thung  auszusprechen,  die  sich  für  nichts  mehr  als  eine 
Vermuthung  ausgeben  darf.  Menzels  Buch  ist  in  seiner  er- 
sten Hälfte  unter  den  Einflüssen  der  reactionären  Bewegun- 
gen in  den  zwanziger  Jahren  geschrieben;  als  die  Aufregun- 
gen, welche  die  Julirevolution  hervorgerufen  hatte,  sich  in 
Deutschland  mit  wissenschaftlichen  und  religiösen  Parteiun- 
gen  verbanden,  schrieb  Leo  im  Kampfe  gegen  sie  einen  gros- 
se« Theil  seiner  Universalgeschichte;  sollte  nicht  auch  Bart- 
holds  Buch  Elemente  der  Gegenwart  in  sich  tragen?  Im 
September  1841  schrieb  der  Verfasser  die  Vorrede,  in  den 
vorhergehenden  Jahren  wird  er  sein  Buch  vornehmlich  aus- 
gearbeitet haben,  zu  einer  Zeit  als  Frankreich  abermals  seine 
Hand  nach  der  Rheingrenze  ausstrecken  wollte,  und  der  Ge- 
danke eines  nationalen  Krieges  ganz  Deutschland  stärker  als 
jemals  seit  dem  pariser  Frieden  durchzuckte.  Ist  diese  Ver- 
muthung begründet,  wer  fühlt  es  nicht  dem  Verfasser  nach, 
dass  während  der  Beschäftigung  mit  einem  solchen  Stoff, 
unter  solchen  Umständen  sich  seine  Seele  mit  nationalem 
Zorne  erfüllen  musste? 

Wir  haben  bis  jetzt  Menzel,  Leo  und  Barthold  genannt, 
deren  Bücher  in  natürlicher  Steigerung  auf  einander  folgten; 
wir  deuten  hier  doch  auf  das  historische  Votum  eines  wür- 
digen Veteranen  der  Wissenschaft  hin,  das  bei  Gelegenheit 
der  Gustav- Adolf- Vereine  in  diesen  Blättern  niedergelegt 
worden  ist;  es  ist  Hü II mann,  der  sich  in  den  mildesten 
Formen  für  eine  ähnliche  Auffassung  ausspricht.     Es  sind 


•)  f,  29.  40.  223. 

30* 


448  Deutschland  und  Gustav  Adolf. 

die  Namen  von  Männern  die  durchaus  in  der  ersten  Reihe 
der  deutschen  Geschichtsforscher  stehen;  wo  sie  in  die  Wag- 
schale geworfen  werden,  scheint  das  Uebergewicht  notwen- 
dig nach  ihrer  Seite  hin  ausschlagen  zu  müssen.  Wenigstens 
ist  in  der  nachwachsenden  Literatur  dieser  Epoche  der  Ein- 
fluss  jener  Vorbilder  unverkennbar.  Es  kann  hier  nicht  die 
Absicht  sein  auf  die  spater  erschienenen  Werke  einzugehen; 
nicht  eine  Kritik  der  Bücher  sollte  gegeben,  nur  eine  Kri- 
tik der  Gesichtspunkte  im  Allgemeinen  sollte  versucht 
werden,  die  seit  einer  Reihe  von  Jahren  die  Geschicht- 
schreibung des  dreissigjährigen  Krieges  beherrscht  haben; 
von  der  beutigen  Auffassung  der  Hauptfacta,  nicht  von  ihrer 
Durchführung  im  Einzelnen  soll  die  Rede  sein.  Daher  wird 
es  hinreichen,  ehe  wir  jene  naher  betrachten,  auf  einige 
später  erschienene  Bücher  hinzuweisen. 

Hier  begegnen  uns  in  erster  Linie  K.  A.  Müllers  fünf 
Bücher  vom  böhmischen  Kriege  *)  die  auf  dem  Titel  als  er- 
ster Theil  einer  Geschichte  des  ganzen  Krieges  angekündigt, 
mit  Bartbolds  Buch  fast  gleichzeitig  erschienen  sind.  Die 
gründlichsten  archivalischen  Studien  verleihen  dieser  Dar- 
stellung einen  hohen  Werth;  sie  ruht  fast  ausschliesslich 
auf  den  Berichten  der  sächsischen  Gesandten  in  Prag  und 
Wien.  Ursprünglich  vom  dynastischen  Standpunkte  ausge- 
hend, hat  sich  der  Verfasser  hier  zu  einer  allgemeinen  histo- 
rischen Ansicht  erhoben:  es  ist  die  nationale  die  er  jetzt 
entschieden  festhält.  Deutschlands  Wohl  und  Wehe  ist  der 
Maasstab  für  die  Erscheinungen  in  Gut  und  Böse;  nach  sei- 
ner eigenen  Angabe  ist  es  Menzels  Buch  dem  der  Verfasser 
vor  Allen  viel  verdankt.  Der  zersetzende  Einfluss  der  Re- 
formation wird  hervorgehoben:  Verblendung  war  es  den 
dreissigjährigen  Krieg  zwei  Jahrhunderte  hindurch  für  einen 
Religionskrieg  zu  halten;  nicht  Tür  die  Religion,  nur  unter 
ihrer  Maske  haben  fast  alle  Tbeilnehmer  gehandelt ").  Zu 
Deutschlands  Verderben   wurden   die   religiösen  Ideen    von 


*)  Dresden  1841. 
)  p.  VII.  VIII.  XXX.  263. 


•• 


Deutschland  und  Gustav  Adolf.  449 

Fremden   ausgebeutet;  das  deutsche  Volk   trug   nichts   aus 
diesem  langen  Kampfe  davon,  es  wurde  schmählich  betro- 
gen.    Freiheit  und  Glaube,  damit  schliesst  das  Buch,  sind 
„in  Wirklichkeit  nichts  Anderes  als  die  äusserlichen ,  zufäl- 
ligen Gestaltungen"  der  Ideen  der  Selbstständigkeit  und  Na- 
tionalitat.    Der  Ton  des  Verfassers  ist  besonnen  und    ge- 
messen, aber  ich  glaube  keiner  seiner  leidenschaftlichen  Vor- 
gänger hat  die  einseitigen  Gonsequenzen  einer   nur  natio- 
nalen   Betrachtungsweise     mit    grösserer    Schärfe    ausge- 
sprochen; wir  hören  es,  die  Freiheit,  der  Glaube,  was  sind 
sie?  zufällige  Aeusserungen   der  Nationalität!    Für  dieselbe 
Sache  kämpft,  mitunter  im  heftigsten  Tone,  auch  einer  der 
namhaftesten  Historiker,  Gfrörer  in  seiner  Geschichte  Gu- 
stav  Adolfs.    Die  erste  Auflage  erschien  1836,  die  zweite  in 
diesem  Jahre,  in  den  Anfängen  besonders  unter  dem  Ein- 
flüsse des  Möllerschen  Buches  umgearbeitet.    Nächst  den  all- 
gemein bekannten  und  zugänglichen  Quellen,  sowie  einigen 
gleichzeitigen  Flugschriften*),  sind  Rühs,  Geijer,  Wolf  und 
andere  Neuere  die  Hauptführer.   Der  nationale  Gesichtspunkt 
ist  es,  gegen  den  hier  der  kirchliche  auf  das  Entschiedenste 
in  den  Hintergrund  tritt;  nur  in  sofern  sie  fördernd  oder 
hemmend  auf  die  Nationalität  einwirkt  kommt  dem  Verfas- 
ser die  confessionelle  Frage  in  Betracht;  und  wo  er  sie  ei- 
ner weitern  Rücksicht  werth  hält,    geschieht    es   meistens 
um  sie  mit  einem  gewissen  Rationalismus  abzufertigen:   so 
kann  man  nach  Luthers  Reformationsprincip  rechtgläubig  wie, 
ein  Stock  und  doch  grundschlecht  sein.  **)    Die  unersättliche 
Ländergier  der  Fürsten  begleitet  unfl  lähmt  die  Reformation 
von  Anfang  an;   dafür  setzen  sich  Ohnmacht  und  Spaltung 
desto  fester.    Volle  Anerkennung  findet  Gustav  Adolfs  Ge- 
nie, aber  dem  Reiche  gegenüber  ist  er  der  königliche  Aben- 
theurer,  der  Räuber,  ***)   der  unter  der  Maske  der  Religion 


*)  p.  954.  Auf  eine  im  Auszuge  mitgetheilte  höchst  merkwür- 
dige Flugschrift  werden  wir  an  einer  anderen  Stelle  zurückkommen. 
.  •*)  p.  848. 
***)  p.  1016. 


450  Deutschland  und  Gustav  Adolf. 

den  Eroberer  verbirgt  Dagegen  kann  man  dem  Verfasser 
nur  beistimmen,  wenn  er  die  auch  in  nenester  Zeit  beliebte 
Analogie  zwischen  Gustav  Adolf  und  Napoleon  mehr  als 
einmal  abweist  Um  so  auffallender  ist  es  dass  er  selbst 
steh  im  Herbeiziehen  von  Analogien  mit  der  neuesten  Zeit 
hin  und  wieder  gefallt,  in  denen  sich  der  entschiedenste  Wi- 
derwille, fast  möchte  man  sagen  Erbitterung,  gegen  Bran- 
denburg (d.  h.  Preussen,  wie  hinreichend  angedeutet  wird) 
kund  giebt.  Aus  der  Verbindung  dieser  Antipathie  mit  der 
ausschliesslich  nationalen  Richtung  gehen  die  sonderbarsten 
Behauptungen  hervor,  z.  B.  das  eigentliche  Deutschland  be- 
ginne erst  auf  dem  linken  Eibufer,  mehr  noch  mit  dem  Thü- 
ringer Walde;  und  an  einer  anderen  Stelle  werden  die  Ber- 
liner für  Deutsch-Slawen  erklärt;  der  Verfasser  will  in  ihnen 
die  Züge  des  halb -slawischen  Charakters  erkennen  *).  Na- 
tionalität ist  es  für  die  er  bald  mit  Ruhe,  öfter  mit  Leiden- 
schaft spricht,  aber  dennoch  kann  er  sich  nicht  versagen 
Seitenblicke  zu  werfen,  die  klar  zeigen,  dass  sein  nationaler 
deutscher  Sinn  noch  innerhalb  Deutschlands  selbst  bald  ge- 
nug seine  Grenze  findet  Der  Einheit  will  der  Verfasser 
das  Wort  reden,  aber  schwerlich  wird  er  durch  Anspielun- 
gen,  wie  er  sie  hier  ausgestreut  bat,  seinen  Zweck  fördern. 
Durch  den  zuversichtlichen  oft  journalistisch  kecken  Ton 
ist  Hebolds  Buch  jenem  nahe  verwandt**).  Es  ist  ebenfalls 
für  die  weitesten  Kreise  berechnet,  auch  hier  herrscht  die 
nationale  Tendenz  im  Sinne  der  neuesten  Zeit,  aber  sie  ist 
nicht  ohne  ein  entschieden  protestantisches  Element,  daher 
grössere  Gerechtigkeit  fn  der  Beurtbeilung  der  Reformation 
und  ihres  Verhältnisses  zum  Reich.  Vor  den  Einseitigkeiten 
der  nationalen  Richtung  weiss  sieb  der  Verfasser  zu  wah- 
ren; er  behandelt  seinen  Gegenstand  leicht  aber  mit  Ge- 
schick. 


*)  p.  741.  1018 

+*)  Der  dreissigjährige  Krieg  und  die  Helden  desselben  Gustav 
Adolf  und  Wallenstein,  für  Leser  aller  Stande.  Stattgart  1838. 
2  Bände. 


Deutschland  und  Guttat  Adolf.  451 

Wie  jene  neue  Ansicht  auf  die  katholische  Seite  zurück- 
gewirkt habe,  zeigt  sich  besonders  in  Mailaths  Geschichte 
Oestreichs,  deren  dritter  Band  sich  auf  die  Zeiten  des  dreis- 
sigjährigen  Krieges  beschränkt.  Mailath  hat  sein  Buch  vom 
kaiserlichen  Standpunkte  aus  geschrieben;  es  war  nicht  an- 
ders zu  erwarten;  doch  hütet  er  sich  wohl  Yor  der  eigent- 
lichen Parteispracbe,  die  man  jetzt  auf  protestantischer  Seite 
so  gern  für  den  Thermometer  der  Gesinnungswärme  ausge- 
ben möchte.  Er  vermeidet  es  nicht  selten  ein  Urtbeil  au»» 
susprechen;  vielmehr  nimmt  er,  um  seine  Unparteilichkeit 
zu  zeigen,  lange  Stellen  aus  protestantischen  Schriftstellern, 
nämlich  aus  Menzel  und  Barthold,  wortlich  auf.  Nicht  min- 
der häufig  sind  wichtige  Actenstücke  des  kaiserlichen  Ar- 
chivs theils  im  Auszuge,  theils  vollständig  eingeschaltet:  das 
erhöht  den  Werth  des  Buches  bedeutend,  aber  durch  die 
unmittelbare  Verknüpfung  des  rohen  Materials  mit  fremder 
Arbeit  erhält  es  ein  buntscheckiges,  excerptenhaftes  Ansehen; 
es  ist  unfertig,  oft  glaubt  man  mehr  Collectaneen  zu  einem 
Buche  als  das  Buch  selbst  vor  sich  zu  haben.  In  dieser 
Formlosigkeit  findet  es  auf  protestantischer  Seite  ein  eigen- 
tümliches Gegenstück  in  Pe Schecks  Geschichte  der  böh- 
mischen Gegenreformation,  *)  zugleich  eine  höchst  schätzens- 
werthe  Ergänzung  zu  Müllers  und  Mailaths  Büchern.  Pe- 
scheck  schreibt  weder  unter  dem  Einflüsse  der  neuern  kirch- 
lichen Richtung,  und  noch  viel  weniger  der  nationalen,  sein 
Standpunkt  ist  der  alte  protestantisch- theologische;  seine 
Auffassung  ist  jener  geradezu  entgegengesetzt,  die  bisher  mit 
so  viel  Vorliebe  verfolgt  worden  ist.  Entsetzliche  Bilder  der 
Unterdrückung,  der  Verfolgung  und  Grausamkeit  ergeben  sich 
aus  seinen  Materialien;  hier  erblicken  wir  die  Kehrseite  je- 
ner gepriesenen  kirchlichen  und  nationalen  Einheitspolitik, 
die  man  uns  mit  so  glänzenden  Farben  zu  schildern  wusste. 
Wie  auf  Menzels  Geschichte  des  Krieges  besonders  die  streng 
katholischen  Religionsacten  von  Bukisch  gewirkt  haben,  so 
wird  hier  die  Grundlage  durch  die  Trümmer  jener  fast  ver- 

*)  Dresden  und  Leipzig  1844.  2  Bde. 


452  Deutschland  und  Gustae  Adolf. 

Schollene!)  Literatur  der  unterdrückten  böhmischen  Prote- 
stanten gebildet  Der  Verfasser  selbst  ist  einer  ihrer  Nach- 
kommen; den  blutigen  Leiden  seiner  Vorältern  die  um  des 
Glaubens  willen  verfolgt  wurden,  will  er  diesen  einfachen 
Denkstein  setzen.  Einige  ihrer  Denkwürdigkeiten  *)  beson- 
ders aber  Edicte,  Predigten,  fliegende  Blätter  und  was  etwa 
sonst  aus  dem  allgemeinen  Untergange  gerettet  ist,  hat  er 
sorgfältig  benutzt;  es  sind  keine  archiyalischen  Hülfsmittel, 
aber  seltener,  unbekannter  noch  als  diese.  Man  könnte  von 
diesem  Buche  eine  heilsame  Bückwirkung  erwarten,  wenn  der 
verdienstvolle  und  fast  zu  bescheidene  Verfasser  den  Versuch 
gemacht  hätte,  auch  schriftstellerisch  seines  Stoffes  Herr  zu 
werden.  Er  knüpft  seine  Actenstücke  durchaus  kunstlos  an 
einander,  und  daneben  schaltet  er  wie  Mailath  ganze  Seiten 
aus  katholischen  Schriftstellern  ein,  um  wie  dieser  seine  ab- 
stracte  Unparteilichkeit  zu  bewähren. 

Noch  zweier  Bücher  wäre  endlich  mit  wenigen  Wor- 
ten zu  gedenken,  von  denen  das  eine  sich  geradezu  die  Auf- 
gabe gestellt  hat,  die  neuere  Ansicht  zu  bekämpfen;  eS  ist 
Bango's  Geschichte  Gustav  Adolfs**),  voll  guten  Willens, 
aber  ein  höchst  schwaches  Buch,  in  jeder  Beziehung  dilet- 
tantisch; Schiller  ist  mit  und  ohne  Nennung  des  Namens 
seitenlang  wörtlich  abgeschrieben.  Wahrlich,  die  Dienste 
der  Bundesgenossen  sind  auch  hier  schlimmer  als  die  An- 
griffe der  Gegner.  SölM***)  hält  sich  populär  im  Ton  und 
in  der  Ansicht  Schillers;  ein  Band  Actenstücke,  meistenteils 
Auszüge  aus  den  Papieren  des  Gamerarius,  ist  eine  sehr 
dankenswerthe  Zugabe.  Doch  genug  von  den  Büchern,  kom- 
men wir  zu  den  Sachen,  die  sie  behandeln. 


*)  Vor  allen  die  historia  persecutionum  ecclesiae  Bohemicae, 
seit  1632  von  verschiedenen  Augenzeugen  niedergeschrieben;  sie 
ist  fast  ganz  in  Peschecks  Buch  übergegangen;  Jacobaei  idea  mu* 
tationuoi  Bohemico-evangelicarum  ecclesiarum  Amstelod.  1624,  Re- 
gen volscii  syslema  historico-chronologicum  ecclesiarum  Slavonica- 
rum.    Utrecht  1652. 

**)  Erste  Auflage  1824;  3te  1835. 

***)  Der  Religionskrieg  in  Deutschland.  Hamburg  1840.  3  Bde. 


Deutschland  und  Gustat  Adolf.  453 

Bei  der  überwältigenden  Masse  des  Stoffs  wäre  es  eine 
reine  Unmöglichkeit,  auch  nur  die  wichtigsten  Verhältnisse 
und  Charaktere  mit  wenigen  Worten  zu  berühren.  Wir 
wollen  nur  die  beiden  hauptsächlichsten  Punkte  herausheben, 
bei  denen  die  verschiedenen  Ansichten  am  deutlichsten  her-« 
vortreten,  das  ist  die  politische  wie  kirchliche  Stellung  des 
Kaisers  zu  den  Reichsständen,  und  das  Eingreifen  Gustav 
Adolfs.  Dr.  Rudolf  Köpke. 

( Fortsetzung  und  Schluss  im  nächsten  Hefte. )  -     • 


Erinnerungen  an  Francis  de  la  HToue 

und  dessen  Vorschläge  inr  besseren  Bildung  des  jüngeren 

französischen  Adels. 


Wenn  wir  in  einem  civilisirten  und  wohleingerichteten  Staate, 
zur  Zeit  des  tiefsten  Friedens  nach  innen  und  aussen,  wo 
der  wissenschaftlich  gebildete  Tbeil  des  Volkes,  unterstützt 
und  geleitet  von  einer  weisen  und  kräftig  handelnden  Regie* 
rung,  auf  Erhöhung  und  Verbreitung  intellectueller  und  mo- 
ralischer Volksbildung  als  eines  gemeinsamen  Zieles  des 
Strebens  durch  Wort  und  That  hinwirkt,  mannigfaltige  Stim- 
men übet  Einrichtung  des  Unterrichts  und  der  Erziehung 
der  Jugend,  so  wie  über  den  wichtigen  Einfluss  beider  auf 
das  Staatsleben  laut*  werden  hören,  so  finden  wir  dieses  so 
natürlich  und  der  Geistesthatigkeit  eines  solchen  Volkes  so 
angemessen,  dass  es  uns  fast  unmöglich  wird,  das  Gegen* 
tbeil  zu  denken,  zumal  in  einem  Zeitalter,  wo  die  überall 
thätige  Presse  und  die  nach  allen  Seiten  hin -erhöhte  litera- 
rische Verbindung  der  einzelnen  Länder  unter  sich  den  Aus- 
tausch der  Ideen  im  Allgemeinen,  und  daher  auch  das  Laut- 
werden und  die  Verbreitung  solcher  Stimmen  in  einem  wesent- 
lichen Grade  fordert  und  selbst  anregt.  Ganz  anders  aber 
wird  sich  unser  Urtheil  gestalten ,   wenn  dieselben  uns  aus 


454  Erinnerungen  am  Franfois  de  la  JVotie. 

einer  Zeitperiode  and  einem  Lande  htirubertöneo,  in  wel- 
chem fast  ein  halbes  Jahrhundert  hindurch  innere/  mit  der 
grössten  Heftigkeit  und  Leidenschaftlichkeit  geführte  Reli- 
gion»» und  Bürgerkriege  das  Volk  in  schroff  einander  gegen- 
überstehende Parteien  getheilt,  wo  Aberglaube  und  Unglaube 
sich  aller  Stände  derselben  bemächtigt,  und  eine  bis  in  die 
innersten  Verhältnisse  des  Gesammtlebens  eindringende  mo- 
ralische Zerrüttung  hervorgebracht  haben,  wo  der  Regent  und 
sein  Hof  in  alle  Arten  von  Lasterhaftigkeit  und  Schwelgerei 
versunken,  die  administrativen  Behörden  ohne  Kraft  und 
Energie,  die  Richter  ohne  Gewissenhaftigkeit,  die  Geistlich- 
keit voller  Habsucht  und  nur  auf  Erreichung  irdischer  Zwecke 
bedacht,  der  Soldatenstand  voller  Uebermuth  und  Rohheit, 
der  Bürger*  und  Bauemstaud  eines  arbeitsamen,  häuslichen 
Lebens  entwöhnt,  und  ohne  auf  höhere  Lebenszwecke  hin- 
gewiesen zu  werden,  nur  die  Last  seines  Daseins  sich  zu 
erleichtern  bedacht  ist  Unter  solchen  Verhältnissen  wird 
uns  eine  berathende  Stimme  über  Bildung  und  Erziehung 
der  Jugend  gewiss  höchst  unerwartet  kommen,  und  der 
Mann,  von  dem  sie  ausging,  wird  in  unseren  Augen  um  so 
grösserer  Achtung  werth  erscheinen;  denn  er  erhob  sich  über 
den  grössten  Theil  seiner  Landsleute,  wies  sie  auf  etwas 
Höheres  hin,  dem  sie  gänzlich  entfremdet  waren  und  strebte 
so  auf  eine  zwar  allmäblige,  aber  sichere  Weise  sie  dem  mo- 
ralischen Verderben  zu  entreissen,  und  ihrer  wahren  Bestim- 
mung näher  zu  führen. 

Ich  fürchte  nicht  der  Uebertreibung  beschuldigt  zu  wer- 
den, wenn  ich  durch  obige  Andeutungen  den  Zustand  Frank- 
reichs während  der  zweiten  Hätfte  des  sechszehnten  Jahrhun- 
derts im  Allgemeinen  zu  bezeichnen  gesucht  habe.  Die  Ge- 
schichte beurkundet  die  Richtigkeit  derselben  nur  zu  sehr,  und 
die  Folgen  dieses  Zustandes  haben  Jahrhunderte  hindurch  das 
Land  hart  genug  gedrückt  Jemebr  man  sich  bemüht,  ein 
treues  Bild  von  dem  damaligen  Zustande  des  französischen 
Volkes  sich  zu  entwerfen,  desto  mehr  wird  man  von  Schmerz 
und  Abscheu  erfüllt. 

Aber  auch  in  diesem  Lande,  in  dieser  unheilvollen  Pe- 


Erinnerungen  an  Franzi*  de  la  Nmte.  ASS 

riode  fehlte  es  nicht  an  Männern,  welche  beseelt  von  Wahr- 
heitsliebe und  Mntb,  das,  was  sie  als  Gebrechen  ihres  Staats 
erkannt  hatten ,  in  ihrer  ganzen  Bedeutung  darzustellen  und 
durch  Wort  und  That  auf  eine  bessere  Ordnung  der  Dinge 
hinzuwirken  bemüht  waren.  Freilich  werden  sie  in  der  po- 
litischen Geschichte  ihres  Vaterlandes  nicht  so  oft  genannt  ab 
diejenigen,  welche  durch  ihr  Beispiel  einen  grossen  Theil 
der  Schuld  an  der  Demoralisation  ihrer  Mitbürger  trugen )  aber 
durch  ihre  Schriften  und  die  darin  ausgesprochenen  Grund- 
sätze und  Rathschläge  haben  sie  sich  weit  schönere  Denk- 
mäler in  den  Herzen  der  unbefangener  urtheilenden  Nach- 
welt gesetzt  An  die  Namen  eines  Jean  Bodin,  de  la 
Boelie  u.  A.  knüpfen  sich  Erinnerungen,  welche  von  un- 
gleich höherer  Bedeutung  sind,  als  die,  welche  damalige 
Geschichtschreiber  den  Macbthabern  jener  Zeit  mit  beredter 
Feder  spendeten.  Zu  jenen  Namen  gesellen  wir  auch  den 
des  Mannes,  welcher  Gegenstand  dieser  Blatter  ist  —  Fran- 
cis de  la  Noue,  und  zwar  mit  um  so  grösserem  Rechte, 
wenn  wir  bedenken,  dass  er  keineswegs  dem  geistlichen 
oder  Schulstande,  überhaupt  nicht  dem  gelehrten  Stande  an- 
gehörte, sondern  vielmehr  sein  ganzes  Leben  der  militäri- 
schen Laufbahn  gewidmet  hatte,  und  dasselbe  mitten  unter 
dem  rohen  Haufen  seiner  Kriegscameraden,  fortwährend  im 
Getümmel  des  Krieges,  zubrachte;  wenn  wir  hören,  dass  er 
eben  jene  heilsamen  Rathschläge  in  den  dunklen  Räumen  ei- 
nes grauenvollen  Gefängnisses  niederschrieb,  umgeben  von 
allen  Schrecknissen  und  Plagen  desselben,  gequält  von  kör- 
perlichen Schmerzen,  getrennt  von  den  Seinigen,  und  ohne 
Hoffnung,  je  seine  Freiheit  wieder  zu  erlangen.  Fürwahr, 
wer  unter  solchen  Verhältnissen  sich  hingezogen  fühlen 
konnte,  seinen  Geist  mit  der  Theorie  der  Jugendbildung  zu 
beschäftigen,  verdient  wohl,  dass  sein  Andenken  erneuert 
werde,  das  zumal  diesseits  des  Rheins  bei  unseren  Zeitge- 
nossen mehr  oder  weniger  verloren  gegangen  sein  dürfte. 


456  Erinnerungen  an  Frangoi»  de  la  Noue. 

L    Uebersicht  der  LebeBsrerhiltalife  ?oa  Francis  *e  U  loie.*) 

Francis  de  la  Noue,  geboren  im  Jahre  1531  stammte 
aus  einem  alten  und  angesehenen  Hause  der  Bretagne  ab, 
wo  sein  Vater,  ebenfalls  Francis  de  la  Noue  genannt,  mehre 
schöne  Besitzungen  hatte.  Zufolge  des  bei  einem  nicht 
geringen  Theile  des  französischen  Adels  jener  Zeit  geltenden 
Grundsatzes,  dass  ein  Adliger  blos  persönlicher  Tapferkeit 
bedürfe,  war  seine  frühere  Bildung  höchst  mangelhaft;  Lesen 
und  Schreiben  waren  die  einzigen  Gegenstände  des  Unter- 
richts, auf  welche  später  praktische  Anweisung  im  Gebrauch 
der  Waffen  und  in  Behandlung  der  Pferde  folgte.  So  blieb 
die  wahre  geistige  und  wissenschaftliche  Ausbildung  theils 
eigenem  Naturtriebe  und  der  Kraft  seines  Geistes,  theils  der 
Vereinigung  günstiger  Umstände  überlassen,  und  wir  müssen 
uns  daher  um  so  mehr  sowohl  über  die  Belesenheit,  von 
welcher  seine  Schriften  zeugen,  als  auch  über  die  wieder- 
holt von  ihm  ausgesprochene  Ueberzeugung  von  der  Wich- 
tigkeit einer  guten  Schulbildung  wundern.    Italiens  damals 


*)  Quellen:  Moyse  Amyrault,  Vie  de  Fr.  de  la  Noue.  AmsL 
1661.  4.  Wiewohl  man  dem  Verfasser  hauptsächlich  in  Betreff 
seiner  Darstellung  mancherlei  nicht  unverdiente  Aussteilungen  ge- 
macht hat,  so  bleibt  sein  Werk  doch  immer  eine  Hauptquelle, 
schon  wegen  der  zahlreichen  darin  abgedruckten  Briefe  de  la 
Noue's  und  anderer  Actenstücke.  •—  Est.  Cauchoy,  LeTombeau  de 
la  Noue.  Melun.  1594.  8.  Ist  mir  nur  dem  Titel  nach  bekannt.  — 
Sammarthani  Elogia  Gallorum  libri  IV.  N.  VIL  p.  205—208  ed.  Heu- 
'  mann.  Brantome,  Eloge  de  la  Noue  —  v.  Ejusd.  Oeuvres  T.  IX.  p. 
320—406  (ä  la  Haye  1740.  12.)  ins  Deutsche  übersetzt  in:  Samm- 
lung historischer  Memoires,  übersetzt  von  Fr.  Schiller,  Th.  XII.  S. 
141  —  155.  —  Moreri,  Dictionnaire  bist.  s.  v.  Noue,  Fr.  de  la.  — 
Biographie  universelle  s.  b.  v.  T.  XXXI.  p.  409—412.  — -  Diction- 
naire universel  hist.  crit.  et  bibliograph.  (Par.  1810.  8.)  T.  XU.  p- 
554—556  —  Arcere,  Histoire  de  la  Ville  de  la  Rochelle  et  du  pays 
d'AuInis.  T.  I.  p.  426—568.  Verbreitet  sich  hauptsächlich  über 
seine  Verhandlungen  mit  der  Stadt  Rochelle,  und  über  sein  Beneh- 
men während  der  Jahre  1572 — 74  als  Gouverneur  dieser  Stadt 


Erinnerungen  an  Frangois  de  la  Noue.  457 

noch  fortdauernder  Ruf,  die  Pflanzstatte  der  Humanität  und 
feiner  Bildung  zu  sein,  so  wie  der  Umstand,  dass  die  daselbst 
stehenden  französischen  Truppen  sich  vor  allen  übrigen  in 
Hinsicht  auf  Disciplin  auszeichneten,  veranlassten  ihn  in  die- 
sem Lande  seine  ersten  Kriegsdienste  zu  thun,  wo  er  sich 
auch  in  einem  Gefecht  bei  Ponte  Stura  gegen  die  Spanier 
auszeichnete.  Bei  seiner  Rückkehr  in  das  Vaterland  fand  er 
die  religiösen  Ansichten  eines  nicht  geringen  Theils  seiner 
Landsleute  in  dem  Zustande  einer  bedeutenden  Umwandlung 
begriffen,  indem  die  akatholische  Partei  trotz  der  strengen 
Verordnungen  der  Regierung  mehr  oder  weniger  über  das 
ganze  Land  sich  verbreitet,  und  selbst  in  der  Bretagne,  welche 
am  längsten  den  alten  Glauben  bewahrte,  Anhänger  gefun- 
den hatte.  Diese  Erscheinung  war  sowohl  an  sich,  als  auch 
in  ihren  Folgen  zu  wichtig,  und  sein  Gemüth  unstreitig  zu 
empfänglich,  als  dass  sie  ihn  hätte  gänzlich  unberührt  lassen 
und  nicht  vielmehr  einen  unverkennbaren  Einfluss  auf  die 
Gestaltung  seiner  eigenen  Ueberzeugungen  hätte  ausüben  sollen. 
Je  mehr  die  Wahrnehmung  der  vielfachen  Mängel  und  Gebre- 
hen, welche  sich  in  dem  Glauben  und  Leben  der  herrschen- 
den Kirche  kund  gaben,  und  die  Kenntniss  der  Tendenz, 
welche  die  akatholische  Partei  befolgte,  in  ihm  die  Ueber- 
zeugung  von  der  Notwendigkeit  einer  durchgreifenden  Glau- 
bens- und  Kirchenreform  festgestellt  hatte,  desto  enger 
schloss  er  sich  jetzt  an  die  Anhänger  der  letzteren  an;  je 
mehr  er  die  Anwendung  gewaltsamer  Mittel  zur  Wiederher- 
stellung des  alten  Glaubens  als  einen  Act  unchristlicher  Un- 
duldsamkeit missbilligte,  desto  mehr  mochte  er  sich  aufge- 
fordert fühlen,  Gewalt  mit  Gewalt  zu  vertreiben,  und  zur 
Verteidigung  des  neuen  Glaubens  und  der  strengeren  Be- 
folgung der  Religionsedicte  selbst  das  Schwert  zu  ziehen. 
Solche  Gesinnungen  konnten  unter  seinen  Glaubensverwand- 
te» nicht  lange  verborgen  bleiben;  vielmehr  waren  sie  ge- 
eignet, ihn  einer  schnellen  und  keineswegs  unrühmlichen 
Laufbahn  zuzuführen,  wie  der  Erfolg  zeigte.  Der  Admiral 
Coligny,  damals  nächst  dem  Prinzen  von  Cond6  das  Haupt 
der  neuen  Partei,  zog  ihn  aus  der  Dunkelheit  hervor    und 


458  Erinnerungen  an  Franpris  de  la  Nout. 

begünstigte  ihn;  und  die  nähere  Verbindung  in  die  er  mit  Herrn 
von  Andelot,  dem  Bruder  des  letzteren,  trat,  gab  ihm  Gele- 
genheit seine  Talente  zu  entwickeln.  Zufolge  eines  Beschlus- 
ses der  Hugenottenhäupter,  die  Einnahme  der  Stadt  Orleans 
nicht  durch  offenen  Angriff,  was  bei  der  geringen  Stärke  ih- 
rer Streitkräfte  unmöglich  gewesen  wäre,  sondern  durch 
List  und  kluge  Benutzung  der  günstigen  Stimmung  eines 
Theils  der  Bewohner  zu  versuchen,  ward  ihm  kn  Anfange 
des  zweiten  Bürgerkrieges  der  Auftrag  ertheilt,  diesen  Plan 
auszufahren,  und  die  Umsicht,  mit  welcher  er  dabei  verfahr, 
machte,  dass  er  mit  einer  Abtheilung  von  nur  300  Mann  un- 
geachtet der  Hindernisse,  welche  ihm  die  katholische  Partei 
entgegensetzte,  und  trotz  des  Kanonenfeuers  der  Besatzung, 
den  Gommandanten  mit  Hilfe  der  hugenottisch  gesinnten 
Bürger  zur  Capitulatiou  zwang,  ohne  dabei  besonders  viel 
Blut  zu  vergiessen.  Die  Geschichte  dieses  und  des  folgen- 
den Bürgerkriegs  berichtet  noch  mehre  andere  Beweise  seiner 
militärischen  Einsicht  und  seines  Muthes,  deren  ausluhrlkshe 
Darstellung  hier  jedoch  zu  weit  führen  würde.  Ueberhaupt 
ist  sein  Leben  vom  Jahre  1562—1580  als  Ein  Feldzug  zu 
betrachten,  welcher  nur  durch  Friedensschlüsse  auf  kurze 
Zeit  unterbrochen  wurde.  In  der  Schiacht  von  Jarnae  (am 
13ten  März  1569),  welche  dem  Prinzen  von  Cond6  das  Le- 
ben kostete,  ward  La  Noue  gefangen,  blieb  aber  nicht  lange 
in  feindlichen  Händen.  Ein  gleiches  Schicksal  hatte  er  in 
dem  noch  unglücklicheren  Treffen  bei  Montoncour  (3.  Octo- 
ber  1569),  wo  er  obgleich  von  einem  Quartanfieber  befallen, 
bis  vor  die  feindliche  Artillerie  drang;  ja  er  wäre  ohne  Zwei« 
fei,  wie  mehre  andere  Gefangene  damals  getödtet  worden, 
hätte  nicht  der  Prinz  und  nachmalige  König  Heinrich  ihn 
in  Schutz  genommen.  Bei  der  Belagerung  von  Fontaine-la- 
Comte  im  folgenden  Jahre  ward  ihm  der  linke  Arm  zer- 
schmettert, weshalb  man  ihm  "einen  eisernen  ansetzte,  welcher 
Veranlassung  zu  seinem  Beinamen  Bras  de  fer  gah.  Im  Jahr 
1571  Hess  ihn  der  Graf  Ludwig  von  Nassau  nach  Flandern 
kommen,  um  mit  seiner  Beihilfe  gegen  die  Spanier  seine 
Operationen  zu  beginnen,  welche  jedoch  theils  wegen  des 


Erinnerungen  an  Francis  de  la  Noue.  459 

bedeutenden  Gegengewichts  des  Herzogs  von  Alba,  theils  we- 
gen der  Krankheit  und  des  bald  darauf  erfolgten  Todes  des 
Grafen  nicht  den  erwünschten  Erfolg  hatte.  Nach  der  pa- 
riser Bluthochzeit  (1572)  berief  ihn  der  König  aus  Pfändern 
zurück,  um  seinen  Einfluss  bei  der  akatholiscben  Partei  zur 
Unterwerfung  der  Einwohner  von  Rochelle,  dem  Hauptorte 
der  Hugenotten,  zu  benutzen.  Nur  mit  Widerwillen  nahm 
er  diesen  Auftrag  an,  von  welchem  er  sich  im  Voraus  einen 
schlechten  Erfolg  versprach,  und  der  ihm  in  der  That  auch 
nur  Sorge  und  Verdruss  bereitete.  Denn  die  Masse  des 
Volkes  erschreckt  durch  die  Bartholomäusnacht,  und  ange- 
regt durch  die  Agenten  der  Hugenotten,  wollte  von  keinen 
Vorschlägen  hören.  Nachdem  er  seit  Coligny's  Tode  als 
Begleiter  und  Rathgeber  des  jungen  Königs  von  Navarra 
thatig  gewesen  war,  wurde  ihm  von  der  Bürgerschaft  der 
Stadt  Rochelle  die  Stelle  eines  Gommandanten  angetragen. 
Noch  immer  unschlüssig,  welche  Partei  er  im  Gonflicte  sei- 
ner Pflicht  mit  seiner  religiösen  Ueberzeugung  nehmen 
sollte  oder  vielmehr  geneigt,  durch  gütliche  Vermittelung  die 
Aufregung  der  Gemüther  zu  beruhigen,  nahm  er  diesen  Pos- 
ten an,  der  ihm,  wie  er  hoffte,  Mittel  gewähren  würde,  diese 
Absiebt  zu  erreichen.  Doch  soviel  Tfaätigkeit  er  auch  in  der 
Verteidigung  der  Stadt,  welche  der  Herzog  von  Anjou  be- 
lagerte, entwickeln  mochte,  so  erfolgreich  auch  seine  Be- 
mühungen hierin  waren,  so  blieb  er  dennoch  der  herrschen- 
den Partei  verdächtig,  wegen  seiner  gemässigten  Ge- 
sinnungen und  friedlichen  Rathschläge.  Endlich  verliess  er, 
getäuscht  in  der  Hoffnung  den  Frieden  wieder  herzustellen, 
die  Stadt  gänzlich,  und  begab  sich  in  das  Lager  des  Herzogs 
von  Anjou,  dem  er  durch  seine  Dienste  sehr  nützlich  wurde. 
Gerade  dieser  Aufenthalt  gab  ihm  Veranlassung  zu  einer 
gänzlichen  Veränderung  seines  bisherigen  Systems.  Indem 
er  nur  zu  oft  die  Erfahrung  machte,  zu  welcher  unredlichen 
Politik  der  Hof  seine  Zuflucht  nahm,  und  immer  mehr  zu 
der  Ueberzeugung  gelangte,  dass  dieselbe  ihm  keine  andere 
Sicherheit  Hesse,  als  im  offenen  Kriege,  wendete  er  sich  im 
Jahre  1574  offen  von  der  Partei  des  Königs  ab,  und  war  der 


460  Erinnerungen  an  Francis  de  la  Naue. 

Erste,  welcher  den  Bewohnern  von  Rochelle  zuredete»  ge- 
meinschaftliche Sache  mit  den  übrigen  Reformirten  zu  ma- 
chen. Er  setzte  nun  aufs  Neue  die  Stadt  in  Vertheidigungp- 
zustand,  nahm  einige  nahe  gelegene  Inseln  weg,  und  ver- 
schaffte derselben  Mittel  selbst  einen  langwierigen  Krieg 
auszubauen.  Nach  geschlossenem  Frieden  (1578)  ward  er 
von  den  vereinigten  Staaten  Belgiens  eingeladen,  in  der 
Würde  eines  Generalfeldmarschalls  in  ihre  Dienste  zu  treten. 
Gerade  jetzt  aber,  im  Beginn  der  Glanzperiode  seines  Le- 
bens, schien  ein  Unglücksstern  über  ihn  aufzugehen.  Nach 
Verlauf  eines  Jahres  fiel  er  in  einem  Gefecht  bei  Engel- 
münster in  Flandern  in  die  Hände  der  Spanier.  In  stolzer 
Freude  über  die  Gefangennehmung  eines  Mannes,  der  jen- 
seits der  Pyrenäen  ebenso  verhasst  wegen  seiner  religiösen 
Ansichten,  als  wegen  seines  Muthes  gefürchtet  war,  führte 
ihn  der  Marquis  von  Richebourg  nachMons,  von  wo  aus  er 
später  nach  Limburg  versetzt  wurde.  Während  der  ersten 
Zeit  seiner  Gefangenschaft  ward  ihm  durch  die  Humanität 
des  Herzogs  von  Parma,  der  ihm  die  grösste  Achtung 
erwies,  sein  Schicksal  sehr  erträglich  gemacht,  und  noch  in 
Limburg  verstattete  ihm  der  Gommandant  manche  Freiheit 
Allein  bald  hatten  seine  Feinde  strengere  Befehle  hinsicht- 
lich seiner  Haft  ausgewirkt,  und  so  musste  er  die  letzten 
Jahre  in  einem  alten  Thurme,  ausgesetzt  den  Einflüssen  der 
Witterung  und  belästigt  durch  allerlei  Ungeziefer,  sein  Leben 
fern  von  der  Welt  und  unter  steten  Schmerzen  eines  siechen 
Körpers  zubringen.  Zwar  hatte  er  selbst  und  seine  Freunde 
nicht  verabsäumt,  Unterhandlungen  wegen  seiner  Auslösung 
anzuknüpfen;  allein  seine  Feinde  stellten  die  bärtesten  Be- 
dingungen, ja  sie  errötheten  nicht  ihm  als  Bedingung  vorzu- 
schreiben, dass  er  sich  an  beiden  Augen  blenden  Hesse. 
Endlich,  nach  fünfjähriger  Gefangenschaft,  ward  er  gegen 
eine  Gaution  von  100000  Kronen  und  unter  dem  Verspre- 
chen, nie  wieder  gegen  Spanien  und  das  Haus  Guise  zu 
kämpfen,  in  Freiheit  gesetzt.  Als  er  einige  Zeit  darauf  ge- 
hört hatte,  dass  Heinrich  UI.  und  IV.  sich  mit  einander  ge- 
gen die  Ligue  vereinigt  hätten,   bot  er  ihnen  seine  Dienste 


Erinnerungen  an  Fran^ois  de  la  Noue.  461 

an,  und  ward  von  dem  Herzoge  von  Longueville,  der  die  kö- 
nigliche Armee  commandirte,  zu  sich  berufen  und  mit  der 
grössten  Auszeichnung  behandelt  Damals  war  es,  wo  er 
durch  einen  Act  edler  Aufopferung  die  Liebe  zu  der  Sache 
bewies,  für  welche  er  focht  Als  die  Liguisten  im  Jahre 
1589  die  Stadt  Senlis  belagerten,  die  Royalisten  aber,  zu 
schwach  die  Belagerer  anzugreifen,  sich  darauf  beschränken 
mussten,  Munition  und  Lebensmittel  in  die  Stadt  zu  brin- 
gen, verpfändete  La  Noue  sein  Gut  Tournelles  an  die  Kauf- 
leute, welche  die  Zufuhr  übernommen  hatten,  aber  wegen 
der  Bezahlung  Schwierigkeiten  machten,  indem  er  ausrief: 
„Nun  gut,  so  mag  es  meine  Sache  sein,  die  Kosten  zu  tra- 
gen. Ein  Jeder  «bebalte  sein  Geld,  wer  es  höher  schätzt, 
als  seine  Ehre.  So  lange  ich  einen  Tropfen  Blutes  und  ei- 
nen Fussbreit  Landes 'haben  werde,  will  ich  sie  anwenden 
zur  Vertheidigung  des  Landes,  welches  mir  Gott  zum  Va- 
terlande gegeben  hat!"  Heinrich  IV.  schickte  ihn  bald  dar- 
auf in  die  Bretagne  mit  dem  Charakter  eines  Lieutenantge- 
neral, um  gegen  den  Herzog  von  Mercoeur  zu  dienen.  Doch 
anders  wollte  es  das  Schicksal;  bei  der  Belagerung  der  Stadt 
Lambelle  endigte  er  am  4ten  August  1591  in  Folge  einer  am 
Kopfe  erhaltenen  Schusswunde  sein  thatenreiches  Leben. 

Bei  einem  so  bewegten,  dem  Drange  der  Ereignisse 
gänzlich  preisgegebenen  Leben  konnte  die  Productivität  von 
La  Noue's  Feder  unmöglich  gross  sein;  ja  die  Literaturge- 
schichte Frankreichs  würde  seinen  Namen  wahrscheinlich 
gar  nicht  nennen,  hätte  er  nicht  während  seiner  fünfjährigen 
Gefangenschaft  durch  Aufsetzen  seiner  eigenen  Ideen  seinem 
Geiste  Nahrung  und  Zerstreuung  zu  verschaffen  gesucht, 
hätte  nicht  sein  Zeitgenosse  Desfresnes  diese  Aufsätze  für 
würdig  gehalten,  sie  aus  einem  Haufen  alter  in  einem  Win- 
kel des  Gefängnisses  liegender  Papiere  zu  sammeln,  und  un- 
geachtet alles  Widerstrebens  von  Seiten  des  Verfassers  der 
Oeffentlichkeit  übergeben.  Ein  kleines  Bändchen  ist  die  fast 
einzige  Frucht  jener  schriftstellerischen,  theuer  genug  erkauf- 
ten Müsse;  allein  sein  Inhalt  ausgezeichnet  durch  Erhabenheit 
der  Ideen,  wie  durch  einen  überall  sichtbaren  Geist  der  Un- 

Zeitachrift  f.  Geschieht**.  IV.  1845.  3£ 


1 


462  Erinnerungen  an  Franqoi*  de  la  Noue. 

Parteilichkeit  und  Freimüthigkeit,  durch  eine  ruhige,  ernste 
Sprache,  so  wie  durch  Klarheit  und  Bestimmtheit  des  Aus- 
drucks, durchdrungen  endlich  von  wahrer  Religiosität  und 

# 

inniger  Liebe  zum  Vaterlande.  Je  s$ay  bien ,  schreibt  er, 
que  c'cst  un  mal  plaisant  discours  a  celui,  qui  aime  et  bo- 
nore  son  pays  et  sa  nation,  d'en  vouloir  preannoncer  les 
cheutes,  ce  qui  ne  se  peut  faire  sans  aussi  en  decouvrir  les 
turpitudes.  Mais  puisque  tels  perils  estonnent  desia  tant  de 
coeurs,  et  que  les  causes,  qui  nous  y  Jetten t  s'appercoyvent 
des  yeux  de  tous,  ne  serott  ce  pas  foiblesse  d'esprit  de  se 
taire  en  ce  grand  besoin?  II  est  certain,  qu'il  y  a  grand 
nombre  d'hommes,  lesquels  par  Taute  de  bonne  connoissance, 
demeurent  demi  esperdus  au  milieu  de  tant  de  misferes.  Et 
tout  ainsi  que  les  eaux  vont  coulant  insensibles  contre  bas 
d'une  riviere  jusques  a  ce  qu'elles  soyent  parvenucs  dans 
TOcean,  oü  elies  s'ensevelissent;  aussi  eux  roulans  peu  k 
peu  dans  les  confusions  presentes  qui  les  emportent,  estans 
destituez  de  droites  apprehensions,  vont,  suyvant  les  uns  les 
autres,  se  preeipiter  en  des  abysmes  de  ruynes.  C'est  uo 
oeuvre  profitable  de  monstrer  le  feu  estre  en  la  maison  a  ceux 
qui  ne  l'apper^oyvent,  et  aux  autres,  qui  le  voyent  et  le 
craignent,  et  les  piquer  pour  Paller  esteindre,  et  ä  quelques 
uns  qui  l'entretiennent  par  aventure  sans  beaueoup  y  penser, 
et  les  admonester  qu'ils  ne  fönt  pas  bien:  bref,  preparer 
tous  a  (in  d'aider  au  Maistre  pour  la  salvation  d'icelle,  et 
pour  la  conservation  de  sa  famillö« 

2<   Zur  Charakteristik  der  Krziehungsweise  des  französischen  Adels 
während  der  zweiten  Hälfte  des  sechszehnten  Jahrhunderts. 

Bevor  ich  in  einem  dritten  Abschnitte  zur  Darlegung 
der  Vorschlage  La  Noue's  zu  einer  besseren  Erziehung  des 
jüngeren  französischen  Adels  übergehe,  scheint  es  notb wendig, 
Einiges  über  die  damals  gebrauchliche  Erziehungsweise  des- 
selben vorauszuschicken,  indem  dadurch  allein  jene  Vorschlage 
in  ihr  wahres  Licht  gesetzt  und  gehörig  gewürdigt  werden 
können.  La  Noue  bietet  dazu  selbst  die  Hand.  Indem  er 
in  seinen  politischen  und  militärischen  Abhandlungen  (Dis- 


Erinnerungen  an  Franko**  de  in  Neue.  463 

cours  politiques  et  mtlitaires)  den  traurigen  politischen  und 
moralischen  Zustand  seiner  Landstalte  überhaupt  und  insbe- 
sondere des  Adels  mit  Wahrtieit  schildert,  unterlässt  er  nicht 
hier  und  da  zugleich  auf  die  Art  und  Weise,  wie  dieser 
Stand  bei  der  Erziehung  der  jungem  Generation  männlichen 
Geschlechts  zu  verfahren  pflegte,  und  auf  die  Grundsätze, 
welche  ihn  dabei  leiteten;  aufmerksam  zu  machen,  da,  wie 
er  ausdrücklich  bemerkt,  in  beidein  eine  Hauptursache  jenes 
Zustandes  liege.  Freilich  sind  seine  Andeutungen  zu  man* 
gelbaft,  als  dass  nach  ihnen  ein  vollkommenes  Bild  dieser 
Erziehungsweise  entworfen  werden  könnte;  jedoch  werden 
sie  hinreichen,  dasselbe  wenigstens  in  den  allgemeinsten 
Umrissen  darzustellen. 

Unter  den  mancherlei  Vorurtheilen  und  falschen  Ansich- 
ten, welche  La  Noue  an  dem  Adel  seiner  Zeit  rügt,  war  un- 
streitig keine  von  verderblicherem  Einfluss  auf  die  Erziehung 
und  Bildung  der  Jugend,  als  die  bei  Vielen  herrschende,  dass 
Tapferkeit  das  Hauptziel  sei,  wonach  dieselbe  zu  streben  habe. 
Er  bemerkt  selbst  (p.  280  sq.),  dass  die  Quelle  dieser  An- 
sicht keineswegs  tadelnswerth  sei,  und  in  der  allgemeinen 
Stellung  des  Adels  liege,  der  durch  alle  Jahrhunderte  hin- 
durch den  Waffen  seinen  Glanz  verdankt,  oder  vielmehr 
(möchte  man  hinzusetzen)  die  Führung  derselben  als  ein 
Privilegium  in  Anspruch  genommen  hatte.  Ihn  insbesondere 
begleitete  ja  die  Hoffnung  ins  Feld,  entweder  mit  Ruhm  und 
Ehre  zu  sterben,  oder  besondere  Beweise  seiner  Tapferkeit 
durch  Belobnungen  und  Auszeichnungen  vergolten  zu  sehen. 
Indem  man  aber  in  späterer  Zeit  dieser  Maxime  eine  fast 
unbegrenzte  Ausdehnung  gab,  suchten  Viele  dieses  Standes 
allein  auf  diesem  Wege,  mit  Hintansetzung  aller  andern,  ihr 
Ziel  zu  erreichen.  Daher  wurde  der  bei  weitem  grössere 
Theil  des  Jüngern  Adejs  zum  Kriegsdienste  bestimmt,  einer 
Laufbahn,-  zu  welcher,  nach  dem  damaligen  Standpunkte  der 
Kriegswissenschaften,  weit  weniger  wissenschaftliche  Kennt- 
nisse, die  Frucht  mehrjähriger  geistiger  Anstrengungen,  als 
vielmehr  Eigenschaften  erforderlich  waren,  welche  die  Natur 
selbst  in  den  Menschen  legt,  und  Uebung  und  Erfahrung 

31* 


464  Erinnerungen  an  Francis  de  la  Noue. 

Ausbilden ,  abgesehen  davon,  dass  auch  ein  pecuniärer  Vor- 
theil  hinzutrat,  indem  die  Ordonnanzcompagnien,  deren  Stärke 
seit  dem  Jahre  ihrer  Errichtung  1444  immer  mehr  gesteigert, 
und  deren  Mannschaft  ausschliesslich  aus  dem  Adelstande  ge- 
nommen wurde,  so  wie  die  übrigen  Truppen  besoldet  waren. 
Jener  verderbliche  Einfluss  zeigte  sich  schon  in  den 
früheren  Jugendjahren,  welche  der  Knabe  entweder  im  vä- 
terlichen Hause,  oder,  wiewohl  seltener,  in  Privatpensionen 
zubrachte.  Am  ersteren  Orte  pflegte  der  Unterricht  äusserst 
mangelhaft  zu  sein,  indem  er  sich  auf  Lesen  und  Schreiben, 
abwechselnd  mit  körperlichen  (Jebungen  und  der  Anweisung 
im  Gebrauch  der  Waffen  und  Behandlung  der  Pferde,  be- 
schränkte. War  der  Zeitpunkt  gekommen,  wo  der  Jüngling 
das  väterliche  Haus  verlassen  sollte,  um  sich  zu  seinem 
künftigen  Berufe  weiter  vorzubereiten,  so  standen  ihm  haupt- 
sächlich drei  Wege  dazu  offen.  Entweder  begab  er  sich  als 
Page  an  diesen  oder  jenen  Hof  irgend  eines  Grossen  des 
Reichs,  um  diesem  zu  dienen,  oder  er  trat  sogleich  in  Mi- 
litärdienste, oder  er  begab  sich  auf  eine  Universität,  um  zu 
studiren.  Die  erstehe  Laufbahn  bot  neben  vielen  Annehm- 
lichkeiten und  Vortheilen  mannigfaltige  Gefahren  dar.  La  Noue 
bemerkt  (p.  167),  dass  der  junge  Mann  auf  ihr  zwar  Ge- 
legenheit bekam,  Vieles  zu  sehen,  was  seine  Einbildungskraft 
ergötzen  und  seine  Kenntnisse  bereichern  konnte,  und  dass 
er  in  Kleidung,  körperlicher  Haltung,  Gespräch,  kurz  in 
seinem  ganzen  Thun  und  Wesen  Anstand  und  Politur  be- 
kam, welche  ihm  das  Leben  auf  dem  väterlichen  Landgute 
nicht  gewähren  konnte.  Nichtsdestoweniger  aber  umschweb- 
ten tausend  Versuchungen  zum  Bösen  sein  jugendliches  Herz, 
und  je  tiefer  dieselben  unter  dem  Scheine  des  Angenehmen, 
des  Reizenden  verborgen  zu  sein  pflegten,' desto  leichter  gab 
sich  ihnen  der  Unerfahrne  hin.  Die  Höfe  der  Fürsten,  ehe- 
mals Schulen  der  Feinheit  und  der  guten  Sitten,  waren  jetzt 
meistens  Schulen  des  Lasters  geworden ;  Schwelgerei,  Liebes- 
bändel, Spiel  und  andere  Vergnügungen  gaben  täglich  neue 
Gelegenheit  zu  Verleumdungen,  Zänkereien,  Betrügereien,  zu 
Intriguen  und  Kabalen,  ja  selbst  zu  Gewalttätigkeiten  und 


Erinnerungen  an  Francis  de  la  Neue.  405 

Excessen.  Heimtücke  und  Hinterlist,  Spottsucht  und  Egois- 
mus, Frivolität  und  leichtsinniges  Herabziehen  alles  Heiligen 
und  Grossen  ins  Gemeine  und  Lächerliche  —  dieses  waren 
die  Folgen  eines  Lebens,  wo  unter  der  Aegide  der  Hoheit 
und  Macht  alle  Leidenschaften  ihr  völlig  freies  Spiel  trieben, 
und  die  schlechtesten  Triebfedern  menschlicher  Handlungen, 
wenigstens  stillschweigend,  als  zulässig  anerkannt  wurden. 
Zwar  wurde  der  junge  Mann  der  Aufsicht  eines  Stallmeisters 
oder  eines  andern  Höhergestellten  übergeben,  der  über  sein 
Thun  und  Treiben  wachen  sollte;  allein  abgesehn  davon,  dass 
diese  Aufsicht  selten  mit  Strenge  gehandhabt  werden  mochte, 
pflegte  sie  meistens  die  entgegengesetzte  Wirkung  hervorzu- 
bringen, indem  sie  ihn  veranlasste,  seine  Handlungen  mög- 
lichst zu  verbergen  oder  zu  beschönigen,  durch  Lug  und  Trug 
zu  täuschen  und  in  seinem  engern  Wirkungskreise  nach  eben 
dem  Grade  der  Verstellungskunst  zu  streben,  in  welchem 
seine  Obern  in  einem  weiteren  Kreise  durch  lange  Uebung 
mehr  oder  weniger  die  Meisterschaft  erlangt  hatten.  Rech- 
net man  endlich  hierzu  die  Wirksamkeit  des  Beispiels  und 
die  Verführung  von  Seiten  seiner  Gameraden,  deren  an  jedem 
Hofe,  um  den  Glanz  desselben  zu  vermehren,  eine  nicht  ge- 
ringe Anzahl  sich  zu  befinden  pflegte,  so  wird  man  leicht 
ermessen  können,  wie  wenige  unter  ihnen  mit  geradem 
Sinne  und  unbescholtenem  Lebenswandel  den  Hof  verlassen 
mochten. 

Ein  zweiter  Weg  war,  wie  oben  bemerkt  wurde,  der 
unmittelbare  Eintritt  in  den  Militärdienst.  Schon  in  einem 
Alter  von  15  — 17  Jahren  pflegte  ein  grosser  Theil  der  jungen 
Leute  zu  den  Regimentern  der  Infanterie  zu  treten,  worauf 
sie  nach  Verlauf  einiger  Zeit  zu  den  Ordonnanzcompagnien 
versetzt  werden  konnten.  Hiermit  traten  sie  aber  zugleich 
in  eine  Corporation,  welcher  dasjenige  am  meisten  fehlte, 
was  als  die  Seele  des  Ganzen  ihr  am  meisten  Noth  that  — 
Disciplin.  Schon  die  Standeversammlung  zu  Tours  im  Jahre 
1482  führte  die  bittersten  Beschwerden  über  die  Bedrückun- 
gen und  Gewaltthätigkeiten ,  welche  der  Soldat  an  seinen 
eigenen  Landsleuteö,  im  Frieden  wie  im  Kriege,  verübte, 


466  Erinnerungen  m  Frm&i*  de  fe  Nouc. 

und  entwarf  ein  Abscheu  erregendes  BiW  von  seiner  Barbarei 
Ebenso  bezeugen  die  verschiedenen,  grosstentbeils  im  Laufe 
der  zweiten  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  von  den  Königen 
gegebenen  Reglements  für  die  einsehen  Waffengattungen 
diesen  fortdauernden  Mangel  an  DisctpUn,  und  die  kiufige 
Wiederholung  derselben,  trotz  der  Strenge  der  darin  he* 
stimmten  Strafen,  beurkundet  die  überaus  lässige  Befolgung 
derselben.  Nor  einige  wenige  Regimenter  und  Garnisonen 
hatten,  wie  La  Noue  berichtet,  einen  höheren  Grad  von 
Diseiplin  unter  sieh  erhalten,  und  den  hugenottischen  Trap- 
pen ,  unter  der  Anführung  des  Prinzen  Conde ,  giebt  er  das 
Zeugniss,  sich  wenigstens  bis  zur  Einnahme  von  Boisgency 
(1562)  von  den  herrschenden  Lastern  und  Unordnungen  frei 
erhalten  zu  haben.  Das  Hauptübel  war  unstreitig  das  Rauben 
und  Plündern  auf  dem  Lande,  welches  besonders  bei  der 
Infanterie  so  überhand  genommen  hatte,  dass  La  Noue  an 
einer  Stelle  (p.  822)  äussert,  seit  der  Einnahme  jener  Stadt 
sei  die  Demoiselle  Picoräe  geboren  worden,  jetzt  (gegen 
20  Jahre  später)  nenne  man  sie  Madame,  und  ohne  Zweifel 
werde  sie,  wenn  die  Bürgerkriege  fortdauern  sollten,  Prio- 
eessin  werden.  Nicht  genug,  dass  Einzelne  dieses  Gewerbe 
trieben,  oft  durchzogen  sogar  angebliche  Haoptleate  an  der 
Spitze  ganzer  Compagnien  plündernd  und  verheerend  die 
Provinzen,  so  dass,  wenn  die  Behörden  sich  ihrer  nicht  he-* 
mächtigen  konnten,  die  Gemeinden  der  ganzen  Umgegend 
durch  die  Sturmglocke  aufgeboten  werden  mussten,  diese 
Yertheidiger  des  Vaterlandes  zu  verfolgen  und  zu  zerstreuen. 
Hierzu  kam  ein  hoher  Grad  von  Insubordination  der  Unter- 
gebenen gegen  ihre  Vorgesetzten,  hervorgegangen  aus  einer 
falschen  Ansicht  von  Ehre,  oder  aus  andern  Motiven;  dem 
leisen  Tadel  eines  Fehlers  stellte  man  Widersetzlichkeit  ent- 
gegen, gleich  als  könne  man  sich  nicht  mehr  irren,  und  die 
Spötterelen  der  Gameraden  reizten  selbst  den  noch  weniger 
Böswilligen  zu  laufen  Aeusserungen  seines  Unwillens.  Eine 
unausbleibliche  Folge  hiervon  waren  die  häufigen  Duelle, 
deren  eines  gewöhnlich  mehre  andere  nach  sieh  zog,  so 
dass  bisweilen  wegen  der  Beleidigung  eines  Einzigen  gegen 


J 


Erinnerungen  an  Francis  de  la  Neue.  467 

zwanzig  Gameraden  Leben  oder  Gesundheit  einbüssten.  Ja, 
auch  hiermit  begnügte  man  sich  nicht,  sondern  tödtete  nicht 
selten  seinen  Gegner  meuchelmörderisch  durch  Pistolenschuss. 
Uebrigcns  war  ein  wüstes,  ausschweifendes  Leben  auch  hier 
fast  allgemein  herrschend,  und  zeigte  sich  in  mannigfacher 
Gestalt  eben  so  auf  Märschen,  wie  im  Lager  und  in  Garni- 
sonen. Irreligiosität  und  Gotteslästerung  riefen  im  Laufe  der 
Zeit  mehre  Verordnungen  hervor,  konnten  aber  selbst  durch 
Anstellung  eines  Feldgeistlichen  und  Einführung  des  täglichen 
Gottesdienstes  bei  den  Ordonnanzcompagnien  zufolge  eines 
Gesetzes  vom  Jahre  1584  keineswegs  verbannt  werden;  Spiel- 
und  Vergnügungssucht  brachten  es  dahin,  dass  der  Soldat 
oft  Pferd  und  Waffen  verkaufte,  verspielte  oder  verpfändete; 
und  kein  Bedenken  trug,  in  erborgter  Armatur  bei  der  Mu- 
sterung zu  erscheinen,  oder  sich  derselben  ganz  zu  entziehen; 
und  eine  Schaar  feiler  Dirnen,  welche  fortwährend  ihn  um- 
schwärmten, trug  getreulich  das  Ihrige  dazu  bei,  sein  körper- 
liches und  geistiges  Heil  zu  untergraben.  So  war  also  auch 
diese  Laufbahn  für  den  jungen  Mann  vom  Tage  des  Eintritts 
an  mit  einer  Menge  Gefahren  verbunden.  *) 

Der  dritte  Weg  endlich,  weichen  der  Jüngling  einschla- 
gen konnte,  war  die  wissenschaftliche  Laufbahn.  Unleugbar 
gab  es  einen  Theil  des  Adels,  welcher  in  der  Lieberzeugung» 
dass  eine  wissenschaftliche  Bildung  seinem  Stande  nur  zuf 
Ehre  gereichen  könne,  bei  der  Erziehung  der  Söhne  dahin 
strebte,  ihnen  schon  frühzeitig  Geschmack  an  den  Wissen- 
schaften beibringen  zu  lassen,  um  sie  einst  als  würdigö 
Staatsmänner  dem  Vaterlande  dienen  zu  sehen.  Auch  fehlte 
es  nicht  an  Gelegenheit  hierzu.  Zahlreiche  Colleges  und 
Universitäten,  in  allen  Theilen  des  Landes  gestiftet,,  und  zum 
Theil  von  Mitgliedern  des  königlichen  Hauses  und  Privat- 


*)  Man  glaube  nicht,  das  die  in  diesem  Abschnitte  entworfene 
Schilderung  einer  gehörigen  Begründung  entbehre.  Ausser  den 
obeu  erwähnten  Abhandlungen  La  Noue's  ist  sie  hauptsächlich  dem 
Code  d'Heury  III.  entnommen,  einer  Gesetzsammlung,  welche  hes- 
ser als  alle  Geschichtschreiber  dieser  Zeit  den  damaligen  socialen 
Zustand  Frankreichs  erkennen  lässt. 


468  Erinnerungen  an  Fran$oi$  de  la  Noue. 

personen  reich  dotirt,  hatten  die  Bestimmung,  zur  Erlernung 
der  Facultätswissenschaften  theils  vorzubereiten,  theils  selbst 
zu  dienen,  und  mehre  darunter  behaupteten  noch  damals 
einen  Ruf,  welchen  selbst  das  Ausland  anerkannte.  Auch 
unterliessen  die  Reichsstände  nicht,  bei  ihren  Versammlungen 
diese  Anstalten  jedesmal  zu  einem  Gegenstand  ihrer  Ver- 
handlungen zu  machen,  und  die  königlichen  Edicte  von  Or- 
leans 1666  und  von  Blois  1579,  welche  als  Früchte  zweier 
solcher;  Versammlungen  zu  betrachten  sind,  enthalten  über 
Verbesserungen  dieser  Anstalten  mehre  besondere  Titel. 
Nichtsdestoweniger  aber  bewirkten  doch  ungünstige,  in 
den  Zeitverhältnissen  liegende  Umstände,  dass  die  Zahl  sol- 
cher adligen  Familienväter,  welche  ihre  Söhne  zu  einer  sol- 
chen Laufbahn  bestimmten,  ziemlich  gering  blieb.  Eines 
Iheils  nämlich  belehrte  sie  die  Erfahrung  nur  zu  häuGg, 
dass,  wie  auch  La  Noue  versichert  (p.  173),  nicht  diejenigen, 
welche  nach  wohlerworbener  academischer  Bildung  gerechte 
Ansprüche  hätten  machen  können,  sondern  Günstlinge  vom 
König  und  dessen  nächster  Umgebung,  oder  von  Cardinälen 
und  Bischöfen  geistliche  Stellen  und  Würden  bekamen,  und 
dass  bei  der  trotz  aller  Verbote  fortdauernden  Verkäuflich- 
keit  der  Gericbtsämter  nur  derjenige,  welcher  das  meiste 
Geld  besass,  gegründete  Hoffnung  zu  einer  soJchen  Stelle 
haben  konnte.  Anderen  Theils  nahmen  sie  an  der  sittlichen 
Haltung  der  studirenden  Jugend,  ihrem  pedantischen,  un- 
geschliffenen Wesen  nicht  ohne  Grund  Anstoss,  und  der 
Contrast,  welchen  ihnen  die  Vergleichung  desselben  mit  der 
Politur  des  Hoflebens  zeigte,  war  oft  hinreichend  bei  der 
Wahl  eines  Berufs  für  ihre  Söhne  dem  letzteren  den  Vorzug 
zu  geben. 

So  war  also  die  Heranbildung  des  Jüngern  französischen 
Adels  zu  La  Noue's  Zeit  von  einer  Menge  Hindernissen  und 
Gefahren  umstrickt,  welche  theils  in  der  Lauheit  und  Igno- 
ranz oder  dem  Vorurtheil  der  Väter,  theils  aber  auch  in  den 
überaus  ungünstigen  Zeitverbältnissen ,  und  dem  zerrütteten 
politischen  Zustande  Frankreichs  lagen. 


Erinnerungen  an  Fran$ois  de  la  Noue.  469 

3.  La  Hone's  Vorschläge  zu  einer  bessern  Erziehungsweise  des 

jftngern  französischen  Adels. 

Mit  Recht  geht  La  Noue  davon  aus,  dass  der  Fürst, 
welcher  gemeinschaftlicher  Vater  seiner  Unterthanen  ist,  die 
Bildung  der  Jugend  nicht  allein  der  Einsicht  und  Sorgfalt 
der  Eltern  überlassen,  sondern  durch  öffentliche  Anstalten 
unterstützen  müsse,  damit  durch  das  vereinte  Zusammen- 
wirken  beider  Theile  ein  glücklicher  Erfolg  erstrebt  werden 
könne.  Deshalb  solle  er  in  jeder  Hauptstadt  der  einzelnen 
Provinzen  (vor  der  Hand  schlägt  La  Noue  blos  vier  vor, 
Paris,  Lyon,  Bordeaux  und  Angers)  und  zwar  in  den  könig- 
lichen unbewohnt  stehenden  Schlössern  Fontainebleau,  Cha- 
teau  de  Moulins,  Plessis  de  Tours  und  Ghateau  de  Gognac 
Academien  errichten,  welche  die  körperliche  und  geistige 
Bildung  des  jungen  Adels  zur  ausschliesslichen  Tendenz  ha- 
ben. Die  grössere  Zahl  solcher  Etablissements,  sagt  er,  ge- 
währe den  Yortheil,  dass  die  Väter  nicht  nothig  haben 
würden,  ihre  Söhne  mit  grossen  Kosten  und  ungewissem 
Erfolge  in  entfernte  Länder  zu  schicken,  wodurch  dem  Va- 
terlande noch  überdiess  bedeutende  Summen  Geldes  entzo- 
gen würden,  abgesehn  davon,  dass  ein  grosser  Theil  entwe- 
der an  Krankheiten  oder  auf  andere  Weise  sein  Leben  dort 
einbüsste.  Das  Alter  der  Aufzunehmenden  setzt  er  auf  das 
fünfzehnte  Lebensjahr,  lieber  die  Gegenstände  des  Unter- 
richts macht  er  folgende  Bestimmungen.  In  körperlicher 
Hinsicht  möge  man  ihnen  im  Ringelrennen,  Voltigiren,  Sprin- 
gen, im  Gebrauch  der  Waffen  und  der  Behandlung  der 
Pferde  Anweisung  geben.  Für  einige  dieser  Uebungen  werde, 
man  freilich  anfangs  Lehrer  aus  Italien  verschreiben  müssen; 
doch  fänden  sich  vielleicht  auch  in  den  einzelnen  Provinzen 
Frankreichs  Männer  aus  dem  Adelstande,  welche  sich  hierzu 
eigneten.  Wenigstens  wäre  bei  der  Leichtigkeit  mit  welcher 
der  Franzose  sich  Künste  und  Wissenschaften  anzueignen 
pflege,  wenn  er  sie  geehrt,  und  ihre  Lehrer  gut  bezahlt  sieht, 
mit  Gewissheit  zu  erwarten,  dass  binnen  drei  Jahren  sich 
mehr  Lehrer  gebildet  haben  würden,  als  man  nöthig  habe. 
Zu   den    genannten   Lehrgegenständen     könne     man  auch 


470  Erinnerungen  an  Fran^oi*  die  la  Noue. 

das  Schwimmen  uod  Ringen  hinzufügen ,  weil  beides 
dem  Körper  Stärke  und  Gewandtheit  gebe.  Das  Tanzen 
scheint  er  an  und  für  sich  als  Act  der  Eitelkeit  auszuschlies- 
sen;  doch  pflichtet  er  der  Ansicht  Einiger  bei,  welche  we- 
nigstens die  Gaillarde,  unter  den  jungen  Leuten  selbst  auf- 
geführt, lehren  lassen  wollten,  indem  sie  geeignet  sei,  dem 
Körper  Haltung  und  Grazie  zu  verleihen.  Gleiche  Wichtig«* 
keit  als  die  bisher  genannten  Gegenstände  haben  ferner  die 
rein  geistigen  Lehrgegenstände.  Hier  empfiehlt  er  vor  Allem 
die  Leetüre  solcher  Schriftsteller  des  Alterthums,  welche 
Gegenstände  aus  der  Moral,  Staatswissenschaft  und  Kriegs- 
kunst bebandeln,  so  wie  der  Geschichtschreiber  aller  Zei- 
ten, jedoch  die  ersteren  nur  in  französischer  Sprache;  ferner 
Geographie,  Befestigungskunst  und  einige  neuere  Sprachen, 
so  weit  sie  für  das  praktische  Leben  nothwendig  seien. 
Da  aber  das  Leben  des  Menschen  sich  in  Bube  und  An- 
strengung tbeile,  so  hält  er  für  nothwendig,  dass  zur  Zeit 
geistiger  Abspannung  einige  anständige  Beschäftigungen  ein- 
träten, welche  den  Geist  von  bösen  Gedanken  abzögen. 
Sehon  Aristoteles  habe  in  dieser  Absicht  jungen  Leuten  em- 
pfohlen Musik  zu  treiben;  daher  sollen  auch  in  diesen  An- 
stalten Lehrer  der  Musik  und  Malerei  angestellt  und  gut 
besoldet  werden.  Die  Zahl  der  Lehrer  bestimmt  er  auf  acht 
bis  zehn;  diesen  aber  will  er,« um  die  Aufsicht  zu  fuhren 
und  die  äussere  Ordnung  zu  erhalten,  noch  vier  Männer 
gleichen  Standes  vorgesetzt  wissen,  welche  durch  unbeschol» 
tenen  Lebenswandel  und  äussere  Würde  die  Achtung  der 
Lehrer  und  Schüler  sich  zu  erwerben  verständen,  und  deren 
jedem  er  einen  Jahrgehalt  von  2000  Livres  bestimmt.  Den 
Aufwand  zur  Unterhaltung  eines  solchen  Instituts  beredinet 
er  auf  jährlich  drei  tausend  Ecus,  und  also  für  alle  vier 
zwölftausend.  Freilich,  sagt  er,  werde  ein  guter  Finanzmann 
hier  einwenden,  dass  man  eher  darauf  denken  müsse,  die 
Schuldenlast  des  Königs  zu  bezahlen,  als  zu  vermehren. 
Aber  gerade  auf  diese  Weise,  lasse  sich  hierauf  erwiedern, 
befreie  man  ihn  von  einer  der  stärksten  St&huld,  zu  deren 
Bezahlung  er  verbunden  ist  —  von  der  Schuld  seinen  Adel 


Erinnerungen  an  Francis  de  la  Noue.  471 

V 

auf  eine  höhere  Stufe  zu  erheben.  Und  wolle  sich  jemand 
die  Mühe  nehmen,  seine  Augen  zu  öffnen,  so  werde  er  die 
Unzahl  jährlicher  Ausgaben  sehen,  die  noch  weit  schlechter 
angewendet  würden.  Um  aber  das  Land  wirklich  nicht  zu 
belasten,  brauche  man  ja  nur  die  ersten  besten  der  erledig- 
ten Pfründen,  deren  Gollatur  dem  Könige  gehöre,  zur  Be- 
streitung der  Kosten  zu  verwenden,  statt  dass  sie  oft;  Leu- 
ten zufallen,  welche  die  Revenuen  zu  ganz  gemeinen  und 
schmutzigen  Zwecken  missbrauchten.  Uebrigens  solle  es  den 
Lehrern  gestattet  sein,  von  den  Schülern  Geschenke  anzu- 
nehmen, welche  sie  zu  eifriger  Erfüllung  ihres  Amts  nur 
noch  mehr  anspornen  könnten,  so  wie  den  Vorstehern,  um 
ihre  Einnahmen  noch  zu  verbessern. 

So  vorbereitet  würden  die  jungen  Leute  nach  Vollen- 
dung eines  vier-  bis  fünfjährigen  Gursus  in  den  Stand  ge- 
setzt werden,  in  ihren  künftigen  Beruf  zu  treten,  und  ent- 
weder mit  Ehren  an  dem  Hofe  irgend  eines  Grössen  zu  die- 
nen, oder  als  künftige  Militärs  die  Waffen  zu  rühren,  und, 
was  noch  wichtiger  sei,  man  würde  der  allgemeinen  Sitten-* 
verderhniss,  welche  wie  ein  Strom  das  Land  überflutbe, 
und  auch  den  Adelstand  ergriffen  habe,  einen  Damm  entge- 
gensetzen. Ja  man  könne  sogar  hoffen,  dass  im  Laufe  der 
Zeit  durch  solche  Maassregeln  ein  höherer  Grad  von  Sitt- 
lichkeit auch  bei  der  älteren  Generation  könne  hergestellt 
werden,  indem  diese  sieh  schämen  würde,  an  Intelligenz  und 
sittlicher  Haltung  der  Jüngern  nachzustehen. 

Dieses  also  sind  im  Allgemeinen  die  Wünsche  und  Vor- 
schläge, wozu  La  Noue  aus  reiner  Liebe  zum  Vaterlande 
und  zu  dem  Stande,  welchem  erangehörte,  sich  gedrungen  fühlte. 
Leider  verhallten  seine  Worte  damals  wie  eine  Stimme  in 
der  Wüste;  auch  er  stand,  wie  jeder  Mann  höheren  Geistes, 
unter  dem  Einflüsse  der  Bedingungen,  welche  die  Zeit,  in 
der  er  lebte,  gebieterisch  ihm  auflegte.  Erst  einer  der  spä- 
teren Generationen  des  französischen  Volks  blieb  die  Aus-» 
führung  der  Ideen,  die  er  gefasst  hatte,  aufbehalten,  und  so- 
mit der  Ruhm,  den  übrigen  Staaten  Europas  ein  Muster  zuf 
Nachahmung  aufzustellen. 

Dresden.  /  ,,  E.  G.  Vogel. 


Allgemeine  Literatnrberichte« 


Deutschland  und  die  Schweiz. 

Geographie  und  Geschichte  der  Herzogtümer  Schleswig  und  Holstein 
von  J.  Greve.  Mit  einem  Vorwort  von  Dr.  N.  Falck,  fitatsrath,  ordentlichem 
Professor  der  Rechte  an  der  Universität  zu  Kiel,  Ordinarius  im  SpruchcoU 
legium,  Commandeur  des  Danebrogordens  und  Danebrogsmann,  der  köuigl. 
Gesellschaft  der  Wissenschaften  zu  Kopenhagen  und  anderer  gelehrten 
Gesellschaften  Mitglied«.     Kiel.     Scbwers'sche  Buchhandlung  4844. 

In  dem  Vorworte  giebl  Falck  eine  kurze  Geschichte  der  Ent- 
stehung dieser  Schrift.  Es  halte  eine  in  Schleswig  zusammenge- 
tretene Gesellschaft  vor  einigen  Jahren  eine  Preisaufgabe  gestellt 
für  die  Abfassung  einer  Beschreibung  und  Geschichte  der  Her- 
zogthümer  für  den  Bürger  und  Landmann  und  zum  Gebrauche 
in  Schulen.  Den  Preis  trug  eine  Schrift  davon,  die,  wie  nachher 
bekannt  wurde,  den  Herrn  Ober-  und  Landgerichtsadvocaten  Bre- 
mer in  Flensburg  zum  Verfasser  hatte.  Man  halte  bei  der  Bear- 
theilung  gefunden,  dass  unter  den  eingereichten  Schriften  diese 
der  gestellten  Aufgabe  für  den  Schulgebrauch  durch  ihre  Kurze 
am  meisten  entspreche»  Herr  Etatsrath  Falck  fand  indess,  dass  die 
Arbeit  des  Herrn  Greve  sehr  wohl  neben  der  des  Herrn  Bremer 
geben  und  gebraucht  werden  könne,  indem  beide  ganz  verschie- 
denen Bedürfnissen  entsprechen  würden.  Denn  das  Buch  des 
Herrn  Bremer  wäre  mehr  zum  Gebrauch  der  Schüler  und  zum 
Lehrbuche  für  den  Schulunterricht  geeignet.  Das  Buch  des  Herrn 
Greve  soll  aber  in  Beziehung  auf  die  Landeskunde  und  Geschichte 
der  Herzogtbümer,  zunächst  den  Bedürfnissen  der  Lehrer,  und 
dann  auch  den  Wünschen  aller  derer  entsprechen,  welche  von 
beiden  mehr  wissen  wollen  als  ein  Lehrbuch  für  Schulen  füglich 
enthalten  darf. 

Mit  voller  Ueberzeugung  darf  man  nun  in  dieser  «letzteren  Be- 
ziehung das  Buch  des  Herrn  Greve  empfehlen.  Bei  der  erhöhten 
Aufmerksamkeit,  die  von  Seiten  der  übrigen  Deutschen  ihren  hol- 
steinischen und  schleswigschen  Landsleuten  seit  den  neuesten  Zei- 
ten zugewandt  wird  und  sich  noch  steigern  muss,  kann  es  nicht 
fehlen,  dass  in  ganz  Deutschland  ein  regerer  Trieb  erwacht,  über 
die  Geschichte  beider  Herzogtbümer  und  über  deren  Verhältnisse 
sich  näher  zu  unterrichten.  Zur  Befriedigung  für  die  Bedürfnisse 
eines  solchen  Triebes  genügt  die  vorliegende  Arbeit  vollkommen 


Allgemeine  Literaturberichte.  473 

Zwar  macht  der  Verf.  keinen  Ansprach  darauf,  durch  neue  Er« 
forschungen  die  Literatur  bereichert  zu  haben;  er  hat  nur  das 
Wichtigste  aus  grösseren  Werken  und  Specialgeschichten  zusam- 
mengetragen, um  es  zum  Gemeingut  zu  machen.  Die  Art  der  Zu- 
sammentragung entspricht  jedoch  eben  so  sehr  wie  überhaupt  die 
ganze  Darstellung  dem  Zwecke. 

Furchtbar  tragische  Momente,  bezeichnet  durch  Bruderzwist 
und  Brudermord,  ziehen  sich  durch  die  Geschichte  der  beiden 
Herzogtümer  im  Mittelalter.  Noch  im  vierzehnten  Jahrhundert 
hört  das  Morden  nicht  auf,  und  auf  dem  mit  Blut  gedüngten  Bo- 
den erhebt  sich  die  Macht  des  kriegerischen  Grafen  Gerhard  von 
Holstein  und  Stormarn.  Ihm,  der  sich  zum  Reichsverweser  in 
Dänemark  emporgeschwungen  halte,  ward  am  15.  August  1326 
das  ganze  Herzogthum  Jütland  (Südjütland)  als  erbliches  Fahnen- 
leben  mit  allen  Regalien  nebst  den  dem  Könige  bisher  zustehen* 
den  Rechten  über  alle  Vasallen  im  Stifte  Schleswig,  vom  Könige 
von  Dänemark  übertragen.  Darnach  aber  entstanden  verworrene 
Kämpfe  zwischen  Deutschen  und  Dänen,  in  denen  Gerhard  selbst 
meuchelmörderischen  Dolchen  erlag.  Doch  es  gelang  seinen  Söh- 
nen, sich  später  wieder  in  den  Besitz  von  Schleswig  zu  setzen 
und  sie  betrachteten  sich  als  die  rechtmässigen  Erben.  Ihre  An- 
sprüche wurden  demnächst  däoischerseits  anerkannt  und  im  Au- 
gust 1386  erhielt  Gerhard  IV.  Enkel  des  eben  genannten  von  dem 
dänischen  Könige  Oluf  und  der  Königin  Mutter  Margaretba  die  erb- 
liche Belebnung  mit  dem  Herzogthume  Schleswig.  Allein  es  ent- 
standen schwere  Kämpfe  zwischen  Schleswig -Holstein  und  Dith- 
marschen,  und  auch  dänischerseits  wurden  wieder  feindselige  Pläne* 
entworfen,  die  nicht  blos  auf  Schleswig  sich  erstreckten)  sondern 
auch  auf  Holstein  und  auf  die  Hansestädte  Lübeck  und  Hamburg  ge- 
richtet waren.  Es  entbrannte  ein  26jähriger  Krieg  Cl 409  —  1435) 
zwischen  Schleswig -Holstein  und  Dänemark,  in  welchen  auch  die 
Hansestädte  mit  hineingezogen  wurden,  das  Herzogthum  Schleswig 
aber  ganz  besonders  viel  leiden  musste.  Das  Verhällniss  von 
Schleswig  zu  Holstein  blieb  indess,  auch  noch  nachdem  ein  Friede 
abgeschlossen  war,  in  Frage  gestellt,  bis  erst  König  Christoph  von 
Dänemark  im  Jahre  1440  dem  Herzoge  Adolf  die  ßelehnung  mit 
dem  Herzogthum  zu  Schleswig  als  einem  rechten  Erblehn  ertheilte. 

Schleswiger  und  Holsteiner  hatten  sich  aneinander  gewöhnt, 
ungeachtet  des  Gegensalzes,  der  in  früheren  Zeiten  zwischen  ih- 
nen gewaltet  hatte.  Schleswig  war  ein  dänisches  Lehn,  Holstein 
dagegen  ein  deutsches.  Die  Idee  aber,  dass  sie  zu  einem  in  sich 
abgeschlossenen  Kreise  eines  untrennbaren  Ganzen  gehörten,  er- 
füllte  den  Geist   der  Bewohner   beider  Länder.    Diese  Idee  hatte 

« 

sich  noch  mehr  in  sich  gekräftigt  und  gestärkt  in  Folge  des  lang 


474  Allgemeine  Literaturbenchte* 

andanernden  Krieges,  in  welchem  besonders  über  Schleswig  so 
viel  Leid  gekommen  war.  Sie  war  es  auch,  die  sidh  gellend  machte  bei 
den  bald  eintretenden  verworrenen  Verhältnissen.  Als  Adolf  von  Hol* 
stein  aus  dem  Hause  Schaum  bürg  ohne  Söhne  und  nahe  mann* 
liehe  Verwandte  gestorben  war,  entstand  die  Frage,  ob  sein  Schwe- 
stersohn Christian  aus  dem  Hause  Oldenburg,  durch  Wahl  auf  den 
danischen  Königsthron  gelangt,  oder  ob  Otto  Graf  von  Schaumburg, 
dem  auf  Holstein  allerdings  das  Erbrecht  zustand,  künftiger  Lan- 
desherr von  Schleswig-Holstein  sein  sollte.  Dass  diese  Frage  nach 
strengrechtlichen  Grundsätzen  entschieden  worden  sei,  steht  nicht 
zu  behaupten.  Die  Sache  wurde  im  Jahre  1460  abgemacht  durch  eine 
Erklärung  der  Landräthe  Schleswig -Holsteins,  dass  sie,  um  des 
Besten  ihrer  Lande  willen,  den  König  Christian  zu  einem  Herzoge  von 
Schleswig  und  Grafen  von  Holstein  erwählt  hatten.  Dagegen  be- 
kannte der  König,  dass  Prälaten,  Adel,  Städte  und  Einwohner 
Schleswig -Holsteins  ihn  zu  einem  Herzoge  von  Schleswig  und 
Grafen  von  Holstein  und  Stormarn  erwählt,  und  ihm  gehuldigt  bat* 
ten,  nicht  als  einem  Könige  zu  Dänemark,  sondern  als  einem  Herrn 
der  genannten  Lande.  Die  Lande  Schleswig  und  Hotstein  sollen 
zu  ewigen  Zeiten  ungetheilt  zusammenbleiben;  and  so  oft  die 
Lande  offen  werden,  soll  eins  von  den  Kindern  des  letzten  Regen- 
ten, und  wenn  keine  da  sind,  ein  anderes  Mitglied  des  oldenburgi- 
schen Fürstenhauses,  einer  der  nächsten  Verwandten  des  Stamm* 
vaters  zum  Herrn  gewählt  werden. 

Hiernach  war  allerdings  Schleswig-Holstein  als  ein  eigener,  in 
sich  zusammenhängender  und  untrennbarer  Staatskörper  aner- 
kannt und  als  solcher  gesondert  dem  danischen  Reiche  gegen- 
übergestellt. Allein,  wenn  auch  in  diesem  Verhältnisse  der  Haupt- 
sache nach  nichts  verändert  ward,  so  ward  es  doch  bald  schon 
dadurch  ins  Unklare  gestellt,  dass  die  Königin  dahin  zu  wirken 
trachtete,  ihrem  zweiten  Sohne  Friedrich,  ihrem  Lieblinge,  den 
Besitz  von  Schleswig-Holstein  zu  verschaffen,  der  dänische  Reicbs- 
rath  aber  fürchtete,  es  könne  in  Folge  einer  solchen  Verleihung 
dieser  Staatskörper  gänzlich  von  Dänemark  sich  trennen.  Es 
ward  nach  dem  Tode  Christian's  I.  eine  Zweifürstenherrschaft  und 
Theilung  der  Herzogthümer  unter  Johann,  König  von  Dänemark,  und 
dessen  jüngeren  Bruder  Friedrich  beliebt.  Man  war  jedoch  da- 
bei bedacht,  Sorge  zu  tragen,  dass  aus  dieser  Theilung  keine  Tren- 
nung entstehe.  Auch  kamen  nach  der  Absetzung  des  Königs 
Christian  IL  die  Herzogthümer  wieder  zusammen  unter  dem  Her- 
zoge Friedrich,  der  zugleich  König  von  Dänemark  ward.  Spater 
aber  nach  dem  Tode  Friedrichs  kam  die  Befestigung  einer  enge- 
ren Verbindung  zwischen  Dänemafk  und  Schleswig -Holstein  zu 


Altgemeine  Literäturberichte.  475 

Stande,   indem    auf  den  Vorschlag   des  Königs  Christian  HI.  auf 
einem  Landlage  zu  Rendsburg  im  December  1533  unter  dem  Na- 
men der  Union  ein  Bündniss  bestätigt  ward,  worüber  der  schles- 
wig-holsteinische Landrath  mit  dem  dänischen  Reichsrath  schon  im 
Jabr  1466  übereingekommen  war  (Vergl.  Dahlmaiins  Geschichte  von 
Dänemark  Bd.  3.  S.  221).    Durch  diesen  Bund  verpflichteten  beide 
Lande    sich ,    ihre   Streitigkeiten    unter   einander   durch   schieds- 
richterliche Entscheidung  abzuthun  und  in  ihren  Kriegen  einander 
wechselseilig  Hülfe  zu  leisten.    Untrennbar  wurden  dadurch  zwar 
die  beiden  Staatskörper  nicht  vereinigt;  aber  es  folgte  bald  darauf 
eine  für  das  staatsrechtliche  Verhältniss  Schleswig  «Holsteins  und 
dessen  Stellung  zum  dänischen  Reich  nicht  vorteilhafte  Theilung 
der  schleswig-holsteinischen  Länder.    Nach   den   mit  Christian  I. 
abgeschlossenen  Verträgen  hatte  eigentlich  einer  der  Söhne  Fried- 
richs  L,  der  Bruder  Christians  III.,  die  Herrschaft  über  die  Herzog- 
tümer erhalten  müssen.    Statt  dessen  wurde  aber  eine  Dreifür- 
stenschaft beliebt.    Die  Länder  wurden   im    Jahre   1544   in   drei 
Tbeile  getheill,   von  denen  der  König  von  Dänemark  einen  und 
somit  auch  die  Mitregentschaft  über  Schleswig-Holstein  als  Herzog 
erhielt.  Den  Uebelstanden  fernerer  Theilung  jedoch  abzuhelfen,  errich- 
tete im  Jahre  1608,  nachdem  unter  der  vormundschafllichen  Regie- 
rung Königs  Christian  IV.  von  Dänemark  mancherlei  Streitigkeiten  dar- 
über, ob  Wahl-  oder  Erbrecht  in  Rücksicht  auf  die  Nachfolge  in 
der  Regierung  der  Herzogtümer  gelte,  obgewaltet  hatten,  der  Her- 
zog Johann  Adolf  aus  dem  Gottorfischen  Hause  für  sein  Haus  ein 
Erbgesetz,  in  welchem  er  für  dasselbe  das  Recht  der  Erstgeburt 
festsetzte.    In  Folge   dessen   bildete  sich   denn   im   Herzogthume 
Schleswig  eine  Macht,   die  später  dem  dänischen  Reiche  feindlich 
sich  gegenüberstellte.    Als  der  kühne  Schwedenkönig  Karl  Gustav 
Dänemark  zum  Frieden  von  Roschild  genöthigt  hatte,  nahm  er  auch 
seines  Schwiegervaters  des  Herzogs  Friedrich  Gottorfiscber  Linie 
sich  an;  er  machte  deti  König  von  Dänemark  verbindlich,   dem 
Herzoge  Friedrich    hinreichenden   Ersatz    für    den   im  Laufe   des 
Krieges  ihm  zugefügten  Schaden  zuzugestehen,  und  zu  dem  Ende 
einen   besonderen  Tractat  mit  demselben  abzuschliessen.    In  Er- 
füllung dieser  Bestimmung  wurden   denn   durch   einen   am  2ten 
Mai  1658  zu  Kopenhagen  abgeschlossenen  Vergleich  dem  Herzoge 
Friedrich  nicht  nur  einige  Landeslheile  in  Schleswig   abgetreten, 
sondern  sogar  auch  demselben  die  Freiheit  von  der  Lehnsempfäng- 
niss  über  seinen  Antheil  von  Schleswig  eingeräumt.    Darnach  tra? 
ten    in    einer  wahrhaft  tragisch  zu  nennenden  Weise   die   Übeln 
Folgen   des   früher   beliebt  gewesenen  Theilungsprincips   hervor. 
Denn  durch  eine  an  demselben  Tage  noch  ausgefertigte  Urkunde 
ward  auch  der  König  für  seinen  Antheil  von  der  Lehnsverbindung 


476 

befreit  So  waren  beide  Fürstenhäuser  fortan  rucJncbÜieh  Schles- 
wigs lehnsfrei  oder  sonverain.  Für  die  Erbrechte  des  herzoglich- 
holsteinisehen  Hauses  konnte  freilich  dadorch  keine  wesentliche 
Veränderung  von  Bedeutung  sich  ergeben.  Aber  Schleswig  war 
doch  non  schon  getrennt  in  sich;  es  zerfiel  in  zwei  Theüe,  von 
denen  der  eine  ein  unabhängiges  Herzogthum  für  sich  bildete,  der 
andere  den  Königen  von  Dänemark  ans  dem  oldenburgischeu 
Hause  anheimgefallen  war.  Die  Verhältnisse  Holsteins  zum  deut- 
schen Reiche  waren  dabei  ungetrübt  geblieben. 

In  Folge  des  Gegensatzes,  der  nun  einmal  in  Schleswig  zwi- 
schen dem  herzoglich  gottorfischen  und  dem  königlich -dänischen 
Hause  bestand,  suchte  sich  das  erstere  an  Schweden  anzuschlies- 
sen.  Doch  konnte  ihm  diese  Macht  weder  helfen,  noch  war  es 
für  sich  selbst  mächtig  genug,  dem  Andränge  der  dänischen  Macht 
Widerstand  zu  leisten.  Ein  schweres  Geschick  brach  über  Schles- 
wig ein.  Jahrelange  Verwirrung  herrschte  in  den  Verhältnissen 
des  Herzogthums.  Der  Herzog  Christian  Albrecht  ward  uicht  nur 
genöthigt,  im  Rendsburger  Recess  vom  lOten  Juli  1675  der  Sou- 
verainität  über  Schleswig  sich  zu  begeben,  sondern  fand  auch 
bald  Veranlassung  dazu  seine  Residenz  nach  Hamburg  zu  verle- 
gen, woselbst  er  von  nun  an  dreizehn  Jahre  verblieb.  Während 
dessen  waltete  der  König  Christian  V.  von  Dänemark  willkürlich  im 
Schleswigschen,  ordnete  sogar  im  Februar  1685  ein  eignes  Ober- 
gericht für  Schleswig  an  und  nöthigte  «die  schleswigsche  Ritter- 
schaft eine  Urkunde  zu  unterschreiben,  worin  sie  sich  als  ein 
Glied  des  dänischen  Reiches  vom  holsteinischen  Adel  trennte  und 
den  König  für  ihren  einzigen  souveraioen  Herrn  anerkannte.  Doch 
mit  dem  Kaiser,  Kursachsen  und  Kur-Brandenburg  vereinigten  sieb 
Holland  und  England  zur  kräftigen  Verwendung  für  den  Herzog, 
und  so  kam  denn  am  20stenJuni  1689  zu  Altona  ein  Vergleich  zu 
Stande,  durch  welchen  der  Herzog  nicht  nur  in  alle  seine  Lande 
und  in  die  Souverainität  wieder  eingesetzt,  sondern  ihm  auch  das 
Recht,  die  Steuern  und  Contributionen  aus  seinem  Antheile  zu  erbe- 
ben, Truppen  zu  unterhalten,  Festungen  zu  bauen  und  Bündnisse 
einzugehen  —  eingeräumt  wurde. 

Waren  auch  für  den  Augenblick  in  Folge  dieses  Vergleichs, 
die  Verhältnisse  geordnet,  so  konnte  doch  die  einmal  aufgeregte 
Spannung  nicht  zugleich  auch  beschwichtigt  werden.  Der  Sobn 
und  Nachfolger  Christian  Albrechts,  Herzog  Friedrich,  scbloss  sich 
enge  an  Karl  XII.  an.  In  Folge  des  Ausbruches  des  nordischen 
Krieges  ward  Schleswig  von  dänischen  Truppen  überschwemmt, 
doch  bald  wiederum  von  dem  schwer  drückenden  Joche  durch 
den  Frieden  von  Traventhal  befreit  Aber  im  ferneren  Verlaufe 
des  Krieges  gerieth  es  ganz  in  die  Gewalt  Dänemarks,  und  da  das 


Allgemeine  Literaturberichte.  477 

herzogliche  Haus  nach  dem  Tode  Karls  XII.  von  den  Schweden 
preis  gegeben  ward,  verblieb  in  Folge  des  am  3«  Juli  1720  zu 
Friedrichsburg  abgeschlossenen  Friedens  auch  das  herzogliche 
Schleswig  in  dem  Besitze  des  Königs  von  Dänemark.  Dieser  ver- 
einigte den  gottorfischen  Antheil  von  Schleswig  mit  dem  seinigen 
und  liess  sich  am  4.  September  1721  von  Prälaten  und  Ritterschaft, 
so  wie  von  den  Einwohnern  in  den  Städten,  Aemtern  und  Land- 
schaften des  Herzogthums  huldigen.  Allein  der  junge  Herzog  Karl 
Friedrich  gab  seine  Ansprüche  auf  Schleswig  nicht  auf.  Er  suohte 
zu  seiner  Unterstützung  Verbindungen  in  Russland  und  es  ward 
ihm  auch  die  Hand  der  Gross  fürst  in  Anna  zu  Tbeil;  weitere  Vor* 
theile  konnte  er  jedoch  aus  dieser  Verbindung  nicht  ziehen,  da 
seit  dem  Tode  Peters  des  Grossen  die  Verhältnisse  am  russischen 
Hofe  sich  immer  mehr  und  mehr  verwirrten.  Die  späteren  Plane 
Peters  III.,  Kaisers  von  Russland,  die  Reohte  seines  Hauses  gegen 
Dänemark  geltend  zu  machen,  sind  eben  so  bekannt,  wie  die  Um« 
stände,  durch  die  deren  Ausführung  gehindert  wurde.  Es  folgte 
darauf  1773  der  Tausch  vertrag  mit  dem  Grossfürsten  Paul,  Herzog 
von  Holstein,  durch  den  die  Kaiserin  Katharina  von  Russland,  als 
Vormünderin  ihres  Sohnes,  des  Grossfürsten  Paul  Petrowitsch, 
allen  Ansprüchen  auf  den  1713  vom  Könige  in  Besitz  genommenen 
herzoglichen  Antheil  an  Schleswig  entsagte  und  den  grossfürst- 
liehen  Antheil  an  dem  Heriogthum  Holstein  gegen  die  Grafschaften 
Oldenburg  und  Delmenhorst  vertauschte. 

Heutiges  Tages  handelt  es  sich  nun  in  Rücksicht  auf  Schleswig, 
da  in  Rücksicht  auf  Holstein  keine  Frage,  kein  Rechtsstreit  erhoben 
werden  kann,  eigentlich  darum,  ob  alle  jene  lm*Vorhergehenden 
erwähnten  Veränderungen  im  Besitzstande  von  Schleswig  inner- 
halb des  Kreises  der  Erbbereohtigungen  des  Mannsstammes  des 
oldenburgischen  Hauses  geschehen  sind  oder  nicht  Die  Bejahung 
dieser  Frage  scheint  unbedenklich  zu  sein.  Denn  seit  Christians  I. 
Zeiten  .aus  dem  Hause  Oldenburg  war  Schleswig- Holstein  als  ein 
eigener,  in  sich  zusammenhängender  und  untrennbarer  Staats- 
körper anerkannt  und  als  solcher  gesondert  dem  dänischen  Reiche 
gegenübergestellt.'  Die  Frage  über  Wahl-  oder  Erbrecht  war  frei- 
lich noch  nicht  bestimmt  entschieden,  ward  aber  im  Laufe  der 
Zeiten  von  selbst  zur  Seite  geschoben,  während  in  der  bei  vor- 
gekommenen Theilungen  eintretenden  Gesammtherrschaft  der  Für- 
sten die  Idee  der  Untrennbarkeit  Schleswig -Holsteins  festgehalten 
blieb.  Die  hierdurch  erwachsende  Erbberechtigung  für  den  Manns* 
stamm  des  oldenburgischen  Hauses  konnte  durch  den  Vergleich 
vom  2.  Mai  1658  nicht  beeinträchtigt  werden1.  Dass  aber  auch 
Friedrich  IV.  von  Dänemark,  als  er  durch  den  1720  zu  Fried« 
ricbsburg  abgeschlossenen  Frieden   zu   dem  Besitze   des  herzog* 

Zeitschrift  f.  Geschichte*.   IV.  1845.  32 


478  Allgemeine  Literaturberichie. 

liehen  Schleswigs  gelangte,  die  Sache  nicht  so  angesehen  habe,  als 
sei  dies  in  Folge  einer  Eroberung  für  das  dänische  Reich  gesche- 
hen ,  folgt  ganz  klar  daraus ,  dass  er  den  gotlorfischen  Anlheil  mit 
dem  königlichen  vereinigte.  Auf  dem  königlichen  Schleswig  ruhte 
überdies  ganz  unbezwetfelt  die  Erbherechtigung  im  Mannsstamme 
des  oldenburgiseben  Hauses,  da,  seitdem  Schleswig-Holstein  diesem 
Hause  erblich  zugefallen,  eine  einseitige  Aenderung  in  dem  in  die- 
sem Hause  einmal  festgestellten  Erbrechte  nicht  zulässig  war.  In- 
dem nun  Friedrich  IV.  das  herzogliche  mit  dem  königlichen  Schles- 
wig vereinigte,  gestand  er  selbst  zu,  dass  jenes  unter  ein  gleiches 
Erbrecht  mit  diesem  gestellt  wäre.  Durch  den  Tauschvertrag  mit 
Russland  konnte  das  Princip  der  Erbfolge  in  keinem  Falle  berührt 
werden. 

Ein  zweideutiges  Verhältniss  von  Schleswig  zu  Holstein  liegt 
indess  darin,  dass  dieses  ein  deutsches  Reichslehen  war  und  blieb, 
jenes  aber  ausser  Verbindung  mit  dem  deutschen  Reiche  stand« 
Die  Zweideutigkeit  dieses  Verhältnisses  ist  allerdings  in  dem  spate- 
ren Verlaufe  der  geschichtlichen  Verhältnisse  schroffer  hervorge- 
treten. Während  Schleswig  und  Holstein  unter  einer  gemeinsamen 
Verwaltung  standen,  war  der  Beherrscher  dieser  Herzogtümer  nur 
für  das  eine  souverän,  für  das  andere  aber  Vasall  des  deutschen 
Reichs.  Zwar  fühlte  der  königliche  Herzog  nach  der  Auflösung 
dieses  Reichs  sich  bewogen,  am  9.  September  1806  eine  Erklärung 
zu  erlassen,  nach  welcher  das  Herzogthum  Holstein,  die  Herrschaft 
Pinneberg,  Grafschaft  Ranzau  und  Stadt  Allona  fortan  unter  der 
gemeinsamen  Benennung  des  Herzogthums  Holstein  mit  dem  ge- 
sammten  StaatsUjrper  der  dem  königlichen  Scepter  untergebenen 
Monarchie  als  ein  in  jeder  Beziehung  völlig  ungetrennter  Tbeil  der- 
selben  und  der  alleinigen  unumschränkten  Botmässigkeit  des  Königs 
unterworfen  sein  sollte.  Der  Stein  über  dem  Süderthor  der  Alt- 
stadt Rendsburg  mit  der  Inschrift:  Eidora  Romani  lerminus  imperii 
wurde  dort  weggenommen  und  als  Alterthumsstück  aufs  Zeughans 
gebracht. 

Es  hat  sich  jedoch  der  König  von  Danemark  Friedrich  VI  als 
Herzog  von  Holstein  dem  deutschen  Bunde  angeschlossen  und  so 
durch  die  That  erklärt,  dass  er  Holstein  als  ein  deutsches,  von 
Dänemark  geschiedenes  Land  anerkenne.  Für  Schleswig  ist  frei- 
lich ein  Gleiches  nicht  geschehen  und  in  Rücksicht  auf  das  Ver- 
haltniss zu  diesem  Lande  steht  dem  königlichen  Herzoge  ohne 
Zweifel  die  Souveränität  zu.  Daraus  folgt  jedoch  noch  nicht,  dass 
in  dieser  Souveränität  auch  das  Recht  unbeschränkter  Verfügung 
über  die  Verhältnisse  des  Landes  liege.  Näher  betrachtet  stellt  sich 
bei  der  geschehenen  Umwandlung  des  ursprünglichen  Lehnsver- 
hältnisses, in  welchem  Schleswig  früher  zur  dänischen  Krone  stand, 


Allgemeine  Literaturberichte.  479 

in  ein  Souveranitatsverhältniss  die  Frage  so:  ob  in  Folge  von  neue* 
reo  Entwicklungen  in  staatsrechtlichen  Begriffen,  die  auf  Umwand- 
lungen  geschichtlicher  Verhältnisse  eine  bedeutende  Einwirkung 
gehabt  haben,  dritte  Personen  in  ihren  unzweifelhaft  feststehenden 
Rechten  gekränkt  werden  dürfen.  Nach  den  Grundsätzen,  die  in 
den  Bewegungen  der  französichen  Revolution  herrschten,  würde 
diese  Frage  offenbar  zu  bejahen  sein.  Später  jedoch  ist  man  von 
diesen  Grundsätzen  zurückgekommen  und  fühlt  sich  nur  da,  wie 
etwa  in  Rücksicht  auf  die  Juli-Revolution,  geneigt,  solchen  einigen 
Spielraum  zu  gewähreu,  wo  eine  gewjsse  Macht  der  Verhältnisse 
unmittelbar  hervorbricht.  Dass  aber  dies  Letztere  in  Rücksicht  auf 
die  scbleswigsche  Frage  der  Fall  sei,  ist  um  so  weniger  zu  be- 
haupten, um  wie  mehr,  nach  dem  schon  in  dem  Jahre  1689  von 
Seiten  des  Kaisers,  Kursachsens  und  Kurbrandenburgs  gegebenen 
Beispiele  der  Unterstützung  der  holsteinischen  Rechte  auf  Schles- 
wig das  herzogliche  Haus,  als  die  dritte  Person,  auf  die  oben  hin- 
gedeutet ward,  dem  deutschen  Bunde  verwandt,  von  demselben 
vertreten  zu  werden,  hoffen  darf.  P.  F.  Stuhr. 

Die  Schlacht  bei  St.  Jacob  in  den  Berichten  der  Zeitgenossen.  Sa- 
cularschrift  der  historischen  Gesellschaft  zu  Basel.  Basel,  Schweighanser- 
sche  Buchhandlung.  4844.  4.  420  S. 

Das  vierte  Säcularfest  der  Schlacht  bei  St.  Jacob  an  der  Birs.  Im 
Auftrage  des  Comitäs  mit  Beifügung  der  Festreden  und  der  Festgedichte 
beschrieben  von  Wilhelm  Wackernagel.   Basel,  Schweighäuser  4  844.  74  S. 

Glück  und  Unglück  feiern  die  Nationen  durch  Erinnerung. 
Siege  und  Niederlagen  werden  zu  Fest-  und  Trauertagen  für  die 
Völker.  Griechen,  Römer,  vor  allen  die  Juden  übten  das  nationale 
Gedäcbtniss  mit  Eifer.  Letzteren  gab  der  Maccabacrkampf  eine 
Reihe  von  Erinnerungstagen  von  denen  freilich  nur  noch  Einer 
übrig  ist. 

Die  neueste  Zeit  regt  diese  Erinnerungsfeste  stärker  als  je  an. 
Sie  ist  gerechter  als  alle  Zeiten,  gedächtnissreicher,  dankbarer,  sie 
wird  die  Zeit  des  goldenen  Weltalters  herbeiführen,  die  an  allen 
Tagen  Feste  feiert.  Ob  nicht  in  diesen  Tugenden  der  Gerechtig- 
keit etc.  auch  Affeetation,  Lust  an  Festen  und  Festreden,  in  diesem 
Nationaleifer  einige  Freude  an  Ostentation  und  Zweckessen  ver- 
steckt liegen  mag,  wollen  wir  hier  nicht  zu  entscheiden  wagen. 

Die  Schweiz  ist  reich  an  politischer  Erinnerung  aus  den 
Kämpfen,  die  sie  für  ihre  Unabhängigkeit  focht;  sie  feiert  mit  Recht 
die  Tage  von  Morgarten,  Sempach  etc.,  und  auch  die  Stadt  Basel 
suchte  in  ihrer  Geschichte  einen  Festtag  und  hat  ihn  in  der  Schlacht 
bei  St.  Jacob  an  der  Birs  gefunden.  Am  26.,  August  1444  fielen 
in  dem  Bürgerkriege  zwischen  den  Eidgenossen  und  Zürich  im 
Kampfe  gegen  ein  gewaltiges  Armagnakenheer ,  das  der  Dauphin 

32* 


480  Allgemeine  IAUrahtrberickte. 

zur  Hälfe  Zürichs  and  zur  Belagerung  von  Basel  herbeiführte,  an 
1300  Schweizer  nach  einem  beldenmü&bigen  verzweifelten  Kampfe 
and  schreckten  durch  ihren  Tod  den  Daaphia  von  weiteren  Unter- 
nehmungen zurück. 

Es  trägt  dieser  Tag  nicht  jene  naive  Heiligkeit  an  sich,  die  in 
dem  Tage  von  Morgarten  liegt;  erst  die  historische  Reflection  un- 
serer Zeit  bat  aus  seinen  Folgen  seine  höhere  Wichtigkeit  hervor- 
ziehen müssen,  um  ihm  mehr  als  grade  die  Erinnerung  an  den 
Verlust  tapferer  Männer  zu  geben;  er  erinnert  vielmehr  eben  so 
gut  an  den  unseligen  Zwist  der  jSchweizerstädte,  an  die  geringe 
Liebe  zu  nationalen  Interessen,  indem  diese  Franzosen  doch  durch 
verbündete  NichtSchweizer  herbeigerufen  waren,  an  den  Mangel 
von  Ueberiegung  in  dem  Kampfe  selbst,  den  keine  „leonina  fero- 
citasu  wieder  ausgleichen  konnte;  es  möge  die  Schweiz  die  Ge- 
fallenen auf  St.  Jacob  mehr  als  die  Märtyrer  ihrer  damaligen  Zer- 
rissenheit (und  in  Bezug  darauf  verdient  er  heute  eine  besondere 
Erinnerung)  denn  als  siegreiche  Helden  preisen,  und  es  kommt 
mehr  darauf  an,  dass  man  ihn  als  einen  Warnungstag  für  alle 
Tage  feiert,  denn  als  Erinnerungstag  an  tapfere  Männer,  woran  die 
Schweiz  zu  allen  Zeiten  keinen  Mangel  gehabt  hat. 

Im  vergangenen  Jahre  wurde  das  400jährige  Fest  dieser  Schlacht 
gefeiert  Dieses  Fest,  wie  es  entstanden,  angeregt,  gefeiert  durch 
Kanonenschüsse  und  Reden,  beschreibt  die  zweite  obengenannte 
Schrift  ausführlich,  indem  sie  zugleich  die  Reden  und  Predigten 
in  extenso  mittheilt.  Ausser  dieser  Schrift  sind  noch  15  andere 
Schriften  zur  Feier  und  Geschichte  dieses  Tages  erschienen,  von 
denen  Eine  die  erste  obengenannte  ist  Schön,  einfach  und  ge- 
recht ist  die  Inschrift,  die  die  Marmortafel  an  der  Vorderseite  der 
Kanzel  in  der  Kirche  von  St.  Jacob  enthält  (pag.  18.)  und  die  so 
lautet: 

Unsre  Seelen  Gott 
Unsre  Leiber  den  Feinden« 

Hier  starben 

am  26.  August  1444 

gegen  Frankreich  und  Oesterreich 

unbesiegt,  vom  Siegen  ermüdet 

Dreizehnhundert 
Eidgenossen  und  Verbündete. 


fierner 

Luzerner 

Urner 

Schwizer 

UnlerwaWner 


Glaraer 

Zuger 

Sololhumer 

Neuenburger 

Basler 


Das  ganze  Heer. 

Gestiftet  von  den  Bürgern  Basei's 
.     am  30.  Juni  1844. 


Allgemeine  Literaturberichte.  481 

Mit  Recht  hat  man  die  Zahl  der  überwundneii  Feinde  wegge- 
lassen, weil  man  sie  nicht  genau  weiss,  schon  tu  den  damaligen 
Zeilen  nicht  genau  wussle;  Aeneas  SylviUs  bringt  verschiedene 
Angaben,  von  denen  die  grösste  60000;  die  andere  30000.  die  be. 
scbeidenste  20000  zählt.    (Sacularschrift  p.  49.) 

Es  enthält  die  erste  Schrift  Auszüge  aus  schweizerischen,  öster- 
reichischen und  französischen  Schriftstellern  über  diese  Schlacht; 
die  lateinischen  sind  von  der  Uebersetzung  begleitet.  Redigirt  ist 
die  Sammlung  von  Wackernagel,  der  in  der  Einleitung  noch  zwei 
übersehene  Stücke  einstreut,  gesammelt  von  den  Herren  August, 
Eraanuel,  Jacob  Burckhardt  und  Balthasar  Reber.  Auf  die  Veröf- 
fentlichung der  französischen  Berichte,  die  man  für  noch  unbe- 
nutzt hält,  wird  ein  Werth  gelegt;  doch  sind  sie  schon  früher  be- 
nutzt worden,  wie  sogar  in  der  allgemeinen  Geschichte  Deutschlands 
T.  5.  p.  297.  von  Arkstee  und  Merkus,  (Monstrelet  u.  Matthieu  de 
Coucy)  etc.  Was  die  Ausgabe  des  Aeneas  Sylvius  betrifft,  die  benutzt 
worden  und  über  deren  Druckjahr  man  zweifelte,  weil  blos  auf 
dem  Umschlage  1551.  stand,  so  kann  man  sich  aus  Hamberger  (Zu- 
veri.  Nachrichten  4.  774.)  vergewissern,  dass  sie  Basileae  per  Hen- 
ricum  Petri  mense  Augusto«  Anno  1551  gedruckt  worden  ist. 

Kunde  des  Samlandes  oder  Geschichte  und  topographisch  -  statisti- 
sches Bild  der  ostpreussischen  Landschaft  Samland  von  Carl  Emil  Gebauer 
Pfarrer  in  St.  Lorenz.  Königsberg,  im  Verlag  der  Uuiversitätsbuchhandlung. 
4844,  8.  356  Seiten. 

Vqlks-  und  Schulbücher  bedürfen  einer  strengen  Ueberwa- 
chung  durch  Kritik.  Sie  allein  sind  die  Bindemittel  zwischen  der 
Wissenschaft  und  der  allgemeinen  Keontniss,  und  ihren  Mängeln 
hat  man  es  allein  zuzuschreiben,  wenn  veraltetes  Wissen  und  Ober 
flächtichkeft  noch  lange  unter  dem  gewöhnlichen  Publikum  da  exi- 
6tirt,  wo  die  Wissenschaft  schon  langst  Neueres  und  Tieferes  ge- 
geben hat.  Namentlich  in  unserer  Zeit,  wo  das  Volk  so  viel  ler- 
nen soll  und  will,  werfen  sich  eine  Menge  unberufener  unwissen- 
der Leute  zu  seinen  Lehrern  auf,  die  weder  den  Umkreis  der  Wis- 
senschaft mit  ihrem  kurzsichtigen  Auge  zu  messen,  noch  die  Würde 
der  Wissenschaft  zu.  erhalten  verstehen. 

In  der  Geschichtschreibung  ist  dies  ein  altes  Uebel,  das  nur 
heule  grösser  und  schwerer  heilbar  geworden  ist  Es  ist  ja  uichts 
leichter  als  aus  sechs  Lehrbüchern,  von  denen  die  Wenigsten  die 
Quellen  gesehen,  das  siebente  zu  machen  und  so  seine  modernen 
Ansichten  der  Welt  aufzudrängen. 

Auch  der  Ton,  der  in  zu  Belehrung  bestimmten  Büchern  herrscht, 
ist  allzuoft  ein  falscher;  bald  rationalistisch  —  hyperliberal;  bald 
pedantisch  trocken  und  farblos;  bald  aber  allzumonarchisch-servil. 
In  Büchern  für  die  Jugend  und  das  Volk  erzählet  Herodotsmässig 


482  Allgemeine  LUeraturberichU. 

einfach  die  Geschichte!  der  natürliche  Verstand  findet  daraus  bes- 
ser sein  Urtheil  als  aus  Phrasen  entweder  für  oder  wider  Tugend 
und  Recht  der  historischen  Personen. 

Obiges  Buch  könnte  vielleicht  eine  strenge  Receusion  aushal- 
ten, es  giebt  erst  eine  topographische  Beschreibung  des  Samlaodes 
und  dann  seine  Geschichte  nach  den  Arbeiten  von  Voigt,  Schu- 
bert etc.  Der  Styl  ist  leider  zuweilen  zu  poetisch,  und  immer 
zu  pragmatisch  und  psychologisch.  Das  Archiv  zu  Königsberg  ist 
vom  Verf.  benutzt  worden  (cf.  p.  226  not.);  sonst  umgeht  er  die 
Quellenangaben,  denn  wie  er  in  der  Vorrede  p.  IL  sagt  „er  wollte 
den  widerwärtigen  Anblick  überhäufter  Gitate  vermeiden."  (?) 

Ebenso  würden  wir  gern  seinem  Patriotismus  Glauben  schen- 
ken, wenn  auch  nicht  vom  „korsischeu  Gewalthaber"  (p.  333)  etc. 
deklamirt  und  von  dem  Aufenthalt  des  Königspaares  in  Königsberg 
1807  emphatisch  gesagt  wurde:  „So  empfand  es  das  Glück  in  be- 
drängter Zeit  seinem  allverehrten  Herrscherpaar  eine  Zufluchtstatte 
zu  gewahren  und  die  erhabenen  Tugenden  desselben  aus  eigener 
Anschauung  und  Erfahrung  bewundern  zu  können.*' 

Wahrheit  braucht  keine  Schmeichelei  und  die  Geschichte  soll 
nur  die  Wahrheit  sagen.  Ob  der  Verfasser  sein  Buch  blos  als 
Volksbuch  betrachtet  haben  will,  ist  aus  der  Vorrede  nicht  klar, 
doch  ist  es  ein  solches  und  kann  als  solches  gelesen  werden. 

Quellen  der  badischen  Geschichte.  Herausgegeben  von  Dr.  Eugen 
Huhn.  1.  Ghronicon  Meissenheimense  von  M.  Johannes  Georg  Scbilher. 
Heidelberg.     Als  Manuscript  gedruckt.  4  844.  4  8.  60.  S. 

Dr.  Eugen  Huhn  bat  es  unternommen  auf  seine  eigenen  Da* 
kosten  die  Quellen  der  badischen  Geschichte  herauszugeben  und 
macht  den  Anfang  mit  dem  Chronicon  Meissenheimense.  Freilich 
giebt  er  uns  das,  ohne  alle  nähere  Beschreibung  der  Handschrift, 
ohne  Notiz  über  den  Ort,  wo  er  sie  gefunden  und  ohne  literari- 
sche und  historische  Bemerkung  überhaupt.,  Er  wird  wie  diesmal, 
auch  ferner,  was  er  herausgiebt  Bibliotheken  und  Gelehrten  uu- 
entgeldlich  mittheilen,  etwas  sehr-  edles  und  preisenswerthes,  wenn 
wir  auch  die  ostentirende  Manier,  mit  der  „er  von  seinen  dem 
Vaterlande  schon  gebrachten  Opfern  dem  Staate  gegenüber  spricht 
weniger  passend  finden  als  eine  bescheidene  Darlegung  der  Ver- 
hältnisse. Das  Chronicon  hat  folgende  Ueberschrift:  „Chron.  Meis- 
senheimense, dass  ist  denkwürdiger  Sachen  auüzeichnung  so  sich  al- 
hier  und  in  diesem  Territorio  der  Breusch  herum  verlofien  uudt 
zugetragen  haben  von  Anno  73  bis  auff  gegenwärtige:  zum  Theil 
aus  dem  alten  Tauffbuch  geschriben:  zum  Tbeil  aber  täglichen 
vermärket.  Durch  M.  Johanneni  Georgium  Schub  erum  der  Zeit 
Pfarrherrn  alhie  zu  Meissenbeim.    Anno  1610." 


Allgemeine  Literaturberichte.  483 

Es  ist  nun  dabei  mehres  sehr  auffallend.  Das  erste  Datum 
ist  1573,  das  letzte  1656.  Das  ist  ein  Zeitraum  von  83  Jahren,  den 
Einer  also  nicht  beschrieben  haben  kann.  Wenn  im  Titel  auch 
das  Jahr  1610  vermerkt  ist,  so  gehl  doch  die  Erzählung  in  ahnli- 
cher Weise  über  das  Jahr  1610  heraus,  wo  gar  nichts  erwähnt 
ist,  bis  zum  Jahre  1621;  bei  1622  lautet  der  Titel  der  einzelnen 
Jahre  schon  etwas  anders;  während  bisher  blos  „Anno  1620,  21 
etc.,"  gestanden,  heisst  es  jetzt  „Anno  Domini  1622  sindt  nach- 
folgende fürneme  Sachen  allhie  undt  in  unserem  territorio  herumb 
verloffen"  und  dieser  lange  Titel  bleibt  mit  mancherlei  Variationen 
bis  auf  das  Jahr  1656  wo  er  wieder  blos  „Anno  1656"  heisst. 

Vom  Jahre  1573—1621  incl.  sind  zu  den  folgenden  Jahren 
Nachrichten  enthalten  1573.  74.  75.  81.  82.  83.  89.  86.  90.  91.  93. 
1600.  1.  5.  6.  7.  8.  9.  10.  11.  12.  13.  15.  16.  17.  18.  19.  20.  21;  von 
1622—1656  haben  nur  die  Jahre  1622.  23.  24.  25.  26.  27.  28.  29. 
30.  31.  Nachrichten,  dann  folgt  gleich  1656. 

Vor  Schilher  ist  der  Pfarrer  von  Meisenheim  Johann  Stork  ge- 
wesen, welcher  1605  starb  und  bei  den  Jahren  1573*  74.  u.  81  sich 
als  den  Notizenmacher  bezeichnet.  Ihm  folgte  Schilher  wie  er 
selbst  p,  19  erzählt,  der  sich  auch  zum  Jahr  1611  nennt  (p.  32); 
wenn  daher  1656  steht  „dto.  24.  Febr.  bin  ich  ordentlicher  und 
rechtmässigerWeise  allhie  zu  einem  Pfarrer  auf  und  angenommen 
worden,  wie  vornen  zu  sehen. "  so  kann  sich  das  nicht  auf  SchiU 
her  beziehen  und  man  weiss  nicht,  was  man  „vornen  zu  sehen'' 
hat  — 

Es  scheint  also  die  Chronik  zuerst  aus  Notizen  zu  bestehen, 
die  Johann  Stork  der  Pfarrherr  gemacht,  die  dann  sein  Nachfolger 
Schilher  von  1605  an  regelmässig  fortgesetzt  hat  und  wie  es 
scheint  nur  in  der  Art  bis  1622,  dann  mit  verändertem  Titel  (wenn 
überhaupt  ein  getreuer  Abdruck  vorausgesetzt  werden  kann)  bis 
1631  (sein  Tod  wäre  wohl  angegeben,  wenn  diese  Nachrichten 
schon  vom  Nachfolger  wären).  Das  Jahr  1656  aber  ist,  wenn  die 
Zahl  anders  richtig,  ein  späterer  Zusatz.  Aus  dem  Allen  geht  her- 
vor, dass  eine  genaue  Beschreibung  der  Handschrift,  des  Ortes 
wo  sie  gefunden,  selbst  der  Gelegenheit  bei  der  sie  gefunden  und 
kritische  Noten  unumgängliche  Pflichten  eines  Herausgebers  unge- 
druckter Handschriften  seien,  dass  der  Titel  weder  ganz  genau, 
noch  die  Angabe  von  64  Jahren,  die  die  Chronik  umfasse  (cf.  Vor- 
rede p.  1)  richtig  sei,  da  sie  zu  klein  ist,  wenn  man  1656  hinzu- 
zählt und  zu  gross,  wenn  man  sie  weglässt. 

Die  Chronik  selbst  ist,  wenn  sie  echt  und  ohne  Inter- 
polationen ist,  nicht  ohne  Interesse;  sie  spiegelt  damalige  An- 
schauungen  und  Lebensverhältnisse  nicht  übel  wieder.  Ausser 
einer  grossen  Menge  Witterungsnachrichlen  sind  die  Notizen  über 


484  Allgemein*  LiieraiurbendUe. 

die  Gründung  der  Universität  Sirassborg  im  Jahre  1091  (p  .27) 
wo  das  Decret  eines  „ersamen  Rats"  mitgetheilt  wird  and  über 
den  Münzfuss  vom  Jahr  1623  (p.  40)  nicht  ohne  Wichtigkeit  Aach 
die  Nachrichten  über  den  30jährigen  Krieg  sind  lesenswertb;  als 
etwas  sehr  drolliges  muss  man  das  erwähnen,  was  in  Lahr  lo 
dessen  Amtsbesirk  Meissebheim  liegt  passirt  ist  und  zwar  auf  der 
Rathsstube;  es  ist  nSmlicb  „unversehens  dem  zu  verbieten,  einea 
Burgemeister  B.  Heinrich  Biieren  ein  Mause  die  Kleider  hiuauff  bis 
in  den  Bart  geloffen,  daz  er  sie  kaum  darauss  bringen  undt  in  die 
Stob  hinauswerfen  können."  Auch  unseren  Consuln  mösste  das 
Ereigniss  die  Worte  zurufen:  Videant  Gonsules  ne  barba  dein* 
menti  capiat. 

Selig  Gassei. 


Abbandlungen  und  Programme. 

A.  Hansen,  Dr.  (Oberlehrer  der  historischen  Wissenschaften): 
Wer  veranlasste  die  Berufung  der  Vandaien  nach  Africa?  Eine 
historische  Untersuchung  gegen  Procop.  Vandal  I.  3.  Dorpat,  ge- 
druckt in  der  Universitätsbuchdruokerei  bei  J.  C  Sobunmaops 
Witlwe.  1849.  13  S.  4. 

Julius  Friedlander,  Dr.  Der  Fund  von  Obrzycko,  Silbermün- 
zen  aus  dem  zehnten  christlichen  Jahrhundert.  Mit  drei  Kupfer« 
tafeln.  Berlin,  1844.  Verlag  von  Trautwein  u.  Comp.  30  S.  & 
(Die  Tür  Deutschland  interessanten  Münzen  sind:  Kajeer  Otto  I. 
und  Erzbischof  Bruno,  Köln;  Kaiser  Otto  1.  und  Bischof  Adal* 
bero,  Metz;  König  Heinrieb  I,  Verdun;  Bisehof  Ulrich  der  Heilige, 
Augsburg;  Kaiser  Otto  II.  und  Bischof  Erkambold,  Strasburg; 
Herzog  Eberhard  von  Baiern,  Regensburg;  Herzog  Berthold  von 
Baiern,  Regensburg;  König  Konrad  von  Burguud,  Basel;  König 
Lothar  von  Frankreich,  Rheims;  König  Bdgar  von  England, 
Winchester;  Berengar  II.  und  Adalbert,  Könige  von  Italien,  Pavia; 
Papst  Johann  XIII.  und  Kaiser  Otto  I.,  Rom.  —  Dazu  kommen 
Byzantinische  Münzen,  Persische  der  Sasaniden  und  bpebbeds 
von  Taberistan,  Hindostanische  und  Muhammedaniscbe). 

Eduard  Reimann:  de  Rieben  vita  et  scriptis.  1845.  Olsnae,  typis 
Adolphi  Ludwig.  48  S.  8.  (eine  in  Breslau  verteidigte  Promotions- 
schrift). 


Deutschland  and  Gustav  Adolf. 

Eine   Kritik    der   neusten   Auffassungsweisen    des 

dreissigjährigen  Krieges. 


3.    Kaiser  and  Reich  vor  dem  Kriege. 

Wir  haben  gesehen,  im  Grunde  wiederholen  sich  in  der 
neuen  Auffassung  des  dreissigjährigen  Krieges  nur  die  Beschul- 
digungen, welche  seit  der  Reformation  von  der  katholischen 
Seite  und  den  Eiferern  für  die  Einheit  des  Reichs  erhoben 
worden  sind.  Vornehmlich  die  protestantischen  Stände  sind 
das  auflösende  Princip  im  Reiche  gewesen,  sie  haben  eigen- 
mächtig nach  Losreissung  vom  Mittelpunkte  getrachtet,  die 
fremden  Machthaber  hereingerufen,  und  somit  die  schmach- 
vollste Zersplitterung  der  Nationalität,  und  die  Durchbrechung 
der  politischen  Einheit  herbeigeführt.  Bei  dieser  Betrachtungs- 
weise stellt  man  sich  ohne  Weiteres  auf  die  Seite  des  Kaisers, 
den  man  im  modernen  Sinne  als  den  ausschliesslichen  Ver- 
treter des  Staates,  als  den  höchsten  Ausdruck  des  souveränen 
Willens  auffasst,  dem  die  ständischen  Körperschaften  nicht 
beigeordnet,  sondern  untergeordnet  sind,  der  die  auseinander- 
gehenden Richtungen  in  sich  und  seinem  Willen  wieder  zur 
Einheit  bringt.  Aber  der  Kaiser  kann  keineswegs  für  das 
gelten,  was  wir  heutiges  Tages  einen  constitutionellen  Herr- 
scher nennen.  Eher  möchten  noch  die  früheren  Perioden, 
wo  freilich  die  Verfassung  noch  gar  «nicht  so  systematisch 
ausgebildet  war,  eine  Analogie  darbieten.  Im  spätem  Mittel- 
alter stand  der  Kaiser,  so  erhaben  auch  in  der  Idee  als 
Quelle  alles  weltlichen  Rechtes,  in  der  Wirklichkeit  und 
überall,  wo  es  auf  Reichshandlungen  ankam,  neben 
den     Reichsständen.      Nicht    jener,     nicht    diese    allein, 

Zeitschrift  f.  CetrbiehUir.  IT.   1845.  33 


486  Deutschland  und  Gustav  Adolf. 

Kaiser  und  Reich  sind  der  Souverän.  Darum  kann  nicht 
blos  stets  davon  die  Rede  sein,  dass  die  Stände  sich  vom 
Reiche,  d.  h.  von  der  hergebrachten  Verfassung  entfernt 
haben,  sondern  nicht  minder  zulässig  wird  auch  die  andere 
Frage  sein,  ob  denn  die  Kaiser  sich  immer  zum  Reiche  ge- 
halten, ob  sie  denn  ihrerseits  immer  beflissen  gewesen  seien, 
die  Einheit  zu  wahren.  Vielmehr  zeigt  sich  hier  sogleich, 
dass  sie  in  den  späteren  Zeiten  sich  allerdings  in  derselben 
Richtung  bewegen  wie  die  Reichsstände.  Deswegen  fanden 
sie  ihre  Stellung  nicht  über,  sondern  neben  den  Standen. 

Es  ist  eine  allbekannte  Sache,  dass  die  Politik  der  Kai- 
ser nach  dem  Falle  der  Hohenstaufen  sehr  selten  die  des 
Reichs  im  Allgemeinen  war;  ihre  Hauspolitik  zielte  eben  so 
sehr  wie  die  der  Reichsfürsten  auf  Begründung  einer  Ter- 
ritorial-Herrschaft,  nur  mit  dem  Unterschiede,  dass  sie  zu 
diesem  Zwecke  das  verwandten,  was  ihnen  etwa  an  Mittete 
aus  kaiserlicher  Macht  übrig  geblieben  war.  Und  so  konnte 
es  geschehen,  dass  wo  Kaiser  und  Reich  in  Conflikt  kamen, 
sehr  oft  auf  beiden  Seiten  nur  die  auflösende  Territorial- 
politik kämpfte,  die  sich  geschickt  hinter  den  altherge- 
brachten Gewändern  des  Kaisers  und  des  Reichs  zu  ver- 
bergen wusste.  Sobald  den  Reichsständen  dies  zum  Be- 
wusstsein  gekommen  war,  und  diese  Erkenntniss  entwickelte 
sich  seit  dem  Falle  der  Hohenstaufen  mit  einer  reissenden 
Schnelligkeit,  konnten  die  Fürsten  den  Kaiser  nicht  mehr 
in  jener  Machtfülle  eines  weltlichen  Statthalters  -Gottes  anf 
Erden ,  in  der  die  drei  grossen  Herrscherhäuser  trotz  alles 
Kampfes  gestanden  hatten,  über  sich  sehen.  Immer  hatte 
sieh  noch  der  ideale  Anspruch  durch  Macht  zu  erhalten  ge* 
wusst;  aber  nach  der  Niederlage  durch  die  Kirche,  seit  auch 
jene  Verbindung  des  Wahlreichs  und  der  Erblichkeit  aufge- 
hört hatte,  trat  die  Spaltung  zwischen  dem  idealen  Kaiser- 
thuta  und  der  Wirklichkeit  auf  das  Schneidendste  ein;  es 
war  herabgedrückt  auf  gleichen  Boden  mit  den  Ständen,  die 
es  aus  ihrer  Mitte  zu  besetzen  hatten,  und  mit  denen  es 
fortan  nur  rivalisiren  konnte.  Als  endlich  dieser  Zustand 
durth  die  goldene  Bulle  einen  gesetzlichen  Ausdruck  bekam» 


Deutschland  und  Gutta®  Adolf.  487 

als  die  ChurAirsten  die  volle  Landeshoheit  erhielten,  und  auch 
die  Fürsten  als  Stellvertreter  des  Kaisers  in  ihrem  Lande 
dessen  Rechte  in  Anspruch  nabinen,  war  die  Bewegung, 
welche  die  deutsche  Geschichte  im  folgenden  Jahrhundert 
beherrscht,  entschieden,  die  Zersplitterung  des  Reichs  war 
damit  gesetzlich  sanktionirt.  Ehe  man  also  in  den  allge- 
meinen Klageruf  über  die  Zerfallenheit  Deutschlands  zur  Zeit 
der  Reformation  einstimmt,  sollte  man  doch  bedenken,  dass 
man  nur  gegen  die  Folge,  nicht  gegen  die  Ursache  Anklagen 
erhebt  Will  man  anklagen,  nun  wohlan,  so  klage  man  jene 
Zustände  an,  die  eine  Verfassung  wie  die  goldene  Bulle  nöthig 
machten.  Aber  consequenter  Weise  kann  man  auch  dabei 
nicht  stehen  bleiben,  man  klage  die  Hierarchie  an,  die  das 
Ihre  zur  Zersplitterung  der  deutschen  Kräfte  redlich  beige- 
tragen hat;  man  klage  jene  Aristokratie  an,  die  es  sich  zur 
Aufgabe  machte,  die  Kraft  der  Kaiser  zu  lähmen,  so  lange 
diese  noch  in  der  That  Macht  genug  bqsassen,  eine  nationale 
Einheit  zu  erhalten,  jene  Aristokratie,  welche,  um  die  eine 
krallige  Monarchie  zu  brechen,  zahllose  kleine  an  ihre  Stelle 
setzte.  Und  sonderbarerweise,  gerade  die,  welche  über  die 
Zersplitterung  im  16ten  Jahrhundert  anfr  lautesten  jammern, 
sind  die  wärmsten  und  rücksichtslosesten  Yertheidiger  der 
auflösenden,  kirchlichen  Tendenzen  des  Uten  und  12ten  Jahr- 
hunderts. Aber  auch  bei  diesen  Anklagen  dürfte  man  nicht 
stehen  bleiben;  man  müsste  zuletzt  die  ganze  deutsche  Ent- 
wickelung  verdammen,  wenn  es  überhaupt  die  Aufgabe  des 
Geschichtschreibers  wäre,  in  Jeremiaden  über  diese  oder  jene 
Zeit  auszubrechen  und  nicht  vielmehr  jede  zu  nehmen,  wie 
sie  ist,  und  sie  aus  sich  zu  verstehen. 

Bei  dieser  Stellung  des  Kaisertbums  gegen  die  Reichs- 
stände blieben  ihm,  so  viel  ich  sehe,  nur  zwei  Wege  übrig, 
die  Hoheit,  wie  sie  sich  bei  den  Nachbarvölkern  zu  ent- 
wickeln anfing,  wieder  zu  erlangen.  Entweder  man  suchte 
die  kaiserliche  Territorialmacht  so  auszubreiten,  dass  man 
die  ständischen  Gebiete  nach  und  nach  in  sie  hineinzog,  das 
heisst,  dass  der  Kaiser  auf  gesetzlichem  Wege  die  ständi- 
schen Ländereien  durch  {(auf,  Einlösung  und  andere  friede 

33* 


48H  Deutschland  und  Gustav  Adolf. 

liehe  Mittel  an  sich  brachte.  Freilich  nur  allmählich  war  es  zu 
erreichen,  aber  bei  consequentem  Fortschreiten  auf  diesem 
.Wege  konnte  es  wenigstens  als  Ziel  gedacht  werden,  dass  die 
ständischen  Territorien  immer  mehr  zusammenschmelzen  und 
endlich  die  Hauslande  des  Kaisers  ganz  mit  den  Reichslanden  zu- 
sammenfallen, unmittelbar  eins  sein  würden.  Oder  es  musste 
der  Weg  der  Gewalt  eingeschlagen  werden;  der  Kaiser  musste 
einen  Eroberungszug  gegen  das  Reich  unternehmen,  um 
es  auf  eine  ständische  Stellung  wiederum  hinabzudracken. 
Noch  könnte  man  an  eine  Vereinigung  beider  Theile  denken» 
aber  würden  die  Ghurfürsten  und  Fürsten  von  ihren  Beeil- 
ten zu  Gunsten  des  Kaiserthums  nur  einen  Titel  aufgegeben 
haben?  Anmuthungen  dieser  Art  mussten  entschieden  zur 
Gewalt  fuhren;  eher  noch  hätten  die  Stände  aus  eigner 
Machtvollkommenheit  sich  zur  Herstellung  einer  Einheit 
verbinden  können;  ihnen  hätte  es  von  unten  herauf- 
bauend gelingen  können,  wenn  nicht  der  Kaiser  seinerseits 
entgegengetreten  wäre.  Alle  diese  Wege  sind  versucht  wor- 
den. Der  Vertreter  der  ersten  Ansicht  ist  der  staatskluge 
Carl  IV.  Keiner  der  Kaiser  ist  mit  mehr  Vorsicht,  Glück 
und  Erfolg  an  das' Werk  gegangen;  wären  die  Nachfolger 
fähig  gewesen,  seine  Gedanken  aufzunehmen,  hier  hätte  sich 
ein  neues  Fundament  bilden  können.  Auch  das  habsburgische 
Haus  verfolgte  dieselbe  Richtung,  aber  doch  ist  hier  ein  sehr 
wesentlicher  Unterschied.  Carl  zog  nur  Territorien  an  sieb, 
die  im  Reiche  lagen  und  nur  zu  diesem  gehörten.  Die  Habs- 
burger brachten  ausserdeutsche  Länder  an  sich,  solche,  die 
in  zweifelhaftem  Verhältnisse  zum  Reiche  standen.  Auf  jenen 
hätte  sich  eine  neue  kaiserliche  Reichsmacht  gründen  lassen, 
diese  erhoben  das  Haus  Habsburg  zur  europäischen  Macht 
und  rissen  damit  das  Kaiserthum  vollends  von  seinem  alten 
Boden  los.  Auch  die  Reichsstände  haben  es  aufs  Ernstlichste 
versucht,  die  Einheit  wieder  herzustellen  unter  dem  Vortritte 
ßertholds  von  Mainz,  dessen  Andenken  Ranke  zu  Ehren  ge- 
bracht hat.  Aber  wer  war  es,  der  diese  Bemühungen  lähmte 
und  vereitelte?  Jener,  in  dem  man  den  Ausdruck  deutscher 
Einheit  feiert;  der  Kaiser,  der  gepriesene  Kaiser  Max  war 


Deutschland  und  Gustav  Adolf.  489 

hier  das  widerstrebende  Element  Wahrlich  nicht  die  Stände 
allein,  auch  die  Kaiser  waren  es,  die  sich  auf  Kosten  des 
Reichs  vom  Reiche  zu  emancipiren  suchten.  Nicht  die  Stände 
allein  haben  es  zersplittert,  und  deutsche  Lande  an  Fremde 
gebracht.  Durch  den  Vertrag  von  1547,  der  den  burgundischen 
Kreis  und  einen  Theil  des  westphälischen  dem  Reichskam- 
mergerichte entzog,  waren  diese  Gebiete  schon  so  gut  als 
losgerissen;  sie  wurden  es  vollständig  durch  die  Ucbertragung 
an  Philipp  II.  Auf  Mailand  hatte  Karl  Y.  gar  keine  Erb- 
ansprüche, nur  vom  B eiche  besass  er  seine  Hoheit,  dennoch 
vererbte  er  das  alte  deutsche  Lehen  auf  Spanien;  er  that  es 
aus  kaiserlicher  Machtvollkommenheit,  vom  Reiche  war  bei 
dieser  Theilung  keine  Rede. 

Wer  war  es  endlich,  der  den  Weg  der  Gewalt  einschlug? 
Man  pflegt  auch  hier  Karl  V.  zu  nennen,  aber  es  scheint  mir 
weniger  zweifelhaft,  was  auch  dagegen  gesagt  worden  ist, 
dass  Ferdinand  II.  ihn  gegangen  sei,  und  dass  dieser  miss- 
glückte Versuch,  das  Seine  zur  schliesslicben  Theilung  Deutsch- 
lands im  westphälischen  Frieden  beigetragen  habe.  Und  wie 
unendlich  viel  verwickelter  waren  nicht  diese  ohnehin  kaum 
entwirrbaren  Verhältnisse  durch  das  Eintreten  der  Refor- 
mation geworden,  die  der  Kaiser  als  Schirmherr  der  Kirche 
und  ihrer  Einheit  nicht  anerkennen  konnte,  ohne  sich  von 
seiner  Grundlage  zu  trennen;  und  dazu  noch  die  Gonflikte 
mit  den  Reichsständen,  welche  nicht  nur  Glieder  des  Reichs, 
sondern  auch  Glieder  der  Hierarchie  waren.  Als  man  end- 
lich so  weit  gekommen  war,  sich  neben  einander  zu  dulden, 
sprach  man  noch  im  kirchlichen  Reservat  die  Trennung  ent- 
schieden aus.  Man  verglich  sich  gegenseitig,  aber  man  ver- 
hehlte sich  nicht,  dass  man  Feind  sei.  Den  Forderungen 
des  Reservats  lag  zum  Grunde,  dass  dieser  politische  Reichs- 
körper wesentlich  auf  dem  Rekenntniss  der  altern  Lehrform 
beruhe;  und. dies  war  auch  seine  Grundlage.  Als  rein  prote- 
stantischer Staat  konnte  das  heilige  römische  Reich  in  seiner 
alten  Weise  nicht  ferner  existiren.  Aber  so  lange  es  noch 
eine  Seite  des  ständischen  Lebens  gab,  die  den  Protestanten 
verschlossen  bleiben  sollte,  konnten  sich  diese  nicht  als  eben- 


490  Deutschland  und  Gustav  Adolf. 

bürtige  Glieder  des  Reichs  ansehen,  hatten  sie  nicht  das  Ziel 
erfasst,  dem  alle  Kämpfe  gegolten,  nicht  vom  Reiche  aus- 
geschlossen ,  sondern  gerade  von  ihm  anerkannt  zu  werden» 
wie  Ranke  dies  unabweislich  gezeigt  hat  Mochten  sie  sich 
augenblicklich  mit  den  Gegnern  vertragen,  wie  es  möglich 
war,  auf  diesen  Punkt  musstcn  sie  immer  wieder  zurückkom- 
men; die  Natur  der  Dinge  brachte  es  mit  sich,  sie  konnten 
das  Reservat  in  dieser  Weise  und  die  Auslegungen,  die  man 
ihm  gab,  nicht  anerkennen. 

Es  scheint  nicht  unpassend,  hier  noch  eine  Bemerkung 
einzuschalten.  Schon  ein  Mal,  vier  Jahrhunderte  früher,  war 
eine  ähnliche  Stellung  kirchlicher  und  politischer  Verhältnisse 
im  Reiche  eingetreten,  aber  freilich  unter  ganz  andern  Be- 
dingungen. Im  Kampfe  um  die  Investitur  gab  es  einen 
Augenblick,  wo  beide  Theile  ihre  Kräfte  wieder  ins  Gleich- 
gewicht gesetzt,  hatten,  wo  sie  auf  "den  Gedanken  kamen, 
die  kirchliche  und  die  politische  Seite  des  Reichs  ganz  ron 
einander  zu  trennen,  wo  Papst  Paschalis  II.  die  geistlichen 
Fürsten  aufforderte,  Alles  herauszugeben,  was  sie  vom  Reiche 
besässen,  und  sich  ganz  auf  ihre  geistliche  Würde  zu  be- 
schränken. Wäre  dies  damals  möglich  gewesen,  es  würde 
allem  weitern  Hader  ein  Ziel  gesetzt  haben,  das  Reid 
wäre  nur  auf  die  Macht  weltlicher  Fürsten  begründet  wor- 
den, und  vielleicht  hätte  die  Einheit  erreicht  werden  mögen, 
wenn  jene  Zugänge  zur  hierarchisch-ständischen  Gewalt  ver- 
schlossen wurden.  Aber  Niemand  widersetzte  sich  diesem 
Vorschlage  entschiedner  als  die  Bischöfe  und  Aebte;  es  dünkte 
ihnen  sehr  wohl  möglich,  mit  der  hierarchischen  Würde  die 
reichsständische  zu  verbinden,  obwohl  der  Papst  selbst  anderer 
Meinung  zu  sein  schien. 

Jetzt  in  Folge  der  Reformation  geschah  es,  dass  ein 
Theil  der  Reichsstände  eine  Trennung  der  Reichsstand- 
schaft  und  der  hierarchischen  Würde  forderte,  Kaiser  und 
Papst  waren  es,  die  jetzt  im  gemeinsamen  Interesse  da* 
gegen  ankämpften.  Natürlich  damals,  als  Kaiserthum  und 
Papstthum  sich  gegenüberstehend  eine  solche  Lösung  zu  be- 
günstigen schienen,  musste  es  misslingen,  weil  beide  auf 


Deutschland  und  Gustav  Adolf.  491 

demselben  Boden  erwachsen   sich  trotz  aller  Feindseligkeit 
nicht  von  einander  losmachen  konnten.    Ein  neues  Princip 
brach    in  der  Reformation   durch,   sogleich   mussten  beide 
ihres  gemeinschaftlichen  Ursprungs  eingedenk,  sich  nun  aufs 
Engste  gegen  den  gemeinsamen  Feind  zusammenschlössen, 
der  die  ideale  Würde  beider  angriff.    Was  sie  im  I2ten  Jahr- 
hundert gewünscht  hatten,  mussten  sie  in  der  Form  des  16ten 
nothwendig  bekämpfen.   Es  musste  noch  ein  Mal  zum.  Kriege 
kommen,  wenn  jede  Partei  einseitig  auf  ihrem  Princip  be- 
stand» und  wie  wäre  es  anders  möglich  gewesen?  Dazu  kam 
der  mächtige  Aufschwung  des  Katholicismus  in  den  letzten 
Jahren  des  16ten  Jahrhunderts,  der  mit  neuen  Kräften  sei- 
nen Anspruch  auf  die  äusserliche  Darstellung  der  christlichen 
Kirche  geltend  machte.    Ihm  gegenüber  der  Protestantismus, 
schon  seinen  Principien  nach  nicht  so  festgeschlossen,  selbst 
in  eifersüchtige  und  feindselige  Parteiungen  getheilt,  im  Be*> 
griffe  seinen  ursprünglichen  Gedanken  unter  theologischem 
und  confessiouellem  Partei-  und  Formwesen  zu  vergessen, 
und  daher  matt  und  kraftlos.    Schon  begann  sich  auf  allen 
Seiten  das  unheilvolle  Netz  um  Deutschland,  die  Wiege  der 
»Reformation,  zusammenzuziehen. 

Doch  werfen  wir  noch  einen  Blick  auf  die  kirchlich- 
politische  Lage  des  übrigen  Europa.  Die  letzten  zwanzig  Jahre 
waren  für  den  neu  andringenden  Katholicismus  von  unge*~ 
meinem  Erfolge  gewesen;  auf  Punkten,  die  längst  verloren 
schienen,  fasste  er  wieder  Fuss.  Mit  der  Eroberung  von 
Antwerpen,  mit  der  Unterwerfung  von  Brabant  und  Flandern 
hatte  sich  der  Katholicismus,  den  Spanien  in  seiner  streng- 
sten, ungemildertsten  Form  vertrat,  im  Herzen  Europa's  wie- 
der festgesetzt.  Es  war  eine  neue  Metropole  damit  gewon- 
nen, und  die  erste  Macht  Europa's  hatte  sich  wieder  als  ihr 
Schirmvogt  zwischen  das  ketzerische  Deutschland,  England, 
Miederland  und  das  zweifelhafte  Frankreich  in  die  Mitte  ge- 
stellt. Die  unmittelbare  Verbindung,  die  hier  die  Bekenner 
der  neuen  Lehre  gehabt  hatten,  war  abgeschnitten;  als  ein 
gewaltiger  Damm  erhob  sich  Spanien  zwischen  ihnen.  Fast 
gleichzeitig  begann  Herzog  Wilhelm  V.  in  Baiern  die  Her- 


492  Deutschland  und  Gustav  Adolf. 

Stellung  des  strengen  Katholieismus;  Erzherzog  Karl  in 
Steiermark  folgte;  schon  früher  war  Johann  von  Schweden 
zur  alten  Kirche  zurückgekehrt,  und  in  dem  eben  be- 
zeichneten Zeitpunkte  gelingt  es  seinem  streng  katholischen 
Sohne  Siegmund  die  Krone  Polens  zu  erwerben.  Dieser 
bifdete  hier  ein  bedeutendes  Mittelglied  nach  beiden  Seiten 
hin;  nach  Norden  wie  nach  Süden  hielt  er  die  Hand  offen. 
Noch  bei  den  letzten  Königswahlen  hatte  man  es  gesehen, 
wie  katholische  und  protestantische,  schwedische  und  russi- 
sche, wie  deutsche  und  französische  Einflüsse  sich  gekreuzt 
hatten.  Unbedenklich  war  Polens  Stellung  von  der  höchsten 
Wichtigkeit  im  europäischen  Staatensysteme.  Nun  vereinte 
gar  Siegmund  die  Kronen  Polens  und  Schwedens,  den 
Katholieismus  war  der  Weg  hierher  nur  sicherer  gemacht 
Gleichzeitig  trat  Heinrich  IV.  zur  alten  Lehre  zurück,  and 
in  den  ersten  Jahren  des  17ten  Jahrhunderts  griff  der  Ka- 
tholieismus durch  den  falschen  Demetrius  sogar  nach  Auss- 
tand hinüber.  Schlag  auf  Schlag,  in  einem  Zeiträume  von 
ungefähr  dreissig  Jahren  waren  diese  Ereignisse  auf  einander 
gefolgt,  eine  Umgestaltung  Europa's  war  eingetreten,  wie  sie 
zur  Zeit  des  Augsburger  Friedens  kaum  geahnt  werden 
konnte.  Von  allen  Seiten  drängte  es  auf  die  deutschen 
Protestanten  ein;  es  bereitete  Sich  Alles  zu  einem  Schlage 
auf  den  Mittelpunkt  vor.  Die  katholischen  Mächte  mussten 
das  Bestreben  haben,  auf  dem  feindlichen  Boden  einander 
zu  treffen.  Die  Schlinge  war  gelegt,  es  fragte  sich  nur,  ob 
sich  eine  feste  Hand  finden  werde,  die  bereit  sei,  sie  zu- 
sammenzuziehen. Diesen  Versuch  machte  Ferdinand  IL,  wi 
die  Kurzsichtigkeit  und  eitle  Politik  eines  protestantischen 
Fürsten  musste  ihm  Veranlassung  dazu  geben. 

4.  Das  Kaiserthum  wahrend  des  Krieges.  Seine  Erhebung  und  Politik. 

Allerdings  war  der  Kaiser  durch  die  unbefugte  Ein- 
mischung  Friedrichs  von  der  Pfalz  in  den  böhmischen  Auf* 
stand  in  seinen  Rechten  als  Landesherr  empfindlich  gekränkt 
Er  war  der  Beleidigte,  und  wie  wusste  er,  nachdem  der 
erste  Sturm  abgeschlagen  war,   diese  Stellung  zu  benutzen. 


J 


Deutschland  und  Gustav  Adolf.  493 

Ohne  irgend  eine  Einmischung  von  Seiten  des  Reichs  war 
zehn  Jahre  früher  eine  ähnliche  Revolution  in  Böhmen  vor 
sich  gegangen.  Kaiser  Rudolph  war  abgesetzt  worden,  Mat- 
thias an  seine  Stelle  getreten;  es  galt  für  eine  Landes-Revo- 
lution,  die  das  Reich  nichts  angehe.  Anders  sah  man  jetzt 
die  Sache  an,  der  böhmische  Handel  wurde  in  das  Reich 
hineingezogen.  Gewiss  hatte  Friedrich  V.  als  Landfrieden- 
brecher den  rächenden  Arm  gegen  sich  aufgerufen,  und  als 
Reichsstand  befand  er  sich  in  Empörung.  Mindestens  war 
die  Unterscheidung,  die  man  zu  seinen  Gunsten  machte,  in 
der  Wirklichkeit  schwer  oder  vielmehr  gar  nicht  festzuhalten, 
nicht  gegen  den  Kaiser,  nur  gegen  ihn,  als  abgesetzten  König 
von  Böhmen,  habe  er  die  Hand  erhoben.  Aber  darin  be- 
stand gerade  die  eigenthümliche  Stellung  des  spätem  Kaiser- 
tums, dass  wer  die  Hausmacht  verletzte,  dieses  bis  in  seine 
Grundlage  gefährdete.  Hätte  sich  Friedrich  nur  an  den  * 
idealen  Rechten  des  Kaisers  vergriffen,  wie  Jobann  Friedrich 
sich  gegen  Karl  V.  setzte,  eine  Ausgleichung  wäre  leichter 
gewesen  als  jetzt;  den  Angriff  auf  die  Hausmacht  konnte  der 
Kaiser  nicht  verzeihen.  Dass  dieser  keinen  Anstand  nahm, 
den  Pfalzgrafen  mit  Reichsmitteln  weiter  zu  verfolgen,  kann 
ihm  also  kaum  zum  Vorwurfe  gereichen;  aber  wenn  er  sie 
nur  nach  den  Gesetzen  des  Reichs  angewendet  lyitte.  Als 
er  bei  dem  Müblhauser  Fürstentage  auf  Bestätigung  der  Acht 
gegen  Friedrich  antrug,  wollten  die  katholischgesinnten, 
ihm  befreundeten  Fürsten  sich  ohne  das  Gutachten  aller 
Ghurfursten  auf  nichts  einlassen,  dennoch  erfolgte  die 
Aechtung.  Der  Präsident  des  Reichshofrathes  selbst  trug 
Bedenken,  dennoch  erfolgte  sie  in  den  Formen,  als  sei  sie 
gesetzliche  Reichsacht.  Und  wie  verfolgte  der  Kaiser  seinen 
Gegner?  Er  that"  gerade  das,  was  den  Protestanten  mit  der 
grössten  Bitterkeit  vorgeworfen  wird;  fremde  Truppen  zog 
er  auf  den  Boden  des  Reichs.  Die  Spanier  verfuhren  mit 
der  Oberpfalz  wie  es  später  Schweden  und  Franzosen  nur 
immer  gethan.  Ein  Kosakenheer  wurde  von  Polen  in  das 
Land  herbeigezogen  und  für  die  Herstellung  des  Katholicis- 
mus  durchstreiften  diese  Horden  sengend  und  brennend  Mähren 


494  Deutschland  und  Gustav  Adolf. 

und  Schlesien.    Das  that  der  Kaiser,  obwohl  ihm  die  Wahl- 
kapitulation seit  Karl  V.  zur  Pflicht  machte,  kein  fremdes 
Kriegsvolk  ins  Reich  iu  fuhren.   Das  war  bereits  im  Herbste 
des  Jahres  1620  geschehen,  vor  der  Schlacht  bei  Prag.  Den- 
noch konnte  der  Kaiser  an  den  niedersächsischen  Kreis  und 
den  König  von  Dänemark  schreiben,  er  erinnere  sicji  nicht, 
fremdes  Volk  zu  seinen  kaiserlichen  Zwecken  verwendet  zu 
haben,  und  auf  die  Gegner  schelten,  die  Fremde  herbeige- 
rufen hätten. ")   Zwar  hatte  auch  Karl  V.  über  Johann  Fried- 
rich das  Todesurtheit  aus  kaiserlicher  Machtvollkommenheit 
gesprochen,  doch  auf  einem  Reichstage  wurde  seine  Chur- 
würde  auf  die  jüngere  Linie  übertragen,   man  suchte  die 
Rechte  der  Nachkommen  bis  auf  einen  gewissen  Grad  iu 
wahren.   Hier  wurde  ein  Churfürst  geächtet,  seine  Chur  ging 
auf  eine   andere  Linie  über,   nicht  auf  einem  Reichstage, 
unter  dem  entschiedendsten  Widerspruche  zweier  Churfiir- 
sten.    An  die  Rechte  der  Kinder  und  Agnaten  des  Geächte- 
ten dachte  Niemand.  Ohne  Zuziehung  des  Reichs,  aus  eigner 
Machtvollkommenheit  hatte  der  Kaiser  ein  ganzes  eburfärst- 
liches  Haus  aus  der  Reihe  der  Reichsstände  gelöscht 

Konnte  man  der  Gegenpartei  zumuthen,  in  dieser  ein- 
seitigen Handhabung  den  Ausdruck  des  höchsten  Gesetzes 
unmittellyr  zu  verehren,  durch  das  der  Kaiser  selbst  sich 
doch  gar  nicht  gebunden  erachtete?  Und  die  ungesetzliche 
Belastung  der  Reichskreise  mit  ligistischen  Truppen!  Führte 
denn  das  Reich  den  Krieg  gegen  Friedrich  und  seine  An- 
hänger? War  dasselbe  um  seine  Meinung  und  Rath  befragt 
worden?  Gezwungner  Weise,  um  Aergerem  zu  entgehen, 
schickten  sich  die  Kreise  in  das  Ansinnen,  das  man  ihnen 
stellte.  Gewiss  ist  es  richtig,  Mansfeld,  Christian  von  Braun- 
schweig  u.  s.  w.  haben  wesentlich  zur  Ausbildung  jenes  rohen 
Söldner-  und  Soldaten  Wesens  beigetragen,  in  welches  sich 
zuletzt  zum  furchtbaren  Jammer  Deutschlands  der  ganze  Krieg 
auflöste;  auch  thut  man  ihnen  sicher  Unrecht,  wenn  man  ihr 
Interesse  für  den  Protestantismus  hoch  anschlägt;  allerdings 


•)  Mailath.  IU.  100. 


Deutschland  und  Gustat»  Adolf.  495 

waren  sie  Abenteurer,  wie  jeder  Krieg  sie  gebiert,  aber  man 
sollte   doch  bedenken,   dass  schon  damals  über  die  Zucht* 
losigkeit  der  Tilly'schen  Schaaren  eben  so  sehr  geklagt  wurde.*) 
Nicht  minder  auffallend  erscheint  es,  wenn  der  niedersächsi- 
sche Kreis,   dessen  Neutralität  der  Kaiser  anerkannt  hatte, 
entschieden  feindselig  behandelt  wurde,  auch  nachdem  Chri- 
stian seines  Amtes  als  Kreisoberster  entlassen  und  in  Zwie- 
spalt   mit  dem  Kreise  aus  dessen  Gebiete   gewichen   war. 
Oder  war  es  in  der  Ordnung,  wenn  Tilly,,  ohne  in  offener 
Fehde  zu  stehen,  auf  Waffengewalt  gestützt,  ohne  Weiteres 
die  Stifter  undCapitel  für  denKatholicismus  zu  restauriren  be- 
gann, nachdem  man  sechszig  Jahre  hindurch  diese  Frage  nicht 
als  Kriegspunkt,  sondern  als  Rechtshandel  angesehen  hatte? 
Und  als  nun  die  Schlacht  bei  Lutter  a.  B.  das  Schwert  des 
Richters  in  die  Hand  des  Kaisers  gebracht  hatte,   war  man 
da  so  beflissen,  es  nach  den  Gesetzen  des  Reichs  zu  hand- 
haben?  Behandelte  man  nicht  vielmehr  den  Kreis  fast  als 
erobertes  Land,  ignorirte,  /dass  er  ein  Theil  des  gesetzlich 
constituirten  Reichs  war,  dass  man  die  übrigen  Reichsglieder 
kränke,  wenn  man  hier  die  gesetzliche  Linie  nicht  beachte? 
Oder  ist  es  etwa  eine  durch  Staats-  und  Völkerrecht  gebil- 
ligte Ansicht,    dass   die  Staatsgewalt  gegen  Verbrecher  an 
der  öffentlichen  Ordnung,  gegen  entwaffnete  Ruhestörer  nicht 
das  Recht,  nein,  die  Pflicht  habe,  ungesetzlich  zu  verfahren, 
weil  jene  sich  nicht  gesetzlich  gehalten?    Damit  würde  der 
Staat  nur  bekennen,  dass  nicht  die  Sittlichkeit,  sondern  die 
Unsittlichkeit  sein  Princip  sei,  wahrlich  es  hiesse  den  Teufel 
durch  Beelzebub  austreiben.     Da  sollen,  wie  es  in  einem 
Briefe  des  kaiserlichen  Beichtvaters  von  1628  heisst,  **)  die 
niedersächsischen  Stände  unter  allerlei  Prätext  gezwungen 
werden,   Garnisonen  einzunehmen.    Hildesheim   soll  zuerst 
ein  blutig  Exempel  geben,  Sachsen  solle  man  Alles  concedi- 
ren,  da  man  es  ihm  hernach  eben  so  leichtiglich  wiederum 
nehmen  kann:  der  Kaiser  habe  geschworen,  eher  nicht  zu 


*)  K.  A.  Müller,  üeber  das  Söldnerwesen  p.  48.  49. 
**)  Sölti  HL  254.  262. 


4%  Deutschland  und  Gustav  Adolf. 

ruhen,  bis  das«  wiederum  alle  ketzerischen  Königreiche  und 
Lande  zu  der  alten  allein  seligmachenden  römischen  Kirche, 
und  unter  der  päpstlichen  Heiligkeit  absoluten  Gehorsam 
gebracht  seien;  auch  wolle  er,  wie  es  an  einer  andern  Stelle 
heisst,  an  so  beschaffener,  beiliger  und  seligmachender  fie- 
trüglichkeit  nichts  ermangeln  lassen.  Das  ist  die  gepriesene 
kaiserliche  Politik! 

Es  ist  überflüssig   hier  an   das  Schicksal  der  Herzoge 
von  Mecklenburg;  zu  erinnern;  nicht  minder  ein  altes  Fürsten- 
haus als  das  pfälzische  wurden  sie  ohne  Rechtsgang,  ja  ohne 
hinreichende  Schuld,  geachtet,  von  Land  und  Leuten  gejagt 
aus  der  Reihe  der  Reichsfürsten  ausgestossen.    Was  half  es 
dem  Herzoge  Friedrich  Ulrich  von  Wolfenbüttel,  dass  er  sich 
vor  der  Niederlage  bei  Lutter  von  Dänemark  getrennt  und 
unmittelbar  darauf  mit  Tilly  einen  Vergleich  geschlossen  hatte? 
Wie  viel  fehlte  daran,  und  er  musste  das  Schicksal  der  Meck- 
lenburger theilen?    Und  was  soll  man  zu  den  bitteren  Vor- 
würfen über  die  heillose  Ländergier»  die  Habsucht  der  prote- 
stantischen Fürsten  sagen,  von  denen  namentlich  ßarthold's 
Buch  wiederhallt?  Wer  hatte  denn  im  Anfange  des  Krieges 
als  die  Verwilderung   und   Zügeilosigkeit,   die  zehn  Jahre 
später  herrschte,  noch   nicht  geahnt  werden  konnte,  wer 
hatte  da  (fes  Beispiel  gegeben,  wie  bequem  es  sich  in  frem- 
dem Eigenthum  sitzen  lasse?  wie  angenehm  es  sei,  sich  auf 
den  Stühlen  der  Reichsfürsten  breit  zu  machen?  Die  kaiser- 
lichen Feldherrn  haben  das  gethan,  der  Kaiser,  der  geprie- 
sene Repräsentant  der  Einheit,  hat  das  gethan,  als  er  Meck- 
lenburg an  Wallenstein  als  Reicbslehen  übergab.    Die  nrait 
heiligen  Ordnungen  des  Reichs,  welche  von  katholischen  und 
protestantischen  Schriftstellern  um  die  Wette  als  Schreck- 
gespenst gegen  die  Protestanten  gebraucht  worden  sind,  was 
galten  sie  dem  Kaiser,  als  sie  ihm  gesetzliche  Schranken  hät- 
ten sein  sollen  ?  Nichts !  Zu  Boden  hat  er  sie  getreten  1  Nicht 
etwa  blos  jener  dämonische  Wallenstein  war  es,  der  solches 
zu  beginnen  wagte,  der  Tilly  und  Pappenheim  gern  zu  Her- 
zogen von  Galenberg  und  Wolfenbüttel  gemacht  hätte!  Tilly s 
eigene  Gedanken  standen  nicht  viel  niedriger,  man  lese  ioch 


Deutschland  und  Gustav  Adolf.  497 

was  Mailath  aus  einem  Schreiben  desselben  an  den  Kaiser  mit- 
theilt. *)  Nicht  umsonst  hoffte  er,  dass  ihm  ein  Stück  der  so 

• 

theuer  eroberten  Lande  als  Pfandschaft  oder  in  anderer  Weise 
zu  Tbeil  werden  möchte;  die  drei  schönsten  Aemter  der  Graf- 
schaft Hoya  wurden  ihm  darauf  zuerkannt.    Und  man  durch- 
schaute   damals   bereits   diese  Politik   vortrefflich.     War   es 
plumpe  Absichtlichkeit  oder  hämische  Satyre,  die  schon  1629 
in   einer  Flugschrift  dem  Kaiser  öffentlich  den  Bath  geben 
konnte/*)  dass  er  die  kurfürstlichen  und  fürstlichen  Familien 
vorerst  allmahlig  aussaugen,  hernach  von  der  Verwaltung  des 
Reichs  verdrängen,  und  an  deren  Statt  neue  und  fremde  Edel- 
leute  einsetzen  möge,  doch  müssten  deren  recht  viele  sein? 
Gleichzeitig  setzte  sich  der  Sohn  des  Kaisers,  Leopold,  auch 
im  niedersächsischen  Kreise  als  Bischof  von  Halberstadt  fest. 
Ohnehin  Bischof  von  Passau  konnte  er  als  Bischof  von  Stras- 
burg und  Abt  von  Murbach  die  Interessen  des  Kaiserhauses 
am  Öberrhein,  als  Deutschmeister  und  Abt  von  Hersfeld  in 
Franken  wahren,   und   später  wurden  ihm  auch  noch  die 
Erzbisthümer  Bremen  und  Magdeburg  zugewiesen.    Menzel 
sieht  in  dieser  Cumulirung  von  Bisthümern   nur  das  Ver- 
fahren eines  constitutionellen  Königs,  der  etwa  in  die  Käm- 
mer so  viel  als  möglich  Regierungsvertreter  zu  bringen  sucht. 
Man  mag  zugeben,  dass  der  Kaiser  bei  der  Besetzung  der 
Bisthümer  ein  ähnliches  Ziel   haben  konnte,   aber  dennoch 
reicht  diese  Parallele  schwerlich  hin,   seine  Haltung  gegen 
jeden  Einwand  sicher  zu  stellen.    Handelte  es  sich  nicht  um 
Land  und  Leute  und  Landeshoheit?   bildete  sich  nicht  eine 
Macht,    die   für  einen  Zuwachs  Oestreichs   gelten   musste? 
Zwei  alte  reichsfürstliche  Geschlechter  waren  ihrer  Würden 
entsetzt,  einen  Theil  der  Ghurpfalz  hatten  die  Spanier  inne, 
Mecklenburg  war  dem  Feldherrn  des  Kaisers  als  Lehen  über- 
lassen, drei  grosse  Bisthümer  in  der  Hand  eines  kaiserlichen 
Prinzen,   andere  kaiserliche  Feldberrn  im  Begriffe,   sich  in 


*)  III,  14b\ 
•  **)  Sie  erschien  zu  Mühlhausen  unter  Aldringers  Namen,  von 
dem   sie  natürlich   nicht  herrühren  wird.     Gfrörer  Gustav  Adolf 
p.  628  giebt  aus  diesem  merkwürdigen  Libell  einen  Auszug. 


498  Deutschland  und  Gustav  Adolf. 

Gegenden  festzusetzen,  die  lange  Zeit  dem  katholischen  Ein- 
flüsse entfremdet  gewesen  waren,  die  Protestanten  in  den 
östreicbisehen  Erblanden  fast  vernichtet,  Sachsen  durch  die 
Verpfändung  der  Lausitz  ein  unthätiger  Zuschauer,  Branden- 
burg politisch  schwach  und  ohne  allen  Einfluss,  die  ligisti- 
schen  Truppen  durch  das  ganze  Reich  vertheilt,  Afle*  war 
cum  letzten  Schlage  vorbereitet 

Dieser  letzte  Schlag  war  das  Restitutions-Edict  von  1629. 
Es  wirkte  wie  ein  Erdbeben  auf  die  Protestanten,  sagt  Mai- 
lath,  der  katholische  Geschichtschreiber,  *)  und  er  hat  Recht 
Man  wird  sich  also   mit  dem  protestantischen  Leo  gewiss 
nicht  wundern  dürfen,  dass  man  von  jeher  ein  entsetzliches 
Geschrei  über  dies  Edict  erhoben  hat.  **)    Menzel  wie  Uo> 
wenn  sie  auch  einräumen,  der  Kaiser  habe  materiell  Unrecht 
gethan,  mit  einer  so  gewaltsamen  Maassregel  hervorzutreten, 
sind  dennoch  überzeugt,  dass  er  formell  durchaus  im  Rechte 
war.    Somit  hätten  die  Protestanten  keinen  Anlass  zur  Be- 
schwerde gehabt,  es  wurde  ja  nur  Alles  auf  den  Fuss  jenes 
Religionsfriedens  gesetzt,  auf  den  sie  selbst  sich  unaufhörlich 
beriefen.   Aber  so  sonnenklar  ist  diese  formelle  Berechtigung 
doch  nicht,  dass  sie  nicht  noch  manchem  Bedenken  unter- 
läge.   Als  gleichberechtigte  Theile   hatten  die  beiden  Coo- 
fessionen  den  Frieden  geschlossen;    gegen  die  Anwendung 
die  der  Kaiser  jetzt  dem  Reservate  gab,  hatten  die  Prote- 
stanten vom  ersten  Augenblicke  Einspruch  gethan,  sie  hatten 
jenes  Recht  im  Sinne  der  Katholiken  nie  anerkannt   $iae 
Verpflichtung,  die  man  niemals  eingegangen,  kann  man  nid» 
verletzen.    Man   mag  ihr  Verfahren  confessionell  einseift 
parteisüchtig  nennen,  aber  man  wird  in  der  Handlung*?*186 
des  Kaisers  eben  so  wenig  eine  absolute  Berechtigung  fi^60 
können.    Mochten  doch  immerhin  die  Protestanten  in  ihrer 
Kurzsichtigkeit  die  unmittelbare  Entscheidung  früherer  Kaiser 
aufgerufen  haben,  ohne  das  Reich  konnte  in  einem  stets  be- 
strittenen Punkte  unmöglich  ein  Edict  erlassen  werden,  das 
den  ganzen  Besitzstand  des  Reichs  umkehren  musste.   udu 


•)  HI,  169.    **)  III,  386. 


-H 


Deutschland  und  Gusto»  Adolf.  499 

sollten  die  Protestanten  nicht  das  Recht  haben,  sich  gegen 
diese  Auffassang  jenes  Paragraphen  zu  sträuben,  da  die  Ka- 
tholiken sich  durchaus  nicht  durch  die  Deklaration  gebunden 
hielten,  welche  in  demselben  Frieden  zum  Schutze  protestanti- 
scher Unterthanen   in  katholischen  Landen  aufgestellt  war? 
Endlich  galt  denn  nicht  das  ganze  Besenrat  nur  den  reichs- 
unmittelbaren Stiftern?  Die  landsassigen  Bisthümer  waren  ja 
im  Religionsfrieden  den  Landesberrn  ausdrücklich  anheim- 
gegeben.   Wie  durfte  der  Kaiser  dennoch  Bisthümer  wie 
Brandenburg  und  Havelberg,  Lebus  und  Schwerin,  die  nie 
reichsständisch  gewesen  waren  oder  schon  zur  Zeit  des  Re- 
ligionsfriedens, reformirt,  in  diesen  allgemeinen  Sturz  mit 
hineinziehen?  Mailath  hat  aus  dem  kaiserlichen  Staatsarchive 
einige    wichtige    Aktenstücke    mitgetheilt,    deren    Bekannt- 
machung man  ihm  nicht  genug  danken  kann.    Es  sind  zwei 
Verzeichnisse  aus  dem  Jahre  1630;  das  eine  „der  Abteien, 
Stifter  und  Klöster,  welche  in  dem  ober-  und  niedersächsi- 
schen Kreise  durch  die  Commissarien  vindicirt,  theils  resü- 
tuirt,  theils  noch  in  Administration  behalten  worden."  *)  Hier 
werden  mehr  als  120  Abteien  und  Klöster  aufgezählt,  be- 
legen im  Erzstifte  Bremen,  in  den  Sprengein  von  Halberstadt, 
Bildesheim,  Minden,  Verden,  in  den  Fürstenthümern  Braun- 
schweig, Lüneburg  und  Anhalt,  von  denen  65  bereits  ver- 
schiedenen Orden  zurückgestellt  waren,  oder  zu  diesem  Zwecke 
schon  administrirt  wurden;   mehr  als  60  andere  sollten  zu 
gleichem  Zwecke  noch  vindicirt  werden.    Es  ist  ein  dürftiges 
Namensverzeichniss  ohne  viel  Worte,  aber  dennoch  bemäch- 
tigt sich  auch  des  heutigen  Lesers  *  ein  Gefühl ,   das  etwas 
ahnen  lässt  von  jenem  Entsetzen,  das  damals  die  deutschen 
Protestanten  ergriff.    Mailath  hat  das  rechte  Wort  dafür  ge- 
funden, es  war  ein  Erdbeben,  das  einen  Theil  Deutschlands 
durchzuckte;    hatten  die  Protestanten  als  Beichsglieder  die 
Verpflichtung,  geduldig  zu  warten,  bis  ihre  Kirchen  einstürz- 
ten und  sie  zerschmetterten,  bis  sich  der  Boden  unter  ihren 
Füssen  aufthat,  sie  zu  verschlingen?  Als  Gommentar  zu  jenem 

*)  III,  166. 


600  Deutschland  und  Gustav  Adolf. 

mag  ein  anderes  Aktenstück  dienen ,  das  Gutachten ,  welches 
Pater  Lamonnain  im  Mai  1630,  also  etwa  acht  Wochen  tot 
der  Landung  Gustaf  Adolfs,  auf  Befehl  des  Kaisers  über  die 
Verwendung  der  eingezogenen  Güter  im  sächsischen  Kreise 
abgiebt.  *)    Es  lässt  einen  tiefen  Blick    in    die    katholische 
Politik  tbun,   es  wird  unverhüllt  ausgesprochen,   was  man 
bereits    erreicht    habe    und    noch    zu    erreichen    gedenke. 
Auch  zeigt  sich  deutlich  genug,   dass  es  gar  nicht  so  sehr 
um  die  abstracte  Herstellung  des  alten  Zustandes  zu  thun 
war,  wie  man  es  immer  wieder  hervorhob;  es  handelte  sieb 
darum,  einen  Theil  der  wiedergewonnenen  Klostergüter  den 
frühern  Besitzern  zu  entziehen  und  den  Jesuiten  einzuräumen. 
Es  wird  namentlich  hervorgehoben,  was  der  Kaiser  „zur  Aus- 
rottung der  Ketzerei  in  verschiedenen  Tbeilen  Deutschlands 
beschlossen  habe;   nämlich  Erneuerung  der  Pfarreien,  Er- 
richtung von  Seminarien  und  Gymnasien  für  die  Gesellschaft 
Jesu,  damit  die  Jugend  im  katholischen  Glauben  unterrichtet, 
und  die  Ketzerei   nicht  immer  fortgepflanzt  werde/'    Und 
wenn  der  Verfasser  mit  demüthiger  Drohung  schreibt:  „Ich 
werde  nicht  aufhören  bescheiden  daran  zu  erinnern,  so  lange 
zu  erinnern  bis  Abhülfe  geschafft  wird,  so  wie  ich  überzeugt 
bin,  dass  Ew.  Majestät  in  Folge  ihrer  ausgezeichneten  Fröm- 
migkeit wirksam  verlogen  werde,  dass  es  geschehe,"  so  kann 
man  ermessen,  welchen  Eindruck  diese  Worte  in  dem  Munde 
des  Beichtvaters  machen  mussten,  der  die  Seele  des  devoten 
Kaisers  wie  weiches  Wachs  zu  kneten  wusste. 

Wenn  diese  Maassregein  an  Ort  und  Stelle  durch  ein 
Heer  unterstützt  wurden,  wenn  der  Ghurfürst  von  Sachsen, 
der  Einzige,,  der  noch  im  Stande  gewesen  wäre,  mit  Erfolg 
dagegen  einzuschreiten,  sich  durch  den  wenig  zuverlässigen 
Trost  hinhalten  liess,  dass  man  auf  seine  Stifter  das  Resti- 
tutionsedict  nicht  ausdehnen  werde,  so  hätte' es  dem  Kaiser 
vielleicht  noch  gelingen  können,  auf  Grund  dieser  Macht  jene 
Aenderung  in  der  Verfassung  des  Reichs  herbeizuführen,  nach 
der  Ghurfürsten  und  Fürsten  auf  den  Standpunkt  zur  Zeit 

•)  III,  173. 


s 


Deutschland  und  Gustav  Adolf.  501 

Friedrichs  IL  zurückkehren  sollten.  Darf  man  jenes  bekannte 
Wort  Wallensteins:  „man  bedürfe  der  Chürfursten  und  Für- 
sten nicht  mehr,  man  müsse  ihnen  das  Gasthütel  abziehen," 
als  einen  Ausdruck  der  kaiserlichen  Absichten  betrachten,  so 
wird  man  allerdings  über  diese  keinen  Augenblick  zweifel- 
haft sein  können.  Erwägt  man  ferner  den  Zeitpunkt,  in  dem 
der  Kaiser  mit  seinem  Edicte  hervortrat,  den  er  wie  Leo 
sagt  unklug  gewählt  hatte,  so  war  auch  dieser  Umstand 
nur  geeignet,  das  Misstrauen  zu  verstärken,  dass  sich  noch 
Anderes  dahinter  verberge.  War  die  Frage  eine  rein  juri- 
stische, wofür  sie  doch  gelten  sollte,  handelte  es  sich  nur 
um  die  einfache  Wiederherstellung  des  Zustandes  zur  Zeit 
des  Religionsfriedens,  warum  erschien  es  in  einem  Augen- 
blicke, wo  der  Kaiser  die  Mehrzahl  der  deutschen  Prote- 
stanten als  Feinde  ansah,  wo  ihre  Kraft  gebrochen,  und  an 
einen  nachhaltigen  Widerspruch  nicht  zu  denken  war?  Und 
wie  wollte  der  Kaiser  jene  Machtbefugniss  der  Friedriche 
und  Heinriche  anders  erlangen,  als  durch  eine  Reibe  von 
eingreifenden  Maassregeln,  die  in  der  Ausführung  ent- 
schiednen  Gewaltthaten  sehr  ähnlich  gesehen  haben  würden? 
Menzel  findet  dies  freilich  nicht  nöthig,  er  meint,  es  hätte 
deren  nicht  bedurft,  aber  die  Wege,  die  man  ohne  das  hätte 
einschlagen  sollen,  giebt  er  doch  auch  nicht  an. 

Auch  die  katholischen  Stände  fingen  an  bei  den  Schrit- 
ten des  Kaisers  unruhig  zu  werden.  Die  Art  wie  der  Ghur- 
fürst  von  Baiern  für  die  Herzoge  von  Mecklenburg  und  na- 
mentlich den  von  Wolfenbüttel  auftrat,  zeigte  deutlich,  dass 
er  das  reichsständische  Element,  auf  dem  seine  eigene  Stel- 
lung ruhte,  in  jenen  angegriffen  fühlte.  Damit  war  freilich 
jener  Schlag,  der  durch  das  Restitutionsedict  gegen  die  Prote- 
stanten geführt  wurde,  noch  nicht  abgewendet,  denn  die 
einstweilige  Vertagung  einer  definitiven  Beschlussnahme  auf 
einen  abermaligen  Füfstentag  kann  wahrlich  nicht  als  die  be- 
ruhigende Maassregel  für  die  Protestanten  gelten,  zu  der  man 
sie  machen  will.  Die  Restitution  lag  zu  sehr  im  Interesse 
der  Katholiken;   es  kam  nur  auf  eine  Vereinigung  zwischen 

Zeitschrift  f.  Geschieht»«'.  IT.   1845.  34 


50?  Deutschland  und  Gustav  Adolf. 

den  Ständen  und  dem  Kaiser  an,  wie  weit  jeder  unmittelbar 
daran  Theil  nehmen  sollte. 

5.   HuttT  AMfr  Buchreltem. 

Um  endlich  die  Einmischung  Gustav  Adolfs  erklärlich  zu 
finden,  müssen  wir  noch  ein  Hai  auf  jene  allgemeine  Re- 
stauration des  Katholicismus  zurückkommen.  Auch  im  Osten 
und  Norden  waren  sich  die  beiden  kirchlichen  Principe  politisch 
entgegengetreten;  der  Krieg  zwischen  Polen  und  Schweden 
musste  wieder  beginnen,  so  lange  Siegmund  seine  Ansprüche 
auf  die  schwedische  Krone  nicht  aufgeben  wollte.    Die  An- 
sicht, dass  man  eigentlich  in  Deutschland  wie  in  Polen  des- 
selben Kampf  führe,  war  schon  damals  verbreitet;  man  bitte 
es  längst  erkannt,  dass  hier  wie  dort  derselbe  Gegensatt, 
nur  durch  die  nationalen  Verhältnisse  bedingt,   hervortrete. 
Zur  Zeit  des  Krieges  selbst  mochte  diese  Meinung  noch 
durch  die  Verhältnisse  der  Fürstenhäuser  an  Kraft  gewinnen, 
denn  der  Kaiser,  Siegmund  von  Polen  und  Philipp  III.  waren 
Schwäger.     Es  hatte  sich  dadurch   eine  dynastisch -katho- 
lische Kette  gebildet,  die  von  Westen  nach  Osten,  Spanien, 
Italien,     das    südliche    und    östliche    Deutschland,    Polen 
umfassend,   Europa   durchschnitt;    es   wurde  möglich,  iod 
Madrid  aus  Stockholm  zu  bedrohen.    Bereits  im  Jahre  Ifil 
wusste  der  chursächsische  Gesandte  von  einem  sogenannten 
„christlichen  Vertheidigungsbündniss"  katholischer  Machte  und 
Stände  zu  erzählen.  *)   Sogleich  beim  Ausbruche  des  Krieges 
haben  wir  Gombinationen  gesehen,  die  ganz  auf  diesem  Grunde 
ruhten,  und  nach  einem  Gesandtschaftsbericfate  von  1622  war 
sogar  ein  Schwärm  von  einigen  tausend  Kosaken  zu  Spinola's 
spanischem  Heere  gestossen.  **) 

Eben  darauf  beruhte  auch  ein  anderer  Plan,  der  schon 
früher  nicht  geradezu  versucht,  aber  doch  entworfen  war, 
von  dem  Meteeren  eine  Notiz  giebt.  War  er  gleich  weit- 
aussefaend,  fast  abenteuerlich,  so  beweist  er  doch,  wessen 
sich  die  protestantischen  Mächte  von  den  Katholiken  bereits 


*)  Müller,  böhm.  Krieg  p.  458.    **)  Raumers  Briefe  aus  Paris  I,  43. 


Deutschland  und  Gustav  Adolf.  503 

im  Anfange  des  17ten  Jahrhunderts  zu  versehen  hatten.  Schon 
vor  1598  hatten  die  Spanier  daran  gedacht,  den  Hafen'  Elfs- 
borg zu  besetzen,  und  von  hier  England  anzugreifen :  *)  mehre 
Jahrzehude  hindurch  habeu  sie  sich  mit  ähnlichen  Entwürfen 
getragen.  Meteeren  erzählt  **)  von  einer  jesuitischen  Corre- 
spondenz,  die  von  München  aus  um  das  Jahr  1605  geführt 
wurde,  und  ihm  vorgelegen  zu  haben  scheint.  Man  hatte  den 
Plan  gemacht,  Spanien  solle  einstweilen  einen  Waffenstill- 
stand mit  den  Niederlanden  schliessen,  sich  in  die  damaligen 
Feindseligkeiten  Danemarks  und  Schwedens  mischen,  zum 
Schutz  des  ersten  eine  Flotte  im  Sunde  erscheinen  lassen 
und  einen  Haupthafen  besetzen,  während  Polen  von  Osten 
her  einen  neuen  nachdrücklichen  Angriff  gegen  Schweden 
führe.  Gewiss  ein  meisterhafter  Plan!  Gelang  es,  diesen 
Schlag  gegen  das  Gentrum  der  ganzen  protestantischen  Welt 
zu  führen,  mit  sichrer  Hand  zu  führen,  es  ist  keine  Frage, 
das  ganze  Gebäude  musste  aus  den  Fugen  weichen,  unheil- 
bare Risse  und  Spalten  mussten  von  jenem  Punkte  nach  allen 
Seiten  hin  ausgehen.  Die  Protestanten  waren  politisch  über- 
flügelt, die  Niederlande,  Norddeutschland,  Schweden  waren 
überall  von  katholischen  Mächten  in  die  Mitte  genommen, 
die  sich  bald  auf  feindlichem  Boden  die  Hand  reichen  konn- 
ten. Schweden  kannte  die  Möglichkeit  einer  solchen  Com- 
bination  sehr  wohl  und  war  sich  auch  der  Gefahr  bewusst, 
wie  Carl's  IX.  und  Gustav  Adolfs  eigene  Aeusserungen  hin- 
reichend beweisen.  In  einer  eigenhändigen  Notiz  bei  Geijer 
'  sagt  jener:  der  König  von  Spanien  habe  gemeint  Helsingör 
zu  erhalten,  wenn  Siegmund  von  Polen  nach  Schweden  ge- 
kommen wäre;  und  dieser  schreibt  im  Juni  1625,  als  sich  das 
Gerücht  von  der  Ankunft  einer  spanischen  Flotte  im  Sunde 
erneuert  hatte:  „Wir  können  nichts  Anderes  vermuthen  als 
dass  es  auf  den  Ocresund  abgesehen  sei."  ***)  Und  das  war 
keine  leere  Furcht,  denn  noch  im  April  desselben  Jahres 
hatte  der  kaiserliche  Beichtvater  geschrieben,  Ferdinand  II.  habe 


•)  Ranke,  Päpste  II,  395.    *•)  ed.  Hag.  1634  f.  665  vers. 
***)  Gerjer  HI,  101.  131. 

34* 


504  Deutschland  und  Guttao  Adolf. 

geschworen ,  sich  des  Sundes  zu  bemächtigen.  *)  Schon  in 
den  letzten  Tagen  Cari's  IX.  wurden  auf  Betrieb  Polens  alle 
schwedische  Schiffe  in  spanischen  Häfen  als  Kriegsbeute  fort- 
genommen, und  man  dachte  ernstlich  an  die  Ausrüstung  einer 
spanischen  Flotte  in  Dänkirchen. 

Um  so  höber  konnte  Gustav  Adolfs  Besorgniss  steigen, 
als  der  Kaiser  in  dem  Kriege  Polens  und  Schwedens  offen 
Partei  gegen  ihn  ergriff.    In  der  Regel  sieht  man  in  der  Ai- 
sendung des  kaiserlichen  Hülfsheeres  unter  Arnim  im  Jahre 
1629  nur  eine  Vergeltung  für  Schwedens  unbefugtes  Ein- 
greifen in  die  deutschen  Verhältnisse  bei  der  Belagerung  tob 
Stralsund.    Aber  gerade  umgekehrt  stellt  es  sich,  wennsfl 
beachtet,    dass  schon  im  Jahre  16*27  ein  kaiserliches  Beer 
unter  dem  Herzoge  Adolf  von  Holstein  in  Polen  erschienen 
war  und  hinreichend  die  Gesinnungen  Ferdinands  IL  an  den 
Tag  gelegt  hatte. ")    Also  der  Kaiser  war  es,  nicht  Gusto? 
Adolf,   der  auf  dieser  Seite  zuerst  das  Schwert  zog;  *ber 
freilich  meistentheils  liebt  man  es,  diesen  ersten  Angriff  m'* 
Stillschweigen  zu  übergehen.    Gleichzeitig  finden  steh  noch 
Spuren  anderer  Pläne,  die  Gustav  Adolfs  Stellung  den  katho- 
lischen   Mächten    gegenüber    doppelt   gefährlich   erscheinen 
lassen.    Man  kann  von  den  hingeworfhen  Aeusserungen  Wr 
lenstein's  über  einen  grossen  Plan,  der  gegen  Gustav  Am 
im  Werke  sei,  wie  von  den  Anweisungen,  die  schwediaw 
Flotte  zu  verbrennen,  absehen,  beachtenswerth  auf  jedes  Fall 
bleibt  der  Briefwechsel,  den  er  1627  über  die  Absetzung  des 
Königs  von  Dänemark  und  dessen  Herbeiziebung  zum  Beicbe 
führt,  die  er  seiner  Versicherung  nach  mit  dem  Kaiser  münd- 
lich besprochen  hatte.***) 

Diese  Idee  möchte  abenteuerlich  erscheinen,  wenn  wir 
nicht  durch  ein  Aktenstück  erfuhren,!)  dass  solche  Ansicfi~ 
ten  keineswegs  vereinzelt  dastanden;  im  Norden  selbst  reg- 
ten sich  Erinnerungen  an  die  alte  Machtvollkommenheit  des 
Kaisers.   Im  März  1629  erschien  eine  feierliche  Gesandtschaft 


! 


*)  Solu  III,  263.      **)  Geijer  III,  127.  132.      **•)  Wallenstein's 
Briefe,  von  Förster.  I,  162.  168.    f)  Maitalh  III,  136.  ] 


Deutschland  und  Gustav  Adolf.  605 

des  Herzogs  Adolf  von  Holstein  in  Wien,  um  für  ihren  Herrn 
die  kaiserliche  Belehnung  mit  dem  dänischen  Antheil  jenes 
Herzogthumes  und  mit  dem  Königreiche  Norwegen  zu  fordern. 
Die  Denkschrift,  die  man  einreichte,  hatte  eine  sehr  historische 
Haltung;  die  Erinnerungen  an  die  alten  Kaiser  wurden  her- 
aufgeholt, wie  schon  früher  ihre  Einwirkungen  als  Oberlehns- 
herrn der  christlichen  Welt  bis  in  den  hohen  Norden  hinauf- 
gedrungen seien;  bis  zu  Otto  1.  ging  man  zurück.  Es  wurde 
daran  erinnert,  wie  schon  er  Bisassen  in  Norwegen  ernannt 
habe;  wie  Lothar  dem  Erzbischof  van  Hamburg  die  kirch- 
liche Jurisdiction  über  Dänemarks  Norwegen  und  Grönland 
übertragen,  Kaiser  Friedrich  I.  auf  einem  allgemeinen  Reichs- 
tage König  Waldemar  von  Dänemark  feierlich  mit  Norwegen 
belehnt  habe;  noch  Kaiser  Carl  IV.  habe  Waldemar  ernstlich 
daran  erinnert,  er  müsse  Dänemark  und  Norwegen  als  Lehen 
vom  Reiche  nehmen.  Diese  Ideen  erwachten  in  eben  dem- 
selben Augenblicke  mit  doppelter  Stärke,  als  Ferdinand  II.  in 
Deutschland  eine  Stellung  einnahm,  wie  sie  keiner  seiner 
Vorgänger,  auch  Carl  V.  nicht,  eingenommen  hatte;  er  war 
in  der  That  für  einen  Augenblick  auf  den  Standpunkt  eines 
älteren  Kaisers  zurückgekehrt.  Bei  Ranke  lesen  wir,  welche 
Ansprüche  er  gleichzeitig  in  Italien  erhob;  die  alten  kaiser- 
lichen Lehensrechte  sollten  hier  geltend  gemacht  werden,  in 
Bologna  sollte  der  Papst  feierlich  die  Kaiserkrönung  voll- 
ziehen. Auch  Preussen  dachte  man  wieder  zum  Reiche  zu 
bringen,  nach  Rusdorf  sprachen  es  die  kaiserlichen  Räthe 
unumwunden  aus,  man  werde  behalten,  was  dort  erobert 
werde.*)  Die  Frage  war  nur,  ob  sich  die  übrigen  Mächte 
Europa* s  diesem  Ansprüche  bequemen  würden,  noch  ein  Mal 
in  jene  Corporation  christlicher  Staaten  unter  dem  Kaiser 
als  ihrem  Oberhaupte  zurückzukehren. 

Bedachte  Gustav  Adolf  seine  Verhältnisse  zu  Polen,  die 
Hülfsleistungen  Ferdinande  II.  gegen  ihn,  die  Demonstrationen 
Spaniens  und  das  Schicksal  Dänemarks,  wusste  er,  in  seiner 
nächsten  Nachbarschaft  könne  sich  eine  Macht  festsetzen,  die 


')  Ranke,  Päpste  II,  548. 


506  Deutschland  und  Gustav  Adolf. 

auf  dem  Grande  kaiserlichen  Rechtes  ruhte,  so  war  er,  wenn 
es  dazu  kam,  politisch  überflügelt  Schwedens  Loos  war  ent- 
schieden, ohne  Krieg  oder  Niederlage  war  es  besiegt  Hierin 
lag  die  Notwendigkeit,  die  Gustav  Adolf  zum  Kampfe  trieb. 
Es  bedurfte  nicht  der  Vertreibung  eines  nah  verwandten 
Fürstenhauses,  nicht  der  Wegweisung  der  schwedischen  Ge- 
sandten vom  Lübecker  Congresse,  die  von  den  Schweden 
selbst  absichtlich  herbeigeführt  sein  mag,  oder  nicht  'Es 
bedurfte  dieser  Umstände  nicht,  die  der  wirklichen  Sach- 
lage gegenüber  nur  den  Charakter  der  Zufälligkeit  tragen;  es 
musste  dennoch  zum  Kriege  kommen.  In  vielen  Fällen  ist 
der  Angriff  nichts  als  eine  Vertheidigungsmassregel;  Gubr 
Adolf  befand  sich  in  dieser  Lage.  Politisch  ist  er  durchaus 
gerechtfertigt  und  confessionell  nicht  minder.  Leo  bemerkt, 
die  Betrachtung  dieses  Kampfes  gebe  ein  ganz  anderes  Resultat, 
je  nachdem  man  ihn  vom  schwedischen  oder  deutschen  Stand- 
punkte aus  ansehe.  *)  Wie  richtig  diese  Bemerkung  sei,  wird 
eben  durch  die  neue  Auflassung  des  dreissigjährigeo  Kriegs 
schlagend  bewiesen.  Wohl  ist  es  bekannt,  wie  der  einzelne 
Mensch  hat  auch  jedes  Volk  seine  eigentümliche  Be- 
trachtungsweise, zunächst  seiner  Nationalgeschichte,  und  diese 
wird  sich  wieder  in  der  Weltgeschichte  geltend  mache»- 
Das  ist  die  natürliche  Seite  der  Dinge;  es  kann  nicht  anders 
sein,  sie  muss  hervortreten,  nur  kommt  es  darauf  an,  welche 
Stellung  sie  zum  allgemeinen  Gedanken  in  der  Weltgeschichte 
einzunehmen  hat  Jenen  nationalen  Unterschied  der  An- 
sicht festhalten,  ihn  zu  einem  absoluten  erheben,  das  heisst 
die  Weltgeschichte  zerreissen  und  ihren  allgemeinen  Gehalt 
verkennen.  Schliessen  diese  natürlichen  Betrachtungsweisen 
wirklich  einander  aus,  so  giebt  es  eine  schwedische,  eine 
deutsche,  eine  französche  Auffassung  der  Geschichte  über- 
haupt, sie  haben  denselben  Stoff  aber  ganz  verschiedene 
Gesichtspunkte.  Eine  Verständigung  ist  nicht  mehr  möglich, 
es  endet  mit  einem  totalen  Atomismus.  Die  Menschheit 
als  solche  kann  über  ihre  Geschichte  nicht  zürn  Bewusstseio 

#)  III,  393. 


Deutschland  und  Gustav  Adolf.  507 

kommen,  man  denkt  nicht  nach  allgemeinen,  nein,  nur  nach 
schwedischen,  deutschen,  französischen  Gesetzen.  Da  ist  dies 
der  nationale  Gesichtspunkt  in  seiner  vollen  Gonsequenz. 
Kennt  die  schwedische  Geschichte  einen  andern  Gustav  Adolf, 
einen  andern  die  deutsche,  so  ist  es  die  Aufgabe  der  Welt- 
geschichte, diesen  Widerspruch  zu  heben. 

Gustav  Adolf  war  in  jenem  Augenblicke  der  einzige  Ver- 
treter des  protestantischen  Princips  und  der  darauf  ruhenden 
Staaten,  ynd  dass  seine  besondere  Entwicklung  hier  mit  der 
allgemein    geschichtlichen    einen    Augenblick    zusammenfiel, 
dass  er  dies  ahnte,  darin  eben  liegt  seine  Grösse,  seine  welt- 
historische Bedeutung,  die  für  Schweden  keine  andere  als  für 
Deutschland   sein   kann.      Also   bat  Schweden    vollkommen 
Recht,  das  Andenken  seines  Königs  zu  feiern,  eine  Feier,  die 
wir  auch  aas  dem  heutigen  Gesichtspunkte  weder  für  trivial 
noch  für  bornirt  schwedisch  halten  können,  und  vom  natio- 
nalen Standpunkte  wird  man  dies  am  wenigsten  bestreiten 
dürfen.    Aber  dies  Recht  Schwedens  beruht  zunächst  nicht 
darauf,   dass   Gustav  Adolfs   Persönlichkeit   ihm   angehörte, 
vielmehr  darauf,    dass   sich   durch  ihn  die  nationale  Kraft 
entwickelte    und    zu    einer    welthistorischen    Höhe  ,  erhob 
Denn  die  wahrhaft  nationalen  Momente   in  der  Geschichte 
eines   Volks    sind    immer  auch   die   welthistorischen.      Die 
Augenblicke,   wo  es  seine  innere  Energie  bis  zur  höchsten 
Kraftäusserung  entwickelt,    wo  das  Leben    in  den  vollsten 
Schlägen  pulsirt,    wo   das  Volksgefühl   durch   die  Erschei- 
nung  befriedigt   wird    und    dessen    sich    bewusst   ist,    das 
sind   auch    die   nationalen   Momente.      Es   sind   diejenigen, 
in  denen  ein  Volk  sich  unmittelbar   in  der  Weltgeschichte 
betheiligt,  es  ist  der  Punkt,  wo  Weltgeschichte  und  Volks- 
geschichte zusammenfallen.     Die  welthistorischen  Momente, 
welche    die    vollste    Kraftentwicklung    verlangen,     werden 
darum  auch  immer  die  wahrhaft  nationalen  sein.    Deutsch- 
lands Reformation,   Englands  und  Frankreichs  Revolutionen 
sind  von  welthistorischer  Bedeutung,  darum  sind  sie  national 
im  prägnanten  Sinne  des  Worts.    Aber  andererseits  kann  eine 
Begebenheit,  eine  Person  sehr  national  sein  im  gewöhnlichen  * 


608  Deutschland  und  Gustac  Adolf. 

Sinne ,  darum  ist  sie  noch  lange  nicht  welthistorisch,  viel- 
mehr das  nur  nationale  ist  nicht  welthistorisch  und  darum 
in  letzter  Instanz  betrachtet  auch  wiederum  nicht  national. 
Aber  die  allgemeine  Wichtigkeit  jenes  Moments,    in   dem 
Gustav  Adolf  landete,  ruht  nicht  weniger  in  der  confessio- 
nellen  als  in  der  politischen  Bedeutung,  und  das  ist  es,  was 
man  mit  Heftigkeit  heute  bestreitet,   was  man  so  gern  für 
eine  der  gutmüthigen  Faseleien  ausgeben  möchte,  deren  sich 
die  Deutschen    selbst  so  viele  vorzuwerfen  pflegen.     Wir 
lassen  un erörtert,  ob  solcher  Vorwurf  irgendwo  an  seiner 
Stelle  ist;  dass  er  hier  ungerecht  erhoben  wird,  davon  sind 
wir  aufs  Innigste  überzeugt    Gelang  es,  Gustav  Adolf  po- 
litisch zu  entwaffnen,  so  war  damit  unmittelbar  der  Prote- 
stantismus im  Norden  Europa's  gestürzt;  mit  Siegmunds  Re- 
stauration in  Schweden  war  auch  dort  der  Katholicismus  her- 
gestellt, die  Protestanten  fanden  auf  dem  ganzen  europäischen 
Continente  keinen  legalen  Ausdruck  mehr,   keine  staatliche 
Existenz.   Dass  dies  nicht  so  kam,  ist  zunächst  Gustav  Adolfs 
Werk,  das  wird  die  Geschichte  immer  anzuerkennen  haben, 
das  werden  auch  wir,    nicht  aus  leerer  Nachbeterei,  son- 
dern mit  vollem  Bewusstsein  anzuerkennen  haben,  auch  für 
Deutschland   war  er  der  Restaurator   des  Protestantismus. 
Er  bleibt  es  darum  nicht  weniger,  auch  wenn  das  spätere 
wüste  Hausen  der  Schweden  ein  schweres  nationales  Un- 
glück war. 

Noch  wäre  eines  anderen  Motivs  bei  Gustav  Adolfs  Auf- 
treten in  Deutschland  zu  gedenken,  auf  das  namentlich  Bart- 
hold ein  sehr  grosses  Gewicht  gelegt  hat,  es  ist  die  französi- 
sche Diplomatie,  die  den  Frieden  mit  Polen  vermittelte,  um 
dem  Könige  freie  Hand  zu  schaffen.  Gewiss  ein  sehr  wesent- 
liches Moment,  das  aber  doch  nicht  einzig  aus  dem  Gesichts- 
punkte derlntrigue  anzusehen  ist,  die  etwa  zuletzt  noch  diesen 
nordischen  Bären  von  der  Kettd  losgelassen  hätte,  um  ihn 
auf  das  blutende  und  zertretene  Deutschland  als  sein  Schlacht- 
opfer zu  hetzen.  Freilich  spielt  die  französische  Diplomatie 
späterhin  eine  nur  zu  bedeutende  Rolle,  aber  ihr  damaliges 
Auftreten  ruht    doch    auf    einer  Grundlage,    die   Barthold 


Deutschland  und  Gustav  Adolf.  509 

selbst  nicht  verkennt.  Nicht  darum,  weil  Frankreich  einen 
Traktat  mit  Schweden  abgeschlossen  wird  beider  Sache  eine 
gemeinschaftliche;  es  war  ein  Schritt,  der  von  beiden  Seiten 
im  augenblicklichen  politischen  Interesse  geschah.  Es  war 
nur  die  Fortsetzung  jener  Kämpfe,  die  zur  Zeit  der  Refor- 
mation diesen  Charakter  angenommen  hatten.  Die  mehr 
kirchliche  Opposition  gegen  Oestreich,  welche  die  Protestan- 
ten aufgegeben  hatten,  übernahm  Schweden;  Richelieu  fuhr 
im  Geiste  Franz  I.  fort,  die  rein  politische  Seite  dieses 
Kampfes  zu  vertreten. 

Einen  anderen  Versuch  hat  Mailath  gemacht,   um  die 
Landung  Gustav  Adolfs  in  der  That  als  überflüssig   dar- 
zustellen.   Er  glaubt  zu  erkennen,  dass  der  Kaiser  in  Folge 
des  Regensburger  Reichstages  durch  Verabschiedung  Wallen- 
steins  und  seines  gefiirchteten  Heeres  freiwillig  von  seiner 
Siegerhöhe  herabgestiegen  sei.     Aus  ursprünglicher  Gross- 
muth  habe  er  Verzicht  geleistet  auf  alle  Erfolge  der  letzten 
Jahre,  damit  sei  allen  Anforderungen  der  Reichsstände  genug 
geschehen,  jeder  Anlass  zum  Kriege  entfernt  worden.    Da 
erscheint  Gustav  Adolf,  und  das  Opfer,  welches  der  Kaiser 
dem  Reiche  gebracht  hatte,   ist  vergeblich.     Es  ist  schwer 
auszumachen,  in  wie  weit  Ferdinands  Renehmen  aus  reiner 
Grossmuth  hervorgegangen  sei,  ob  sich  überhaupt  auf  eine 
Stellung,  die  eine  Folge  politischer  Gombinationen  ist,  ohne 
Weiteres   resigniren   lässt.     Auf  jeden  Fall   verfolgte  auch 
der  Kaiser  seinen  speciellen  Zweck,  die  Wahl  seines  Sohnes 
zum  römischen  Könige.    Am  '23sten  Juni  1630  wurde  der 
Reichstag   eröffnet     Allerdings   landete  Gustav  Adolf  zehn 
Tage  später,  am  24sten  Juni  alten  Stils,  aber  Wallensteins 
Entlassung  war  damals  durchaus    noch   nicht  ausgemacht, 
noch  im  September  stand  man  mit  ihm  in  Unterhandlungen.  *) 
Auch  hätte  Mailath   aus  Ranke's  Ruch   hinreichend  wissen 
können,  dass  es  zuletzt  die  französich-baierische  Politik  war, 
die  den  Kaiser  gegen  Wailenstein  stimmte. 


*)  Menzel  VII,  260.    Am  19.  September  1630  kam  Wallenstein 
als  abgesetzter  General  durch  Nürnberg:  s.  Murr's  Tagebuch. 


610  Deutschland  und  Chutac  Adolf. 

t.   Gustav  Adolfe  Entwürfe  und  Charakter. 

Wir  haben  den  Ausgangspunkt  Gustav  Adolfs  betrachtet, 
fassen  wir  auch  das  Ziel  in's  Auge,  das  er,  nicht  von  vorne 
berein,  sondern  während  seiner  Siegeslaufbahn,  von  Glück 
und  Talent  getragen,  sich  gestellt  hatte.  Man  hat  von  jeher 
die  Frage,  was  Gustav  Adolf  unternommen  haben  würde, 
wenn  er  bei  Lützen  nicht  gefallen  wäre,  mit  einer  gewissen 
Vorliebe  behandelt;  ob  er  ein  protestantisches  Kaisertum 
gegründet,  ob  er  in  die  Erbstaaten  Oestreichs  vorgedrungen 
sein  würde  u.  s.  w.  Nach  Neigung  und  Parteinahme  sind 
von  jener  Zeit  bis  auf  unsere  Tage  diese  Fragen  verschieden 
beantwortet  worden.  Die  Vorsehung  hat  ihn  gütig  vor  einer 
schmählichen  Enthüllung  seiner  Plane  bewahrt,  sagt  Bart- 
hold.  Vom  rein  historischen  Standpunkte  aus  betrachtet,  bat 
die  Frage  an  sich  keine  höhere  Bedeutung  als  jene  andere 
dieser  Art,  wie  sie  Livius  aufwarf,  was  geschehen  sein 
würde,  wenn  Alexander  der  Grosse  nach  Italien  gtg*°8e0 
und  mit  den  Römern  zusammengetroffen  wäre.  Es  m*g aD- 
ziehend  sein,  sich  dergleichen  Möglichkeiten  aufzustellen  und 
sie  wie  ein  Problem  zu  lösen.  Man  kann  es  zugestehen»  w 
den  ruhigen  Zuschauer,  vor  dessen  Auge  sich  die  kämpfe0" 
den  Kräfte  entwickeln,  mag  es  einen -eigenen  Reiz  haben«  # 
ihre  Aeusserungen  auf  den  höchsten  Punkt  gesteigert  fl 
denken  und  von  da  aus  weitere  Combi naüonen  zu  machen 
Eben  auf  diesem  äussersten  .Punkte  musste  sich  die  inner* 
Energie,  das  Wesen  am  consequentesten  offenbaren»  wie  man 
sich  auch  Napoleon  mit  seiner  grossen  Armee  am  Indus  und 
Ganges  im  Kampfe  gegen  England  gedacht  bat  Dergleichen 
mag  sonst  nicht  uninteressant  sein,  nur  für  historisch  jnus* e* 
sich  nicht  ausgeben  wollen,  unmöglich  kann  ein  Abstrahlen 
vom  wirklich  Geschehenen,  ein  Hinaustreten  von  dem  ft"'00 
Boden  in  die  Welt  willkürlicher  Phantasieen  dafür  gelten. 
Doch  am  meisten  wird  man  sich  dagegen  verwahren  müssen* 
wenn  dergleichen  Möglichkeiten  gebraucht  werden  sollen» 
um  darauf  Anklagen  und  Verdächtigungen  der  Person  z 
gründen«    Freilich  steht  hier  der  Fall  anders,   wir  w,6Sen 


Deutschland  und  Gustat  Adolf.  511 

es  aus  positiven  Zeugnissen,  Gustav  Adolf  hatte  allerdings 
weitere  Pläne.  Dies  könnte  somit  bei  einer  Würdigung 
seines  Charakters  in  Betracht  kommen,  doch  was  erfolgt  sein 
würde,  wenn  er  am  Leben  geblieben  wäre,  scheint  darum 
vom  welthistorischen,  selbst  schon  vom  nationalen  Gesichts- 
punkte aus  nicht  weniger  gleichgültig. 

Dass  Gustav  Adolf  mit  weit  aussehenden  Eroberungs- 
plänen nach  Deutschland   gekommen  sei,    steht  weder  aus 
historischen  Zeugnissen  fest,  noch  scheint  es  nach,  der  ganzen 
Lage  der  Verhältnisse  glaublich.    Aber  allerdings  haben  die 
Siege,  die  er  davon  trug,  allmählich  weiter  greifende  Ent- 
würfe in  ihm  hervorgerufen;  nach  seinen  eigenen  mündlichen 
wie  schriftlichen  Aeusserungen  kann  man  nicht  daran  zwei- 
feln.   Doüh  ist  darauf  zu  achten,  dass  es  ein  deutscher  Fürst 
war,  der  auf  die  goldene  Frucht,  die  Gustav  Adolf  brechen 
könne,  wenn  er  wolle,  zu  einer  Zeit  hinwies,  wo  es  sehr 
fraglich  war,  ob  sich  der  König  überhaupt  auf  deutschem 
Boden  werde   behaupten   können.     Der  von  vielen  wegen 
seiner  Deutschheit   hochgepriesene  C hurfürst  Johann  Georg 
yon  Sachsen  war  es,  der  nach  sonst  bekannten  Nachrichten, 
die  durch  einen  Brief  des  Salvius  vom  October  1631  *)  be- 
stätigt werden,   „sich  präsentirt  als  derjenige,   der  traulich 
rathen  und   helfen   wolle,   dass  Sr%  Majestät  die   römische 
Krone  auf  das  Haupt  gesetzt  werde."    Später  traten  der- 
gleichen Pläne  freilich  offener  auch  von  schwedischer  Seite 
hervor;    so  in  den  Friedensvorschlägen,  die  zu  Anfange  des 
Jahres  1632  durch  den  Druck  verbreitet  wurden.   Ferner  ein 
höchst  merkwürdiges  Actenstück,  dessen  diplomatischer  Zweck 
freilich  ganz  unbekannt  ist,  beginnt  mit  den  Worten:  „das 
höchste  und  letzte  Ziel  aller  Handlungen  ein  neu  evangelisch 
Haupt;   das  vorletzte,  neue  Verfassung  unter  den  evangeli- 
schen Ständen  und  solchem  Haupte."  ")  Und  ausser  manchen 

*)  Geijer  III,  249. 
**)  Norma  fulurarum  actionum,  welche  die  Königl.  Majestät  zu 
Schwaden  dictirt.    Söltl  III,  275.    Nähere  Angaben  über  die  Ori- 
ginale der  von  Söltl  herausgegebenen  Actenstücke  vermisst  man 
nur  ungern. 


512  Deutschland  und  Gustat  Adolf. 

anderen  Andeutungen  wäre  auch  jener  Vorschläge  an  die  pol- 
nischen Dissidenten  zu  gedenken,  in  denen  Gustav  Adolf  sich 
sogleich  die  Möglichkeit,  die  polnische  Krone  zu  erlangen, 
offen  halten  will.     Dennoch  kann  man  nicht  leugnen,   alle 
diese  Vorschläge  haben  noch  etwas  sehr  Vages  und  Gestalt- 
loses, oder  wie  Barthold  sagt,  Romanhaftes.    Hinsichts  jener 
Absichten  auf  Polen  darf  es  nicht  unbeachtet  bleiben,  dass 
Gustav  Adolf  selbst  in  einem  Briefe  anOxenstierna  darauf 
völlig  verzichtet,  da  er  vollkommen  mit  der  Last  einer  Re- 
gierung genug  habe.    Aber  seine  Meinung  ist  allerdings,  es 
könne  politisch  nützlich  sein,  den  Glauben  an  seine  Bewer- 
bung festzuhalten.  *)    Auch  scheint  der  Ausdruck  „protestan- 
tischer Kaiser"  eben  nur  gebraucht,  um  fdr's  Erste  kurz  die 
politischen  Schöpfungen .  zu  bezeichnen,    die  Gustav  AdoU 
etwa  wirklich  im  Auge  hatte.    Ein  Kaiserthum  entsprechend 
dem  alten  ständisch  gegliederten,  und  dennoch  auf  prote- 
stantischem Principe  ruhend,  scheint  ein  Unding,  das  niemals 
hätte  in's  Leben  treten  können.   Es  widersprach  dem  inner- 
sten  Wesen  des  Protestantismus,    einen   solchen  politisch 
kirchlichen  Körper  zu  bilden.    Auf  der  freisten  localen  Ent- 
wicklung und  Autonomie  ruhte  seine  ganze  Kraft;  er  konnte 
sich  von  dieser  eben  erworbenen  Summe  nichts  abziehen  lassen, 
um  über  sich  eine  neue.kirchlich  politische  Instanz  zu  schif- 
fen, gegen  die  er  im  nächsten  Augenblicke  sich  wieder  er- 
heben musste. 

Am  klarsten  sind  vielleicht  Gustav  Adolfs  Pläne  in  den 
Correspondenzen  ausgesprochen,  die  nach  seinem  Tode  über 
die  mögliche  Verbindung  seiner  Tochter  mit  dem  Churprin- 
zen  von  Brandenburg  geführt  wurden,  es  ist  „das  Dominium 
über  die  Ostsee."  Diese  Küstenländer  in  einer  Hand  vereint, 
hätten  allerdings  eine  sehr  bedeutende  nordische  Macht  ge- 
bildet, die  aber  gewiss  sehr  bald,  wie  Stenzel  mit  Recht  be- 
merkt, vielmehr  einen  deutschen  als  schwedischen  Charakter 
annehmen  musste.  Dies  war  ein  Plan,  auf  den  Schwedens 
ganze  politische  Stellung,  sein  Verhältniss  zu  Polen  und  Russ- 


*)  Geijer  III,  249. 


Deutschland  und  Gustav  Adolf.  £13 

land  binzuleiten  schien;  dass  Gustav  Adolf  ihn  gehabt,  wird 
ihm  vom  nationalen  Standpunkte  aus  am  wenigsten  vorge- 
worfen  werden  dürfen.  Ungerecht  aber  scheint  es,  seine 
ganze  Laufbahn  nur  von  diesem  möglichen  Endpunkte  aus 
betrachten  zu  wollen,  diesen  zu  gebrauchen,  um  seinen 
Charakter  zu  verdächtigen,  seine  übrigen  Thaten  als  ein  Werk 
eroberungssüchtiger  Willkür  darzustellen,  und  ihre  welt- 
historische Bedeutung  gänzlich  zu  leugnen.  Jene  Absich- 
ten erscheinen  vielmehr  nur  als  ein  nationales  Gegengewicht 
gegen  die  des  Kaisertums.  Jedes  confessionelle  Princip 
hatte  noch  den  innersten  Trieb,  sich  gewissermaassen  er- 
obernd auszudehnen,  eine  so  breite  Grundlage  als  möglich 
zu  gewinnen.  Jede  politische  Eroberung  war  ein  Fortschritt 
der  Confession,  jeder  confessionelle  Umschwung  war  mit 
politischen  Umgestaltungen  verbunden.  Die  katholische  Par- 
tei warf  ihr  Auge  auf  den  Sund,  Dänemark,  Norwegen;  die 
protestantischen  Gegner  griffen  jetzt  nach  den  katholischen 
Btsthümern,  wie  das  kaiserliche  Restitutions-Edict  nach  den 
reformirten  Stiftsländern  gegriffen  hatte.  Eigentliche  Er- 
oberungssucht wird  man  weder  den  Vertretern  des  Katho- 
licismus  noch  des  Protestantismus,  weder  Ferdinand  11.  noch 
Gustav  Adolf  zum  Vorwurfe  machen  können,  sie  ruhten 
beide  auf  einem  bestimmt  politisch  wie  kirchlich  ausgepräg- 
ten Principe,  das  sie  beide  mit  der  vollsten  Kraft  innerer 
Ueberzeugung  erfasst  hatten.  Es  war  ihre  persönliche,  eigene 
Natur,  die  sich  darin  aussprach.  Auch  ist  durchaus  kein 
triftiger  Grund,  vorhanden,  Gustav  Adolfs  persönliche  Ueber- 
zeugung, die  Lauterkeit  und  Aufrichtigkeit  seiner  Gesinnung 
in  Zweifel  zu  ziehen,  oder  ihn  schlechtweg  als  Heuchler  zu 
bezeichnen.  Alle  Aeusserungen,  die  über  Gegenstände  dieser 
Art  von  ihm  überliefert  sind,  sprechen  das  vollste  protestan- 
tisch christliche  Bewusstsein  aus.  Vom  neuen  Standpunkte 
aus  hat  man  ihm  das  Zugeständniss  der  Tüchtigkeit  und  auch 
wohl  der  Frömmigkeit  wie  eine  Art  Almosen  zugeworfen, 
um  sich  damit  weitere  Zugeständnisse  abzukaufen.  Achsel  - 
zuckend  giebt  man  ihm  zu,  was  die  Historiker  jener  Zeit 
mit  hoher  Bewunderung  erfüllte,  man  geizt  mit  einer  per- 


514  Deutschland  und  Gustav  Adolf. 

»unlieben  Anerkennung,  die  ihm  die  heutigsten  Schriftsteller 
der  Gegenpartei  nicht  zu  entliehen  wagten.  Man  bat  die 
katholischen  Historiker,  die  in  seinem  Lobe  einig  sind,  oft 
genug  aufgezählt,  man  thüte  wohl  sich  dieser  Zeugnisse  zu 
erinnern,  und  nicht  minder  sollte  man  sich  jenes  öfter  an- 
geführte Wort  in  das  Gedächtnis»  zurückrufen,  welches  der 
Kardinal  Carafla  sprach,  der  gewiss  zu  den  ersten  Gegnern 
Gustav  Adolfs  gehörte.  Es  ist  ein  Wort,  das  in  seiner  epi- 
grammatischen Kürze  für  eine  Gedenktafel  gelten  kann: 
Gustavus  rex  cui  parem  Suecia  nullum,  Europa  paueos  dedit 
Auch  auf  das  Zeugniss  eines  anderen  Zeitgenossen,  Andreae's, 
dessen  Memoria  uns  kürzlich  durch  einen  neuen  Abdruck  in 
das  GedScbtniss  zurückgerufen  worden  ist,*)  mag  ^erstattet 

sein,  hinzuweisen.    Vielleicht  wird  man  von  vorn   herein 

* 

den  befangenen  lutherischen  Geistlichen  nicht  als  vollgültigen 
Zeugen  annehmen  wollen;  mindestens  wird  er  bekräftigen, 
dass  die  damaligen  Protestanten  Gustav  Adolf  noch  nicht  als 
den  Reichsfeind  ansahen,  oder  der  Meinung  waren,  sie  hat- 
ten auch  wohl  ohne  ihn  errettet  werden  können. 

Und   wie  fest  Gustav  Adolf  selbst  im   confessionellen 
Standpunkte  wurzelte,  auch  das  ist  keine  seiner  geringsten 
Tugenden,  dass  er  praktisch  die  Möglichkeit  eines  friedlichen 
Nebeneinanderlebens,  einer  bürgerlichen  Ausgleichung  bcMer 
(Konfessionen  vorhersah  und   sie  persönlich  in  Deutschland 
schon  auszuüben  suchte,   was   ihm  protestantische  Zeloten 
damals  nicht  wenig  verdachten  und  als  die  irdische  Weisheit 
bezeichneten,  die  vor  Gott  zur  Thorheit  geworden  sei.    Man 
wendet  ein,  in  seinem  eignen  Lande  sei  er  intolerant  ge- 
wesen.   Wer  es  natürlich  findet,  dass  Ferdinand  II.  die  Prote- 
stanten aus  seinen  Erbstaaten  als  ein  politisch  gefährliches 
Element  um  jeden  Preis  fortzuschaffen  suchte,  der  wird  ge- 
gen Gustav  Adolfs  Verfahren,  durch  das  er  das  Lutherthum 
zu  sichern  suchte,  nichts  einwenden  können.    Und  gewiss 
war  des  Kaisers  Stellung  als  Herrscher  den  Protestanten 


*)  Gustavi  Adolphi  Suecorum  regis  memoria  ex  J.  V.  Andreae 
elogüs  redintegrandam  curavit  Rbeinwald.    Berolini  1844. 


Deutschland  und  Gustaf)  Adolf.  515 

gegenüber,  lange  nicht  so  gefährdet  als  die  des  Königs  durch 
seine  Verhältnisse  zu  Polen  und  den  Katholicismus  daselbst 
Dies  fährt  uns  auf  einen  änderen  Punkt,  der  hier  noch 
zu  erörtern  wäre.    Es  sind  zwei  Beiwörter,  die  Barthold  in 
seinem   Eifer  Gustav  Adolf  beilegt:   einmal   nennt  er  '  ihn 
revolutionair  dem  Reiche  gegenüber,  und  an  einer  anderen 
Stelle  einen  illegitimen  König.")    Wer  wüsste  nicht,  ~dass 
beide  Schlagwörter  aus  der  modernen  Parteisprache  entlehnt 
sind,    wo  sie  so  ziemlich  die  Geltung  eines  Anathems  ha-* 
ben.    Fast  möchte  man  meinen,  es  sei  die  Absicht  gewesen, 
dem  Andenken  Gustav  Adolfs  auch  noch  dies  warnende  und 
absehreckende  Mal  zu  guter  Letzt  aufzudrücken,    lieber  die 
Bedeutung,   die  man  hier  dem  Revolutionair  beilegen  soll, 
kann    man    zweifelhaft    sein.     Soll   es    nur    heissen:    des 
Königs  Einschreiten  habe  eine  wesentliche  Aenderung  der 
Reichsverfassung  veranlasst,  so  werden  alle  Kriege,  die  solche 
Folgen  nach  sich  ziehen,  Revolutionskriege,  wer  sie  veran- 
lasst, ein  Revolutionair  zu  nennen  sein.    Dann  waren  auch 
die  alliirten  Mächte  revolutionair,  als  sie  durch  ihre  Siege 
eine  Aenderung  der  Verfassung  Frankreichs  herbeifährten. 
Ist  es  in  diesem  Sinne  gemeint,  so  erscheint  jenes  Beiwort 
überflüssig,  wenn  in  dem  Sinne  unserer  Zeit,  so  liegt  eine 
grosse  Ungerechtigkeit  darin.    Dass  Gustav  Adolf  bei  seinem 
Kriege  gegen  den  Kaiser  staatsrechtlich  zu  Werke  gegangen 
sei,  wird  schwerlich  irgend  ein  Schriftsteller  damaliger  Zeit 
bezweifelt  haben.    Er  handelte  als  selbstständiger  Fürst  einem 
anderen  selbstständigen  Fürsten  gegenüber;  oder  soll  es  etwa 
auf  die  Entwürfe  gehen,  die  er  in  der  Stille  hegte?    Es  ist 
wunderbar,  Gustav  Adolf  wird  zum  Revolutionair,  wahrend 
man  gleichzeitig  Philipp  IL  zum  legalsten  König  zu  machen 
sucht,  Philipp  IL,  der  sich  den  Niederländern  gegenüber  ge- 
wiss in  einer  viel  mehr  revolutionären  Stellung  befand,  wenn 
doch  einmal  dieses  Wort  gebraucht  werden  soll.    Unzwei- 
deutiger ist  die  Anklage,  die  in  dem  Beiwort  illegitim  liegt. 
Sie  ist  darauf  berechnet,  Gustav  Adolf  gleich  von  vorne  herein 
- "  '  -  * 

#)  I,  5.  40. 


516  Deutschland  und  GumUw  Adolf. 

die  rechtliche  Grundlage  zu  rauben,  von  der  aus  er  handelt 
Ist  diese  erschüttert,  so  wird  ja  wohl  Alles  von  selbst  zu- 
sammenstürzen, was  darauf  erbaut  ist    Aber  weder  nach 
den  Begriffen  unserer  noch  jener  Zeit  kann  der  König  für 
illegitim  gehalten  werden.  Durch  einen  Wahlakt  der  schwedi- 
schen Reichsstände  war  die  Krone  an  Gustav  Wasa  gekom- 
men, das  Wahlkönigthum  war  durch  einen  zweiten  bei  die- 
sem, wie  bei  Gustav  Adolf  selbst  in  ein  erbliches  verwandelt 
worden.    Das  erbliche  Recht  von  seinem  Vater  her  und  das 
der  ständischen  Wahl   ruhten  auf  ihm,  durch   sie  war  er 
König.    Siegmund's  Ansprüche  waren  rechtlich  erloschen, 
nicht  etwa,  weil  er  vertrieben  worden  war,  sondern  weil  er 
durch  die  That   verzichtet  hatte.     Den  günstigen    Vertrag 
von  Linköping  hatte  er  gebrochen,  die  Aufforderungen  der 
schwedischen  Reichsstände  zurückzukehren  und  seines  Reichs 
zu  wahren,  hatte  er  unbeantwortet  hingenommen,  die  letzte 
Frist  unthätig  vorbeigehen  lassen.     Es  lag  in  seinem  Ver- 
fahren eine  schweigende  Resignation.    Und  nehmen  wir  den 
Regriff  der  Legitimität  in  seiner  ganzen  Consequenz,  war  er 
denn  der  legitime  König?    Er  wie  Gustav  Adolf  hatten  erb- 
liche Ansprüche  an  die  Krone;  Johann  wie  Carl  IX.  war  sie 
durch  einen  ständischen  Akt  übertragen  worden;   nur  jener 
glaubte  sich  ihren  Besitz   durch  einen  Brudermord   sichern 
zu  müssen,  um  eine  ganz  antinationale  Richtung  einzuschla- 
gen.   Wer  war  hier  der  Illegitime?   War  es  Gustav  Adolf, 
wahrlich  Siegmund  war  es  nicht  minder. 

Noch  eine  allgemeine  Bemerkung  scheint  hier  an  ihrer 
Stelle:  die  Urtbeile,  welche  Gustav  Adolfs  Charakter  hat  er- 
fahren müssen,  leiten  unmittelbar  darauf  bin.  Es  ist  klar, 
welchen  ungemein  schwierigen  Boden  die  historische  Kritik 
betritt,  wenn  sie  Charaktere  richten  will,  und  sich  mit  ihrem 
moralischen  Werthe  oder  Unwerthe  zu  schaffen  macht,  wenn 
sie  jenen,  umzustossen  oder  diesen  zu  erweisen  sucht  Eine 
viel  leichtere  Aufgabe  hat  sie,  wo  es  darauf  ankommt,  den 
Thatbestand  eines  einzelnen  Facturus  zu  ermitteln,  selbst  wo 
es  sich  um  die  Entwicklung  eines  ganzen  Zeitabschnittes, 
um  die  Darlegung  einer  Reihe  gewisser  Ideen  handelt    Aus 


Deutschland  und  Gustav  Adolf.  517 

dem  Studium  einer  bestimmten  Periode,  aus  der  Art,  wie 
allgemeine  Gesetze  hier  zur  Erscheinung  kommen,  ergiebt 
sich  ein  höherer  Standpunkt,  von  dem  aus  man  verwerfen 
und  gegen  einseitige  Ueberlieferungen  ein  neues  Resultat 
gewinnen  kann.  Aber  wo  die  historische  Kritik  vom  allge- 
meinen Boden  auf  den  psychologischen  hinübertreten  will, 
stellt  sich  ihr  eine  man  möchte  sagen  incommensurable  Grösse 
entgegen,  die  sich  ihren  Berechnungen  widerwillig  entzieht.. 
Dies  ist  die  moralische  Freiheit  des  Einzelnen.  Hier  kann  die 
Kritik  nur  so  weit  kommen,  als  sie  sich  wirklich  an  histori- 
sche Zeugnisse  hält;  wo  sie  aber  in  einer  ganz  bestimmten 
Auffassung  politischer  oder  religiöser  Verhältnisse  die  vorhan- 
denen Aussagen  für  ungültig  und  befangen  erklärt,  um  sich 
selbst  moralisch  zu  Gerichte  zu  setzen  und  Lohn  und  Strafe 
auszutheilen,  wird  sie  für  durchaus  incompetent  erklärt  wer- 
den müssen.  Sie  untergräbt  selbst  den  festen  Boden,  auf 
dem  sie  steht;  sie  nimmt  Principien  in  sich  auf,  durch  die 
man  die  Geschichte  überhaupt  vernichten  kann;  sie  wird 
Unkritik.  Soll  man  irgendwo  der  allgemeinen  Tradition,  wie 
sie  im  geschriebenen  Worte  sich  fortpflanzt,  Werth  und  Ge- 
wicht beilegen,  so  muss  es  in  Charakterschilderungen  ge- 
schehen. Nichts  wirkt  mächtiger  auf  die  Zeitgenossen,  als 
die  Erscheinung  einer  grossen  Persönlichkeit,  und  Eindrücke 
dieser  Art  gehen  durch  Jahrhunderte  fort.  Auch  hat  noch 
Niemand  mit  besonderm  Erfolge  gegen  eine  solche  Charakter- 
tradition angekämpft,  sobald  sie  auf  den  Zeugnissen  der  Zeit- 
genossen in  Wahrheit  beruhte.  Demnach  müssen  wir  Gustav 
Adolf  dennoch  für  einen  der  reinsten  und  fleckenlosesten 
Charaktere  —  nicht  für  rein  und  fleckenlos  —  erklären,  welche 
die  Geschichte  der  beiden  letzten  Jahrhunderte  aufzuweisen 
hat.  Wir  verwerfen  die  abgeschmackte  Götzendienerei  mit 
grossen  Namen,  die  zuletzt  nur  sich  selbst  Altäre  baut,  aber 
wir  halten  es  für  kein  Verdienst,  mit  vielem  Aufwände  von 
Scharfsinn  grossen  Männern  Makel  anzuhängen,  um  sie  in 
den  Kreis  der  Alltäglichkeit  herabzuziehen. 


Zeitschrift  f.  GescbichUw.  «IV.  1843.  35 


618  Deutschland  und  Gustav  Adolf. 

I.   Die  letzten  Zettel  des  Krieges,   fehlest. 

Zum  Schlosse  noch  einige  Worte  über  Barthold's  Bach 
insbesondere,  das  die  zweite  Hälfte  des  Krieges  zu  seine* 
alleinigen  Aufgabe  gemacht  bat,  und  das  Ende  der  furcht- 
baren Katastrophe  vorfuhrt    Dies  ist  um  so  mehr  anzuer- 
kennen, je  weniger  die  Geschichte  des  dreissigjährigen  Kriegs 
nach  Gusta?  Adolfs  Tode  eine  eindringende  Behandlung  er- 
fahren bat   Man  betrachtete  sie  als  einen  wenig  anziehenden 
Anbang»  über  den  man  so  schnell  als  möglieb  hinwegzueileo 
suchte;  nur  Wallensteins  Fall  und  Bernhards  von  Weimar 
Ende  wurden  als  interessante  Episoden  mitgenommen.    Dieses 
Knäuel  von  Schlachten,  Raubzügen,  Plünderungen  und  Grauet 
scenen,  von  denen  sieb  das  Auge  mit  Ekel  abwendet,  «nitder 
aebtongswerthesten  Beharrlichkeit   aufgewickelt   zu    haben, 
das  ist  wahrlich  ein  hoch  anzuschlagendes  Verdienst,  und 
man  glaubt  es  dem  Verfasser  gern,  wenn  er  versichert,  an 
keinen  Preis  die  Last  eines  solchen  Materials  zum  zweiten 
Male  übernehmen  zu  wollen.  *)    Mit  vollem  Rechte  wird 
Frankreich  in  den  Vordergrund  gestellt,  denn  es  beherrscht 
die  Bewegung  seit  Gustav  Adolfs  Tode  ganz  entschieden. 
Es  beherrscht  sie,  weil  mit  diesem  Falle  zugleich  der  Cha- 
rakter des  Kriegs  ein  anderer  wird;  so  viel  politische  ffe- 
mente  er  bis  dahin  auch  gehabt  hatte,  er  war  dennoch  Ver- 
wiegend ein  confessioneller.    Jetzt  war  der  Hauptvertreter 
der  protestantischen  Richtung  ausgeschieden,  an  seine  Stelle 
trat  als  Seele  der  antikaiserlichen  Partei  ein  katholischer 
Staatsmann,  ein  Cardinal,  und  durch  ihn  bekommt  das  rein 
politische  Moment   das  Uebergewicht      Die  letzten  Jahre 
des  Kampfes  geboren  der  eigentlichen  Refermationsepoche 
nicht  mehr  an,  er  trägt  bereits  den  Charakter  jener  Kriege, 
die  in  der  zweiten  Hälfte  des  siebzehnten  Jahrhunderts  in 
der  Idee    des    politischen  Gleichgewichts   geführt  wurden. 


*)  unerwartet  ist  es,  dass  der  Verfasser  Richelieus  Memoiren 
als  vollkommen  beglaubigt  ansieht,  da  doch  Ranke  (Bistor.  polit. 
Zeilschr.  Thl.  II.)  ihre  Unechtheit  erwiesen  hat. 


Deutschland  und  Gustav  Adolf.  519 

Hier  tritt  sie  zuerst  losgelöst  von  confessionellen  Elementen 
auf,  die  sich  in  den  frühern  Kämpfen  in  gewissem  Sinne  ab- 
genutzt hatten.  Ihr  Culminationspunkt  war  die  Schlacht  bei 
Lützen,  nach  einander  waren  beide  Tbeile  im  (Jebergewiebte 
gewesen,  dann  war  ein  Augenblick  des  Gleichgewichts  ge- 
kommen. Es  war  das  GeftihI  einer  moralischen  Erschöpfung, 
das  jetzt  eintrat;  man  fing  an  zu  erkennen,  dass  man  sich 
hier  nicht  mehr  viel  abgewinnen  könne.  Es  wäre  für  einen 
Frieden  gewiss  der  passendste  Augenblick  gewesen.  Darum 
hörte  freilich  das  confessionelle  fiewusstsein  bei  einzelnen 
Fürsten  nicht  in  dem  Grade  auf,  dass  man  berechtigt  wäre, 
es  ohne  Weiteres,  wo  es  hervortritt,  abermals  als  blossen 
Deckmantel  politischer  Zwecke  zu  bezeichnen.  Wir  sehen 
es  noch  auf  dem  Prager  und  westphälischen  Frieden  ein  be- 
deutendes Element  bilden.  Oxenstierna  ist  Richelieu  durch- 
aus verwandt  und  ebenbürtig,  auch  ihn  beherrscht  das  Staats- 
interesse. Von  der  wehhistorischen  Höhe  sind  die  Schweden 
mit  Gustav  Adolfs  Fall  unmittelbar  herabgestiegen,  und  das 
Widerwärtige,  entschieden  Gehässige  ihrer  Haltung  liegt  in 
dem  Widerspruche,  in  dem  ihre  Raubzüge  durch  Deutsch- 
land zu  der  Anmaassung  stehen,  sich  immer  noch  auf  dem 
beherrschenden  Standpunkte  zu  befinden.  Der  König  hatte  ihn 
nie  mit  soleher  Härte  geltend  gemacht,  weil  er  ganz  darauf 
stand.  Gewiss  ist  es:  schwedische  Brutalität  verbunden  mit 
den  ränkevollen  Diplomatenkünsten  Frankreichs  hat  damals 
endlosen  Jammer  über  Deutschland  gebracht. 

Dieser  Geist  der  Gabinetspolitik  ist  es,  der  nach  und 
nach  alle  kriegführenden  Parteien,  auch  die  deutschen  Reichs- 
fürsten bestimmt,  die  hier  zum  ersten  Male  versuchen,  sich 
als  Souveräne  zu  benehmen;  dies  ist  es,  was  den  leiden- 
schaftlichsten Zorn  und  Hohn  des  Geschichtschreibers,  na- 
mentlich gegen  die  protestantischen  Stände,  hervorruft.  Sehr 
glimpflich  werden  Sachsen  und  Baiern  behandelt,  desto  übler 
kommt  Brandenburg  seit  dem  grossen  Churfürsten,  Hessen, 
Braunschweig,  Sachsen -Weimar  fort  Doch  es  ist  zu  be- 
denken, wonach  diese  mit  schwedischer  Hülfe  strebten,  das 
erreichten  jene  leichter  auf  der  kaiserlichen  Seite.    Baierns 

35* 


520  Deutschland  und  Guttat*  Adolf. 

Verfahren  in  den  letzten  Kriegsjahren  ging  ganz  von  der- 
selben Politik  aus,  und  dass  Sachsen  für  die  Erwerbung  der 
Lausitz  vom  Kampfplatze  schied,  kann  vom  territorialen  Ge- 
sichtspunkte, der  auch  Baiern  und  Brandenburg  beherrschte, 
wohl  gut  geheissen  werden.    Der  Kriegsjammer  wurde  da- 
durch von  diesem  Gebiete  ausgeschlossen  und  dem  Kriege 
selbst  keine  unbedeutende  Kraft  entzogen.    Vom  nationalen 
Gesichtspunkte  aber  wird  es  dem  Cburliirsten  Georg  gerade 
nicht  zum  Verdienste  angerechnet  werden  können;    für  das 
Allgemeine  war  weder  in  politischer  noch  kirchlicher  Hin- 
sicht etwas  gewonnen.    Wohl  aber  waren  durch  das  Aus- 
scheiden ihrer  ersten  Macht  die  Klüfte  der  protestantisch» 
Fürsten  aufs  Neue  zersplittert    Mit  Vorliebe  behandelt  Jbri- 
hold  den  Gedanken  einer  dritten  Partei,  die  sich  für  Deutsch- 
land hätte  zwischen  beide  kämpfende  t heile  stellen  sollen, 
ein  Gedanke,  der  im  Kriege  selbst  schon  mehrfach  auftauchte. 
Gewiss  wäre  es  vom  bedeutendsten  Erfolge  gewesen,  eine 
solche  Stellung  zu  ergreifen;  und  wer  hätte  nach  Bernhard 
von  Weimar,  der  augenscheinlich  dies  Ziel  verfolgte,  mehr 
Veranlassung  dazu  gehabt,  als  der  Churfiirst  von  Sachsen? 
Dennoch  hat  er  durch  seine  schwankende  Politik  zum  Hin- 
ziehen des  Kriegs  mehr  beigetragen ,   als  das  politisch  und 
militärisch  ohnmächtige  Brandenburg,  das,  wenn  irgendein 
Land,   die  Gräuel  des  Kriegs  erfahren  hatte  und   fast  det 
Auflösung  nahe  gebracht  war.    Und  doch  wird  es  ihm  als 
Reichsverrath  Schuld  gegeben,  sich  mit  dem  nächsten  Feinde 
abgefunden  zu  haben,  wie  Sachsen  und  Baiern  auch  gethan, 
weil  es  dadurch  den  Schweden  möglich  geworden  sei,  wäh- 
rend  der  letzten  Jahre  sich  zu  halten.    Daher  auf  der  andern 
Seite  des  Verfassers  Vorliebe  für  Männer  wie  Johann  von 
Werth,  dessen  Leben  er  bekanntlich  schon  1826  als  Mono- 
graphie herausgab,  und  Melander.    In  ihrem  Uebertritt  auf 
die  Seite  des  Kaisers  «erkennt  er  eine  echt  deutschte,  natio- 
nale Gesinnung,  die  er  ihnen  so  hoch  anrechnet,  dass  sie 
selten  ohne  ein  ehrenvolles  Prädikat  von  ihm  entlassen  wer- 
den, während  er  über  andere  die  volle  Schale  seines  Zornes 
ausgiesst.    Eben  so  tritt  principmässig  Alles  in  den  Vorder- 


Deutschland  und  Gustav  Adolf.  52  t 

grand,  was  früher  in  den  Schatten  zurücktrat;  Alles  kommt 
auf  eine  andere  Stelle.  Gewiss  ist  es  nothwendig,  auch  die 
Kehrseite  zu  betrachten,  aber  doch  möchte  man  wünschen, 
dass  es  mit  mehr  Ruhe  und  Massigung  geschehen  wäre. 
Die  Leidenschaftlichkeit  des  Verfassers  mag'  immerhin  ein 
Beweis  für  die  Wärme  und  Entschiedenheit  seiner  Gesin- 
nung sein,  aber  sie  ist  selten  geeignet,  Andern  eine  gleiche 
Ueberzeugung  annehmbar  zu  machen.  Im  Gegentheil,  An- 
sichten, die  mit  einem  gewissen  Terrorismus  geltend  gemacht 
werden,  finden  nur  um  so  eher  Widerspruch,  man  ist  nur 
um  so  geneigter,  sich  ihrer  Willkür  zu  entziehen.    ' 

Unumwunden  sprechen  sich  diese  Ansichten  des  Ver- 
fassers in  der  Vorrede  aus,  ohne  historisches  Vehikel  treten 
sie  hier  unmittelbar  auf,  sie  werden  als  Gesinnung  im  Zu- 
sammenhange dargelegt.  Diese  Vorrede  kann  als  Manifest  jener 
ganzen  Richtung  gelten  und  darum  noch  einige  Worte  über 
sie.  Von  politischer  Seite  bezeichnet  der  Verf.  seinen  Stand- 
punkt als  einen  durchaus  deutsch  staatsbürgerlichen  und  ver- 
langt in  so  weit  für  sein  Buch  die  Anerkennung  der  Neuheit. 
Kirchlich  lautet  sein  Glaubensbekenntniss,  dass  der  Geist  der 
Humanität  und  Bildung  im  Ghristenthum  überhaupt,  nicht  in 
zweien  entfremdeten  Gonfessionen  liege.  Damit  will  er  sei- 
nen Gegnern  gleich  das  Ziel  bezeichnen,  auf  das  sie  loszu- 
gehen haben.  Er  weiss  es,  er  geht  in  den  Kampf  mit  einer 
althergebrachten  Auffassung,  und  darum  wird  die  Zahl  seiner 
Widersacher  gross  sein.  Er  classificirt  sie  genau  und  er- 
kennt nur  zwei  Arten  als  ebenbürtig  an.  Es  sind  politisch 
die  Vertheidiger  der  spröden  Vereinzelung  Deutschlands  in 
selbstmächtige  Staaten,  und  dann  der  protestantische  Stolz, 
der  nur  in  seinem  Bekenntnisse  die  einzige  Bedingung  hoher 
menschwürdiger  Freiheit  und  Wissenschaftlichkeit  sieht  und 
darum  beklagt,  dass  die  Gegenpartei  nicht  ganz  unterdrückt 
worden  sei.  Der  Verfasser  selbst  schliesst  endlich  mit  dem 
Geständnisse  hätte  er  zur  Zeit  Ferdinands  III.  gelebt,  er 
würde  mit  Feder  und  Schwert  gegen  Franzosen  und  Schwe- 
den, gegen  Weimaraner,  Hessen  und  Pfälzer  gekämpft  haben. 
Allerdings  heftiger  kann  sich  kaum  ein  Geschichtschreiber 


522  Deutschland  und  Gustav  Adolf. 

ausdrücken,  und  es  giebt  keinen  schlagenderen  Gegensatz 
gegen  jene  erkünstelte  historische  Objektivität  Ob  jedoch 
ein  so  geflissentliches  Aufgeben  allgemeiner  Gesichtspunkte, 
eine  solche  Parteinahme,  die  von  vorne  herein  bekennt,  eben 
so  gerne  für  ihre  Ansichten  dreansusehlagen  als  au  schrei- 
ben, ob  ein  solches  Bekennfoiss  selbst -in  der  Vorrede  zu 
ein$m  historischen  und  wissenschaftlichen  Werke  an  seiner 
Stelle  sei,  daran  wird  man  billig  zweifeln  dürfen.  Wo  sich 
aber  eine  so  entschieden  abgeschlossene  Gesinnung  mit  der 
Fülle  der  Berufsgelehrsamkeit  verbindet,  hiesse  es  Unrecht 
thun,  wollte  man  von  einem  vereinzelten  Widerspruche  Ein- 
fluss  auf  die  Ansicht  des  Verfassers  erwarten.  Früheren 
Recensenten  gegenüber  hat  er  daher  in  dem  eben  erschiene- 
nen letzten  Bande  seiner  pommerscben  Geschichte,  seh» 
Auffassung  durch  ein  neues  Studium  der  Verhältnisse  Gustav 
Adolfs  zu  Pommern  bekräftigt.  Auch  hier  ist  Gustav  Adolf 
bald  der  Napoleon  mit  kirchlicher  Färbung,  bald  ein  modemer 
Alarich,  ein  falscher  Josua,  und  im  Schlussworte  spricht  es 
der  Verfasser  aus,  er  sei  seit  220  Jahren  der  erste  Forseher, 
der  im  Drange  nach  Wahrheit  diese  Dinge  mit  vorurthetb- 
freier  Seele  betrachtet  habe«    » 

Heftige  Beactionen  dieser  Art  sind  von  jeher  bei  uof 
in  Leben  und  Wissenschaft  nichts  Seltenes  gewesen.  Der 
überschwängliche  Enthusiasmus  hat  durch  sein  Uebermaus 
oft  genug  Hohn  und  Verachtung  hervorgerufen,  und  aus  An- 
betern nicht  selten  Spötter  gemacht.  Es  war  nicht  xu  er- 
warten, dass  eine  Epoche  wie  die  des  dreissigjährigen  Kriegs, 
in  der  noch  so  viel  Parteistoff  liegt,  diesem  Schicksale  ent- 
gehen würde.  Die  Reformation,  die  Geschichte  der  nationalen 
Erhebung  Deutschlands  gegen  Kapoleon  haben  Gleiches  er- 
fahren. Ausländer  mögen  dies  in  Deutschland  sich  oft  er* 
neuende  Schauspiel  kaum  begreifen.  Und  allerdings  sollte 
man  Weniger  bemüht  sein,  die  Fahnen,  denen  man  vorher 
mit  Stolz  folgte,  hinterher  fast  geflissentlich,  sich  selbst  zum 
Hohne  mit  Füssen  zu  treten.  Aber  dies  trifft  nur  die  Form, 
die  Art,  wie  man  die  Sache  geltend  macht,  nicht  diese  selbst 
Wir  erkennen  darin  die  Freiheit,  die  Lebendigkeit  des  prote- 


Deutschland  und  Gustav  Adolf.  623 

stan tischen  Princips,  das  keinen  Augenblick  ruhen  kann. 
Wenn  es  ruhte,  wäre  es  nicht  mehr  unter  uns;  es  wirft  sich 
aus  einem  Gegensatze  in  den  andern,  um  seiner  selbst  im* 
mer  gewisser  zu  werden. 

Und  ein  bedeutendes  Moment  dieser  Art  ist  das  Buch 
des  Verfassers,  wie  die  seiner  Vorgänger.  Wir  sind  mit  ihm 
von  der  Gesundheit  der  öffentlichen  Meinung  und  der  Gel- 
tung ehrlicher  Geschichtschreibung,  wie  er  es  im  Vorworte 
zum  zweiten  Bande  ausspricht,  vollkommen  überzeugt,  weil 
wir  von  der  Macht  des  protestantischen  Princips,  das  sie  in 
sich  tragen,  noch  fester  überzeugt  sind.   Dieser  geharnischte 
Widerspruch,   der  an   Stärke   des  Ausdrucks  die   früheren 
noch  übertrifft,  lässt  nicht  rasten  und.  ruft  zu  immer  neuer 
Prüfung  auf.     Der  spröden  Vereinzelung  Deutschlands   das 
Wort  zu  reden,  ist  nicht  unsere  Absicht  gewesen;  der  Verfasser 
hat  vollkommen  Recht  ihr  gegenüber  die  Nationalität  hervor- 
zuheben.   Es  sollte  nur  die  Ansicht  geltend  gemacht  werden, 
alles  Geschehene,  Abgeschlossene  einfach  zu  nehmen,  wie  es 
war  und  sich  bildete,  nicht  wie  es  hätte  sein  können  oder 
sollen.    Weder  dies,  noch  die  Uebertragung  des  Unmuths, 
den  die  Gegenwart  erzeugt,  auf  die  Vergangenheit,  ist  einer 
wissenschaftlichen  Auffassung  nützlich  oder  würdig.    Aber 
allerdings  halten  wir  den  Protestantismus  für  eine  höhere 
Auffassung  des  Ghristenthums  und  können  somit  in  die  An*- 
sicht  von  einem  Ghristenthume,  das  abstract  über  der  Con- 
fession  steht,  so  sehr  dies  auch  praktisch  an  seiner  Stelle  ist, 
theoretisch  nicht  einstimmen.    Es  ist  ein  altes  Vorurtheil, 
dass  der  Protestantismus  das  dem  Ghristenthume  seiner  in- 
nersten Natur  nach  inwohnende  Princip   der  Freiheit  wie« 
der  zu  Ehren  gebracht  habe,  indem  er  den  Glauben,   das 
freiste  Element,  zu  Ehren  brachte.    Diese  Freiheit,  ob  man 
sie  auch  mit  widerwärtigen  Parteinamen  zu   brandmarken 
suche,  ist  unser  Erbtheil.    Für  sie  hat  Gustav  Adolf,  haben 
zahllose  Deutsche  gestritten  und  geblutet,   sie  ist  das  Gut, 
das  aus  dem  grenzenlosen  Jammer  des  dreißigjährigen  Kriegs 
gerettet  wurde;  um  den  höchsten  Preis,  den  ein  Volk  geben 
kann,  ist  sie  erkauft,  darum  soll  man  sie  um  so  höher  achten, 


SM    Veber  die  neueste  Auffassung  der  firm».  Resolution, 

darum  ihren  Besitz  nickt  schmälern  durch  die  Schadenfreude, 
mit  der  man  immer  wieder  auf  nationales  Elend  hinweist 
Ist  man  ao  national  gesonnen,  mm  wohlan  denn,  so  verleide 
man  nns  Deutschen  nicht  langer  das  Nationalste  was  wir 
haben;  slatt  mit  Barthold  Prediger  und  Schulmeister  ab  alt- 
fränkisch und  unwissend  zu  verhöhnen,  danke  man  ihnen, 
dass  sie  in  ihren  Grenzen  das  Bewusstsein  dieses  Besikes 
lebendig  erhalten  haben,  man  rufe  sie  auf,  dass  sie  fort- 
fahren, es  zu  nähren.  Denn  diese  protestantische  lieber- 
zeuguog  ist  unser  Palladium ,  auf  ihr  ruht  die  Zukunft,  sie 
wollen  wir  festhalten.  Dr.  Rudolf  Köpke. 


Veber  die  neueste  Auffassung  der  firanzöd* 

sehen  Revolution« 

mit  besonderer  Beziehung  auf  Capefigne. 


Je  weiter  die  grossen  welthistorischen  Ereignisse  in  das  Reich 
der  Vergangenheit  zurücktreten,  desto  unbefangener  pflegen 
sich  die  Urtheiie  über  dieselben  zu  gestalten,  weil  das  per- 
sönliche Interesse  sich  nach  und  nach  hinter  der  objecto» 
Wichtigkeit  der  Sache  verliert  Dies  gilt  als  eine  allgemein  an- 
erkannte Wahrheit,  und  dennoch  scheint  sie  durch  die  neueste 
Behandlung  der  Geschichte  der  französischen  Revolution  in 
Zweifel  gestellt*)  Nachdem  die  schäumenden  Wogen  des  seine 
Ufer  weit  überfluthenden  Stromes  wieder  in  ihr  natürliches 
Bett  zurückgedrängt  waren,   begann  sich  ein  mittleres  und 
gemässigtes  Urtheil   über  den  Werth  und   die  Geltung  der 
treibenden  Principien  jener  ungeheueren  Bewegung  zu  bil- 
den.   Zwar  hatte  der  Zwiespalt  jener  beiden  grossen  Par- 
teien, deren  eine  den  Fortschritt  aus  der  absoluten  Idee,  die 
andere  das  Festhalten  an  dem  historisch  Gegebenen  zu  sei- 
nem Principe  macht,  nicht  aufgehört,  doch  schien  man  zur 

*)  Der  Aufsatz  ist  1844  geschrieben,  daher  dies  Urtheil  erklär- 
lich; Schlosser,  Dahlmann  widerlegen  dasselbe.  Mit  ihnen  stimmen 
zum  Tbeil  wenigstens  Niebuhrs  neu  verkündete  Worte  überein. 


mit  besonderer  Beziehung  auf  Capefigue.  525 

Verständigung  geneigt,   und   wenigstens   darin  waren  die  . 
Historiker  der  verschiedensten  Färbung  in  Beziehung  auf  die 
Darstellung  der  französischen  Revolution  einig,  dass  sie  eben- 
sowol  die  Zustände,  welche  ihr  vorangingen,  als  die  Um- 
stände, welche  sie  begleiteten,  missbilligten.    Dieses  System 
der  Mässigung  hat  man  in  neuerer  Zeit  aufgegeben.    Wäh- 
rend die  Partei  des  Fortschrittes  aus  der  bisher  zugegebenen 
Verderbniss  des  früheren  Zustandes  mit  starrer  Gonsequenz 
die  Rechtfertigung  des  ganzes  Verlaufes  als  eines  notwendi- 
gen Ergebnisses  folgerte,  schlössen  die  Gegner  von  der  Ent- 
setzlichkeit der  Ausschweifungen  auf  die  Verwerflichkeit  der 
ersten  Principien  jener  grossen  Bewegung  zurück.    Ja  sie 
durften  ihren  Widersachern,   wenn  sie  ihnen  den  Vorzug, 
consequenter  zu  schliessen,  rauben  wollten,   die  Voraus- 
setzung, dass  der  Zustand  Frankreichs  vor  der  Revolution 
ein  verderbter,  abgestorbener  gewesen,  keinesweges  zugeben. 
Dies  hat  Capefigue,*)  der,  wie  flüchtig  und  mangelhaft 
auch   seine   historischen  Forschungen   sind,   doch   zu   den 
glänzendsten  Schriftstellern  der  Gegenwart  gehört,  mit  dem 
grössten  Aufwände  von  Scharfsinn   und  freilich  auch  von 
Sophistik  durchgeführt.    Für  ihn  ist  Ludwig  XV.  nicht  der 
von    schamlosen   Weibern,    frivolen    Höflingen   und   licht- 
scheuen Priestern  beherrschte  Schwächling,  sondern  ein  wahr- 
hafter König  von  Frankreich,  voll  Nationalgefühl  und  tiefer 
Ueberzeugung  von  seiner  souveränen  Gewalt    Die  sardana- 
palische  Schwelgerei  des  verderbten  Hofes  gilt  ihm  als  hohe 
Verfeinerung  des  Geschmacks,  die  gedankenlose  Verschwen- 
dung als  notwendiger  Glanz  königlicher  Herrschaft,   alle 
zügellose  Ausschweifung  als  leicht  verzeihlich  im  Vergleich 
mit  dem  Segen,  welcher  dem  Staate  und  dem  Volke  aus  der 
glanzvollen  Regierung  entsprossen.    Ludwig  XV.  ist  ihm  ein 
würdiges  Glied  in  der  Regentenreihe  der  Bourbonen,  denen 
Frankreich  seinen  Ruhm  und  seine  Grösse  verdankt    Was 


*)  Besonders  L'Europe  peudant  la  revolution.  4B.  8vo.  Paris  1843. 
—  Louis  XVI.  son  administration  et  ses  relations  diplotpatiques 
avec  l'Europe.  4  B.  8vo.  Paris  1844,  so  wie  seine  Geschichte 
Ludwigs  XV. 


SM    lieber  die  neunte  Auffassung  der  /hm.  Revolution, 

aber  Ludwig  XVI.  betrifft,  so  ist  er  für  ihn  nicht  nur  ein 
guter,  sondern  in  Bezug  auf  Diplomatie,  auswärtige  Ange- 
legenheiten und  Entwickelang  der  Nationalkraft,  ein  grosser 
König.  Und  dies  ist  noch  nicht  die  stärkste  seiner  Para- 
doxen. Er  behauptet,  dass  die  Reyoluüon  ton  1789,  vor 
welcher  der  grosse  Haufe  in  dumpfer  Bewunderung  kniet, 
keine  einzige  ton  den  wichtigsten  socialen  Fragen  in  Re- 
ligion, Politik  und  bürgerlichem  Leben  gelöst  hat,  und  da» 
ihre  ganze  Thütigkeit  nur  ein  blindes  Zeretorangswerk  ge- 
wesen sei,  gegen  dessen  verderbliche  Folgen  die  Nation  sich 
noch  heute  ängstlich  aber  vergebens  abringe. 

Frankreich  ist  nach  ihm  durch  die  Revolution  unwiede*- 
bringlich  aus  der  Bahn  seiner  Grösse  gerissen.  Jene  na- 
sichtige  Diplomatie,  die  ihm  den  Besitz  des  Elsasses,  der 
Franche-Comtö,  Flanderns,  Lothringens  und  Corsika's  erwarb, 
und  durch  Verträge  und  Verbindungen  mit  mächtigen  Herr- 
scherfamilien  sicherte,  ist  rücksichtslos  aufgegeben,  vertauscht 
mit  völliger  Nichtachtung  des  öffentlichen  Rechtes.  Erobe- 
rungen sind  zwar  gemacht,  aber  gleich  denen  der  asiatischen 
Horden,  ohne  dauernde  Folgen  und  nur  zu  eigener  Schwächung. 

Während  so  die  Revolution  mit  roher  Faust  das  kunst- 
volle Gebäude  einer  durch  Jahrhunderte  geprüften  Staatskuurf 
niederriss,  hatte  Ludwig  nach  Gapefigue  durch  Beförderung 
des  Seehandels,  Vermehrung  der  Kriegsflotte  zur  Sicherung 
und  Ausdehnung  der  Golonien,  und  durch  alles  dies  zu  dem 
nationalsten  Zweck  eines  französischen  Königs,  zur  Demütbi- 
gung  Englands  mit  ebensoviel  Weisheit  als  Vaterlandsliebe 
hingewirkt.  Dafür  zeugen  die  Unterstützung  der  Amerikaner 
und  die  standhafte  Verteidigung  des  Rechtes  der  neutralen 
Flagge.  Auf  diesem  Wege  musste  Frankreich  die  erste  See- 
macht, sein  Monarch  der  Schiedsrichter  zwischen  allen  c£vi- 
lisirten  Staaten  werden.  Auch  die  Abrundung  des  Gebietes 
an  der  Ostgrenze  durch  Bewilligungen  der  Continentalmäehte 
erscheint  ihm  als  eine  nothwendige  Folge  der  Politik  des 
alten  Regime.  Alle  diese  Hoffnungen  sind  durch  die  Revo- 
lution vereitelt,  sie  hat  Frankreich  um  mehr  als  hundert 
Jahre  zurückgebracht 


mit  besonderer  Beziehung  auf  Capeßgue. :         527 

Diese  wunderlichen  Paradoxen  führt  Capeßgue  in  den 
genannten  Werken  durch,  und  zwar  mit  reichem  Aufwand 
von  Scharfsinn,  und  mit  Benutzung  vieler  wichtiger  Quellen 
ans  dem  französischen  Reichsarchive.  Klar  genug  liegt  das 
Ziel  da,  nach  welchem  er  strebt.  Die  Revolution  ist  ihm 
eine  die  Entwickelung  seines  Vaterlandes  unterbrechende 
Episode,  die  ehemalige  Herrschaft  dagegen  der  wahre  Weg 
zur  Grösse;  auf  ihn  müssen  die  Franzosen  zurückkommen, 
wenn  sie  ihren  grossen  Beruf  in  der  Weltgeschichte  lösen 
wollen. 

Es  lässt  sich  in  der  That  kaum  begreifen,  wie  ein  Franzose 
es  wagen  kann,  so  in  jeder  Beziehung  geringschätzig  über 
die  Ergebnisse  einer  Periode  abzusprechen,   welche   sonst 
durch  ihren  Glanz  für  das  Nationalgefühl  des  Air  Ruhm  em- 
pfänglichen Volkes  so  schmeichelhaft;  ist.    Auch  konnte  der 
Verfasser  nur  durch  grosse  Geschicklichkeit  sich  aus  seiner 
schwierigen  Stellung  ziehen.  Er  greift  das  revolutionäre  Prin- 
cip  als  antinational  an.   Die  Nachäffung  englischer  Sitten  und 
Klubs  durch  den  sonst  so  ritterlichen  und  loyalen  Adel  Frank- 
reichs, das  Eindringen  der  englischen  Philosophie  in  die  bis- 
her der  Orthodoxie  und  dem  unbeschränkten  Königthum  er- 
gebene classische  Literatur,  sie  tragen  ihm  die  Schuld  der 
unseligen  Verwirrung  aller  wahren  nationalen  Interessen.   Die 
Encyclopädisten,,  Voltaire  selbst,  sind,  seiner  Ansicht  nach* 
frech  genug,  die  Engländer  ihren  Landsleuten  als  unerreich- 
bare Muster  vorzustellen,  und  wenn  auch  mancher  seinen 
angebornen  Gefühlen  nicht  bis  zu  dem  Grade  zu  entsagen 
vermag,  so  steht  doch  die  grosse  Mehrzahl  unter  der  Herr- 
schaft jener  philanthropischen  Schwärmer,   weiche  in  dem 
Irrwahne  das  Heil  der  ganzen  Menschheit  befördern  zu  kön- 
nen, zu  Verräthern  an  ihrer  Pflicht  gegen  das  Vaterland  wur- 
den.   Um  den  Menschen  in  seine  sogenannten  natürlichen 
Rechte  wieder  einzusetzen,  lähmen  die  unbesonnenen  Neue- 
rer der  Regierung  die  Hand,  mit  welcher  sie  sonst  das  po- 
litische Geschick  der  Völker  Europa's  lenkte,  verkümmern 
ihr  den  Gebrauch  der  Mittel  des  Staates,   aus  denen  jene 
ehrforchtgebietende  Seemacht,  die  Verkünderin  einer  glänzen- 


028     Veber  die  neunte  Aufdenmg  der  fram».  Beookrtum, 

den  Zukunft  für  Frankreich»  entstanden  war.    England  und 
Rossland,  die  schlauen  Nebenbuhler  seiner  Macht,  schauen 
mit'  innerer  Befriedigung  auf  diese  unselige  Verirrung,  und 
schären  im  Geheim  die  Feuersbrunst ,    die  sie  von  einer 
lästigen  Beaufsichtigung  ihrer  Schritte  befreit     Auf  diese 
Weise  sucht  Capefigue  in  den  Franzosen  die  Sehnsucht  nach 
der  alten  echt  nationalen  Politik  der  ehemaligen  Herrschaft 
zu  erregen,  indem  er  hier  mit  vieler  Gewandtheit  die  An- 
hänger der  Revolution   nicht  allein  als  Verrither  an  dem 
Vaterlande,  sondern  auch,  was  der  französischen  Eitelkeit 
ganz  besonders  empfindlich  sein  muss,  als  Dupes  der  frem- 
den Diplomatie  erscheinen  lässt    Auf  diese  Art  weiss  er 
seine  Gegner  zu  verdächtigen,  sich  die  Miene  wahrhaft  natio- 
naler Gesinnung  beizulegen.    Mit  grosser  Schlauheit  schart 
er  dabei  die  Regierung  trotz  ihres  revolutionären  Ursprungs, 
den  er  ihr  verzeihen  würde,  wenn  sie  sich  entschlösse,  ihren 
Schritt  ganz  dem  Absolutismus  zuzulenken;  denn  tun  diesen 
Preis  söhnt  er  sich  mit  einer  jeden  aus, .  selbst  mit  dem  Wohl- 
fahrtsausschusse des  Convents,  dessen,  wie  er  sich  ausdrückt, 
zwar  gewaltsame  aber  organisierende  Herrschaft  er  rahmt, 
während  er  das,  constitutionelle  Königthum  so  wie  das  Di- 
rektorium auf  gleiche  Weise  verdammt    Er  erkennt  nur 
eine  Pflicht  der  Regierung,  nämlich  die,  fiir  Volksgrösse 
und  Volksmacht  zu  sorgen.    Kein  Gebot  der  Menschlichkeit 
ist  ihm  so  beilig,  dass  es  Berücksichtigung  verdiente,  wenn 
jene  materiellen  Interessen  dagegen  sprächen.     Sogar  die 
Abschaffung  des  Negerhandels  erfahrt  seine  Missbilligung, 
denn  auch  sie  ist  eine  Frucht  der  Revolution,  und  er  wirft 
sich  daher  mit  der  ganzen  ihm   eigentümlichen  Bitterkeit 
auf  das  Durcbsuchungsrecht,  als  die  notwendige  Folge  der 
durch  sie  erweckten  philanthropischen  Ideen.   Dagegen  zeigt 
er  sich  empfänglich  für  die  Grossthaten  jener  Zeit  selbst 
wenn  sie  die  Frucht  von  Verbrechen  sind.    Diese  Thatkraft 
rühmt  er  um  so  unbefangener,  da  er  frei  ist  von  aller  „weich- 
lichen Sentimentalität  der  Gemässigten, "  deren  Halbheit  er 
ohne  Rücksicht-verdammt,  während  selbst  entschiedene  An- 
hänger der  Revolution  nur  mit  Zurückhaltung  jene  blutigen 


mit  besonderer  Beziehung  auf  Capefigue.  829 

Gross thaten  anerkennen.  Aueh  die  Religion  ruft  er  zur  Hülfe, 
aber   nicht,  wie  wir  sie  als  Lebensprincip  der  Staaten  zu 
fassen  gewohnt  sind;  als  solche  liegt  sie  ihm  fern;  sondern 
nur    als  äusseres  Mittel.     Der  Katholicismus   seiner  Partei 
besteht  nicht  aus  einem  Systeme  bestimmter  Dogmen.   Diese 
sind   ihm  als  solche  gleichgiltig;  das  Wesen  des  Katholicis- 
mus  ist  ihm  Abgeschlossenheit  durch  die  unbedingte  Herr- 
schaft der  kirchlichen  Autorität    In  der  durch  sie  erzeugten 
Einheit  religiöser  Anschauung  liegt  der  ihm  zugeschriebene 
Segen,  er  ist  seinem  Inhalte  nach  äussere  Verordnung,  Satzung, 
und   demnach  durchaus  getrennt  von  dem  rein  innerlichen 
Gebote  der  Sittlichkeit  und  des  menschlichen  Gefühls.    Bar- 
tholomäusnacht und  Widerruf  des  Edicts  von  Nantes  sind 
für  ihn  weise  Staatshandlungen,  die  Ertheilung  der  bürger- 
lichen Gerechtsame  an  die  Protestanten  eine  philanthropische 
Schwäche  des  menschenfreundlichen  Ludwig  XVI.    Daher 
beklagt  auch  Capefigue  in  seinem  Buche,   dass  Frankreich 
durch  das  Aufgeben  des  Katholicismus  in  dieser  Form  sei- 
nen Einfluss  auf  die  katholische  Bevölkerung  fremder  Staaten, 
wie  in  Irland,  Flandern,  Polen  u.  s.  w.  verloren  habe.  — 

Wie  wenig  Wahrheit,  abgesehen  von  der  Unsittlichkeit 
einer  solchen  Ansicht  von  Religion,  in  diesen  Behauptungen 
liegt,  ist  leicht  genug  einzusehen.  Niemand  wird  wohl  die 
Beschützung  des  Katholicismus,  wie  er  eben  bezeichnet  wor- 
den ist,  dem  Stammvater  des  bourbonischen  Hauses  aufbür- 
den. Bichelieu  legte  den  Grund  zu  Frankreichs  Uebermacht 
nicht  durch  Beförderung  der  katholischen  Interessen,  sondern 
durch  das  engste  Trutz-  und  Schutzbündniss  mit  den  Prote- 
stanten; Mazarin  schmeichelte  dem  Independenten  Gromwell 
zum  grossen  Nachtheil  der  katholisirenden  Stuarts,  der  grosse 
Ludwig  selbst  verschmähte  nicht  die  Verbindung  mit  den 
Ketzern  in  Schweden  und  Deutschland,  um  das  erzkatboli- 
sehe  Haus  Habsburg  zu  berauben;  wie  kann  man  also  sagen, 
dass  den  Katholicismus  auch  Frankreichs  äussere  Politik 
stets  geleitet  habe?  — 

Nicht  minder  begründet  obgleich  scheinbarer  sind  die 
übrigen  Behauptungen  Capefigue's   zum   Buhme  der  alten 


SSO    Ueber  die  neueste  Auffassung  der  franz.  Revolution, 

Herrschaft.  Jene  auf  Schwäche,  Lug  und  Trug  gegründete 
Diplomatie  des  siebzehnten  und  achtzehnten  Jahrhunderte 
war  so  consequent  und  bedachtig  nicht,  als  sie  uns  von  ihm 
forgestellt  wird«  Heinrichs  IV.  Streben  war  nicht  auf  eine 
Universalherrschaft  Frankreichs,  sondern  nur  gegen  die  des 
Hauses  Habsburg  gerichtet,  seine  allgemeine  europäische 
Republik  war  ein  ganz  kosmopolitischer  Traum.  Rein  natio- 
naler erscheint  die  Politik  Richelieus  und  Ludwigs  XIV., 
doch  überschritt  letzterer  schon  alles  Maass  in  seinen  Ent- 
würfen und  musste  sie  daher  grösstenteils  scheitern  sehen. 
Wie  wenig  seine  Politik  trotz  ihrer  Kühnheit  und  mancher 
klagen  Berechnung  von  launenhafter  Willkür  frei  war,  be- 
zeugt vor  allem  sein  Krieg  gegen  Holland,  für  Frankreich 
die  Quelle  unsäglicher  UebeJ,  die  erste  Veranlassung  der 
schnell  wachsenden  Uebermacht  Englands,  ein  Missgriff,  der 
alles  was  sonst  durch  ihn  für  die  Herrschaft  Frankreichs  io 
Europa  geschah,  fast  vollkommen  wieder  aufwog.  Was  kl! 
es  später,  die  alte  nationale  Eifersucht  gegen  England  wie- 
der zu  beleben,  und  alle  Kräfte  des  Volkes  zur  Bekämpfung 
seiner  rasch  um  sich  greifenden  Seeberrschail  aufzubieten! 
Dieser  Kampf  war  das  Vermächtniss  Ludwigs  an  seinen 
Nachfolger;  nicht  aus  freier  Wahl,  gezwungen  nur  Dahin  er 
ihn  auf,  und  führte  ihn  unter  denselben  ungünstigen  Be- 
dingungen. Die  zur  See  immer  noch  mächtige  Republik 
Holland  drängte  man  fortwährend  den  Gegnern  zur  ßeiorde- 
rerin  ihrer  Grösse  auf.  Wenn  später  einzelne  Züge  tieferer 
Staatskunst  in  dem  Gewirr  sich  oft  durchkreuzender  und 
meistens  auf  Persönlichkeiten  beruhender  Intriguen  auf- 
taueben,, so  sind  sie  fast  nur  als  Ausnahmen  zu  betrachten, 
und  selbst  grossartig  gefasste  Pläne  scheiterten  gewöhnlich 
durch' die  ganz  launenhafte  Anwendung  der  Mittel.  Und  die- 
ser Geist  der  Intrigue  war  so  tief  in  das  Innere  der  ganzen 
Staatsverwaltung  eingedrungen,  dass  selbst  der  redliche  Wille 
des  geraden  und  offnen  Ludwig  XVI.  ihn  nicht  zu  bannen 
vermochte. 

Wenn  Capefigue  das  Eroberungssystem  des  revolutio- 
nären Frankreichs  und   seine  dadurch   bedingte  feindselige 


mit  besonderer  Beziehung  auf  Capeßgue.  531 

Stellung  gegen  das  übrige  Europa  verwirft,  so  hat  er  freilich 
darin  Recht;  aber  waren  denn  Ludwigs  Yergrösserungspläne 
auf  rechtlichere  Ansprüche  gegründet?  —  War  die  Reaction 
gegen  die  Rechtsverletzungen  des  revolutionären  Frankreichs 
grösser  und  für  den  Augenblick  verderblicher,  so  folgte  dies 
nicht  aus  der  Mässigung  des  erobernden  Königs,   sondern 
vielmehr  nur  daraus,  dass  Glück  und  Umstände  seine  Un- 
gerechtigkeiten minder  begünstigt  hatten;  denn  dem  Principe 
nach  waren  sie  dieselben.    Auch  zu  Ludwigs  XIV.  Zeiten 
waren  die  Sympathien  für  Frankreich  fast  überall  erloschen, 
und  nicht  nur  in  den  Regierungen,  sondern  auch  in  den 
Völkern,  weil  fast  alle  sich  von  ihm  auf  gleiche  Weise  be- 
droht und  verletzt  fühlten.    Also  nicht  die  Revolution  allein 
hat  jene  feindselig  abstossende  Politik  hervorgerufen.    Und 
war  denn  die  unersättliche  Politik  des  Kaiserthums  so  ganz 
das  Erzeugniss  der  die  Revolution  hervorrufenden  Ideen?  — 
Gegründeter  möchte  die  Bemerkung  scheinen,    Frankreich 
habe  relativ  durch  das  Anwachsen  der  Grossmächte  Europa's 
verloren.    Doch  fällt  diese  Vermehrung  äusserer  Macht  nicht 
grösstenteils  in  die  Zeit  vor  der  Revolution,  und  war  sie 
nicht  eine  Folge  der  durch  Frankreichs  frühere  Uebergrifle 
gewaltsam  hervorgerufenen  Reaction  und  des  durch  dieselbe 
erzeugten    Aufschwungs?     Wenn    dieser  jugendliche    Auf- 
schwung noch  herrlicher  und  allgemeiner  in  unserem  Jahr- 
hundert hervortritt,  so  verdanken  die  Mächte  Europa's  aller- 
dings der  französischen  Revolution  die  Erhöhung  ihrer  mo- 
ralischen Kraft  und  deren  Einfluss  auf  die  Politik,  und  Frank- 
reich hat  demnach  durch  seine  Wiedergeburt  nichts  Wesent- 
liches vor  den  übrigen  Staaten  voraus.   Es  wird  daher  weder 
so  übermüthig,  wie  in  den  Zeiten  der  Höhepunkte  seiner 
Macht  unter  Ludwig  XIV.  und  Napoleon,  aller  Rechte  der 
Völker  spotten,  noch  auch  so  schlaff  und  kraftlos  wie  unter 
Ludwig  XV.  der  Willkür  mächtiger  Nebenbuhler  nachgeben 
dürfen. 

Diese  Beschuldigungen  gegen  die  Revolution  wegen  Frank- 
reichs jetziger  äusserer  Lage  haben  also  wenig  Haltbarkeit; 
ebensowenig  das,  was  über  den  innern  Zustand  desselben 


532    Heber  die  neueste  Auffassung  der  fron*.  Revolution, 

gesagt  ist   Capefigue  selbst  gesteht  ein,  dass  der  Adel  weder 
durch  materielle  Stützpunkte,  noch  durch  seine  Gesinnung 
mehr  seine  ehemalige  Geltung  für  die  Krone  haben  konnte; 
denn  sein  Grundbesitz  war  grossentbeils  veräussert,  und  die 
Opposition  gegen  die  Regierung  fand  in  ihm  ihren  stärksten 
Anhang.    Die  Geistlichkeit  tbeilte  diese  Richtung,  und  barg 
in  ihrer  Mitte  eine  grosse  Zahl  von  Anhängern  der  damali- 
gen gegen  alle  positive  Religion  so  feindseligen  Philosophie. 
Welche  Stützen  für  Thron  und  Kirche!    Im  dritten  Stande 
herrschten  dieselben  Gesinnungen  wie  in  den*  beiden  ersten, 
verbunden  mit  dem  eifersüchtigen  Drange,  sich  ihnen  politisch 
gleich  zu  stellen.   Hiermit  ist  die  innere  Auflösung  aller  Ele- 
mente des  alten  Staates,  die  Unmöglichkeit  sie  als  Gnurf- 
lagen  eines  neuen  Zustandes  zu  benutzen  anerkannt.    Unbe- 
greiflich muss  es  daher  erscheinen,  wenn  Capefigue  dies 
dennoch  verlangt,  und  den  heutigen  gesellschaftlichen  Zu- 
stand Frankreichs  als  einen  noch  mangelhafteren  Unterbau 
des  Staatsgebäudes  erklärt,  wofür  er  uns  allerdings  den  Be- 
weis schuldig  bleibt   Ebenso  für  seine  Lobpreisung  der  ehe- 
maligen Provinzialverwaltung.    Ueber  der  Behauptung,  dass 
durch  das  Auseinanderhalten  der  Provinzen  und  die  Ver- 
waltung derselben  durch  besondere  Intendanten  die  Indivi- 
dualität der  einzelnen  Bestandteile  des  Reiches  zum  H&l 
des  Ganzen  besser  berücksichtigt  werden  konnte,  vergissft  er 
ganz,  welche  Nachtheile  und  Hindernisse  anderseits  für  das 
Wohl  des  Einzelnen  wie  des  Ganzen   daraus   entspringen 
mussten,   weil  unter  solchen  Umständen  die  Vermittelung 
zwischen  den  besonderen  und  allgemeinen  Interessen  ganz 
der  Intelligenz  Einzelner  und  daher  nur  zu  leicht  dem  Irr- 
thum  und  dem  Fehlgriff,  nur  zu  oft  dem  sträflichsten  Eigen- 
nutz hingegeben  blieb.    Aehnlich  ist  seine  Ansicht  über  die 
Generalpächter.    Indem  er  sie  lobt,  weil  ihre  Corporation 
dem  Staate  stets  einen  siebern  Anhaltpunkt  für  seine  finan- 
ziellen Maassregeln  gewährt,  und  ihn  dem  gebieterischen  Ein- 
flüsse der  Banquiers  entrissen  habe,  bedenkt  er  nwcht,  dass 
den  Generalpächtern  nur  zu  sehr  Staat  und  Unterthanen 
zugleich  durch  ihre  Stellung  in  die  Hände  gegeben  waren,  um 


mit  besonderer  Beziehung  auf  Capefigue.  533 

nicht  dieselbe  auf  eine  eigennützige  für  das  allgemeine  Wohl 
verderbliche  Weise  zu  benutzen. 

Beachtenswerth  dagegen  ist,  was  Capefigue  über  Lud* 
wigs  XVI.  edles  und  volkstümliches  Streben,  Frankreich 
gross  zu  mächen,  sagt;  wenn  er  daran  erinnert,  wie  scharf 
der  unglückliche  Monarch  erkennt,  dass  Handel,  Colonial- 
wesen  und  Seemacht  sein  Hauptaugenmerk  sein  müssten; 
mit  welcher  Aufopferung  er  seine  grossen  Pläne  zu  verwirk- 
lichen sucht  Dies  und  seine  umsichtige  äussere  Politik, 
welche  nur  zu  bald  durch  die  inneren  Bewegungen  durch- 
kreuzt ward,  hebt  er  besonders  hervor,  und  spricht  den  wohl- 
begründeten Tadel  aus,  dass  man  hierin  nicht  gerecht  genug 
gegen  Ludwig  gewesen  sei. 

Nicht  ohne  treffende  Wahrheiten,  jedoch  in  hohem  Grade 
sophistisch  ist  seine  Kritik  der  populären  Minister  des  un- 
glücklichen Königs.  In  Türgots  Reformen  weist  er  mit  Um- 
sicht nach,  dass  sie  in  zu  schneidenden  Widerspruch  mit 
den  damaligen  Verhältnissen  Frankreichs  traten,  und  deshalb 
für  das  Erste  mehr  Nachtheil  als  Vortheil  bringen  mussten, 
doch  hat  er  Unrecht,  wenn  er  in  den  mangelhaften  Erfolgen 
die  Rechtfertigung  für  die  alten  herkömmlichen  Missbräuche 
findet  Scharfsinnig  ist  seine  Beurtheilung  der  politischen 
Bedeutsamkeit  Neckers.  Dieser  glaubte  Frankreich  ohne  Be- 
rücksichtigung seiner  nationalen  Entwicklung  in  der  Weise 
seines  kleinen  durch  Geldaristokratie  beherrschten  Vaterlandes 
regieren  zu  können.  Er  wollte  die  Missbräuche,  durch  welche 
der  Staat  in  eine  so  grosse  Finanzverwirrung  gerathen  war, 
durch  gleichmässige  Ausdehnung  der  Steuerverpflichtung  über 
alle  Stände,  öffentliche  Rechnungslegung  und  Theilnahme 
aller  Steuerpflichtigen  an  der  Bewilligung  der  Lasten  nach 
zweckmässiger  Vertretung  abstellen.  Der  grossen  Masse  des 
physisch  und  moralisch  niedergedrückten  dritten  Standes  Er- 
leichterung zu  verschaffen,  war  ein  löblicher,  von  den  Gut- 
denkenden aller  Stände  gleich  gebilligter  Zweck;  allein  ob 
dieser  durch  Anwendung  jener  Principien  auf  Grundlage  der 
bestehenden  Verhältnisse  in  Frankreich  erreicht  werden  konnte, 
war  eine  ganz  andere  Frage,  eine  Frage,  die  sich  ein  Staats- 

Zeitschrift  f.  Gesebichtsw.    IV.  184">.  35 


534    Ueber  die  netteste  Auffassung  der  franz.  Revolution, 

mann,  der  eine  alte  Verfassung  zeitgemäss  ändern,  oder  eine 
neue  schaffen  will,  vor  allen  Dingen  beantworten  musste. 
Da  einmal  keine  Regierung  ohne  eine  bestimmte  Form  be- 
stehen kann,  so  ist  selbst  eine  fehlerhafte  besser  als  eine 
schwankende.  Dem  Finanzminister  schwebte  die  englische 
Verfassung,  das  Zweikammersystem  vor;  er  hatte  aber  nicht 
bedacht,  dass  dieses  sich  in  England  nicht  durch  Montesquieu- 
sehe  Ansichten  von  einem  modernen  Husterstaat,  sondern 
durch  den  stürmischen  Lauf  einer  mit  Blut  bezeichneten  Ge- 
schichte entwickelt  hatte,  nicht,  dass  Frankreich  vielleicht 
schon  über  die  Zeit  hinaus  war,  wo  es  ein  dem  englischen 
ähnliches  Ober-  und  Unterhaus  bilden  konnte ,  nicht,  isss 
vor  allem  der  Grundbesitz,  wenn  man  eine  gemässigte  Ver- 
fassung schaffen  wollte,  als  wichtigste  Grundlage  des  neuen 
Systemes  angewendet  werden  musste.  Hierin  zeigte  Türgot, 
wie  Gapefigue  ganz  richtig  bemerkt,  einen  weit  tieferen  Blick 
in  das  innerste  Wesen  einer  weisen  Staatskunst,  indem  er 
nur  den  Grund  und  Boden  besteuern,  ihn  aber  auch  von 
allen  bisher  drückenden  Fesseln  befreien  und  mit  politischem 
Einflüsse  ausstatten  wollte.  Mit  den  Ideen  Türgots  war  allen- 
falls eine  der  englischen  ähnliche  Verfassung  denkbar,  Necker 
musste  durch  die  consequente  Ausführung  der  seinigeo  ssr 
Auflösung  aller  stabilen  Elemente  hindrängen.  So  ungefähr, 
obwohl  mit  der  schroffsten  Uebertreibung,  äussert  sieb  Cap*» 
figue  über  den  Einfluss  der  beiden  für  Frankreich  in  jener 
Zeit  so  wichtigen  Männer.  Uebrigens  verfällt  er,  trotz  seines 
grossen  Scharfsinnes,  in  den  Fehler,  der  überhaupt  an  den 
Schriften  der  Anhänger  des  alten  Herrschersystems  getadelt 
wird,  nämlich,  dass  er  durch  seine  Verteidigung  den  Un- 
werth  desselben  mehr  als  die  heftigsten  Gegner  herausstellt 
Aus  Hass  gegen  die  Revolution  und  ihre  Folgen  wird  er  ein 
ganz  verblendeter  Anbänger  des  Alten.  Er  schwelgt  in  dem 
Andenken  der  Genüsse  des  zügellosen  Hofes,  wenn  er  den 
Schauplatz  so,  mancher  Thorheiten  und  Unsittlichkeiten  be- 
tritt, er  identificirt  sich  ganz  mit  ihm,  indem  er  sich  im  Beiz 
der  Erscheinungen,  als  ob  er  sie  in  die  Gegenwart  zurück- 
zaubern könnte,  berauscht,  und  entsagt  so  freiwillig  dem  Vor? 


mit  besonderer  Beziehung  auf  Capefigue.  535 

tbeil  des  Geschichtschreibers,  unparteiisch  und  unbestochen 
von  der  Bewegung  des  Augenblicks  sein  (Jrtheil  abgeben  zu 
können.    Für  ihn  ist  heute  noch  eine  Dübarry  durch  ihre 
bezaubernden  Buhlerkünste  gerechtfertigt;  ja  nicht  einmal  in 
dem  politischen  Gegner  seiner  Herren,  dem  Herzoge  ton  Or- 
leans, rügt  er  die  vollendete  sittliche  Verderbniss.  Eine  solche 
schamlose  Machsicht  gegen  die  Sittenlosigkeit  jener  Zeit  er« 
regt  mehr  Widerwillen  gegen  sie  als  die  schärfste  Anklage. 
Mit  Recht  tritt  Capefigue  einigen  stets  wiederholten  oder 
doch  wenigstens  mit  Stillschweigen  übergangenen  Behauptun- 
gen entgegen,  z.  B.  der  Beschuldigung  sinnloser  Verschwen- 
dung gegen  die  Königin,  so  wie  der  wider  Galonne  fast  all« 
gemein  erhobenen  Anklage,  dass  er  mit  verräterischem  Leicht« 
sinn  den  finanziellen  Ruin  seines  Vaterlandes  vervollständigt 
habe.   Die  Ausgaben  des  Hofes  waren  bedeutend;  weit  über« 
schritten  sie  das,  was  der  Glanz  einer  der  mächtigsten  Kro- 
nen als  gebührenden  Schmuck  verlangen  konnte,  doch  waren 
diese  Ausgaben  gering  gegen  das  Bedürfniss  des  übel  einge« 
richteten  Staatshaushaltes  selbst    Ja  auch  dieser  hatte  nicht 
einmal  die  Kräfte  des  Volkes  erschöpft,  denn  Frankreich  war 
im  Allgemeinen  blühend,  sein  Nationalreichthum  in  ununter« 
brochenem Steigen  begriffen;  jedoch  stand  es  leider  dem  Staate 
nicht  frei,  in  der  Wahl' der  Mittel  zur  Befriedigung  seiner 
Bedürfnisse  stets  zweckmässig  und  billig  zu  verfahren.    Da« 
her  wurde  denn  auch  durch  Ersparungen,   wie  sie  Necker 
vorschlug,  verhältnissmässig  nur  Unbedeutendes  gewonnen, 
und  sie  waren  keinesweges  geeignet  auf  Verminderung  des 
gefürchteten   DeBcits   merklich  einzuwirken.     Insofern   hat 
Capefigue  ganz  recht,  allein  er  thut  unrecht,  wenn  er  Necker's 
Sparsystem  deshalb  rücksichtslos  verdammt,  wenn  er  in  sei« 
ner  Sparsamkeit  nur  Knickerei,  nur  die  Herabwürdigung  und 
Vernichtung  des  alten  königlichen  Ansehens  erblickt    Auch 
übersieht  er   ganz,    dass   der  Heiligenschein  der  Majestät, 
welchen  Ludwig  XIV.  durch  den  von  ihm  eingeführten  kö« 
niglichen  Pomp  zu  erhalten  suchte,  schon  lange  vor  den  An- 
griffen des  philosophischen  achtzehnten  Jahrhunderts  dahin« 
geschwunden  war,  dass  vielmehr  jener  Prunk  als  ein  Theil 

36* 


536    lieber  die  neueste  Auffassung  der  fratn.  Revolution, 

der  Gebräuche  aller  gedankenlosen  Kulte  erschien,  gegen  den 
man  einen  Kampf  auf  Leben  und  Tod  begonnen  hatte.  Hier» 
forderte  die  öffentliche  Meinung  Befriedigung.  Man  wollte 
den  Altar  nicht  seiner  Heiligkeit,  den  Thron  nicht  sein« 
Glanzes  berauben,  aber  ersterer  sollte  nicht  Vernunft  und 
Menschlichkeit,  letzterer  nicht  das  Wohl  des  Volkes  zum 
Opfer  verlangen.  Türgot  hatte  seine  ganze  Kraft  gegen  die 
Schranken  des  materiellen  Wohlseins  der  Unterthanen  ge- 
richtet, Malesherbes,  sein  treuer  Freund  und  Gelahrte,  gegen 
die  Fesseln  der  Intoleranz  und  des  Fanatismus,  Necker  be- 
schränkte sieb  darauf  mit  vorläufiger  Beseitigung  aller  dieser 
Lebensfragen  den  Herrscher  als  Disponenten  des  Staatster- 
mögens  zu  rechtfertigen.  Daher  die  öffentliche  Rechnungs- 
legung. Sie  sollte  beweisen,  dass  nicht  Laune  und  Willkar 
über  die  finanziellen  Kräfte  des  Staates  verfugte,  sondern 
eine  wohlwollende  und  weise  Regierung,  die  nicht  sowol 
sich  als  vielmehr  das  öffentliche  Heil  zum  Zweck  hat 
Es  kam  hier  also  minder  auf  die  materielle  Ersparnis,  als 
auf  die  Ueberzeugung  an,  dass  Sinn  für  Sparsamkeit,  nicht 
zügellose  Verschwendung  walte.  Diese  Vorstellung  so  wie 
die,  dass  Vernunft  und  Mässigung  herrschen,  erzeugt  das 
Vertrauen  der  Unterthanen  in  die  Regierung.  Durch  sokfa 
Maassregeln  suchten  Türgot,  Malesherbes  und  Kecker  die 
Schärfe  der  Opposition,  ja  man  kann  wohl  sagen,  den  Hws 
zu  massigen,  den  sich  die  königliche  Gewalt  durch  langjährige 
Willkürherrschaft  zugezogen  hatte,  und  dies  war  eine  der 
hauptsächlichsten  Aufgaben.  Es  ist  also  nichts  leichter  als 
nachzuweisen,  dass  alle  Ersparnisse  Necker's  gegen  die  un- 
geheure Summe  des  Deficite  nur  Unbedeutendes  betrugen, 
allein  niemand  kann,  wenn  ich  mich  so  ausdrücken  darf,  den 
moralischen  Einfluss  der  Oekonomie  Necker's  auf  die  öffent- 
liche Meinung  bestreiten.  Durch  diesen  gelang  es  ihm,  der 
Krone  trotz  ihrer  ungünstigen  Lage  mit  Leichtigkeit  Anleihen 
zu  einem  sehr  hohen  Belauf  zu  eröffnen,  ohne  die  Staats- 
gläubiger dadurch  zu  beunruhigen,  und  ohne  sich  die  Mög- 
lichkeit zu  Anträgen  auf  eine  neue  Besteuerungsweise  abzu- 
schneiden.    Anders   Galonne.     Auch   er  wusste  selbst   die 


mit  besonderer  Beziehung  auf  Capefigue.  537 

Gapitalisten  durch  seine  Operationen  zu  täuschen,  indem  er 
nicht  nur  alle  Verpflichtungen  des  königlichen  Schatzes  pünkt- 
lich erfüllte,  sondern  noch  überdies  mit  stets  bereiter  Frei- 
gebigkeit manches  launenhafte  Bedürfniss  des  Hofes  in  der 
ehemaligen  Weise  befriedigte.  Daher  haben  ihm  vorzüglich 
nicht  nur  seine  Zeitgenossen,  sondern  auch  viele  Geschicht- 
schreiber ohne  richtige  Prüfung  der  wahren  Verhältnisse  die 
ungemeine  Vergrösserung  der  Staatsschuld  von  1778 — 1786 
zugeschrieben,  obgleich  schon  Necker  selbst  durch  die  Be- 
dürfnisse des  amerikanischen  Krieges  für  grosse,  die  gewöhn- 
lichen Mittel  weit  überbietende  Ausgaben  die  Staatsanleihen 
hatte  ausdehnen  müssen.  Genaue  Berechnungen  haben  ge- 
lehrt, dass  sich  in  den  Jahren  der  Verwaltung  Calonne's  das 
Deficit  eigentlich  nicht  vergrösserte,  dass  die  ersten  Jahre 
des  Friedens  noch  viele  Lasten  des  vorhergegangenen  Krieges 
tragen  mussten,  und  dass  demnach  der  Finanzminister  keines- 
weges  so  gedankenlos  gewirthscbaftet  hat,  als  man  gewöhn- 
lich darzustellen  pflegt.  Im  Gegentheil  war  sein  Verfahren 
durchaus  berechnet  Was  Necker  durch  Oeffentlichkeit  und 
Popularität  erreichte,  musste  er  durch  den  Anschein  des 
Ueberflusses  erzwingen.  So  hoffte  er  durch  sein  ganz  un- 
bestreitbares Verwaltungstalent  die  Meinung  Tür  sich  zu  ge- 
winnen, und  zuletzt  hierdurch  die  Bevorrechtigten  zur  er- 
weiterten Theilnahme  an  den  Staatslasten  zu  nöthigen. 

Wie  Necker  durch  sein  System  einer  weisen  Staats- 
ökonomie eine  Popularität  sonder  Gleichen  gewann,  so  be- 
reitete sich  Galonne  durch  den  Anschein  rücksichtsloser  Ver- 
schwendung den  jähen  Sturz,  weil  der  eine  den  herrschenden 
Ideen  der  Zeit  huldigte,  der  andere  gegen  sie  in  den  ent- 
schiedensten Widerspruch  trat.  Deshalb  fand  er  auch  keinen 
Glauben  und  keinen  Beistand,  als  er  endlich  zu  denselben 
seine  Zuflucht  nehmen  wollte.  Galonne  war  so  geschickt 
als  Necker  in  der  Finanzverwaltung,  an  Menschenkenntniss 
und  politischem  Scharfblick  übertraf  er  ihn  weit,  allein  seine 
Verwaltung  gründete  sich  auf  Intrigue  und  Täuschung;  da- 
her der  Widerwille  gegen  ihn,  weil  der  Geist  der  Zeit  im 
Gegensatz  zu  der  Vergangenheit  die  Moral  als  notwendigste 


538    Ueber  die  neueste  Auffassung  der  fron».  Revolution, 

Eigenschaft  des  Staatsmannes  verlangte.  So  lange  man  nur 
durch  sie  die  neuen  Ideen  zum  Siege  fähren  zu  können  glaubte, 
blieb  Necker  der  Heros  der  grossen  Volksumwandlung;  sein 
Stern  ging  unter  mit  dem  Schwinden  dieses  Wahnes.  — 

Aus  allem  Vorhergehenden  haben  wir  gesehen,  dass  Cape- 
figue  entweder  absichtlich  oder  von  Leidenschaft  verblendet 
die  Richtungen,  aus  welchen  die  Revolution  hervorgegangen 
ist,  verkennt,  dass  es  ihm  nicht  darauf  ankommt,  ob  ein  Staat 
mit  seiner  Verwaltung  auf  einer  sittlichen  Idee  beruhe,  oder 
nicht,  sondern  dass  er  jegliches  politische  System  nur  nach 
sei ner  durchaus  einseitigen  Vorstellung  von  Volksthümlicb- 
keit,  Volksruhm  und  Volksgrösse  beurtheilt    Für  ihn  aber 
besteht  der  Ruhm  des  französischen  Volkes  darin,  dass  der 
Hof  durch  seinen  Glanz  alle  andern  Höfe  der  eultivirten  Wek 
überstrahle,  ohne  Berücksichtigung  der  dazu  erforderlieben 
Opfer  und  Anstrengungen;  dass  der  Adel  keine  höhere  Pflicht 
habe,  als  zur  Erreichung  dieses  Zweckes  seine  Schätze  und 
seine  besten  Kräfte  zu  verschwenden;  dass  der  Geras,  die 
Herrschaft  der  römischen  Hierarchie,  die  kirchlichen  Satzun- 
gen gegen  alle  Regungen  des  freieren  Geistes  aufrecht  er- 
halte, jede  ketzerische  Abweichung  von  der  katholischen  Lehre 
mit  kräftiger  Hand  verhindere;  das  Volk  dagegen  in  stum- 
mer Verehrung  Thron  und  Altar  anbete,  sich  im  Glanz?  des 
ersten  sonne,  und  von  dem  letzteren  sich  das  Gebiet  seiner 
Gedanken  abstecken  lasse.    Dies  ist  für  ihn  die  alte,  ehr- 
würdige Herrschaft,  die  Gründerin  des  französischen  Natio- 
nalruhms.   Die   Volksgrösse  und  Volksmacht  aber  besteht 
ihm  etwa  in  der  Erwerbung  Belgiens  oder  irgend  einer  an- 
dern benachbarten  Provinz,  in  furchtbarer  See-  und  Land- 
macht, in  der  Besoldung  fremder  Kabinette  zur  Ausführung 
ehrgeiziger  Pläne.    Allein  dabei  vergisst  er,  dass  die  Politik 
der  Kabinette  nicht  mehr  wie  ehemals  von  dem  Willen  der 
Volker   unabhängig  ist,    und  dass  von  alten  Völkern  am 
mächtigsten  stets  das  sein  wird,  welches  sich  am  gerechte- 
sten nach  aussen,  im  Innern  am  einigsten  zeigt    Wenn  wir 
auch  zugestehen,  müssen,  dass  Frankreich  heut  zu  Tage  noch 
night  auf  diesem  Standpunkt  steht,  so  ist  doch  auch  ebenso 


mit  besonderer  Beziehung  auf  Capefigiie.  539 

gewiss,  dass  es  vor  der  Revolution  weder  gerecht  nach  aussen 
noch  einig  nach  tauen  war.  Nur  den  Schein  der  innern 
Einigkeit  trug  es  an  sich,  und  kein  wichtiger  historischer 
Moment  zeigte  sieb,  wo  ein  .gemeinsamer  Geist  das  Volk  für 
einen  grossen  Zweck  belebt  hätte. 

Was  also  die  Franzosen  von  ihrer  Nationalität  und  von 
ihrer  nationalen  PoJitik  aufgegeben  haben,  dürfen  sie  nicht 
bedauern,  und  was  Capefigue  so  rühmt,  müssen  wir  als  ge- 
fahrliche Auswüchse,  als  Krankheiten  abseben,  gegen  welche 
die  Revolution  eine  allerdings  furchtbare  Beaction  ausgeübt 
bat.  Wenn  man  von  einer  grösseren  Ehrfurcht  vor  allem 
Heiligen,  vor  Thron  und  Altar  spricht,  so  ist  dies  nur  eine 
Täuschung,  denn  gerade  alles,  was  den  höheren  Regionen 
der  Gesellschaft  angehörte,  hielt  es  für  guten  Ton  gegen 
dieselben  die  giftigen  Pfeile  des  frivolsten  Spottes  zu  schleu- 
dern. So  erscheinen  denn  jene  vorgeblichen  Verehrer  des 
Heiligen  als  elende  Heuchler,  um  so  verächtlicher,  da  sie 
aus  eigennützigen  Zwecken  in  dem  grossen  Haufen  Gesin- 
nungen erregen  und  erhalten  wollten,  die  sie  selbst  nicht 
tbeilten.  Die  unbedingte  Verehrung  vor  dem,  was  uns  die 
Vorzeit  als  ihre  Heiligthümer  hingestellt  hat,  fallt  überhaupt 
mit  dem  Erwachen  einer  vernünftigen  Kritik,  in  Beziehung 
auf  die  Religion,  des  Protestantismus,  zusammen,  daher  auch 
Capefigue'»  wiitheoder  Hass  gegen  denselben.  In  ihm  sieht 
er  mit  Recht  den  Widerstand  gegen  jede  nur  ausserliche 
Autorität;  er  erkennt  ganz  consequent  in  dem  Protestantis- 
mus die  Quelle  aller  revolutionären  Bewegung  und  stimmt 
bierin  mit  manchen  deutschen  Historikern  durchaus  überein. 
Historische  Ansichten  der  Art  sind  freilich  nicht  consequent 
genug,  weil  sonst  ein  jeder  geistige  Fortschritt  in  der  Welt- 
geschichte auf  ähnliche  Weise  verurtheilt  werden  müsste. 
So  bricht  denn  Capefigue  in  seiner  Verurtbeilung  der  fran- 
zösischen Revolution  natürlich  den  Stab  über  die  ganze 
Richtung  der  neuesten  Zeit,  deren  Vertheidigung  wir  hier 
nicht  weiter  fortführen  wollen.  — 

Nachdem  wir  die  Hauptzüge  der  Ansichten  Capefigue's 
über  die  Revolution  geprüft  haben,  könnten  wir  noch  eine 


540    Ueber  die  neueste  Auffassung  der  frans.  Rtüokaion, 

Menge  von  Einzelheiten  herzählen,  die  ebenso  einseitig  und 
anwahr  dargestellt  sind,  doch  genagt  uns  schon  das  Obige 
zur  Charakteristik  seiner  historischen  Auffassung.  Es  bleifc 
uns  daher  nur  noch  übrig  zu  betrachten,  wie  er  als  Biograph 
zur  Rechtfertigung  der  von  ihr  angeschuldigten  Personee 
auftritt  Hier  verwendet  er  die  meiste  Mühe  auf  die  Zeich- 
nung der  Königin  und  des  Grafen  von  Artois.  Dem  Könige 
selbst  lässt  er,  einige  schon  oben  erwähnte  CJebertreibungen 
abgerechnet,  nur  Gerechtigkeit  widerfahren;  dagegen  gestattet 
er  seinem  Enthusiasmus  den  freiesten  Lauf,  sobald  er  von 
jenen  spricht  Beide  erscheinen  ihm  ganz  auf  der  Hohe 
ihrer  erhabenen  Stellung,  ganz  ausgerüstet  mit  dem  der 
Krone  Frankreichs  gebührenden  Geiste,  für  erstere  ein  an 
so  höherer  Ruhm,  da  sie  nur  die  Adoptivtochter  Frankreichs 
war.  Auch  hier  zeigt  Gapefigue  den  gewöhnlichen  Leicht- 
sinn in  seinem  (Jrtheil.  Fern  sei  es  von  uns,  das  Andenken 
der  unglücklichen  Königin  zu  beflecken,  doch,  müssen  wir 
gestehen,  dass  das  ungemessene  Lob,  welches  ihr  der  Schrift- 
steller in  jeder  Beziehung  spendet,  durch  seine  sophistisch- 
rhetorische Färbung  ihrem  Bilde  eher  schadet  als  nützt,  in- 
dem es  fast  als  Ironie  erscheint  Tadeln  wir  ihn  auch  nicht, 
wenn  er  das  reizende  Sich -gehen -lassen,  die  unschuldge 
Goquetterie  der  jungen  Königin  in  den  lebhaftesten  Farben 
schildert,  und  er  ist  ein  Meister  im  leichten  Hinwerfen  sol- 
cher Bilder,  so  mus?  es  seiner  gefeierten  Heldin  doch  scha- 
den, wenn  er  triumphirend  von  ihr  erzählt,  dass  sie  auf  einem 
der  grossen  Opern -Maskenballe  in  Paris,  die  sie  stets  ohne 
den  König  in  Begleitung  einiger  anderer  junger  lebenslustiger 
Damen  in  Fiakern  besuchte,  mit  einer  als  Fischweib  er- 
scheinenden Maske,  welche  sie  kurzweg  Antoinette  anredete, 
und  sie  schalt,  dass  sie  in  dem  Augenblick,  wo  ihr  Mann  in 
seinem  Bette  schnarche,  nicht  wie  es  sich  gebührte,  bei  ihm 
schliefe,  einen  grossen  Theil  des  Abends  verkehrt,  und  den 
lebhaftesten  Antheii  an  den  vor  ihr  in  der  derbsten  Pöbel- 
sprache vorgetragenen  Witzen  bezeugt  habe.  Und  dies  ge- 
schab, als  sie  freilich  noch  jung,  doch  gegen  10  Jahre  schon 
vermählt  war.    Kann  man  sich  da  noch  wundern,  dass  die 


mit  besonderer  Beziehung  auf  Capeßgue.  54  i 

Verläumdung  so  freies  Spiel  hatte,  und  wie  ungegründet 
auch  ihre  Beschuldigungen  waren,  doch  endlich  den  Sieg 
über  die  anfangs  so  hoch  verehrte  Fürstin  davontrug?  Der 
Geschichtschreiber  darf  Züge  der  Art  nicht  verhehlen,  denn 
er  soll  ein  wahres,  ungeschminktes  Bild  geben,  allein  er 
wird  den  Leser  durchaus  wider  seinen  Gegenstand  einneh- 
men, wenn  er  das,  was  der  Büge  bedarf,  dem  Löblichen 
und  Ehrenvollen  gleichstellt. 

Für  die  Gebieter  der  Völker  wird  manches  dem  Niedern 
Erlaubte  ein  schweres  Vergehen.    Diese  Wahrheit  findet  auf 
Maria  Antoinette  ihre  volle  Anwendung.   Sie  zerriss  mit  Ge- 
walt den  Schleier,  welcher  bisher  das  geheimnissvolle  Bild 
der  königlichen  Majestät  bedeckt  hatte.    Selbst  Ludwig  XV. 
hatte,  trotz  aller  Schwäche  und  sittlichen  Verderbniss,  doch 
wenigstens  die   äussere  Hülle  der  königlichen  Erscheinung 
bewahrt    Diese  war  nun  vollends  nicht  ohne  Maria  Antoi- 
nette's  Schuld  gefallen,  und  leider  trug  noch  zu  ihrer  Ver- 
nichtung der  so  ehrenhafte,   streng  sittliche  Ludwig  durch 
seine  unkönigliche,  man  möchte  fast  sagen,  spiessbürgerliche 
Lebensweise  bei.    Demnach  könnte  man  ganz  im  Gegensatz 
gegen  Gapefigue  mit  vollem  Rechte  behaupten,  dass  Ludwig 
und  Maria  Antoinette,  abgesehen  von  ihren  sittlichen  und 
geistigen  Vorzügen,  am  allerwenigsten  zu  Herrschern  des 
französischen  Volkes  in  jener  Zeit  berufen  waren.    Und  Züge 
obiger  Art  betreffen  nur  die  äussere  Haltung  Maria  Antoi- 
nette's;  es  fehlte  ihr  aber  ebenso  an  königlicher  Gesinnung 
und  Einsicht.    Auch  hier  ist  Gapefigue  selbst  gegen  sie  der 
gewichtigste  Zeuge.    Er  bestätigt,  was  allgemein  angenom- 
men wird,  dass  seit  Maureges  Tode  die  Königin  einen  ent- 
schiedenen Einfluss  auf  die  Leitung  der  öffentlichen  Ange- 
legenheiten gewann.    Auch  hier  spricht,  selbst  nach  seinen 
Berichten,  aus  allen  ihren  Handlungen  ein  rücksichtsloser 
Leichtsinn,  die  vollkommne  Abwesenheit  aller.  Principien,  ja 
jeder  Mangel  an  ernstem  Willen  für  die  Erfüllung  eines  so 
grossen  Berufes.   Sie  ist  die  eifrige  Gönnerin  Calonne's,  weil 
sie  als  hauptsächlichstes  Bedürfniss  der  Krone  einen  Mann 
verlangt,  der  mit  Leichtigkeit  allen  Geldforderungen  zu  ge- 


Sit    lieber  die  neunte  Aujfa$$umg  der  fron*.  Revolution, 


nügen  versteht.  Auf  Principien  kommt  es  ihr  hierbei  gar 
nicht  an,  denn  als  der  scharfsinnige  Finanzminister,  4er  ge- 
wandte Vertheidiger  der  unumsebrinkten  königlichen  Madt 
von  den  Notabein  ernstlich  angegriffen  wird,  erklärt  sie  skh, 
unbekümmert  um  ihren  treuen  Diener,  der  ihr  die«  auch  me 
vergeben  hat,  für  einen  neuen  Günstling,  den  Erzbischof 
Lomenie  von  Brienne.  Der  König,  ernster  und  bedächtiger, 
sah  mit  Besorgniss  auf  den  ungläubigen  Priester»  den  An- 
hänger und  Gönner  der  EncyclopSdisten;  allein  die  Königin, 
gedankenlos  den  Eindrucken  des  Augenblickes  hingegeben, 
erblickte  in  dem  Erzbischofe  den  Mann  der  neuen  Ideen, 
welcher  als  Höfling  dieselben  mit  dem  alten  System  vermit- 
teln sollte«  Zu  diesen  Ideen  nahm  sie  aber  nicht  ihre  Zu- 
flucht, weil  sie  in  ihnen  überhaupt  das  Heil  des  Staates  sab; 
im  Gegentheil,  sie  betrachtete  sie  als  äusserst  gefährlich;  al- 
lein sie  vermuthete  in  ihnen,  und  dies  ganz  irrthümlieher 
Weise,  eine  unerschöpfliche  Goldquelle  für  den  königlichen 
Schatz.  Sobald  daher  Brienne  auf  Ersparnisse  und  Be- 
schränkungen drang,  sah  er  sich  augenblicklich  von  seiner 
Beschützerin  verlassen.  Ja  sie  und  der  ihr  voUkommes 
gleiebgesinnte  Graf  von  Artois  drangen  am  eifrigsten  bei 
dem  Könige  auf  die  Entlassung  des  vor  kurzem  noch  so  er- 
wünschten Premierministers.  Ohne  die  ernsten  Folg«  As 
neuen  Schrittes  tu  bedenken,  verwendete  sie  sich  mit  ta 
ganzen  Lebhaftigkeit  ihres  beweglichen  Geistes  für  Necker, 
gegen  dessen  Person  und  System  sie  doch  aus  vielen  einla- 
den einen  entschiedenen  Widerwillen  hatte;  aber  er  war  der 
Mann»  von  dem  man  damals  Geld  ohne  lästige  Beschränkun- 
gen erwarten  konnte,  und  dies  bewog  sie,  seine  Ernennung 
bei  dem  Könige  auf  das  Angelegentlichste  zu  betreiben«  Ca- 
pefigue  bemüht  sich  gar  nicht,  diesen  grenzenlosen  Leicht- 
sinn zu  entschuldigen.  Ganz  unumwunden  sagt  er:  „L'in- 
farigue  de  M.  Necker  avait  alors  pour  appui  la  reine  et  le 
oorate  d'Artois,  et  oda  s'exptique;  habitols  Tun  et  I*autr«  a 
trouver  d'ineassaates  ressourees  dans  le  träsor,  US  ne  pou- 
mncnt  se  faire  4  Tidte  da  cette  Itroite  p&mrie;  IL  Necker 
leur  affrait  «m  ci6dit  ouvert,  conmeitt  ne  pas  aecepter  avec 


mit  besonderer  Beziehung  auf  Capefigue.  543 

un  indioible  empressement."  Welch  einCynismus  in  diesem 
politischen  Glaubensbekenntniss!  Die  Gegner  der  Königin 
könnten  den  gänzlichen  Mangel  an  Ernst  in  ihren  Schritten 
nicht  gründlicher  nachweisen.  Nicht  minder  unbesonnen  er* 
scheint  nach  Capefigue  die  Parteinahme  der  Königin  für  den 
dritten  Stand  gegen  den  Adel,  indem  er  behauptet,  sie  habe 
einerseits  die  verlorne  Popularität  wiedergewinnen,  ander- 
seits sich  an  dem  Adel  wegen  mancher  hämischen  Verlium- 
düngen,  die  allerdings  von  demselben  gegen  sie  ausgegangen 
waren,  rächen  wollen.  Hierdurch  bezeugte  sie  aber  die  voll« 
kommenste  Nicbtkenntniss  ihrer  Lage  und  Verhältnisse. 

Um  niehts  günstiger  stellt  sich  das  Bild  des  Grafen  von 
Artois;  er  ist  ihm  der  treue  Verehrer  und  Anhänger  der 
Königin,  und  tbeilt  mit  ihr  nicht  nur  alle  Privatneigungen, 
sondern  auoh  ihre  politischen  Ansichten,  nur  ist  er  ihr  ge- 
genüber der  bei  weitem  unbesonnenere  und  gedankenlosere. 
Wenn  die  Königin  ohne  System  und  festes  Princip  nach 
Plänen  und  Maassregeln  greift,  so  zieht  er  stets  die  aben- 
teuerlichsten vor;  sie  liebt  leidenschaftlich  Zerstreuung  und 
Vergnügen,  doch  mit  feinem  Geschmack  und  Anmuth, 
für  ihn  dagegen  ist  die  Woblanständigkeit  so  wenig  eine 
Schranke,  dass  er  sich  auf  einem  Maskenballe  auf  das  Grob-» 
liebste  in  Worten  und  sogar  thätlich  gegen  die  Herzogin  von 
Bourbon,  eine  Prinzessin  des  königlichen  Hauses,  vergreift; 
sie  überschreitet  den  Etat  ihrer  Ausgaben,  jedoch  grossen- 
theils  zu  Gunsten  der  Notleidenden  und  Bedrückten,  er 
stürzt  sich  Hals  über  Kopf  in  Schulden,  indem  er  sinn-  und 
zwecklos  (k  tort  et  k  travers)  das  Geld  verschleudert.  Ausser- 
dem hat  sie  den  kühnen,  unerschrockenen  Muth  der  Mutter, 
der  vor  keiner  Gefahr  zurückbebt,  während  er,  der  Abkömm- 
ling eines  in  Gefahr  und  Kampf  bewährten  Fürstengeschlechts, 
sich  mindestens  gesagt  höchst  zweideutig  sowol  in  Ehren- 
sachen als  an  der  Spitze  seiner  braven  Truppen  erweist. 
Und  dies  ist  nun  der  loyale  Königssohn,  nach  Capefigue  trotz 
dieser  in  den  Augen  aller  Unbefangenen  ihn  verdammenden 
Schilderung  das  Muster  eines  Prinzen  aus  dem  Hause  Bourbon. 
Und  wahrend  er  hier  seine  eigenen  Worte  Lügen  straft,  wagt 


544  Nachtrag  zu  dem  aufsatz 

er  ei  toii  Malesherbes  zu  sagen,  er  habe  mit  geckenhafter 
Eitelkeit  nur  um  das  Lob  der  philosophischen  Schule  gebuhlt, 
wagt  es,  den  edelmüthigen  Narbonne  einen  leichtsinnigen 
Thoren,  einen  für  das  Gute  wie  für  das  Schlechte  gleich 
unfähigen  geistigen  Eunuchen  zu  nennen;  und  doch  waren 
dies  Männer,  welche  in  unverbrüchlicher  Ergebenheit  gegen 
ihren  unglücklichen  Herrn  jeden  Augenblick  bereit  waren 
die  Märtyrerkrone  für  ihn  zu  tragen,  obgleich  er  den  gewag- 
ten Maassregeln  ihrer  politischen  Gegner  vor  ihren  treuen 
und  ungeschminkten  Rathschlägen  den  Vorzug  gab. 

Eine  solche  Verkehrtheit  bekundet,  wie  schon  mehrfach 
gerügt,  einen  vollkommenen  Mangel  an  sittlichen  Grundsätzen. 
Klar  genug  erweist  sich  die  Sophistik  seiner  Ansichten  ras 
den  hier  vorliegenden  Mittbeilungen,  und  es  ist  nur  die  Keck* 
heit  zu  bewundern,  mit  welcher  er  heut,  wo  die  Segnungen 
einer  freien  Entwickelung   sich  immer  reichlicher  über  die 
cultivirten  Staaten  verbreiten,  das  Princip  aller  wahren  Frei- 
heit bis  an  seine  Wurzel  hinan  zu  verdammen  wagt,  mit 
welcher  er  aller  Sittlichkeit  Hohn  spricht,  und  das,  was  die 
Geschichte   und    die  öffentliche  Meinung   brandmarkt,  als 
einzig  nachzuahmendes  Vorbild  anpreist    So  betrübend  es 
einerseits  ist,  dass  ein  so  geistreicher  Mann  wie  Capefigw 
auf  einen  so  wunderbaren  Abweg  gerathen  kann ,    so  er- 
bebend ist  es  anderseits,  dass  auch  nicht  die  glänzendsten 
Gaben  einer  schlechten  Sache  vor  dem  Tribunal  der  Ge- 
schichte Geltung  zu  verschaffen  vermögen,  sondern  im  Gegen- 
theil  durch  den  Versuch  mit  sophistischen  Künsten  zu  blen- 
den, der  Wahrheit  vielmehr  ein  um  so  sicherer  Sieg  be- 
reitet wird.  Zimmermann. 


Nachtrag  zu  dem  aufsatz  über  das  zu  abend 

speisen  bei  den  göttero, 

im  dritten  bände  dieser  xeitechrift 


Meine  Vermutung  s.  352,  es  würden  sich  noch  andere  Zeug- 
nisse aus  Schriftstellern  des  mittelalters  finden,  schlug  nicht  fehl. 


über  das  zu  abend  speisen  bei  den  göttern.         545 

In  der  vor  1296  gedichteten  Inländischen  reimchronik 
wird  bei  einer  etwa  ins  jähr  1280  fallenden,  dem  dichter  also 
gleichzeitigen  und  selbst  bekannten  begebenheit  das  ende 
eines  deutschen  ritters  erzählt: 

der  hatte  tugenthaften  muot 

zuo  gote  und  gein  den  Hüten. 

ein  wort  wil  ich  bediuten  (d.  h.  melden) 

daz  er  vor  der  Bige  sprach, 

dö  man  den  vtnden  jagete  nach: 

„ich  wil  noch  hiute  ze  n6ne 

vor  dem  himeltröne 

bi  unser  vrowen  nähen 

mine  spise  enpfähen." 

der  pilgerin  voget  was  er  genant 

und  was  von  WestvAIen  lant, 

des  ors  beleih  vor  müede  st&n, 

er  muoste  den  bruodern  abe  g&n. 

Nameise  der  vlöch  über  lant 

und  quam  Af  daz  is  gerant 

dö  er  des  ritters  wart  gewar, 

er  jagete  zim  mit  siner  schar, 

der  ritter  wart  von  im  geslagen: 

man  hörte  den  held  sfder  clagen. 
9345—64 
Vor  Riga,  als  die  deutschen  ritter  ausgezogen  waren  gegen 
die  heidnischen  Semgallen,  sprach  ein  aus  Westfalen  bärti- 
ger, hier  nicht  namentlich  genannter,  nur  als  pilgrimvogt  be- 
zeichneter held  die  ahnung  aus,  dieser  tag  werde  der  letzte 
seines  lebens  sein,  wie  sich  auch  bewährte,  sein  pferd  blieb 
auf  dem  eis  ermattet  stehn  und  trennte  ihn  von  allen  übrigen, 
so  dass  er  den  nachsetzenden  feinden  in  die  bände  fiel  und 
von  Nameise,  deren  anfuhrer,  getödtet  ward.  Der  uralte 
ausdruck  in  seinem  munde:  „noch  heute  nachmittag  werde 
ich  im  himmel  bei  unserer  frau  speisen"  mag  unter  dem 
volk  seit  der  heidnischen  zeit  im  gang  geblieben  sein.  Maria 
wird,  wie  sonst  in  vielen  fällen,  an  die  stelle  der  heidnischen 
Frowa  (s.  351)  gesetzt,  und  sie  war  der  deutschen  ritter 
schutzfrau.  Jac.  Grimm. 


Zur 
Philosophie  des  Staates  und  der  Geschichte. 


PnUoeopbie  das  Maate  oder  Allgemeine  Sadalllieorie.  Von  Dr.  Hngo 
Eisenbart,  Privatdooeot  der  StaatewiesenscnaJten  zu  Haue.  Leipzig  bei  F.  A. 
BrocUiaas.     4843.     XXX  n.  fft6  8.  S. 

Die  Philosophie  bat  sich  nachgrade  aller  Wissenschaften  and 
Lebensmomente  bemächtigt,  und  sie  ans  der  Vernunft  heraus  zu 
constrairen  getrachtet;  nar  über  Eins  ist  sie  noch  sehr  wenig  im 
Klaren,  über  sich  selbst.  Sie  will  überall  in  göttlichen  und  irdi- 
schen Dingen  den  Wahn  zerstören,  aber  ihre  erste  Prämisse,  die 
Zuversicht  es  zu  können,  ist  selbst  ein  Wahn.  Sie  will  nicht  glau- 
ben, sondern  wissen,  und  doch  ist  was  sie  weiss  nar  das  was  sie 
glaubt.  Daher  die  Menge  der  einander  verdrängenden  Systeme, 
von  denen  jedes  das  unfehlbare,  jedes  das  letzte  sein  will,  und  es 
doch  höchstens  nur  so  lange  bleibt  bis  ein  vermeintlich  allerletztes 
das  letzte  wieder  zum  vorletzten  degradirt. 

Und  woher  diese  Erscheinung?  Weil  das  Vernünftige  und 
Wahre  nicht  dies  Eine,  sondern  das  Ganze  ist,  nicht  ein  Moment 
in  der  Entwicklung,  sondern  die  Entwicklung  selbst,  und  daher 
nicht  in  einem  ersten  oder  letzten  Scböpfangsakte,  sondern  in  dem 
Processe  einer  unendlichen  Selbstzeugung  besteht. 

Doch  wir  wollen  der  Philosophie  keineswegs  zu  nahe  trete»; 
vielmehr  ist  es  nichts  weniger  als  ein  Uebel,   wenn  neben  dem 
Wirklichen  auch  das  Ideale,  neben  dem  was  ist  auch  das  was  sein 
könnte  oder  sein  möchte  sich  geltend  macht,   oder  mit  andere» 
Worten  neben  der  Praxis  die  Theorie.    Denn  beide  lernen  selbst 
unwillkürlich  von  einander,  und  in  dieser  Wechselwirkung  beruht 
ihr  beiderseitiger  Fortschritt.    Nur  da  wo   sie  einseitig  sich  ab- 
schliessen,   entstehen    immer  Missverhältnisse:    die   Wirklichkeit, 
welche  die  Theorie  verachtet,  versumpft  und  erstarrt;  die  Theorie, 
die  von  der  Wirklichkeit  sich  lossagt,  verfliegt  in  Schaume  und 
Träume.    Ist  nun  die  Harmonie  beider  das  einzig  heilsame  Ver- 
bältniss,  so  ist  doch  die  Vermittlung  dieser  Harmonie  die  schwie- 
rigste aller  Aufgaben  und  erfordert  die  höchste  menschliche  Kunst. 

Denn  Theorie  und  Praxis  neigen  allerdings  von  Natur  zur  Di- 
vergenz. In  jener  waltet  ein  rastloser  oft  wilder  Drang,  in  dieser 
eine  zähe  oft  phlegmatische  Bedächtigkeit,  Daher  so  häufig  Zwie- 
tracht und  selbst  offener  Krieg:  ein  Vorwärtstreiben  und  Zerren 
auf  der  einen,  ein  Abwehren  und  Sträuben  auf  der  andern  Seite. 


Zur  Philosophie  des  Staates  und  der  Geschichte.     647 

Kein  Theil  ist  ohne  Unrecht;  doch  die  grösste  Schuld  trägt  in  den 
meisten  Fällen  wohl  die  Theorie.  Denn  ob  es  gleich  Niemand, 
dem  die  Freiheit  der  Wissenschaft  kein  leerer  Name  ist,  der  Spe- 
calation  verargen  wird,  wenn  sie  für  sich,  im  Bereiche  des  Geistes, 
nach  idealen  Schöpfungen  ringt:  so  muss  sie  doch,  will  sie  über 
sich  hinausgehen  und  zur  Lehrerin  des  Lebens  sich  aufwerfen, 
zuerst  selber  lernen  was  lehren  beisst,  und  nicht  Alles  auf  Einmal, 
sondern  Eins  nach  dem  Andern  wollen.  Welcher  Mathematiker 
hat  je  seinen  Unterricht  mit  der  Trigonometrie  begonnen!  Er  würde 
dadurch  die  Wahrheit  in  den  Augen  der  Schüler  zu  einer  Verrückt- 
heit  gestempelt  haben.  Also  ist  auch  die  Speculation  in  der  Form 
des  Radicalismus  vollkommen  unfähig,  die  Interessen  des  wirklichen 
Lebens  zu  berathen  und  zu  fördern;  sie  scheitert  an  ihrer  Methode 
und  bringt  nothwendig  grade  die  entgegengesetzten  Eindrücke  her- 
vor; sie  erscheint  verkehrt  weil  sie  Ton  hinten  anfängt,  und  be- 
wirkt nichts  weil  sie  Alles  erzielt.  Jede  speculative  Wahrheit  kann 
nur  durch  eine  stufenmässige  Vermittlung  zu  einer  concreten  wer- 
den, oder  die  Harmonie  zwischen  Theorie  und  Praxis  nur  darch 
eine  proportioneile  Synthese  zu  Stande  kommen. 

Wie  heut  zu  Tage  sich  diese  beiden  Pole  zu  einander  ver- 
halten, ist  offenkundig.  Auf  dem  religiösen,  dem  politischen  und 
socialen  Gebiet  hat  —  nicht  zum  erstenmal,  sondern  wieder 
einmal  —  die  Speculation  ihre  äüssersten  Consequenzen  gezogen; 
und  wir  können  uns  dessen  nur  freuen,  insofern  es  der  Wissen- 
schaft, der  ideellen  Erkenntniss  zum  Heil  und  zum  Sporn  gereicht» 
Allein  dieser  Idealismus  verkennt  sein  hohes  Wesen  und  verliert 
seine  würdige  Haltung,  wenn  er  sich  zum  Apostel  des  Radicalismus 
der  Tbat  berufen  wähnt  und  aus  der  Hegion  des  Denkens  köpf« 
über  auf  die  Realität  sich  herabwirft,  um  dieselbe  ein-  für  allemal 
mit  Haut  und  Haaren  zn  verschlingen  und  nur  sich  als  die  wahre 
und  letzte  Realität  übrig  zu  lassen.  Auf  diesem  Wege  hat  sich  die 
Verneinung  nicht  nur  der  Wissenschaft,  sondern  auch  des  Lebens 
bemächtigt  und  ist  hier  und  dort  nahe  daran,  das  Kind  mit  dem 
Bade  auszuschütten. 

Andrerseits  fühlt  die  Wirklichkeit  nur  zu  wobt,  dass  es  ihr  an 
nichts  weniger  als  an  Krankheitsstoff  gebricht;  aber  sie  ist  eine 
zaghafte  und  ängstliche  Patientin,  die,  um  nur  keiner  schmerzhaften 
Kur  und  keiner  lästigen  Diät  sich  aussetzen  zu  müssen,  lieber  mit 
Palliativen  sich  begnügt,  die  das  Uebel  für  den  Augenblick  und  die 
Heilung  auf  die  Dauer  hemmen.  Denn  dergestalt  häuft  sich  nur 
der  Krankheitsstoff,  insofern  er  auch  die  noch  gesunden  Theile  er- 
greift, und  das  Uebel,  weil  es  nur  um  so  heftiger  und  mit  immer 
bedenklicheren  Symptomen  hervorbricht,  drängt  mehr  und  mehr 
einer  Krisis  entgegen. 


548     Zur  Philosophie  de»  Staates  md  der  Geschichte. 

Wer  sollte  da  nicht,  wofern  ein  sittlicher  Glaube  ihn  beseelt, 
nach  positiven  Heilmitteln  sehnend  sich  umschauen,  die,  indem  sie 
zugleich  ein  Gegengift  gegen  die  absolute  Verneinung  waren,  das 
Gleichgewicht  und  somit  die  Versöhnung  zwischen  der  Specutaüon 
und  dem  wirklichen  Leben  herzustellen  vermöchten! 

Dieser  Gesichtspunkt  ist  es,  welcher  der  neuesten  „Philosophie 
des  Staats "  oder  der  „Allgemeinen  Socialtbeorie"  von   Dr.  Hugo 
Eisenhart  ihre  Stellung  anweist,  wie  man  auch  über  den  Werth 
derselben  urtheilen  möge.    Es  weht  darin  die  Ahnung,  dass  unsere 
Zeit  einer  neuen  Wiedergeburt  entgegengebe,  und  die  Ueberzea- 
gung,  dass  diese  eben  nicbt  durch  die  äussere  Negation,  sondern 
nur  durch  einen  positiven  Aufbau  von  Innen  heraus  ans  Licht  ge- 
bracht werden  könne.  Freilich  ist  diese  Ahnung  und  Ueberzeugung 
—  Dank  dem  sittlichen  Triebe  der  den  Menschen,  und  dem  tieferes 
Drange  der  die  Wissenschaft  nie  ganz  verlässt  —  nichts  Vereinig- 
tes mehr;  immer  lauter  und  zahlreicher,  in  einer  fast  schon  nicbk 
mehr  übersehbaren  Literatur,  erheben  sich  die  mahnenden  Stim- 
men.   Doch  Bedürfnisse  fühlen  ist  leichter  als  sie  befriedigen,  und 
die  Mahnung  an  die  Aufgabe  noch  kein  Versuch  ihrer  Losung. 
Hieran  haben  sich  deshalb  auf  dem  politischen  und  socialen  Ge- 
biete bisher  nur  Wenige  gewagt,  und  auf  dem  religiösen  begreif- 
licherweise kaum  einer  und  der  andere,*)  weil  hier  die  durch  die 
Negation  bewirkte  Spaltung  am  tiefsten  geht   und  der  Gegensatz 
als  ein  un versöhnbarer  erscheint,  wahrend  auf  jenen  beiden  Ge- 
bieten selbst  die  radicalste  Zerstörungssucht,  und  wäre  es  auch 
wider  ihren  Willen,  immer  noch  positive  Anknüpfungspunkte  zum 
Wiederaufbau  übrig  lässt    Zu  diesen  wenigen  Versuchen  aber  ge- 
sellt sich  das  vorliegende  Buch,  und  macht  sich  also  auf  wissen- 
schaftlichem Wege  an  eine  Aufgabe,  für  die  wir  die  höchste  menscV 
liebe  Kunst  in  Anspruch  nahmen. 

Blicken  wir  jetzt  näher  auf  dessen  Inhalt.  Denn  wo  die  Kritik 
einem  Systeme  von  Gedanken  naht,  da  dünkt  uns  die  Zergliede- 
rung des  Dargebotenen  ebenso  unerlässlich,  als  sie  bei  historisch 
erzahlenden  Werken  uns  überflüssig  erscheint. 

Das  Vorwort  führt  zunächst  den  Satz  durch,  dass  die  Staats- 
oder Socialwissenschaften  die  natürliche  Basis  für  das  Studium  der 
Rechte  und  die  Kunst  der  Gesetzgebung  seien.    Gesundheit, 


*)  Ich  glaube  bemerken  zu  müssen,  dass  dies  am  Schluss  des  Jahres 
4843  geschrieben  ward;  doch  dünkt  mir  die  Sachlage,  wenigstens  auf 
wissenschaftlichem  Boden,  noch  wesentlich  dieselbe ;  und  aus  diesem  tem- 
porären Bankrott  der  Wissenschaft  eben  erklärt  sich  sowohl  der  plötzliche 
Durchbruch  als  die  göhrende  Unbestimmtheit  der  praktischen  Bewegungen 
der  Gegenwart,  die  nun,  von  jener  im  Stich  gelassen,  auf  eigene  Band 
experimentirl. 


Zur  Philosophie  des  Staates  und  der  Geschichte.     549 

heisst  es,  ist  die  grosse  Aufgabe  aller  Staats-  und  Verwaltungskunst. 
Um  sie  zu  erzielen  müsse  der  eigentliche  Grund  und  Sitz  der 
Krankheit  erkannt  und  auf  ihn  bin  curirt  werden;  hierzu  gehöre 
vor  Allem  Renntniss  des  gesellschaftlichen  Körpers.  Unsere  Staats« 
männer  jedoch,  meist  blosse  Juristen,  vermeinten  diese  Kenntuiss 
entbehren  zu  können;  sie  begnügen  sich  mit  ihrer  Pathologie  und 
Therapie,  ihrer  materia  medica,  ihrem  Codex,  der  für  jede  Krank- 
heit das  bewährte  Specificum  vorschreibt.  Wenn  daher  z.  B.  eine 
Gattung  von  Verbrechen,  etwa  die  Verletzung  des  Eigenthnms 
überhand  uebme,  so  schlügen  sie  nur  ihr  Gesetzbuch  auf,  das  diese 
oder  jene  Strafe  verordnet,  die  denn  alsbald  mit  juristischer  Prä- 
cision  in  Anwendung  gebracht  werde;  allein  sie  sähen  es  nicht, 
dass  der  Sitz  des  Uebels  in  Missverhältnissen  des  socialen  Lebens 
liege,  dass  der  innere  Grund  der  Erscheinung  etwa  eine  Ueber- 
völkerung  und,  was  damit  zusammenhängt,  ein  allgemeines  Fallen 
des  Arbeitslohnes,  Noth  und  Proletariat  sei.  „Sie  curiren,  sagt  der 
Verf.,  auf  die  Erscheinung;  aber  sie  haben  eine  Hydra  vor  sich." 

Er  polemisirt  hierauf  gegen  das  bisherige  Naturrecht  als  Vor- 
schule des  positiv -juristischen  Studiums;  ebenso  aber  auch  gegen 
die  bisherige  Staatslehre,  die  nur  politische  Wissenschaft,  Dar- 
stellung der  Organisation  der  öffentlichen  Gewalt  sei,  und  daher 
allerdings  für  dfe  Rechtswissenschaft  kein  Fundament  liefern  könne; 
denn  wie  die  Recbtsidee  nicht  nur  die  individuelle  Freiheit  zum 
Object  habe,  nicht  nur  auf  den  Schutz  des  Einzelwesens,  sondern 
auch  auf  den  des  Gemeinwesens  und  seiner  besonderen  Verhält- 
nisse gerichtet  sei:  also  habe  auch  die  Staatslehre  nicht  blos  die 
Eine  Aufgabe,  die  Verfassung  zu  construiren,  sondern  gleicherweise 
die  mannigfaltigen  Thätigkeiten  und  Verbältnisse  der  Staatsinsassen, 
die  eigentlichen  socialen  Lebensformen  darzustellen» 

„Einer  Socialwissenschaft  also,  sagt  der  Verf.,  bedürfen 
wir,"  im  Gegensatz  zur  „blos  politischen  Staatslehre;"  er  giebt 
zu,  dass  in  Frankreich  dies  Bedurfniss  zuerst  erkannt  worden  sei, 
wenn  auch  die  Systeme  St-Simon's  und  Fourier's  eher  abstossen 
als  anziehen,  oder  als  Illusionen  erscheinen  möchten.  Indessen 
dürften  wir  Deutsche  darum  nicht  anstehen,  uns  des  lebendigen 
Keimes  der  Erscheinung  zu  bemächtigen  und  ihn  auf  unsere 
Weise  zu  entfalten.  Und  dies  ist  es,  was  den  Verf.  trieb,  nichts 
Geringeres  zu  versuchen  als  den  Aufbau  einer  „Socialwissenschaft 
von  deutscher  Art  und  Kunst." 

Seh  ellin g  hatte  einst  gesagt:  „Das  erste  Streben  eines  Jeden, 
der  die  positive  Wissenschaft  des  Rechts  und  des  Staates  als  ein 
Freier  begreifen  will,  müsste  dieses  sein,  sich  durch  Philosophie 
und  Geschichte  die  lebendige  Anschauung  der  neuen  Welt  und  der 
in  ihr  notwendigen  Formen  des  öffentlichen  Lebens  zu  verschaffen. 

Zeitschrift  f.  Geschicktste  IV.   1845.  37 


550     Zur  Philosophie  des  Staates  smd  der  Geschickt*. 

Es  ist  oioht  zu  berechnen,  welche  Quelle  der  Bftdong  in  dieser 
Wissenschaft  eröffnet  werden  könnte,  wenn  sie  mit  unabhängigem 
Geiste,  frei  von  der  Beziehung  auf  den  Gebrauch  and  an  sich  be- 
handelt würde.4*    „Die  wesentliche  Voraussetzung,  fährt  er  fort, 
ist  die  echte  aus  Ideen  geführte  Constroction  des  Staates,  eine 
Aufgabe,  von  der  bisher  die  Republik  des  Piaton  die  einzige  Auf- 
lösung ist."    Auf  diese  Worte  hinweisend,  hofft  der  Verf.,  dass  die 
„neue"  Wissenschaft  sich  überhaupt  und  zumal  für  das  Studium 
der  Rechte  und  für  die  Kunst  der  Gesetzgebung  fruchtbar  erweisen 
werde,  und  spricht  den  Wunsch  aus,  dass  die  Regierungen  es 
ihren  künftigen  Beamten  zur  Pflicht  machen  möchten,   ehe  sie  an 
die  Erlernung  der  positiven  Wissenschaft  des  Rechts  und  der  Ge- 
setze gingen,   einen  Cursus  der  Staats-  und  Social  Wissenschaft 
durchzumachen.    Ohne  diese  entbehre  jene  ihrer  Basis,  und  eben 
dies  Grundlose  und  deshalb  Mechanische  des  gegenwärtigen  Rechts- 
Studiums  sei  es,  was  so  oft  grade  die  fabigsten  Köpfe  davon  zu- 
rückscheucbe.    Man  will  Richter,  die  selbstzeugend  das  Recht  in 
sich  fortbilden.    „Wohlan,  ruft  er  aus,  so  setze  man  sie  auch  in 
den  Stand  dies  zu  können!  Man  führe  sie  heran  an  die  lebendigen 
Brüste  alles  socialen  Rechts  und  tränke  sie  von  Hanse  ans  mit  der 
Muttermilch  des  Gemeinwesens  I"  Die  Befürchtung,  einen  Geist  zu 
entfesseln  der  kaum  in  Banden  geschlagen,  weist  der  Verf.  zurück; 
die  Socialtheorie  soll  vielmehr  den  „nalurrecbtliehen  Aflerlibenas- 
mus  und  seine  beschränkte  .Staatsräson"  überwinden.    Auch  habe 
ein  ernstes  technisches  Studium  und  gründliches  Wissen,  selbst 
in  den  bedenklichsten  Kreisen  noch  immer  am  sichersten  Vorwitz 
und  Anmaassung  im  Zaume  gehalten.    Gefährlich  sei  allein  „das 
Halbwissen,  das  dilettantische  Wissen,  das  belletristische  PoHfeirea, 
ja  das  hohe  metaphysische  Kannegiessern.(( 

Doch,  lassen  wir  des  Verf.  Hoffnungen  und  Wünsche,  die  wenn 
sie  auch  gerecht  waren,  doch  zu  kühn  sein  dürften  —  and  reden 
wir  vielmehr  von  seinen  geistigen  Thaten  und  Erfolgen  I 

In  den  sieben  Kapiteln,  welche  die  Schrift  enthalt,  steigt  vor 
unsern  Blicken  ein  keckes  und  stolzes  Gebäude  empor,  mathema- 
tisch abgezirkelt  und  gemessen,  eine  ideale  Constroction,  einmal 
des  Staates  und  der  Staatswissenscbaften,  dann  auch  der  Geschiebte, 
der-  Geographie  und  der  Chronologie.  Der  Verf.  hat  «sich  in  diesen 
seinen  Bau  der  Weltordnung  eingelebt;  er  kennt  alle  Säle,  Zimmer 
und  Kammerchen ;  allein  er  wird  sich  nicht  wundern  dürfen,  wenn 
es  nicht  Allen  so  ausserordentlich  wohl  darin  benagt,  wie  ihm 
selber.  Was  den  Ref.  betrifft,  so  ist  auch  er  weit  davon  entfernt, 
dem  Verf.  in  allen  Stücken  beizupflichten;  vielmehr  hegt  er  gegen 
diesen  Schematismus  gar  viele  Bedenken  und  glaubt,  dass  trotz 
der  scheinbaren  Consequenz  sieh  dennoch  nicht  nur  zweifelhafte, 


Zur  Philosophie  des  Staates  und  der  Geschichte.     551 

sondern  entschieden  irrthümliche  Prämissen  eingeschlichen  haben; 
ja  er  gesteht,  dass  ihm  bei  manchen  Aufstellungen,  die  ihm  docb 
allzusehr  das  Gepräge  blosser  Träumerei  und  Spielerei  zu  tragen 
schienen,  eigentlich  nur  dies  zweifelhaft  war,  ob  darüber  eher  zu 
lächeln  oder  zu  zürnen  sei.  Indessen  ein  systematisch  denkender 
und  entfaltender  Geist  lässt  nie  ohne  eine  gewisse  Anregung,  und 
gewährt  insofern  selbst  bei  abweichenden  oder  ganz  entgegenge- 
setzten Ansichten  immer  noch  einigen  Ertrag. 

Das  Erste  Kapitel  handelt  von  dem  Begriff  des  Gemeinwesens 
im  Allgemeinen,,  von  seinem  Zusammenhange  mit  der  Weltordnung 
und  den  Naturreichen.  Der  Staat  des  Herrn  Eisenhart  erhebt  sieb 
auf  der  Grundlage  der  Oken' sehen  Naturphilosophie  und  der 
Platonischen  Republik,  die  durch  einen  eigens  erfundenen  Kitt 
ausgebessert  und  verbunden  werden.  Die  vorhandenen  Elemente 
des  Staates  sind  dann  als  Bausteine  meist  so  eingefügt,  dass  diese 
Staatsidee,  fern  davon  den  wirklichen  Staat  aufzuheben,  ihn  viel- 
mehr  nur  idealisirt,  hier  und  da  zustutzt  und  zurechtschiebt,  auch 
wohl  bei  den  schwierigsten  Fragen  sich  auf  ein  blosses  Kippen  und 
Wippen  oder  auf  mysteriös  räthselhafte  Andeutungen  beschränkt. 
Wie  nach  Oken  etwa  das  Pflanzenreich  die  Verwirklichung  des 
Urbildes  der  Pflanze,  die  auseinandergelegte,  anatomirte  Urpflanze 
ist,  oder  wie  das  Thierreich  das  zerstückelte  höchste  Thier,  der 
natürliche  Mensch  —  also  soll  auch  das  Menschenreich,  der  ethi- 
sche Mensch  oder  der  Staat  dqs  zerlegte  Urbild  des  vollkommenen 
Mannes  oder  des  vollkommenen  Staates  sein.  Schon  Piaton  hatte 
im  Staate  den  zerlegten  Menschen,  d.  h.  im  Nähr-,  Wehr-  und 
Lebrstande  das  .Begehrungs-,  Empfindungs-  und  Erkenntniss ver- 
mögen wiederzufinden  geglaubt;  Herr  Eisenbart  indessen  tadelt 
diese  Theorie:  der  wahre  sittliche  Wehrstand  sei-  vielmehr  der 
Beamtenstand;  auch  solle  der  Lehrstand  nicht  wie  bei  Piaton  kraft 
des  Wehrstandes  über  den  Nährstand  herrschen,  ihm  falle  vielmehr 
nur  die  absolut  ideale  Aufgabe  zu,  die  übersinnlichen  Güter  des 
Menschen,  die  Ideen  und  die  Wahrheit,  die  Träger  und  Propheten 
des  göttlichen  Willens  auf  Erden,  die  allerdings  zuletzt  überall 
herrschen  müssten,  zu  erzeugen  und  zu  verbreiten,  nicht  aber 
dieselben  auf  die  Wirklichkeit  anzuwenden.  Endlich  gebe  jenem 
Philosophen  derjenige  Stand  ganz  verloren,  dessen  gleichsam  tech- 
nische Aufgabe  die  von  Piaton  allen  Ständen  unterschiedslos  vin- 
dicirte  Tugend  sei  —  der  Priesterstand.  Der  Verf.  reformirt  daher 
die  Platonische  Theorie,  dergestalt  dass  wir  statt  jener  drei  Ver- 
mögen vielmehr  vier  Bestandstücke  des  vollkommenen  Mannes: 
Wohl,  Bildung,  Bürgerthum  und  Recht  erhalten,  die  vier 
Cardinalgüter  dieser  Erde,  die  Hauptgeschlechter  der  socialen  Zwecke. 

Die  Verwirklichung  dieser  vier  Zwecke  ist  die  Aufgabe  dgK 

37«  J  W 


5.52     Zur  Philosophie  des  Staates  und  der  Geschichte. 

Gemeinwesens;  und  das  Mittel  der  Verwirklichung  ist  die  Arbeits- 
teilung, die  der  Sache  nach  schon  Piaton  als  Hauptgrund  der 
menschlichen  Vollkommenheit  im   geselligen  Zustande    der  Tief* 
thuerei,  der  Polypragmosyne  entgegensetzt.    Sie  ist  gleichsam  nur 
ein  anderer  Ausdruck  für  das  Ständewesen,  die  ,,Kry  stallform  des 
Staates,  das  Gerippe  des  gesellschaftlichen  Körpers,  überhaupt  die 
allgemeine  Lebensform  der  Menschheit."    Deshalb  gehöre  ihre  Ab- 
handlung „von  nun  an  in  die  Staatslehre  überhaupt,"  in  die  po- 
litische Oekonomie  höchstens  nur  als  ein  „Lehnsatz."     Durch  die 
Arbeitsteilung  allein  können  alle  Einzelwesen  vollkommen  wer- 
den; doch  bedarf  es  eines  ergänzenden  Mechanismus,  und  dies  ist 
der  Verkehr.    Dieser  hebt  die  durch  die  Arbeitsteilung  bedingte 
Besonderung  der  Individuen  gleichsam  wieder  auf,  indem  er  der 
gegenseitige  Austausch  der  arbeitsteiligen  Erzeugnisse  nnd  mitbin 
auch  der  Austausch  aller  Bestandteile  des  vollkommenen  Manne? 
ist.    „Wenn  es  ein  Gemeinwesen  giebt,  sagt  der  Verf.  S.  24,  wo 
nicht  alle  empirischen  Einzelwesen  die  Idee  des  Einzelwesens  in 
sich  verwirklichen   und   alle  Güter  des  vollkommenen   Zustandes 
sich  aneignen  können   für  ihr  Eines  arbeitsteiliges  Product,  so 
zeigt  dieses  nur  an,  dass  eine  Stockung  im  Baderwerke  der  grossen 
Maschine  stattfinde."     Die  Arbeitsteilung  mache  also   nicht  den 
Menschen  einseitig,  wie  man  sie  dessen  angeschuldigt,  wofern  nur 
eben  der  sie  ergänzende  Eintausch  der  menschlichen  Güter  und 
Bildungsmittel  gegen  das  Eine  Product  des  Facharbeiters  nicht  ge- 
hemmt werde.    Wenn  z.  B.  dem  Lehrstande  nicht  vergönnt  wäre 
frei  zu  sagen,  was  der  Geist  der  Wissenschaft  ihm  auf  die  Zange 
legt,  dann  würden  allerdings  alle  anderen  Stände  in  Abergtaobefi 
verknöchern  müssen,   und  die  Arbeitstheilung  wäre  in  derltat 
ihr  intellectueller  Ruin.    Die  Wissenschaft  bat  daher  vor  Allem  &e 
Bedingungen  einer  ungehemmten  und  normalen  Wechselwirkung 
zwischen  den  einzelnen  Standen  zu  untersuchen. 

Hieraus  ergiebt  sich  nun  das  höchste  Ideal  des  Staates.  Es 
ist  der,  in  welchem  „durch  eine  vollkommene,  freie  Arbeitstheilung 
und  einen  derselben  entsprechenden  freien  und  vollkommenen 
Verkehr  im  Allgemeinen  die  Glieder  aller  Stände  gleichmässig  voll- 
kommen werden  können,  dergestalt  dass  das  Product  des  Gemein- 
wesens am  Ende  für  Alle  dasselbe  ist:  Herstellung  des  vollkomme- 
nen Menschen  in  einem  jeden  ihm  anvertrauten  Exemplare.''  Nur 
dieser  Staat,  sagt  der  Verf.  S.26,  dürfte  der  wahrhaft  christliche 
sein,  von  dem  gegenwärtig  so  viel  unfruchtbares  Gerede  sei,  d.  h. 
„derjenige,  der  mit  gleicher  Liebe  alle  Menschen  umfasst;" 
denn  im  gesitteten  Gemeinwesen  werde  man  bei  der  Arbeitsthei- 
lung mit  Lust  und  Liebe  für  den  Andern  arbeiten,  also  Jeder  nicht 
nur  das  eigene,  sondern  auch  des  Andern  Wohl  bezwecken. 


Zur  Philosophie  des  Staates  und  der  Geschichte.     553 

Dieser  verführerische  Gedanke  lockt  den  Verf.  noch  einen 
Schritt  weiter;  um  seinem  idealen  Werke  die  Krone  aufzusetzen, 
erbaut  er,  an  einem  berühmten  Ausspruche  von  Steffens  *)  sich 
emporwindend,  ein  himmelhohes  Gerüste,  eine  „Symbolik  des 
Gemeinwesens"  (S.  29  ff.);  allein  in  dieser  Himmels-Höhe  und  -Nähe 
ergreift  ihn  ein  Schwindel  und  er  sinkt  hinab  in  bodenlosen  My- 
sticismus.  Sein  ideales  Gemeinwesen,  dies  „wundervolle  Gebilde1' 
erscheint  ihm  als  der  „Heiland  der  Menschheit,"  als  ihr  „Erlöser,^ 
als  „Ein  grosser  arbeitender  und  helfender  Mann,"  als  jener 
▼ollendete  Mann,"  von  dem  geschrieben  steht,  dass  wir  uns  alle 
in  ihm  begegnen  sollen/'  und  dass  er  sei  „im  Maasse  der  Kraft 
und  Fülle  Jesu  Christi."  Ja  diese  Symbolik  zieht  nur  ihre  folge- 
richtigen Consequenzen,  wenn  sie  dies  Gemeinwesen  den  „zer- 
stückelten" Heiland  nennt,  den  „erschlagenen"  Meister,  dessen 
„gebrochener"  Leib  an  alle  Glieder  der  heiligen  Runde  ausgetheilt, 
sie  alle  zu  demselben  macht  und  erhebt,  was  Er  ist,  zu  „Meistern." 
Denn  „der  Meister,  der  Gottmensch,  das  Urbild  liegt  ja,  in  seine 
Bestandteile  zerfällt,  dem  Gemeinwesen  unter  wie  ein  Grundriss 
und  Kreuz,  und  je  ein  solcher  Beslandtbeil  wird  von  den  einzelnen 
Ständen  belebt  und  durch  den  Verkehr  nach  allen  Seiten  hin  ver- 
trieben und  umgesetzt,  dergestalt  dass  sich  am  Ende  bei  jedem 
Gliede  eine  Gesammtheit  derselben"  zusammenfindet  und  zu  dem 
macht,  „der  seinen  Leib  gebrochen  und  an  das  Gemeinwesen  da- 
hingegeben  hat.  So  aufersteht  Er  am  Ende  in  Allen  —  der 
erschlagene  Meister,  und  so  ist  das  ganze  Leben  des  wahren  und 
echten  Gemeinwesens,  des  Reiches,  —  Ein  grosses  heiliges 
Liebesmahl.'* 

Es  ist  nicht  zu  leugnen:  die  Mystik  hat  oft  ein  tiefes  und  sin- 
niges, ein  schönes  und  lockendes  Gepräge;  aber  ihre  Wahrheit 
bleibt  doch  nur  die  eines  Bildes,  einer  Vergleichung.  Wir  wenden 
uns  deshalb  eilig  von  ihren  Reizen  ab  und  entfliehen  der  schwin- 
delnden Höhe,  auf  die  wir  dem  Verf.  gefolgt,  —  doch  nicht  ohne 
am  Ausgange  des  Labyrinthes  plötzlich  ein  neues  Wunder  zu  ge- 
wahren. 

Indessen  die  Extreme  berühren  sich  ja,  und  so  dürfte  es  viel- 
leicht kein  Wunder  zu  nennen  sein,  wenn  der  Verf.  am  Schlüsse 
seiner  Symbolik  (S.  33),  mit  Hinweisung  auf  Dav.  Strauss,  dieselbe 
der  speculativen  Deutung  preisgiebt,  als  ob  der  Charakter  des  Er- 
lösers der  Menschheit  auch  allein  dem  Ganzen,  dem  Gemeinwesen 
beigelegt  werden  könne;  wenn  er  das  Bekenntniss  ablegt:  jeden- 


*)  „Der  Staat  ist  die  wechselseitige  Bildung  Aller  durch  einen  Jeden 
und  umgekehrt,  fortschreitende  Befreiung  durch  gemeinsame  That,  der 
Meister/- 


554     Zur  Pkilosopkie  des  Staates  und  der  Geschickte. 

falls  finde  einige  Uebereinstimmung  statt  zwischen  seiner  Staats- 
lehre und  der  neuesten  Theologie:  wenn  er  S.  57  f.  sich  damit 
einverstanden  erklärt,  dass  der  historische  Glaube,  der  in  onsem 
heiligen  Schriften  deponirte,  ein  unvollkommenes  d.  b.  bikRicta 
Wissen  enthalte,  dass  nar  das  philosophische  Wissen  das  wahre 
sei  und,  wenn  es  einmal  reif  sein  werde,  an  die  Stelle  jenes  bäd- 
liehen  oder  des  „sogenannten  geoffenbarten"  Wissens  treten  müsse, 
das  jetzt  noch  in  unserer  Kirche  gelte;  keine  Macht  der  Welt  werde 
es  zu  hindern  vermögen.  Freilich  dieses  philosophische  Wissen 
ist  dem  Verf.  nicht  mit  dem  Hegeischen  oder  dem  aus  diesem  ab* 
geleiteten,  sondern  ohne  Zweifel  mit  seinem  eigenen,  symbofisireo 
den  und  moralisirenden,  wesentlich  identisch. 

Im  Zweiten  Kapitel  „Gliederung  des  Gemeinwesens"  werden 
nun,  der  oben  angedeuteten  Zerlegung  des  Urbildes  oder  des 
„Mustermenschen"  gemäss,  vier  Hauptstande  oder  Arbeiterklasse 
aufgestellt:  1)  für  Erzeugung  des  allgemeinen  Wohles  —  b 
Gewerbsstand,  2)  für  allgemeine  Bildung  —  der  Lehrstaoi 
oder  die  Bildungsstände.  Dahin  rechnet  der  Verf.  nicht  nur  <fie 
Gelehrten  und  die  Künstler,  sondern  auch  den  Soldatenstand  und 
die  Geistlichen.  Das  Landwebrsystem  sei  ein  Element  der  Volks* 
bildung,  der  Wehrstand  der  allgemeine  ästhetische  Volkserziefaer, 
der  einzig  volkstümliche  Kunstlerstand,  der  Erzieher  zu  echter 
Männlichkeit;  nur  aus  diesem  Gesichtspunkt  lasse  sich  der  unge- 
heure Kostenpunkt  des  gegenwärtigen  Militärsystems  rechtfertigen; 
der  Krieg  sei  ein  unsittliches  Mittel  und  finde  im  „Gemeinwesen 
der  Idee"  keinen  Platz.  Die  Kirche  dagegen  sei  im  Gemeinwesen 
nothwendig;  wie  der  Staat  die  Freiheit  und  das  Recht,  sohl* 
sie  die  Tugend  zu  verwirklichen,  die  Wissenschaft,  das  ta^ 
der  Schule,  zur  Heiligung  des  Menschen  zuzuspitzen;  die  ersteh 
technische  Anforderung  an  den  Geistlichen  sei  daher  im  Gegeosaü 
zum  Gelehrten  nicht  das  Wissen,  sondern  die  Sittlichkeit;  deshalb 
sei  sogar  ein  Atheist,  der  die  Prüfung  von  „Herz  und  Nieren14  *** 
halte,  würdiger  ein  Nachfolger  des  Herrn  in  seiner  Kirche  zu  sein 
als  der  orthodoxeste  Sünder  (pectus  est  quod  theologum  W)« 
Die  Moral,  heisst  es  später  (S.  116)  ausdrücklich,  sei  das  Object 
der  Kirche  und  diese  müsse  darauf  hin  organisirt  werden,  dieselbe 
sowohl  zu  erzeugen  als  zu  verbreiten. 

Wenn  dergestalt  die  Bedeutung  des  Soldatenstandes,  dessen 
Bedingungen  doch  überdies  nicht  im  Gemeinwesen  als  solchem, 
sondern  in  dessen  "Beziehungen  zum  Aussensein  wurzeln,  vel  zu 
hoch,  die  Bedeutung  des  geistlichen  aber,  wenn  auch  nicht  20 
niedrig,  doch  jedenfalls  zu  einseitig  veranschlagt  wird:  so  Ja*8* 
sich  dagegen  wider  die  Ausführungen  über  den  Gelehrteostaoo 
und  das  Schulwesen  wenig  einwenden.    Das  Letztere  bezeichnet 


Zur  Philosophie  des  Staates  und  der  Geschichte.     5S5 

der  Verf.  als  Organ  für  die  Erzeugung  der  Wahrheit  am  gesell- 
schaftlichen Körper,  gleichsam  als  sein  Gehirn;  deshalb  sei  Unter- 
drückung der  Lebrfreiheit  eine  Sünde  wider  den  Geigt,  ja  wider 
den  heiligen  Geist;  denn  da  es  nur  Eine  Wahrheit  geben  könne 
hier  und  dort,  der  Gelehrtenstand  und  das  Schulwesen  aber  das 
verordnete  Organ  für  ihre  irdische  Entdeckung  sei,  so  biease  die. 
Lehrfreiheit  unterdrücken  der  Stimme  GoUes  selber  den  Mund 
stopfen.  Vor  Allem  könne  die  Staatsgewalt  der  Wissenschaft  nicht 
ihre  Ansicht  zur  Norm  machen  wollen;  vielmehr  müsse  sie  die 
Ansicht  der  Wissenschaft  zur  ihrigen  (d.  i.  zum  Gesetz,  zum  Dogma), 
machen.  Im  Allgemeinen  seien  die  grö'ssten  Sünden  der  Weltge- 
schichte daraus  entstanden,  dass  die  Gewalten  diese  ihre  ethische 
Stellung  zur  Wissenschaft  alis  zum*  heiligen,  in  alle  Wahrheit  leiten- 
den Geiste  nicht  begriffen  haben.  Weil  jedoch  die  Wissenschaft 
als  ein  Irdisches  oder  sich  Entwickelndes  stetig  über  die  vorhan- 
dene und  reoipirte  d.  i.  zum  Gesetz  gemachte  Wahrheit  hinaus- 
strebe, um  ein  neues  Gesetz,  einen  neuen  Bund  mit  dem  Himmel 
oder  ein  neues  Leben  zu  vermitteln,  wahrend  die  Regierungen 
gleichsam  durch  ihre  Natur  verurtheilt  sind  das  Alte  gegen  die 
Ansprüche  des  Neuen  zu  halten:  so  folge  daraus,  wie  gefährlich 
es  sei,  ein  echter  Gelehrter  zu  sein.  Und  doch  sei  jede  Existenz 
eine  unwahre  und  hohle,  die  nicht  auf  der  wissenschaftlichen  Basis 
stehe  oder  vom  Geiste  der  Zeit  und  ihrer  Wissenschaft  verlassen 
sei,  sei  es  nun  eine  Kunst  oder  ein  Glaube,  ein  Recht  oder  eine 
Verfassung,  oder  auch  nur  eine  Hantirung. 

Es  lassen  sich  indessen  ohne  Zweifel  alle  diese  Behauptungen 
aufstellen  und  vertreten,  ohne  dass  es  eines  so  anatomistischen 
Verfahrens,  einer  solchen  Schnür  brüst  der  Ideenentwicklung  be- 
darf, wie  der  Verf.  sie  anwendet.  Wie  verfänglich  dies  sei,  zeigt 
sich  gleich  wieder  bei  der  weiteren  Construction  der  Arbeiter- 
klassen. Als  die  3te  gilt  ihm  — r  für  die  Au  frech  terhaltung  der  all- 
gemeinen innern  und  äussern  Freiheit  —  der  Beamten  stand, 
welcher  der  wahre,  moralische  Wehrstand  sei,  dem  der  Soldaten- 
stand, als  Wehrstand  betrachtet,  höchstens  nur  als  Zwangsmittel 
diene.  Diesem  Beamtenstande  nun  räumt  der  Verf.,  voreingenom- 
men durch  die  Idee  von  der  Notwendigkeit  einer  durchgängigen 
arbeitstbeiligen  Gliederung  des  Gemeinwesens,  und  von  der  Con- 
sequenz  derselben  vorwärts  getrieben,  eine  Bedeutung  ein,  die, 
Weil  ihr  die  Wirklichkeit  wie  die  Theorie  vielfach  widerstrebt,  ihn 
notbwepdig  wiederum  in  Jnconsequenzen  verwickeln  musste.  Er 
vindicirt  demselben  nämlich*  so  scheint  es  wenigstens  nach  S.  50, 
nicht  nur  die  AuCrechterbaltuqg,  sondern  auch  die  Festsetzung  des 
Rechtes,  also  die  gesetzgebende  Gewalt  als  arbeitstbeiligen  Beruf. 
Sie  der  Totalität  des  Volkes,  also  der  Totalität  der  Rechtsbedürfen- 


656     Zur  Philosophie  du  Staates  und  der 

den  beizulegen,  widerspreche  offenbar  aller  Vernunft,  nämlich  der 
Idee  des  Gemeinwesens.    Denn  jedes  Mitglied  desselben  tritt  nach 
seiner  Constraction  „nur  in  Einem"  der  verschiedenen  Systeme 
des  gesellschaftlichen  Körpers  „productiv"  auf,  nämlich  in  des 
wo  es  Standesmitglied  ist,  in  „ allen  anderen"  jedoch  aosdröckM 
„nur  receptiv"  (S,  65).    „Das  Volk,  sagt  er  S.  50,   kann  nach 
unserer  Anschauung  nichts  gründlich  von  der  Gesetzge- 
bung verstehen,  weil  es  dieselbe  nicht  zu  seinem  arbeits- 
teiligen Berufe  hat,  vielmehr  gans  anderem  nachgebt,  nämlich 
ein  jeder  seinem  Standesberufe."    Seltsam  I   Die  Gesetzgebung  be- 
trifft ja  eben,  um  bei  der  Terminologie  des  Verf.  zu  bleiben,  die 
Bestandteile  des  Gemeinwesens  d.  b.  die  Stände  seibat  oder  die 
Organisation  der  Arbeiterklassen,   und  deren  Verkehr  oder  den 
gegenseitigen  Austausch   ihrer   arbeitsteilig  erzeugten  Producta 
Handelt  es  sich  also  z.  B.  om  eioe  gewerbliche  Gesetzgebung,  so 
wird  doch  wohl  grade  der  Gewerbsstand  selbst  am  Besten  wissen 
was  ihm  noth  thut;  ist  doch,  um  im  Sinne  des  Verf.  zu  argomen- 
tiren,  ihm  und  nicht  dem  Beamtenstande  das  Gewerbe  arbeils- 
tbeiliger  Beruf.    Oder  hätte  etwa  der  Bildungsstand,  um  ein  anderes 
Beispiel  zu  wählen,  über  die  Pressgesetzgebung  d.  b.  ober  seine 
eigensten  Interessen   kein  gründliches  Urtheil?    Mindestens  doch 
wohl  ein  gründlicheres  und  competenteres   als   irgend  ein  be- 
sonderer arbeitsteiliger  Gesetzgebungsstand.    Allein  der  Verf. 
bleibt  dabei:   die  Gesetzgebung  sei  ebenfalls  einem  „besondern 
Stande"  zuzuweisen,  der  aus  der  Vermittlung  des  betreffenden 
Bedürfnisses  „Profession"  mache;  nur  er  könne  es  verstehen,  was 
Recht  sei  und  was  nicht.    Damit  kämen  also  sämnstliche  soge- 
nannte Staatsgewalten  diesem  Stande  zu.    Man  ist  fast  gfloöthigt 
zu  vermuthen,  der  Verf.  habe  nur  das  Technische  der  Gesetzge- 
bung im  Sinn,  wovon  das  Volk  allerdings  nichts  Gründliches  ver- 
steht;  und  darauf  scheint  "auch  die  freilich  unklare  Bezeichnung 
derselben  als  „oberste  Tbätigkeit  in  diesem  Momente"  hinzudeuten. 
Dann  wäre  indessen  die  ganze  Behauptung  gar  nicht  des  Aufhebens 
wertb,  gar  nicht  „das  wichtige  Resultat,"  wofür  der  Verf.  sie  aus- 
giebt,  sondern  wesentlich  mit  der  Theorie  und  der  Wirklichkeit 
im  Einklänge.    Und  doch  giebt  er  augenscheinlich  das  Gegentheil 
zu  verstehen;  ja  diese  Disharmonie  wird  ihm  selber  lästig.    „Nun 
collidirt  aber,  sagt  er,  mit  dieser  unserer  Staatsidee  die  Rechtsidee 
selbst;   denn  Recht  ist  das  Gelten  der  individuellen  Freiheit,  der 
Selbstbestimmung;  hier  aber  würde  dem  Individuum  eine  fremde 
Bestimmung  als  Gesetz  aufgelegt."  Während  er  also  der  constitutio- 
neuen  Theorie  eioe  Collision  mit  der  Vernunft  der  Sache  vorwirft, 
siebt  er  sich  selbst  durch  seine  Gonsequenz  in  eine  Collision  mit 
der  Rechtsidee  verwickelt.    Und  wie  hilft  er  sich  nun  aus  dieser 


Zur  Pftilosophie  des  Staates:  und  der  Geschichte.     557 

Klemme?  Wanderbar  genug  durch  das  incohsequente  Geständniss, 
es  sei  „nicht  ohne  Vermittlung  aus  der  Sache  herauszukommen, 
und  diese  bestehe  allerdings  in  der  sogenannten  Vertretung, 
als  in  welcher  das  Männerrecht  der  Selbstbestimmung  zur  An- 
erkennung komme"  (S.  51).  Man  würde  glauben,  das  laufe  denn 
doch  wieder  auf  das  oonstitutionelle  Princip  der  Repräsentation 
hinaus,  folgte  nicht  sogleich  der  Zusatz:  „Aber  diese  Vertretung 
darf  eben  nichts  weiter  sein  als  dieses,  nämlich  Vertretung  gegen 
die  Staatsgewalt,  aber  nicht  selbst  diese,  namentlich  nicht  gesetzge- 
bende." Der  Verf.  hat  also  etwa  deliberative  Stände,  ohne  decisives 
Votum,  im  Sinn.  Allein  bei  einer  solchen  Art  der  Vertretung  kann 
doch  nimmermehr  weder  von  einer  wirklichen  Selbstbestim- 
mung, noch  von  einem  Rechte  derselben,  noch  von  einer  An- 
erkennung dieses  Rechtes  die  Rede  sein.  Freilich  auch  nicht 
von  einer  blossen  juridischen  Receptivität,  wie  sie  nach  S.  65 
angenommen  werden  müsste.  Ganz  abgesehen  davon,  dass  ja 
diese  beiden  Begriffe,  Receptivität  und  Selbstbestimmung,  einander 
vollständig  paralysiren  und  also  nimmermehr  als  Attribute  eines 
und  desselben  Volksbestandtbeiles  in  einer  und  derselben  Reziehung 
geltend  gemacht  werden  können.  Man  sieht,  der  Verf.  kommt  hier 
in  der  That  nicht  über  ein  unstätes  Kippen  und  Wippen  hinaus, 
und  es  ist  uns  daher  ganz  recht,  wenn  er  durch  die  Worte  „wie 
dieses  näher  zu  denken  sei,  gehört  in  die  Rechtsphilosophie,  na- 
mentlich des  Staatsrechts"  sich  vorerst  aller  weiteren  Verlegenheit 
entzieht  Denn  das  bei  späterem  Anlass  ausgesprochene  Geständ- 
niss desselben,  die  Untersuchung  „noch  nicht  in  vollkommen  rein- 
licher Weise  führen  zu  können"  (S.  66),  dürfte  auch  wohl  auf 
den  ebenberührten  eine  volle  Anwendung  erleiden. 

Jener  spätere  Anlass  betrifft  die  noch  fehlende  vierte  Arbeiter- 
klasse, die  wahrhaft  mysteriös  auftritt  und  mit  dem  Leser  Anfahgs 
förmlich  Versteck  spielt.  Denn  trotzdem  dass  der  Verf.  von  vorn- 
herein „vier"  Hauptstände  proclamirt,  sagt  er  doch  nach  Erörte- 
rung der  bisher  genannten:  neben  diesen  „drei"  Hauptständen  gebe 
es  „keinen  weiter;"  alle  übrigen  empirisch  vorkommenden  seien 
„zufällige;"  dahin  gehöre  der  Ade).  Danach  führt  er  indessen  doch, 
freilich  immer  noch  ohne  ihn  naher  zu  bezeichnen,  einen  4ten  ein, 
der  das  „notwendigste  Bedürfniss  Aller"  befriedigen  soll,  das  Be- 
dürfniss  „Mitglied  des  Gemeinwesens  selbst  zu  sein."  Denn  in 
dem  Gemeinwesen  bestehe  das  „Universalmittel"  für  sammtliche 
andere  Stände,  die  „gegenseitige  Erlösung;"  doch  soll  es  keine 
blosse  Maschine  zur  Erzeugung  Aller  menschlichen  Bedürfniss-  und 
Bildungsmittel,  sondern  vielmehr  einen  „Organismus  mit  immanen- 
tem Zweck"  darstellen.  Die  organischen  Bestandteile  des  Ge- 
meinwesens sind  nämlich  dem  Verf.  nicht  die  Stände  selbst,  die 


SSS     Zur  Philosophie  de*  Staate*  mmd  der  GesdnchU. 

vielmehr  nur  die  Grundlagen  derselben  bilden,  sondern  die  „Env 
bett  Aller*4  im  Genoase  1)  des  arbeitstheiiig  erzeugten  Wohls,  %)  des 
Rechts,  3)  der  Bttdimg  and  4)  der  ,,Gemoinwe8igkeit.M 

Erst  in  dem  dritten  Kapitel  „Fundament  des  Gemeinwesen* 
erfahren  wir  nun,  welches  jener  4te  Stand  sei  der  den  Beruf  babe 
unser  Bedürfniss   nach   dem  Gemeinwesen    gleichsam  durek 
Arbettstheilong  zu  vermitteln:  es  sind  -~  die  Weiber,    fcre  Stel- 
lung iq  dem  System  des  Herrn  Eisenbart  ist  freilich  eine  andere 
wie  in  dem  Platonischen  und  Poarieristisehea    Ihnen  fällt  tteieV 
sam  die  andere  Seite  der  prodocirenden  Arbeltstbeilang  za,  der 
Verkehr,  der  Biataasch  aller  fiedärfnissmittel  oder  der  Erzeugnis« 
anderer  Stande  gegen  das  Eine  Prodoct  jedes  einzelnen  flhoaes; 
denn  dieser  Eintausch  ist  an  sich  wieder  eine  neue  Arbeit  und 
erfordert  eine  nene  Kraft,  eben  die  der  Weiber.    Durch  diese  Coo* 
straetion  wird  die  Wirklichkeit  gerechtfertigt;  das  Hauswesen  er- 
scheint als  ein  „ganz  richtiges,  anf  dem  Geisels  der  ArbdletoefloflG 
selbst  und  damit  der  Kraftersparung  beruhendes  empirisches  lo* 
stitut."  Dies  wird  man  billigen  dürfen  ohne  in  den  Vorwurf  g*80 
den  Socialisten  einzustimmen,  als  ob  er  im  Umsatz  ebenso  viel 
mehr  verliere  als  er  in  seinem  Fache  hei  stricter  Arbeitslbeflöflg 
etwa  mehr  verdiene*    Denn  einmal  standen  dann  hnmer  noch  die 
Aktien  al  pari,  und  überdies  wäre  ein  solcher  Verlost  doch  keines- 
wegs durch  den  Socialismus  als  solchen  d.  L  als  System  bedingt, 
sondern  vielmehr  nur  durch  den  Unverstand  oder  cHeLeideoscäift 
bei  der  Anwendung  desselben.    Diese  menschlichen  Mängel  ood 
Schwachen  können  ja  aber  überall  die  Praxis  zu  einer  Paff* 
auf  die  Doctrin  gestalten;   auch  in  dem  Eisenbart'sfiheo  G*** 
wesen  also  werden  ohne  Zweifel  aus  der  etwanigen  Don*** 
oder  Verschwendungssucht  oder  Betruglichkeit  der  Weiber  im  ^ 
salz  oft  den  Männern  nicht  sowohl  Ersparnisse  als  vielmehr  V* 
leiste  erwachsen.    Doch  hebt  die  einzelne  Thatsaohe  nicht  die  Idee, 
die  Ausnahme  nicht  die  Regel  auf,  und  bei  der  Stellung  des  W* 
bes  zum  Manne,  die  ein  gleiches  Interesse  und  ein  gegenseitig* 
Vertrauen  bedingt,  ist  allerdings  die  Uebervortheilung  weniger  *° 
besorgen  als  bei  einer  Gliederung  von  Individuen  ohne  RüekstiM 
auf  das  Geschlecht 

Was  uns  indessen  zu  Mitgliedern  des  Gemeinwesens 
argumentirt  der  Verf.  weiterbin,  ist  nicht  die  häusliche  oder  W* 
wirtschaftliche  Tbiügkeit  der  Weiber,  sondern  ihr  Beruf  das  Ge- 
schlecht fortzupflanzen,  ihr  Beruf  als  „Gebarstand. "  Sie  *»&* 
die  Träger  des  Gemeinwesens  in  die  Weit,  was  dem  Verf.  wiede^ 
als  eine  „arbeitstheüige  Aufgabe"  gilt.  Wir  wollen  uns  bei  dieser 
seltsamen  Auffassung  nicht  aulhalten,  die  überdies  das  Syst00 
neuen  Inconsequenzen  preisgiebt,  .da  doch  einmal  dem  M*00* 


Zur  Philosophie  des  Staates  und  der  Geschickte.     609 

ebenfalls  ein  Theil  dieser  „Arbeit"  zufaHt,  und  andrerseits  zwei 
arbeitstheilfge  Berufe  in  denselben  Individuen  überhaupt  ein 
Widerspruch  gegen  das  Princip  der  Arbeitsteilung  selbst  sind. 
Genug  die  Weiber  als  Gebärstand  vermitteln,  indem  sich  die  Fa- 
milie zum  Geschlecht  und  dieses  zum  Stamm  erweitert,  die  „Ein- 
heit AHer  im  Blute,"  die  „allgemeine  Blutsverwandtschaft"  oder 
das  „Volkstbum,"  welches  die  „notwendige  Basis  für  sämmtliche 
übrige  Einheiten  im  Geweinwesen,"  die  Basis  für  die  „siebtbare 
Arbeitsteilung"  ist,  während  jener  arbeitsteilige  Beruf  der  Weiber 
die  „Nachtseite  des  Gemeinwesens"  bildet  „Ein  Staat,  sagt  der 
Verf.,  der  aus  disparaten,  total  unterschiedenen  Völkern  besteht, 
wird  ewig  auseinander  sein."  Aber  durch  die  Geburt  werden  wir 
blos  zu  Mitgliedern  des  Volkes,  noch  nicht  zu  Mitgliedern  des  Ge- 
meinwesens oder  eines,  Standes;  dies  geschieht,  erst  durch  die 
Erziehung,  und  diese  ist  „ein  weiterer  (also  dritter!)  Beruf  der 
Weiber,"  indem  sie  unsere  Natur  frei  machen,  das  Talent,  die 
Eigentümlichkeit  der  Seele  ausbilden.  Nach  dem  allen  ist  daher  dem 
Verf.  das  Haus  oder  die  Familie  „die  das  Volksthum  im  architektoni* 
sehen  Aufriss  durchaus  deckende  und  verklärende  Gemeinde." 

In  den  letzten  Paragraphen  des  dritten  Kapitels  bespricht  der 
Verf.  schliesslich  die  „geistige  Nationalitat"  oder  das  „pneuma- 
tische Volksthum",  welches  ihm  die  von  den  voraufgegangenen 
Geschlechtern  berausgeborene  Gestalt  des  wirklichen  oder  künsfc» 
lieben  Gemeinwesens  ist,  soweit  dieselbe  bereits  gelungen.  Und 
dies  fuhrt  ihn  auf  den  weltgeschichtlichen  Beruf  der  Völker.  Wie 
nämlich  den  Individuen,  so  ist  auch  jenen  nur  ein  beschränktes 
Leben  beschieden.  Der  absolute  findzweck,  das  vollkommene 
Gemeinwesen,  der  reine  Mittler,  wird  daher  nur  in  einer  Völker- 
reihe erreicht  werden  können,  von  denen  ein  jedes  nur  Eine 
Stufe  des  zu  gestaltenden  Endzwecks  zu  verwirklichen  im  Stande 
sein  wird.  .Alles  also,  was  ein  Volksthum  an  Gehalt  wird  produ- 
ciren  können,  wird  nur  eine  Entwickelungsstufe  jenes  vollkom- 
menen Wesens  sein  können ,  das  in  aller  Geschichte  gesucht  wird, 
eine  Entwicklungsstufe  des  Reiches  Gottes  auf  Erden.  Und  wie- 
derum wird  dieses  nur  unter  der  Bedingung  geschehen  können, 
dass  je  einer  dieser  Völkergeister  nach  dem  andern  seine  ge- 
schichtliche Errungenschaft  dem  folgenden  mittheilt.  Jeder  der- 
selben wird,  wie  er  aufersteht,  in  seiner  reinen  Blutseinheit  als 
ein  Kind,  von  der  ganzen  voraufgehenden  Weltgeschichte  und 
ihrer  Errungenschaft  gleichwie  besaamt.  Das  Product  der  Welt- 
geschichte ist  das  „vollendete"  Gemeinwesen,  der  „vollkommene 
Mann  im  Maasse  der  Kraftfulle  Jesu  Christi",  der  dann  auf* ihr 
„wie  eine  Statue  auf  gewaltigem  Sockel"  ruht.  —  Blau  siebt,  hier 
treten  Begel'sche  Ideen  in  mystisch  verbrämtem  Gewände  auf. 


580     Zur  Philosophie  des  Staates  und  der  Geschickte. 

Es  ist  unmöglich,  das  System  des  Verf.  nach  seiner  ganten 
Ausdehnung  anschaulich  darzustellen;  wir  begnügen  uns  daher, 
die  weiteren  Constructionen  desselben  nur  im  Allgemeinen  zu  be- 
rühren. In  dem  vierten  Kapitel  construirt  er  ein  „System  der 
Staats  Wissenschaften u,  wodurch  er  seinem  „Werke'4  d.  h.  der  ra 
ihm  erst  „geschaffenen44  Philosophie  des  Staats  „wahrhaft  die 
Krone  aufsetzen44  will  Den  Einheiten  im  Gemeinwesen  soll  die 
Einteilung  der  Wissenschaft  entsprechen,  also  1)  dem  Volkstbum 
oder  der  natürlichen  und  geschichtlichen  Einheit  —  die  Philosophie 
der  Geschichte.  2)  Der  bürgerlichen  Gesellschaft  oder  der  wirta- 
schaftlichen  Einheit  —  die  Philosophie  der  Wirthschaft.  3)  Dem 
Staat  oder  der  juristischen  Einheit  —  die  Philosophie  des  Rechts. 
4)  Dem  System  der  Bildungsanstalten  —  die  Culturwissenschaßeo, 
d.  i.  «)  dem  Hauswesen  als  allgemeiner  Erziehungsanstalt  —  die 
Pädagogik,  a)  Dem  Heerwesen  als  allgemeiner  ästhetischer  Anstalt 
—  die  Aeslhetik.  «?)  Dem  Kirchenwesen  als  allg.  moralischer  An- 
stalt —  die  Ethik,  d)  Dem  Schulwesen  als  allg.  intellektueller  An- 
stalt —  die  Dialektik.  Alle  diese  Wissenschaften,  mit  Ausnahme 
der  Philosophie  der  Geschichte,  betrachtet  der  Verf.  —  wer  sollte 
es  glauben  1  —  als  „reine  Staats  Wissenschaften4'. 

Das  Fünfte  Kapitel  enthält  „Umrisse  zu  einer  natürlichen  Phi- 
losophie der  Geschichte"  (S.  125.  ff.),  die  nach  S.  100.  den  Zweck 
haben,  die  Politik  aus  ihren  abstracten  Speculationen  herauszo- 
reissen  und  an  eine  feste,  gediegene  Basis  zu  binden»   Wir  können 
aber  nur  sagen,  dass  dieselben  ihren  Zweck  vollständig  parodiren, 
Unter  der  Voraussetzung,  dass  die  Weltgeschichte  „das  zerfflte 
vollkommene  Gemeinwesen44  sei,  geht  er  an  die  „Conslroctm" 
derselben,  indem  er  die  einzelnen  Bestandteile  seines  Gemein- 
wesens als  ganze  Gemeinwesenarten  setzt  und  so  den  .gamea 
Process  der  Geschichte  in  vier  Weltalter  zerlegt:  ein  volkstüm- 
liches, ein  juridisches,  ein  humanistisches  und  ein  ökonomisches; 
in  dem  ersten  ist  der  Gemeinwesenbau  schlechthin,  im  zweiten 
die  Sicherheitspflege,  im  dritten  die  Bildung,  im  vierten  das  Wohl 
der  Endzweck.   Darnach  erhalten  wir  folgende  Eintheilung:  I.  Die 
.mythische  Zeit,  das  Weltalter  der  formalen  Gemeinwesens  1)  China, 
der  Familienstaat;  2)  Indien,  der  Kastenstaat;  3)  die  babylonisch- 
cbaldäischen  Stämme,  die  Handelsstaaten;   4)  Aegypten,  der  Ge- 
nussstaat. IL  Die  alte  Welt,  das  Weltalter  der  juridischen  Gemein- 
wesen: 1)  Israel,  die  welthistorische  Tbeokratie;  2)  das  persische 
Princip,   die  Despotie;    3)  Hellas,  die  Demokratie;    4)  Rom,  die 
Aristokratie.    III.    Das  Mittelalter,   das  humanistische  (religiöse) 
Weltalter:   1)  die  unsichtbare  apostolische  Kirche,  der  christliche 
Glaube;  2)  das  Frankenreich,  der  Lehnstaat;  3)  der  Kirchenstaat, 
das  Papstthum;  4)  das  Kaiserthum,  oder  vom  heiligen  römischen 


Zur  Philosophie  des  Staates  und  der  Geschichte.     561 

Reich   deutscher  Nation.     IV.    Das   ökonomische   Weltalter,   die 
neuere  Zeit. 

Nach  demselben  Maasse  sind  nun  auch  im  Sechsten  Kapitel 
„Materialien  zu  einer  Philosophie  der  Geographie"  die  geographi- 
schen Verhaltnisse  zugeschnitten  und  der  Geschichtsconstruction 
dergestalt  angepasst,  däss  sich  folgende  Momente  entsprechen: 
1)  die  Region  der  Tiefländer,  Heimat  der  Formalgemeinwesen. 
Geographie  der  Urzeit.  2)  die  Region  der  Bergländer,  Heimat  der 
politischen  Gemeinwesen.  Alte  Geographie.  3)  Die  Region  der 
Stufenländer,  Heimat  der  humanistischen  Gemeinwesen.  Geo- 
graphie des  Mittelalters.  4)  Region  der  Seelander,  Heimat  der 
Oekonomiestaaten.    Neue  Geographie. 

Aber  der  Ausbund  dieser  ganzen  Philosophie  jst  doch  das 
Siebente  Kapitel  „zur  vergleichenden  Chronologie  und  Statistik", 
wo  der  Verf.  die  Entdeckung  bekannt  macht,  dass  jedes  Weltalter 
1500,  und  jedes  Zeitalter  als  Dauer  der  Weltherrschaft  der  ein- 
zelnen Volksgeister  375  Jahre  umfasse.  Daraus  ergiebt  sich  nun 
eine  höchst  wunderbare  chronologische  Tabelle  für  alle  Zeiten, 
die  wir  der  Charakteristik  halber  dem  mit  dem  Buche  unbekannten 
Leser  nicht  vorenthalten  dürfen: 
*  I.   Sociales  Weltalter,   Urgeschichte,        von  3000—1500  v.  Ch. 

1.  Zeitaller  des  Familienstaats,  Chinas,  -    3000—2625  -     - 

2.  -           -    Kastenstaats,  Indiens,             -  2625—2250  -  - 

3.  -      der  Verkehrsstaaten,  Babylons  u.  s.w.  -  2250—1875  -  - 

4.  •      des  Genussstaats,  Aegyptens,          -  1875  —  1500  -  - 
IL  Politisches  Weltalter,  alte  Geschichte,     -  1500—1  -  - 

1.  Zeitalter  der  Theokratie,  Israels,  -    1500—1125   -     - 

2.  -  -    Despotie,  Persiens,  -    1125—750     -     - 

3.  -  -    Demokratie,  Hellas.  -      750—375     -     - 

4.  -    Aristokratie,  Roms,  -      375  —  1         -     - 
Ilf.   Religiöses  Weltalter,  Mittelalter,  -  1  — 1500  n.  Ch. 

1.  Zeitalter  der  apostolischen  Kirchen  -  1  —  375     -     - 

2.  des  Lehnstaats,  -      375—750     -     - 

3.  -  Papstthums,  -      750  —  1125  -     . 

4.  -  -    Kaisertums,  -     1125—1500  -    - 
IV.   Oekonomisches  Weltalter,  neue  Zeit,     -    1500  —  3000  -     - 

1.  Erstes  Zeilalter,   kritisches,  -    1500—1875  -     - 

2.,  /  -    1875^-2250  -     • 

3.     Die  drei  organischen  Zeitalter,  }-    2250—2625  -     - 

4.'  (  -    2625—3000  -     - 

Da  lieet  denn  nun  in  seinen  aussersten  Umrissen  dieses  seit- 
same  Product  der  Speculation  vor  uns.  Christus,  sieht  man,  bildet 
die  Angel  in  dem  System,  den  Mittelpunkt  der  Weltgeschichte, 
die  sich  in  3000  Jahren  vor  und  in  3000  Jahren  nach  ihm  bewegen 


SBl     Zur  Philosophie  des  Staates  und  der  Geschichte. 


soll  (S.  220.),  —  ohne  Zweifel  ein  geeigneter  Umstand,  dem  „mes- 
sianischen  Schema"  des  Herrn  Eisenhart,  seiner  „göttlich  gezeug- 
ten Methode"  (6.  9. 11.)  auch  in  den  orthodoxesten  Kreisen  einigen 
Beifall  zu  erwerben.  Uns  fällt  dabei  nur  jene  bekannte  naive  Be- 
hauptung ein,  dass  die  Erde  nothwendig  der  Mittelpunkt  des 
ganzen  Weltalls  sein  müsse,  deshalb  weil  Christus  darauf  geboren 
sei,  —  eine  Behauptung  durch  deren  Aufnahme  der  „Philosophie 
der  Geographie "  unfehlbar  ein  gleicher  Reiz  hatte  verliehen  werden 
können. 

Man  wird  uns  nicht  zumuthen,  alle  die  Ungereimtheiten  zu 
widerlegen,  welche  bei  der  näheren  Ausführung  der  letzten  drei 
Abschnitte  zu  Tage  kommen  und  welche  die  wissenschaftliche 
Sachlage  oder  die  historische  Wahrheit  ganz  verschütten. 

Denn  was  soll  man  dazu  sagen,  wenn  der  Verf.  die  unwahre 
Beschuldigung  ausspricht,  die  gewöhnliche  Geographie,  und  „selbst 
Ritter1'  beschreibe  den  Erdboden  mit  „vollkommener  Indifferenz", 
als  ob  „alle  Theile  desselben  von  gleicher  Bedeutung "  für  die 
Weltgeschichte  wären  (S.  178.)?  wenn  er  meint,  es  „fehle  noch 
•durchaus  am  A.  B.  G.  dieser  Wissenschaft*4  und  behauptet,  Rittertl 
selbst  werde  es  „immer  nur  am  Einzelnen  k!aru,  dass  diese  oder 
jene  Form  „eine  allgemeine  und  öfter  wiederkehrende"  seif 
wenn  er,  der  eine  so  äusserst  mangelhafte  Kenntniss  der  geogra- 
phischen Literatur  und  ihrer  Leistungen  verrälh,  vom  „specula- 
tiven  Gesichtspunkt "  heraus  lehren  will,  wie  sich  „die  Sache  ver- 
balte" (S.  199.)?  In  der  Tbat,  den  Trost,  wenn  er  nicht  mehr 
begehrt,  wird  man  gern  dem  Verf.  lassen,  dass  was  er  für  diese 
Wissenschaft  geleistet,  allenfalls  ein  „A.  B.  C."  derselben  sei 

Was  sollen  wir  ferner  dazu  sagen,  wenn  auf  geschichtlichem 
Gebiet  z.  B.  das  römische  Princip  als  solches  mit  dem  aristokra- 
tischen identificirt  und  die  Blüthe  des  letztern  in  eine  Zeit  gesetzt 
wird  (375 — 1  v.  Gh.),  wo  in  Rom  offenkundigerweise  grade  das 
entgegenstehende  demokratische  herrschend  war?  Oder  wenn  be- 
hauptet wird,  der  Unterschied  zwischen  dem  römischen  König- 
thum  und  dem  beginnenden  Consulate  sei  nur  der  gewesen,  dass 
man  nun  statt  eines  lebenslänglichen  einen  jährlichen  Dynasten 
an  der  Spitze  gehabt  (S.  241.}? 

Nicht  minder,  überraschend  ist  est,  wenn  der  Gehorsam  im 
Lehnswesen  dargestellt  wird  als  ein  „freiwilliger,  sittlicher  und 
religiöser",  als  der  „heilige  Geist"  desselben,  auftretend  „in  reinster 
himmlischer  Gestalt",  wie  ein  „göttlicher  Wahnsinn"  das  ganze 
Gemeinwesen  ergreifend,  so  dass  selbst  der  Freie  sich  und  sein 
eigen  frei  Gut  zu  Vasallenschaft  und  Lehn  darbietet  (S  155.}. 
Wie!  Also  das  Motiv  der  feuda  oblata,  die  doch  nach  Herrn  Ei- 
senhart ausdrücklich  den  Lebnstaat  „erst  vollenden",  wäre  Lust 


Zur  Philosophie  des  Staates  und  der  Geschichte.     563 

am  Qehorchen,  wäre  ein  sittlicher  religiöser  Drang  gewesen? 
Freilich  giebt  der  Verf.  zu,  dass  sie  „auch  vielfach  aus  sinnlichen 
Gründen"  hingegeben  sein  mögen;  wie  aber  rettet  er  seine  Con- 
struetion?  Darob  den  Vorwurf  der  „psychologischen  Kammer- 
dienerei  "  gegen  diejenigen,  welche  sich  so  weit  vermessen,  den 
„ersten  lauteren  Trieb"  jener  Hingebung  ganz  abzuleugnen.  Rein 
Wunder,  wenn  diese  mystische  Anschauung  des  Mittelalters  den 
historischen  wie  den  philosophischen  Boden  vollends  durch  die 
Behauptung  preisgiebt  (S.  156.):  „wessen  unsere  Zeit  bedarf,  nur 
•m  freierer  Atmosphäre,  ist  nichts  Anderes,  als  dieser  freie  Ge- 
horsam einerseits,  und  jene  wahrhaft  adelige  Herrschaft  (nämlich 
als  über  Pares)  andererseits."  Wir,  meint  er,  hätten  beides  ver- 
lernt, das  freie  Gehorchen  und  das  edle  Herrschen.  Aber  ein 
neues  Evangelium  (nämlich  nach  S.  249  das  evang.  Spiritus  sancti, 
welches  auf  das  evang.  filii  folgt)  werde  sie  auch  uns  wieder- 
bringen, „jedenfalls  jenen  Barbaren  jenseit  des  Oceans."  Das 
ist  also  wieder  einmal  eine  Prophezeibung  zu  Gunsten  America-s, 
wie  sie  an  a.  St.  (z.B.  S.  263.)  noch  deutlicher  ausgesprochen 
wird.  Sollte  aber  wohl  der  Verf.  von  den  gegenwärtigen  Zu- 
ständen America's  Renntniss  genug  besitzen  um  so  keok  dessen 
Zukunft  bestimmen  zu  dürfen?  Das  Alterthum  wenigstens  nannte 
ja  „«Barbaren"  diejenigen  Völker  von  denen  es  nichts  wusste, 
und  Herr  Eisenhart  gebraucht  doch  diesen  Ausdruck  ohne  Zweifel 
im  Sinne  des  Alterthums.  Damit  stimmt  die  wunderliche  Behaup- 
tung, America  sei  „die  Germania  Europa's"  und  es  bedürfe  nur 
eines  Tacitus,  um  uns  dessen  „frisches  ungebrochenes  Leben"  zu 
malen  (S.  253.).  Als  ob  nicht  die  dortige  Bevölkerung  selbst  eine 
europäische,  und  ganz  im  Gegensatz  zu  Germanien  eine  über- 
tragene civilisirtesei,'die  fern  von  aller  Urfrische,  vorläufig  gröss- 
tenteils in  sehr  widrigen  Zerrüttungen  darniederliegt.  Von  an- 
derer Seite  treten  dagegen  Widersprüche  ein.  Denn  der  Verf. 
entscheidet  sich  ja  durchweg  zu  Gunsten  der  Monarchie;  wie 
also  kann  für  ihn  das  republicanische  America  das  „hochgelobte 
Land'4,  die  „gemeinsame  Sehnsucht"  sein?  Und  wie  reimt  sich 
mit  jener  Anpreisung  angeblich  mittelaUriger  Principien  die  spätere 
Versicherung  (S.  252.),  dass  die  „Formen  und  Ideen"  des  Mittel- 
alters „sämmtlich  beseitigt"  seien  und  namentlich  in  der  „Wissen- 
schaft und  öffentlichen  Meinung"? 

Doch  wozu  länger  die  seltsamen  Schatten  begaffen,  welche 
in  diesem  System  die  Geschiebte  wirft?  Ist  es  doch  klar,  dass 
Herr  Eisenhart  sie  auf  den  Kopf  gestellt.  Und  was  sollen  wir  auch 
anders  von  ihm  erwarten?  Gesteht  er  es  doch  selbst  zu,  dass  er 
nicht  nur  „nicht  Historiker  von  Fach",  sondern  auch  überhaupt 
„der  gelehrten  Seite,  des  Materials,  unmächtig"  sei  (S.  129.). 


564    Zur  Philosophie  des  Staates  und  der 

Auffallend  ist  also  nur  der  tollkühne  Uebermoth,  dennoch  das  in 
ein  System  za  zwängen,  dessen  er  nicht  machtig  ist;  auffallend 
die  eitle  Selbstgefälligkeit,  womit  er  dabei  verfahrt  und  die  so 
sehr  alle  Grenzen  überschreitet,  dass  der  Leser  unmöglich  deo 
widerlichsten  Bindrücken  entgehen  kann.  Seinen  Standpunkt  be- 
zeichnet er  selbst  als  den  „naiven,  unvermittelten  Standpunkt" 
der  Philosophie  der  Geschichte,  uud  gern  geben  wir  ihm  zu,  dass 
diese  Philosophie  eine  wahrhaft  naive  ist  Der  Pragmatismus  gilt 
ihm  als  die  höchste  Form  der  Geschichtschreibung,  nur  müsse  er 
im  Besitze  „der  rechten  Zwecke  und  der  rechten  Mittel  der  Ge- 
schichte" sein;  sonst  freilich  sei  er  „die  elendeste  Art".  „Wir 
aber,  fahrt  er  in  unbegreiflicher  Verblendung  fort,  sind  nun  wol 
im  Besitze  dieser  rechten  und  objectiven  Zwecke  und  Mittel,  des 
Rathschlusses  über  die  Völker,  und  streuen  sie  wie  einen  Saamen 
aus  u.  s.  w.u  Diese  seltene  Eitelkeit  mit  ihren  hochtrabenden  und 
tbeilweise  wirklich  faden  Redensarten  berührt  um  so  unange- 
nehmer, als  sie  mit  einer  oft  wahrhaft  groben  und  unanständigen 
Polemik  gegen  alle  Welt,  selbst  gegen  die  höchstbegabten  Geister, 
Hand  in  Hand  geht  Der  Verf.  bildet  sich  unfehlbar  ein,  es  zur 
„Meisterschaft  im  Wissen  vom  Staate "  gebracht  zu  haben  (S.S.), 
und  seine  Philosophie  des  Staates  macht  den  Anspruch,  als  die 
„Wissenschaft  von  der  Totalitat  der  menschlichen  Angelegenheiten u 
zu  gelten  (S,  251.). 

Auch  von  anderen  Mängeln  ist  das  Buch  nicht  frei.    Es  ist 
zum  Theil  unklar  und  doch  auch  wieder  zu  breit  geschrieben; 
zuweilen  erscheint  der  Stoff  nicht  recht  durchgearbeitet     Der  Stil 
ist  höchst  ungleich 5  bald  bis  zum  niederen  herabsinkend,  unge/eoi, 
ins  Komische  und  Barocke  streifend,   und  mit  eigenmächtig 
Wortbildungen  oder  burschikosen  Ausdrücken  versetzt,    bald  tos 
zur  höchsten  Emphase  sich  emporschwingend  und  das  Gebiet  der 
mystisch  romantischen  Poesie  berührend.  Mitunter  stösst  man  aof 
sonderbare  Vergleichungen,  wie  wenn  der  Verf.  die  socialen  Le- 
bensformen die  den  „Rechtskrystall  bildende  Säure"  nennt  (S.  XVL). 

Wir  leugnen  nicht  dass  manches  in  dem  Buche  gut  ersonnen 
ist,  dass  es  nicht  an  einzelnen  frappanten  Gedanken  und  Ge- 
dankenwendungen gebricht,  dass  es  richtige  Gesichtspunkte  und 
Bruchstücke  der  Wahrheit  enthält,  überhaupt  von  einem  lebendigen 
und  reichen  Geiste  zeugt;  auch  ist  es  wahr,  dass  Gonstructionen 
dieser  Art,  selbst  wenn  sie  wie  hier  zum  grossen  Theil  als  aprio- 
rische auftreten,  die  Erörterung  des  Wozu,  welches  bei  den  vor- 
handenen Zuständen  der  Menschheit  überall  sich  aufdrängt,  mannig- 
fach zu  befruchten  vermögen.  Allein  aaf  der  andern  Seite  ist  doch 
das  gutErsonnene  nur  seilen  stichhaltig,  das  Frappante  nur  selten 
wahr,   das  Wahre  nur  selten  neu;  und  die  speculative  Willkür 


Zur  Philosophie  des  Staates  und  der  Geschichte.     565 

vermag  zwar  anzuregen,  doch  Dicht  immer  zu  befriedigen.  Des- 
halb fallt  auch  ein  Gesammturtheil  äusserst  schwer.  Man  wird 
behaupten  müssen,  dass  das  ganze  System  als  solches  unhaltbar 
ist,  ja  trotz  der  erstrebten  Consequeoz  nicht  einmal  immer  klappt. 
Dazu  streift  der  Verf..  nur  zu  oft  in  das  Gebiet  des  Phantastischen 
hinüber,  und  verfällt  in  Ideenextravaganzen  und  Idiosynkrasien; 
denn  jede  BegriSssonderung,  die  dem  anatomirenden  Verfahren 
bis  zum  Extreme  huldigt,  führt  nothwendig,  statt  ihr  Ziel  zu  er- 
reichen, nur  zu  um  so  seltsameren  Begriffsvermischungen.  Wenn 
wir  demnach  unser  Unheil  zu  resümiren  berufen  wären,  so 
würden  wir  nach  innerster.  Ueberzeugung  nur  darüber  schwanken, 
ob  wir  die  Arbeit  lieber  im  Allgemeinen  als  ein  Buch  der  Dich 
tung  und  Wahrheit  bezeichnen  sollten ,  oder  mit  besonderer  Rück- 
sicht auf  die  historischen  Abschnitte  als  ein  Buch  voll  sinnigen 
Unsinns. 

Der  Verf.  ist.  wie  wohl  nicht  bezweifelt  werden  kann,  seiner 
eigensten  Gesinnung  nach  Rationalist  im  weitesten  Sinne  des  Wortes 
und  auf  allen  Gebieten  des  Lebens;  aber  sein  System  ist  eine 
eigentümliche  Mischung  von  Rationalismus  und  Mysticismus,  be- 
dingt, durch  den  Zweck  oder  den  Wunsch,  bestehende  Gegensätze 
zu  versöhnen  und  in  eine  Einheit  aufzulösen.  Schon  an  dieser 
Halbheit  scheitert  sein  Beginnen;  er  wird  keinem  Theile  gerecht 
erscheinen;  denn  er  führt  nicht  vorwärts,  sondern  er  unterhandelt; 
er  steht  nicht  auf  einem  neuen ,  sondern  auf  zwei  alten  Stand- 
punkten. Dieser  Versuoh.  der  Versöhnung  führt  also  nicht  zum 
Ziel;  denn  die  Vermittlung  disparater  Elemente  ist  nur  durch  die 
Unterwerfung  des  einen  unter  das  andere,  oder  beider  unter  ein 
neues  und  drittes  denkbar. 


Wir  haben  schon  bei  früherer  Gelegenheit  (Bd.  IV.  S.  180) 
des  Zusammenhanges  gedacht,  welcher  zwischen  der  Eisenharft'- 
schen  Theorie  und  dem  Leben  Jesu  von  Werner  Hahn  obwaltet 
Dieses  ist  gleichsam  eine  Emanation  der  ersteren;  das  religiöse 
Fundament  der  von  Eisenhart  aufgestellten  Staatsidee  ist  hier,  wie 
es  scheint  wenn  nicht  auf  Veranlassung  doch  im  Einverständniss 
mit  demselben,  näher  ausgeführt.  Daher  ist  auch  bei  Werner  Hahn 
die  Versöhnung  der  vorhandenen  Gegensätze  das  letzte  Ziel;  daher 
gewahrten  wir  auch  in  ihm  die  wunderbare  Verschmelzung  des 
Rationalismus  und  Su pernatural ismus;  und  daher  mussten  wir  den- 
selben Vorwurf  der  Halbheit,  auch  gegen  ihn  richten.  Natürlich 
ist  durch  das  theoretisch  reformatorische  Bündniss  des  politischen 
und  des  religiösen  Schriftstellers  oder  durch  den  Anschluss  des 
einen  an  den  andern  auch  im  Besondern  eine  ganze  Reihe  von 

Zeitschrift  f.  Geschichte»-.  IT.   1845.  ßg 


B66     Zur  Philosophie  des  Staates  md  der  Geschüttt 

ttberetastiaBmenden  Gwk*Up«lrten  bedingt  Wie  Basenhirt  ta 
Staat,  so  idesüsift  Hahn  das  Cbristeothuai.  Die  „pnpaaüaebe  Ge- 
selMmtsdanteilung"  deren  der  letalere  sieb  ruhest  (&29),  die  aber, 
wie  wir  sahen  (Bd.  IV.  &  181),  der  romantisch  epischen  Poesie 
weil  naher  siebt  als  der  Geschichte,  ist  ganz  im  Same  jenes  Prag- 
matismus gehandhabt,  den  der  entere  fdr  die  höchste  Form  der 
Qeschicbtschreibang  erkennt  und  dessen  „rechte  Zwecke  und  Mu- 
tet" er  sich  seihst  als  eigensten  »Besitz"  mit  so  schwülstiger  Eitel- 
keit vindicirt.  Die  damit  yerscbwisterte  prophetische  Mystik  erteil 
erst  durch  Rahn's  Buch  ihr  erklärendes  Licht  Denn  wenn  Herr 
Bisenhart  nach  den  oben  angeführten  Worten  „wir  aber  sind  tm 
wol  im  Besitz  dieser  rechten  und  objecthren  Zwecke  und  Mittel, 
des  Rathschlusses  über  die  Völker"  fortführt  (&  129  f.):  und  wir 
„streuen  sie  wie  einen  Samen  qua,  der  erst  im  Geist  eines  fli- 
storikers,  als  in  seinem  rechten  Boden,  aufgeben  und  Frodrt 
tragen  kann;  dann  aber  werden  wir  eine  Historiographie  und  ein 
Epos  hervorgehen  sehen,  das  wie  im  göttlichen  Geiste»  selber  ent- 
worfen und  gedichtet  erscheinen  müsste:"  so  liegt  es  nun  auf 
der  Hand,  dass  diese  scheinbare  Prophezeiung  eigentlich  nur  ein 
Programm  zu  dem  Unternehmen  des  Bundesgenossen  war,  den 
die  Rolle  zufiel  jenen  seltsamen  Pragmatismus  praktisch  dorctao- 
fäbren.  Herr  Eisenhart  verwirft  für  die  Zukunft  das  „sogenannte 
geoffenbarte u  Wissen,  als  ein  unvollkommenes,  bildlicbes,  anwie- 
sen Steile  das  philosophische  treten  müsse  (s.  oben  S.  554).  Bn 
Gleiches  thut  W.  Hahn;  die  Evangelien,  sagt  er,  sind  die  etatf» 
Quellen  über  das  Leben  Jesu,  aber  sie  gestatten  das  Pradferffr 
unbedingten  Glaubwürdigkeit  nicht  (S.  7),  sie  sind  keine  Ja*"** 
mehr,  sie  sind  zweizüngig  (S.  14).  Aber  jenes  philosophische  Wis- 
sen, sahen  wir  schon,  welchem  Herr  Eisenhart  das  Prognostik 
des  Sieges  stellt,  ist  weder  mit  dem  Hegel'schen  noch  einem  daw& 
abgeleiteten  identisch,  sondern  vielmehr  mit  demjenigen,  welches 
er  sich  selbst  vindicirt,  und  dessen  Grundzüge  er  in  der  „Sym- 
bolik des  Gemeinwesens "  skizrirt  hat  (s.  oben  S.  552  f.)  W** 
romantisch  mystischen  Grundzügen  entsprechen  nun  wieder  vw 
kommen  die  Grundlagen  in  Habn's  Darstellung  des  Lebeos  Jesu 
Auch  hier  ist  das  oberste  Princip  die  „Liebe."  Wie  nach  Berm 
Eisenhart  der  Staat  Alle  mit  Liebe  umfassen,  Ein  Liebesmahl  dar- 
stellen soll,  so  soll  auch  nach  Herrn  Hahn  die  Religion  ausschließ- 
lich die  der  Liebe  sein.  Dass  die  Kraft  des  Beilandes,  die  Liebe, 
eine  aligemeine  Aufgabe  für  alle  Menschen  sei,  dass  Jesus  sieb 
als  Heitand  in  der  Weltgeschichte  erweise,  dass  aber  in  der 
menschlichen  Gesellschaft  Jeder  ein  Heiland  sein  solle  und  durch 
die  Liebe  es  werde:  das  darzuthun  stellt  er  selbst  als  die  Haupt- 
aufgabe seines  Werkes  dar  (S.  32). 


Zur  Philosophie  des  Staates  und  der  Geschichte.     667 

Es  kann  nicht  darauf  ankommen,  dieses  letzlere  hier  zu  be- 
nrtheilen;  würden  wir  doch  nur  die  schön  früher  gefällten  ür- 
theile  (Bd.  IV.  &  180  ff.)  mit  ganzer  Ueberzeugung  wiederholen 
können  1  Auch  dieser  Versöhnongsversoch  auf  religiösem  Gebiete, 
wie  trefflich  und  anziehend  auch  die  poetisch  pragmatisirende 
Durchführung  im  Einzelnen  erachtet  werden  mag,  leidet  an  den- 
selben Mangeln,  welche  die  Eisenhart'sche  Philosophie  an  t  dem 
Erreichen  ihres  Zieles  hindern.  Er  vermag  nicht  wahrhaft  zu  ver- 
mitteln, weil  er,  um  es  mit  keinem  Tbeile  zu  verderben,  nur  einen 
ausserlicben  Frieden  zwischen  den  vorhandenen  Gegensätzen  un- 
terhandelt und,  um  ihn  nur  zum  Abscbluss  zu  bringen,  sieh  mit 
einigen  zweideutigen  Präliminarartikeln  begnügt,  statt  vielmehr 
mit  der  inneren  Ueberseugungsgewalt  unüberwindlicher  Argumente 
entweder  den  einen  Gegensatz  dem  anderen  oder  beide  einem 
neuen  und  dritten  siegreich  zu  unterwerfen.  Im  Debrigen  mag 
man  das  Negative  unserer  Kritik  uns  nicht  zum  Vorwurf  machen. 
Es  ist  thöricht  da  Positives  zu  fordern,  wo  es  sich  blos  um  Prü- 
fung eines  Dargebotenen  handelt.  Diese  Prüfung  war  und  bleibt 
ewiglieh  die  alleinige  Pflicht  der  Kritik,  und  alles  was  darüber 
hinausgeht  ist  nicht  mehr  eine  Verpflichtung,  sondern  nur  noch 
ein  Recht  Adolf  Schmidt. 


Allgemeine  Iiiteratuvbertehte* 


Deutschland,    Belgien   und   die  Niederlande. 

Correspondenz  des  Kaisers  Karl  V.  Aus  dem  königlichen  Archiv 
und  der  Bibliotheque  de  Bourgogne  zu  Brüssel  raltgetheilt  von  Dr.  Karl 
Lanz.  Erster  Band,  4513— 4  538.  Leipzig.  F.  A.  Brockhans.  4844,  706  8. 
Zweiter  Band.   4  532—4549.    Hit  4  lUhographirten  Tafeln,   4845.   &.  686  S. 

Resume  des  Negoziation«,  qui  acooupagnerent  Ja  revolotion  des 
Pays-bas  Autricbiens  avec  les  pleces  justificatives,  Par  L.  P,  J.  van  de 
Spiegel,  Membre  du  corps  equestre  de  la  province  de  Gueldre,  Secretaire 
de  Legation  de  S.  M.  le  roi  des  Pays-bas.  Amsterdam,  chez  Johannes 
Müller.    4  844.    8.    406  8. 

Gedenkstukken  tot  opheldering  der  Nederlandsche  Geschiedeniss, 
opgezameld  uit  de  Archiven  te  Rysse),  en  op  Gezag  van  het  Gouver- 
nement uitgegeven  door  Mr.  L.  Pn.  C.  van  den  Bergh*  Leiden,  by  8.  en 
J.  Luchtmans.    4842.   8.   380  6, 

Ranke  sagt  In  seiner  deutschen  Geschichte  (1.  Ausg.  1.  Band 
Vorrede  p.  IX.):  „Ich  sehe  die  Zeit  kommen,  wo  wir  die  neuere 

38* 


568  Allgemein*  IAteraturberickU. 

Geschichte  nicht  mehr  auf  die  Berichte  selbst  nicht  der  gleich- 
zeitigen Historiker,  ausser  in  so  weit  ihnen  eine  originale  Kenot- 
niss  beiwohnte,  geschweige  denn  auf  die  weiter  abgeleiteten  Be- 
arbeitungen zu  gründen  haben,  sondern  ans  den  Relationen  der 
Augenzeugen  und  den  acbtesten  unmittelbarsten  Urkunden  auf- 
bauen werden".  Und  die  Zeit  ist  schon  gekommen;  das  Bewusst- 
sein  ist  ein  allgemeines  geworden,  kein  Stück  aus  der  neueren 
Geschichte  beleuchten  zu  können  ohne  die  ungedruckten  Quellen, 
die  für  das  Leben  in  dieser  neueren  Geschichte  in  Archiven  und 
Bibliotheken  verborgen  liegen;  es  ist  der  Fall  schon  eingetreten, 
dass  eben  nur  die,  *  welche  einen  Pass  haben  in  diese  staubigen , 
Länder  unserer  Grossväter,  einen  Pass,  den  oft  der  Zufall  mehr 
als  das  Verdienst  und  das  Talent  visirt  hat,  sich  rüsten  können 
zur  Reise,  um  diese  zu  beschreiben;  fast  taglich  bringt  uns  die 
Zeitung  die  Ankündigung  eines  andern  historischen  Buches,  das 
aus  „  archi valiscben  ungedruckten  Quellen "  gearbeitet  ist  und  es 
wird  dieser  Zusatz,  einst  eine  Seltenheit,  also  eine  Auszeichnung, 
hoffentlich  bald  in  der  historischen  Welt  Mode  geworden  sein 
(vielleicht  ist  er  es  schon),  auf  ähnliche  Weise  wie  der  vulgäre 
Zusatz  „aus  den  Quellen "  auf  geschichtlichen  Arbeiten  aller  Art, 
der  doch,  was  freilich  wunderbar  genug  ist,  nichts  weiter  als  den 
Verdächt  abwehren  will,  als  sei  die  Arbeit,  wenn  auch  nicht  ans 
.den  Quellen,  doch  aus  Quellen  bearbeitet  worden. 

Während  aber  im  Mittelalter  die  Zahl  der  Urkunden  noch  eine 
Uebersicbt  gestaltete,  weil  man  da  wie  im  Alterthume  mehr  zu 
thun  als  zu  schreiben  pflegte,  so  ist  die  Masse  des  archivatiscfao 
Materials,   das  die  neuere  Zeit  aufgehäuft,  unübersehbar  vod der 
Sterbliche  versinkt  in  den  Labyrinthen  der  Archive,   der  es  wagt 
mit  seinem  Auge  auch  nur  einen  Theil  des  Leseuswerthen  Zu- 
fassen zu  wollen.    In  dem  Reich   der  ungeheuren  Papierschau*, 
die  Europa  in  den  Bergwerken  seiner  Aktenkammern  besitzt,  geht 
die  Sonne  nicht  unter  und  die  Welt,  wenn  sie  käuflich  wäre  mit 
Sonnen  und  Sternen  und  Oceanen,  wäre  der  Preis  nicht  für  alle 
die  Staatspapiere   und  Documente,    dis   auf  den  Millionen  euro- 
päischer Repositorien  ruhen.     Und   der  Herr   all  dieser  Schätze 
soll  der  Geschichtschreiber  sein!    Er  stirbt,  bevor  die  Idee  von 
der  Grösse  seines  Reichthums   mannbar  geworden  ist;    er  geht 
zum  Staub  zurück,   aus  dem  er  gekommen,  bevor  er  die  Staub- 
säule durchdrungen,  die  vor  ihm  herzieht  und  die  Sonne  bei  Tag 
und  den  Mond  bei  Nacht  verfinstert;  er  gleicht  dem  erdursteuden 
Geizhals,  der  weiter  nichts  mit  dem,  was  er  besitzt,  anzufangen 
weiss  als  es    zu  vererben   und   durch   dieses  wachsende,    ewig 
wachsende  Erbe  zu  tödten.    Die  Kraft  der  Typographie  ist  gegen 
diese  Masse  zu  schwach,  wir  haben  nicht  so  viel  Menschen  und 


Allgemeine  Literaturberichte.  569 

Geld,  um  die  Registraturen  alle  unter  die  Pressbengel  zu  bringen; 
sollte  soviel  Druckpapier  aufgebracht  werden,  um  alles  was  in 
Archiven  bewahrt  wird ,  abzudrucken ,  eine  neue  Con  junctur  käme 
in  die  Handels  weit  und  vom  Misstsippi  bis  an  den  Vatican  und 
das  Secretariat  von  Scbamyl  hörte  man  einen  Schrei  des  Erstau- 
nens. —  Vor  diesem  Reichthum  hilft  uns  nur  die  Kraft  des  Ent- 
behrenkönnens,  die  Kraft  der  Wahl  und  das  Talent  und  die  Ge- 
duld für  dieselbe.  Alle  unsere  neueren  Geschichten  werden  nur 
Skizzen  bleiben,  weil  die  Quellen,  die  sie  benutzt,  nur  ein  Theil 
gewesen  von  denen,  die  die  Verfasser  benutzen  konnten,  wenn 
sie  ewig  lebten,  und  kein  Geschichtschreiber,  und  sei  er  noch  so 
genial  und  vie lärmig  wie  Briareus  und  vielköpfig  wie  die  Hyder, 
wird  eine  neuere  Geschichte  eines  Staates*  dermaassen  zu  schreiben 
sich  unterfangen,  dass  in  ihr  nur  ungefähr  so  viel  von  den  ein- 
zelnen Personen,  ihrem  Wertb  und  ihren  Verhaltnissen  die  Rede 
wäre;  wie  das  bei  den  glucklichen  sächsischen  Kaisern  der  Fall 
ist,  die  schon  deshalb  verdienstreicb  und  gross  sind,  weil  sie 
keine  Hunderttausende  von  Decreten  unterzeichnet  haben. 

Darum  scheint  uns  denn,  eine  weitere  Ausführung  ist  hier 
nicht  möglich,  vor  aUen  Dingen  den  Herausgebern  solcher  Ur- 
kunden an  das  Herz  gelegt  werden  zu  müssen ,  dass  sie  bedächtig 
wählend  und  suchend  an  das  Werk  gehen  und  nicht  dabei  ver- 
gessen, dass  jeder  Papierschnitzel  wohl  für  den  Einzelnen  aber 
nicht  für  das  Allgemeine  und  Grosse  einen  Werth  haben  kann, 
dass  sie  die  Kräfte  die  für  solche  Werke  nöthig  sind,  eben  nur 
für  Grossartiges  und  Bedeutendes  erschöpfen,  über  das  Uebrige 
aber,  von  „so  gelehrten  Greifvögeln,  den  Hütern  so  vieler  Ge- 
heimnisse ",  wie  Stumpf*)  sagt,  Verzeichnisse  abgefasst  werden, 
Register,  dass  Jedermann  wisse,  was  da  ist,  und  Jedermann  nach 
seinen  Zwecken  das  was  da  ist  aussuchen  und  bearbeiten  könne. 
Oder  glaubt  man  wirklich,  dass  alles  gedruckt  werden  könnte? 
Und  ist  es  nicht  unmöglich,  dass  jeder,  der  sich  mit  neueren 
Studien  abgeben  will,  kostbare  Reisen  mache  auf  die  Speculation 
hin,  andere  Dinge  zu  finden  als  er  sucht?  Panes  et  Regesta, 
schreit  die  literarische  Welt;  diese- braucht  sie,  um  bestehen  und 
etwas  leisten  zu  können,  diese  sind  der  einzige  Compass,  der  auf 
der  Bahn  erhält,  die  man  durch  diese  Quellenmassen  macht,  diese 
das  einzige  Antidotum  gegen  das  Uebergewicht ,  das  die  Summe 
handschriftlicher  Quellen  auf  den  armen  Historiograpben  ausübt. 
Panes  et  Indices  stürmt  man  vor  allen  Bibliotheken,  allen  Samm- 
lungen; der  Zufall  etwas  zu  finden  muss  verbannt  werden;  wir 


*)  Diplomatischer  Beitrag  zur  teutschen  und  europ.  Staalengeschichte 
etc.  von  A.  S.  Stumpf.    München,  4817.   p.  9. 


570  Allgemeine  IAteratwrberickte. 

woUeo  wie  gute  Baoswirtbe  wissen,  was  wir  haben,  dann  wird 
man  damit  haushalten  können  und  nicht  umsonst  verscbwend« 
Zeit,  Papier  und  Lebenskräfte.  —   Und  wenn  einst  bereinbruM 
der  barbarische  Norden,  wenn  einst  lodern  die  Bibliotheken  tnd 
Archive  vor  dem  Oebermotbe  einer  neuen   papiermüden   Wck\ 
wenn  der  originale  Geist  auf  den  Ruinen  HaUeJaja*8  anstimmt, 
weil  ihm  wieder  erlaubt  ist  original  zu  sein,  —  dann  rettet  wohl 
Bioer  noch  die  Verzeichnisse  dessen,  was  eine  unermüdliche  Vor- 
welt gethan  und  die  Nachwelt  steht  dann  staunend,  wie  wir  vor 
Pyramiden  und  Labyrinthen,  vor  cyclopischen  Mauern  and  Aquae- 
ducten, vor  einem  Index  und  dem  gewaltigen  Gedanken  an  seinen 
Inhalt  und  bewundernd  freut  sie  sich  dann,  wie  wir  es  oft  zu 
thon  pflegen,  dass  von  dem,  was  sie  zerstört  haben,  der  Catalog 
übrig  geblieben  ist.  — 

Wir  kehren  zu  den  oben  genannten  Bachern  zurück.    Das 
erste  ist  unbedingt  das  bedeutendste.    Die  Regierung  Kaiser  Karl 
des  Fünften  wird  für  die  neue  Zeit  immer  eine  der  merkwürdig- 
sten bleiben,  weil  sie  zuerst  alle  die  Eigentümlichkeiten  des  neue- 
ren Staatslebens  an  sich  tragt.    Bin  gewaltiges  Reich  ans  vielen 
Nationalitäten,  die  äusseriioh  und  innerlich  verschieden  sind;  — 
der  Strom  von  Ereignissen,  der  im  Gemüth  auf  der  einen  Seile 
seine  Quelle  findet  und  auf  der  andern  von  einer  weitverzweigten 
so  'verständigen  als  herzlosen  Politik  durch  Heere  bis  in  andere 
Welttheile  geführt  wird;  —  die  Kampfe,  die  auf  dem  geistigen  Felde 
der  Literatur  für  und  wider  die  Freiheit  des  Gedankens  und  der 
Wissenschaft  hervorbrechen  —  und  über  diesem  allen  und  docb  m 
allem  ein  grosser  Mann,  klug  und  gemessen,  schweigsam  aarf  rast- 
los, der  Alles  sah,  Alles  bedachte  und  als  alles  schwankte,  ales 
verlies».    Karl  der  Fünfte  bat  zuerst  den  gefährlichen  und  unavv 
führbaren  Plan  gehabt,  die  Nationalitaten  seines  Reiches  zu  ver- 
wischen, aus  Allem  Eins  zu  machen;  ihm  misslaog  in  seiner  Klug- 
heit, was  Philipp  II.  in  seiner  Gewalt  misslungen  war.    Es  ist  der 
grtfsste  Fehler  von  Regierungen,  die  viele  Nationalitäten  regieren, 
dass  sie  die  Sicherheit  ihrer  Herrschaft  in  der  Verschmelzung  der 
Nationalitäten  finden  zu  müssen  meinen;  über  diesem  Prooess  geht 
gewöhnlich  das,  was  man  sichern  will  zu  Grunde  und  indem  man 
die  einzelne  Nation  schützt  und  nicht  in  ihrem  Theuersten  Ehre 
und  Privilegium    verletzt,    wird   man   nie,    was  man   von    ihr 
fürchtet,  zu  fürchten  haben.    Karl  V.  sagte:  „so  vüei  Sprachen  der 
Mensch  verstehe,  so  viel  Mal  Mensch  ist  er;"  auch  auf  grosse  Re- 
gierungen ist  das  anzuwenden;  jede  Regierung  muss  so  viel  Mal 
Regierung  sein,  als  sie  Nationen  feitet  und  in  dieser  nationalen 
Metamorphose,  in  der  sie  wie  Proteus  mehre  Gestalten  annimmt, 
liegt  das  einzige  Mittel  einer  guten  Volksregierung.    Es  ist  ein 


Allgemeine  Literaturberichte*  671 

tbörichter  und  ungerechter  Krieg,  den  grosse  Regierungen  gegen 
die  Nationalitäten  fähren;  wie  über  «in  halbes  Dutzend  Menschen 
nur  der  eine  geistige  Herrschaft  ausüben  wird,  der  jede  Subjecti- 
vität  des  Einzelnen  kennt  und  anerkennt,  so  auch  bei  Kationen; 
im  andern  Falle  hat  er  Alle  gegen  sich. 

Je  bedeutungsvoller  Karl  V.  und  seine  Regierung,  desto  wichti- 
ger diese  Correspondettz,  die  Dr.  Lanz  berausgiebt,  die  Briefe, 
Aufträge  und  Berichte  enthalt  von  Karl  an  andere  Personen  und 
Anderer  an  ihn.  Diese  Briefe  haben  in  der  That  ein  eigeotbüm- 
Kobes  Interesse  auch  für  den  Leser;  es  ist  wahr,  was  der  Heraus- 
geber sagt,  dass  man  in  die  geheime  Werkstätte  der  Seele  derer, 
die  an  der  Spitze  der  Dinge  (p.  XI)  stehen  geführt  wird,  und  es 
wird  uns  möglich  auch  über  die  einzelnen  Persönlichkeiten  ein 
richtigeres  Bild  zu  entwerfen«  Der  erste  Band  enthält  2S1  Urkun- 
den, von  denen  das  Jahr  1513,  1.  1515.  26.  15ia  2.  1119.  1.  1520. 
1.  1522. 13.  1523.  3.  1524. 14.  1525.  20.  1526.  18.  1527.  6.  1528.  10. 
1529.  18.  1530.  25.  1531.  106.  1532.  20.  haben.  Der  zweite  Band 
enthält  333  Stücke,  von  denen  1532.  43.  1533.  39.  1534.  27.  1535. 
23.  wovon  7  über  den  Zug  nach  Tunis.  1536.  32.  1537.  5.  1538. 
10.  1530.  3.  1540.  6.  1541.  8.  1542.  23.  1543.  17.  1544.  10.  1545. 
11  1546.  16.  1547.  32.  1548.  10.  und  1549.  10.  hat,  Dazu  kommt 
noch  ein  Anhang  von  98  Urkunden,  die  im  Indes;  zu  den  bezüg- 
lichen Jahren  eingereiht  sind  und  meist  zu  den  Jahren  1536  und  37 
gehörea  Daherkömmt  es,  dass  der  Gatalog  des  ersten  Bandes  mit No.281 
schliesflt  und  der  des  zweiten  mit  No.  285  anfängt  Es  sind  nehmlich 
im  ersten  Bande  die  zugefügten  Stücke  bei  den  bezüglichen  Jahren  mit 
b.  etc.  bezeichnet  worden.  Es  sind  Briefe  von  Karl  an  Franz  L,  an 
Papst  Adrian  VI,  Sigismund  von  Polen,  Louise  vou  Savoyen  und  aUe 
nur  irgend  bedeutende  Personen  der  Zeit  und  wiederum  dieser  an  ihn. 
Besonders  interessant  ist  4er  Brief  des  Perserschach's  Ismael  Sofi 
an  ihn.  Ismael,  der  Gründer  der  mächtigen  Dynastie  in  Persien, 
war  1514  von  Selim  dem  Sultan  der  Osmanen  empfindlich  ge- 
schlagen worden  und  1518  wieder  angegriffen  $  er  nimmt  die  Ge- 
legenheit von  einer  Gesandtschaft,  die  der  König  von  Ungarn  an 
ihn  geschickt  und  fordert  den  Kaiser  zu  einem  gemeinschaftlichen 
Türkenkrieg  auf.  Der  Brief  ist  lateinisch  und  durch  den  Maroni- 
teo  Petrus,  den  der  ungarische  König  an  ihn  gesandt  hatte,  erst 
im  Jahre  1524,  wie  aus  der  Antwort  Kaiser  Karl's  vom  25.  August 
1525  hervorgeht,  abgegeben.  Er  warnt  den  Kaiser  hauptsächlich 
vor  der  Wortbrüohigkeit  des  Osmanen  und  unterschreibt  sieb  Xaka 
ismael  Sophi  Filius  Xaiki  flidetr.  Es  sind  auch  zwei  Briefe  von 
Karl  Y.  an  Ismael  Sophi  da,  der  aber  bei  Abfassung  beider  schon 
todt  war.  Gleichwohl  ist  jeder  der  Briete,  einer  von  1525,  der 
andere  von  1529,  noch  an  den  Ismael  Sophi  adressirt  und  so  ab- 


572  Allgemeine  IMeraturberichte. 

gefasst,  als  ob  dem  Kaiser  noch  gar  nichts  von  seinem  Nachfolger 
Tamasp,    der  10  Jahre  alt  auf  den  Thron  gekommen  war,  ver- 
lautet hätte.    Er  spricht  auch   vom  Othomanus  Turcaram  Rex, 
indem  der  Name  Selim  gar  nicht  genannt  und  Osman  für  dm 
Beinamen  gehalten  wird.    cf.  no.  29.  75.  113.  cf.  Malcolm  Gesch. 
v.  Persien  2.  p.  13.  der  freilich  davon  wie  von  vielem  andern  nichts 
weiss.    Ebenso  ist  ein  Brief  des  Königs  von  Fez  an  Karl  V.  ans 
dem  Jahr  1528  da  in  spanischer  Sprache  (n.  28).    Die  lithogra- 
phischen Tafeln  im  zweiten  Bande  enthalten  einen  Brief  Karl's  an 
die  Königin  Maria  (IL  162.),  einen  von  Andreas  Doria  an  den  Kaiser 
(IL  165.),  einen  von  Pfaizgraf  Friedrich  an  den  Kaiser  (IL  205.) 
und  Markgraf  Franz  von  Saluzzo  an  den  Kaiser  (OL  238.)    Wer 
diese  verzuckten  altmodischen  Schriftzüge  sieht,  wird  auch  daraus 
das  Verdienst  und  die  Kenntniss  des  Verfassers  zu  entnehmen 
wissen;  derjenige,  der  post  Homerös  nach  Robertson  und  Ranke 
die  Zeit  Karl's  V.  beschreiben  will,  wird  ein  näheres  Unheil  über 
das  Buch  zu  fallen  haben.  — 

Das  zweite  Buch  ist  ein  kurzer  Abriss  der  Begebenheiten  der 
Jahre  1789  und  90  in  den  österreichischen  Niederlanden,  der  durch 
eine  Anzahl  von  114  bis  jetzt  unbekannten  Actenstücken  erläutert 
wird.  Joseph  IL,  erfüllt  von  dem  philosophisch  toleranten  Geiste 
des  18.  Jahrhunderts  beging  den  Fehler,  diesen  Geist  durch  ein 
Edict  seinen  Uoterthanen  aufdringen  zu  wollen;  er  vergass  nicht 
npr  an  den  mächtigen  Widerstand,  den  die  Neuerung  und  sei  sie 
theoretisch  auch  nooh  so  vernünftig  bei  der  noch  nicht  für  die- 
selbe reifen  Population  finden  würde,  sondern  auch  an  die  lauernde 
Wachsamkeit  der  Politik  in  den  andern  Staaten  zu  denken,  die  jeden 
Widerstand  für  sich  und  gegen  ihn  auszubeuten  versuchten.  Europa 
stand  überhaupt  in  zwei  Lagern  einander  gegenüber;  Russland  and 
Oestreich  gegen  Schweden  und  Osmanen;  England  mit  Preussen 
verbunden  sah  mit  schelem  Auge  auf  die  Fortschritte  der  Kaiser 
im  türkischen  Gebiet;  die  Unzufriedenen  in  den  Niederlanden  fan- 
den daher  leicht  Gehör  .und  Versprechungen  in  Berlin  und  im 
Haag.  Derselbe  aufgeregte  Geist  des  Jahrhunderts,  der  Joseph  IL 
belebte,  hatte,  während  er  die  Revolution  in  Frankreich  heraufbe- 
schwor, in  dön  Niederlanden  selbst  seine  Anhänger  gefunden,  die 
das  was  Joseph  wollte  bekämpften.  Während  nämlich  die  Theo- 
kraten,  an  deren  Spitze  die  Bischöfe  und  der  intriguante  van  der 
Noot  nebst  andern  die  Wiederherstellung  des  alten  Zustandes 
wollten ,  waren  es  die  Demokraten  oder  Vonkisten ,  die  nach  ähn- 
lichen Gestaltungen  wie  in  Frankreich  strebten.  Sie  hatten  den 
Bund  pro  aris  et  focis  geschlossen,  der  wie  Joseph  IL  schreibt: 
„certainemenl  coneu  avec  la  plus  noire  malice,"  *)  dessen  Geheim- 

*)  cf.  Ad.  Borgnet  histoire  des  Beiges  a  la  fin  da  48.  siede.    Brax. 
4844.  t.  4.  p.  87. 


Allgemeine  Literaturberichte.  573 

niss  aber  von  einem  Verräther  für  15,000  Florins  verkauft  ward. 
Beide  Noot  und  Vonk  waren  Advokaten;  des  ersteren  Verhand- 
lungen mit  dem  Grosspensionär  der  Provinz  Holland  Mr.  van  de 
Spiegel  wird  uns  durch  eine  handschriftliche  Nachricht  desselben 
deutlich  vorgeführt  Der  Herausgeber  dieses  Buches  ist  der  Enkel 
dieses  Mannes  und  aus  seinem  Nacblass  stammt  der  Schatz  merk- 
würdiger Briefschaften,  die  neue  Notizen  für  diese  Verhaltnisse 
geben.  Das  aufrührerische  Land,  das  sich  kaum  ein  Jahr  selbst 
zu  regieren  versucht  hatte,  ward,  nachdem  die  Convention  von 
Reichenbach  geschlossen  war,  durch  die  den  Beigen  alle  Hoff- 
nung auf  eine  Stütze  namentlich  von  preussischer  Seite  genommen 
ward,  *)  leicht  von  österreichischen  Truppen  besetzt;  die  Anführer 
flohen  bei  ihrer  Annäherung  nach  allen  Seiten  und  alles  kehrte 
wieder  in  die  alte  Ordnung  zurück,  um  bald  darauf  durch  die 
Franzosen  einen  noch  stärkeren  Stoss  zu  erleiden. 

Das  dritte  König  Wilhelm  II.  gewidmete  Buch  enthält  nach 
einer  kurzen  Einleitung  68  auf  Öffentlichen  Befehl  edirte  Urkunden, 
von  denen  1  in  das  11.  Jahrhundert,  1  in  das  12.,  28  in  das  13., 
24  in  das  14.,  5  in  das  15.  und  19  in  das  16.  gehören.  Ausserdem 
ist  der  Inhalt  von  66  andern  angegeben.  Alle  sind  zweckmässig 
mit  Noten  und  Erklärungen  versehen;  ein  Index  über  den  Inhalt 
aller  Urkunden  fehlt  zwar,  aber  dafür  sind  zwei  andere,  ein  Re- 
gister „van  Personen  en  Plaatsen"  von  Personen  und  Ortsnamen 
und  eins  der  „verklaarde  Woorde  en  Spreekwyzen"  der  erklärten 
dunkeln  Worte  und  Redeweisen  angefügt.  Es  sind  sehr  merk« 
würdige  Briefschaften  darunter,  so  p.  107.  die  Rekening  van  krijgs- 
kosten  en  soldisen  vor  elk  der  Hollandsche  ridders  en  Edelen, 
gediend  hebben,  de  in  het  leyer  van  den  grave  van  Holland  in 
den  krijgstogt  tegen  Viaanderen,  d.  h.  die  Berechnung  des*  Soldes, 


*)  Noch  am  6.  August  4790  halten  die  Niederlande  einen  flehenden 
Brief  an  den  König  von  Preussen  abgeschickt.  Darin  heisst  es  (p.  304): 
„Les  Beiges  qui  cnerchoient  depuis  bien  du  temps,  oü  ils  vous  dresseroient 
le  plus  glorieusement  une  stalue,  comme  les  Amencains  ont  expose  celle 
de  Louis  XVI.  a  la  gratitude  publique  ....  Vous  aves  plaide,  Sire,  victo- 
rieusement  la  cause  des  Barbares,  des  ennemis  du  genre  humain,  des  Turcs 
en  un  mot,  tant  eloignes  de  vous,  parceque  leur  cause  etoit  juste.  Vous 
avez  reconnu,  Sire,  la  justice  de  la  nötre;  Vous  en  avez  et6  le  premier 
arbitre;  votre  justice  ne  vous  permettra  jamais  de  l'abandonner,  car  vous 
abandonneriez  la  völrel"  Die  Antwort  kalt  und  verneinend;  doch  ausein- 
andersetzend und  erklärend,  wie  man  dies  zu  thun  pflegt,  wenn  man  etwas 
Versprochenes  abschlagen  muss.  Folgende  Stelle  ist  interessant  (p.  34  0): 
„Comment  le  roi,  mon  maltre,  m6riteroit-il  le  titre  honorable  et  flatteur 
pour  tout  souverain,  qui  tlent  uniquement  au  bonheur  de  ses  peuples  et 
de  l'humanitä,  d'ange  de  paix,  s'il  entamait  une  guerre,  dont  le  motif  se- 
rait  en  contradiction  avec  cette  meme  justice,  que  vous  lui  attribuez  ä  tant 
de  titres." .... 


574  Allgemeine  LUeratwrberickU. 

welchen  der  Graf  von  Holland  seipen  Rittern  und  Edefci ,  die  mit 
ihm  gegen  Flandern  sogen,  getahlt  bat,  und  ebenso  ist  p.  198.  die 
„Verbaal  van  den  ooraprong  der  Hoekscbe  en  kabeljaaawecbe 
twisten44  deren  Verfasser  man  nicht  kennt,  and  die  so  anfängt: 
„dril  est  II  declaration  et  maniere  eomment  medame  ü  contesse 
entra  en  possession  de  ses  pais  de  Haynau,  de  Hollande,  de  Zu- 
lande et  signerie  de  Frise"  wichtig  und  interessant.  Zuletzt  will 
ich  noch  aus  p.  277.  den  kurzen  aber  röhrenden  Brief  des  Grata 
Egmont  hersetzen,  den  er  am  6.  Juni  1568  am  Tage,  da  er  sein 
Todesurtbeii  erfuhr,  an  König  Philipp  EL  schrieb:  „Sire.  J*ai  es- 
tendu  ce  matin  la  sentence,  qu*il  a  ptai  a  Vre  Majeste  faire  decreter 
contre  moit  et  combieo,  que  jamais  mon  fntention  n'ait  este  de 
riens  traicter  ni  fahre  contre  la  personne  ny  le  Service  de  V» 
Mai*  ny  contre  nostre  vraye  anchienne  et  catholicqoe  religion  sy 
estre  je  prens  en  pacience  ce  qoü  piaist  a  mon  bon  dieu  de 
menvoyer  et  sy  jay  dnrant  ces  troubies  conseühe  an  premier  de 
faire  qaetcqoe  obose,  qui  semUe  aaltre,  ce  a  este  touqonrs  aveoq 
une  vraye  et  bonne  intention  en  Service  de  dieu  et  de  V««  Ma*» 
et  poor  la  necessite  da  tamps.  Parqnoy  je  prie  V~  IIa*»  me  le 
pardonner  et  avoir  pUie  de  ma  povre  femme  et  enffans  et  sero» 
teure.  Vous  souvenant  de  mes  Services  passez  et  soobs  osst 
espoir  men  voys  (vais  gebe)  rendre  a  la  miserieorde  de  dieo. 
De  Bruxelles  prest  a  merir,  le  VI.  de  Juin  1568.  De  V» 
Ma*»  tras  humble  et  leal  vassal  et  serviteur  Lemoral  cffigmoot. 
Das  Schreiben  ward  von  dem  Bischof  von  Gypern  Martinas  ly- 
thovias  an  Philipp  gesandt  und  mit  einem  schönen  lateiofectes 
Schreiben  begleitet,  worin  er  das  gute  Cbristenthnm  Egmonft  b* 
zeugt  und  eigene  Bitten  mit  denen  Egmont's  vereinigt  (p.  277-481V 

Histoire  des  Beiges  a  la  fln  du  dix-huitieme  «iecle  avec  une  inlro- 
duction,  cootenant  la  partie  diplomatique  de  cette  histoire  peodaot  le« 
regne«  de  Charles  VL  et  de  Marie  Tberese,  par  ad.  Borgnet,  profeasear 
a  1'nniversUe  de  Liege,  membre  eorraspoadaat  de  l'acadömie  royale  des 
adeecee  et  belies  lettre«  de  Bruxelle«.  Tome«  I.  *,  Braxetlea,  4  Sa  4«  8. 
(346  attd  430  S.) 

Schon  im  Jahre  1S34  hatte  Hr.  Prot  Borgnet  seine  lettre«  sur 
la  revolution  brabanconne  veröffentlicht;  jetzt,  nachdem  eine  Reihe 
anderer,  namentlich  diplomatischer  Arbeiten  vorhergegangen  sind, 
wird  von  ihm  das  Resultat  dieser  und  seiner  eigenen  neuen  Stu- 
dien dazu  angewandt,  um  eine  klare,  parteilose  und  ehrliche 
Darstellung  der  Schicksale  Belgiens  am  finde  des  18.  Jahrhunderte 
zu  geben. 

In  der  kurzen  Vorrede  bespricht  er  die  Werke  ähnlichen  In- 
halts die  er  benutzt  hat;  erkannt  mit  Recht  die  Verdienste  Van 
de  Spiegel's  und  Gaehard's,  erklärt  sich  aber  gegen  die  leichte 


Altgemeine  Literaturberichte.  575 

Manier,   mit  der  Legrand   und  der  Abbe"  Janssens  zu  arbeiten 
schienen.  An  Letzterem  rügt  er  mit  Recht  die  Benutzung  des  be- 
rüchtigten Pamphlet's  „les  masques  arracheV,  das  der  Spion  und 
Parteigänger  Robineau  verfasst  hat  Borgnet  giebt  in  seiner  5.  Note 
1.  p.  279.  etc.  mehre  Notizen  über  denselben.    Dieser  Mensch, 
ein  geborner  Pariser,  kam  im  Jahr  1789  nach  Belgien,  wo  er  allen 
Parteien  diente  „um  sein  Glück  zu  machen**.     Gegen  Van  der 
Noot  schrieb  er  ein  Drama  und  den  Roman  „les  masques  arracbes 
par  Jaques  Lesueur,  espion  bonoraire  de  la  police  de  Paris  et  cK 
devant  employe  du  ministire  de  France,  en  quahtö  de  clairvoyant 
dans  les  pays-bas  autriohiens. "  Er  nannte  sich  gewöhnlich  Beau- 
noir,  wie  auch  das  Drama   „Van  der  Noot"   unter  dem  Namen 
Van  Schönswaartz   erschienen  ist;    doch  trug   er   auch   andere 
Namen,  wie  den  eines  Baron's  von  Bamberg.  .Er  hatte  Van  der 
Noot  Anerbietongen  gemacht,  da  dieser  noch  in  Macht  und  Blüthe 
war,  soll' aber  nach  einer  Nachricht  Vonck's  deshalb  abgewiesen 
worden  sein,  weil  er  der  Madame  Pinau,  der  Maitresse  Van  der 
Noots,   nicht  genug  den  Hof  gemacht  hatte.    Daher  auch  jener 
LibeRistengroll.   Dem  Grafen  von  Metternich  soll  er  als  Spion  ge- 
dient haben,  der  sich  oft  stundenlang  mit  ihm  unterhalten  habe, 
während  an  50  Personen  in  der  Antichambre  warteten,  um  den 
Grafen  zu  sprechen.    Der  Graf  von  Trautmannsdorff  erkundigte 
sich,  ob  dies  wahr  wäre  und  ob  Beaunoir  wirklich  das  Vertrauen 
Metternich's  gehabt  hätte  und  äusserte,  als  man  ihm  dies  bejahte, 
es  sei  nicht  zu  begreifen,  wie  der  Minister  diesen  Mann,   der  in 
seinem  Werke  „les  masques  arracheV  einen  Coüegen  so  misshandelt 
hatte,  zu  sich  heran  habe  kommen  lassen  können  (tom.  DL  p.  413.). 
Ueber  die  Art  und  Weise,   wie  Borgnet  arbeitet  und  dieser 
Arbeit'  die  äussere  Form  giebt,  spricht  er  sich  ebenfalls  aus:  „En 
Allemagne,  sagt  er,  on  cite  considörablement,  tandis,  qu'en  France 
la  mode  semble  plre\aloir  de  ne  plus  citer  du  tout,  Systeme  ex- 
cellent  pour  cacher  les  emprunts;  ä  mon  avis  les  citatioos  sont 
indispensables  dans  un  ouvrage  historique;  seulement  il  ne  faut 
pas  en  abuser,  et  je  crois  ne  pas  avoir  m6rit6  ce  reproche"  (p.  XI.). 
Im  ersten  Bande  schildert  er  die  Gründe  der  belgischen  Re- 
volution, die  er  mit  allen  andern  Uebelstanden  in  der  Abwesenheit 
der  Landesverwaltung  findet.    Nur  durch  nationale  Administration 
kann  ein  Land  vor  dem  Unglück  bewahrt  werden,  von  dem  Bel- 
gien betroffen  ward.    Er  schildert  dann  aus  allen  möglichen  und 
zugänglichen  Quellen,  aus  Broschüren  und  handschriftlichen  No- 
tizen die  Ereignisse  bis  zur  Convention  von  Reichenbach  und 
seinen  unmittelbaren  Folgen. 

Der  zweite  Band  entwickelt  die  Verhaltnisse  während  der  In- 
vasion der  Franzosen,  die  Verhältnisse  Dumouriez'«,  die  Stimmung 


576  Allgemeine  Lileraturberichte. 

der  Nation  in  der  Zeit,  die  Ungerechtigkeiten,  die  die  Franzosen 
der  Nation  zugefügt;  in  den  Anhängen  werden  interessante  Doch- 
mente  mitgetheilt.  In  den  Listen  der  Männer,  die  an  den  da- 
maligen Dingen  tbeilgenommen  haben,  wird  mehr  wie  ein  Belgier, 
wie  er  sagt,  seinen  Vater,.  Ahn,  Verwandten  finden  (p.  XU), 
Von  interessanten  Notizen,  die  mitgetheilt  werden,  erwähne  ich 
zwei  Aeusserangen  Dumoariez's,  die  mir  weniger  bekannt  20  sein 
schienen.  Der  Commissar  Chaussard,  der  den  Vornamen  Publicola 
trug,  beklagte  sich  über  eine  etwas  energische  Ordre;  sie  schien 
ihm  von  einem  Vezier  dictirt  zu  sein;  der  General  antwortete: 
„Allez  Mr.  Chaussard,  je  ne  suis  pas  plus  vezir,  que  vous  n'6les 
Publicola"  (IL  p.  253.).  Ebenso  soll  einst  ein  anderer  Commissar 
Camus  zu  ihm  pathetisch  gesagt  haben:  „General,  on  vous  accuse 
d'6tre  Cäsar,  si  j'en  elais  sür,  je  deviendrais  Brutus  et  vous 
poignarderais".  Dumouriez  erwiedert  ruhig:  „Afon  eher  Camus, 
je  ne  suis  point  Cäsar,  vous  n'6tes  point  Brutus,  et  la  menace 
de  mourir  de  votre  main  est  pour  moi  un  brevet  dlmmortaüte" 
(IL  p  287.).  Das  Werk  verdient  von  Männern,  die  an  denselben 
Quellen  wie  der  Verfasser  stehen,  die  genaue  Prüfung,  die  er 
verlangt;  hier  wird  es  blos  erwähnt  als  abschliessend  gründlich 
und  von  einem  gesinnungsvollen  Geist  belebt,  d.  h.  als  bedeutend. 


H  i  1  c  e  1  1  e  n. 


Bemerkungen  zu  der  Recension  der  Schrift:  K.  GL  Freih.  v.  Levtscb: 
üeber  die  Beigen  ü.  s.  w.  (s.  Bd.  IV.  S.  192.  ff.)  *) 

Audiatur  et  altera  pars! 

• 

Um  dem  Verdacht  zu  entgehen,  als  habe  ich  meine  Eddischen  Stu- 
dien übereilt  und  ohne  die  erforderliche  Wissenschaftlichkeit  getrieben, 
muss  ich  zu  der  (p.  494.  ausgesprochenen)  Behauptung,  ich  hätte  ,,für 
das  10.,  4  4.  oder  43.  Jahrhundert  einen  Unterschied  zwischen  der  dä- 
nischen und  isländischen  Sprache  gemacht",  bemerken,  dass  ich  die  Edda, 
von  deren  Uebersetzung  in  das  Dänische  und  Isländische  es  sich  handelt, 
hauptsächlich  in  Beziehung  auf  ihren  mythologischen  Inhalt  geprüft  und 
bearbeitet  habe,  und  dabei  fand,  dass  ein  Däne  ihr  eine  dänische  Bei- 
mischung gegeben  habe,  ein  Isländer  dagegen  eine  nicht- dänische.  Zu 
welcher  Zeit  nun  die  hiernach  vorausgesetzte  dänisehe  Uebersetzung  ver- 


*)   Unter  dltser  Aufschrift  ist  ans  du  folgend«  Schreiben  zugegangen,  das  wir 
wörtlich  mitzvtueilen  kein  Bedenken  tragen.  Red* 


Miscellen.  577 

fertigt  worden,  darüber  habe  ich  kein  Datum  gefunden,  die  isländische 
aber  aus  den  in  meinem  Gommentar  angeführten  philologischen  Gründen 
in  den  Anfang  des  4  4«  Jahrhunderts  gesetzt.  Dass  in  den  früheren  Jahr- 
hunderten, vor  dem  44.  Jahrhundert,  die  danisch -scandischen  Sprachen 
von  der  isländischen  zu  trennen  gewesen  wären,  habe  ich  durch  den 
betreffenden  Ausdruck  nicht  behaupten  wollen. 

Dass  auch  der  Name  der  Segni  oder  Sunici  eine  Unwahrheit  sei,  wird 
mir  ebenfalls  ohne  Grund  zugeschrieben  (p.  499.)*  vielmehr  ist  der  deut- 
liche Sinn  meiner  Worte,  Cäsar  habe  als  Eroberer  und  jure  belli  die 
beiden  besiegten  Völkerschaften  der  Gaeraesi  und  Paemani  in  diese  Eine 
der  Sunici  vereinigt,  auch  mit  einem  neuen  Glauben  ausgestattet,  in 
welchem  er  die  Sonnengöltin  in  einen  Sonnengott  verwandelt  habe.  Hier 
hatte  mich  also  der  Recensent  ganz  falsch  verstanden.  —  Was  aber  die 
übrigen  Abweichungen  von  meinen  Ansichten  betrifft,  so  kann  ich  um  so 
weniger  einen  Anstoss  daran  nehmen,  wenn  irgend  wer  sich  dadurch 
überrascht  findet,  weil  ich  selbst  früher  der  eifrigste  Vertheidiger  der 
Ueberzeugungen  gewesen  bin,  die  meine  Recensenten,  sowohl  Herr  P.  F. 
Stuhr  In  Berlin,  als  der  ungenannte  in  Heidelberg  (Jahrb.  4844.  49.  SO.) 
ausgesprochen  haben;  wenn  ich  aber  meine  früheren  Ansichten  nur  aus 
wissenschaftlichen  Gründen  geändert  habe,  die  auch  jedesmal  gewissen- 
haft beigefügt  sind*),  so  wird  jeder  einzelne  Punkt  auch  nur  mit  jedem 
einzelnen  ihn  stützenden  Grund  umzustossen  sein,  und  bis  das  geschehen, 
die  Sache  bei  jedem  wissenschaftlich  gebildeten  Leser  wenigstens  noch 
in  suspenso  bleiben  müssen.  Und  wenn  denn  auch  alles,  was  sowohl  in 
Betreff  der  Geschichte  als  der  Etymologie  und  Mythologie  im  Vorbeigeben 
mit  erwähnt  wurde  —  und  über  diese  Nebensachen  allein  lassen  sich  meine 
Beurtheiler  hören!  —  wirklich  unrichtig  wäre;  so  würde  doch  mein  Buch 
als  erster  Versuch  die  so  überaus  intricate  Geographie  des  linken  Rhein- 
ufers und  der  belgischen  Provinzen  ganz  aufs  Reine  zu  Dringen**), 
bei  jedem,  der  sich  mit  diesem  Gegenstand  einmal  ernstlich  beschäftigt 
hat,  oder  damit  beschäftigen  muss,  einiges  Interesse  erwecken  müssen.  — 
Daher  ich  ,  diese  Recensiou  der  Ungerechtigkeit  und  Ungründlichkeit  be- 
schuldige. 

Warum  aber  für  den  Ausdruck  „in  seiner  Gewalt"  nicht  lieber  der 
„in  der  Tasche"  gewählt  worden  ist,  diese  p.  4  94.  aufgeworfene  Frage 
findet  ihre  Erledigung  darin,  dass  der  gewünschte  Ausdruck  einer  andern 
Stelle  vorbehalten  blieb,  und  der  Satz  amant  alterna'Camoenae  beachtet 
wurde;  und  wenn  Herr  P.  F.  Stuhr  die  von  mir  versuchte  Deutung  und 
Ableitung  des  Worts  „Wechselbalg",  die  ich  durchaus  Niemandem  aufdringen 
will,  durch  eiue  passendere,  erschöpfendere  und  sprachlich  richtigere  er- 
setzt, so  bin  ich  sofort  erbötig,  die  meinige  ganz  fallen  zu  lassen,  ja  sie 
förmlich  zu  anathematisiren. 

Und  das  also  beträfe  die  Sachen;  den  Styl  aber  und  die  einzelnen 
Ausdrücke,  woran  auch  getadelt  wird;  so«  muss  ich  den  unparteiischen 
Leser  darauf  aufmerksam  machen,  wie  ich  nicht  so  glücklich  bin,  unter 
die  Zahl  derjenigen  Schriftsteller  zu  geboren,  von  denen  jedes  Wort  ihrem 
Publikum  gefällt,  und  denen  es  also  erlaubt  ist,  sich  ganz  so  zu  geben, 
wie  sie  sind,  und  weitläuflig  sich  auszusprechen;  sondern  ich  musste 
suchen  in  der  möglichsten  Kürze  Diejenigen  mit  meinen  Ansichten  bekannt 


*)    Aber  diese  meine  Grunde  erwähnen  meine  Recensenten   gar  nicht,    als  ©I»  sie 
nirgends  rprbanden  waren!     Sind  das  nickt  Recensenten! 

(  **)    Mit  diesen  geographischen  Untersuchungen   beschäftigt  sich   das  Buch    hlos 
seinem   gansen    Inhalt  nach,    eben  so  wie  die  beigegebene  Karte;   es  hat  aber 


mein  Recensent,   der  p.  196.  die  Wahl  des  Titels  sich  nur  durch  eine  Muthmaassung 
zu  erklären  im  Stande  ist,    nichts  davon  finden  können!     fli 


Im!  Hm! 


578  Miscellen. 

zu  machen,  denen  der  Zufall  meine  Schrill  in  die  Hände  warf,  daher  ich 
meist  die  Sache  aelbst  reden  liesa,  mein  Urtheil  aber  ao  kurz  und   also 
auch  ao  acbarf  wie  möglich  daneben  atellte.    Daaa  daran  niemand  gebsa- 
den  Ist,  der  ea  beaaer  weiss,  versteht  sich  von  selbst;  wenn  ea  mir  ab« 
dabei  entführ,  die  Academieten  Karls  dea  Grossen  „Bsel"  za  nennen,  so 
möge  jeder,  ehe  er  mich  dessbaJb  verdammt,  doch  nur  bedenken,  wie  ich 
ea  als  Aufgabe  meines  ganzen  wissenschaftlichen  Studiums  angesehen  hatte, 
die  AnMnge  der  deutschen  Geschichte  an  das  Licht  zubringen,  die  deut- 
ache  Mythologie  und  die  deutschen  AJterthttmer  auf  Eine  Linie  mit  den 
griechischen  und  römischen  zu  stellen,  wie  mir  das,  wie  leb  wissenschaft- 
lich Überzeugt  bin,  In  meinem  Eddacommentar  endlich  auch  gelungen  ist; 
ehe  ich  aber  dahin  kam,  ehe  Ich  nur  ao  weit  kam  zu  vermuthen,  das« 
die  isländische  Edda  etwas  dahin  Einschlagendes  und  den  Schlüssel  dazu 
wirklich  enthalten  könne,  hatte  ich  doch  die  verschiedenen  alten  Schrift- 
steller, die  von  Deutschland  handelten  in  den  besten  Ausgaben  mir  an- 
schaffen, sie  durobetudlren,  mit  den  Forschungen  der  Neuern  vergleichen, 
die  ganze  merovinglache  Periode  auf  das  Speclellste  durchgeben,  und  also 
manches  Jahr  meines  Lebens  und  viele  400  ThaJer  daran  wenden  müssen, 
und  war  doch  —  von  der  einzigen  Edda  abgesehen  —  am  Kode    grade 
ao  weit  ala  am  ersten  Anfang.     War  ea  nun,  da  ich  mich  überzeugte,  die 
Mönche  der  Academia  Carolina  hätten  mir  diese  vergebliche  Arbeit  und  diese 
vergeblichen  Unkosten  dadurch  verursacht,  daas  sie  die  deutseben  Alter- 
thümer  gänzlich  entstellten;  war  es  mir  zu  verdenken,  daas  ich  ihnen  einen 
Titel  gab,  den  sie  zwar  nicht  beansprucht,  doch  aber  überflüssig  nicht  blos 
an  mir,  sondern  an  jedem  verdient  hatten,  der  die  deutschen  AJterthttmer 
auch  nur  einigermaassen  in  eine  wissenschaftliche  Gestalt  zu  bringen,  und 
sie  mit  einer  den  Forderungen  der  Kritik  entsprechenden  Form  zu  ver- 
sehen bestrebt  ist? 

Wetzlar,  den  4  0.  September  4845.  K.  Ch.  Freiherr  von  Lettisch. 

P.  S.     Sollte  Übrigens  Herr  P»  F.  Stuhr  über  diese  meine  Bemerkun- 
gen sich  im  Geist  seiner  Recension  weiter  auslassen,  so  kann  ich  nfcto 
dawider  haben ;  sollte  aber  Derselbe  oder  ein  Anderer  der  Herrn  M itaras/ter 
der  Zeitschrift  wissenschaftlich  begründete  Ausstellungen  über  Einen 
oder  den   andern  Puukt  machen  wollen,  und  die  Redaction  im  Interesse 
der  Wissenschaft  Auskunft  von  mir  darüber  wünschen,    und   mich  aant 
auffordern,  so  bin  ich  auch  hierzu  jederzeit  bereit;   indem,   wer  seinen 
Lesern  wissenschaftliche  Wahrheiten,  sei  ea  zu  deren  ungeheurer  Heiter- 
keit, sei  es  als  Sauerkraut  zugerichtet,  vorsetzt,  ihnen  darüber  auch  Rechen- 
schaft zu  geben,  ohne  Zweifel  verbunden  ist.*) 

Datum  ut  supra.  Karl  Christian,  früher  Herr,  jetzt 

fatis  nolentem  cogentibus 
Freiherr  von  Leutach. 


•)  Wir  enlkelten  ans  um  m  mebr  «Her  Er  wiedervag,  ab  wir  der  Her»aagae>*  des 
too  dea  Herrn  Freifeerrn  versprochenen  Werkes  mit  Begier  ge wirtig  sied.       Red. 


* 


Nachwort  des  Herausgebers. 


Mit  dem  Beginn  des  dritten  Jahrganges  der  Zeitschrift 
für  Geschichtswissenschaft  werden  einige  Modificationen  ein- 
treten, die  wir  in  der  Kürze  hier  vorläufig  bezeichnen  wollen. 

1)  Wird  sie  fortan  unter  dem  Titel  „Allgemeine  Zeit- 
schrift für  Geschichte"  erscheinen,  ohne  darum  von  dem 
bisher  Verfolgten  grundsätzlich  etwas  aufzugebeq;  eher  viel- 
mehr wird  sie  den  Kreis  ihres  Inhaltes,  so  weit  der  Raum 
es  gestattet,  noch  zu  erweitern  trachten. 

*2)  Die  vaterlandische  deutsche  Geschichte  soll  in 
noch  ausgedehnterer  Weise  als  bisher  in  den  Vordergrund 
treten,  dergestalt,  dass  neben  ihr  die  ausserdeutsche  Ge- 
schichte soweit  sie  auf  gleicher  Wurzel  oder  gemeinsamen 
Trieben  beruht  am  meisten  berechtigt  sein,  aber  auch  der 
Zusammenhang  der  europäischen  Entwicklung  sowie  der 
menschheitlichen  überhaupt  nicht  ausser  Acht  gelassen,  und 
kein  einziges  Moment  der  besonderen  Völker-  und  Staaten- 
geschichte absichtlich  übergangen  oder  gar  principiell  ausge- 
schlossen werden  soll. 

3)  Innerhalb  der  deutschen  Geschichte  selbst  wiederum 
wird  namentlich  auch  die  staatliche  Entwicklung  der 
neuesten  Zeit  in  höherem  Maasse,  als  dies  bisher  der  Fall 
sein  konnte,  in  Betracht  gezogen  werden.  Es  ist  dies  nicht 
nur  ein  Recht,  sondern  eine  offenbare  Pflicht  der  historischen 
Wissenschaft,  der  sie  um  so  weniger  sich  entziehen  darf,  je 
mehr  die  Spannungen  der  Gegenwart  der  Lösung  bedürftig 
sind,  und  je  zuversichtlicher  grade  von  ihrer  Seite  eine  ernste 
und  ruhige  Erwägung  des  Tbatsachlichen ,  des  Gewordenen 
wie  des  Werdenden,  sich  erwarten  lässt. 

4)  Wird  sie  fortan  neben  den  schon  eingeführten  allge- 
meinen Literaturberichten,  die  wir  durch  eine  spätere  Reform 
praktischer  zu  gestalten  hoffen,  uftter  einer  besondern  Rubrik 
„Angelegenheiten   der   historischen  Vereine"  über 


580  Nachwort  des  Herausgebers. 

den  Stand  derselben  im  Ganzen  und  im  Einzelnen  eine  fort- 
laufende Auskunft  ertheilen,  über  ihre  mannigfaltigen  Be- 
strebungen Bericht  erstatten,  ihre  Pablicationen  kritisch  ta- 
urtheilen  und  von  Zeit  zu  Zeit  in  einer  wissenschaftlich 
geordneten  Uebersicht  zusammenstellen,  überhaupt  aber  in 
jeder  Beziehung  und  nach  allen  Seiten  hin  die  Interessen 
derselben  in  geeigneter  Weise  wahrzunehmen  suchen.  Es 
kann  dies  natürlich  nur  ein  Versuch  sein,  der  bei  mangel- 
hafter Unterstützung  von  Seiten  der  Vereine  selbst  not- 
wendig scheitern  muss,  der  aber  im  Falle  eines  allgemeinen 
freundlichen  Entgegenkommens  sicher  zu  einem  gedeihlichen 
Ziele  fuhren  und  unsere  Zeitschrift,  wie  es  von  Vielen  ge- 
wünscht wird,  allmäblig  zu  einem  vermittelnden  Organe  aller 
historischen  Vereine  Deutschlands  heranbilden  würde.  Nähere 
einleitende  Erörterungen  verspäten  wir  auf  die  ersten  Hefte 
des  neuen  Jahrgangs. 

5)  Werden  wir  bemüht  sein,  auch  die  grösseren  Beitrage, 
so  oft  als  es  irgend  zulässig  erscheint,  in  einem  und  dem- 
selben Hefte  zum  Abschluss  zu  bringen.  Denn  wo  nicht 
weite  Räume  zu  Gebote  stehen,  da  ist  gewiss  die  Wahrung 
des  Gesammteindruckes  dem  Streben  nach  bunter  Mannig- 
faltigkeit des  Inhalts  vorzuziehn. 

Schliesslich  bemerken  wir  noch,  dass  der  im  Januarheft 
des  vorliegenden  Jahrgangs  begonnene  Aufsatz  über  Denk- 
und  Glaubensfreiheit  wegen  zu  grosser  Ausdehnung  nicht  in 
der  Zeitschrift  fortgesetzt  werden  konnte. 


Berichtigung  zum  vierten  Bande« 

Seite  395  Zeile  9  von  unten  ist  Niem  zu  lesen  statt  Niens. 


Gedruckt  bei  Julius  Sitlenfeld  in  Berlin. 


IntialtoverzeictmUsk 

feite 

Beinrieh  der  Löwe.  Anfänge  Lübecks.  Von  Hüllmaan  .  .  I 
Betrachtangen  über  Sozialismus  und  Com  raun  ismus.    Dritter 

Artikel.    Von  Prof.  W.  Röscher 10 

Neuere  Erscheinungen  der  historischen  Literatur  in  Italien.  Zwei- 
ter Artikel.    Von  Dr.  W.  Giesebrecbt 29 

Die  griechische  Komenverfassung  als  Moment  der  Entwickelung 

des  Städtewesens  im  Alterthume.    Von  Dr.  K.  Kuhn    .     .  50 
Allgemeine  Literaturberichte.    Von  Adolf  Schmidt  und  Dr. 

M.  Hertz 88 

Rom. 

Scheiffele,  1. ,  Jahrbücher  der  römischen  Geschichte     .     .  88 

Becker,  W.  A.,  Handbuch  der  römischen  Alterthümer     ,     .  89 
Drumano,  W.,  Geschieht«  Rom's  in  seinem  Uebergange  von 

der  republicanischen   zur  monarchischen  Verfassung    .     .  91 

Bahr,  J.  C.  F.,    Geschichte  der  römischen  Literatur     ...  93 

Ambrosch,  J.  A.,  Ueber  die  Religionsbücber  der  Römer  94 

Co  rasen,    De  poesi  Romana  antiquissima 95 

Gerlach,  F.  D.,   G.  Lucilius  und  die  römische  Satura     .     .  96 

Dissertationen  und  Programme 96 

Ueber  die  Entwicklung  der  deutschen  Historiographie  im  Mittel-. 

alter.    Von  Prof.   G.  Waitz.    Schluss 97 

Ueber  das  Unterrichts wesen  der  Jesuiten.  Von  Dr.  R.  W  i  1  m  a  n  s  114 
Zur  Geschichte  des  Kaisers  Julian.  Von  Dr.  W.  Teuf  fei  .  143 
Ueber  Kruse 's  Necrolivonica.  Von  Prof.  L.  Giesebrecht  161 
Allgemeine  Literaturberichte.     Von  Adolf  Schmidt,   E.  G. 

J.  Grotefend  und  P.  F.  Stuhr 178 

Rom. 
Lieberkuehnius,    Vindiciae  librorum    injuria  suspectorum     178 

Christen  th  um. 

Werner   Hahn,    Das  Leben  Jesu 180 

Germanen-  und  Kelten  th  um. 

,  Ukert,   F.  A.,    Germania  nach  den  Ansichten  der  Griechen 

und   Römer 182 

Müller,    Hermann,    Das   nordische   Griechenthum     .     .     .  188 
Obermayr,  Jon.   Nep.,  Teuton,    oder  die  gemeinsame  Ab- 
stammung  der  germanischen,    gallischen    und  gothischen 

Völker  von   dem    Urstamme  Skandinaviens 190 

Leutsch,  C.  Gh.,  Frelb.  v.,  Ueber  die  Beigen  des  Julius  Cäsar  192 

Miscellen 196 

Ueber  den  zweiten  Kreuzzug.   Von  Prof.  v.  Sybel   .    ,    .    .  197 
Ueber  den  neuesten  Stand  der  Geschichte  der  römischen  Re- 
publik.   Von  Dr.  K.  W.  Nitzsch 229 

Allgemeine  Literaturberichte.    Von  Ph.  Jaffe,   P.  F    Stuhr, 

S.  Cassel  und  B.  Könne 272 

Deutschland  und  die  Schweiz. 

Klippel,    Historische  Forschungen  und  Darstellungen     .     .  272 

Höfler,  Kaiser  Friedrich  II.    • 275 

Stillfried  -  Rattonitz,  die  Burggrafen  von  Nürnberg  im  XII. 

und* XIII.  Jahrhundert 284 

Zeuss,   die  freie  Reichsstadt  Speier  vor  ihrer  Zerstörung  286 

Meyer,  die  WaldAätte  vor  dem  ewigen  Bunde  von  1291  .     .  287 

Rodt,    die   Feldzüge  Karls   des  Kühnen     .......  289 


Inhaltsverpeichniss. 

Seite 

Zusätze  zu  der  Abhandlang  über  Manetbo  und  die  Hundsstern- 

periode    (Bd.  E) ffl 

Anmerkung  des  Herausgebers    .    .  $2 

Ueber  Pombal,  insbesondere  seine  Reformen  in  der  Verwal- 
tung.   Von  Prof.  Dr.  Schäfer W 

Die  Fürstin  Margarethe  von  Anhalt,  geborne  Markgräfin  von 

Brandenburg.    Aus  archivalischen  Quellen.    Von  J.  Voigt  327 
Nordamerica  und  Buropa.  Eine  Bemerkung.  Von  J.  W.  L  o  e  b  e  1 1  359 
Heinrich  Pfeifer   und  Thomas  Münzer  in  Mühlhausen.    Eine 
urkundliche  Mittheilung  aus  der  Mühlhauser  Chronik  von 

Dr.  F.  A.  Holzhausen 365 

Allgemeine  Lileraturberichte.   Von  S.  Cassel    .    .    .        .   .394 

Deutschland. 
Micus,   Franz  Joseph,   Denkmale  des  Landes  Paderborn  394 

Miscellen:    *.  Das  Mainzer  Archiv.    Von  Klüpfel 396 

Leben  und  Verdienste  des  Laurentius  Valla.    Von  Professor 

C.  G.  Zumpt 397 

Deutschland  und  Gustav  Adolf.    Von  Dr.  RudolfKöpke   .  43J 
Erinnerungen  an  Francois  de  la  Noue  und  dessen  Vorschläge 
zur  besseren  Bildung  des  jüngeren  französischen  Adels. 

Von  E.  G.  Vogel   , Ö 

Allgemeine  Literaturberichte,  Von  P.  F.  Stuhrund  S.  Cassel  472 

Deutschland  und  die  Schweiz. 
J.  Greve,  Geographie  und  Geschichte  der  Herzogtümer  Schles- 
wig und  Holstein  . 472 

Die  Schlacht  bei  St.  Jacob 479 

Das  vierte  Säcularfest  der  Schlacht  bei  St.  Jacob     .     .        ,  479 

Carl  Emil  Gebauer,  Kunde  des  Samlandes 481 

Bugen   Huhn,    Quellen  der  badischen   Geschichte     ...  482 

Abhandlungen  und  Programme 484 

Deutschland  und  Gustav  Adolf.    (Fortsetzung  und  Schluss.) 

Von  Dr.  RudolfKöpke $ 

Ueber  die  neueste  Auffassung  der  französischen  Revolution, 
mit  besonderer  Beziehung  auf  Capefigue.    Von  Prof.  Dr. 

Zimmermann $* 

Nachtrag  zu  dem  aufsatz  über  das  zu  abend  speisen  bei  den 
göttern,  im  dritten  bände  dieser  Zeitschrift.    Von  Jacob 

Grimm 544 

Zur  Philosophie  des  Staats  und  der  Geschichte.   Vom  Heraas- 
geber      •    •    •     n 

Allgemeine  Literaturberichte 567 

Deutschland,  Belgien  und  die  Niederlande. 

Lanz,    Correspondenz  des  Kaisers  Karl  V 567 

Spiegel,    R6sum6  des   Negociations    qui  accompagnerent  la 

revolution  des   Pays-bas   Autrichiens 567 

Van  den  Bergh,   Gedenkslukken  tot  opheldering  der  Nieder-      r 

landsche  Geschiedeniss,  opgezameld  uit  de  Archiven  te  Ryssel    5o< 

Borgnet,  Histoire  des  Beiges  ä  la  fin  du  dix-huitieme  siecle    574 

Miscellen:    3.    Bemerkungen   zu  der  Recension  der  Schrift:    K.  Cb. 

Freih.  v.  Leutsch:  Ueber  die  Beigen  u.  s.  w.  (s.  Bd. IV.  S.  4 92 ff.)    576 

Nachwort  des  Herausgebers .-    .    .    .   579 

Berichtigung  zum  vierten  Bande •   *w 


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